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German Pages [678] Year 2010
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Karl-Franzens-Universität Graz – oben Mitteltrakt des Hauptgebäudes, in welchem seit 1895 die rechts- und staatswissenschaftlichen, seit den 1960er Jahren auch einige wirtschaftswissenschaftliche Institute neuerer Art untergebracht waren; darunter der Haupteingang des ReSoWi-Gebäudes, welches seit 1996 Sitz der Rechtswissenschaftlichen sowie der Sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ist.
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RECHTS-, SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSWISSEN– SCHAFTEN AUS GRAZ Zwischen empirischer Analyse und normativer Handlungsanweisung: wissenschaftsgeschichtliche Befunde aus drei Jahrhunderten
herausgegeben von
Karl Acham
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
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Kunst und Wissenschaft aus Graz, Band 3: Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften aus Graz
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung, der Universität Graz, des Alfred Schachner-Gedächtnisfonds, der Steiermärkischen Verwaltungssparkasse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78467-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Generaldruck, Széged
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Kulturelles Erbe und Wissenschaftsdynamik ‒ ein Blick zurück Vorbemerkung: Zu den Zeitumständen einer großen individuellen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Acham Erzherzog Johann als Neuerer und Bewahrer: zu Wirtschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst in der Steiermark im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Interdisziplinäre Verschränkung und ideologiekritische Distanzierung ‒ Exemplarische Fälle Vorbemerkung: Über konstruktive und destruktive Interferenzen in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften
Heinz Fassmann Universitäre Geographie in Graz: ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
2. Zwischen Politik, Dichtung, Geistes- und Sozialwissenschaften
Hildegard Kremers † Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) – Diplomat, Historiker, Kulturanthropologe und Poet . . . . . . . . . . . . . . . .
133
3. Sozialwissenschaft und Philosophie jenseits von Fideismus und Ideologie
Heinrich Kleiner Ernst Topitsch und sein schwieriger Weg zur ideologiekritischen Weltanschauungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Rechtswissenschaften Vorbemerkung: Jurisprudenz und Rechtswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
1. Kanonisches Recht und Rechtsgeschichte
Maximilian Liebmann Rudolf Ritter von Scherer – Rechtshistoriker und Theologe . . . . . . . . . . .
235
Gunter Wesener Arnold Luschin von Ebengreuth (1841–1932), Rechtshistoriker und Numismatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Gunter Wesener Paul Koschaker (1879–1951), Begründer der altorientalischen Rechtsgeschichte und juristischen Keilschriftforschung . . . . . . . . . . . . . .
273
2. Privatrecht, Bürgerliches Recht oder Zivilrecht
Bernd Schilcher Franz Anton von Zeiller als Gesetzgeber und Begründer einer bürgerlichen Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Franz Bydlinski Walter Wilburg (1905–1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
3. Strafrecht und Kriminologie, Staatsrecht und Politikwissenschaft, Rechtsphilosophie
Michael Bock Hans Gross und Julius Vargha – Die Anfänge wissenschaftlicher Kriminalistik und Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Florian Oberhuber Hermann Heller: Politische Theorie und wissenschaftliche Weltanschauung
343
Peter Koller Ota Weinberger (1919–2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Vorbemerkung: Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
1. Soziologie und Sozialpsychologie
Karl Acham Wien und Graz als Stätten einer frühen soziologischen Forschungsund Vereinstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
409
Gerald Mozetič Ludwig Gumplowicz – ein Grazer Pionier der Soziologie . . . . . . . . . . . . .
433
Manfred Prisching Joseph A. Schumpeter als Soziologe. Ein Rückblick auf Zeitdiagnosen und Zukunftserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Peter Gasser-Steiner Fritz Heider (1896–1988) – der philosophische Analytiker und „naive“ Erforscher sozialer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
2. Volks- und Betriebswirtschaftslehre
Heinz D. Kurz Two Masters – One Mind. Schumpeter zwischen Walras und Marx . . . . .
501
Richard Sturn Wilhelm Röpke (1899–1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
537
Peter Swoboda † Karl Lechner (1927–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
Adolf Stepan Peter Swoboda (1937–2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Komplementarität und Pluralität in Wissenschaft und Politik Vorbemerkung: Jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit – zu bestimmten Tendenzen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft . . .
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Karl Acham Geschichtswissenschaft und Soziologie. Zum gemeinsamen Gegenstand und zu spezifischen Aussageintentionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
567
Ernst Topitsch † Pluralismus und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597
Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
613
Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autorin und die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Themenübersicht über die Bände 1 und 2 des Sammelwerks . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Mit dem vorliegenden Sammelband kommt die aus drei Bänden bestehende Reihe Kunst und Wissenschaft aus Graz zum Abschluß. Behandelte der erste Band die Medizin, die Naturwissenschaften und die Technik, so waren die Kunst und die Geisteswissenschaften aus Graz der Gegenstand des zweiten Bandes. Der vorliegende dritte ist den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gewidmet. Den Anstoß zur Befassung mit der Geschichte der in Graz seit dem 15. Jahrhundert erbrachten Leistungen in Kunst und Wissenschaft lieferte ein Wissenschaftsprojekt von „Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas“. Die schriftlichen Fassungen der in diesem Rahmen gehaltenen Vortrags- und Diskussionsbeiträge wurden nachträglich durch andere ergänzt und fanden Aufnahme in den drei Bänden. Wie im Fall der beiden früher erschienenen Bände, so gilt auch für den vorliegenden Sammelband, daß in ihm die Leistungen von Personen zur Sprache kommen, die irgendwie mit Graz verbunden waren – sei es, daß sie hier geboren oder hierher zugezogen, sei es, daß sie in Graz geblieben oder wieder von hier weggezogen sind. Natürlich kann dabei leicht der Eindruck der zielstrebig betriebenen Einvernahme von bedeutenden Persönlichkeiten aufkommen. Intendiert ist ein solcher künstlicher Überfluß nicht, dennoch hilft ein Dementi nicht immer – aber damit muß man als Herausgeber leben. Andererseits wird mancher gewiß Mängel entdecken, deren Nachweis sachdienlich ist. Allerdings gibt es auch solche, zu denen sich der Herausgeber bekennt – ist doch gar mancher hier nicht Erörterte bei uns in Graz weltberühmt, der anderswo nicht einmal bekannt ist … Auch in diesem dritten Band werden die Leistungen von Wissenschaftlern wieder durch Fachleute der jeweiligen Wissensgebiete zur Darstellung gebracht, und diese Darstellungen werden meist durch Porträtphotos ergänzt. Von Würdigungen lebender Vertreter der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften durch eigene Beiträge wurde allerdings abgesehen. Insbesondere wird nicht mehr den seit ca. 2000 erfolgten personellen Veränderungen, also vor allem nicht mehr dem Werk und Wirken der seither neu an die Universität Berufenen Rechnung getragen. Nicht berücksichtigt werden auch, was als ein durch zukünftige wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten behebbarer Mangel dieses Sammelbandes angesehen werden kann, jene Vertreter betriebswirtschaftlicher Fächer an der Grazer Technischen Universität – der ehemaligen Technischen Hochschule –, die dort für die Ausbildung in den Bereichen Wirtschaftsingenieurwesen sowie Finanz- und Versicherungsmathematik mit zuständig sind bzw. waren. In einer bestimmten Hinsicht gilt für diesen Band Gleiches wie für die beiden ihm vorangegangenen Bände: Die Darstellung bleibt, was mitunter ein Defizit ist, in der Regel
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auf die Vertretung der Fächer auf der Ebene der ordentlichen Professuren beschränkt, was bedeutet, daß der Anteil der viele Disziplinen nicht nur in der Lehre, sondern mitunter auch in der Forschung wesentlich mittragenden niedrigeren akademischen „Chargen“ nicht angemessen zum Ausdruck kommt. Glücklicherweise teilt meine Darstellung diese Eigenschaft auch mit einer verdienstvollen anderen: mit der auf die gesamte Universität bezogenen Monographie meines Kollegen Walter Höflechner. Ich stimme seiner Feststellung zu, die er in seiner Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz mit dem Bedauern über den erwähnten Mangel der Darstellung verbindet: „Es wird dies als Ungerechtigkeit eingeschätzt werden, doch hätte der Versuch, dies zu unternehmen, die Grenzen dieses Vorhabens gesprengt, und es würde auch die Darstellung den Rahmen des hier Vorgesehenen und Möglichen weit überschreiten. Es muss deshalb eine gerechten Ansprüchen genügende Darstellung dieses Bereiches anderen überlassen werden.“1 Den einzelnen Kapiteln sind im vorliegenden Sammelband zum Teil recht umfangreiche Vorbemerkungen des Herausgebers vorangestellt, mit welchen vor allem auf bedeutende Fachvertreter der in Betracht stehenden Disziplinen hingewiesen wird, denen keine eingehendere Würdigung zuteil wird. Daß es sich dabei mitunter nur um rudimentäre und skizzenhafte Versuche eines in nicht immer vertrautem Gelände Tätigen handelt, sei gleich hier deutlich gemacht. Zum (zweifelhaften) Ausgleich nimmt der Herausgeber mitunter den Leser von Graz mit auf einen Ausflug in die Welt oder ins Allgemeine, um ihn dann wieder an die Mur zurückzuführen. Terminerwägungen, wie Zentenarfeiern oder dergleichen, waren für die vorliegende Publikation nicht von Belang. Bedürfte es jedoch einer von kalendarischen Erwägungen veranlaßten Rechtfertigung, warum ein Werk über Grazer Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler gerade jetzt, zur Jahreswende 2010/11 erscheint, so käme man nicht in Verlegenheit. Denn nicht weniger als drei Jahrhundertereignisse lassen sich vom Jahr 2011 aus im Rückblick feststellen, welche die Terminwahl für diese Publikation rechtfertigen könnten: – die Kundmachung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB), dessen Schöpfer der Grazer Franz von Zeiller ist, als kaiserliches Patent am 1. Juni 1811; diese heute noch geltende wichtigste Kodifikation des Zivilrechts in Österreich ist auch das älteste gültige Gesetzbuch im deutschen Sprachraum; – die im Jahr 1811 erfolgte Gründung des Joanneums durch Erzherzog Johann, das ursprünglich sowohl ein natur- und kunsthistorisches Museum als auch eine Lehranstalt war, an der in verschiedenen Bereichen die besten Wissenschaftler des Landes forschten und aus welcher die Technische Universität Graz hervorging;2 in die 1 HÖFLECHNER 2006, S. 251. 2 Das ehemalige Landesmuseum Joanneum wiederum – das heutige Universalmuseum Joanneum – ist das älteste und nach dem Kunsthistorischen Museum in Wien zweitgrößte Museum Österreichs.
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Jahre 1810/11 fallen auch jene erstmals von Erzherzog Johann selbst ausgearbeiteten und in der gesamten Steiermark versendeten statistischen „Fragentwürfe“, deren Auswertung einen essentiellen Beitrag gleichermaßen zur Volkskunde wie zur frühen Soziographie und Kulturanthropologie im deutschen Sprachraum darstellt; – die im Jahr 1911 erfolgte Berufung von Joseph Alois Schumpeter zum Professor für Politische Ökonomie an die Karl-Franzens-Universität Graz sowie die im selben Jahr erfolgte Publikation seines bahnbrechenden Werks Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung; in diesem wird unter anderem zwischen dem „schöpferischen Unternehmer“ als einem Innovator und dem Arbitrageunternehmer unterschieden, welcher lediglich vorhandene Preisunterschiede zur Gewinnerzielung ausnutzt; ferner wird hier das Wechselspiel von Innovation und Imitation als Triebkraft des Wettbewerbs analysiert. Auf alle drei Ereignisse wird auch in dem vorliegenden Band hingewiesen werden, doch dieser ist keineswegs um sie herum gruppiert worden, vielmehr geht es in ihm, wie bereits erwähnt, um eine allgemeine Darstellung der namhaftesten in Graz auf den Gebieten der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften erbrachten Leistungen. Sind die Rechtswissenschaften in Graz zwar vergleichsweise spät, aber immerhin seit dem 18. Jahrhundert an der Universität vertreten, so existieren die in diesem Sammelband ebenfalls erörterten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften unter diesem Namen und in einer eigenen Fakultät erst seit dreieinhalb Jahrzehnten. Sie sind allerdings der Sache nach deutlich älter und in wachsendem Umfang im Rahmen der alten juridischen Fakultät institutionalisiert worden. Die in den folgenden Darstellungen mit einigen ihrer wichtigsten Vertreter zur Sprache kommenden Wissenschaftsbereiche sind hinsichtlich des erkenntnislogischen und methodologischen Status ihrer Schwerpunktfächer sehr unterschiedlich geartet. Zählen die Rechtswissenschaften traditionell zum weiten Bereich der Geisteswissenschaften, in welchen es um die Darstellung und Deutung singulärer Ereignisse sowie um die Erklärung derselben mit Hilfe von ihrer Geltung nach historisch und regional limitierten Regeln geht, so sind weite Bereiche der jüngeren Sozial- und Wirtschaftswissenschaften dadurch charakterisiert, daß ihre Vertreter auf der Suche nach möglichst transkulturell, also universell gültigen nomologischen Hypothesen sind oder aber versuchen, solche ihren Deutungen und Erklärungen doch möglichst explizit zugrundezulegen. Es ist als ein Glück anzusehen, daß dem an wissenschaftshistorischen Fragen Interessierten in Bezug auf die in Graz tätig gewesenen Hauptvertreter der Rechts-, Sozialund Wirtschaftswissenschaften einige sehr wertvolle Veröffentlichungen zur Verfügung stehen. Ausdrücklich sei in diesem Zusammenhang auf die gehaltvollen und gründlichen Studien von Gunter Wesener hingewiesen, welche den ersten bzw. vierten Teil der Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz in der Schriftenreihe Vorwort S 11
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Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz bilden und als deren Band 9/1 (Graz 1978) und Band 9/4 (Graz 2002) unter dem Titel Römisches Recht und Naturrecht bzw. Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz erschienen sind. Als Band 9/2 derselben Schriftenreihe und als zweiten Teil der Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz publizierte Hermann Ibler bereits im Jahr 1985, also 10 Jahre nach der aufgrund des Universitätsorganisationsgesetzes 1975 erfolgten Gründung der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, seine historisch weit in das 19. Jahrhundert zurückreichende Studie über die Nationalökonomie an der Universität Graz. Schließlich sei hier die als Band 9/3 im Jahre 1987 erschienene Darstellung Strafrecht – Strafprozeßrecht – Kriminologie von Karlheinz Probsts erwähnt. Alle vier Bände sind aus den Beständen des Archivs der Universität Graz erarbeitet und enthalten jeweils außer einem Quellen- und Literaturverzeichnis auch Porträt- oder Gruppenphotos. Hinzuweisen ist hier ferner auf die Abhandlung „Steirische Beiträge zur Rechtsentwicklung und Rechtsordnung Österreichs“ von Hermann Baltl in dem von Othmar Pickl herausgegebenen und 1992 in Graz erschienenen Sammelband 800 Jahre Steiermark und Österreich 1192–1992. Insbesondere ist auch auf die wertvollen institutionengeschichtlichen Ausführungen zur Universität Graz seit ihrer Gründung im Jahre 1585 sowie auf die Angaben zu einer Vielzahl von hier tätig gewesenen Wissenschaftlern und Gelehrten in Walter Höflechners 2006 in Graz erschienener Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz hinzuweisen; bei diesem Werk handelt es sich um die umfangreichste auf die Grazer Universität bezogene wissenschaftsgeschichtliche Darstellung seit der im Jahr 1886 erschienenen Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz von Franz Krones. Im Rückblick auf die beiden bisher erschienenen Bände der Reihe Kunst und Wissenschaft aus Graz macht sich ein Umstand bemerkbar, der auch für den hier vorliegenden dritten Band gilt: Hinter dem Zwang zur Auswahl, dem sich jede historische Darstellung aussetzt, lauert eine Gefahr, denn das Zeigen des einen heißt oft Verschweigen des anderen. Einige bedeutende Persönlichkeiten würden es nämlich verdienen, durch einen eigenen Beitrag dem kulturellen Gedächtnis überliefert zu werden, bei vielen unterblieb notgedrungen, in einzelnen Fällen allerdings sehr zum Leidwesen des Herausgebers sogar jeglicher Hinweis auf sie. Unerwähnt blieben so nicht nur eine Reihe von an den Grazer Universitäten tätigen Personen, sondern auch mehrere aus Graz gebürtige Künstler und Wissenschaftler, so etwa der Barockmaler Joseph Stern, der Jazzmusiker Oscar Klein oder der Cellist Friedrich Kleinhappl, ferner der Philosoph und Spieltheoretiker Werner Leinfellner, der Germanist Heimo Reinitzer – er ist als vor kurzem wiedergewählter Gründungspräsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg tätig –, aber auch der 1938 (ähnlich wie Oscar Klein) mit seiner Familie vertriebene und später zunächst in Cambridge, UK, danach an den Universitäten in Princeton und Stanford tätige Mathematiker Georg Kreisel. Andererseits hätten es, auch wenn sie
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verschiedentlich genannt wurden, die für einige Zeit an der Technischen Hochschule bzw. an der Universität tätig gewesenen späteren Nobelpreisträger Richard Zsigmondy und Carl Ferdinand Cori, aber auch der Wegbereiter der modernen Herz-Kreislauf-Diagnostik Friedrich Kraus, um nur drei markante Beispiele zu erwähnen, verdient, im ersten Band durch eigene Beiträge gewürdigt zu werden; hinsichtlich des zweiten Bandes gilt gleich für eine ganze Gruppe von – zumindest für einige Zeit – in Graz lebenden Personen Entsprechendes: beispielsweise für die Autoren Johann Nepomuk Nestroy, Karl Emil Franzos und Ivo Andrić, die Bühnenkünstler Alexander Girardi und Marie Geistinger, den Sprachwissenschaftler Karl Weinhold, den Historiker Heinrich von Srbik, den Byzantinisten Endre von Ivánka, den Kunsthistoriker Walter Koschatzky, den Komponisten Ferruccio Busoni oder den Dirigenten Karl Böhm. Aber natürlich würde ein solchermaßen auf approximative Vollständigkeit erpichtes Unternehmen ziemlich rasch an die Grenzen der Realisierbarkeit stoßen. Ähnlich verhält es sich mit dem nun vorliegenden dritten Band. Hier wäre es vor allem wünschenswert gewesen, aus der großen Anzahl herausragender Rechtswissenschaftler noch einige andere ausführlicher darstellen zu können, so beispielsweise Gustav Demelius, Emil Strohal, Josef von Schey-Koromla, Armin Ehrenzweig, Leopold Wenger oder Artur Steinwenter. Im Falle der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wiederum würde sich mehr als nur ein kurzer Blick, wie er im vorliegenden Band geboten werden wird, beispielsweise auf das Werk des für einige Zeit hier lehrenden Alfred Amonn oder aber des hier habilitierten Psychologen Peter Robert Hofstätter empfehlen. Amonn war einer der anregendsten und vielseitigsten Ökonomen aus dem Umkreis der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, Hofstätters Schrifttum andererseits zählt zum Besten, was in der deutschsprachigen Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen ist. Ferner böte die schillernde Gestalt des Juristen, Nationalökonomen und Politikers Josef Dobretsberger wertvolles Material zur Veranschaulichung der intellektuellen Szene in der Dekade vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich. Daß, wie im zweiten Band mit Hellmuth Himmel, in dem vorliegenden dritten Band mit Peter Swoboda und Ernst Topitsch abermals bereits vor Jahren verstorbene Autoren zu Wort kommen, hat nicht allein mit der persönlichen Verbundenheit des Herausgebers mit diesen ehemaligen Kollegen und Freunden zu tun, sondern zunächst einmal mit der Tatsache, daß die Produkte der Lebenden nicht notwendig besser als die der Toten sind; in gewissen Teilen der Wissenschaft verbessert sich die Qualität der Leistungen im Zeitablauf oft gleich wenig wie der ästhetische Wert von Kunstwerken. Im Falle von Peter Swoboda, dem für Jahrzehnte namhaftesten Grazer Betriebswirt, verhält es sich zudem so, daß er für Karl Lechner, den sehr früh verstorbenen Initiator und menschlichen Mittelpunkt der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, den Nachruf im Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften schrieb;
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dieser Nachruf gelangt hier zum Abdruck, weil in ihm gewissermaßen die beiden wichtigsten Persönlichkeiten der Grazer Wirtschaftswissenschaft in der Formationsphase der neuen Fakultät vereint sind. In diesem Zusammenhang ist noch ein Wort des trauernden Gedenkens am Platz. Was für Wendelin Schmidt-Dengler und seinen Beitrag für Band 2 galt, gilt nun auch für den Beitrag der Historikerin Hildegard Kremers, der für den vorliegenden Band verfaßt wurde: sie konnte dessen Erscheinen nicht mehr erleben, da sie unmittelbar nach Fertigstellung des Manuskriptes im Juli 2007 verstarb. Das wissenschaftliche Engagement und die Disziplin dieser befreundeten Kollegin, gepaart mit der für sie auch noch in Zeiten schwerer Krankheit charakteristischen Liebenswürdigkeit, sind von bleibender Erinnerung. Der Tod kann auch ein tragikomisches Gesicht haben – dann jedenfalls, wenn er jemandem fälschlich zugeschrieben wird. Derjenige, der mit Mark Twain dieses Schicksal teilt – Twain bezeichnete bekanntlich die Nachricht von seinem Tode als „ziemlich übertrieben“ – ist der Sprachwissenschaftler Norman Denison; der Zuschreibende war ich selber in der Vorbemerkung zu Kapitel III von Band 2. Ich vertraute einer entsprechenden Mitteilung eines Kollegen, fand, wie ich meinte, den Sachverhalt belegt durch eine so gut wie namengleiche Person im Internet – und schon war’s passiert. Ein Blick in das Adressen- oder Telefonbuch hätte mich eines Besseren belehrt. So liegt die Schuld bei mir, und ich danke Herrn Denison für seine liebenswürdige Nachsicht, die auch weiterhin mit mir zu haben ich ihn hiermit bitte. Möge ihm noch ein langes und gesundes Leben beschieden sein! Auch dieser dritte und letzte Band von Kunst und Wissenschaft aus Graz wäre nicht ohne Zuschüsse zu den Druckkosten zustande gekommen. Für solche habe ich wieder der Steiermärkischen Sparkasse, dem Alfred Schachner-Gedächtnisfonds, der Universität Graz und der Abteilung Wissenschaft und Forschung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung zu danken – in gewissem Umfang also auch dem Steuerzahler, gerade weil dieser von dem kaum erfahren dürfte, was er mit seinem Steueraufkommen so alles fördert. Besonders zu danken habe ich auch diesmal wieder Frau Ulrike Dietmayer vom Böhlau Verlag Wien für ihre Bemühungen bei den Arbeiten zur Drucklegung dieses Sammelbandes. Ferner danke ich an dieser Stelle Herrn Kollegen Alois Kernbauer vom Archiv der Universität Graz, Herrn Dr. Stefan Sienell vom Bildarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie Herrn Mag. Heimo Hofgartner vom Bild- und Tonarchiv des Joanneums für die Hilfestellung bei der Beschaffung von Porträtphotos. Zu danken habe ich insbesondere auch den Autoren dieses dritten Bandes für ihre große Geduld. Diese wäre gewiß durch ein schärferes Vorgehen des Herausgebers gegenüber bestimmten Beiträgern weniger strapaziert worden. Schließlich danke ich, der ich auch diesen dritten Band der die Grazer Kunst- und Wissenschaftsgeschichte betreffen-
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den Reihe ohne jegliche wissenschaftliche Assistenz bewerkstelligte, meiner ehemaligen Sekretärin, Frau Elisabeth Schober, vor allem jedoch Frau Mag. Edith Lanser für die umsichtige Hilfe bei der Verfertigung der Druckvorlagen. Wie immer danke ich auch meiner Frau Britta wieder für ihre Hilfe bei den Fahnenkorrekturen. Im Blick auf gewisse schon zur Sprache gekommene Fehlleistungen ist es mir ein Bedürfnis, die genannten Personen explizit auf etwas Selbstverständliches hinzuweisen: daß, wie bei allen bisherigen Bänden, so auch im Falle des vorliegenden, nur ich als Herausgeber für Fehler und Versäumnisse verantwortlich bin. So überantworte ich nun den dritten und letzten Band zur Geschichte der Kunst und der Wissenschaften aus Graz seiner Bestimmung und hoffe – trotz der mir eigenen skeptischen Grundhaltung –, daß er wenigstens in der steirischen „Kulturhauptstadt Europas 2003“ nicht völlig durch den Rost fällt. Die hiesige Presse ist nämlich im allgemeinen zukunftsorientiert, und auch die Wissenschaftler weisen sich aufgrund der Zumutungen einer sie aus dem „Elfenbeinturm“ hervorlockenden „demokratischen Öffentlichkeit“ und der daraus resultierenden Marketingerfordernisse immer mehr als Event-Forscher aus. Da hat die Vergangenheit schlechte Karten. Auch wird verschiedentlich das Geschäft der Wissenschaft mehr und mehr in ebendiesem Sinn verstanden – als Geschäft. Vielleicht leistet die Wissenschaftsgeschichte auch einen Beitrag dazu, die Grenzen der rein geschäftsmäßigen Denk- und Lebensweise gewisser heutiger Wissenschaftler durch die Herstellung von Kontrasten zu wirklich „großen Kalibern“ aus der Vergangenheit aufzuzeigen. Auch mag sie unter Umständen zur Weckung einer von flotten Wissenschaftsunternehmern nicht immer gerne gehörten Einsicht beitragen: daß der Erkenntnisfortschritt heute immer auch den Altvorderen geschuldet ist, und daß die rekonstruierte Vergangenheit großer wissenschaftlicher Werke – wie die anderer historischer Großleistungen auch – nicht nur dem antiquarischen Ergötzen zugeführt werden soll, sondern daß sie uns, weil in ihr verschiedentlich Maßstäbe gesetzt wurden, zugleich auch verpflichtet.
Graz, im Juli 2010
Karl Acham
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Abb. 1: Joseph von Hammer-Purgstall; Lithographie von Joseph Kriehuber, 1843 Quelle: Wikimedia Commons
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Einleitung I. Zum Inhalt des Sammelbandes – II. Wissenschaft international – III. Einige Besonderheiten der Rechts-, Sozialund Wirtschaftswissenschaften – IV. Zum Denkstil der Jurisprudenz – V. Zur Akademisierung des Rechtsunterrichts vom 16. bis zum 19. Jahrhundert – VI. Einiges Allgemeine zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – VII. Kontextualisierung und Interdisziplinarität: Facetten und Repräsentanten – VIII. Spezialisierung, Dekontextualisierung, Enthistorisierung – IX. Wissenschaftler in politischer Funktion – X. Schwundstufen der Wissenschaft und ihrer Vermittlung – XI. Zur Behauptung eines Wissenschaftsprimats
I. Zum Inhalt des Sammelbandes Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge über herausragende, von Grazer Gelehrten erbrachte Leistungen auf den Gebieten der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Kap. II–IV), ferner eine allgemeinhistorische Abhandlung über Erzherzog Johann und sein Wirken in der Steiermark, damit aber auch über die für die jüngere Wissenschaftsentwicklung in Graz entscheidende Periode (Kap. I), sowie zwei Beiträge zu aktuellen methodologischen und wissenschaftssoziologischen Fragen (Kap. V). Einige der hier dargestellten Wissenschaftler waren allerdings nicht an der juridischen Fakultät1 oder an der erst seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bestehenden Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät tätig, sondern an zwei anderen Fakultäten der Grazer Universität. So findet sich in dem Band eine Abhandlung über den als Vertreter des Kanonischen Rechts an der Theologischen Fakultät wirkenden Rudolf von Scherer (Kap. III) und gleich drei Beiträge über Sozialwissenschaftler von der Philosophischen Fakultät: über den Weltanschauungsanalytiker und Ideologiekritiker Ernst Topitsch sowie über Vertreter des Faches Geographie (Kap. II), ferner über den Sozialpsychologen Fritz Heider (Kap. IV). Schließlich ist noch ein Beitrag in Kap. II einem Gelehrten gewidmet, der überhaupt nicht in einem Dienstverhältnis zur Universität stand, obwohl er der erste Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewesen ist: dem großen Orientalisten, Historiker und – wie man heute sagen würde – Kulturanthropologen Joseph von Hammer-Purgstall (Abb. 1). An ihm läßt sich exemplarisch zeigen, wie fragwürdig die vermeintlich eindeutigen Grenzen, „Ressortzuständigkeiten“ und Alleinvertretungsansprüche von Fakultäten wie auch von anderen Forschungseinheiten sind. 1 Der Ausdruck „juridische Fakultät“ – als Fakultätsbezeichnung, natürlich mit großem „j“, war er früher mitunter gebräuchlich – wird im folgenden des öfteren stellvertretend für die im Laufe der Zeit wechselnden Fakultätsnamen verwendet, so zum Beispiel für „Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät“ oder für „Rechtswissenschaftliche Fakultät“.
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II. Wissenschaft international Der Sammelband erscheint in einer Zeit, die – global betrachtet – durch wirtschaftliche und politische Veränderungen gekennzeichnet ist. So hat die Finanzkrise zu Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, welche die USA und Europa erschütterte, das von China und Indien getriebene Asien sehr selbstbewußt gemacht. Die traditionelle Vormachtstellung des Westens in Politik und Wirtschaft wird in Frage gestellt, und immer wieder werden angesichts diverser Menschenrechtsverletzungen der USA und gewisser ihrer Verbündeten Zweifel an dem Anspruch der westlichen Demokratie geäußert, die einzig legitime, die individuellen Grundrechte verbürgende Staatsform zu sein. Infolge der durch viele Jahre hindurch angehäuften Devisenreserven und erleichtert durch künstlich unterbewertete Währungen, droht Asien heute keine Verschuldungskrise, und Manager großer westlicher Unternehmen räumen mitunter sogar ein, daß sie das Wachstum Asiens in Anbetracht einer allzu langsamen Erholung in Europa und in den USA zu nutzen bestrebt sind. Als eine Folge dieser Entwicklungen hat sich auch die Rolle der Europäer gewandelt: Sie werden als Partner, aber nicht mehr als Lehrmeister akzeptiert. Dieser Rollenwechsel hat sich seit langem angedeutet, besiegelt scheint er durch die Finanzkrise geworden zu sein. Allerdings ist Asien noch keine Region, die sich bereits vom Export unabhängig gemacht und die heimische Nachfrage schon bis an die Grenze der Autarkie gesteigert hätte. Gerade als Wissenschaftler hat man keinen Grund zur Annahme, die zu wirtschaftlicher Stärke herangewachsenen asiatischen Staaten seien, wie noch bis vor kurzem, auf westliches Know-how angewiesen und würden ohne dieses abermals Teile einer Krisenregion sein müssen. Wer sieht, wie schnell westliche Unternehmen große Teile ihrer Forschung nach Asien auslagerten, muß über derartige Annahmen ins Grübeln kommen, aber auch darüber, daß sich solche globalen Wandlungsprozesse in den Rechts-, Sozialund Wirtschaftswissenschaften hierzulande in der Regel erst sehr verspätet niederschlagen. Asiatische Spitzenuniversitäten sind da um einiges schneller, aber mittlerweile auch um einiges besser als die Mehrheit der ehrwürdigen europäischen Hohen Schulen. Unter Übernahme von einstmals auch in Deutschland und Österreich bewährten und vor allem in Großbritannien und in den USA innovativ weiterentwickelten institutionellen Strukturen eilen sie vielen westlichen Universitäten davon. Unter den „Zurückgebliebenen“ ist auch die Grazer Universität, und dies nicht zuletzt als eine Folge von zunächst genuin-österreichischen Dauerreformen, seit Ende der 1990er Jahre aber mehr und mehr von solchen gesamteuropäischer Dimension. Durch Einführung der neuen Bachelor- und Master-Studienabschlüsse als Konsequenz der Hochschulreformen im EURaum, des so genannten Bologna-Prozesses, glaubte man die Universitäten grundlegend verbessern zu können, ohne beispielsweise auch nur in Betracht zu ziehen, daß man in
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jenem stets als Vorbild herangezogenen Nordamerika zwei Klassen von Bachelor-Absolventen sorgfältig unterscheidet: bessere (im „honours program“) und schlechtere (im „general program“); jenen Baccalaureaten ist es gestattet, ein Master-Studium in Angriff zu nehmen, diesen nicht. Dies ist vor allem jenen Vertretern aus dem Bereich der Politik und der Wirtschaft mehrheitlich nicht einmal bekannt, die als für die Umsetzung der organisatorischen Neuerungen zuständige Aufsichtsorgane der Hohen Schulen jeweils in den Universitätsrat entsandt werden und die immer wieder das Universitätsmodell der USA beschwören. Überhaupt ist vieles an „Bologna“ akademischer Pseudoamerikanismus. In Österreich kommt dazu noch eine schlechte Lehr- und Forschungsdotierung, am Universitätsort Graz aber, wie anderswo auch, eine Reihe von hausgemachten Maßnahmen von nicht gerade unprovinziellem Charakter. Eine angemessene Reaktion auf den immer weiter wachsenden Abstand im durchschnittlichen Leistungsniveau zwischen, sagen wir, den besten 30 US-amerikanischen und asiatischen Universitäten auf der einen, den besten 30 europäischen Universitäten auf der anderen Seite unterbleibt in Österreich bislang. Auf die Universitäten bezogene Diskussionen gipfeln hier seit Jahren in den Forderungen: „Mehr Anwendungsorientierung, freier Zugang zu den Hohen Schulen ohne vorgängige Qualifikationskontrolle, gebührenfreies Studium!“ Einseitig ausgelegt2 führen sie zur Diskreditierung der Grundlagenforschung, zum Verlust jeder ernsthaften Ausbildung in den Massenfächern (bei einem in Österreich gleichzeitig bestehenden Anspruch auf vier Prüfungswiederholungen), schließlich aber zum Wegfall einer wirkungsvollen Eigenfinanzierung der Universitäten sowie eines Kostenbewußtseins auf Seiten vieler Studierenden. All das stärkt jedoch – allein schon aufgrund des weiterhin bestehenden internationalen Forschungswettbewerbs und der damit verbundenen ökonomisch-technologischen Folgen – letztlich die wachsende Tendenz einer Herausbildung von zwei Klassen von Hohen Schulen: privaten, die gut, aber teuer, und öffentlichen, die schlecht, aber gratis sind. Die ohneweiters mögliche Verbindung von Qualifikationskontrollen und Studiengebühren bei gleichzeitigem Wirksamwerden eines in sozialer Hinsicht effektiven Stipendiensystems wird aus populistischen Gründen, die man philanthropisch tarnt, organisatorisch erst gar nicht in Angriff genommen.
2 Es geht hier nicht darum, jede Art von Praxisverweigerung schon als intellektuelle Selbstbehauptung anzusehen. So meldet die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 15. Mai 2010 auf Seite 14: „Inzwischen sind 81 Prozent der Studiengänge in Deutschland formal auf die neuen Abschlüsse umgestellt. Doch zehn Jahre nach Beginn der Reformen sind die Unternehmen mit dem Ergebnis offenbar unzufrieden. Eine Blitzumfrage des DIHK [Deutscher Industrie- und Handelskammertag] unter Mittelständlern ergab, dass fast zwei Drittel der befragten Unternehmen praktische Erfahrungen der Absolventen vermissten.“ – Zu prüfen bleibt gleichwohl, welcher Praxiszumutung wohl von welcher Institution am besten entsprochen werden kann: von den Universitäten oder den Fachhochschulen.
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Was wiederum in den österreichischen Studienplänen der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften oftmals fehlt, ist eine angemessene, bereits im Grundstudium erfolgende und über eine bloße Addition von Disziplinenelementen hinausgehende Vernetzung der jeweiligen Fächer mit fachverwandten Disziplinen, desgleichen eine Vertrautheit mit der Dogmengeschichte des eigenen Faches sowie eine mehrseitige Analyse von Sachproblemen, wie dies beispielsweise – und darauf wird noch wiederholt hingewiesen werden – in der Intention der alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden rechtswissenschaftlichen Studienordnung lag. Die immer wieder eingeforderte Anwendungsorientierung bei gleichzeitig beklagter Theorielastigkeit übersieht nicht nur die Stärken solcher mittlerweile oft vergessenen organisatorischen Strukturen der alten deutschen und österreichischen Universität, sondern beispielsweise auch die Tatsache, daß die US-amerikanischen, kanadischen und asiatischen Spitzenuniversitäten in viel höherem Maße den Humboldtschen Traditionen verpflichtet sind, als dies selbst den deutschen und österreichischen Universitätsreformern in Europa, ihrem modernistischen Gestus nach zu urteilen, überhaupt bewußt ist. Diese demontieren hier – zumeist im Namen des Transfers US-amerikanischer Organisationsmodelle der Wissenschaft – nicht selten gerade jene Disziplinen, deren Vertretern man früher gerade auch in den USA mit großem Respekt begegnete. Und deshalb lohnt ein Blick in die Vergangenheit – ein Blick zurück, der aber nicht sosehr das nostalgische Gefühl der Wehmut, als vielmehr den Willen aktivieren soll, den großen Leistungen der Vergangenheit unter neuen Bedingungen nachzueifern.
III. Einige Besonderheiten der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Zwischen den großen Wissenschaftsbereichen der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften variieren Gegenstand und Methode in oftmals erstaunlich hohem Maße – ein Umstand, der dem vorliegenden Sammelband einen mitunter heterogenen Charakter verleiht. In ihm geht es um Disziplinen, die allesamt Menschen und ihre Vergemeinschaftung betreffen und dabei menschliches Handeln unter verschiedenen sozialen und natürlichen Bedingungen, seine Steuerungsmöglichkeiten und seine sich oft ändernden Wertgesichtspunkte zum Gegenstand haben. Trotz dieser Gemeinsamkeit sind jene Disziplinen hinsichtlich ihres erkenntnislogischen und methodologischen Status recht unterschiedlich. So gibt es in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Erkenntnisse und Errungenschaften, die fast ebenso eindeutig bestimmbar und in die Praxis umsetzbar sind wie technische Errungenschaften und Erfindungen, da sie auf Innovationen mathematischer und statistischer Verfahren beruhen oder auf Theorien, welchen quantitative Analysen zugrunde liegen; dies gilt beispielsweise für bestimmte
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Wachstumsmodelle in der Ökonomik und für die Informationstheorie. Ganz anders ist die Sachlage in den Rechtswissenschaften, insbesondere in den historischen Fächern geartet, in denen auf bestimmte geschichtlich gewordene Wertorientierungen und Wertsysteme Bezug genommen wird. Wenn ein neues Produktionsverfahren billiger oder effizienter ist als das bisherige, dann wird es auch angewandt; hier herrscht – als ein Prinzip des progressiven Wandels – die lineare Substitution. Möglich wird dies, weil die (neoklassische) Ökonomik keine konkreten Dinge und Produktionsverhältnisse, wie zum Beispiel mittels Kinderarbeit hergestellte Textilien oder auf der Grundlage von Zinsknechtschaft gewonnenes Zuckerrohr, sondern „abstrakte“ Eigenschaften: Einheiten von Kapital und Arbeit, behandelt, welche als homogen und als in Tauschbeziehungen miteinander stehend betrachtet werden. Die großen Leistungen der Wirtschaftswissenschaften hängen damit zusammen, daß sie von konkreten Individuen, Gruppen und Institutionen absehen, um abstrakte ökonomische Beziehungen innerhalb all jener Systeme behandeln zu können, die eine Optimierung anstreben. Die Wirtschaftswissenschaften sind hierin jenen Naturwissenschaften ähnlich, die, wie dies beispielsweise die theoretische Physik in der Nachfolge Galileis bei fallenden Körpern tut, von der Vorstellung eines bestimmten konkreten Körpers absehen und sich für dessen allgemeine Eigenschaften – Masse, Geschwindigkeit, Beschleunigung etc. – interessieren. Ganz anders ist naturgemäß die Sachlage in den Geisteswissenschaften geartet, damit aber auch in den zu ihnen zählenden Bereichen der Rechtswissenschaft und der „verstehenden Soziologie“ (Max Weber). Wie jede historische Beschreibung, so muß beispielsweise auch die Rechtswissenschaft mit Begriffen arbeiten, die für eine bestimmte Nation, Region oder kulturelle Epoche spezifisch sind. So steht bekanntlich in der Rechtsprechung wie in der Rechtswissenschaft die Beschreibung, Deutung und Interpretation bestimmter Handlungen von individuellen Akteuren unter bestimmten sozialen und natürlichen Umständen im Vordergrund. (Eine Erklärung, wie es zu einem Wechsel von Handlungs- oder Akteurstypen kommt, ist hingegen nicht ihr Ziel, sondern das einer diachronen Handlungs-, Gesellschafts- oder Geschichtstheorie, in der beispielsweise ein evolutionäres Schema zur Anwendung kommt, in welchem es – nach Art der Soziobiologie – um einen Zusammenhang von Variation, Mutation und Selektion geht.) Demgemäß stellen Jurisprudenz und Rechtswissenschaft auch nicht einen Anwendungsbereich des Prinzips der linearen Substitution dar, und zwar ebenso wenig wie die Kunst, wo es nicht möglich ist zu behaupten, es ließe sich Bach durch Schubert oder durch Rembrandt ersetzen. Wohl lassen sich jedoch individuelles Handeln und darauf bezogene Urteile nach Maßgabe einer anderen Rechtsordnung und anderer institutioneller Gegebenheiten im Sinne des Prinzips der funktionalen Äquivalenz deuten – ähnlich dem, was beispielsweise die vergleichende Kunstgeschichte oder die Kultursoziologie mit ihren Gegenständen tun. Solche Analogiebildungen machen es möglich,
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Handlungen, Handlungsurteile, Normen und Normensysteme so zu deuten, daß das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, durch sie und in ihnen wieder sichtbar wird.
IV. Zum Denkstil der Jurisprudenz Jurisprudenz umfaßt die Gesamtheit dessen, was in der Rechtspraxis Anwendung findet. Was das im einzelnen ist, inwiefern sie „Wissenschaft“ und inwiefern sie eine von „prudentia“, von Klugheitserwägungen geleitete „Kunstfertigkeit“ ist, kann und soll in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden. Es mag hier genügen, darauf hinzuweisen, daß die Methode der Jurisprudenz eine andere ist als die von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern benutzte, welche in ihren Erklärungen oder Prognosen oft dem deduktiv-nomologischen Denkstil verpflichtet sind. Insbesondere sind die Vertreter der Jurisprudenz nicht Anwälte eines naturalistischen Denkens, das ausschließlich empirische Überprüfungen in der Raum-Zeit-Sprache zur Folge hätte. Hier hat die Beschaffenheit des Gegenstandes der jeweiligen Forschung gravierende methodische Unterschiede zur Folge. Eine Methode kennzeichnet den Weg der Forschung – „meta-hodos“ bezeichnet im Griechischen zutreffend die Vorgehensweise, in der das Denken von einem Ausgangs- auf einen Endpunkt hin vorangeht. Im Falle der Jurisprudenz kann das Bestreben, dem zunächst oft strittigen Sachverhalt nahezukommen, mit der Forderung „Zur Sache!“ zum Ausdruck gebracht werden, einer Formulierung, die zwar der Parole der Phänomenologie gleicht, ihr aber nicht gleichzusetzen ist. Denn mit der Phänomenologie vergleichbar ist nur der methodische Ausgangspunkt, nicht aber das Ziel der juristischen Vorgehensweise.3 Die Sache, um die es in der Jurisprudenz geht, ist nämlich nicht etwas „Gegebenes“, sondern etwas, das aus einem dialogischen Prozeß hervorgeht und erst durch diesen gebildet wird. Dieser Prozeß entspricht jener „Logik von Frage und Antwort“, mit der sich Robin George Collingwood in seinem philosophischen Werk beschäftigt hat: einer materialen „Frageund-Antwort-Logik“,4 welche – in Ergänzung der formalen „Aussagenlogik“ – die Inventionen der juristischen Methode kennzeichnet. Collingwood findet es für das Konzept der zeitgenössischen symbolischen Logik charakteristisch, daß es an Aussagen orien3 Siehe in diesem Zusammenhang GRÖSCHNER 1982, z. B. S. 4 und S. 215–19. 4 Vgl. COLLINGWOOD 1955. – In der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts waren es insbesondere Hans-Georg GADAMER in seinem erstmals 1960 veröffentlichten Buch Wahrheit und Methode sowie Paul LORENZEN und Kuno LORENZ, die mit ihrer Konstruktiven Logik – siehe LORENZ, LORENZEN 1978 – so etwas wie eine Art „ars inveniendi“ als Entdeckungslogik neben die vor allem in der Wissenschaftstheorie zur Anwendung kommende Rechtfertigungslogik stellten.
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tiert ist, die in Indikativsätzen geäußert werden, also in Sätzen, deren Inhalte gar nicht (mehr) in Frage stehen. In der Wirklichkeit des täglichen Lebens beruhe jedoch die Wahrheit einer Aussage zumeist nicht auf der logisch-monologischen Korrespondenz zwischen Sache und Denken, sondern auf der hermeneutisch-dialogischen „Korrelation zwischen Frage und Antwort“: „Sinn, Übereinstimmung und Widerspruch, Wahrheit und Falschheit gehören nicht den Aussagen in ihrer Eigenständigkeit, nicht den Aussagen an sich zu, sondern allein zu Aussagen, die Antworten auf Fragen sind. Jede Aussage beantwortet dabei eine Frage, der sie genau entspricht.“5 Was diese „Entsprechung“ juristisch bedeutet, ist dies: Übersetzung der konkreten Fragen des Lebens in die nur abstrakt vorgegebenen Antworten des positiven Rechts. Die in der Jurisprudenz im Sinne der „prudentia“ gefällten Urteile oder Entscheidungen hängen von den sachlichen Umständen ab; diese aber sind, zumindest prinzipiell, unbegrenzt. Trotz der unter Juristen anerkannten generellen Geltung des Rechts werden diese ihrer Pflicht einer Urteilsbegründung daher auch nicht unter Heranziehung deduktiver Beweise, also monologisch, sondern argumentativ und dialogisch nachzukommen bestrebt sein. Dieser dialogischen Argumentation liegt die Überzeugung zugrunde, daß es in juristischen Erörterungen – aristotelisch gesprochen6 – um „endoxa“, um Erörterungen im Bereich des „Meinungsmäßigen“, geht. Das ist spätestens dann der Fall, wenn rechtspraktisch, das heißt anwendungsbezogen argumentiert wird. Denn dann hat der Jurist keine empirisch gehaltvolle wahre Aussage, an der er ansetzen und von der aus er apodiktisch schließen könnte. „Sobald es nämlich nicht nur um die abstrakte und generelle Geltung des Gesetzes geht (über die juristisch noch vergleichsweise ,wahre‘ Aussagen gemacht werden können), sondern auch und vor allem darum, was im konkreten Einzelfall gilt, gibt es allenfalls mehr oder weniger ,vertretbare‘ Meinungen, die zwar topisch-schlüssig zu begründen, nicht aber logisch-schlüssig abzuleiten sind.“7 Die „endoxa“ als die allgemeinen und herrschenden Meinungen – auf sie beziehen sich auch Juristen, wenn sie die „bewährte Lehre oder Überlieferung“ oder die „herrschende Meinung“ anführen – sind aber damit nur als Prämissen anzusehen, deren Bedeutung für eine gesprächsweise aufgeworfene Frage immer erst zu begründen ist, und zwar mittels der „topoi“. Diese sind zu verstehen als jene – wörtlich übersetzt – all5 COLLINGWOOD 1955, S. 35. 6 Aristoteles bestimmt den Begriff Topos durch eine Mehrzahl von Funktionen: heuristisch als Suchort, argumentativ als Anstoß zu einer Begründung oder Beweisführung, und rhetorisch als Teil der Rede selbst. Im Hinblick auf die zuletzt erwähnte Funktion verstand die klassische Rhetorik unter den Topoi, die zu den Elementen der inventio zählen, allgemeine Gesichtspunkte, aus denen man Argumente schöpfen kann; sie sind die „Orte“ oder der Sitz der Argumente, wo diese ihren Halt finden und von wo aus sie entfaltet werden. Die Herkunft einer Person oder die Zeit einer Handlung sind beispielsweise solche Topoi, wenn sie etwas Typisches über jene Person aussagen. 7 GRÖSCHNER 1982, S. 200.
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gemeinen „Orte“, an denen die passenden Argumente für die juristische „Er-Örterung“ zu finden sind.8 In Kants Metaphysik der Sitten wird der Versuch unternommen, die obersten Normen einer Ordnung zu begründen, welche den Titel einer Rechtsordnung beanspruchen kann. Rechtsnormen bedürfen, wie schon erwähnt, der Anwendung auf konkrete Einzelfälle, diese Anwendung kann jedoch in letzter Instanz nicht mehr selbst normiert werden. Denn ein solcher Versuch würde nur in einen unendlichen Regreß führen. Einer solchen Möglichkeit sucht Kant dadurch zuvorzukommen, daß er die Normanwendung der Urteilskraft zuweist. Bei ihr handelt es sich um eine naturgegebene dispositionelle Ausstattung, die sich nur durch Übung, nicht aber (allein) durch Belehrung ausformen und zur sachgemäßen Applikation entwickeln läßt.9 Zum Problem wird eine Ordnung oberster Normen, wenn sie nicht (mehr) homogen ist. Wenn, wie bei Quintilian im Blick auf die von ihm kritisierten Verhältnisse im ersten nachchristlichen Jahrhundert, das Fehlen einer vorwissenschaftlichen, an der „prudentia“ orientierten und den „sensus communis“ (den Common sense) bildenden Erziehung beklagt wird, ist dieser Zustand häufig Ausdruck eines Nebeneinanderbestehens von heterogenen, in wichtigen Bereichen inkongruenten Denk- und Lebensformen. Diese Verschiedenartigkeit oberster moralisch-rechtlicher Ordnungen muß aber dort als Ausdruck mangelnder Einsicht oder als kognitives Defizit erscheinen, wo, wie bei Plato und seinen unzähligen Adepten, die richtige Moral immer als „vernunftgemäß“ (und das Unmoralische als Ausdruck der Unvernunft) angesehen wird. Hier liegt im Sinne verschiedener antiker Autoren ein Gestaltungsmoment des erzieherischen Handelns, heute eines der Bildungspolitik und der Volkspädagogik. Daß antike wie auch einige heutige Pädagogen der irrigen Meinung sind, moralische Haltungen seien allein durch Wissenserwerb zu vermitteln und nicht primär durch tätiges Erleben, durch Lebenserfahrung und durch die Identifizierung mit exemplarischen Charakteren, bezeugt nur die Wiederkehr des Gleichen auch in zeitgenössischen Anschauungen. Aus dem hier kurz entwickelten Zusammenhang von Recht, Moral, Erziehung und Lebensführung wird deutlich, in welchem Maße Juristen – und nicht nur die Historiker unter ihnen – den Geisteswissenschaften nahestehen und deren deutenden Verfahren verpflichtet sind. Die zwischen den historisch-philologischen Disziplinen und der Jurisprudenz bestehende Verwandtschaft war ja daher beispielsweise auch für Wilhelm Dilthey dafür maßgeblich, die Jurisprudenz methodologisch den Geisteswissenschaften zuzuzählen. 8 Die Topik als Suche nach dem treffenden Argument erinnert stark an Kants Theorie der „reflektierenden“ sowie der „bestimmenden produktiven Urteilskraft“. – Siehe dazu SCHÖNRICH 1991 sowie WIELAND 1998. 9 Vgl. WIELAND 2001, §§ 8 und 9.
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V. Zur Akademisierung des Rechtsunterrichts vom 16. bis zum 19. Jahrhundert Auch wenn im vorliegenden Sammelband gelegentlich auf die bis in das 16. Jahrhundert zurückgehenden Ansätze der Rechtswissenschaft in Graz Bezug genommen wird, so datiert eine intensiv betriebene Pflege derselben, einschließlich der Vorformen einer sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, erst seit dem 18. Jahrhundert. Der Bezug auf die juridische Fakultät10 steht deshalb im Vordergrund, da sie in Graz jener Ort ist, von wo die Entwicklung der Sozialwissenschaften – mit Ausnahme der sich an der Philosophischen Fakultät entwickelnden Sozialpsychologie und Humangeographie –, aber auch der Wirtschaftswissenschaften ihren Ausgang nahm. Es mag als bedauerlich erscheinen, Abb. 2: Erzherzog Karl II. von Innerösterreich, daß der auch für die Entwicklung der Gemälde des Monogrammisten L. P., 1569 Quelle: Wikimedia Commons Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bedeutsame Bereich des Öffentlichen Rechts – der dritte große Rechtsbereich neben dem Privatrecht und dem Strafrecht – im vorliegenden Band unterrepräsentiert erscheint; wichtige Vertreter des Öffentlichen Rechts werden im vorliegenden Sammelband nicht durch einen eigenen Beitrag dargestellt.11 Immerhin wird jedoch mit Ludwig Gumplowicz ein international hoch angesehener Vertreter des Allgemeinen Staatsrechts und der Verwaltungslehre – wenn auch nicht in dem den Rechtswissenschaften gewidmeten Kapitel, sondern in Kapitel IV – porträtiert. Und zählt man gar, was allerdings nicht allgemein üblich ist, das Strafrecht zum Öffentlichen Recht, dann nimmt sich die Bilanz schon besser aus. – Natürlich mögen andere mit guten Gründen behaupten, daß in dem vorliegenden Sammelband auch die Vertreter des Privatrechts unterrepräsentiert seien, obschon nicht wenige der an der Grazer Universität tätigen Rechtsgelehrten auf 10 Zur Fakultätsbezeichnung siehe noch einmal Anmerkung 1. 11 Zur Geschichte der Lehre des öffentlichen Rechts in Graz siehe WALTER 1966.
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Abb. 3: Alte Universität (re.) und Jesuitenkollegium, Kupferstich von J. J. Hoffmann und H. Hermundt Quelle: MACHER 1700
dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts oder Zivilrechts wirklich Vorzügliches geleistet haben.12 Doch in beiden Fällen stieß der Herausgeber auf Grenzen der Belastbarkeit von einschlägig kompetenten Kollegen. Die Gründung der Universität Graz erfolgte im Jahre 1585 durch Erzherzog Karl II. von Innerösterreich (Abb. 2), der sie an die Societas Jesu übergab. Durch fast zwei Jahrhunderte hindurch bestand diese Universität (Abb. 3) aus nur zwei Fakultäten, der theologischen und der philosophischen (als der „Fakultät der freien Künste“, der artes liberales).13 Nicht nur wegen finanzieller Bedenken, sondern auch weil sie im Falle einer Universitätserweiterung eine Bedrohung ihrer Vorrangstellung an der Universität befürchteten, wandten sich die Jesuiten gegen den Ausbau der Universität durch Einrichtung einer juridischen und einer medizinischen Fakultät. Erst nach der Aufhebung des
12 Das Privatrecht umfaßt als Allgemeines Privatrecht dessen allgemeinen Teil (Grundlagenfragen des objektiven und subjektiven Rechts, Personenrecht, Lehre vom Rechtsgeschäft, Stellvertretung), ferner das Schuldrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht; als Sonderprivatrecht umfaßt es beispielsweise das Handelsrecht, das Arbeitsrecht, das Finanzrecht, das Wertpapierrecht (mit einer Nahebeziehung zum Handelsrecht) und das Mietrecht (das oft im Zusammenhang mit dem Schuld- oder Vertragsrecht behandelt wird). In einer entwickelten kapitalistischen Wirtschaft kommt dem Finanzrecht eine zentrale Stellung zu, umfaßt es doch die Gesamtheit von Rechtsnormen, die sich auf den Staatshaushalt, auf die Finanzen der Staatsbürger, der Unternehmen und der regionalen Selbstverwaltungsorgane beziehen, ferner auch auf Geld und Wertpapiere. – Die wichtigsten Teilgebiete des Öffentlichen Rechts wiederum sind das Völkerrecht und das Nationale Recht; letzteres umfaßt Staats- und Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Sozialrecht, Steuerrecht. Die Abgrenzung des Öffentlichen Rechts zum Privatrecht ist im einzelnen strittig, jedoch aus praktischen Gründen unverzichtbar. Gelegentlich zeigen sich Überlappungen, wie im Falle von Finanz- und Steuerrecht. Mitunter wird auch, wie soeben bemerkt wurde, das Strafrecht dem Öffentlichen Recht zugeordnet, häufiger wird es jedoch eigenständig behandelt. 13 Zur Jesuitenuniversität allgemein siehe HÖFLECHNER 2006, S. 1–22.
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Jesuitenordens im Jahre 1773 und der Übernahme der Universität durch den Staat kam es 1778 zur Einrichtung einer juridischen Fakultät in Graz.14 Dies besagt nicht, daß es nicht schon zuvor einen Rechtsunterricht in Graz gegeben hätte. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und zwar von 1566 bis 1598, wurde ein solcher an der protestantischen landschaftlichen Schule erteilt,15 aber auch von 1648 an bis zur Gründung der juridischen Fakultät durch von den steirischen Ständen besoldete Professores juris. Der letzte landschaftliche Professor dieser Art, Dr. Joseph Balthasar Winckler, wurde 1778 der erste Professor der Rechte an der neu gegründeten juridischen Fakultät. Das im Jahre 1778 an der Universität Graz eingeführte Studium umfaßte, wie an dem Lyzeum zunächst offenbar auch, Abb. 4: Leo Graf Thun-Hohenstein, zu welchem die Universität 1782 herLithographie von Joseph Kriehuber, 1850 abgestuft wurde, nur zwei Jahrgänge. Quelle: Wikimedia Commons Durch die Zeillersche Studienreform von 1810 erfolgte jedoch eine Ausweitung des juristischen Lehrplans auf vier Jahrgänge. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung bestand nun zwischen dem Rechtsstudium an Lyzeen und dem an Universitäten kein Unterschied mehr, lediglich das Promotionsrecht blieb der Grazer juridischen Fakultät bis 1827, also bis zum Jahr der Wiedererrichtung der Universität versagt. Die nächste und trotz aller zwischenzeitlich erfolgten Änderungen der juristischen Studienordnung16 bis auf den heutigen Tag bedeutsamste Neuordnung des Rechtsstudiums stellte die juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung Leo von Thun-Hohensteins (Abb. 4) vom 2. Oktober 1855 dar, 14 Zum folgenden siehe vor allem WESENER 2002. 15 Dazu siehe PSCHOLKA 1911. 16 Zu den juristischen Studienordnungen von 1893, 1935 und 1945 sowie zum Organisationsgesetz von 1955 siehe WESENER 2002, S. 51 und 86f.; zum Universitätsorganisationsgesetz (UOG) 1975 sowie zum UOG 1993 siehe HÖFLECHNER 2006, S. 234–250.
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von welcher es heißt, daß sie die größte persönliche Leistung innerhalb des Gesamtwerks der nach ihm benannten Unterrichtsreform sei.17 Sie betraf die meisten der heute den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zuzuordnenden Disziplinen und stellte zugleich die Weichen für deren Entwicklung in den darauffolgenden eineinhalb Jahrhunderten. In ihrem Sinn waren unter anderem Soziologen (oft als Staats- oder Verwaltungsrechtslehrer) und Sozialökonomen an den juridischen Fakultäten am Werk, so etwa in Graz Ludwig Gumplowicz und Joseph Alois Schumpeter, denen im vorliegenden Sammelband eigene Beiträge gewidmet sind. Die modifizierte juristische Rigorosenordnung vom 15. April 1872, welche weiteren, 1855 noch nicht durchsetzungsfähigen Plänen Thuns Rechnung trug, blieb (in novellierter Fassung) bis zum 30. September 1995 in Wirksamkeit.
VI. Einiges Allgemeine zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Die Übernahme der vor allem in Frankreich und im Vereinigten Königreich schon früher entwickelten Disziplin der Politischen Wissenschaft erfolgte in Österreich bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die der Ökonomik und der Gesellschaftslehre auf ernstzunehmende Weise erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei kommt, worauf in Kapitel III noch hingewiesen werden wird, dem aus Graz gebürtigen und am hiesigen Lyzeum tätig gewesenen Joseph Kudler besondere Bedeutung zu. Erst mit ihm begann nach seiner Berufung an die Universität Wien die wissenschaftliche Behandlung der Volkswirtschaftslehre in Österreich. Die Volkswirtschaftslehre ist heute eine ganz andere als zu Kudlers Zeit. Seit Alfred Marshall, welcher als erster den Begriff „Economics“ statt dem der „Political Economy“ verwendete und zugleich die Wirtschaftstheorie ihrer ganzen Konzeptualisierung nach in eine eigene Wissenschaft überführte, hat sich diese Disziplin kräftig entfaltet. Als Mikroökonomik befaßt sie sich mit den Beziehungen zwischen einzelnen Wirtschaftssubjekten, wie zum Beispiel Haushalten und Unternehmen, die zum Gegenstand unterschiedlicher Teilgebiete werden: so vor allem der Haushaltstheorie, Produktionstheorie, Preistheorie, ferner der Institutionenökonomik und der Experimentellen Ökonomik, welch letztere in jüngster Zeit besonders an Bedeutung gewonnen haben. Als Makroökonomik zieht die Volkswirtschaftslehre die Wirtschaft auf einer aggregierten Ebene im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang in Betracht. Als solche faßt sie Staaten, Staatengemeinschaften und auch die internationale Wirtschaft als Systeme auf, die sich in verschiedener Weise perspektivieren und erklären lassen, so beispielsweise mit Hilfe der 17 Vgl. LENTZE 1962, S. 347.
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Geldtheorie, der Konjunkturtheorie, der Konsum- und Investitionstheorie oder der Einkommenstheorie. Als Methoden haben sich die Ansätze der Spieltheorie und des Operations Research sowie der Ökonometrie in der Mikro- und der Makroökonomik einen festen Platz gesichert. Die Betriebswirtschaftslehre, die als sogenannte Handlungswissenschaft auf das 17.Jahrhundert zurückgeht und im deutschen Sprachraum in Johann Michael Leuchs System des Handels (1804) einen Höhepunkt erlebte, verflachte im 19. Jahrhundert zusehends, ehe es in den 1920er Jahren zu einer Revitalisierung kam. Nach dem Zweiten Weltkrieg durch Erich Gutenberg neu geordnet, geriet die Betriebswirtschaftslehre im deutschen Sprachraum seit den 1970er Jahren stark unter den Einfluß der US-amerikanischen Managementlehren, vor allem in den Bereichen Rechnungslegung, Finanzierung und Bankbetriebslehre („Accounting“, „Banking and Finance“). Befaßt sich die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit organisatorischen, planerischen und rechentechnischen Entscheidungen in Betrieben, so haben es die verschiedenen Sparten der Speziellen Betriebswirtschaftslehre mit Fragen zu tun, welche für bestimmte Unternehmen oder Unternehmensteile von Bedeutung sind. Unter institutionellen Gesichtspunkten werden so das eine Mal bestimmte Betriebstypen – z. B. Gesundheitswesen, Medien, Industrie-, Handels- und Versicherungsbetriebe – zum Gegenstand der Betrachtung, das andere Mal einzelne Bereiche in diesen Betrieben und die zwischen ihnen bestehenden funktionalen Beziehungen. Als Bereiche dieser funktionalen Betriebswirtschaftslehre gelten vor allem: Investition und Finanzierung, Internes Rechnungswesen oder Controlling, Externes Rechnungswesen (einschließlich Revisions- und Treuhandwesen sowie Wirtschaftsprüfung), Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Organisation, Wirtschaftsinformatik, Innovations- und Technologiemanagement, Marketing, Strategisches Management und Unternehmensführung. Es mutet sonderbar an, daß die Ausdifferenzierung der Bereiche der Volks- und Betriebswirtschaftslehre dazu geführt hat, daß sie einander wechselseitig immer fremder wurden, ja daß manchem Betriebswirt die Probleme und Überlegungen der Volkswirte mittlerweile wie metaphysische Spekulationen erscheinen, obwohl doch die Mikroökonomik eigentlich das theoretische Fundament seines eigenen Wissenschaftsbereichs bildet. Neben den Staats- und Wirtschaftswissenschaften nahmen, wie bereits erwähnt, auch die meisten sozialwissenschaftlichen Forschungen ihren Ausgang von der juridischen Fakultät. Nicht gilt dies für die ursprünglich an der Philosophischen Fakultät eingerichtete Psychologie. Ihr kam in Graz insofern eine Pionierrolle zu, als hier unter Alexius Meinong (Abb. 5) im Jahre 1894 das erste experimentalpsychologische Laboratorium an einer Universität der Habsburger Monarchie eingerichtet wurde. Meinong war auch der Lehrer von Fritz Heider, dem weithin berühmten Sozialpsychologen und Vertreter einer „Psychologie der interpersonalen Beziehungen“; ihm ist in diesem Sam-
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melband ein eigener Beitrag gewidmet. – Der Forschung und Lehre auf den Gebieten der Soziologie sowie der Kriminologie und Kriminalistik kam an der Grazer juridischen Fakultät, ähnlich wie den psychologischen Forschungen an der Philosophischen Fakultät, innerhalb der Donaumonarchie ebenfalls eine herausragende Stellung zu: Mit Ludwig Gumplowicz, der hier zwischen 1876 und 1908 als Universitätslehrer tätig war, beherbergte diese Fakultät den einzigen österreichischen Klassiker der Soziologie; an ihr wurde bereits ab dem Wintersemester 1908/09 erstmals in Österreich regelmäßig eine für Studierende der Staatswissenschaften obligatorische SoziologieVorlesung abgehalten; mit Franz von Abb. 5: Alexius Meinong Liszt und Julius Vargha ist Graz zu Quelle: Meinong-Institut der Universität Graz einer Geburtsstätte der modernen Kriminologie und des modernen Strafrechts geworden, mit Hans Gross wiederum zu einem Zentrum der modernen Kriminalistik. – Auf diese Wissenschaftler und die durch sie ausgelösten Entwicklungen wird in mehreren Beiträgen in den Kapiteln III und IV hingewiesen werden.
VII. Kontextualisierung und Interdisziplinarität: Facetten und Repräsentanten Für den heutigen Betrachter der Grazer Universitätswissenschaft um 1900 entsteht mitunter der Eindruck, als hätte in verschiedenen Bereichen eine enge Kooperation zwischen den Disziplinen bzw. deren Fachvertretern geherrscht, die heute weitgehend verschwunden ist. Dieser Eindruck ist gewiß nicht falsch, man übersieht dabei allerdings oft den Umstand, daß die Komplexität der damaligen Fakultäten wesentlich höher war und eine ganze Reihe von zwischenzeitig an andere Fakultäten ausgegliederten Disziplinen enthielt.18 Dies gilt, wie bereits gezeigt wurde, für die aus der juridischen Fakultät hervorgegangenen Disziplinen der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften,
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aber auch für die Statistik,19 die an jener Fakultät besonders stark vertreten war. Entsprechendes läßt sich an anderen Fakultäten nachweisen, so auch im Falle der in diesem Sammelband dargestellten Disziplinen der (Sozial-)Psychologie und der (Human-)Geographie: sie gingen beide aus der alten Philosophischen Fakultät hervor, die Psychologie ist aber in Graz mittlerweile an der Naturwissenschaftlichen Fakultät, die Geographie an der Umwelt-, Regional- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät eingerichtet. In besonderem Maße war als einzelne Disziplin die Philosophie von derartigen Ausgliederungsprozessen betroffen. Mit dem Eintritt der westeuropäischen Gesellschaften in die technisch-wissenschaftliche Zivilisation verlor diese nicht nur verschiedene häufig noch der „philosophia naturalis“ zugezählte naturwissenschaftliche Fächer, sondern nahezu überall, und so auch in Graz, die Psychologie. Die heute allenthalben vernehmbare Forderung nach Interdisziplinarität ist eine Folge dieser zentrifugalen Tendenzen in der Wissenschaftslandschaft, wie sie nun einmal unausweichlich mit der fachlichen Spezialisierung der Wissenschaftler und der entsprechenden Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Teildisziplinen verbunden sind. Und doch hat der heute aus allen Richtungen hörbare Ruf nach Interdisziplinarität die Probleme in bestimmten Wissenschaftsbereichen, insbesondere in den Geisteswissenschaften, eher vergrößert als verringert. Interdisziplinären Kredit kann nun einmal nur erwerben, wer bereits zuvor disziplinäres Kapital akkumuliert hat. Heute aber sorgen – im Sinne einer radikalen Pendelbewegung gegen einen mit Überspezialisierung einhergehenden Mangel – üppige Interdisziplinaritätsangebote im Rahmen einer eher zufallsgesteuerten Schaffung neuer Master- und Doktoratsstudien oft dafür, daß Disziplinarität, also die Kompetenz in einem bestimmten hinreichend klar abgegrenzten Bereich, immer weiter untergraben wird. Wieder einmal verbindet sich eine zutreffende Diagnose mit einer falschen Therapie. Denn die angestrebte Vernetzung macht hier einer additiven Akkumulation unkoordinierter Partialwahrheiten Platz. Die Juristenfakultät, wie sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand (Abb. 6), brachte demgegenüber in den meisten Fällen eine über das Akkumulationsprinzip hinausgehende Amalgamierung von Lehrinhalten zustande. Daraus konnte jenes Wissen resultieren, das den kakanischen Juristen im Alltagsverständnis der Epoche als eine achtenswerte, gebildete Persönlichkeit erscheinen ließ. Man hatte so als Rechtsstu18 Allerdings gab es immer wieder auch Doppelgleisigkeiten. So war eine ordentliche Professur (Ordinariat) für Kirchenrecht seit 1876 wieder an der Grazer Theologischen Fakultät eingerichtet worden, obschon dieses Fach auch an der juridischen Fakultät vertreten war. Als erster Ordinarius seit der Wiedereinrichtung war Rudolf von Scherer, einer der großartigsten Vertreter dieser Disziplin überhaupt, an jener Fakultät tätig. Scherer, ein Schüler des an der Grazer juridischen Fakultät lehrenden Romanisten und Kanonisten Friedrich von Maassen, war von dessen Anwendung der historischen Methode auf das Kirchenrecht stark beeinflußt worden. 19 Zum Studium der Statistik an den österreichischen Universitäten im 19. Jahrhundert siehe FICKER 1876.
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Abb. 6: Hauptgebäude der Universität, ehem. Sitz der juridischen Fakultät. Quelle: Archiv Karl Acham
dent Kenntnisse in Fächern zu erwerben, die heute an anderen Fakultäten anzutreffen sind: Politikwissenschaft, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Soziologie und Statistik. Diese Fächer bestimmten die Matrix des Rechtsstudiums maßgeblich mit, denn das disziplinäre Selbstverständnis des österreichischen Juristen war ein generalistisches, über das rein technokratische Verständnis der Rechtspraxis hinausreichendes. Für die erwähnten, obligatorisch zu absolvierenden Fächer gab es systemisierte Professoren- und Dozentenstellen. Was an dieser alten juridischen Fakultät beeindruckte, war nicht nur deren Mannigfaltigkeit, sondern als eine Folge dieser kurrikularen Gegebenheiten vor allem auch die Tatsache, daß Vertreter von Rechtsfächern – beispielsweise solche des römischen Rechts und des Privatrechts – in einer heute selten gewordenen Weise mit Sachfragen von Disziplinen befaßt waren, welche nicht zum unmittelbaren rechtswissenschaftlichen Kernbestand zählten. Dazu gesellte sich, anders als heute, wo dies schon aufgrund des Massenlehrbetriebs nur mehr selten möglich ist, häufig eine sowohl intra- als auch interfakultär betriebene Forschungskooperation auf oft hohem Niveau. Im folgenden soll auf diese interessante Form einer das eigene Nominalfach übersteigenden Forschungsorientierung durch die exemplarische Nennung einiger hervorragender Rechtswissenschaftler hingewiesen werden, nur sporadisch jedoch auch auf deren in der Auswahlbibliographie zu diesem Band angeführtes Schrifttum.
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Hingewiesen sei zunächst einmal auf August Chabert, der 1844 mit der Lehrkanzel des römischen Zivilrechts und Kirchenrechts betraut wurde und dem beim Studium von Jacob Grimms Deutschen Rechtsaltertümern der Gedanke kam, „daß Geschichtsstudien auch bei Rechtsstudien die Grundlage bilden sollten, daß aber insbesondere die Kenntniß der früher in Oesterreich geltenden Rechte und Rechts-Gewohnheiten von größtem Interesse sein müsste, ja auch von praktischer Wichtigkeit“.20 Sein besonderes Streben galt der Schaffung einer österreichischen Staats- und Rechtsgeschichte; das dafür reichlich vorhandene Material entbehrte noch jeder systematischen Ordnung. – Was die „Politischen Wissenschaften“ anlangt, so wurden diese bereits im Jahre 1784 dem Rechtsstudium einverleibt und der Fakultät als Fachvertreter Joseph Buresch von Greifenbach zugeteilt. Die Lehrinhalte dieser Disziplin, welcher seit der Unterrichts- und Studienreform des Ministers Thun-Hohenstein neben dem Österreichischen Recht eine tragende Rolle im zweiten Abschnitt des Rechtsstudiums zukam, sollten später von den Vertretern des Öffentlichen Rechts wahrgenommen werden, wobei nicht selten die persönlichen normativen Erwartungen des jeweiligen Fachvertreters die deskriptive Orientierung seiner Analysen durchkreuzten. Eine die Rechtswissenschaft mit der Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik verknüpfende Orientierung ist bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also seit den Tagen von Joseph Kudler und Gustav Franz Schreiner in Graz nachweisbar; noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie etwa für die Lehre und das Schrifttum von Dieter Bös und Gunther Tichy kennzeichnend. Deren ursprünglich juristische Ausbildung kam ihnen bei der Erörterung wirtschafts- und verfassungsrechtlicher Fragen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sehr zustatten. – Als ein aus Graz gebürtiger und aus der hiesigen Rechtsfakultät hervorgegangener Sozialpolitiker von hohem internationalem Rang verdient Otto von Zwiedineck-Südenhorst erwähnt zu werden. Seine im Jahre 1911 verfaßte Sozialpolitik ist als ein klassisches Werk dieser Disziplin anzusehen, das auf exemplarische Weise soziale, juristische, ökonomische und kulturelle Gesichtspunkte und Analysen vereint. Ein in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts in ähnlichem Sinne um eine Integration von rechtlichen sowie wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten bemühter Wissenschaftler war der an der Grazer Rechtsfakultät wirkende Soziologe und Sozialpolitiker Anton Burghardt, aus dessen reichhaltigem Schrifttum in dem hier interessierenden Zusammenhang vor allem sein Kompendium der Sozialpolitik aus dem Jahre 1979 erwähnt sei. Auf mitunter sehr originelle Weise erfolgte in Graz immer wieder ein Brückenschlag sowohl von den rechtswissenschaftlichen als auch den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern zur Soziologie. Neben dem Kriminologen Eugen Vargha, der engen fachlichen 20 Zitiert nach WESENER 1978, S. 37.
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und persönlichen Kontakt mit dem ebenfalls an der juridischen Fakultät tätigen Ludwig Gumplowicz unterhielt, sind in diesem Zusammenhang insbesondere die beiden namhaften Rechtshistoriker Armin Ehrenzweig (Abb. 7) und Paul Koschaker zu nennen. Für Ehrenzweig ist die „Jurisprudenz“, wie er im Vorwort zum ersten Band des Systems des österreichischen allgemeinen Privatrechts aus dem Jahre 1925 bemerkt, „eine Erfahrungswissenschaft, Aufgabe des Systems die Darstellung des wirklich geltenden Rechtes. Nicht darum handelt es sich, was in Österreich Rechtens sein soll, sondern was hier Rechtens ist“. Joseph von Schey-Koromla zählt ihn daher auch folgerichtig zu den Wegbereitern der „soziologischen Methode“, da er Abb. 7: Armin Ehrenzweig Quelle: Archiv der Universität Graz in starkem Maße soziale und wirtschaftliche Aspekte in seinem Schrifttum berücksichtigt.21 Auf andere Weise hat Koschaker einen Zugang zur Rechtssoziologie gefunden. Wie Gunter Wesener in seinem Beitrag zu diesem großen Rechtshistoriker ausführt, hat dieser in einem Vortrag in der „Akademie für deutsches Recht“ in Berlin im Jahr 1937 das römische Recht als ein wesentliches Element der europäischen Kultur gegen die Angriffe des Nationalsozialismus verteidigt. Die in diesem 1938 publizierten Vortrag entwickelte Konzeption hat Koschaker nach dem Zweiten Weltkrieg seinem 1947 erschienenen Buch Europa und das römische Recht zugrunde gelegt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine glänzende Darstellung der Rezeption des römischen Rechts, sondern auch um eine bahnbrechende Studie im Geiste einer Soziologie des Juristenrechts. – Als Absolvent der damals neu eingerichteten Studienrichtung der Staatswissenschaften schlug auch der von 1925 bis 1929 als Assistent bei Hans Kelsen in Wien tätige, im Jahr 1929 für Nationalökonomie habilitierte und seit 1931 als Professor der Politischen Ökonomie nach Graz berufene Josef Dobretsberger fachliche Brücken in Richtung der Sozio21 Vgl. in diesem Zusammenhang WESENER 2002, S. 78.
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logie und publizierte unter anderem auch im damals bedeutendsten, von Alfred Vierkandt herausgegebenen Handbuch der Soziologie. Eine andere, nicht ohne weiteres zu erwartende Kooperation über die Grenzen fachverwandter Disziplinen hinaus ergab sich zwischen Mariano San Nicolò als einem Vertreter des römischen Rechts und dem Professor für österreichisches Strafrecht und Strafprozeßrecht Hans Gross, einem der namhaftesten Vertreter der Kriminalistik überhaupt. So ist eine der bedeutendsten Arbeiten San Nicolòs, seine Erläuterung des Dikaiomata-Papyrus, in dem von Hans Gross herausgegeben Archiv für Kriminalanthropologie 22 erschienen. Im Unterschied zu der soeben Abb. 8: Franz Anton von Zeiller Quelle: Wikimedia Commons erwähnten intrafakultär betriebenen Zusammenarbeit erscheint die Beschäftigung von Vertretern der Rechtswissenschaft mit Fragen der Philosophie bereits dadurch gewissermaßen systemisiert, daß seit der Unterrichts- und Studienreform Thun-Hohensteins an den juridischen Fakultäten statt der Lehrkanzeln für Naturrecht solche für Rechtsphilosophie eingerichtet worden waren. Was dabei mitunter besonders überrascht, ist der Umstand, daß auch von Professoren, deren Nominalfach nicht die Rechtsphilosophie war, immer wieder philosophische und allgemein kulturtheoretische Fragen behandelt wurden. Dies gilt in exemplarischer Weise für den 1919 an der Grazer Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät für Österreichisches allgemeines Privatrecht habilitierten und später an der Deutschen Universität Prag sowie an der Universität Wien tätigen Ernst Swoboda, der sich intensiv mit der Philosophie Immanuel Kants beschäftigt hat. Mit seinem Hauptwerk Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants (1926), aber auch mit anderen Studien suchte er zu zeigen, wie stark der aus Graz gebürtige Schöpfer des ABGB, Franz Anton von Zeiller (Abb. 8), unter dem Einfluß der kritischen 22 Und zwar in den Bänden 53 (1913), 55 (1913) und 57 (1914).
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Philosophie Kants stand. – Ein eminent philosophisches Interesse ist auch für den 1957 an der Grazer Juristenfakultät für Österreichisches Privatrecht habilitierten Franz Bydlinski charakteristisch, der sich in seinem Schrifttum in besonderem Maße der juristischen Methodenlehre und Rechtstheorie sowie der Rechtsethik zuwandte. Von Bydlinski, dessen im Jahr 1957 gehaltene Probevorlesung den Titel „Zum Stand der Lehre von der Kausalität“ trug und der von sich später sagte, daß es ihm um eine „Wiederbelebung eines ,gemäßigten‘ Naturrechtsdenkens mit praktischen Konsequenzen“ gehe,23 sind hier zunächst zwei grundlegende Werke zu nennen: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1982; 2.Aufl. 1991) und Fundamentale Rechtsgrundsätze – Zur rechtsethischen Verfassung der Sozietät (1988), ferner die Studien über „Die praktische Bedeutung der Rechtsethik und die Möglichkeiten ihrer Vermittlung“ sowie „Setzungs- oder Existenzpositivismus und methodische Rechtsgewinnung“. – In diesem Zusammenhang sei auch auf die ebenfalls um eine Restituierung des Naturrechts bemühten späten Abhandlungen des in Graz als Professor für Römisches Recht und Sozialversicherungsrecht tätig gewesenen Theo Mayer-Maly hingewiesen, insbesondere aber bereits auf Artur Steinwenter. Ihm, der gleichermaßen ein hervorragender Romanist, Gräzist und Papyrologe war und der zudem seit den 1930er Jahren auch einer Lehrverpflichtung für Österreichisches Bürgerliches Recht nachkam, ging es in seinem 1958 erschienenen Buch Recht und Kultur. Aufsätze und Vorträge eines österreichischen Rechtshistorikers um so etwas wie eine geisteswissenschaftliche Grundlegung der Jurisprudenz, wobei vor allem „juristische Entdeckungen“, „juristische Erfindungen“ und „juristische Versteinerungen“ im Zentrum seiner Betrachtungen stehen.
VIII. Spezialisierung, Dekontextualisierung, Enthistorisierung Die Zeit der scheinbar naturwüchsig betriebenen Interdisziplinarität war, wie bereits erwähnt, weitgehend eine Sache ihrer Institutionalisierung durch unterrichts- und studienrechtliche Bestimmungen. Dieser Zustand hat sich weitgehend erledigt. An den juridischen Fakultäten wurde die Breite der Ausbildung im Sinne von Thun-Hohensteins Studien- und Staatsprüfungsordnung des Jahres 1855 vor allem seit dem zweiten Drittel des 20.Jahrhunderts schrittweise eingeschränkt. Dies war einerseits eine Folge der Ausgliederung der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer aus der juridischen Fakultät, andererseits aber Ausdruck des Bestrebens, die Lösung der Gegenwartsund Zukunftsprobleme nicht in der Vergangenheit zu suchen. So wurden – nicht nur 23 Franz BYDLINSKI: Fundamentale Rechtsgrundsätze – Zur rechtsethischen Verfassung der Sozietät, WienNew York 1988, S. VIII.
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in Graz – die einstmals über Gebühr vertretenen rechtshistorischen Fächer eingeschränkt, der noch in den 1950er Jahren übliche und für das Rechtsstudium anrechenbare Besuch von Lehrveranstaltungen zur österreichischen Geschichte oder zur Geschichte der Neuzeit an der Philosophischen Fakultät abgeschafft, die Soziologie der mehr und mehr marginalisierten Rechtsphilosophie eingegliedert, und die Politikwissenschaft dem Öffentlichen Recht inkorporiert, ohne daß sie dort immer angemessen vertreten worden ist. War vor allem seit den 1980er Jahren für die Rechtswissenschaftliche Fakultät eine stetig fortschreitende Enthistorisierung, Entpolitisierung, Entökonomisierung und Entsoziologisierung charakteristisch, so galt Entsprechendes auch für die durch das Universitätsorganisationsgesetz 1975 aus ihr ausgegliederten und in einer eigenen Fakultät etablierten Disziplinen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, auch wenn hier die Verankerung der obligatorischen Rechtsfächer nicht preisgegeben wurde:24 Die Philosophie und die Politische Wissenschaft (Politologie) fanden hier überhaupt keinen Platz mehr, eine Kenntnis der Weltgeschichte oder doch wenigstens der Geschichte Österreichs und Europas wird als entbehrlich angesehen, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wird zunehmend marginalisiert, und selbst die Geschichte der ökonomischen Analyse wird im Rahmen des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums verschiedentlich als ein entbehrlicher Luxus betrachtet. Diese Tendenzen sind nicht nur in Graz und in Österreich nachweisbar, sie bestimmen weite Teile der europäischen, vor allem der deutschsprachigen Universitätslandschaft. Die Zurückdrängung der historischen Betrachtung sowie eines philosophisch-analytischen Zugangs zu Problemerörterungen kann im Rechtsstudium negative Folgen haben. So ist es als ein kognitives Defizit anzusehen, wenn man beispielsweise nicht die Entstehungsbedingungen des sozialen Rechtsstaates kennt, also die Umstände, unter denen versucht wurde, diesen anstelle des liberalen (bürgerlichen) Rechtsstaates zu etablieren, oder wenn man nicht im Lichte einer begriffslogischen Analyse um die moralisch-politischen Implikationen einer Transformation des formellen in ein materielles Rechtsstaatskonzept Bescheid weiß. Umgekehrt kann eine historisch informierte Rechtsauslegung beispielsweise zeigen, wie die sozialstaatliche Aktivität der von ErnstWolfgang Böckenförde geschilderten Tendenz unterliegt, „selbstläufig zu werden und sich zu einem System sozialer Leistungen und rechtlicher Bindungen zu verdichten, das die rechtsstaatlichen Freiheitsverbürgungen zwar nicht formell aufhebt, aber doch 24 In dieser Hinsicht herrscht glücklicherweise – jedenfalls derzeit (noch) – kein Verhältnis der Symmetrie zwischen der Rechtswissenschaftlichen und der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. So sind für das Bachelor-Studium der Betriebswirtschaft gemäß den im Jahr 2009 eingeführten Regelungen vier Vorlesungen zu jeweils 2 Stunden (4 ECTS) für alle Studierenden verpflichtend, und zwar in folgenden Fächern: Rechtsgrundlagen und Vertragsrecht, Arbeits- und Sozialrecht, Unternehmensrecht und Finanzrecht.
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inhaltlich unterläuft“; und wie andererseits der Freiheitsabbau totalitärer Regime „keineswegs mit der Ausnutzung formaler Garantien und Verfahren [beginnt], sondern stets mit der Mißachtung derselben unter Berufung auf ein höheres, materiales und vor-positives Recht, sei es der ,wahren Religion‘, der ,artgleichen Volksgemeinschaft‘ oder des ,Proletariats‘ “.25 Man denke aber auch an die historischen Bedingungen, welche uns ein Verständnis dafür vermitteln, wie heute zwei Arten von Recht nebeneinander und zum Teil ineinander verschränkt in unserer Rechtsordnung zu liegen kommen: das alte personenbezogene, Rechte und Pflichten regelnde und das neue Recht, das aus zweckrationalen und funktionsbezogenen Ablaufnormen besteht. Demgemäß erfahren und erleben sich die Menschen zwar als Individualpersonen, zunehmend aber auch als Rollenträger, die in Arbeits- und Systemabläufe eingefügt sind, die sie nicht oder doch nur in Grenzen beherrschen und gestalten können. Für die Sozialwissenschaften, insbesondere für die Soziologie, und deren Enthistorisierung gilt Entsprechendes. Wie Ralf Dahrendorf gezeigt hat, stellt uns die Tatsache des „doppelten Menschen“ – des Menschen als Person und des Menschen als Rollenwesen – vor ein moralisches Problem, das sich uns zumeist erst im historischen Vergleich richtig erschließt. Wo sich die Menschen, so lehrt uns die Geschichte, zunehmend nur als Rollenträger erfahren, die durch soziale Strukturen und Prozesse gesteuert sind, welche sie nicht beherrschen, ändert sich nach Maßgabe der beteiligten Interessen auch die Deutung von Verantwortung und Schuld: „Schon finden unsere Gerichte es in zunehmendem Maße schwierig, hinter den erklärenden Gutachten sozialwissenschaftlicher Experten noch eine Schuld des Angeklagten zu ermitteln. Jede, auch die unmenschlichste Bewegung wird für den soziologisch geschulten Journalisten und seine Leser zu einer ,notwendigen‘ Konsequenz angebbarer Ursachen und Konstellationen. Der Punkt ist nicht fern, an dem der aller Individualität und aller moralischen Verantwortung bare homo sociologicus in der Perzeption der Menschen und damit für ihr Handeln den freien, integren Einzelnen, der der Herr seines Tuns ist, ganz ersetzt hat.“26 Natürlich werden sich Probleme dieser Art nicht durch deren Rekonstruktion bereits lösen lassen, aber gediegenes historisches Wissen vereitelt doch oft eine vorschnelle Dogmatisierung in dieser oder jener Richtung. 25 BÖCKENFÖRDE 1991, S. 162 und 166. 26 DAHRENDORF 1977, S. 90. – Wenn man daher – sei es in entlastender, sei es in belastender Absicht – die Behauptung aufstellt, Armut sei die Brutstätte des Verbrechens, so ist deren Wahrheitsgehalt wohl nicht anders als durch statistische Untersuchungen synchroner und diachroner Art zu überprüfen. So erscheint es einerseits sinnvoll, danach zu fragen, wer unter den Armen kriminelle Handlungen begeht und wer nicht, und was die Gründe und Ursachen für das Handeln der einen und das der anderen Armen sind; andererseits danach, wie sich die Einstellung zur einschlägigen Devianz in bestimmten Gruppen im Laufe der Geschichte gewandelt hat, und ob im Lichte dieser Erfahrungen überhaupt ein notwendiger Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Devianz behauptet werden kann.
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IX. Wissenschaftler in politischer Funktion Die Ausdifferenzierung der rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen ist nicht nur als eine wissenschaftsendogen sich vollziehende Entwicklung zu verstehen, sondern weitgehend auch als eine Reaktion der wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen auf die politische und soziale Lage. Mit dieser waren naturgemäß immer spezifische Situationsdefinitionen, Weltanschauungen und Ideologien verknüpft. Die Art, wie die Menschen – einschließlich der an den Universitäten Lehrenden oder Studierenden – auf die objektiven Gegebenheiten ihrer Zeit, etwa die Industrialisierung, die wirtschaftlichen Veränderungen und die Demokratisierungsbewegungen, reagierten, wies sie als Vertreter des Konservativismus, des Liberalismus oder des Sozialismus aus. Quer zu diesen drei großen weltanschaulichen Lagern kamen bereits im 19. Jahrhundert drei mächtige geistige Strömungen zu liegen, denen so gut wie alle Vertreter der Rechts-, Sozialund Wirtschaftswissenschaften mehr oder minder Rechnung trugen: der Positivismus, die Evolutionstheorie und der Historismus. Wie die drei weltanschaulichen Lager, so sind auch diese drei intellektuellen Strömungen oft in einer Mischform gegenwärtig. Im Zwischenbereich von Bildungs- und Herrschaftswissen angesiedelt, sind verschiedene Vertreter der Grazer Rechts- und Wirtschaftswissenschaften politisch im engeren und weiteren Sinne tätig gewesen – einmal als Parteipolitiker, dann als Experten im Verfassungs- und Verwaltungsdienst, manchmal auch in beiderlei Hinsicht. So war etwa der namhafte Vertreter des Römischen Rechts und des Kirchenrechts Friedrich Bernhard Maassen, obschon er gegen das Unfehlbarkeitsdogma auftrat, einer der Führer der Katholisch-konservativen Partei in der Steiermark, und der für Römisches Recht in Graz habilitierte Karl von Stremayr (Abb. 9) nach seiner Tätigkeit als Abgeordneter des steirischen Landtages in den Jahren nach 1870 Minister für Cultus und Unterricht, Vorsitzender des Ministerrates sowie Justizminister, und von 1893–1899 Präsident des OberAbb. 9: Karl von Stremayr Quelle: Archiv der Universität Graz sten Gerichtshofes.27 – Unter den Wirt27 Ihm als seinem Förderer widmete Anton Bruckner seine 5. Symphonie.
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schaftswissenschaftlern ist zunächst Joseph Alois Schumpeter, Professor der Politischen Ökonomie, zu nennen, der 1918/19 als politisch ungebundener Sachverständiger bei der Deutschen Sozialisierungskommission in Berlin tätig war und im März 1919 als Parteiloser in die Koalitionsregierung Renner als Minister (Staatssekretär) für Finanzen berufen wurde. Dann sei aber gleich auf den für Allgemeine und Vergleichende Statistik habilitierten Alfred Gürtler hingewiesen, der 1910/11 bei der Bewerbung um die Lehrkanzel für Politische Ökonomie – trotz kräftiger Unterstützung zahlreicher Mitglieder der juridischen Fakultät – Schumpeter unterlegen war: er bekleidete zunächst das Amt des Finanzministers, später das des Landeshauptmannes der Steiermark. Drei weitere Wirtschaftswissenschaftler spielten in der steirischen und österreichischen Politik eine maßgebliche Rolle: Josef Dobretsberger, Wilhelm Taucher und Adolf Nussbaumer. Schon vor seiner Habilitation für Nationalökonomie war Dobretsberger Generalsekretär des (katholisch-konservativen) „Österreichischen Reichsbauernbundes“, nach Übernahme des Lehrstuhls für Politische Ökonomie an der Grazer Universität (1931) war er in den Jahren 1934/35 im Generalrat der Österreichischen Nationalbank, und in den Jahren 1935/36 als Bundesminister für soziale Verwaltung tätig. Ähnlich wie bereits zuvor Taucher schied auch Dobretsberger – eigenen Angaben zufolge wegen seiner wirtschaftspolitischen Auffassungen zur Rolle der österreichischen und deutschen Gewerkschaften, die im Gegensatz zu denen des Bundeskanzlers standen – aus dem Kabinett Schuschnigg aus.28 Dobretsberger versuchte nach 1945 – im Anschluß an seine Rückkehr aus der Emigration in die Türkei und nach Ägypten und persönlich gekränkt durch die, wie er fand, nachlässige Behandlung durch ehemalige christlichsoziale Parteifreunde –, mit einer eigenen, unter kommunistischer Förderung zustande gekommenen Partei (der „Demokratischen Union“) wieder in die Politik zurückzukehren. Durch diesen Schritt marginalisierte er sich sowohl in politischen als auch in wissenschaftlichen Kreisen Nachkriegsösterreichs, weshalb auch seine teilweise anregenden Untersuchungen zur Währungstheorie und Währungspolitik nicht jene Anerkennung fanden, die ihnen zu ihrer Zeit hätte zukommen können.29 – Der für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftspolitik habilitierte Wilhelm Taucher sollte hingegen ganz andere Möglichkeiten des Wiedereintritts in die politische Arena nach 1945 vorfinden. In den Jahren nach 1934 war er zunächst Wirtschaftsberater der Steiermärkischen Landesregierung und Mitglied des Landtages, dann Bundesminister für Handel und Ver28 Es gibt aber auch markante Indizien für eine Verwicklung Dobretsbergers in eine Korruptionsaffäre im Zusammenhang mit dem sogenannten Phoenix-Skandal, einem Versicherungsskandal, der die SchuschniggRegierung zutiefst erschütterte. 29 Siehe dazu BINDER 1992, v. a. S. 43–48. – Stoff für ähnliche akademische Schnurren der besonderen Art liefert das Wirken des seit 1948 an der Grazer juridischen Fakultät als Kirchen- und Völkerrechtler, später in der DDR als Gastprofessor in Potsdam-Babelsberg und Leipzig tätig gewesenen Lenin-Friedenspreisträgers Heinrich Brandweiner. Der Hinweis darauf soll hier genügen.
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kehr in der Bundesregierung des vierten Kabinetts Schuschnigg, aus dem er allerdings wegen politischer Auffassungsunterschiede im Februar 1938 schied, ehe ihn die MärzEreignisse desselben Jahres zum vorübergehenden Rückzug von jeglicher politischen Betätigung, aber auch von der wissenschaftlichen Arbeit zwangen. Gleich nach Kriegsende übernahm er 1945 die Präsidentschaft der Handels- und Gewerbekammer, war in den folgenden Jahren als österreichischer Beauftragter für den Marshall-Plan und als Delegationschef Österreichs bei der Gründung der OEEC (Organisation für europäische Wirtschaftszusammenarbeit) tätig, ferner oblag ihm die schwierige Verwaltung der Österreich zugestandenen ERP-Mittel. Wie Hermann Ibler ausführt, konnte sich Taucher später als Präsident des Österreichischen Produktivitätszentrums „im besonderen Maße um die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Volkswirtschaft verdient machen. Als früher Vertreter des Europagedankens trat er für ein möglichst enges Verhältnis zur EWG ein, wofür er im Auftrag der Industriellenvereinigung […] die Möglichkeit einer assoziierten Mitgliedschaft Österreichs in Brüssel zu sondieren hatte.“30 – Der nach dem Ableben Tauchers seit 1963 als Ordinarius für Volkswirtschaftspolitik tätige Adolf Nussbaumer wiederum war in Fortsetzung der durch seinen Vorgänger repräsentierten Tradition als ein Vertreter der angewandten Wirtschaftswissenschaft in Lehre und Forschung, aber auch außeruniversitär tätig. Die beiden Bücher Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis (1962) und Wettbewerb und öffentliche Unternehmungen (1963) belegen deutlich diese Orientierung; später widmete er sich vor allem Themen der Agrarpolitik, der Geldtheorie sowie der Geld- und Finanzpolitik, ferner der Konjunkturpolitik sowie der wirtschaftlichen Integration. Für einige Zeit mit wirtschaftspolitischen Expertisen für die Steiermärkische Landesregierung und die Stadt Graz beschäftigt, wandte er sich vor allem der regionalen Entwicklungspolitik zu, wobei sein besonderes Interesse Problemen der Agrarpolitik galt. 1966 folgte er dem Ruf auf die Lehrkanzel für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik der Universität Wien, ehe er 1977 als Staatssekretär in die Regierung Kreisky berufen wurde. Früh, im 52. Lebensjahr, starb Nussbaumer 1982 in Wien. Einige an der Grazer juridischen Fakultät tätige oder aus ihr hervorgegangene Richter und Rechtswissenschaftler erlangten einflußreiche politisch relevante, wenn auch nicht immer einer parteipolitischen Zugehörigkeit geschuldete Positionen. So wurde etwa der Vertreter sowohl des Römischen Rechts als auch des Zivilrechts Joseph Schey von Koromla wegen seiner großen Verdienste um die Manz’sche Ausgabe des ABGB als Mitglied auf Lebensdauer in das Herrenhaus berufen; andere standen – oder stehen, wie derzeit Irmgard Griss (Abb. 10) als dessen Präsidentin – an der Spitze des Obersten Gerichtshofs. Die Grazer Rechtsfakultät stellte aber vor allem auch eine stattliche Anzahl 30 IBLER 1985, S. 79.
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von Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs: Ludwig Adamovich sen., Erwin Melichar, Ludwig Karl Adamovich (Ludwig Adamovich jun.) und Karl Korinek; in jüngerer Zeit sind in diesem Zusammenhang noch die Verfassungsrichter Hans Georg Ruppe und Christoph Grabenwarter zu nennen. Die starke Beziehung zur politischen Praxis, wie sie beispielsweise für das Leben und das Schrifttum der bereits erwähnten Professoren Stremayr, Schumpeter, Gürtler, Dobretsberger, Taucher und Nussbaumer charakteristisch ist, läßt den Schluß zu, daß auch deren rechts- und wirtschaftstheoretische Auffassungen Realitätsbezogenheit Abb. 10: Irmgard Griss erkennen lassen. Ein solcher Schluß Quelle: Kirchliche Pädagogische Hochschule Graz ist im konkreten Fall gewiß nicht falsch, und man könnte es einfach bei diesem Befund belassen und den Primat der Praxis für die Entwicklung einer gesellschaftlich relevanten Theorie statuieren. Man sollte jedoch, da es überall – und auch in Graz – sehr andersartige Repräsentanten einer „Vermittlung von Theorie und Praxis“ gab und gibt, nie die Möglichkeit einer ideologisierten Wissenschaft außer acht lassen. „Realitätsbezogenheit“ ist bedeutungsmäßig unterbestimmt, weil damit der Möglichkeit nach auch andere, recht wissenschaftsfremde Interessen verbunden sein können. Nicht wenige Wissenschaftler wissen bekanntlich den Umstand für sich zu fruktifizieren, daß in der sogenannten wissenschaftlichen Politikberatung meist nur demjenigen mit einiger Gewißheit Lob und Honorar zuteil werden, der spezifische Interessen als allgemeine, angeblich dem Gemeinwohl dienliche zu bestimmen und nach Möglichkeit auch zu rechtfertigen versteht. Daher gilt für eine bestimmte Variante von Auftragsforschung, daß durch sie die vorurteilslose wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung durch die Kongruenz der Überzeugungen von „Experten“ mit denen der politischen Auftraggeber ersetzt wird. „Ohne den logischen Status des Werturteils innerhalb einer Wissenschaft anzufechten“, so bemerkt deshalb in ähnlichem Zusammenhang Joseph Schumpeter, „kann man dennoch der Ansicht sein, daß a) die Substitution analytischer Fähigkeiten durch ein Glaubensbekenntnis als Kriterium für
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die Auswahl der Träger dieser Wissenschaft den Fortschritt behindern muß; und daß b) diejenigen, welche vorgeben, sich der Aufgabe der Erweiterung, Vertiefung und ,Bearbeitung‘ des Wissensbestandes der Menschheit verschrieben zu haben und die jene Privilegien beanspruchen, die zivilisierte Gesellschaften üblicherweise den Exponenten solcher Bestrebungen zusprechen, ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, wenn sie sich unter dem Schutze des wissenschaftlichen Gewandes Tätigkeiten widmen, die in Wirklichkeit nur eine besondere Art politischer Propaganda darstellen.“ 31
X. Schwundstufen der Wissenschaft und ihrer Vermittlung Gleich wenig wie Realitätsbezogenheit für sich genommen schon wissenschaftliche Respektabilität gewährleistet, ist durch sie auch Lehr- und Forschungseifer sichergestellt. „Praxisnähe“ allein besagt im Fall von akademischen Lehrern ja noch nichts über die Art und Weise und den Grad der Zuwendung zur außeruniversitären Welt der „Praxis“, und so konnte es auch sein, daß die inneruniversitären Aktivitäten darunter arg litten. Die Reduzierung des persönlichen Leistungseinsatzes an der Universität bis hin zur fahrlässigen Ignoranz hatte einmal für die juridische Fakultät, ja sogar für den Ruf der ganzen Universität Graz fatale Folgen. Von den 1950er Jahren an bis zu Beginn der 1970er Jahre überrollte eine Lawine von zu einem großen Teil inferioren staatswissenschaftlichen Dissertationen – auffallend viele über die Bagdad-Bahn – die Fakultät. Eine kritische Reaktion der zuständigen Kollegenschaft, vor allem auch der Dekane unterblieb, und dies machte letztlich die juridische Fakultät wegen des hier offensichtlich ungemein leicht erwerbbaren „Dr. graz“ zum Gegenstand des Spottes in weiten Teilen des deutschen Sprachraums.32 Ähnlichen Tendenzen, die seit den 1980er Jahren im Doktoratsstudium gewisser Fächer an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Erscheinung traten, wurde nach zwei Jahrzehnten ein Ende bereitet.33 31 SCHUMPETER 1965, 2. Teilband, S. 983. 32 Dazu kam ein ungemein grassierendes, weil offensichtlich erfolgreiches Paukerwesen. Dies ist aber nicht eine bereits historische und vor allem auch nicht eine nur für Österreich charakteristische Praxis. So berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Mai 2010 über die Universität Göttingen auf Seite C 4: „Auf ihrer Internetseite hat die Georg-August-Universität nun […] ein Haus- und Werbeverbot gegen die kommerziellen Anbieter von Repetitorien ausgesprochen. Acht von zehn Jurastudenten in Deutschland, so die geläufige Schätzung, nehmen deren Dienste in Anspruch und demonstrieren auf diese Weise, wie weit die akademische Realität vom Ideal entfernt ist.“ 33 Gewissermaßen kompensatorisch zu dieser positiv zu verstehenden Bereinigung erfolgte in der ohnehin vergleichsweise armen wissenschaftspublizistischen Landschaft der Steiermark schon kurz zuvor eine negative: die Einstellung von Geschichte und Gegenwart, der einzigen namhaften Zeitschrift des Landes, die neben historischen auch rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Beiträge enthielt. Sie hatte einen ganz hervorragenden internationalen Herausgeberbeirat, der Vergleiche mit besten ausländischen Zeitschriften nicht zu
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Abb. 11: Campus der heutigen Karl-Franzens-Universität Graz Quelle: Universität Graz
Solche Tendenzen werden aber möglicherweise wieder aktuell werden, wenn der Anstieg der Studierendenquote bei einer unverändert desolaten Unterbestückung der Universitäten mit akademischen Lehrern politisch gewollt ist, gleichzeitig aber auch die Steigerung der wissenschaftlichen Qualität der universitären Forschung. Wenn die Universitäten, wie schon in der Vergangenheit, tatenlos zusehen, wie ihre nicht durch Numerus-clausus-Bestimmungen geschützten Studiengänge vollaufen, gleichzeitig aber den in die Massenlehrveranstaltungen abkommandierten jungen Wissenschaftlern die Erbringung des Nachweises einer positiven Forschungsleistung zugemutet wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn diese dazu übergehen, Kandidaten bei Prüfungen einfach „durchzuwinken“, um sich nicht selbst durch Überarbeitung aufzureiben. Ohnehin ist man auf nahezu allen Ebenen dazu übergegangen, die Kolloquien alten Stils preiszugeben und durch Multiple-choice-Prüfungen zu ersetzen, was wiederum zu einer Verkümmerung der sprachlichen Fähigkeiten von jungen Studierenden beiträgt. – scheuen brauchte. Im Jahr 2000, nach knapp zwei Jahrzehnten ihres Bestehens, wurde sie, wie es heißt, auf Betreiben des damals neuen Chefs des größten steirischen Printmedienunternehmens „abgewickelt“. Sonderbar nur, daß dieselben Rationalisierer sich an Sonntagen gerne wertorientiert, wissenschafts- und kulturbeflissen geben …
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Dabei besteht derzeit ein struktureller Nachteil der Universitäten, auch der heutigen Karl-Franzens-Universität (Abb. 11), gegenüber den Fachhochschulen, welchen zum Zweck der Sicherstellung von Praxisnähe und zweckbestimmter Ausbildung gestattet wurde, rigide Zulassungsbeschränkungen einzuführen. Dies hat zur Folge, daß sich abgelehnte Bewerber in der Regel veranlaßt fühlen, ein eigentlich von ihnen gar nicht angestrebtes wissenschaftliches, nicht unmittelbar zweckbestimmtes Studium an einer Universität zu beginnen. Der Effekt ist zumeist fatal: Die Universitäten erreichen hinsichtlich der Berufsorientierung und des Praxisbezugs mit ihren Bachelor-Studiengängen nicht einmal ansatzweise das Niveau der Fachhochschulen, verlieren jedoch gleichzeitig ihre spezifischen Qualitäten einer wissenschaftlichen und forschungsnahen Ausbildungsstätte. Am Ende gibt es einen alle Seiten unbefriedigenden und zudem noch teuren Kompromiß: Das Studium ist weder berufsorientiert, noch ist es hinreichend wissenschaftlich und forschungsnah.34 Zwar vermochten sich bislang die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Österreich allgemein der Bachelor-Studiengänge im Sinne der von der EU unter dem Schlagwort „Bologna-Reform“ lancierten Bestrebungen einigermaßen gut zu erwehren, für die Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten – gleich wie für die Wiener Wirtschaftsuniversität als ganze – ist hingegen die Situation für alle an Lehre, Forschung und Studium Beteiligten alarmierend. Die Alltagspraxis heißt hier zumeist: Verschulung des elementaren Bachelor-Studiums auf niedrigerem Niveau für alle, also ein Sinken der Standards, aber dennoch ein Ansteigen der Studienabbrecher auf Marken von 60 Prozent und mehr.35 In diesem Zusammenhang ist auch die scheinbar der modernen Didaktik geschuldete Modularisierung von Lehrinhalten, die nicht selten mit einem Spezialisierungserfordernis gerechtfertigt wird, häufig nur eine der Formen, aus der Sicht der Lehrenden mit dem politisch gewollten Anstieg der Studierendenquote zurande zu kommen, ohne seine eigenen Karrierewünsche und Forschungsabsichten völlig zu vernachlässigen. 34 Eine Konsequenz dieser Entwicklungen kann daher einerseits nur im Ausbau und in der Differenzierung der Fachhochschulen mit berufsbildendem Profil für einen größeren Anteil an Studierenden bestehen als dies heute der Fall ist, andererseits in der Entwicklung von Universitätsstudien mit international wettbewerbsfähigen Standards in Forschung und Lehre. Der Vorteil dieses Gegenmodells ist ein doppelter: „Es bietet einem sehr viel größeren Anteil der Studierenden eine ihren Interessen gemäße Ausbildung, es stärkt das wissenschaftliche Profil der Universitäten, die nicht länger als verkappte Gesamthochschulen so tun müssen, als könnten sie Berufsausbildung und Forschungsorientierung gleichermaßen anbieten. Und es befreit die Hochschulpolitiker von der Vorstellung, für eine bedarfsgerechte Differenzierung des Hochschulsystems würde schon der Markt sorgen.“ (HERBERT 2010) 35 Man fragt sich, ob Politiker, die immer den Weg in die Richtung einer „mündigen Bürgergesellschaft“ beschwören, die unterdotierten Universitäten einem verheerenden „overstretch“ aussetzen, dabei aber dem Staatsbürger beibringen wollen, ohne universitäre Ausbildung letztlich ein defizientes Stück selbstverschuldeter Unmündigkeit zu sein – ob solche Politiker, aus nicht zuletzt auch sozialen Gründen, überhaupt noch ernstgenommen werden können.
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XI. Zur Behauptung eines Wissenschaftsprimats Der Differenzierungsprozeß der rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen war seit dem 19. Jahrhundert und bis herauf in die Gegenwart immer wieder von Erklärungen begleitet, denen zufolge eine bestimmte Teildisziplin als Grundwissenschaft des gesamten komplexen Disziplinenbereichs anzusehen sei. Es leuchtet ein, daß mit derartigen Behauptungen – meist schon wegen der mit ihnen verbundenen Auszeichnung gewisser Variablen als grundlegender Faktoren in wissenschaftlichen Deutungen und Erklärungen – auch eine Tendenz zur Vereinheitlichung einherging, nicht selten aber auch ein geradezu wissenschaftsimperialistischer Anspruch. Kennzeichnend dafür war um 1900 eine bestimmte Variante des „Psychologismus“: nämlich die Behauptung, die Psychologie sei die „Grunddisziplin“, auf der alle anderen Wissenschaften beruhen, wie dies beispielsweise bereits Theodor Lipps in seinem 1883 erschienenen Buch Grundtatsachen des Seelenlebens ausführte. In Graz, wo Alexius Meinong im Jahre 1894, 15 Jahre nach der ersten Gründung eines Psychologischen Instituts durch Wilhelm Wundt36 an der Universität Leipzig, das erste experimentalpsychologische Laboratorium in der Donaumonarchie errichtete, ging es nicht um derartige Ansprüche und deren Einlösung. Hier ging das Bestreben, das Psychische betreffende Aussagen überprüfbar zu formulieren und die Überprüfung wiederholbar zu machen, mit einer weiten Streuung von Themen einher, die von der Neurobis zur Sozialpsychologie reichen sollten. In seiner Autobiographie bekennt der Sozialpsychologe Fritz Heider, dem bahnbrechende Forschungen zur sogenannten Balancetheorie und zur Attributionstheorie37 zu verdanken sind: „Alexius von Meinong war ohne Zweifel derjenige meiner Lehrer, der den größten Einfluß auf mich ausgeübt hat.“38 Auf der Grundlage solider methodischer Fundamente gab man sich in der Meinong-Schule aufgeschlossen für eine bunte Palette von Forschungsgegenständen und Sachfragen. Anderswo verlagerte sich hingegen der vorübergehend zwischen den verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften ausgetragene Konflikt um die mit allerlei Originalitätsansprüchen verbundene Behauptung, Grunddisziplin zu sein, in einen Richtungsstreit innerhalb der Psychologie selber. Vor diesem Hintergrund wird ver36 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß sich Wundts Großfamilie auf aus der Steiermark vertriebene Protestanten zurückführen läßt. Wer immer sich mit steirischer Geschichte im allgemeinen, aber speziell mit der Geschichte von Wissenschaft und Kunst in der Steiermark befaßt, kann mit Bestürzung registrieren, wie gewaltig der durch die Gegenreformation seit 1600 bewirkte intellektuell-künstlerische Aderlaß gewesen ist. Dem korrespondiert im Bereich der Wissenschaft allein der erzwungene Exodus der jüdischen Intelligenz um 1938. 37 Siehe dazu exemplarisch Fritz HEIDER: Psychologie interpersonaler Beziehungen, Stuttgart 1977 (= The psychology of interpersonal relations, New York 1958, dt.). 38 HEIDER 2004, S. 25.
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ständlich, warum der 1922 nach Wien berufene Karl Bühler sein Buch Die Krise der Psychologie mit der Feststellung einleitete, daß es so viele Psychologien nebeneinander wie heute wohl noch nie gegeben habe, daß dies jedoch keine Zerfalls-, sondern eine „Aufbaukrise“ sei. Diese ins Positive zu wenden gelinge jedoch nur dadurch, daß man die derzeit vorherrschenden Richtungen: Experimentalpsychologie, behavioristische Verhaltenskonditionierung und verstehende (hermeneutische) Psychologie – also Wilhelm Wundt, John Watson und Wilhelm Dilthey –, nebeneinander als für sich jeweils unabdingbare Sicht- und Untersuchungsweisen zur Geltung kommen läßt. Die Karl Bühler kennzeichnende Konzilianz war jedoch weder innerhalb der Psychologie noch auch in den Beziehungen zwischen den sozialwissenschaftlichen Disziplinen von exemplarischer Wirkung. Im Bestreben, die Soziologie von einer individualistisch vorgehenden Psychologie als der vermeintlichen „Grunddisziplin“ der Sozialwissenschaften abzusondern, machte sich so beispielsweise Emile Durkheim für einen makrosoziologischen Zugang zu den „sozialen Tatsachen“ stark, welche wiederum nur durch soziale Tatsachen zu erklären seien. In den 1960er und 1970er Jahren waren es dann verschiedentlich Soziologen, die für sich einen entsprechenden Primat innerhalb der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten reklamierten. Heute wiederum scheinen bestimmte Wirtschaftswissenschaftler der Ansicht zu sein, daß nicht nur ohne Wirtschaft alles zu nichts würde, sondern auch so gut wie alle Humanwissenschaft obsolet, sofern sie nicht auf das „Homo oeconomicus“-Konzept gegründet sei. Unter dem Eindruck einer solchen Anspruchsüberwältigung ist man geradezu froh, sich vergegenwärtigen zu können, auf welch vergleichsweise schlichte Art Franz Brentano, der Begründer der „Österreichischen Schule der Psychologie“ und Lehrer von Alexius Meinong, die Großmannssucht bestimmter Vertreter seiner Disziplin schon in seiner 1874 erschienenen Psychologie vom empirischen Standpunkt erledigt hat: Er unterschied zwischen den psychischen Akten – den Vorstellungen, Gemütsbewegungen und Urteilen – und den Gegenständen, auf die sie „intentional“ gerichtet sind, indem er beispielsweise unter „Vorstellung“ nicht verstand, was vorgestellt wird, sondern den Akt des Vorstellens. Auf Grundlage dieser Präzisierung sollte es dann seinem Schüler Edmund Husserl in den Logischen Untersuchungen (1900) möglich sein, den entscheidenden Schlag gegen den „Psychologismus“, die Doktrin der psychologischen Fundierung der Logik und Erkenntnistheorie, zu führen.39 Was das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaften zu den (anderen) Sozialwissenschaften anlangt, so hat man geradezu den Eindruck, als würde der vorübergehend
39 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die im Jahr 1912 veröffentlichte Abhandlung von Alexius MEINONG: Für die Psychologie und gegen den Psychologismus in der allgemeinen Werttheorie, wiederabgedruckt in MEINONG 1968, S. 267–282.
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überzogene Prioritätsanspruch bestimmter Soziologen nun durch einen ökonomischen backlash erwidert werden. Über das prekäre Verhältnis der beiden Wissenschaftsbereiche zueinander hat sich bereits Joseph Schumpeter dahingehend geäußert, daß Entwicklungen in „Nachbargebieten“ wenigstens in großen Zügen verfolgt werden sollten, auch wenn es richtig sei, daß „wechselseitige Befruchtung“ leicht mit „gegenseitiger Sterilisierung“ enden könne. Doch der mißliche Zustand sei nicht zu leugnen, daß als Folge der wissenschaftlichen Spezialisierung und Purifizierung „heute jeder reine Wirtschaftswissenschaftler und jeder reine Soziologe wenig von dem weiß und sich noch weniger darum kümmert, was der andere tut; jeder zimmert sich lieber eine primitive Soziologie, bzw. Wirtschaftswissenschaft eigener Prägung zusammen, als daß er die fachlichen Ergebnisse eines anderen akzeptierte – eine Sachlage, die durch gegenseitige Verunglimpfung nicht gerade besser wird“.40
40 SCHUMPETER 1965, Erster Teilband, S. 59.
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Erzherzog Johann von Österreich, Lithographie von Joseph Kriehuber, 1833 Quelle: Photothek des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Graz
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Vorbemerkung
Zu den Zeitumständen einer großen individuellen Leistung Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren wichtige Länder Europas von den elementaren Eigenschaften einer im Sinne Max Webers modernen Staatlichkeit nicht mehr weit entfernt. In Österreich dominierte die zentrale Staatsgewalt in Gestalt des aufgeklärten Absolutismus und seiner Behörden: Die Monarchie war souverän, verfügte aufgrund der Verstaatlichung der Streitkräfte über ihr äußeres Gewaltmonopol, die Vereinheitlichung des Rechts und die Verstaatlichung der Justiz waren weitestgehend erfolgt, und die Schul- und Unterrichtsreformen Kaiserin Maria Theresias erklärten bestimmte Formen der Bildung für verpflichtend. Österreich und Preußen kam eine Pionierrolle bei der Einrichtung des modernen Berufsbeamtentums zu, das nun, wie Wolfgang Reinhard ausführt, im Gegensatz zur bisherigen Amtsträgerschaft auf der konsequenten Anwendung folgender Grundsätze beruhte: auf abstraktem Staatsdienst statt personalem Fürstendienst; auf der Gleichheit des Zugangs zu Ämtern für alle Bürger; auf den gesteigerten Ansprüchen an Professionalität und Einsatzbereitschaft der Beamten, was beides durch Leistungsprüfungen gesichert werden sollte; schließlich auf der landesweiten Vereinheitlichung der Beamtenhierarchie und Besoldung sowie der administrativen Vorgehensweise.1 Mochten die verschiedenen Länder und Territorien auch immer noch ihre traditionelle Gliederung besitzen, so waren sie administrativ ebenfalls weitgehend vereinheitlicht. Mit der Französischen Revolution und mit der Diffusion bestimmter ihrer Inhalte und Forderungen in ganz Europa, welche durch die Heere Napoleons erfolgte, wurde die Abschaffung der ständischen Vorrechte auch in einigen Kronländern der Habsburger Monarchie zum Programm erhoben. Realität gewinnen konnte dieses Programm langfristig nur im Zusammenhang mit der Idee und der Ideologie des Nationalismus, die durch die Französische Revolution erstmals in breitem Umfang freigesetzt wurden. Der Nationalismus und die mit ihm einhergehende Bezugnahme auf eine gemeinsame Abstammung, Sprache, regionale Herkunft und Sitte sollte den zu neuem Selbstbewußtsein gelangten ethnischen Gruppierungen ihre Zusammengehörigkeit als Schicksalsgemeinschaft bewußt machen. Durch das Feuer der Aufklärung gegangen, waren es dabei mitunter die religiösen Institutionen, die zu einem konstitutiven Element des
1 Siehe REINHARD 2007, S. 88.
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neuen Nationalbewußtseins wurden, oftmals wurde jedoch die Religion durch das nationalistische Prinzip ersetzt: „Statt der Kirche wird die Nation als Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen zu einer profanen Transzendenz.“2 Im Jahr 1800 betritt Erzherzog Johann von Österreich – 1782 geboren und getauft auf die Namen Johann Baptist Josef Fabian Sebastian – auf Geheiß seines Bruders, des damaligen deutschen Kaisers Franz II. (und nachmaligen Kaisers Franz I. von Österreich), als militärischer Führer die Bühne der österreichischen Geschichte. Seine Karriere beginnt mit einer Niederlage und bleibt über viele Jahre hinweg von den Auseinandersetzungen mit Napoleon geprägt, für noch längere Zeit aber von Querelen mit Wiener Hofkreisen. Von Napoleon zur Flucht aus Tirol veranlaßt, wurde er als Förderer von Kunst und Wissenschaft sowie als Gründer zahlreicher bis auf den heutigen Tag bestehender Institutionen in der Steiermark zu einer Leitfigur der Modernisierung in diesem Land und geradezu zu einer folkloristischen Ikone. Seine großen Verdienste sind in der Tat augenfällig. Möglich wurden sie aufgrund des Zusammenwirkens bestimmter struktureller Gegebenheiten, historischer Ereignisse und persönlicher Eigenschaften: aufgrund der in der Bevölkerung noch unverändert bestehenden spätfeudalen Folgebereitschaft,3 die zunächst wegen der wiederholten Bedrängnisse durch die Armeen Napoleons, später aber wegen der für viele fühlbaren positiven Effekte der vom Erzherzog auf den Weg gebrachten Modernisierungen noch konsolidiert wurde; aufgrund des Bestehens eines mehrere Generationen überdauernden josephinischen Beamtenethos, demzufolge jeder Staatsdiener unparteiisch das Ganze repräsentieren solle; aufgrund des in weiten Teilen der Bevölkerung verbreiteten Empfindens, an der Lebensführung des Erzherzogs ein Beispiel dafür zu besitzen, was es in einer Zeit wachsender Individualund Gruppeninteressen heißt, sich dem Gemeinwohl zu verpflichten; aufgrund der seit der Gründung des Joanneums im Jahre 1811 sowie der Wiederbegründung der Universität im Jahre 1827 wachsenden Attraktivität von Graz für die der Wissenschaft und Kunst aufgeschlossenen Kreise des neu entstandenen Bürgertums; schließlich aufgrund der für verschiedene Bevölkerungsschichten charakteristischen Koinzidenz eines Willens zur wissenschaftlich-technischen Modernisierung und zur Beibehaltung der herkömmlichen Lebensform sowie der mit ihr verbundenen volkskulturellen Traditionen. Erzherzog Johanns Beitrag zur Entwicklung der Steiermark, zu deren Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft – und zwar zur Technik gleichermaßen wie zur Geistes- und 2 Ebenda, S. 90. 3 In gewissem Umfang scheint diese auch heutzutage – unter republikanischen Bedingungen – nicht ganz verlorengegangen zu sein, wie die Tatsache bezeugt, daß einige der sogar nur weitschichtig mit dem Steirischen Prinzen Verwandten diesen Umstand für ihre professionelle und gesellschaftliche Stellung in der Steiermark trefflich fruktifizieren konnten.
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zu einer Frühform der Sozialwissenschaften – soll im folgenden kurz nachgezeichnet werden. Ein zuvor wissenschaftlich, künstlerisch und technisch ziemlich rückständiger Raum wurde durch diesen in verschiedener Hinsicht devianten Habsburger in knapp fünf Jahrzehnten um mehr als ein Jahrhundert vorwärts gedrängt und weiterentwickelt. Dies wohl auch deshalb, weil er sich selbst – aus Pflichtgefühl, aus Mitgefühl, mitunter aber auch aus kompensatorischem Ehrgefühl – zum Handeln gedrängt sah.
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Abb. 1: Erzherzog Johann im Alter von ca. 18 Jahren Quelle: Wikimedia Commons
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Karl Acham Erzherzog Johann als Neuerer und Bewahrer: zu Wirtschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst in der Steiermark im 19. Jahrhundert I. Erzherzog Johanns militärisch-politisches Wirken in der Ära Napoleon Bonapartes – II. Erzherzog Johann als Sammler und Initiator von wissenschaftlichem Material und von Kunst: das Joanneum – III. Erzherzog Johann als Mentor zahlreicher, vor allem auch wirtschaftlicher, sozialer und pädagogischer Institutionen außerhalb des Joanneums – IV. Erzherzog Johann als Privatier, politischer Akteur und Kommentator des Nationalitätenkonflikts – V. Erzherzog Johann als sozialkultureller Evolutionist
„Österreich“, so bemerkte einmal Joseph Roth, „hat nur Friedhöfe und eine Kapuzinergruft und kein Pantheon. Es ist recht so. Unterm Rasen liegen sie alle: Beethoven, Bruckner, Stifter, Raimund, Nestroy, Grillparzer – Österreichisches repräsentieren heißt: zu Lebzeiten mißverstanden und mißhandelt, nach dem Tod verkannt und durch Gedenkfeiern gelegentlich zur Vergessenheit emporgehoben werden.“1 Diese auf Künstler bezogene Feststellung kann man getrost auch auf Vertreter anderer Lebensbereiche in Österreich anwenden, nicht aber auf Erzherzog Johann. Denn vergessen wurde er – jedenfalls in der Steiermark – nie, wenn auch nicht immer in angemessener Weise in Erinnerung behalten und mitunter recht eigentümlich instrumentalisiert. Wer war dieser „Steirische Prinz“, der in einer vereinseitigenden Betrachtung auch heute noch entweder als Anwalt des Vergangenen und als folkloristischer Zierat unserer Heimat verstanden wird, während ihn andere, wie bereits einige seiner eigenen Zeitgenossen, für einen frenetischen Neuerer und ehrgeizigen Populisten halten? Antworten darauf sollen vor allem unter Bezugnahme auf ältere Teilveröffentlichungen von Briefen und vereinzelt auch von jenen täglichen Aufzeichnungen des Erzherzogs versucht werden, die in geschlossener Reihe von 1801 bis zum Jahre 1859 vorlagen, bis im Jahr 1945 zwei Drittel dieses so eminent wertvollen Quellenmaterials zur österreichischen und europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts den Kriegsereignissen zum Opfer fiel. Im Jahr 1945 war nämlich das Archiv Meran, der Nachlaß Erzherzog Johanns, in die vermeintliche Abgeschiedenheit des kleinen oststeirischen Schlosses Stadl bei St. Ruprecht an der Raab verlegt worden, wo im Sommer jenes Jahres der vormalige Leiter des steirischen Volkskundemuseums Viktor Theiss aus den von sowjetischen Soldaten auf einen Misthaufen verfrachteten Materialien immerhin rettete, was noch zu retten war. 1 Joseph ROTH: Grillparzer, in: Das Neue Tagebuch (Paris), Jg. 1937; wieder abgedruckt in ROTH 1995, S. 55– 68, hier S.68.
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Nicht wenige der großen Welt- und Nationalgeschichten gefallen sich darin, mit Aussagen darüber zu beginnen, was „am Anfang“ des durch sie dargestellten Zeitraums gewesen sei: Thomas Nipperdey beginnt beispielsweise den ersten Band seiner berühmten, auch Österreich betreffenden Deutschen Geschichte seit dem Jahr 1806 mit den Worten: „Am Anfang war Napoleon“, sei er doch der Zerstörer des alten, zugleich aber der Begründer des neuen Reiches geworden. Ganz anders Jürgen Osterhammel, einer der namhaftesten jüngeren deutschsprachigen Vertreter der internationalen Geschichte, der in seiner im Jahr 2009 unter dem Titel Die Verwandlung der Welt erschienenen Geschichte des 19. Jahrhunderts die Sammel- und Archivierungsleidenschaft sowie die durch die modernen Verkehrsmittel ermöglichten Reisen von Wissenschaftlern, Arbeitern, Unternehmern, Kunstwerken, Tieren, Pflanzen und Ideen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung des Jahrhundertanfangs rückt. Für kaum jemanden sind die von beiden genannten Autoren formulierten Signaturen der Zeit um 1800 so kennzeichnend wie für Erzherzog Johann: sein militärisches Handeln wurde in den Jahren 1800–1815 von Napoleon bestimmt, und das Sammeln war seine Leidenschaft. Dieses Sammeln bezog sich auf historisch belangvolles Archivmaterial, naturwissenschaftliches Schrifttum, Werke der bildenden Kunst, auf zoologisches, botanisches und mineralogisches Material sowie auf technisches Gerät, das er als Ergebnis von Reisen in die Steiermark brachte; zudem initiierte er reichhaltige Sammlungen, insbesondere solche von volksmusikalisch und landesgeschichtlich relevanten Handschriften sowie von Quellen zur Brauchtumsforschung. Es läßt sich zeigen, wie die mit dem politischen Handeln des Erzherzogs verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen dafür bestimmend waren, wie und wo seine Sammeltätigkeit, aber auch seine eminenten organisatorischen Fähigkeiten im Sinne der von ihm angestrebten Bildungs- und Ausbildungszwecke zur Entfaltung gelangen und wirksam werden konnten.
I. Erzherzog Johanns militärisch-politisches Wirken in der Ära Napoleon Bonapartes Erzherzog Johann Baptist von Österreich, Enkel der Kaiserin Maria Theresia, wurde am 20. Januar 1782 als 13. Kind des Großherzogs Leopold von Toskana, des späteren Kaisers Leopold II., und dessen Gemahlin Maria Ludovica von Spanien geboren. Was von Herzog Albert von Sachsen-Teschen im Jahr 1776 über den Vater des Erzherzogs an Kaiserin Maria Theresia berichtet wurde, hätte man 40 oder 50 Jahre danach wortgleich über seinen Sohn Johann sagen können: „Man ist überrascht von der Fülle seiner Kenntnisse in Physik, Naturgeschichte und Landwirtschaft, er hegt große Sorgfalt für
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die Hebung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, als der Quellen des Gemeinwohls.“2 Doch zuvor wurde das Leben Johanns vom Krieg geprägt. Im Mai 1790, also mit acht Jahren, kommt Johann, da sein Vater nach Kaiser Josephs II. Tod auf den deutschen Kaiserthron berufen wird, erstmals nach Österreich. Zwei Schweizer waren es sodann, die den nachhaltigsten Einfluß auf den jungen Erzherzog ausübten: der Hauptmann im Ingenieurkorps Graf Mottet und der als Wirklicher Hofrat in Wien tätige Historiker Johannes von Müller. Brachte ihm Mottet früh Grundsätze nahe, wie sie bei Jean Jacques Rousseau, aber auch bei Albrecht von Haller eine Rolle spielten und wonach der natürliche, ursprüngliche Mensch auch der unverbildete und bessere sei, so gingen die Instruktionen Müllers über jenen moralisierenden Naturenthusiasmus hinaus, da sie in dem jungen Manne vor allem vielfältige naturwissenschaftliche, technische, ökonomische und historisch-geographische Neigungen weckten. Bis zu Müllers Tod in dem für Erzherzog Johann so schicksalsschweren Jahr 1809 blieb dieser seinem Lehrer freundschaftlich eng verbunden. Bedeutsam war für den jungen Erzherzog aber auch die durch den nachmals berühmten Schöpfer des ABGB, den gebürtigen Grazer Franz von Zeiller erfolgte Einführung in die Grundzüge des Staatsund Zivilrechts. Durch den unerwartet frühen Tod Kaiser Leopolds II. im März 1792 sowie durch das zwei Monate danach erfolgte Ableben seiner geliebten Mutter zum Vollwaisen geworden, intensivierten sich neben der militärischen Erziehung Johanns auch seine wissenschaftlichen und künstlerischen Neigungen. Aber allzubald sollte auch für ihn der alte Spruch „Inter arma silent Musae“ eine ganz unmittelbare Geltung erlangen – künstlerische und wissenschaftliche Neigungen hatten für einige Zeit hintanzustehen. Als im Jahr 1799 Erzherzog Karl nach seinen Erfolgen gegen napoleonische Armeen bei Ostrach, Stockach und Zürich vom Kriegsschauplatz zurückgerufen wurde, obschon sich Österreichs Heere zu Ende dieses Jahres in guter Verfassung und in einer Allianz mit den Russen unter Suworow befanden, verzichtete man in Wien auf einen durchaus möglichen und für Österreich vorteilhaften Friedensschluß. Stattdessen zogen sich die Russen in ihre Heimat zurück, und der von der Wiener Hofpartei unter dem Minister Thugut sträflich unterschätzte General Bonaparte, welcher nunmehr schon als erster Konsul an die Spitze des französischen Staates getreten war, errang in der Schlacht von Marengo im Juni 1800 gegen die Österreicher einen triumphalen Sieg. Erzherzog Karl, die wohl größte militärische Potenz aus dem Hause Habsburg, dessen kriegerische Erfolge Johann mit Eifer verfolgte und dem er in brüderlicher Zuneigung lebenslang verbunden blieb, hatte bereits im März desselben Jahres aus Unmut über das für Österreich so nachteilige dilettantische und zögerliche Verhalten der Regierung in Wien gegenüber 2 Zitiert aus den Mémoires de ma vie des Herzogs nach KOSCHATZKY 1978, S.11.
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Napoleons Aspirationen Kaiser Franz, den Bruder, um die Enthebung vom Oberkommando ersucht. Über die unwürdige Behandlung seines geliebten und bewunderten Bruders sprach sich Erzherzog Johann scharf und offen seiner Umgebung gegenüber aus, wurde aber dafür – namentlich von den dem Minister Thugut nahestehenden Kreisen –, wie der Prinz selbst berichtet, als ein unruhiger Mensch, als ein „Republikaner“ apostrophiert und grob behandelt. Dennoch – oder vielleicht sogar deshalb – wurde dem gerade einmal 18jährigen Erzherzog Johann (Abb.1) das Oberkommando übertragen, um, wie man fand, den gesunkenen Mut des Heeres neu zu beleben. Die Wahl fiel, wie der Erzherzog freimütig bekannte, „auf jenen, der am wenigsten nach seinen damaligen Verhältnissen dazu geeignet war“.3 Der Kaiser selbst übergab dem Erzherzog ein mit 9. September 1800 datiertes Handschreiben, welches die Stellung Johanns in den kommenden militärischen Auseinandersetzungen genau festlegte. Darin verfügte der Kaiser, daß der Erzherzog dem ihm beigestellten Feldzeugmeister Baron Lauer in allem zu folgen und dessen Anordnungen und Befehlen nie die Unterschrift zu versagen habe, „wohingegen“, wie der Kaiser ausführte, „Ich Dich andererseits von aller Responsabilität über alles dasjenige gänzlich losspreche, was in Gemäßheit solcher Aufsätze, so von dem General Lauer vorläufig vidiert worden sein werden, von Dir und in Deinem Namen angeordnet, vorgekehrt oder expediert werden wird.“4 Obwohl „außer Verantwortung“ befindlich, erlebte Johann machtlos am 3. Dezember 1800 die Niederlage der Österreicher bei Hohenlinden in Bayern, was eine erste Erschütterung seines Selbstvertrauens und Ansehens zur Folge hatte. Nachdem er den Befehl seinem Bruder Karl (Abb. 2) übergeben hatte, wurde Johann 1801 unter anderem zum Generaldirektor des Österreichischen Fortifikations- und Geniewesens ernannt, in welcher Funktion er mit systematischen Bereisungen der Alpenländer begann. Gleichzeitig erfolgte seine Ernennung zum Direktor der IngenieurAkademie in Wien und der, wie diese, ebenfalls von Kaiserin Maria Theresia begründeten Militär-Akademie in Wiener-Neustadt. Durch diese neuen ihm auf Vorschlag seines Bruders Erzherzog Karl überantworteten Tätigkeiten überwand Johann die Gemütsdepression, welche der unglückliche Ausgang des Feldzuges bei ihm ausgelöst hatte. In seiner neuen militärisch-amtlichen Funktion bereiste der Prinz neben Tirol, welches Land er bereits im September 1800 – kurz vor der Schlacht bei Hohenlinden – bei einer Inspektionsreise näher kennengelernt hatte, auch Kärnten und die Steiermark, und kam im April 1804 zum ersten Mal nach Graz. „Überall, wohin er kam“, so schreibt Anton Schlossar, der noch in den vollständigen handschriftlichen und künstlerischen Nachlaß des Erzherzogs Einsicht nehmen konnte, „waren es nicht nur die mili-
3 Zitiert nach SCHLOSSAR 1908, S. 16. 4 Zitiert ebenda, S. 19.
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tärtechnischen Verhältnisse, die er zum Zwecke seiner Studien und geplanten Einrichtungen der Beobachtung unterzog, sondern er wandte sich auch der Geschichte, der Mineralogie, Geologie, Botanik und zumal der Industrie eines jeden der jeweilig betretenen Länder zu, machte genaue Aufzeichnungen in jeder Richtung, verkehrte mit gelehrten Fachleuten und […] gern ungezwungen mit der Bevölkerung und legte damals schon den Grund zu der Verehrung, welche ihm dieselbe in der Folge in so hohem Grade entgegenbrachte.“5 In diese Zeit, in der sich Johann namentlich der Befestigung der Grenzen in den Alpenländern zuzuwenden hatte, fallen verschiedene der in der ErzherzogJohann-Mythologie oft über Gebühr herausgestellte Bergbesteigungen, die Abb. 2: Erzherzog Karl von Österreich Quelle: Wikimedia Commons Johann häufig auch mit naturwissenschaftlichen Studien verband. Zugleich begann er, einschlägige Sammlungen anzulegen, die nach und nach auch um künstlerische und kulturhistorisch bedeutsame Bestände angereichert wurden, welche später allesamt der Steiermark zugutekommen sollten. In Tirol lernte er den für sein weiteres Leben so bedeutungsvoll gewordenen Joseph Freiherrn von Hormayr zu Hortenburg kennen, der – ein eigentümlicher Zufall – wie er selbst am 20. Jänner 1782 geboren wurde. Hormayr stand dem Erzherzog namentlich durch die Leitung und die gemeinsam mit ihm betriebene Organisierung der Landwehr,6 und damit des Aufstandes gegen die Fremdherrschaft besonders nahe. Tirol war ja bekanntlich durch den im Dezember
5 SCHLOSSAR 1908, S. 28. 6 Wurde seit der Einführung der „levée en masse“ der „Citoyen Soldat“ von seinem Staat zu den Waffen gerufen und warf er sich, angetrieben durch die Ideale des politischen Gemeinwesens, als dessen Teil er sich verstand, dem Feind entgegen, so auch der Landwehrmann als der Repräsentant des noch wehrfähigen und gegen die Fremdherrschaft rebellierenden Teils eines in Gestalt seiner offiziellen Armeen militärisch geschlagenen Volkes. Daß Teile des Hofes in Wien durch derartige Partisanenaktivitäten die Prinzipien des herkömmlichen ritterlichen Comments im Kriegswesen verletzt sahen, läßt sich denken.
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1805 geschlossenen Frieden von Preßburg, der die Niederlage des alliierten Heeres in der Schlacht bei Austerlitz besiegelte, von Napoleon den Bayern zugeschlagen worden. Hormayr aber war dem Erzherzog auch in anderer Hinsicht ein Vorbild. Er hat nämlich als Schriftsteller und Herausgeber periodischer Veröffentlichungen – vor allem durch den Tiroler Almanach, später aber vor allem durch das jährlich erscheinende Taschenbuch für die vaterländische Geschichte – nachhaltig Johanns eigene historische, ethnographische und landeskundliche Forschungen beflügelt. Insbesondere wurde durch sie jene Fragebogenaktion des Erzherzogs maßgeblich beeinflußt, die im Winter 1810/1811 ihren Anfang nahm und die, wie noch ausgeführt werden wird, unstrittig zu den bedeutsamsten frühen Beiträgen zur soziographischen und ethnographischen Forschung im deutschen Sprachraum zählt. Andererseits entwickelte Erzherzog Johann auch besondere Affinitäten zur bildenden Kunst, insbesondere nachdem er 1807 das Schloß Thernberg in Niederösterreich, nahe der steirischen Grenze, erworben hatte, wo er eine Reihe von Malern um sich scharte, die sich in ihrem Schaffen – in Entsprechung zu den bei Hormayr nachweisbaren Bestrebungen – der Landschaft, den Bräuchen, Sitten und Gewohnheiten der Alpenländer zuwandten. Nun aber zum Schlüsseljahr 1809, welches dafür entscheidend war, daß sich der Erzherzog – zum gewaltigen Vorteil der Steiermark – veranlaßt sah, sein Domizil außerhalb des von ihm geliebten Tirol aufzuschlagen und seine Sammlungen anderen Institutionen zu überantworten, und nicht der von ihm ursprünglich ins Auge gefaßten Universität Innsbruck, deren Rektor auf Lebenszeit (Rector magnificentissimus) er seit dem Jahr 1800 war.7 Die Katastrophe von Jena, welche das preußische Heer im Oktober 1806 getroffen hatte, bildete eine eindrucksvolle Lehre, wohin die Devise „Alles für, nichts durch das Volk“ führen kann – zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat. Daher erblickte Graf Stadion, der neue Leiter der Staatskanzlei, gleich wie Erzherzog Johann, den großen Wert der Volksbewaffnung und der Landwehr darin, daß das Volk aus der Passivität herausgeholt wird, in welche es durch die absolutistische Herrschaft gedrängt wurde. Die Blicke der namhaften Vertreter aller deutschen Teilstaaten richteten sich auf die Donaumonarchie, und alles schien auf eine Schicksalsstunde von größter Bedeutung hinzuführen. Allein, die von Erzherzog Karl auf den Weg gebrachte Heeresreform war noch nicht durchgeführt, als es den diesmal nicht zaudernden, sondern überstürzt handelnden Wiener Hof zum Losschlagen gegen Napoleon drängte. Wien wurde zum zweiten Male von Napoleons Truppen besetzt, dann folgte der große Ehrentag von Aspern (21./22. Mai 1809), als Napoleons Truppen erstmals in einer großen Schlacht unterlagen. Auf den Triumph von Erzherzog Karl folgte jedoch sechs Wochen danach – am 5. 7 Vgl. dazu SCHLOSSAR 1908, S. 25.
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und 6. Juli – die Niederlage von Wagram, in welche Erzherzog Johann auf eine für ihn dramatische Weise involviert wurde. Er, der im Frühjahr 1809 den Oberbefehl über die Truppen in Italien und Tirol erhalten hatte, kämpfte mit wechselndem Erfolg gegen die stets in Überzahl befindlichen Truppen des Vizekönigs Eugène Beauharnais und unterlag diesem nach vorübergehenden Erfolgen in einem Gefecht bei Raab, heute Györ, ehe ihn in den Tagen unmittelbar vor der Schlacht von Wagram Weisungen seines Bruders, des Generalissimus Erzherzog Karl, erreichten. In Befolgung einer solchen war Erzherzog Johann bestrebt, in Verbindung mit dem Feldmarschall-Leutnant Fürst Rosenberg gegen den rechten Flügel der napoleonischen Truppen zu reiten. Die Schlacht begann jedoch früher als ursprünglich vorgesehen, und obwohl Erzherzog Johann mit seinen Truppen rascher als geplant an dem vereinbarten Ort eintraf, konnte ihm Rosenberg nur mehr davon Mitteilung machen, daß bereits alles vorüber und militärisch nichts mehr auszurichten sei. Damals wandte sich Johann zutiefst enttäuscht und aufgrund der sichtbaren Niederlage der österreichischen Truppen schmerzlich bewegt an die ihn umgebenden Offiziere mit den Worten: „Wir sind noch eher da, als ich es gemeldet habe. Sie werden sehen, unser vermutlich zu spätes Eintreffen wird alle Schuld der verlorenen Schlacht tragen müssen. Dieser Umstand wird manchem höchst willkommen sein.“8 Der Erzherzog fühlte sich durch die in der Folge ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe, insbesondere durch das Gerücht einer von ihm beabsichtigten Verzögerung des Erscheinens auf dem Schlachtfeld zutiefst gekränkt. Diese Mutmaßungen und Unterstellungen sind allerdings durch militärhistorische Studien seit langem hinreichend widerlegt.9 Johann sah sich jedoch damals veranlaßt, an den Kaiser eine ausführliche Rechenschaftsschrift zu senden. Zudem war auch eine vorübergehende Verstimmung im Verhältnis zwischen den Erzherzögen Johann und Karl eingetreten; diese beendete eine durch jenen im November 1810 herbeigeführte offene Aussprache mit dem nach wie vor und bis zu dessen Ableben im Jahr 1847 hochgeschätzten Bruder. Als Folge der Niederlage zu Wagram schloß Kaiser Franz (Abb. 3) den Schmachfrieden von Schönbrunn, und der von Erzherzog Johann hochgeachtete, vom Hof jedoch gegenüber den Franzosen als Sündenbock für den Freiheitskampf ausersehene Graf Stadion wurde fallengelassen. An seiner Stelle bezog im Oktober 1809 Graf Metternich die Staatskanzlei – genau der Mann, welcher als früherer Botschafter in Paris durch seine unzutreffenden Lageberichte aus Frankreich am meisten zur kriegerischen Stimmung in Wien und zum vorzeitigen Losschlagen gegen Napoleons Truppen beige8 Zitiert nach SCHLOSSAR 1908, S. 59. 9 Zu nennen sind hier insbesondere die Werke von Hans von ZWIEDINECK-SÜDENHORST (Erzherzog Johann von Österreich im Feldzug von 1809, Graz 1892) und Moritz von ANGELI (Erzherzog Carl von Österreich als Feldherr und Heeresorganisator nach österreichischen Quellen dargestellt, 5 Bände, Wien 1896 –97).
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Abb. 3: Kaiser Franz I. (III.) Quelle: Wikimedia Commons
tragen hatte. Ihm sollte Erzherzog Johann durch Jahrzehnte hindurch als ein politisch suspekter und unter Umständen zu einer für Österreich schädlichen Konspiration neigender Mensch erscheinen, den man bestenfalls, wie dann 1846 geschehen, zu relativ unverfänglichen Diensten in der politikfernen Organisation der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften heranziehen könne. Gebührte dem Prinzen Johann das Verdienst, als einer der ersten die Verwirklichung der Idee einer Landwehr aufgegriffen und dann kraft kaiserlichen Patents vom 9. Juni 1808 planmäßig durchgesetzt zu haben – im Verlauf dieser Tätigkeit kam er auch mit Andreas Hofer in Kontakt –, so stand nun seinen weiteren Wünschen und Plänen nach Ausgestaltung eines namentlich Tirol und die Alpenländer Österreichs sowie die Schweiz umfassenden Alpenbundes die Regierung in Wien entgegen. Nach einer Denunziation durch den langjährigen Freund Hormayrs, den Tiroler Anton Leopold von Roschmann, wurde die Staatspolizei gegen die vermeintlichen Verschwörer tätig und verhaftete im März 1813 die nächsten Mitarbeiter Johanns, darunter Hormayr, und zum Schein auch
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Roschmann. Hormayr kam als einer der Staatgefangenen zunächst in die Festung Munkács, danach auf den Spielberg bei Brünn. Zwar wurde er nach 13monatiger Haft aufgrund zahlreicher Bemühungen Johanns entlassen, stand aber, wie dieser auch, weiterhin unter Verdacht – nun jedoch, nach Napoleons Niederlage bei Leipzig im Oktober 1813, nicht mehr als Saboteur einer der Not geschuldeten und Napoleon gegenüber konzilianten Politik der Staatskanzlei, sondern als potentieller demokratisch-populistischer Aufwiegler und Separatist. Während durch die Ränke der Wiener Hofkreise der Erzherzog in den entscheidenden Jahren, wie seine Freunde vom Alpenbund, von allen politischen Aufgaben ferngehalten wurde, betraute man mit solchen immer wieder den Denunzianten Roschmann. Zudem wurde der Prinz vom Kaiser dazu angehalten, niemals wieder den Boden von Tirol oder Vorarlberg zu betreten – eine Order, die erst im Jahre 1833 wieder aufgehoben werden sollte. Dieser Umstand hat den Prinzen sehr verbittert, ihm aber – gleichsam kompensatorisch – die Kraft dazu verliehen, in der Steiermark ein gewaltiges Aufbau- und Reformwerk in die Wege zu leiten. Schon in den Jahren 1810/1811, als Johann sah, daß Tirol für ihn unerreichbar sein würde, wandte er sich der Steiermark zu, und wünschte sich im August 1811, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, seinen künftigen WirkungsAbb. 4: Clemens Wenzel Lothar Fürst Metternich Quelle: Wikimedia Commons
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kreis in Graz, „weil ich“, wie er schreibt, „überzeugt bin, da nutzen zu können“.10 Und hier vollbringt der Steirische Prinz ein Lebenswerk, für das mehrere Leben begabter anderer nötig gewesen wären. Mit den Folgen der Niederlage von Wagram und den Geschehnissen am Wiener Hof in den Jahren danach kam er allerdings nicht zurande. Nach dem katastrophalen Ausgang des Feldzuges von 1809 bemerkte Napoleon höhnend: „Österreich arbeitet unausgesetzt an seinem Untergang und kommt nie dazu“,11 und dennoch mußte er noch den abermaligen Aufstieg des unterlegenen Gegners miterleben. Das Instrument zur Wiedererlangung der Stellung Österreichs im internationalen Mächteverbund war ein System der Systemlosigkeit, und es war Metternich (Abb. 4), der diese Politik in seinem berühmten Vortrag vom 10. August 1809 empfohlen hatte: „Wir müssen also vom Tage des Friedens an unser System auf ausschließendes Lavieren, auf Ausweichen, auf Schmeicheln beschränken. So allein fristen wir unsere Existenz vielleicht bis zum Tage der allgemeinen Erlösung.“12 Ein Element dieser Politik bestand in der Vermählung Napoleons mit der Tochter des Kaisers Franz am 1. April 1810 – daß diese Ehe mit Maria Louise vom kirchlichen Standpunkt aus eine Bigamie war, verursachte dem Staatskanzler kein Kopfzerbrechen. Für Erzherzog Johann war diese Politik, die mit höchst ambivalenten Beziehungen zu Preußen und den anderen deutschen Ländern einherging, ein Grund für verschiedene kritische Bemerkungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten. Auch für die Intrigenwirtschaft in den Wiener Hof- und Regierungskreisen fand er deutliche Worte. Namentlich an ihnen und an bestimmten Teilen der höheren Gesellschaft konstatierte er im Jänner 1812 „nichts als Leichtsinn, kleinliche Leidenschaften, Bosheit, Zügellosigkeit, moralische Verderbtheit, Mißtrauen, und vor allem die so verabscheuungswürdige Selbstsucht […], die als Zwek in allen Handlungen erscheint, diese Eigenschaften zeichnen sich, wenn es den Privaten betrifft ebenso aus als wenn es die Sache des Vaterlandes betrifft. Man lebt in beständigem kleinen Kriege nicht gegen die Gebrechen, um zu besseren, sondern gegen die Personen, um [sie] zu stürzen, um sich höher aufzuschwingen, gleichviel ob man die Eigenschaften besizt oder nicht.“13 Und in einem ausführlichen Brief an den Dichter und Historiker Johann Ritter von Kalchberg, den langjährigen, treuen Kurator des Joanneums, schrieb er noch im selben Monat aus Wien: „ich überzeuge mich täglich mehr, wessen Geistes der größte Theil der Menschen izt ist, ein Aufenthalt von 7 Wochen hier in der Hauptstadt hat mich wieder vollkommen mit dem Zustande des Geistes und des Herzens der Menschen bekannt gemacht, und leider mir wenig Tröstliches gegeben […]. War, daß es Augenblicke giebt, wo man sich einsam in der Welt findet, wo niemand einen begreifet, wo es vergebliche 10 11 12 13
Vgl. ebenda, S. 42. Siehe dazu BIBL 1937, S. 14. Siehe ebenda, S. 83f. Siehe SCHLOSSAR 1878, S. 63.
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Mühe wäre, andere für das empfänglich zu machen, was man fühlt, sie zu erwärmen, und zu Theilnehmern zu machen für große Zweke, in solchen Augenblicken ist es den Menschen nicht zu verargen, wenn ihn Schwermuth und Unmuth ergreifet, und es ihm scheinet, als sey er für das itzige Zeitalter nicht gemacht […].“14 Und am 4. Dezember 1814 schrieb der Erzherzog unter Bezugnahme auf seine im Verlauf des Wiener Kongresses gewonnenen Eindrücke: „Leider vermisse ich die Geradheit, es ist eine elende Politik, die sich von diesem Wege entfernt; wie irrig, wer glaubt, die Überlegenheit der Politik bestehe in der größern Feinheit, im Betrug usw. Nach meiner Meinung sehe ich sie nicht darinnen, sondern in der Richtigkeit die wahre Lage zu kennen, die Folgen zu berechnen und dann die zweckmäßigsten Entschlüsse und zu ihrer Ausführung die besten Maßregeln zu treffen. Wer darin den besten Blick hat, der hat die Überlegenheit. Hier läßt sich die Ehrlichkeit recht gut vertragen.“15 Die seit September 1814 am Wiener Kongreß versammelte internationale Diplomatie wurde noch einmal aus dem mittlerweile zur Routine gewordenen Rhythmus von Verhandlungen und Lustbarkeiten gerissen, als Napoleon (Abb. 5), von Elba kommend, am 1. März 1815 wieder französischen Boden betrat und seinen berühmten und triumphalen Marsch auf Paris begann. In diesem Zusammenhang wird Erzherzog Johann Abb. 5: Napoleon Bonaparte, Gemälde von Jacques-Louis David, 1812 Quelle: Wikimedia Commons
14 Ebenda, S. 65f. 15 Siehe KRONES 1891, S. 185.
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noch einmal zu einer militärischen Aktion herangezogen: zur Einschließungsoperation der die Stadt Basel beherrschenden elsässischen Festung Hüningen, für die er, der bereits seit 1801 Generaldirektor des Österreichischen Fortifikations- und Geniewesens war, die besten Voraussetzungen mitbrachte. Circa 100 Geschütze wurden dabei eingesetzt und 30.000 Mann führten die Belagerung aus, welche schließlich mit der Übergabe der Festung durch General Barbanègre endete, welchem volle militärische Ehren zugebilligt wurden. Eine darauf Bezug nehmende Tagebucheintragung vom 28. August 1815 sei hier als ein Beleg für den Charakter des von warmer Menschlichkeit erfüllten Erzherzogs zitiert: „Früh um 4 Uhr zog ich nach Hüningen ein, ein schönes Schauspiel! Als aber die Feinde herauszogen und so elend erniedrigt aussahen und weinend die Ihrigen, da war alle Freude hin. Ich dachte mich als Mensch in ihre Lage. Möchte doch das ewige Kriegen einmal enden; welche herrliche Welt, wenn die Menschen sich Gutes täten!“16 Unmittelbar nach der Kapitulation von Hüningen besuchte Erzherzog Johann Paris, danach aber, gemeinsam mit seinem Bruder Erzherzog Ludwig und in Begleitung des Technologen Widmannstetter, dessen Rat dem Erzherzog Johann bei der Organisation des Joanneums schon beste Dienste geleistet hatte, England und Schottland. Diese Reise sollte für Johann und die Steiermark von größter Bedeutung werden, da sie den Anlaß für eine Reihe von Modernisierungen in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft bildete. Wie verhielt es sich aber mit der schon zuvor gegründeten und zu Ehren des fürstlichen Stifters ursprünglich „Johannäum“ genannten Anstalt, dem Ankerpunkt der Aktivitäten des Erzherzogs in der Steiermark?
II. Erzherzog Johann als Sammler und Initiator von wissenschaftlichem Material und von Kunst: das Joanneum Schon am 31. Jänner 1809 überreichte Erzherzog Johann dem Kaiser den ausführlichen „Plan, die Errichtung und Organisierung eines Museums für Naturgeschichte, Chemie, Ökonomie und Technologie etc. in Gratz betreffend“, und legte darin dem Monarchen die Absichten dar, die er mit diesem Museum verband. Hier heißt es unter anderem: „Meine Absicht geht allein dahin, die Ausbildung der Jugend Steiermarks zu befördern. Allerdings liegt viel Stoff in diesem Volke; natürliche Anlagen gab die Natur sowohl dem deutschen als windischen Bewohner; beharrlicher Fleiß bezeichnet vorzüglich ersteren sowie lebhafter Geist letzteren. Ich hatte Gelegenheit, dieses Land kennenzulernen […], wo reger Kunstfleiß durch Benutzung mannigfaltiger Gaben der Natur das ersetzen muß, was ihm in anderen Zweigen mangelt. Dieses richtig zu bewirken und zu voll16 Ebenda, S. 235f. (Wie die in der vorangegangenen Fußnote genannte Tagebucheintragung, so ist auch diese seit 1945 im Original vernichtet.)
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Abb. 6: Das alte Joanneum mit dem ehemaligen Botanischen Garten; Einband von GÖTH 1861 (Ausschnitt)
kommnen, setzt manche Kenntnisse voraus, vorzüglich im Fache der Naturgeschichte, Ökonomie, Physik, Technologie und Chemie. Dem Gebirgsbewohner sind diese doppelt notwendig.“17 Der weitere Teil des Schriftstückes enthält die Bitte an den Kaiser, diese Schenkung der seit Ende des Jahres 1808 in Kisten verpackten wissenschaftlichen Sammlungen des Erzherzogs zu gestatten, das Überflüssige an andere Institute abgeben zu dürfen und auch der seit 1782 zum Lyzeum herabgestuften Universität Professoren, namentlich für Technologie, Chemie und Botanik, zu bewilligen. Der September des Jahres 1811 – damals erfolgte die Bestätigung der Schenkungsurkunde durch den Kaiser – wurde dann zum zeitlichen Ansatzpunkt für jene Entwicklungen, welche letztlich 1964 zur Gründung der Grazer Technischen Hochschule und in gewissem Umfang auch zur Wiederbegründung der Universität im Jahre 1827 führen sollten. Der Erzherzog hatte zugleich mit seiner Schenkung diverser wertvoller Sammlungen ein Institut konzipiert, an dem – zunächst das Lyzeum komplementär 17 Zitiert nach SCHLOSSAR 1908, S. 97.
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ergänzend – insbesondere naturwissenschaftliche und technische Fächer unterrichtet werden sollten. Rasch hat sich dann die zu Ehren des fürstlichen Stifters „Johannäum“ genannte Anstalt über die österreichischen Grenzen hinaus einen hervorragenden Ruf erworben. Über die Veranlassung zur Gründung des Joanneums (Abb. 6) informiert uns das Tagebuch des Erzherzogs selbst, wo von dessen ursprünglicher Absicht die Rede ist, alles an „Büchern, Naturprodukten, wissenschaftlichen Apparaten“ Gesammelte der Universität Innsbruck zu schenken; da nun aber Tirol verloren ging, sei der Entschluß gereift, dies alles der Steiermark zu vermachen, mit welcher der Erzherzog bei früheren Bereisungen, vor allem aus Anlaß der Organisierung der Landwehr, vertraut geworden sei und deren Bevölkerung er liebgewonnen habe.18 Bereits einige Zeit vor der Genehmigung der Schenkungsurkunde durch den Kaiser, nämlich zu Ende des Jahre 1809, trafen die Kisten mit den verpackten Gegenständen in Graz ein, und in dem sogenannten Lesliehof in der Raubergasse fand sich für sie ein Gebäude als Unterkunft. Am 1. Dezember 1811 aber hatte dann der Erzherzog die Statuten des neuen Museums entworfen, in denen ausgeführt wird, was an Forschungsinhalten in besonderem Maße in Betracht zu ziehen sei: die Geschichte (unter besonderer Berücksichtigung der gesammelten Manuskripte, Urkunden und Münzen), die Statistik, die Mathematik und die Physik, die Chemie, die Technologie, aber insbesondere auch die Landwirtschaft;19 ferner wird die Einrichtung einer Büchersammlung vorgeschrieben, welche auch die Grundlage der vom Erzherzog eingerichteten „Lese-Anstalt“ bilden soll. Auf besonders eindrucksvolle Weise findet der Sinn dieser gleichermaßen hochherzigen wie für die Steiermark eminent fruchtbaren Stiftung, deren Leitung und Betreuung sich Erzherzog Johann bis zu seinem Lebensende vorbehalten hatte, in folgenden Sätzen des von ihm verfaßten Joanneum-Statuts Ausdruck: „Die Notwendigkeith, gründliche Kenntnisse an die Stelle hohler Vielwisserei, Kraft und Festigkeit an jene der immer weiter umgreifenden Frivolität und egoistischen Zurückziehens, reges Leben und unerschütterliche Fassung an die Stelle dumpfen Hingebens, einer schmählichen Gleichgiltigkeit […] zu setzen, […] auf die Erziehung unablässig sein Augenmerk zu richten, hat sich wohl nie so stark als in unsern Tagen ausgesprochen. – Zu diesem großen Zwecke seines Ortes möglichst mitzuwirken, ihm wenigstens in einer großen Provinz des Kaiserstaates, in Innerösterreich, wesentlich näher zu rücken, ist das Ziel des National-Musäums.“20 Obschon der Schwerpunkt des Joanneums auf anderen Gebieten lag, wäre es unrichtig zu übersehen, in welchem Ausmaße Erzherzog Johann ein Förderer künstlerischer Bestre18 Siehe KRONES 1891, Tagebucheintragung vom 12. Juni 1810 (Original vernichtet), ferner SCHLOSSAR 1908, S. 95f. 19 Vgl. dazu v. a. GÖTH 1861, S.255–259, ferner auch SCHLOSSAR 1878, S. 107f. 20 Zitiert nach GÖTH 1861, S. 255.
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bungen, zumal solcher der Malerei, gewesen ist. Seit er Jahr für Jahr von 1807 bis in die Mitte der 1820er Jahre jährlich einige Wochen in Thernberg, im niederösterreichischen Teil der Buckligen Welt, verbrachte, hat er hier eine Sammlung von Bildern aus der Geschichte Österreichs angeregt, die durch die Darstellung alpiner Landschaften, aber auch durch Genremalerei ergänzt wurde, welche sich auf die Sitten, Gewohnheiten und Trachten der Bewohner des Alpenlandes bezog. Umfangreiche Bestände der Neuen Galerie des Joanneums haben in dieser Initiative ihren Ursprung; sie stammen von Malern wie Jakob Gauermann, Peter Krafft, Anton Petter, dem bedeutsamen Aquarellisten Thomas Ender und dem den Nazarenern zuzuzählenden Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld. Eine andere Richtung nahm das auf die Kunst bezogene Sammelinteresse Johanns, als er im Zusammenhang mit der von ihm initiierten und noch kurz zu besprechenden statistischen Rundfrage, in deren Rahmen auch die Volksbräuche, Sitten und Gewohnheiten ermittelt werden sollten, der Aufzeichnung von Liedern, Tänzen, Märschen und anderen Formen volkstümlicher Musik seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte. Bereits 1812 begannen seine Bemühungen um die archivalische Erfassung der heimischen Volkslieder und Volksmusik sowie um deren Pflege. Beträchtlichen Raum nahmen in den Sammlungen des Erzherzogs historische Dokumente ein und auch sonst am Joanneum die Geschichtsforschung und der Geschichtsunterricht, was beides der Steiermark zum besonderen Vorteil gereichte, da sie bis dahin gegenüber den übrigen österreichischen Ländern im Rückstand war. Johann, der das historische Archiv als eine der wichtigsten Abteilungen des Joanneums betrachtete, veranlaßte Kundmachungen an Bezirksobrigkeiten, Pfarreien und Privatherren, wodurch diese auf die Einsendung alter Schriftstücke, Urkunden und dergleichen aufmerksam gemacht wurden. Im Jänner 1814 beklagte er sich in diesem Zusammenhang gegenüber Johann von Kalchberg darüber, daß es „nur noch die Klöster und die Privatherren“ seien, „die ihre Geheimnisse (oh bone deus!) lieber den Motten und Mäusen anvertrauen als dem Landes Archiv, vielleicht fürchten sie sich, daß eine Parallele zwischen ihnen und ihren kernhaften Voreltern gezogen, nicht sehr günstig ausfallen möchte.“21 1815 wurde die Aussendung des Archivars und Historikers Joseph Wartinger mit dem Ziel der Sammlung solchen historischen Materials beschlossen, und der von Johann geradezu durchs Land gehetzte Gelehrte machte in der Folge reiche archivalische Beute. Von 1816 bis 1850 waltete dieser als Joanneums-Archivar in der aufopferndsten Weise. Das Suchen, Finden und Sammeln war für den Erzherzog nicht schon ein Ziel an sich, vielmehr galt es nach ihm zu sammeln, um zu entdecken, und zu finden, um zu erfinden. Deshalb sollte es sich ja nach seiner Auffassung beim Joanneum von Anfang an nicht bloß um ein Museum oder eine Bibliothek handeln, wo wissenschaftliche Objekte und Bücher sowie die von ihm konzipierte Zeitschrift Der Aufmerksame lediglich zur 21 SCHLOSSAR 1878, S. 115.
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Belehrung über aktuelle Wissensbestände dienen sollten, sondern es sollte hier auch wissenschaftliche Forschung unter der Anleitung tüchtiger Professoren erfolgen können.22 Solche Männer leisteten dem Rufe des Erzherzogs auch gern Folge, und dabei handelte es sich um so vorzügliche Fachvertreter wie den Mineralogen Friedrich Mohs (Abb. 7), den Astronomen Johann Philipp Neumann, den Technologen und Lehrer der Maschinenkunde Franz Jeschowsky, den Chemiker und Botaniker Lorenz von Vest und den Botaniker Franz Unger (Abb. 8). – Friedrich (Friederich) Mohs wurde 1812 zum Professor für Mineralogie am Joanneum berufen, wo er die nach ihm benannte Mohshärteskala entwickelte. Der Abb. 7: Friedrich (Friederich) Mohs aus Leutschach stammende Franz Unger Quelle: Porträtsammlung des wiederum, der zuvor Landesgerichtsarzt in Steiermärkischen Landesarchivs Kitzbühel war, wurde 1835 an der Grazer Universität zum Professor der Botanik und Zoologie bestellt und zugleich zum Direktor des Botanischen Gartens am Joanneum. Er erwarb sich große Verdienste um die Paläontologie, wandte sich aber später vor allem der Zell- und Protoplasmaforschung zu. Früh bemühte sich Johann bereits um einen „Professor des Fabrikfaches“,23 vor allem war er jedoch auch lange Zeit hindurch darum bemüht, den von ihm ursprünglich überaus geschätzten Julius Franz Borgias Schneller als Professor für „Vaterländische Geschichte“ zu gewinnen, dem er die Fähigkeit zuschrieb, mittels der ihm eigenen „lebhaften Einbildungskraft“ und seines hinreißenden Vortrags „jenen Geist in die Jugend zu bringen, der allein etwas hervorbringen kann“.24 Enttäuscht registriert der Erzherzog jedoch an diesem enthusiastischen Verehrer Napoleons „Narrheit und Eigendünkel“ und hofft schließlich 22 In Bezug auf die vom Erzherzog ins Auge gefaßte Leserschaft der Zeitschrift bemerkte er in aller Deutlichkeit im Februar 1813 gegenüber Kalchberg: „Sie kennen so gut, wie ich, unser Innerösterreichisches Publicum, ein Adel ohne Bildung und wenige ausgenommen, ohne Sinn noch Lust sich und ihren Kindern eine zu geben, auf diese also wirkt so eine Zeitschrift gar nichts, weil sie nicht gelesen wird; der Mittelstand, der Bürger, der Landmann sind also jene, für die sie gehört, die zwei letzten, welche die zahlreichsten sind, muß jenes am meisten interessiren, was auf ihr Leben, auf ihren Erwerb am meisten Einfluß nimmt, was jenen Kenntnisse diese zu verbessern, zu erweitern giebt […].“ (SCHLOSSAR 1878, S. 88) 23 Siehe z.B. SCHLOSSAR 1878, S. 79f. 24 Ebenda, S.82; siehe auch S. 78f., 81, und 84f.
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sogar, daß dieser „von Gratz wird movirt werden“.25 Zwar wußte sich Erzherzog Johann stets durch den Grafen Saurau von Wien aus unterstützt, dennoch hatte er es früh auch mit Mißgunst und gelegentlicher Obstruktion zu tun, die seinen Initiativen von dort entgegengebracht wurden. So schreibt er bereits im Februar 1812 an Johann von Kalchberg: „Daß hier manch Grosser wider unser Institut eifert, ist blos Neid, es ärgert Viele, daß eine kleine Provinz im Stande seyn soll etwas aufzustellen, was selbst der Hauptstadt keine Schande machen Abb. 8: Franz Unger, Lithographie von Joseph Kriehuber würde, daß dadurch diese Provinz Quelle: Wikimedia Commons bekannter wird und den Bewohnern die bisher mangelnden Mittel gegeben werden, sich zu bilden; doch darüber seyn sie ganz ruhig, es sind nur die letzten Nebelwolken, die einen einmahl heiteren Himmel nicht mehr zu trüben im Stande sind, wer mir mein Institut angreifet, hat es mit mir zu thun, und so fromm als ich sonst bin, würde ich hierin keinen Scherz verstehen, sondern Himmel und Erde bewegen.“26 Als wirklich gefährlich erschienen ihm aber drei andere Feinde: Lethargie, das Festhalten an erkenntnishemmenden Methoden, schließlich aber die arrogante Trägheit derer, welche die von ihren Vorfahren errungenen Lorbeeren als Dekor ihrer eigenen Untätigkeit benützen. So sind für ihn zunächst einmal „Trägheit, Gleichgültigkeit […] weit furchtbarer als Meinungen, erstere untergraben, zerstören jede Fähigkeit und rettungslos ist jener verloren, der ihnen nachhängt, leztere lassen sich leiten.“27 Bitter beklagt er sodann im Jänner 1814, daß unsere Schüler von Physik und von Mathematik, welche doch unumgänglich notwendig sei, um die übrigen naturwissenschaftlichen Fächer zu verstehen, nichts verstünden – „und dieß vorzüglich bey der unglücklichen lateinischen Sprache, die der Zehnte kaum verstehet […].“28 25 26 27 28
Ebenda, S. 114; siehe auch S. 103 und 184. Ebenda, S. 72f. Ebenda, S. 74. Ebenda, S. 114. – Zuversichtlich äußert sich jedoch einige Zeit danach Erzherzog Johann über die von ihm vermutete Absicht des Grafen Lazansky, des damaligen Hofkanzlers, die philosophischen Wissenschaften ins-
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(Im Unterschied zum Grazer Lyzeum bestand nur am Joanneum die Möglichkeit, die neueren mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in deutscher Sprache zu vermitteln.) Johann lobt schließlich, drittens, den Grafen Lannoy von Wildhaus, einen Mathematiker, von dem er mit Bezug auf die von ihm vertretene Disziplin sagt: „Er verstehet sie gründlich und hat die wahre Ansicht der Sache, dem Adel ist er ein Dorn im Auge (dieses ist Lob für ihn), weil er dessen Unwissenheit und Eigendünkel kennet und sich darüber ausließ […].“29 Die Vorbehalte Johanns gegen die zu seiner Zeit noch fast allgemein im akademischen Unterricht zur Anwendung kommende lateinische Sprache haben nichts mit Traditionsflucht und einem geistigen Exodus aus der abendländischen Tradition zu tun. „Nebst den Quellen“, so schreibt er an Kalchberg, „möchte ich gerne in unserer Bibliothek die besten Werke über die Geschichte Europäischer Staaten sehen, zuerst die Griechen, dann die Classiker, die späteren Lateiner: die Byzantiner, welche Sammlung ich zu erhalten hoffe, dann die Reihenfolge bis auf unsere Zeiten.“30 Und im Juni 1814 stellt er fest, daß er Geschichte immer so gelehrt sehen möchte, wie es unter anderem „nothwendig ist, um die Jugend […] und alle jene Tugenden des Alterthumes zu erweken und zu befestigen, die zu großen Dingen führen […].“31 Erzherzog Johann unterhielt außer zu den bereits genannten Wissenschaftlern und Gelehrten enge Beziehungen zu vielen weiteren Natur- und Geisteswissenschaftlern, so vor allem zu den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall und Anton von ProkeschOsten, zu den Historikern Albert von Muchar, Joseph Wartinger sowie zum Land- und Forstwirtschaftswissenschaftler Franz von Hlubek. Von Jugend an, insbesondere seit seiner 1801 begonnenen Tätigkeit als Generaldirektor des Österreichischen Fortifikationsund Geniewesens, hatte der Erzherzog ein ausgeprägtes Interesse an geographischen, topographischen und sozialstatistischen Belangen an den Tag gelegt. Dies fand seinen Ausdruck auch in der engen persönlichen und fachlichen Beziehung zu Gustav Franz von Schreiner sowie zu dem ebenfalls mit Belangen der Geographie, Topographie und Sozialstatistik befaßten Georg Göth, welcher zunächst als Mathematiker, dann als Bibliothekar und Privatsekretär in die Dienste des Erzherzogs trat. In diesem Zusammenhang ist auf jene statistischen Umfragen hinzuweisen, die von Johann selbst unter der Mitwirkung des an der Wiener Universität tätigen Franz Anton Lehmann ausgearbeitet und auf seinen Wunsch seit dem Winter 1810/1811 in der gesamten Steiermark versendet wurden. Durch Beantwortung von insgesamt 132 Fragegruppen sollte Material für eine von ihm geplante Innerösterreichische Statistik gesamgesamt künftighin in deutscher Sprache lehren zu lassen, und er meint, dies sei „die größte Wohlthat die uns geschehen kann“ (ebenda, S. 117). 29 Ebenda, S. 114. 30 Ebenda, S. 67. 31 Ebenda, S. 123.
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melt werden. Der Inhalt der „Fragentwürfe an sämmtliche steyermärkische Werbbezirke zum Behufe einer physicalischen Statistik dieses Landes“ war in sieben Hauptabschnitte gegliedert und behandelte folgende Themenkreise: topographisch-politische, religiössittliche, physikalisch-naturhistorische sowie medizinische, forstwirtschaftliche, ökonomische, montanistische, und schließlich kommerzielle Fragen.32 Über den Erfolg der Befragung gaben jeweils die Joanneischen Jahresberichte Auskunft, und viel später, nämlich im Jahre 1836, erfolgte unter der Federführung von Georg Göth eine abermalige Rundfrage. Zusammen mit den Ergebnissen der 1810 angelaufenen Aktion wurde diese dann ausgewertet und in Göths dreibändigem Werk Das Herzogthum Steiermark (1843) in gewissem Umfang verwertet. Die von Erzherzog Johann initiierten Rundfragen zählen bis auf den heutigen Tag zu den wertvollsten Quellen, über welche das Steiermärkische Landesarchiv zur heimischen Volks- und Landeskunde verfügt, und sie stellen zudem auch einen essentiellen Beitrag zur frühen Soziographie, Humangeographie und Kulturanthropologie im deutschen Sprachraum dar. Neben den vielfältigen Plänen für den Ausbau des Joanneums in Graz, die unter anderem auch in der Anlage des an das Museumsgebäude grenzenden großen Botanischen Gartens ihren Ausdruck fanden, ging es dem Prinzen von Beginn seines Wirkens in der Steiermark an um die Gründung eines von ihm als „Lese-Anstalt“ bezeichneten Lesevereins. Durch Realisierung des wahrhaft aufklärerischen Vereinszweckes sollte das Joanneum in seiner Wirksamkeit wesentlich erweitert werden: Der städtischen Bevölkerung wurde es durch die Beschaffung der führenden politischen Tagesblätter des In- und des Auslandes gleichermaßen wie der bedeutendsten wissenschaftlichen Zeitschriften ermöglicht, sowohl das politische als auch das wissenschaftliche Zeitgeschehen zu verfolgen. Als von seiten des in Graz bestehenden adeligen Casinos gegen diese Gründung – wohl in der Annahme, durch die „Lese-Anstalt“ Mitglieder zu verlieren – Stimmung gemacht wurde, schrieb der Erzherzog im März 1818: „Also für das Casino ist auf mich nie zu rechnen – ich werde wohl nicht die Spannung dulden zwischen den Classen, allein wer hat die Schuld davon als das ganz Verfehlte der Anstalt, der höchste Aristocratismus derselben – der nur die leider in Gratz bestandene Trennung noch mehr befestiget – welcher Theil dabey in Schulden stehet, ist nicht schwer zu beurteilen […].“33 Selbst, als das Casino bald darauf in finanzielle Schwierigkeiten geriet und eine Vereinigung mit der früher von ihm bekämpften „Lese-Anstalt“ anstrebte, blieb der Prinz unerbittlich: „Es heißet, als wolle das Casino aus Mangel an Geldquellen eine Vereinigung mit der Lese-Anstalt knüpfen; dies muß ich nun, sollte so etwas im Sinne liegen, voraus sagen, daß ich es auf keinen Fall zugeben werde und zu ernsten Schritten dann gezwun-
32 Dazu siehe WALTNER 1982, vor allem auch die Einleitung, S. 9–13. 33 SCHLOSSAR 1878, S. 166.
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gen würde. Mein Institut ist weder ein Kaffehaus, noch ein Unterhaltungsplatz – weder zum Plauschen noch zum Politisiren gemacht, es soll dem Lande frommen. […] Fällt das Casino durch sich selbst, so ist es seine eigene Schuld […] aber ich dulde keine Verbindung noch Vereinigung – und darüber soll keiner es wagen, mir ja nur eine Silbe zu sagen.“34 Obwohl schon 1812 initiiert, wurde der Leseverein erst 1818 genehmigt – eine bürokratische Verzögerung, die bei einer ganzen Reihe von Initiativen des Erzherzogs nachweisbar ist, ob es sich nun um die Landwirtschaftsgesellschaft in Steiermark oder – Jahre danach – um den Grazer Musikverein handelte. Jede Art von Vergemeinschaftung wurde unter der gelegentlich paranoid anmutenden Observanz Metternichs auf ihr subversives und staatsgefährdendes Potential hin untersucht. Das Jahr 1818, in dem Johanns Leseverein approbiert wurde, markiert den Abschluß der Stabilisierung der vielfältigen vom Erzherzog in seiner ersten Lebenshälfte auf den Weg gebrachten Gründungen. Zugleich ist es das Jahr, in dem dieser seinem Mentor, dem Grafen Franz Joseph von Saurau, davon Mitteilung machte, ein Standbild des Grafen im Joanneum aufstellen lassen zu wollen. Mit dem Dank für die stete Förderung des „steyermärkischen Landesmuseums“ verbindet der Erzherzog in seinem Schreiben vom 24. Februar 1818 eine Erinnerung an eine für die Steiermark glückliche Fügung: „Als nämlich der Pressburger Frieden Uns die Tirolischen Berge entrissen, haben Sie als damaliger Gouverneur Innerösterreichs, Meine von jeher den Alpen und den Alpenvölkern vorzugsweise gewidmete Aufmerksamkeit, in Sonderheit auf die Steyermark, auf ihre herrlichen Vorzüge, auf die Bedürfnisse der Nationalbildung und Landeskultur hingerichtet. So sind die Grundzüge des Johannäums in Meinem Gemüthe entstanden.“35 Nicht zu übersehen ist gleichwohl, daß sich diese Institution nur um den Preis realisieren ließ, daß der Erzherzog immer wieder seine Bereitschaft bekundete, die staatliche Zensurbehörde in ihrem Wirken anzuerkennen, und daß er diese Bereitschaft stets auch von anderen, insbesondere auch von dem wahrhaft getreuen Johann von Kalchberg forderte, welcher immer wieder Opfer zensorischen Stumpfsinns wurde.36 Eigentümlich kontrastiert dies mit der Tatsache, daß sich Johann diesem gegenüber nicht genug darüber ereifern konnte, daß „Napoleons System […] dem Denken sogar Schranken setzet“.37
34 35 36 37
Ebenda, S. 173. Zitiert in THEISS 1981, S. 135. Siehe SCHLOSSAR 1878, S. 96 und 99. Ebenda, S. 103.
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III. Erzherzog Johann als Mentor zahlreicher, vor allem auch wirtschaftlicher, sozialer und pädagogischer Institutionen außerhalb des Joanneums Gleich nach der Gründung des Joanneums hat Erzherzog Johann die Besetzung mehrerer Lehrkanzeln ins Auge gefaßt, und damit steht auch die Gründung der Landwirtschaftsgesellschaft in Steiermark in Zusammenhang. Sie, deren offizielle Gründung im Jahr 1819 erfolgte, steht mit der schon 1818 eingerichteten Musterwirtschaft am Brandhof am Beginn einer sich bis in das Jahr 1845 erstreckenden Aktivität Johanns, die in der Errichtung von mehr als einem Dutzend von Institutionen ihren Ausdruck fand, die für die Steiermark und für Graz von eminenter und nachhaltiger Wirkung waren. Der Erzherzog verschaffte sich über die Gräfin von Purgstall die Akten der seit 1768 bestehenden Ackerbaugesellschaft für Innerösterreich, welche 1785 ihr Ende erreicht hatte, und entwarf auf dieser Grundlage und in Zusammenarbeit mit kenntnisreichen Beratern die Statuten der neu zu begründenden Gesellschaft. Im Dezember 1813 bemerkte er gegenüber Johann von Kalchberg, am besten sei wohl ein „landwirthschaftlicher Verein, der aber die Industrial Zweige umfaßt“. Ergänzend dazu stellte er fest: „Hindernisse wird es blos bey einigen hochgeborenen Herren geben, die zu stolz seyn werden, mit Landleuten und Werkinhabern an einer Sache theil zu nehmen, indeß bedürfen wir ersterer nicht, die sich leider meistens durch Unwissenheit und Nichtsthun auszeichnen.“38 1819 wurde diese Schöpfung des Erzherzogs offiziell begründet und erwies sich alsbald für das Wohl der steirischen Landbevölkerung als ungemein segensreich. Hingewiesen sei hier nur auf die Förderung des Kartoffelanbaues,39 des Obst- und Weinbaues sowie der Viehzucht, insbesondere aber auch auf den unter tatkräftiger Mitwirkung des Erzherzogs zustandegekommenen Entwurf einer verbesserten Dienstbotenordnung und dessen Umsetzung.40 Daß in der Steiermark so erfolgreich dafür gesorgt wurde, durch den allgemeinen Anbau von Kartoffeln Unter- oder Mangelernährung in verschieden ärmeren Teilen der Bevölkerung zurückzudrängen, geht auch darauf zurück, daß auf Betreiben des Erzher38 Ebenda, S. 110f. 39 Bei SCHLOSSAR 1908, S. 121, heißt es in diesem Zusammenhang: „Ein besonderes Verdienst schon in den ersten Jahren der Gesellschaft war die Einführung des Kartoffelbaues im ganzen Lande. Es wurde eine eigene Kartoffelunterstützungsanstalt gegründet und der Bau dieser nützlichen Knollenfrucht, welche bisher nur etwa als Viehfutter benutzt worden war, durch unentgeltliche Verteilung an ärmere Bauern und durch Belehrung über den Nutzen der Kartoffeln in jeder Richtung unterstützt, so daß bald im Ober- und Unterlande die Wohltat dieser Frucht allgemein bekannt wurde und sich eifriger Anbau der besten Sorten überall zeigte.“ Im Jahre 1829 war die Frucht in allen Teilen des Landes verbreitet, und die Kartoffelunterstützungsanstalt hatte ihren Zweck erreicht. 40 Daß der Erzherzog auch der Hegung und Wartung des Hochwildes große Aufmerksamkeit widmete und seine Aktivitäten zu einer Revision bislang üblicher Jagdgewohnheiten und zur Einführung von Wildschutzbestimmungen führten, sei hier ebenfalls erwähnt.
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zogs vorzügliche Sorten namentlich aus England und Schottland, auf welche er bereits bei seiner Reise in den Jahren 1815 und 1816 geachtet hatte, der bäuerlichen Bevölkerung zukamen. Aber dies war nur eine der für ihn, aber letztlich für die gesamte Steiermark so ungemein fruchtbaren Anregungen, die er aus dem Vereinigten Königreich bezog. Solche empfing der Erzherzog für ganz verschiedene ihn interessierende landwirtschaftliche, naturwissenschaftliche und technische Belange, wobei vor allem das Berg- und Hütten-, sowie das Eisenbahnwesen eine herausragende Rolle spielten. Die von Erzherzog Johann gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig und in Begleitung des Technologen Widmannstetter unternommene mehrmonatige Reise in das Vereinigte Königreich erfolgte im Anschluß an eine von König Georg IV. an Kaiser Franz ausgesprochene Einladung und in dessen Vertretung. Johann zeigte sich von den reichen Kenntnissen und der Bildung der mit ihnen verkehrenden Personen – sowohl aus Kreisen der Aristokratie als auch der mittelständischen Unternehmerschicht – außerordentlich beeindruckt, von welchen er berichtet, daß sie einen großen Teil ihrer Zeit in den in ihren Häusern eingerichteten Bibliotheken verbringen.41 Ihnen begegnete er mit höchster Achtung, während er so gut wie allem Französischen gegenüber eine vorurteilsbefangene Mißachtung an den Tag legte. Von besonderer Wichtigkeit erschienen dem Erzherzog im Vereinigten Königreich die Institutionen des Fabriks- und Handelswesens, der Schiffahrt, der wissenschaftlichen und Kunstsammlungen, ferner die großartigen staatlichen Einrichtungen sowie die öffentlichen Bauten. Wertvolle Eindrücke sammelte er in der Eisen- und Stahlwaren-Fabriksstadt Sheffield, in Liverpool, Newcastle, Southampton und Leicester, ferner in der Universitätsstadt Oxford, in Shakespeares Geburtsstadt Stratford am Avon, in der Hafenstadt Plymouth, in der großen Industriestadt Birmingham, wo in Soho die großen Dampfmaschinen von James Watt in ihren jüngsten Weiterentwicklungen Gegenstand eingehender Betrachtung wurden. In dem vom Erzherzog hinsichtlich der Mentalität seiner Bewohner besonders geschätzten Schottland machten vor allem Edinburgh und Glasgow auf ihn großen Eindruck. In Glasgow lernte er die ersten Dampfschiffe und auch die ihm ebenfalls neuen Lokomotiven kennen. Eine Reihe von Begegnungen mit namhaften Persönlichkeiten, so etwa mit dem damals 80jährigen Astronomen Herschel in der Nähe von Windsor oder mit dem berühmten Schriftsteller William Roscoe in Liverpool boten Abwechslung in dem vornehmlich auf wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Belange bezogenen 41 Entsprechendes galt – ohne daß es bei Erzherzog Johann Erwähnung findet – beispielsweise für die Herkunftsfamilien von Charles Darwin, dessen Vater ein angesehener Landarzt und dessen Mutter eine Tochter des Gründers der Wedgewood-Porzellanfabriken, Josiah Wedgewood, war. In beiden Familien waren neue Ergebnisse der Naturwissenschaften und der Technologie ebenso Teil der Konversation wie die lokale Politik oder beispielsweise auch die Vorschläge zur Reform des Parlaments.
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Besichtigungsprogramm. Besonderes Interesse erweckten beim Erzherzog auch die zur Hebung der Volksbildung bestimmten hohen und niederen Schulen. Die im Vereinigten Königreich gemachten Erfahrungen, aber auch die dort aus dem Verkehr mit Gelehrten, Industriellen und Technikern gewonnenen Ratschläge und Anregungen hat er in einer Vielzahl von schriftlichen Notizen, Beschreibungen und Zeichnungen festgehalten. Johann hat von seiner Reise nach Großbritannien, an welche sich auch eine Besichtigung des Schlachtfeldes von Waterloo sowie der Besuch von Bergwerken und Industrieanlagen in dem zweiten damals herausragenden Land der Industriellen Revolution, nämlich in Belgien, anschlossen, reiche Erwerbungen für das Joanneum und dessen Sammlungen mitgebracht. Sie und seine auf dieser Reise gemachten Erfahrungen und Beobachtungen kamen dieser Institution sehr zustatten. Angeregt durch die in England und Schottland gemachten Erfahrungen, erschien es Erzherzog Johann notwendig, gewisse Änderungen und Erweiterungen an dem Konzept des Joanneums vorzunehmen. Dieses war mehr und mehr eine innerhalb und außerhalb Österreichs hoch angesehene wissenschaftliche Lehranstalt geworden, die nicht mehr nur der komplementären Ergänzung und Unterstützung des Grazer Lyzeums diente, das erst 1827 wieder in den Rang einer Universität erhoben wurde. Von besonderer Wirkung sollten die in Großbritannien gewonnenen Anregungen ferner für die Entwicklung der Landwirtschaft, des Bank- und Versicherungswesens, der Berg- und Hüttenkunde, sowie für den Eisenbahnbau im Lande werden. Auf die Wirksamkeit der Landwirtschaftsgesellschaft wurde bereits hingewiesen. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dieser kam es zur Gründung der ersten Steiermärkischen Sparkasse in Graz im Jahr 1825 sowie, drei Jahre später, der Wechselseitigen Brandschaden-Versicherungsanstalt für Steiermark, Kärnten und Krain, welche im Juni 1829 ihre Tätigkeit aufnahm. Das Bestreben, die zeitgenössischen Errungenschaften der wissenschaftlich betriebenen Landwirtschaft für die Steiermark nutzbar zu machen, veranlaßte den Erzherzog zur Einrichtung eines landwirtschaftlichen „Versuchs- und Musterhofes“ in Graz, und am Joanneum kam es zur Institutionalisierung einer Professur für Landwirtschaftslehre, deren erster Inhaber Carl von Werner war. Aber schon im Jahre 1818, erwarb der Erzherzog, wie bereits erwähnt, den in der Nähe des Seebergsattels bei Mariazell gelegenen Brandhof und richtete dort eine bäuerliche Musterwirtschaft ein. Hier sollte durch entsprechende Züchtung von Getreide- und Gemüsesorten gezeigt werden, daß man – ähnlich wie durch Veredelung der Pferde-, Rinder-, Schaf- und Ziegenrassen – der Natur selbst unter ungünstigen klimatischen Bedingungen Nahrung abgewinnen und so eine Verbesserung der Lebenslage insbesondere von Bergbauern erreichen kann. Durch die auf seiner Reise durch England und Schottland empfangenen Eindrücke angeregt, wandte sich Johanns Interesse auch der Erzverhüttungs- und Eisenverarbeitung zu, welchem Wirtschaftszweig in der Steiermark seit jeher eine entscheidende
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Bedeutung zukam. Im Jahr 1828 erwarb er in Vordernberg eine Hochofenanlage, ein sogenanntes Radwerk, wodurch er von da an auch der altehrwürdigen RadmeisterCommunität angehörte und stolz selber den Titel eines Vordernberger Radmeisters führte. Durch die 1833 erfolgte Gründung einer Montanschule in Vordernberg gelang es dem Erzherzog, einen tüchtigen Nachwuchs für die vorzüglich gedeihenden steirischen Eisenwerke heranzubilden, wobei Peter Tunner zur ersten Lehrkraft für Berg- und Hüttenkunde an dieser Anstalt ernannt wurde. Bald erschien es erforderlich, diese umzugestalten und zu verlegen, und in der Folge kam es 1849 in Leoben zur Eröffnung der Staats- und Montanlehranstalt, aus welcher später die Montanistische Hochschule, die heutige Montanuniversität, hervorgegangen ist. Besonders verdient hier erwähnt zu werden, daß bezüglich der sozialen Lage der Bergknappen am Erzberg, aber auch der im Kohlenbergbau sowie in der Metallindustrie beschäftigten Arbeiter das Beispiel und die Anregungen des Erzherzogs der landläufigen Praxis der betrieblichen und sozialen Fürsorge weit vorauseilten. Die bereits im Jahre 1838 in Vordernberg gegründete und wohl auf die Anregung Erzherzog Johanns zurückgehende „Bruderlade der Berg- und Hüttenarbeiter“ übernahm die Fürsorge für die Kranken und Arbeitsunfähigen und bewirkte die Bestellung eines eigenen „Bergarztes“. Schon damals waren an der Leitung und Verwaltung der Bruderlade Unternehmer und Arbeiter in gleicher Weise beteiligt.42 Von diesen sozialen Einrichtungen ist nicht anzunehmen, daß sie sich unmittelbar auf in Großbritannien geschaffene Einrichtungen zurückführen lassen, eher schon auf bestimmte in den Alpenländern und im süddeutschen Raum bestehende Traditionen, wo sehr früh – man denke etwa nur an gewisse Sozialeinrichtungen der Fugger – sozialpartnerschaftliche Modelle in den Arbeits- und Versicherungsverhältnissen eine Rolle spielten. Durchaus von England und Schottland inspiriert sind hingegen andere von Erzherzog Johann auf den Weg gebrachte Institutionen. Zunächst wurde schon im Jahre 1817 auf sein Betreiben und in Verbindung mit dem Joanneum eine Mustersammlung heimischer Fabriks- und Gewerbeerzeugnisse eingerichtet und der öffentlichen Benutzung zugeführt. Aus dem gleichen Bestreben nach Förderung von Industrie und Wirtschaft heraus bemühte sich der Erzherzog früh um die Einrichtung eines Gewerbevereins, welchem Ansinnen allerdings erst im März 1837 von regierungsamtlicher Stelle entsprochen wurde, woraufhin es zur formellen Errichtung des „Vereins zur Beförderung der Gewerbsindustrie in Steiermark und Illyrien“ kam. Im Zusammenhang damit steht auch die Gründung der für die sich entwickelnde heimische Industriegesellschaft so bedeutsamen und das spätere Berufsschulwesen entscheidend mitprägenden Staatsgewerbeschule in Graz, die in ihrer ganzen Anlage den einschlägigen Institutionen ent42 Vgl. THEISS 1981, S. 76.
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sprach, die der Erzherzog auf seinen Reisen durch England und Schottland kennengelernt hatte. Auf ähnliche Weise war für ihn die Beispielswirkung des Vereinigten Königreichs im Fall von drei weiteren Initiativen bestimmend: bei der 1845 erfolgten Einrichtung der Landesoberrealschule in Graz; bei der hier im gleichen Jahr stattgefundenen Gründung des „Geognostisch-montanistischen Vereins für Innerösterreich und das Land ob der Enns“, dem die Aufgabe der Erkundung und Verarbeitung von Bodenschätzen verschiedenster Art zufiel; schließlich, und zwar schon im Jahr zuvor, bei der Errichtung der Teilstrecke Mürzzuschlag – Graz jener Bahnlinie, welche Wien mit Triest verbinden sollte. Im Oktober 1844, nach nur zweijähriger Arbeit, übergab der Erzherzog diese Teilstrecke dem öffentlichen Verkehr, die für die Steiermark von größter wirtschaftlicher Bedeutung wurde. Voller Begeisterung schreibt er im März 1825 an Franz Joseph Graf Saurau in Vorwegnahme künftiger Entwicklungen des Eisenbahnbaus: „So eine Verbindung zwischen Triest und Prag und dann weiters auf der Moldau und Elbe bis Hamburg, welch neues Feld für den Handel, und welch Leben in allen den Provinzen, durch welche sie führt, welche Vortheile zum wechselseitigen Austausch und zum Absatze der eigenen Produkte und zum Preise, welche den Käufer lohnen, sich um diese zu bewerben.“43 Daß die Eisenbahn allerdings auch infolge des durch sie ermöglichten raschen Transports landwirtschaftlicher Produkte aus klimatisch begünstigten Regionen die Bemühungen heimischer Bauern oft überflüssig machen und sie selber als ungelernte Hilfsarbeiter in die neuentstandenen Fabriken abdrängen könnte, stand dem Erzherzog dabei als Möglichkeit noch nicht vor Augen. Aber bereits dreißig Jahre nach dessen Ableben, im Jahre 1889, schuf Peter Rosegger mit seinem Roman Jakob der Letzte ein eindrucksvolles literarisches Dokument dieser für den Bauernstand vielfach dramatischen Folgen einer in anderer Hinsicht fortschrittlichen Entwicklung. Die nicht beabsichtigten sozialen Konsequenzen von durchaus beabsichtigten, dem technischen Fortschritt zugewandten Aktivitäten, sollten eben erst späteren Generationen als ein die Lebensverhältnisse nachhaltig bestimmendes Problem bewußt werden. Es wäre nicht richtig, den Erzherzog für einen nahezu ausschließlich der Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft zugewandten Pragmatiker zu halten. Einer derartigen Ansicht widerspricht sein auf die Bereiche der Kunst und der Geisteswissenschaften bezogenes Wirken. So war er von großer Wertschätzung für seine Kammermaler gleichermaßen erfüllt wie für eine ganze Gruppe ansehnlicher Dichter und Schriftsteller. Er war mit Johann Ritter von Kalchberg (Abb.9), dem immerhin bedeutendsten österreichischen Dramatiker vor Franz Grillparzer, befreundet, und er unterhielt engen persönlichen Kontakt vor allem zu dem von einer einfältigen Zensurbehörde geplagten 43 Zitiert nach THEISS 1981, S. 150.
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Lyriker Karl Gottfried von Leitner, von welchem Franz Schubert einige Gedichte vertonte, sowie zu Anastasius Grün (eig. Anton Alexander Graf Auersperg).44 Von besonderer Bedeutung ist in dem hier interessierenden Zusammenhang die im Jänner 1819 erfolgte Übernahme des Protektorats über den bereits 1815 – als „Academischer Musikverein“ – gegründeten, aber erst 1821 behördlich anerkannten Steiermärkischen Musikverein durch den Erzherzog. Dieser Musikverein ist mittlerweile nach dem Wiener Musikverein der zweitälteste der Welt, welcher seit seiner Gründung ohne Unterbrechung tätig geblieben ist. Erzherzog Johann äußerte zwar dem Abb. 9: Johann Nepomuk von Kalchberg damaligen Landeshauptmann FerdiQuelle: Porträtsammlung des Stmk. Landesarchivs nand Graf Attems gegenüber in zum Teil humorvoller Form45 einige sachliche Bedenken, nahm aber schließlich die Wahl an und setzte sich zugleich mit aller Kraft für diesen Verein ein,46 welcher für das steirische Musikleben so bedeutsam werden sollte. 1821 wurde Ludwig van Beethoven dessen Ehrenmitglied, 1823 Franz Schubert, welcher in einem Schreiben vom 20. September 1823 mit seinem Dank die Ankündigung verband, „dem löblichen Vereine ehestens eine meiner Symphonien in Partitur zu überreichen“. 1824 schickte er die später „Unvollendete“ genannte Symphonie an seinen Freund Anselm Hüttenbrenner (Abb. 10), bei dem der Autograph dieses symphonischen Meisterwerkes allerdings bis April 1865 in Ober-Andritz lag, ehe der 44 Anastasius Grüns hohe Wertschätzung des Erzherzogs wird belegt durch zwei auf den Seiten des Postamentes des Erzherzog-Johann-Denkmals angebrachte Sprüche, die ihn zum Verfasser haben; deren bekannterer lautet. „Unvergeßlich lebt im Volke, wer des Volkes nie vergaß.“ 45 „Wenn es nach dem Sprichworte gehet,“ so bemerkt der Erzherzog unter anderem, „welches sagt, wem Gott das Amt giebt, dem giebt er den Verstand, so werde ich noch ein gewaltiger Virtuos werden, und wenn nicht auf irgend einem ausgezeichneten Instrument, doch vielleicht auf der Maultrommel oder dem Hackbrettel.“ (Zitiert nach THEISS 1981, S. 146) 46 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Briefe des Erzherzogs an Johann von Kalchberg von März 1819 und Jänner 1824, in SCHLOSSAR 1878, S. 176 bzw. S. 188.
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Abb. 10: Franz Schubert, Anselm Hüttenbrenner, Johann Baptist Jenger (v. re. n. li.), Steindruck n. e. Farbstiftz. von Josef Teltscher Quelle: Porträtsammlung des Stmk. Landesarchivs
Wiener Hofkapellmeister Johann Herbeck ihn zu sich nahm und das Werk im Dezember 1865, 37 Jahre nach dem Tod des Komponisten, in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde zur vielumjubelten Uraufführung brachte. Was andererseits die Geistes- oder Kulturwissenschaften betrifft, so war der Erzherzog als Initiator und Mentor nicht müßig. Bereits früh hatte er sich über die ihr innerhalb des Joanneums zugedachte Stellung der Geschichtsschreibung und der Geschichtswissenschaft, zu deren Vertretern – wie etwa zu Wartinger oder Muchar – er in enger fachlicher wie persönlicher Beziehung stand, sehr deutlich geäußert: „Geschichte ist ein Hauptzweig unseres Institutes, […] es ist unsere Sache, daran zu denken und dafür zu sorgen – wie läßt sich denn sonst in der Jugend aufweken, was doch so nothwendig ist – und die Geschichte, ist sie nicht die Wissenschaft aller Wissenschaften? Sie enthält ja die Resultate alles jenen, was in der Welt geschiehet, die Erfahrung aller Zeiten.“47 So bildet die Geschichte nach Ansicht des Erzherzogs den Hintergrund für die Ausbildung der Urteilskraft auf jedem Gebiet. Und daher nimmt es nicht wunder, daß Johann – neben der Gründung und der durch Jahrzehnte hindurch mit höchstem Arbeitseinsatz und größter Umsicht vorangetriebenen Ausgestaltung des Landesarchivs – im Jahre 1843 auch den „Innerösterreichischen Geschichtsverein“ ins Leben rief. Dieser stellte sich die Aufgabe der Pflege und Förderung der heimatlichen Altertümer und der jeweiligen Landesgeschichte in den drei innerösterreichischen Ländern Steiermark, Kärnten und Krain. Schon im Jahre 1849 erfolgte die Untergliederung dieses Vereins in drei getrennte Landesvereine, von denen einer der bis heute aktive „Historische Verein für Steiermark“ ist. 47 Ebenda, S. 125f.
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Nicht aus persönlicher Zuneigung, die sich vielleicht nach Jahrzehnten höchst komplizierter Beziehungen zwischen den beiden Persönlichkeiten eingestellt haben könnte, sondern aufgrund zweckrationaler Erwägung wurde Prinz Johann im Jahr 1846 auf Vorschlag des Staatskanzlers Fürst Clemens Metternich als Kurator der neu zu gründenden kaiserlichen Akademie der Wissenschaften bestellt. Maßgeblich dafür waren die Reputation, die sich der Erzherzog durch die mittlerweile weit über die Steiermark hinausragende Anerkennung seiner Gründung, des Joanneums, erworben hatte, sodann aber die geradezu enthusiastischen Reaktionen der Teilnehmer an der 21. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im Herbst 1843 in Graz. Hier war der Erzherzog, dessen vorbildliches Wirken im Dienste der aufstrebenden Naturwissenschaften in der gelehrten Welt des deutschen Sprachraums bekannt war, nicht nur als vortrefflicher Gastgeber tätig, sondern auch als ein in verschiedenen Bereichen höchst kompetenter und sich aktiv beteiligender Tagungsteilnehmer. Zwar hegte er gewisse Bedenken, die er auch dem Staatskanzler gegenüber schriftlich äußerte, unterzog sich aber dann mit großem Eifer dieser seiner neuen Aufgabe, obwohl er in dem erwähnten Brief klarlegte, daß man mit bestimmten Untugenden auf seiten bestimmter Wissenschaftler und mit daraus resultierenden Schwierigkeiten zu rechnen habe. Diese sind, wie er ausführt, „die größte Eitelkeit, Selbst- und Scheelsucht, Rechthaberei, Einseitigkeit, Eigensinn, Eigennutz und Trägheit“.48 Mit knapperen Worten lassen sich die Negativa gewisser Mitglieder der Wissenschaftskaste kaum benennen. Es ist dem Arbeitseinsatz des Erzherzogs zuzuschreiben, daß die kaiserliche Akademie – die heutige Akademie der Wissenschaften – als oberste gelehrte Körperschaft Österreichs bereits am 2. Februar 1848 mit einer feierlichen Sitzung eröffnet werden und ihre Tätigkeit aufnehmen konnte. Der erste Präsident dieser Institution, der große Orientalist Joseph Hammer von Purgstall, stand dem Erzherzog bekanntlich in seinen wissenschaftlichen Orientierungen, aber auch persönlich nahe.49 Bezeichnend war allerdings ein Vorfall , der sich gleich nach Ende des Festaktes am 2. Februar ereignete: Durch eine Stelle in Hammer-Purgstalls Manuskript der Eröffnungsrede am Tag vor der feierlichen Sitzung provoziert – die Akademie, so erklärte dieser, „setzt der Freiheit ihrer Erörterung in Rede und Schrift keine andere Schranke als ihre Selbstzensur“ –, hatte der Polizeipräsident Graf Sedlnitzky bei Metternich erwirkt, daß dieser Passus nicht in Hammer-Purgstalls Rede vorgetragen wird. Der Überbringer dieses Verbots kam allerdings erst in den Festsaal, als der Präsident seine Rede bereits beendet hatte. Sedlnitzky befahl nun, die beanstandete Stelle nicht in die schriftliche Fassung der Rede aufzunehmen, worauf Hammer-Purgstall mit seinem sofortigen Rücktritt drohte. Erst eine kaiserliche Entschließung vom 13. März 1848 konnte den Konflikt um die Selbstzensur der Akademie beenden. 48 Aus dem Brief Erzherzog Johanns an Fürst Metternich vom 22. August 1846, zitiert nach THEISS 1981, S. 165. 49 Siehe in diesem Zusammenhang ILWOF (Hg.) 1889.
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IV. Erzherzog Johann als Privatier, politischer Akteur und Kommentator des Nationalitätenkonflikts Betrachtet man das Leben des Erzherzogs unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen hochgespannten Erwartungen und ihrer Realisierung, so gelangt man zu einer gemischten Bilanz von Erfolgen und Enttäuschungen, was im Fall von ideenreichen und zugleich aktiven Menschen geradezu unvermeidlich zu sein scheint. In eher deprimierter Stimmung schreibt er im Juni 1818 an Johann von Kalchberg über die Einschätzung seiner Situation in Wien: „28 volle Jahre habe ich da zugebracht, 18 im Dienste meines Herren unter vielem Kummer und Leiden und als Untergeordneter näher der Wahrheit,“50 und er setzt dann seine Selbstbetrachtung mit den Worten fort: „Freunde haben mich redlich erzogen und meinem Herzen Gefühle und Grundsätze eingeprägt, welche wohl mit der Einfalt der Gebürgsvölker, aber nicht mit dem Truge der großen Welt passen. 36 Jahre bin ich physisch alt – moralisch wohl tief in die 50 – es giebt Erschütterungen, welche altern – so mit mir – Gott lob, daß ich kein Menschenfeind – wohl aber ein Feind des Falschen, Gezierten, Selbstsüchtigen, Trägen, der großen Welt geworden […]; und wahrlich, nach meinem Gott, der mich nie in Noth und Kummer verlassen, hängt mein Herz blos an zwey Gegenständen, nämlich über alles an meinem Kaiser [der ihn immerhin bei der Verwirklichung seiner politikfernen Ambitionen unterstützte, K.A.] und an meinen Bergbewohnern – sonst ist nichts für mich auf dieser Welt, wo ich, hätte ich leztere nicht, die mir täglich rührende Beweise von Anhänglichkeit geben, ganz einsam und allein stünde.“51 Nicht alle Formen der Melancholie werden chronisch, und manchmal findet sich ein Therapeutikum. Jedenfalls wurde Prinz Johann – gerade einmal ein gutes Jahr nach diesem schriftlich formulierten Eigenbefund – nach einer Gebirgswanderung mit Freunden im Ausseerland und einer sich daran anschließenden Schiffahrt über den Toplitzsee von Ausseer Bürgermädchen festlich empfangen. Unter diesen befand sich auch die damals 15jährige Tochter Anna des Ausseer Postmeisters Jakob Plochl, die sofort die Aufmerksamkeit des Erzherzogs erregte und der er drei Jahre später, wie er selber berichtet, also im Jahr 1822 gesteht, nicht von ihr lassen zu wollen.52 Schon im April des Jahres 1823 erlangte er von seinem kaiserlichen Bruder, dem Familienoberhaupt, die schriftliche Einwilligung zu einer morganatischen Verehelichung mit der Postmeisterstochter. Als jedoch der Kaiser bald darauf diese Heiratserlaubnis wieder zurücknahm, wurde der Erzherzog durch das Vorgehen seines Bruders zutiefst verletzt. Erst im Februar 50 Eine bedeutsame, in den letzten Jahrzehnten vor allem von Reinhart Koselleck für die Geschichtsschreibung immer wieder geltend gemachte Erkenntnis, wonach der Unterlegene fast immer mehr sehe als der Sieger. 51 SCHLOSSAR 1878, S. 167. 52 Siehe ERZHERZOG JOHANN 1978, S. 99.
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1829 gestattete der Kaiser die Vermählung, welche jedoch zunächst nicht öffentlich bekanntgegeben wurde. Im Beisein von zwei vertrauten Freunden als Trauzeugen – von Vinzenz Huber, einem Mürzzuschlager Hammer- und Sensengewerken und von Johann Zahlbruckner, dem Privatsekretär des Erzherzogs – fand die kirchliche Trauung des Paares in der Kapelle des Brandhofes statt. Schon einige Zeit davor übernahm Anna die Wirtschaft in Vordernberg, wo Johann bekanntlich als Radmeister wirkte. Hier kam es, wie ein an Anna aus Wien im November 1824 gerichteter Brief bezeugt, zu einer kurzzeitigen, und, wie man bemerken wird, wahrhaft sozialmoralisch motivierten Eintrübung im Verhältnis dieses Paares. Anlaß war der Anzug des Kutschers Hiesel, der „nach städtischer Art“, wie Johann feststellte, Frack und Hut trug, was entweder von Anna veranlaßt oder doch geduldet worden war. Hier kannte jedoch der Erzherzog keine Nachsicht: „Als Hieseln der Frack und der Huth nach städtischer Art gemacht wurde und ich es sah, so untersagte ich es und in meiner Gegenwart erschien es nicht mehr. Warum also für Dich, um nach Gratz zu fahren, ihn damit bekleiden? Als ich den grauen Rock in der Steyermark einführte, geschah es, um ein Beispiel der Einfachheit in Sitte zu geben, so wie mein grauer Rock, so wurde mein Hauswesen, so mein Reden und Handeln.“ Und dann fährt er, ziemlich bös geworden, fort: „Wenn ich also so handle, willst Du den Gegensatz von mir machen? Solltest Du nicht Deinen Stolz darinnen setzen, den Sitten, welche unserem armen bedrängten Land anpassen, getreu anzuhängen und die Erste zu seyn, so einem Beispiele zu folgen. Denn wisse, dies wirft ein übles Licht auf mich und würde ich anfangen mich im Geringsten zu ändern, so würden alle die Bande reißen, die das Volk und alle die Redlichen an mich binden. Willst Du durch so eine törichte Sucht [die anderen nachzumachen], die Schuld auf Dich laden, mein Werk zu zerstören? […] Da muß […] die Frau wie der Herr seyn, so will ich es und darauf werde ich unerbittlich streng halten. Darum rathe ich Dir, nie mehr Dir beykommen zu lassen, diesen Anzug meinem Kutscher zu geben.“53 Es ist davon auszugehen, daß Zwistigkeiten für die Beziehung zwischen dem Paar keineswegs charakteristisch waren, sondern daß vielmehr jener Ton vorherrschend gewesen ist, der das aus dem Nachlaß des Erzherzogs herausgegebene und von ihm verfaßte Buch Der Brandhofer und seine Hausfrau durchgehend bestimmt. Im Jahre 1834 wurde Anna Plochl von Kaiser Franz zur Freifrau von Brandhofen und im Jahre 1850, elf Jahre nach der Geburt ihres 1839 geborenen Sohnes Franz, von Kaiser Franz Joseph zur Gräfin von Meran erhoben. Bis in ihr hohes Alter war die Gräfin ausgezeichnet durch ihren Wohltätigkeitssinn, wobei sie sich der Sorge um Leidende und Unglückliche, einschließlich der Pflege
53 Dieser bruchstückhaft erhaltene Brief befindet sich im Archiv Meran des Steiermärkischen Landesarchivs und ist zitiert in THEISS 1981, S. 147–149.
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von bei Kriegshandlungen Verwundeten, widmete. In Graz trägt heute noch das Anna-Kinderspital ihren Namen. Es wäre grundfalsch anzunehmen, daß der glückliche Ehemann und Vater nunmehr seine wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Interessen preisgegeben hätte oder daß sich diese gewissermaßen entdringlicht hätten. Er war keineswegs dazu veranlagt, so etwas wie eine inner- oder voralpine Auster zu werden – und dies weder geographisch noch mental. Nach all den süßlich-sentimentalen Filmen und illustrierten Romanen muß man dies in aller Deutlichkeit denen in das Stammbuch schreiben, für die bis heute, wie Walter Koschatzky einmal sagte, „Erzherzog Johann allein mit Bergsteigen, älplerischen Liebschaften und dem nach ihm benannten Jodler identifiziert ist“.54 Was seine geographische Mobilität anlangt, so war er nicht nur im alpinen Gelände ausführlich unterwegs, sondern wiederholt auch in diplomatischer Mission. So besuchte er beispielsweise im Jahr 1837 Rußland, die Türkei und Griechenland, und im Jahr 1842 im Rahmen einer militärisch-diplomatischen Aktivität das große Heerlager, welches der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. am Rhein zusammengezogen hatte. Erhalten hat sich von damals für einige Zeit der vom Erzherzog im Schloß Brühl dargebrachte Trinkspruch, in welchem er die Einigkeit zwischen Preußen und Österreich beschwor, in folgender einstmals populären Verdichtung: „Kein Preußen, kein Österreich! Ein einziges großes Deutschland, fest wie seine Berge.“55 Der Erzherzog hat wie früher dem Kaiser Franz – leider in politischen Belangen vergebens –, so auch dessen Nachfolgern Ratschläge zu geben versucht, wo ihm dies geboten schien. Aber auch diese sind nicht wirksam geworden, ja im Regelfall wohl nicht einmal erwünscht gewesen. Doch für einige Zeit, als nämlich Johann nachhaltig in das politische Geschehen der Sturmjahre 1848 und 1849 involviert wurde, schien sich für kurze Zeit die Einstellung des Hofes ihm gegenüber zu ändern, weil man vorübergehend an seiner Einschätzung der politischen Lage in Österreich und den deutschen Ländern interessiert war. Gemeint ist insbesondere die Zeit seiner Tätigkeit als Reichsverweser im Frankfurter Parlament. Aber letztlich bedeutete auch sie, insbesondere wegen der nach und nach geradezu unüberbietbaren Ignoranz des Wiener Hofes gegenüber dem Wirken des Erzherzogs für diesen eine gewaltige Enttäuschung. Es war dies die zweite von insgesamt dreien, mit denen er sich im Gefolge des Sturmjahres 1848 als politischer Akteur konfrontiert fand. Einiges an Enttäuschung blieb gleichwohl, wie gezeigt werden kann, nicht auf ihn beschränkt, sondern war gewissermaßen von reziproker Art.
54 ERZHERZOG JOHANN 1978, Einleitung, S. 31. 55 Siehe SCHLOSSAR 1908, S. 166.
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1. Johann und das Jahr 1848 in Österreich. Als die Kunde von den Pariser Ereignissen im Februar 1848 sich bis nach Wien verbreitet hatte, erzwangen dort die Massen im März den Rücktritt Metternichs. Der Erzherzog brachte die Nachricht davon selber nach Graz, und in der Folge erfaßte die ganze Bürgerschaft der damals circa 50.000 Einwohner zählenden Stadt, wie die anderer Städte auch, allgemeine Begeisterung. Es wurden schwarzrot-goldene Fahnen gehißt, die Studentenschaft begehrte Lehr- und Lernfreiheit und die ebenfalls freiheitlich gesinnten Bürger verfaßten Petitionen an den Kaiser, in denen sie vor allem ihren Willen nach Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege, nach Aufhebung oder Einschränkung gewisser Steuern sowie nach Volksbewaffnung kundtaten. Am 14. März faßten die Teilnehmer einer Versammlung von Studenten an der Universität und am Joanneum einen von 600 Studierenden, den Professoren und den Studiendirektoren – mit Ausnahme der Theologen – unterzeichneten Beschluß, der vor allem folgende Punkte enthielt: Aufhebung der Zensur, Gewährung einer Konstitution sowie einer zeitgemäßen Erweiterung der Landesvertretung, die schon erwähnte Lehrund Lernfreiheit, und anderes mehr.56 Dieser wurde an den Kaiser gerichtet und diesem am 19.März von Erzherzog Johann überbracht. Auch wurde, nach Wiener Vorbild, eine akademische Legion aufgestellt, die fakultätsweise in Kompanien gegliedert war, wobei die Studenten des Joanneums sich als technische Kompanie einreihten. Erzherzog Johann hat die Joanneumsstudenten vor seiner Abreise nach Wien inspiziert, nachdem diese aus dem landesfürstlichen Zeughaus in der Hofgasse die Waffen bezogen hatten.57 Im Verlauf des Jahres 1848 tauchten hierorts immer wieder die Namen von zwei Mitgliedern des „Grazer demokratischen Vereins“ auf: von Joseph Leopold Stiger, dem geistigen Führer dieser um Einführung der konstitutionellen Monarchie bemühten Vereinigung, und von Vinzenz Benedikt von Emperger (Abb. 11), dem „Sprecher der Bürger von Graz“ und rührigsten Wortführer der Revolution. Im Anschluß an die blutigen Oktoberereignisse in Wien, in deren Verlauf nicht nur allerlei radikale Phrasen die Öffentlichkeit bestimmten, sondern verschiedentlich auch gewalttätige Übergriffe des Mobs erfolgten, sistierte Erzherzog Johann seine anfänglichen Sympathien für die Reformer des Frühjahrs 1848. Angesichts der im weiteren Verlauf wiederholt erfolgten positiven Bezugnahme auf Ideen und Praktiken der Französischen Revolution, in welcher bekanntlich unter anderem Königin Marie Antoinette, eine Schwester seines Vaters, 1793 auf grausame Weise zu Tode kam, ist die Distanznahme des Erzherzogs verständlich und meist auch nachempfunden worden. Dennoch bedauerten viele, daß er von den Revolutionären nur als von „Narren“ sprach, „die alles umstürzen wollen“. „Diese Landsturmgeschichte“, so fand er, „wird, wenn einst wieder Ruhe eintritt, zum Spotte dienen.“58 56 Siehe dazu und zu den Reformaktivitäten an der Grazer Universität HÖFLECHNER 2006, S. 39–42. 57 Siehe dazu ebenda, S. 39f. 58 Siehe dazu MAYER 1913, S. 511.
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In diesem Urteil steckt ein gehöriges Maß vorschneller Verallgemeinerung, da es an den Extremformen des revolutionären Geschehens orientiert ist, andere seiner Züge aber damit ignoriert. Was die Studentenschaft anlangt, so waren deren republikanische Gruppierungen gewiß im Irrtum, wenn sie den Erzherzog als einen Befürworter der Republik ansahen. Gewiß, er war für Reformen, er trug entsprechende Vorschläge beispielsweise als Anliegen der Grazer Studierenden dem Kaiser vor, aber er wollte den Kaiser nicht loswerden und zur Abdankung veranlassen. Und daß er sich selber, wie verschiedentlich im Anschluß an das von Heinrich Heine auf ihn gemünzte Gedicht Abb. 11: Vinzenz Benedikt von Emperger, „Johann ohne Land“ behauptet wird,59 danach Josef F. Kaiser nach einer Zeichnung von drängte, Kaiser aller Deutschen zu werden, ist Ignaz Preisegger, 1848 mehr als fraglich. Jedenfalls stellte sich auf seiQuelle: Stadtmuseum Graz ten jener Studenten Enttäuschung ein, die einsehen mußten, daß der Erzherzog nicht ihre Ideen von der Republik zu verwirklichen gewillt war – ihm diese Absicht zuzuschreiben, zeugte wohl von einiger Fähigkeit zur Selbsttäuschung. Anders verhält es sich mit der Enttäuschung über die Haltung Johanns, durchaus vernünftige Ansinnen gewisser „1848er“ – auch solcher, denen gar nicht am Sturz der Monarchie gelegen war – nach und nach nicht einmal mehr ernst zu nehmen und sogar gegenüber dem sie betreffenden Unrecht indifferent geblieben zu sein. So ergreift dieser Freund der Bauern nicht das Wort, als Hans Kudlich, der Bauernbefreier – wie 140 andere Rebellen auch – zum Tode verurteilt wird, dem es aber gelingt, vor der Exekutierung in die USA zu fliehen. Kein energisches Wort zugunsten des auf Betreiben von Felix zu Schwarzenberg am 9. November 1848 in Wien-Brigittenau hingerichteten Robert Blum, dem als Delegationsleiter der demokratischen Fraktion der von Erzherzog Johann geführten Nationalversammlung Abgeordnetenimmunität zustand! Auch ist kein Versuch des Erzherzogs nachweisbar, zwischen den republikanischen Rebellen und deren Gegnern zu vermitteln – wodurch er sich trotz, ja gerade in Anbetracht seiner nicht-republikanischen Haltung wohl höchste Achtung bei den Aufständischen erworben und den Weg für Reformen geebnet, nicht aber für die Reaktion mit freigemacht hätte. 59 So zum Beispiel GIRTLER 1999, S. 62.
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Die Gedanken und Bestrebungen der Achtundvierziger-Revolution waren, obschon mitunter grotesk verzerrt und vereinzelt sogar pervertiert, im Ansatz oft konstruktiv und durchaus lebensfähig. Unvergeßlich bleibt die Rolle, welche die Arbeiter und Studenten darin gespielt hatten, aber auch die Anregungen zu einer gesunden Sozialpolitik und Arbeiterfürsorge, zum Koalitionsrecht, ferner zur Kranken- und Invaliditätsversicherung, zu Maximalarbeitszeit und Minimalarbeitslohn usw. Grillparzer hatte allerdings mit seiner scharfen Bemerkung recht, daß zur Freiheit vor allem „gesunder Verstand und Selbstbeschränkung“ gehören und es den Revolutionären an der Fähigkeit ermangelte, durchaus erwartbare Reaktionen zu antizipieren, die ja tatsächlich dem Wirrsal des Sturmjahres folgen sollten. Spätestens zu Ende des Jahres 1851 waren mit Ausnahme der Bauernbefreiung so gut wie alle Reformvorschläge in den Erblanden und den Kronländern der Monarchie vom Tisch gefegt. Vor allem galt dies selbst für die Idee einer konstitutionellen Monarchie. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. 2. Johann und die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt. Auch ein anderes als Reformwerk konzipiertes Unternehmen sollte scheitern. Die Rede ist von der Verfassung, auf deren Grundlage eine Einigung aller deutschsprachigen Länder anstelle eines lockeren Staatenbundes erfolgen hätte können; eine solche auszuarbeiten war für einige Monate Sache der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, an deren Spitze Erzherzog Johann als gewählter Reichsverweser (Abb. 12) stand. Bei der im Juni 1848 abgehaltenen Wahl entfielen 436 der 521 abgegebenen gültigen Stimmen auf ihn. Die Wahl des nicht nur in Österreich oft als „Alpenkönig und Menschenfreund“60 apostrophierten volkstümlichen Prinzen stimmte viele optimistisch, was die Beantwortbarkeit der großen Frage betraf, ob sich den traditionellen Nationalstaaten Westeuropas eine deutsche Nation an die Seite stellen lasse. Aber diese Nation ließ sich unter den vorwaltenden Umständen nicht realisieren: wegen der wachsenden Spannungen einerseits zwischen den republikanischen Kräften und ihren Gegnern, andererseits zwischen dem österreichischen Kaiser und dem preußischen König. Nachdem am 18. September 1848 zwei konservative Abgeordnete der Nationalversammlung, Felix Fürst von Lichnowsky und Hans von Auerswald, von radikalen Republikanern ermordet und von diesen in der Innenstadt von Frankfurt Barrikaden errichtet worden waren, schlugen von der Nationalversammlung zu Hilfe gerufene preußische und österreichische Truppen die Erhebung gewaltsam nieder. Der Tod des wegen seiner Fähigkeiten und wegen seiner Tapferkeit im Kampf geschätzten Fürsten Lichnowsky und des angesehenen preußischen Generals Auerswald, der an den Befreiungskriegen teilgenommen hatte, wurde der republikanischen Sache zum Verhängnis. Denn diese 60 Später hat man ihn allerdings mitunter spöttisch den „Reichsvermoderer“ genannt.
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Tat machte fortan eine Kooperation mit den nun völlig diskreditierten radikalen Kräften in Frankfurt so gut wie unmöglich. In gewisser Weise war dadurch auch jede weitere republikanische Aktivität in weiten Teilen der Bevölkerung diskreditiert. Dies gilt besonders auch für die Badische Revolution, die von Anfang März 1848 bis Juli 1849 dauerte und deren Proponenten den Versuch unternahmen, selbst noch nach dem Scheitern der Paulskirchenversammlung in Frankfurt eine demokratisch-republikanische Verfassung wenigstens in einigen Teilstaaten des Deutschen Bundes durchzusetzen. Was andereseits die Frage nach der deutschen Einheit angeht, so spitzte sich diese sofort zu einem Kampf zwischen dem Staate der Hohenzollern und dem der HabsAbb. 11: Erzherzog Johann als Reichsverweser, burger zu. Erzherzog Johann wurLithographie von Joseph Kriehuber, 1848 de dabei in unüberwindliche KonQuelle: Wikimedia Commons flikte zwischen den verschiedenen, einer echten deutschen Einigung entgegenstehenden Interessen und Kräften hineingezogen. Alleingelassen von den um ihren Vorrang innerhalb der deutschen Länder bangenden Hofkreisen in Wien, aber auch angewidert von den Kniffen und Ränken der auf ihre Vorteile bedachten preußischen Partei will er, wie er sagt, seine Hand „zu einem zerrissenen Deutschland“ nicht bieten und „mit allen den Intrigen nichts gemein haben“.61 Er legt sein Amt nieder und bekennt in einem Brief vom 11. Dezember 1849 bezüglich seiner in Frankfurt gemachten Erfahrungen deprimiert: „Ich habe die Menschen kennen gelernt, habe alle Mühe gehabt, mich zu bewahren vor bitteren Empfindungen […]. Große Charaktere, Edelmut, Selbstverleugnung, dessen gibt es verdammt wenig, 61 So in einem Brief an seinen Privatsekretär Johann Zahlbruckner, zitiert in THEISS 1981, S. 173.
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sehr viel Schwaches, Schleichendes, Selbstsüchtiges, eitel Ehrgeiziges, Leidenschaftliches, ich kehre zu meinen Gebirgsbewohnern [zurück], sie haben auch Fehler genug, aber sie haben ein Herz, und auf dieß läßt sich was bauen.“62 3. Johann und die österreichische Nationalitätenpolitik nach der antikonstitutionalistischen Wende. Nachdem Kaiser Ferdinand („der Gütige“) am 2. Dezember 1848 seine Regierungsgewalt auf den neuen Kaiser, seinen jugendlichen Neffen Franz Joseph, übertragen hatte, löste dieser bereits drei Monate danach, am 7. März 1849, den in Kremsier (Mähren) tagenden Reichstag mit Militärgewalt auf. Dieser hatte soeben, nämlich am 4. März, die Grundrechte und eine konstitutionelle Verfassung ausgearbeitet, welche auch den nationalen Ansprüchen der verschiedenen Völkerschaften der Monarchie gerecht werden hätte sollen. Vollends war der Traum von einem konstitutionellen Österreich ausgeträumt, als Kaiser Franz Joseph am 31. Dezember 1851 die Verfassung vom 4. März 1849 definitiv widerrief. „Wir haben das Konstitutionelle“, so schreibt Franz Joseph geradezu erleichtert seiner Mutter, „über Bord geworfen und Österreich hat nur mehr Einen Herrn.“63 Damit war aber die vom jungen Monarchen (Abb. 13) bei seinem Regierungsantritt abgegebene Erklärung im nachhinein als Betrug erwiesen. Denn bei der feierlich verkündeten Ära der Konstitution und der Mitarbeit des Volkes handelte es sich, wie nun jedermann sehen konnte, um einen glatten Wortbruch, wenn nicht um eine Lüge. Es war also gekommen, wie es der boshafte Kritiker des Ministerprogramms vom November 1848, der mährische Schriftsteller Adolph Franckel, in einem gelungenen Spottgedicht mit dem Titel „Ein Programm“ vorausgesagt hatte. Da heißt es: „Wir sind etwas liberal zwar, doch besonnen und verständig, / Konstitutionell von außen, aber absolut inwendig, / Autonomisch werden alle Landesteile sich gestalten, / Doch zentrale Bajonette wird das Militär behalten. / […] Die Regierung wurde vielfach der Parteilichkeit verdächtigt, / Alle Nationalitäten sind fortan gleich unberechtigt, / Alle Nationalitäten sind von nun an gleich geschätzet, / Nöt’genfalles wird die eine auf die andere gehetzet. / Solch ein Palliativverfahren flickt für heute das Zerwürfnis, / Flickt die Großmacht, die bekanntlich für Europa ein Bedürfnis / […] Auf dem Boden der Verträge widerrufen die Kanonen, / Was man in der Angst versprochen den entfesselten Nationen, / Leider lassen sie nicht friedlich sich betrügen und versöhnlich, / Doch es wird die gute Sache siegen wie gewöhnlich. / […] Dies Programm zu halten, geben wir einmütig das Versprechen, / Sollt’ es sich nicht ganz bewähren, werden wir es ehrlich brechen.“64 62 Auch dies aus einem Brief an Johann Zahlbruckner, geschrieben am 11. Dezember 1849; zitiert ebenda, S. 174. 63 Zitiert nach BIBL 1937, S. 250. 64 Zitiert ebenda, S. 196f.
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Franckel sollte nahezu durchgehend recht behalten. Der Wortbruch, der Widerruf der Verfassung vom 4. März 1849, zählt zu den größten politischen Mißgriffen in der österreichischen Geschichte und ist unter der Rubrik „Sträflich versäumte Gelegenheiten“ einzuordnen. Einerseits war man, wie schon zu Metternichs Zeiten, bestrebt, nonkonformistische und widerständige Regungen im Inund Ausland vornehmlich als das Werk geheimer Gesellschaften anzusehen und mit Kanonen und Bajonetten zu bekämpfen, andererseits wußte man dem wachsenden Nationalbewußtsein in den Kronländern oft nur durch eine in moralischer Hinsicht prinzipienlose, in staats- und sozialtechnischer Hinsicht inkompetente Abb. 13: Kaiser Franz Joseph I. in jungen Jahren, Schaukelpolitik zu begegnen. Gemälde von Franz Xaver Winterhalter Was die politischen Tendenzen Quelle: Wikimedia Commons im Österreich der Zeit nach 1851 angeht, so sah man dafür, wie einmal ein Zeitgenosse launig bemerkte, vier Mittel vor: „ein stehendes Heer von Soldaten, ein sitzendes Heer von Beamten, ein kniendes Heer von Priestern und ein schleichendes Heer von Denunzianten.“65 Die Regression im Inneren der Donaumonarchie wurde besonders in zwei Bereichen fühlbar: im Unterrichtswesen und – vor allem – in den Beziehungen der Völker untereinander. Zwar bestand an den Universitäten Lehr- und Lernfreiheit, aber sie bestand nur „provisorisch“, und es blieb nicht verborgen, daß man dies verschiedentlich mit dem „katholischen“ Charakter, dem sich die Hochschulen zu verpflichten hätten, als nur schwer vereinbar empfunden hat.66 Im Juli 1852 verlangte der Kaiser ein Gutachten über die
65 Siehe dazu BIBL 1937, S. 253. 66 So nimmt es auch nicht wunder, daß – es herrschte ja noch immer der 1848 dekretierte Belagerungszustand – an der Spitze der Technischen Hochschule Wien ein militärischer Kommandant stand.
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bisherigen Erfahrungen mit der akademischen Freiheit, wobei offen die Frage aufgeworfen wurde, ob der Grundsatz der Lehr- und Lernfreiheit nicht „allenfalls“ zu beschränken wäre. Die Universitäten wurden vorübergehend, wie bereits im Vormärz, reine „Drillanstalten“ für Beamte und den wissenschaftlichen Nachwuchs. Erst die große, von Leo Graf Thun initiierte Reform des Hochschulwesens sollte dazu führen, nach und nach Wissen und Glauben, Wissenschaft und Weltanschauung voneinander zu trennen und ihnen jeweils heterogene Bereiche der Erfahrung und der Wissensformen zuzuweisen. Auch die Steiermark und einige Lehrer am Joanneum in Graz blieben von den Auswirkungen dieser illiberalen Orientierung nicht unbehelligt. Exemplarisch sei hier Gustav Franz von Schreiner erwähnt, der in Graz Staatsrechtslehre, Statistik und Historische Geographie unterrichtete und unter dem die Grätzer Zeitung vorübergehend eine liberale Richtung verfolgen konnte, womit es nun für einige Zeit ein Ende hatte. Dem Erzherzog konnten gegen die von ihm gegründeten Institutionen gerichtete reaktionäre Tendenzen nicht angenehm sein, und er hielt es für notwendig, sie dadurch gegen Interventionen zu immunisieren, daß sie sich selbst, wie von Anfang an, nicht als mit weltanschaulich-politischen oder religiösen Agenden befaßte Anstalten begriffen. Was dem Erzherzog besondere Sorgen machte, war das immer problematischere Miteinander der in der Habsburgermonarchie versammelten Nationalitäten. Deren Verhältnis zueinander scheint er ähnlich gesehen zu haben wie Grillparzer, aber auch wie Victor von Andrian-Werburg in seiner aufsehenerregenden Schrift Österreich und dessen Zukunft aus dem Jahre 1840. Hier bezeichnet dieser Autor „Österreich“ als einen rein imaginären Begriff, dem kein in sich abgeschlossenes Volk oder Land oder eine bestimmte Nation entspreche – es handle sich lediglich um eine konventionelle Benennung für einen Komplex von untereinander scharf abgesonderten Nationalitäten: Deutschen, Slawen, Italienern, Ungarn, die zusammen den österreichischen Kaiserstaat konstituieren, aber keine österreichische Nationalität ergeben. Bald würde sich Österreich, wenn der jetzige Augenblick einer möglichen Reform ihrer Beziehungen zueinander versäumt wird, zu vier gerüsteten Nationalitäten entwickeln, die einander feindlich gegenüberstehen und nur mehr ein gemeinsames Band haben: das der Abneigung und des Widerstandes gegen die Regierung. Erzherzog Johann machte sich über Rezepturen in diesem Zusammenhang durchaus seine Gedanken und er unterbreitete auch entsprechende Vorschläge: zunächst dem kaiserlichen Bruder Franz, später dem kaiserlichen Großneffen Franz Joseph I. Gestaltete sich das Verhältnis des österreichischen Kaiserstaates sowohl zu Preußen und den anderen deutschen Ländern, als auch zu Rußland, der Türkei und Serbien schon seit Metternich in hohem Maße ambivalent, so entwickelte sich seit dem Wortbruch vom Jahresende 1851 das Verhältnis zwischen Österreich und den Kronländern – zu den Tschechen, den Polen, den Ungarn, den Italienern, aber auch zu den Südslawen – immer konfliktreicher.
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Maßgeblich dafür waren Bestrebungen der Zentralisierung, wie sie vor allem zur Zeit der 1830er-Unruhen eingesetzt haben, von welchen man glaubte, daß sie auch auf das Gebiet der Habsburger Monarchie übergreifen könnten. Dem Erzherzog scheint dagegen klar gewesen zu sein, daß selbst eine erfolgreiche Zentralisierung der ethnisch-kulturellen Einheiten des Vielvölkerreiches nicht die angestrebte Homogenisierung zur Folge hätte, sondern eher so etwas wie eine allgemeine politische Indifferenz, wobei man sich daran gewöhnen würde, den Staat bestenfalls als eine Dienstleistungsagentur zu verstehen, die man instrumentell nutzt, die einem aber letztlich fremd bleibt. Im Falle des Mißlingens einschlägiger zentralstaatlicher Bestrebungen würden dann die zur Wirkung kommenden zentrifugalen Kräfte den alten Staat zersprengen. Daher erschien es ihm auch höchst bedenklich, sowohl nach Italien als auch nach Ungarn hin militärisch auszugreifen und durch drakonische Maßnahmen: nicht nur durch Kriegssteuern und Gütereinziehungen, sondern vor allem auch durch Liquidierungen und Kerkerstrafen, wie etwa nach der Mailänder Revolte vom März 1848 oder in besonders brutaler Weise im Falle des Blutgerichts von Arad am 6. Oktober 1849, als 13 Anführer und Generäle des Aufstands von 1848/49 auf Befehl des österreichischen Generals Julius von Haynau hingerichtet wurden, die Herzen der Italiener und Ungarn gewinnen zu wollen.67 So schrieb der Erzherzog schon vor der Einleitung des unseligen Germanisierungswerkes in Ungarn, nämlich im August 1849, an den von ihm geschätzten Minister Wessenberg, daß Zentralisierung und Uniformierung in Anwendung auf Ungarn unglückliche Ideen seien; und weiter: „Will man dort germanisieren, so wird man nie zu Ende kommen. Das ist meine Ansicht – die Folge wird die Richtigkeit lehren.“68 In Österreich wie in Ungarn sollten, so fand er, Selbständigkeit der Provinzen und liberale Einrichtungen herrschen. Ein Senat sei aus allen Teilen des Reiches gemeinsam zu bilden und als deren Mittelpunkt zur Beratung der Gesamtinteressen einzuberufen.69 Damit befürwortete Erzherzog Johann eine föderative Ordnung, in der gerade nicht die historischen Mächte und Gewohnheiten zerstört werden, deren Nutzen nur jene nicht sehen, denen verborgen geblieben ist, daß die Anhänglichkeit der Massen an Herrscherhäuser und Regierungen auch auf Gewohnheit beruht. Zudem hat Johann als ein wenn auch nicht gerade sehr erfolgreicher, so doch erprobter Feldherr erkannt, daß ein guter Friede nicht die Vernichtung des Gegners, sondern der Kriegsgründe voraussetzt. Derzeit, so schien es ihm, verkenne man wohl die Bedeutung des einmal begonnenen 67 Die in Ungarn besonders grausam gehandhabte Bestrafung hatte – folgt man den ungarischen Quellen – 114 Todesurteile und 1765 Freiheitsstrafen zur Folge. Wie man später in Erfahrung bringen konnte, hat der im Lande wütende Baron Haynau seine Aktionen immerhin mit Wissen des jungen Kaisers Franz Joseph und ganz im Sinne des Fürsten Felix zu Schwarzenberg durchgeführt. – Siehe dazu BIBL 1937, S. 230–238. 68 Zitiert nach BIBL 1937, S. 238. – Siehe in diesem Zusammenhang auch ABLEITINGER 1974. 69 Siehe BIBL 1937, ebenda.
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Abb. 14: Schlacht von Solferino, Gemälde von Carlo Bossoli Quelle: Wikimedia Commons
Einheitsstrebens der Italiener und des verletzten Stolzes der 1848/1849 tief gedemütigten Ungarn. Es mutet eigentümlich an, daß das Todesjahr des Erzherzogs mit dem Schreckensjahr der österreichischen Armee in Italien: mit der bitteren Niederlage von Solferino am 24. Juni 1859 (Abb. 14), zusammenfällt. Und doch zeichnete sich dieses dramatische Ereignis schon Jahre vorher im hartnäckigen Widerstand der Italiener gegen die österreichische Herrschaft ab, spätestens aber zu jenem Zeitpunkt, als an den Hauswänden in der Lombardei und in Venetien der Name des ungemein populären Komponisten Giuseppe Verdi auftauchte. Denn damals hätten die Österreicher bereits wissen können, daß es sich dabei um eine Kampfansage handelte; „Verdi“ bedeutete nämlich auch „Vittorio Emmanuele re d’Italia“, und das war so etwas wie „der offizielle Schlachtruf des Risorgimento, der italienischen Freiheitsbewegung“.70 *
70 Siehe FINK 1994, S. 297f.
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Wie in den Jahren vor seiner Tätigkeit als Reichsverweser nur gelegentlich, so konzentrierte sich in der letzten Dekade seines Lebens das von vielfältiger Aktivität erfüllte Leben des Erzherzogs mehr und mehr auf Stainz (wo er von 1850 an bis zu seinem Ableben der erste demokratisch gewählte Bürgermeister der Steiermark war), auf Graz, den Brandhof und das bereits im Jahre 1822 erworbene Weingut Pickern bei Marburg. Dies besagt allerdings nicht so etwas wie ein Nachlassen des Interesses an den Geschehnissen der Zeit oder gar politisches Kartäusertum. Noch wenige Tage vor seinem Ableben, am 24. April 1859, schreibt er an Generalleutnant Jochmus: „Sie wissen, daß ich meinem Kaiser nach Pflicht und Trieb meines Herzens meine Dienste antrug, ich möchte nicht scheinen, daß ich intriguire, da ich nichts begehrte […], so hoffe ich, daß man auf mich nicht ganz vergessen werde!“71 Dem fügt er noch hinzu, daß er, noch bevor er zu den Vätern wandere, wenigstens durch irgendeinen Dienst dem Kaiser seine Anhänglichkeit beweisen möchte. Bereits im Jahre 1845 hatte der Erzherzog in Erfüllung seiner Liebe zum Land Tirol72 das Schloß Schenna bei Meran erworben, das er immer wieder besuchte und wo er auch bestattet zu werden wünschte. Eine arge Verkühlung, welche bald einen ernsten Charakter annahm, da sich der Erzherzog keine Schonung auferlegte, zwang ihn im Mai 1859 ins Krankenbett. Von da aus führte er noch bei einer in seinem Palais abgehaltenen Sitzung der Kuratoren des Joanneums den Vorsitz; auch am 10. Mai erledigte er, obschon sich seine Krankheit zu einer Lungenentzündung entwickelt hatte, Akten der Landwirtschaftsgesellschaft. Am 11. Mai 1859 stirbt Erzherzog Johann in Graz. Sein Leichnam wird zunächst im Mausoleum der Domkirche beigesetzt, 1869 jedoch, seinem Wunsche entsprechend, nach Schloß Schenna in die Familiengruft übergeführt.
V. Erzherzog Johann als sozialkultureller Evolutionist In Anbetracht der immensen von ihm erbrachten Leistungen ist man geradezu betreten, in einem Brief des erst 29jährigen Erzherzogs, den dieser im Juli 1811 an Johann von Kalchberg richtete, zu lesen: „Sollte ich in meinen alten Tagen sehen, daß jenes was ich für Steyermark beabsichtige, wenigstens zum Theil erreichet worden, daß dem Land
71 JOCHMUS 1884, S. 264f.; zitiert in THEISS 1981, S. 179. 72 Diese scheint in der Tat grenzenlos gewesen zu sein. Gern hätte man zum Beispiel gewußt, wie er, dem es bekanntlich ab 1833 wieder gestattet war, nach Tirol zu reisen und sich ein eigenes Bild von den dortigen Vorkommnissen zu machen, die im Jahr 1837 auf Betreiben des Salzburger Erzbischofs erfolgte Vertreibung von insgesamt 427 Protestanten aus dem Zillertal beurteilte, welche katholischen Zwangsbekehrungen gegenüber resistent geblieben und von denen zwischen dem 31. August und dem 4. September 416 nach Niederschlesien und 11 nach Kärnten sowie in die Steiermark ausgewandert sind.
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und dessen Bewohnern manch Gutes daraus erfließe, dann würde ich wahrlich leichter scheiden, da ich doch sagen könnte auf dieser Welt nicht ganz unnütz gestanden zu seyn.“73 Schon Zeitgenossen des Erzherzogs fiel es schwer, auf sein Wirken anders Bezug zu nehmen als in geradezu panegyrischer Form. Aber auch nüchterne Gelehrte, wie der damals weltberühmte und neben Alexander von Humboldt als Begründer der wissenschaftlichen Geographie angesehene Carl Ritter, äußerten sich enthusiastisch: „Steyermark vor Erzherzog Johann und wie es heute dasteht, ist durch ihn mehr als ein volles Jahrhundert vorwärts geschritten […].“74 Diese Feststellung ist alles eher als übertrieben. Fast scheint es, daß die Persönlichkeit Johanns, der ja in Wahrheit berufen war, europäische Politik zu machen, für die Steiermark zu groß dimensioniert ist. Vielleicht war es deshalb in seinem Falle vielen nur möglich, sich das Bekannte durch Idyllisierung vertraut zu machen, auch wenn es dadurch nicht in Erkanntes verwandelt wird. Es war bereits die Rede von den durch ihn initiierten und der Zeit weit vorauseilenden Einrichtungen im Bereich der Arbeiter- und Bergknappen-Fürsorge,75 und vielfältig belegt ist die Tatsache, daß sich die bäuerliche Bevölkerung mit ihren Sorgen und Nöten jederzeit vertrauensvoll an ihren geliebten „Prinzen Johann“ wenden durfte. Johanns Liebe zum sogenannten einfachen Volk, der auch seine schlichte persönliche Lebensführung entsprach, korrespondierte aber keineswegs mit einer Einstellung, die man wiederholt an seinem kaiserlichen Bruder Franz konstatieren konnte: mit einer Abneigung gegen hervorragend Begabte oder gar geniale Naturen und einer Vorliebe für „verläßliche“ Mittelmäßigkeiten. Wie sich selbst, so verlangte der Erzherzog auch anderen auf jeweils ihrem Gebiete einiges ab, verstand sich aber auch darauf, Leistung und charakterliche Integrität offen zu rühmen. Dieser Haltung entsprach, wie man sich denken kann, auch eine Ablehnung von Geschwätzigkeit, selbstverliebter Kontemplation und abstrakter Humanitätsduselei. So hatte er Vorbehalte gegen eine gewisse frei flottierende Didaktik, welche in seiner Zeit unter dem Namen der „Erziehungskunst“ in Erscheinung trat,76 aber auch gegen eine wirklichkeitsfremde idealistische Philosophie,77 während er sich etwa über Montesquieu, Montaigne und Machiavelli, den er als den „Vater der Staatskunst“ bezeichnete, mit dem Ausdruck hoher Wertschätzung äußerte.78 Keineswegs, so verwahrt er sich einmal Kalchberg gegenüber, verwerfe er „das Geistige und alles jene was dahinzielet in unserer verhängnißvollen Zeit, Vaterlandsliebe, Eifer zum Guten u.s.w. zu erregen!“, aber nun, so
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SCHLOSSAR 1878, S. 59f. So Carl Ritter an seinen Bruder in einem Brief vom 29. September 1843, zitiert in THEISS 1981, S. 158. Siehe dazu exemplarisch ILWOF 1904, S. 191. Siehe etwa SCHLOSSAR 1878, S. 79 und S. 80. Siehe beispielsweise seine kritischen Bemerkungen gegen die Vertreter des „Schlegel’schen Systems“, ebenda, S. 80. 78 Siehe ebenda, S. 67.
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stellt er zugleich im Februar 1813 fest, gehe es eben um Prioritäten: „Das praktische auf das Leben des Menschen als Mensch, als Arbeitender für sich und andere, als Staatbürger [sich Beziehende] ist sicher das wichtigste. Dieses muß er vor allem wissen, darinnen eine Art Vollkommenheit erreichen, damit er dann Sinn für das andere bekomme.“79 Es ging ihm darum, den Wirklichkeitssinn zu wecken, auf dessen Grundlage sich erst so etwas wie ein Sinn für konkrete Möglichkeiten entfalten kann. Also zunächst Fakten, dann Fiktionen, zunächst Empirie, für deren Erschließung in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften ohnehin viel „Einbildungskraft“ erforderlich ist, erst dann die Visionen! Ihm, der gewohnt war, bei verschiedenen Tätigkeiten selbst Hand anzulegen, waren wortreiche Verblasenheiten ein Greuel. Seine Anweisungen – ob sie nun den Leseverein, bestimmte Lehrstühle oder den Botanischen Garten des Joanneums80 betrafen – waren knapp und stets zielorientiert, ohne daß dabei auf mögliche unbeabsichtigte Nebenfolgen vergessen worden wäre. Als unnütz und als eine die Entwicklung hemmende Verlagerung der Mittel auf die Zielebene erschien ihm das bürokratische Getue sowohl in der Landesregierung, dem „Gubernium“, auf welches er, der ja nicht als Statthalter der Steiermark oder in ähnlicher Funktion tätig gewesen ist, bestenfalls nur indirekt Einfluß nehmen konnte. Dessen „Schläfrigkeit“81 beklagt der Erzherzog ebenso, wie die geradezu administrationserotischen Gelüste, die bestimmte Organe des Joanneums bei Sitzungen an den Tag legten. „Ich bin ein Feind der Sitzungen und ein Freund der Überzeugung in scientifischer Rücksicht“,82 bemerkt er im Mai 1813. Was hätte er wohl zu den zahlreichen Kommissionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gesagt, die im Verein mit einem überbordenden Konsulentenwesen heute einer effizienten Sachbearbeitung und Problemlösung oft diametral entgegenstehen? Wie Wortgeklingel, Trägheit und Ineffizienz, so haßte der Erzherzog soziale Arroganz – insbesondere dann, wenn der Anspruch, etwas zu sein, heftig mit dem kollidierte, was man in Wirklichkeit war. Eine geradezu permanente Zielscheibe seiner Kritik war in diesem Zusammenhang bekanntlich das in den meisten seiner Vertreter intellektuell unbedarfte, aber sehr auf soziale Distanz bedachte adelige „Casino“ in Graz. Natürlich kommt bereits in solchen Haltungen Wesentliches von den allgemeinen Grundorientierungen des Erzherzogs bezüglich des zwischenmenschlichen Verhaltens zum Ausdruck. Wie aber könnte man abschließend seine allgemeine Sicht der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt kurz kennzeichnen?
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Ebenda, S. 90; siehe auch ebenda, S. 89. Siehe beispielsweise die Anweisungen zur Errichtung des Botanischen Gartens in SCHLOSSAR 1878, S. 131. Siehe ebenda, S. 162 und 168f. Ebenda, S. 95.
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Hatte Kaiser Franz die Rückkehr zu einem beharrenden Prinzip zur Direktive seines politischen Handelns gemacht, was überdeutlich in der in seinem Testament an seinen Sohn und Nachfolger Ferdinand gerichteten und zum Grundsatz erhobenen Maxime „Regiere und verändere nicht!“ zum Ausdruck kommt, so war die Einstellung des Erzherzogs zum Verhältnis von Wandel und Dauer eine davon grundlegend verschiedene. Schon die Einleitungssätze der Statuten des Joanneums verraten diese andersartige Orientierung: „Stäte Entwickelung, unaufhörliches Fortschreiten ist das Ziel des Einzelnen, jedes Staaten-Vereines, der Menschheit. Stille stehen und Zurückbleiben ist […] in dem regen Leben des immer neuen Weltschauspiels einerley. […] Das Leben eines Staates ist wie ein Strom, nur in fortgehender Bewegung herrlich. Steht der Strom, so wird er Eis oder Sumpf.“83 Der Erzherzog, der auf seiner Reise durch England und Schottland die damals technologisch höchstentwickelte Nation der Welt kennengelernt und sich dabei mit den positiven und den negativen Folgen der Industriellen Revolution vertraut gemacht hatte, sah das, was er an seiner Heimat liebte, für den Fall als gefährdet an, daß in dieser nicht rechtzeitig angemessen auf die Herausforderungen der modernen Welt reagiert wird. Das Überleben wertvoller Natur- und Kulturbestände inmitten der modernen technischen Zivilisation galt es nach ihm zu sichern und damit – wie man heute sagen würde – die kulturelle Identität unter den Bedingungen der Globalisierung.84 Um Globalisierung auf der Grundlage eines völlig neugestalteten Transport- und Kommunikationswesens handelte es sich nämlich bereits zu Johanns Zeit, in der Epoche des Kolonialismus und Imperialismus – nur war das, was für uns heute das Flugzeug und das Internet sind, damals die Eisenbahn und der Ozeandampfer bzw. der Schreibtelegraph und das Seekabel.85 83 Ebenda, S. 255. 84 Das Handeln des Erzherzogs in der Steiermark erinnert in gewisser Weise an das kurz danach in viel größerem Maßstab erfolgende Vorgehen der japanischen Politik in der Phase der sogenannten Meiji-Restauration. Nach der gewaltsam erzwungenen Öffnung mehrerer japanischer Häfen und dem „ungleichen“ Amerikanisch-japanischen Vertrag von 1858 (Harris-Vertrag) war sich die neue japanische Regierung seit 1868 der Gefahr der Kolonisierung durch die westlichen Mächte bewußt und versuchte so rasch wie möglich mit diesen auf technologischem, militärischem und verwaltungstechnischem Gebiet gleichzuziehen. Auch für Johann stand fest, daß sich vieles ändern muß, wenn Wesentliches bleiben soll, wie es ist. 85 Im Jahr 1825 wurde die Eisenbahnstrecke zwischen Stockton und Darlington (England) mit einer Lokomotive von George Stephenson eröffnet, und damit begann auch der Passagier-Transport mittels Eisenbahn. Die erste dampfbetriebene Bahnlinie auf dem europäischen Kontinent wurde im Mai 1835 zwischen Brüssel und Mechelen in Belgien eröffnet, in Österreich fuhr die erste Dampfeisenbahn im Jahr 1837 auf der Kaiser-Ferdinand-Nord-Bahn zwischen Wien-Floridsdorf und Deutsch-Wagram. (In Österreich fährt auch die derzeit dienstälteste Dampflokomotive der Welt, die „GKB 671“ aus dem Jahre 1860, die nie außer Dienst gestellt wurde und noch bei Sonderfahrten zum Einsatz kommt.) Revolutionär waren auch die Entwicklungen im Schiffbau. Der große britische Ingenieur Isambard Kingdom Brunel, der auch für den Entwurf und die Aus-
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Dem Erzherzog war daran gelegen, auf der Grundlage einer zunächst nachholenden Modernisierung die Vorzüge der auch von ihm liebgewonnenen Lebensformen in Innerösterreich sowie das Heimatbewußtsein der hier lebenden Menschen zu erhalten, und dies einerseits durchaus im Sinne der Prinzipien der sogenannten „Physiokratischen Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts, also auf den Bauernstand bezogen, andererseits aber bereits im Geiste einer sich auf die neuentstandene Industriearbeiterschaft erstreckenden Sozialpolitik. Karl Marx und Friedrich Engels haben im Blick auf die oft auch zu Wanderarbeiterschaft und Migration genötigten Proletarier, welche selber zur Ware geworden waren, im Kommunistischen Manifest des Jahres 1848 festgestellt: „Den Kommunisten ist […] vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland […] abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Gemäß der Auffassung des Erzherzogs sollten die Berg- und Hüttenarbeiter jedoch, gleich wie die Bauern, für deren verbesserte Lebenslage er sich große Dienste erworben hatte, ein Vaterland haben. Daß der Patriotismus in einem Vielvölkerstaat jeweils an den Regionen anzusetzen hat und nichts ist, was diesen als ethnisch-kulturelle Hyperidentität oktroyiert werden kann, war ihm in höherem Maße bewußt als vielen seiner nationalistischen Zeitgenossen. In dem Bemühen, Bewährtes mit dem Neuen nicht nur zu versöhnen, sondern es durch dieses – natürlich vor dem Hintergrund spezifischer, geschichtlich herausgebildeter Rechts- und Verfassungsnormen – sichern zu helfen, wurde der Erzherzog zu einem Hauptvertreter des sozialkulturellen Evolutionismus im Österreich des 19. Jahrhunderts. führung zahlreicher bedeutsamer Brücken und Tunnels bekannt wurde, entwickelte eine ganze Reihe von berühmten Dampfschiffen: 1837 baute er das bis dahin größte Dampfschiff der Welt, die „Great Western“, womit er die moderne Transatlantik-Schiffahrt einleitete; 1843 folgte die „Great Britain“, das erste wahrhaft moderne Schiff, da es nicht mehr aus Holz, sondern aus Metall bestand und einen Turbinenantrieb hatte; schließlich folgte 1858 die „Great Eastern“, ein Schiff für 4000 Passagiere, welches auch das erste ständige Seekabel zwischen Europa und den Vereinigten Staaten durch den Atlantischen Ozean verlegte. Seekabel sind das eigentliche Wahrzeichen der weltweiten Vernetzung durch Kommunikation, für welche die Entwicklung des Schreibtelegraphen die Voraussetzungen schuf. Der entscheidende Durchbruch in der Entwicklung der Telegraphie erfolgte 1837 – im selben Jahr, in dem Brunel seine „Great Western“ baute und die erste Dampfeisenbahn in Österreich verkehrte –, und zwar mit dem von Samuel Morse konstruierten und 1844 wirklich funktionstüchtig gemachten Schreibtelegraphen. Mit der Verlegung von Seekabeln wurde 1850 begonnen, und zwar auf der Strecke Dover-Calais, seit den 1860er Jahren sollten dann dauerhafte Telegraphenverbindungen zwischen den verschiedenen Weltteilen hergestellt werden. Das Jahr 1837, von dem soeben unter Bezugnahme auf die großen Leistungen von Brunel und Morse die Rede war, ist im übrigen ein Beleg für das, was der deutsche Kunsthistoriker Wilhelm Pinder im Jahr 1926 als „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ bezeichnete. Denn während damals von Europa ausgehend die transport- und kommunikationstechnische Erschließung der Welt stattgefunden hat, fand in Johanns geliebtem Tirol die letzte Vertreibung von Protestanten in Österreich, und zwar aus dem Zillertal, mit der Begründung statt, daß das Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. aus dem Jahre 1781 für dieses Land nicht mehr in Geltung sei. – Siehe dazu bereits Anmerkung 72.
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Heute würde er uns wohl empfehlen, innovative Maßnahmen technischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Art nicht zu scheuen, um nicht den von außen oft stürmisch herandrängenden Veränderungen auf dem Güter- und Finanzmarkt hilflos ausgesetzt zu sein. * Je älter er wurde, desto mehr bedrängten den Erzherzog Ahnungen, daß sich die Vertretung sowohl der sozialen als auch der nationalen Bedürfnisse in der Donaumonarchie zunehmend von der argumentativen Ebene auf die Ebene von ideologischen Weltanschauungs- sowie Machtkonflikten verlagert. So schrieb er im Juni 1851 an August von Jochmus: „Je mehr ich den dermaligen Zustand der Welt betrachte, desto mehr liegt vor mir die Gewißheit, daß sich die Zeit einer gänzlichen Umgestaltung nähert; wie und auf welchem Wege? Dies ist die große Frage. […] Es bereitet sich eine Erörterung zwischen zwei Parteien vor, nämlich zwischen der erhaltenden und der umstürzenden, eine andere gibt es nicht mehr. […] Ich sehe einen Kampf kommen, welcher, da derselbe ein Meinungskampf ist, der fürchterlichste von allen bisherigen werden muß und nur mit der Zerstörung des einen Theiles endigen kann.“86 Es handelt sich hier, wie man im Rückblick feststellen kann, um eine hellsichtige imaginative Vorwegnahme der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit aller Gewalt heraufziehenden Auseinandersetzungen in einem Mehrfrontenkampf, dem die Habsburger Monarchie letztlich zum Opfer fallen sollte. Dies zu erfahren, ist dem Erzherzog erspart geblieben. Hätte er davon gewußt, wäre dieser patriotische, wenngleich unter Minister Thugut und Staatskanzler Metternich lange unter Konspirationsverdacht stehende Mann gewiß von tiefer Trauer erfüllt gewesen. Vielleicht wäre er vorübergehend in eine ähnlich depressive Haltung verfallen wie der Graf Morstin in Joseph Roths Erzählung „Die Büste des Kaisers“, der von sich sagt: „Ich habe erlebt, daß die Klugen dumm werden können, die Weisen töricht, die echten Propheten Lügner, die Wahrheitsliebenden falsch. Keine menschliche Tugend hat in dieser Welt Bestand, außer einer einzigen: der echten Frömmigkeit. Der Glaube kann uns nicht enttäuschen, da er uns nichts auf Erden verspricht. […] Auf das Leben der Völker angewandt, heißt das: sie suchen vergeblich nach sogenannten nationalen Tugenden, die noch fraglicher sind als die individuellen. Deshalb hasse ich Nationen und Nationalstaaten. Meine alte Heimat, die Monarchie allein, war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, nicht in Kabinen.“87
86 JOCHMUS 1884, S. 72f.; zitiert in THEISS 1981, S. 177f. 87 ROTH 1969, S. 3–33, hier S. 32f.
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Was Erzherzog Johann wohl zu unserem neuen Haus, der Europäischen Union, gesagt haben würde? Derzeit, so scheint es, ist es ja noch voller Kabinen. Aber wer weiß? Denn vergänglich ist auch dieser Zustand, und vielleicht weist die Vergänglichkeit in die Richtung von etwas Besserem. Jede Kultur, jede Sprache, jedes Volk ist früher oder später der Veränderung unterworfen. Und was Johann so schön gezeigt hat, ist ja gerade dies: Wer Nachhaltigkeit als ein Sich-Festklammern an gegebene Verhältnisse wünscht, statt darunter eine – allerdings den eigenen Einsatz erfordernde – Entwicklungsfähigkeit zu verstehen, würde jegliches Leben und jede Kultur zum Untergang verdammen. Festhalten verhindert Adaptabilität, die im Unterschied zur passiven Adaptation des Sich-treibenLassens das Fortleben fördert. Daher liegt auch die Weisheit der Politik als einer Kunst des Möglichen darin, das Neue nicht einfach auf das Herkömmliche draufzusetzen, sondern dieses so mit jenem zu verknüpfen, daß sich der unvermeidliche Verlust gewisser Elemente des liebgewordenen Gewohnten so wenig schmerzhaft wie nur möglich gestaltet. Es gibt selten Menschen, die durch ihre Einsicht, mitunter auch noch durch ihr Handeln den Zeitgeist prägen und dabei sowohl auf neue Weise den Sinn für das Wirkliche kräftigen, als auch den für das Mögliche beflügeln. In der großen Welt der Wissenschaft gehört neben einer Reihe anderer Darwin, dessen Hauptwerk im Todesjahr von Erzherzog Johann erstmals veröffentlicht wurde, gewiß dazu. Ähnlich wie dieser die Natur, hat Erzherzog Johann die Kultur nie anders betrachtet als ein evolutionäres Geschehen. Wegsehen hilft nichts, gleich wenig wie visionäre Belletristik, nur Hinblicken und eine von skeptischer Sorgfalt begleitete „Überzeugung in scientifischer Rücksicht“, von welcher er gesprochen hat. Vielleicht hätte der Erzherzog daher auch weniger resignativ als Joseph Roths Graf Morstin, weil seinem ganzen Naturell nach eher prospektiv als retrospektiv am Werk, die Dinge der Welt betrachtet und wäre damit jenem Geist treu geblieben, der ihn bei seiner Eröffnungsansprache vor der 21. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im Jahr 1843 beseelte und die er mit den Worten beschloß: „Tätig zu sein, ist unsere Bestimmung, und zwar in jener nützlichen Weise, welche das Wissen in allen seinen Zweigen fördert und erweitert zum Nutzen der Mitwelt, und dem Weiterschreiten der Nachwelt den Weg bahnend. […] Gediegenheit im Denken, Klarheit im Auffassen der Gegenstände, Ernst, Gründlichkeit und Beharrlichkeit im Forschen, Wirken und Durchführen, das […] wollen wir auch stets bewahren und in herzlicher Eintracht das, was Einzelnen unmöglich wäre, durch gemeinschaftliches Zusammenwirken zu erreichen trachten. Den Lohn unserer Bemühungen finden wir in dem Bewußtseyn, nicht geruht zu haben und in dem […] Dank unserer Nachkommen.“88
88 Aus LEITNER 1860; zitiert nach THEISS 1981, S. 94f.
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Vorbemerkung
Über konstruktive und destruktive Interferenzen in der Wissenschaft Es ist heute üblich geworden, fast jedem – an wen auch immer gerichteten – Forschungsantrag tunlichst das Wort „Interdisziplinarität“, zumindest als eine Art Absichtserklärung, hinzuzufügen. Dabei bleibt gerne außer acht, ob überhaupt zwischen den Vertretern der unterschiedlichen Disziplinen Einigkeit über den Sachbezug besteht und ob nicht mit der Wahl unterschiedlicher Methoden mitunter eine andere Art von Gegenständen in den Blick gerückt wird, auch wenn diese vielleicht gleich bezeichnet werden. Ein selbst bereits interdisziplinäres Fach ist die Geographie, die in Kapitel II als eine in Graz einstmals respektabel vertretene Disziplin dargestellt werden soll; sowohl vom Gegenstandsbezug als auch von den Methoden her weist sie sowohl Komponenten der Natur-, als auch der Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Sodann werden exemplarisch zwei Grazer Gelehrte dargestellt, deren Werk – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise – zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften angesiedelt ist: der berühmte Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall und der Weltanschauungsanalytiker Ernst Topitsch. – Die Tradition der Grazer Geographie wird dargestellt durch den Wiener Humangeographen und Raumforscher Heinz Faßmann, Hammer-Purgstalls Werk durch die Romanistin und Historikerin Hildegard Kremers, und der akademische Werdegang von Ernst Topitsch wird durch den ehemals in Berlin tätigen Philosophen Heinrich Kleiner nachgezeichnet und wissenschaftssoziologisch kommentiert. Als eigentümlich mag erscheinen, daß bei aller Akzentuierung der Interdisziplinarität heute zumeist gerade an jene Disziplinen nicht gedacht wird, die, weil sie eigentlich transdisziplinärer Natur sind, quer zu allen anderen liegen und die Grundstruktur jeglicher Argumentation betreffen, nämlich Logik und Mathematik. In Graz fand die Logik vor allem unter Alexius Meinong Ritter von Handschuchsheim besondere Pflege, bei dem sich unter anderem 1886 Alois Höfler in Graz habilitierte, welcher im Jahr 1890 das später in mehreren Auflagen nachgedruckte Buch Grundlehren der Logik publizierte. Diese Tradition wurde unter den Grazer Philosophen vor allem von Ernst Mally, später auch von Rudolf Freundlich und Reinhard Kamitz fortgeführt. – Als ein aus Graz gebürtiger, wenn auch hier nicht beruflich tätig gewesener Mathematiker von hohem internationalem Rang ist in diesem Zusammenhang Georg Kreisel (Abb. 1) zu nennen. Kreisel, im Jahr 1923 geboren, wurde als Kind von zur Flucht genötigten jüdischen Eltern 1938 nach England geschickt, wo er an der Universität Cambridge Mathematik studierte und hier auch einer der Schüler von Ludwig Wittgenstein war. Nach Abschluß
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seines Studiums unterrichtete er an der Universität Reading, seit 1955 an den Universitäten in Princeton, Paris und Stanford. 1962 wurde Kreisel, der mit der irischen Schriftstellerin Iris Murdoch und dem Molekularbiologen, Physiker und Neurowissenschaftler Francis Crick befreundet war, an der Stanford University zum Professor ernannt und blieb hier bis zu seiner Emeritierung. Kreisel arbeitete ausführlich über mathematische Logik und mathematische Beweistheorie, wobei er sich unter anderem eingehend mit den Auffassungen Kurt Gödels auseinandersetzte. Durch das von ihm entwickelte „Unwinding“-Programm erlangte er in Fachkreisen weltweites Ansehen.1 Für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen wird Interdisziplinarität reklamiert – und dies nicht immer nur aus modischen oder der Forschungsförderung zuträglichen, sondern auch aus mit der Natur des jeweiligen Faches zusammenhängenden Gründen. So untersuchen bestimmte Psychologen das menschliche Erleben und Verhalten als eine biologische wie auch soziale Gegebenheit. Die Psychologie, so meint daher etwa Kurt Pawlik, „kann – allenfalls gemeinsam mit der Geographie – als ,Brückenfach‘ heute dazu beitragen, die allgemein als unglücklich, weil unfruchtbar empfundene Auffächerung zwischen sog. Gesellschaftswissenschaften und sog. Naturwissenschaften (im engeren Sinn) wieder [zu] bündeln, zwischen beiden Wissenschaftsfamilien wieder Querverbindungen zu etablieren“.2 Wahrscheinlich würden heute nicht wenige Vertreter anderer Disziplinen – manche mit mehr, manche mit weniger Berechtigung – dasselbe von sich behaupten. Die Geographie, von der auch bei Pawlik die Rede ist, ist als Disziplin tatsächlich weder den Natur- noch den Geisteswissenschaften allein zuzuordnen, da für sie stets die Mensch-Umwelt-Relation – „Umwelt“ sowohl natürlich als auch sozial verstanden – maßgeblich ist.3 An dieser Disziplin finden im Zusammenhang mit jüngeren Formen des universalgeschichtlichen Denkens neuerdings bestimmte Vertreter der historischen Soziologie großes Interesse, deren räumlich-beziehungsgeschichtliche Betrachtungsweise insbesondere der Vorgeschichte des gegenwärtigen globalen Zusammenhangs gilt.4 Diese Betrachtungsweise zieht aus einer Entwicklung in den Humanwissenschaften Nutzen, zu der sie ihrerseits durch zahlreiche Anregungen beiträgt: aus „dem Wiedereinrücken des Geographischen in den Gesichtskreis von Historikern und Sozialwissenschaftlern“.5 Als eine Folge dieser Entwicklung kommt es heute zu einer Aufwertung der ökologischen Denkweise in den Gesellschaftswissenschaften. Dabei stehen nicht 1 Siehe Piergiorgio ODIFREDDI (Hg.): Kreiseliana: About and Around Georg Kreisel, Wellesley, Mass. 1996. 2 PAWLIK 1995, S. 65f. 3 Siehe dazu Elisabeth LICHTENBERGER: Geographie, in: ACHAM (Hg.) 2001b, S. 71–148, hier v. a. S. 71f. 4 Siehe dazu OSTERHAMMEL 2000. 5 OSTERHAMMEL 2001, S. 153. – Angeregt von den Ansätzen deutscher Raumwirtschaftstheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat in jüngerer Zeit der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman die Wirtschaftsgeographie wiederentdeckt und weiterentwickelt.
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mehr punktuelle Einflüsse der Natur, insbesondere des Klimas, auf den Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern großräumige, auch interkontinentale Wirkungszusammenhänge. So interpretierte beispielsweise einer der namhaftesten Universalhistoriker der letzten Jahrzehnte, William H. McNeill, die Menschheitsgeschichte als eine Abfolge von immer wieder durch Epidemien und Kriege gestörten „ökologischen Gleichgewichten“.6 Der Beitrag von Steirern zur geographischen Erschließung der Welt ist durchaus respektabel. Zunächst ist hier Sigmund von Herberstein (Abb. 2) zu nennen, der, 1486 zu Wippach in Krain (heute: Vipava) geboren, im Dienste der Kaiser Maximilian I. und Ferdinand I. eine Reihe von Gesandtschaftsreisen unternahm, die ihn unter anderem zweimal, nämlich 1517 und 1526, nach Rußland führten. Herberstein entdeckte gewissermaßen dieses Reich für das westliche Europa, wo er es durch seine Rerum moscovitarum commentarii (Moscovia) bekannt machte, welche 1549 in lateinischer, 1557 in Abb. 2: Sigmund von Herberstein deutscher Sprache erschienen. Dieses – wie Quelle: ÖNB/Wien, Bildarchiv man heute sagen würde – humangeographische und kulturanthropologische Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und stellt heute eine der wertvollsten Quellen zur Geschichte und Völkerkunde Rußlands dar. Martin Zeiller (Abb. 3) ist in diesem Zusammenhang als nächster zu nennen. Er stellt einen exemplarischen Fall für das dar, was der Steiermark durch die zur Zeit der Gegenreformation aus religiösen Motiven erfolgte Vertreibung an Intelligenz verloren ging. Zeiller, der 1589 in Ranten bei Murau geboren und dessen Familie wegen ihres lutherischen Glaubens zum Verlassen der Steiermark genötigt wurde, hat nicht nur mit seinem zweibändigen Handbuch von allerley nützlichen Erinnerungen (1655) so etwas wie eine Vorform der später unter der Bezeichnung „Enzyklopädie“ bekannten Nachschlagewerke verfaßt, sondern auch als Reiseschriftsteller Maßstäbe gesetzt. Zu erwähnen ist hier zunächst seine berühmte 1649 erschienene Topographia provinciarum Austriacorum, 6 William H. MCNEILL: The Global Condition: Conquerors, Catastrophes and Community, Princeton, N. J. 1992, v. a. S. 67–131.
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die er für den Verlag Merian in Frankfurt am Main verfaßte, sodann sein Fidus achates, oder Getreuer Reisgefert (1651), in dem es Zeiller, über die Angabe von Orts- und Straßennamen hinaus, um Hinweise auf die Geschichte und Kultur verschiedener Städte und Regionen ging. Eine solche Orientierung kennzeichnet bereits sein 1632 erschienenes Fahrtenbuch Itinerarium germanicum. Zeiller, der vielen als der größte deutsche Geograph seiner Zeit gilt, war auch so etwas wie ein früher Wissenschaftshistoriker, wie dies eine dem Leben und Werk von Historikern und Geographen gewidmete zweibändige Darstellung bezeugt, die 1652 in Ulm unter dem Titel Historici, chronologi, et geographi celebres (1652 –1657) erschieAbb. 3: Martin Zeiller nen ist.7 Quelle: Wikimedia Commons Ein anderer bedeutender Geograph war der vorübergehend in Judenburg wohnende und unter anderem auch in Graz publizierende Joseph Karl Kindermann (Abb. 4), der zunächst, in den Diensten der Niederländischen Ostindien-Kompanie stehend, als Naturhistoriker mit dem berühmten George Leclerc de Buffon zusammenarbeitete, dann aber in den 1780er und 1790er Jahren eine Reihe von maßgeblichen historisch-geographischen Publikationen und Kartenwerken veröffentlichte. Im Jahre 1800 zog er nach Wien, wo er als Volksbildner im Sinne der josephinischen Aufklärung und als Hauptredakteur des Atlas des Oesterreichischen Kaiserthums tätig war. Von seinen zahlreichen Publikationen seien hier exemplarisch erwähnt: Historischer und geographischer Abriß des Herzogthums Steyermark (1780), das Kartenwerk Die Provinz Inner-Oesterreich oder die Herzogthümer Steyermark, Kaernten und Krain, die Grafschaften Goerz und Gradisca und das Deutsch-Oesterreichische Litorale (1789–1797), Geographisches Handbuch von Frankreich nach neuesten Verfassung und Gliederung dieses Reiches (1791), Repertorium der Steyermärkischen Geschichte, Geographie, Topographie, Statistik und Naturhistorie (1798). 7 Zu Leben und Schaffen Zeillers siehe Martin BRUNNER: Martin Zeiller (1589–1661) – Ein Gelehrtenleben, Graz 1990.
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Abb. 4: Joseph Karl Kindermann, Medaille
Abb. 5: Gustav Franz von Schreiner
Quelle: ÖNB/Wien, Bildarchiv, NB 502672-B
Quelle: Archiv der Universität Graz
Diese respektable Tradition wurde an dem von ihm im Jahre 1811 gegründeten Joanneum durch Erzherzog Johann maßgeblich gefördert. Karl Schmutz verfaßte hier ein vierbändiges Historisch-topographisches Lexicon von Steyermark (1822–23), das in seiner Qualität für viele Jahrzehnte unübertroffen blieb. Drei Jahre wirkte ab 1823 am Grazer Lyzeum der später durch sein zweibändiges Werk Statistik des österreichischen Kaiserstaates (1840) bekannt gewordene Johann Springer. Gustav Franz von Schreiner (Abb. 5), ein enger Mitarbeiter des Erzherzogs und im Jahr 1828 zum Professor für Statistik und politische Wissenschaften an der Universität Graz ernannt, veröffentlichte außer umfangreichen Vorarbeiten über die topographischen, statistischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die Geschichte und Kunstgeschichte von Venedig auch ein großes Werk über Graz: Grätz. Ein naturhistorisch-statistisch-topographisches Gemählde dieser Stadt und ihrer Umgebungen (1843); ferner verfaßte er zahlreiche Abhandlungen statistischen, geographischen, topographischen und staatswissenschaftlichen Inhalts in verschiedenen Lexika, Archiven und Zeitschriften. Schließlich ist noch Georg Göth, Professor der Mathematik am Joanneum, zu erwähnen, der ein dreibändiges Werk mit dem Titel Das Herzogthum Steiermark; geographisch-statistisch-topographisch dargestellt und mit geschichtlichen Erläuterungen versehen (1840–43) veröffentlichte. – Zur Institutionalisierung der Geographie an der Universität Graz kam es 1871, acht Jahre nach deren Vollausbau, als der erste Lehrstuhl für dieses Fach eingerichtet wurde.
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Ist die Interdisziplinarität im Falle der Geographie (wie auch im Falle einiger anderer Disziplinen) gewissermaßen endogener Natur, so ist sie in anderen Fällen eine der Disposition bestimmter Persönlichkeiten. Dies gilt in besonderem Maße für Joseph Hammer von Purgstall, der Schriftsteller, Philologe, Ethnologe, Historiker und Diplomat gewesen ist. Das Gesamtwerk Hammers umfaßt knapp 700 Veröffentlichungen, davon nicht weniger als 69 Bücher. Er verfaßte zahlreiche Übersetzungen in orientalische Sprachen, wie Persisch, Türkisch oder Arabisch, aber auch aus diesen Sprachen ins Deutsche; er publizierte zur Geschichte der mongolischen Reiche, zu den Kreuzzügen, ferner zur Geschichte der persischen, türkischen und arabischen Literatur. Daneben schuf er eine Reihe staatsrechtlicher und kulturgeschichtliche Werke. Bis auf den heutigen Tag ist der Name Hammer-Purgstalls vor allem mit zwei herausragenden Leistungen verbunden: mit der ersten Gesamtübersetzung des Diwan und mit der im Jahre 1833 erschienenen zehnbändigen Geschichte des osmanischen Reiches. Durch die Übersetzung Hammer-Purgstalls, auf die sich bekanntlich auch Goethe, verbunden mit höchstem Lob für den Übersetzer, mit seiner Gedichtsammlung West-östlicher Divan bezog, wurde das bis dahin übersetzte Werk Hafis’ um das Siebenfache erweitert. Die Geschichte des osmanischen Reiches wiederum, die auch ins Türkische übersetzt wurde, ist bis heute ein Standardwerk der Orientalistik geblieben.8 Der dritte, in Kapitel II enthaltene Beitrag Heinrich Kleiners betrifft Leben und Werk von Ernst Topitsch, einem Vertreter der Weltanschauungsanalyse, mithin einer Forschungsrichtung, die zwischen der Ideengeschichte, der Sprachanalyse und der Wissenssoziologie anzusiedeln ist. Topitsch hat auf diesem Gebiet – vor allem mit seinem erstmals 1958 erschienenen Buch Vom Ursprung und Ende der Metaphysik und mit seinem Spätwerk Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung (2.Aufl. 1988) – geradezu den Rang eines Gegenwartsklassikers erlangt.9 Kleiners Studie wendet sich – auf ihrerseits weltanschauungs- und ideologiekritische Weise – der Rezeption der weltanschauungsanalytischen und ideologiekritischen Schriften von Ernst Topitsch zu und vermittelt interessante Einsichten in die Beschaffenheit des österreichischen intellektuellen Klimas und der politischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg.
8 Siehe dazu Hannes D. GALTER: Joseph von Hammer-Purgstall und die Anfänge der Orientalistik, in: ACHAM (Hg.) 2009, S. 457–470. 9 Siehe dazu Ernst TOPITSCH: Überprüfbarkeit und Beliebigkeit. Die beiden letzten Abhandlungen des Autors. Mit einer wissenschaftlichen Würdigung und einem Nachruf hg. von Karl ACHAM, Wien-KölnWeimar 2005.
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Neben verschiedenen Formen eines ahistorischen Erkenntnis- und Moralabsolutismus kritisierte Topitsch immer wieder auch eine bestimmte Form von geistiger Elastizität: die Formulierung und die oft moralisch-politische Nutzung von mehrdeutigen oder auch inhaltsleeren Worthülsen („Leerformeln“). Daran, daß geistliche und weltliche Potentaten sowie in deren Diensten stehende Intellektuelle sich solcher rhetorischen Techniken effektvoll bedienen, darüber hinaus aber ihre Machtambitionen auch gerne hinter einem dichten Schleier moralischer Ideologien verbergen, hat Topitsch stets erinnert. Ähnlich wie der polnische Soziologe Stanislaw Ossowski, mit dem er bis zu dessen Ableben im Jahr 1963 in wissenschaftlichem Kontakt stand, kritisierte Topitsch zudem bestimmte sozialphilosophische und sozialwissenschaftliche Erklärungen, in denen – auf der Grundlage einer zweifelhaften Konfundierung von Erkenntnis und Interesse – ein Faktor, dem man aus irgendwelchen Gründen besondere Beachtung schenkt, so interpretiert wird, als sei er der einzige, der die zu erklärenden Zustände und Ereignisse determiniert. Resistenz gegen derartige, zumeist aus ideologischen Gründen vorgebrachte Argumente erwirbt man dabei nach der Überzeugung von Topitsch insbesondere durch die Erarbeitung wissenschaftlicher Problemlösungsverfahren mit ständig verbesserten Analyse- und Erklärungsinstrumenten, nicht aber nur durch eine von Sterilität bedrohte Dauerreflexion.10
10 Ähnlich auch SCHUMPETER 1965, Erster Teilband, S. 68–85.
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Abb. 1: Eduard Richter Quelle: Archiv der Universität Graz
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Heinz Fassmann Universitäre Geographie in Graz: ein Rückblick I. Vorbemerkung – II. Überblick: Die institutionelle Etablierung der Geographie in Österreich – III. Geographie in Graz: wechselnde Perspektiven – IV. Zusammenfassende Reflexion – V. Bibliographie
I. Vorbemerkung Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit der Institutionalisierung der universitären Geographie in Graz aus einer historischen Perspektive. Wann erfolgte die Institutionalisierung? Wie verlief die Entwicklung und welche Fachvertreter haben welche Forschungsschwerpunkte vertreten? Diese Fragen strukturieren im Wesentlichen den Beitrag. Die Leistungen der gegenwärtigen Fachvertreter stehen ebensowenig zur Diskussion wie die Beurteilung der Profilbildung und der Forschungsexzellenz. Das ist nicht Inhalt und Aufgabe des Beitrags, und dieser Hinweis soll vorangestellt werden, um etwaige Mißverständnisse zu vermeiden.
II. Überblick: Die institutionelle Etablierung der Geographie in Österreich Die wissenschaftliche Institutionalisierung der Geographie an den Universitäten Österreichs fand relativ spät mit der Ernennung von Friedrich Simony zum ordentlichen Professor der Geographie an der Universität Wien 1851 statt. Seit dem ersten Rektor Albert von Sachsen gab es zwar unter dem Titel „De Coelo et Mundo“ (Exzerpt aus Aristoteles) eine „Vorlesung“, die durch Jahrzehnte die gesamte Kosmographie (und damit auch Geographie) einschloß, das Hauptfach Geographie wurde jedoch erst mit der Hochschulreform von Leo Thun-Hohenstein eingeführt.1 Friedrich Simony war in Österreich lange Zeit der einzige Vertreter seines Faches. Erst in der Hochgründerzeit setzte eine erste Gründungswelle ein, die besonders die heutigen Landeshauptstädte erfaßte: 1871 wurde ein Ordinariat in Graz errichtet, 1877 ein Extraordinariat in Innsbruck, welches wenige Jahre später in eine ordentliche Professur umgewandelt wurde, sowie 1885 eine zweite Professur in Wien.2 Danach blieb die institutionelle Struktur aber über viele Jahrzehnte nahezu unverändert. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verbunden mit der wirtschaftlichen Prosperität ab den 60er 1 Vgl. BERNLEITHNER 1965, S. 94ff. 2 Vgl. LICHTENBERGER 2001.
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Jahren und dem Ausbau der tertiären Bildungseinrichtungen, setzte eine zweite Gründungswelle ein. In Wien wurde 1966 ein Extraordinariat (Ernest Troger) geschaffen, welches später in ein Ordinariat für Regionalgeographie und Fachdidaktik umgewandelt wurde, 1968 kam ein Lehrstuhl für Kartographie (Erik Arnberger) und 1972 einer für Raumforschung und Raumordnung (Elisabeth Lichtenberger) hinzu. Graz erlebte 1967 die Einrichtung einer zweiten Professur (Sieghard Morawetz), im gleichen Jahr auch Innsbruck (Franz Fliri). 1963 wurde die Universität Salzburg wiedereröffnet und 1975 die bildungswissenschaftliche Universität in Klagenfurt gegründet. In Salzburg wurde zunächst ein Lehrstuhl (Egon Lendl) besetzt und ab 1968 ein zweiter (Helmut Riedl). In Klagenfurt gab es ab 1977 ebenfalls zwei Lehrstühle, einen für die Humangeographie und einen anderen für die physische Geographie (Bruno Backe beziehungsweise Martin Seger). Die 1972 etablierte sozialwissenschaftliche Universität in Linz blieb dagegen ohne eine geographische Professur. Seitdem blieb die institutionelle Verankerung der Geographie an den Universitäten Österreichs im Wesentlichen konstant, was in Zeiten wachsender Gestaltungsmöglichkeiten der Universitätsleitungen auch als positives Zeichen gewertet werden kann. Das Fach profitiert von seiner spezifischen Forschungsausrichtung an der Nahtstelle zwischen Umwelt und Gesellschaft, seiner Brückenfunktion zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften und seiner Verankerung im Rahmen des Unterrichtsfaches Geographie und Wirtschaftskunde, was neben anderen beruflichen Tätigkeiten einen großen und klar definierten Arbeitsmarkt für die Absolventen eröffnet. Die Geographie besitzt damit in Österreich ein eindeutiges Profil und ein Alleinstellungsmerkmal und steht nur bei den innerfachlichen Subdisziplinen in einem Konkurrenzverhältnis zu den systematischen Nachbardisziplinen.
III. Geographie in Graz: wechselnde Perspektiven 1. Von der historischen Geographie zur Naturraumanalyse Die Geographie in Graz wurde – wie angedeutet – relativ spät institutionalisiert. Erst 1871 wurde der erste Lehrstuhl für Geographie besetzt, wobei jedoch schon vorher der Mathematiker Karl Friesach geographische und kartographische Lehrveranstaltungen abhielt.3 Die häufig tradierte Vorstellung, die Geographie sei als „Mutter“ der raumwissenschaftlichen Disziplinen am Beginn der disziplinären Etablierung gestanden, aus der sich dann nach und nach die systematischen und spezialisierten Nachbarfächer verselbständigten, 3 Vgl. KRETSCHMER, DÖRFLINGER,WAWRIK 2004.
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erweist sich, überprüft auch am Beispiel Graz, als unrichtig. Die institutionalisierte Geographie entstand erst nach einer entsprechenden Verankerung der Geologie oder der Mineralogie und blieb auch über lange Zeit hindurch mit der Geschichte verbunden. Als 1871 der Lemberger Professor Robert Roesler ernannt wurde, hieß sein Lehrstuhl noch „Geographie und Geschichte“. Robert Eduard Rösler, geboren am 2. 3. 1836 in Olmütz, gestorben am 6. 8. 1874 in Graz, studierte an der Universität Wien zunächst Jus, dann Geschichte und absolvierte den ersten Ausbildungskurs am Institut für österreichische Geschichtsforschung.4 Nach Beendigung des Studiums wurde er Gymnasialprofessor in Troppau, dann in Wien und konnte sich 1863 zum Privatdozenten für allgemeine Geschichte habilitieren. 1869 wurde er an die Universität Lemberg (heute: L’viv) berufen, wo er zum ordentlichen Professor für österreichische Geschichte ernannt wurde. Zwei Jahre später nahm er den Ruf der Universität Graz an und wurde der erste, „halbgeographische“ Lehrstuhlinhaber, denn er blieb methodisch und thematisch Historiker, der vielleicht stärker als andere Historiker raumrelevante Themen wie die Besiedlungsgeschichte und Territorialisierungsprozesse betonte. Nach nur dreijähriger Tätigkeit in Graz verstarb jedoch Rösler. Länger als die Tätigkeit des ersten Lehrstuhlinhabers dauerte nach dessen Tod die Vakanz. Erst 1878 wurde Wilhelm Tomaschek berufen. Tomaschek, geboren am 26. 5. 1841 in Olmütz (Mähren), gestorben am 9. 9. 1901 in Wien, war ebenfalls eher historisch als naturwissenschaftlich ausgerichtet. Tomaschek betrieb „historische Geographie auf linguistischer Grundlage. So war sein Arbeitsfeld der Orient; er studierte die historische Topographie Kleinasiens nach römischen und mittelalterlichen Quellen und schenkte seine Aufmerksamkeit dem Seeweg nach Indien.“5 Tomaschek gilt auch als österreichischer Begründer der altiranischen Skythologie im 19. Jahrhundert, dessen große Arbeit Kritik der ältesten Nachrichten über den skythischen Norden 1888 und 1889 in den Sitzungsberichten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienen ist. 1885 verließ Tomaschek jedoch Graz und übernahm in Wien den ersten Lehrstuhl für „Historische beziehungsweise Kulturgeographie“.6 Nach nur einjähriger Vakanz erhielt Eduard Richter (Abb.1) den Lehrstuhl und prägte fast 20 Jahre den Charakter des inzwischen (1878) gegründeten Instituts. Mit Richter begann – wie es Morawetz und Paschinger unumwunden darstellten7 – „so rich-
4 Vgl. PEYFUSS 1988. 5 BERNLEITHNER 1965, S. 108. 6 Nach der Emeritierung von Simony 1885 wurde die Lehrkanzel geteilt. Die Kommission zur Besetzung des Lehrstuhls befand, daß nach Simony keine Person gefunden werden kann, die über ein dermaßen breites Spektrum verfügt. Zwei Lehrstühle wurden daher ausgeschrieben, einer für „Physische Geographie“ in Nachfolge Simony und der andere für „Historische beziehungsweise Kulturgeographie“. 7 Vgl. MORAWETZ, PASCHINGER 1987.
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tig das eigentliche Studium und die eigentliche Forschung im Bereich der Geographie“, was klarerweise auf deren spezifischer Vorstellung von richtiger Geographie basiert. Eduard Richter, geboren am 3. 10. 1847 in Mannersdorf am Leithagebirge, gestorben am 6. 2. 1905 in Graz, studierte ebenfalls deutsche Geschichte an der Universität Wien, aber auch Geographie bei Friedrich Simony. So wie Roesler absolvierte auch Richter das Institut für österreichische Geschichtsforschung, legte 1870 die Lehramtsprüfung ab und unterrichtete 15 Jahre lang an einem Salzburger Gymnasium Geschichte und Geographie. Neben seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer war Richter aber auch wissenschaftlich tätig und promovierte 1885, ein Jahr vor seiner Berufung, noch bei seinem alten Lehrer Friedrich Simony an der Universität Wien. Eduard Richter war zugleich Geograph und Historiker und sicherlich einer der bedeutendsten Fachvertreter an der Universität Graz. Er konnte respektable Leistungen sowohl im humangeographischen Bereich, in der Kartographie sowie in der Physischen Geographie vorweisen. Im Bereich der Physischen Geographie befaßte er sich vorrangig mit der Vergletscherung der Alpen, mit der Hochgebirgsgeomorphologie und mit der Limnologie der Alpenseen. Er publizierte 1888 eines seiner Hauptwerke: Die Gletscher der Ostalpen, welches heute noch eine wichtige Quelle für die Vergletscherung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellt, denn es beinhaltet eine sehr detaillierte Beschreibung von Gletschern, Schneefeldern und teilweise auch Firnflecken, basierend auf eigenen Beobachtungen, auf den damals vorhandenen Fachpublikationen und Karten sowie auf schriftlichen Stellungnahmen lokaler Auskunftspersonen. Gletscher waren im 19. Jahrhundert ein auch die Öffentlichkeit interessierendes Thema. Das erinnert an die Gegenwart, wenn auch die Problemlage eine komplett andere war. Im Unterschied zu heute gingen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, am Ende der sogenannten Kleinen Eiszeit, die Gletscher nicht zurück, sondern expandierten, und die Frage, ob dies als Zeichen einer neuen Eiszeit gewertet werden muß, war virulent. Nach der Befassung mit den Gletschern der Ostalpen wandte sich Richter den Alpenseen zu. Er wurde – wie es ihm das Österreichische Biographische Lexikon attestierte – zu einem der bedeutendsten Seenforscher Österreichs. Ab 1895 erschien der von ihm betreute Atlas der österreichischen Alpenseen, zu dem er selbst Forschungsergebnisse beisteuerte. Er lotete Seen aus, fertigte Tiefenkarten und Tiefenprofile an und befaßte sich mit der Schichtung unterschiedlich temperierten Seewassers. Die Entdeckung der so genannten Sprungschicht, der bei kleinen und windschwachen Seen scharfen Trennung zwischen warmem Epilimnion und kaltem Hypolimnion, geht auf ihn zurück.8 Neben seinen Leistungen im Bereich der Physischen Geographie ist schließlich Richters Bearbeitung des Historischen Atlas der Alpenländer hervorzustreichen. Er setzte damit 8 Vgl. ebenda.
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die Tradition einer historischen Geographie in Graz fort. 1895 wird er von der Akademie der Wissenschaften beauftragt, diesen Atlas methodisch und inhaltlich zu betreuen, ab 1907 wird diese Arbeit fortgesetzt von Robert Sieger.9 Er selbst hatte dafür die Bearbeitung des Landes Salzburg beigesteuert, die 1906 veröffentlicht wurde. Richter war zwischen 1883 und 1885 Präsident des Zentralausschusses des Alpenvereins, 1898/99 Rektor der Universität Graz und zwischen 1898 und 1900 Präsident der internationalen Gletscherkommission. 1902 wurde er zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien gewählt. Richter war neben Albrecht Penck sicherlich einer der prominentesten Fachvertreter seiner Zeit, dessen Wirkung auch über die Fachgrenzen hinausreichte. „Richter war ein ausgezeichneter Schilderer der Landschaften. Er verstand es, in den Vorlesungen Land und Leute den Hörern näher zu bringen, auch einem größeren, nicht rein fachlichen Hörerkreis. Richter verfügte über außerordentliche Gewandtheit in der Darstellung und vermochte seine Ausführungen dem Auffassungsvermögen verschiedener Kreise anzupassen. […] In Graz führte seine aufgeschlossene Lehrtätigkeit zahlreiche Hörer außerhalb der Studentenschaft an die Geographie heran. Ärzte, hohe Beamte, Offiziere und andere aus dem geistig interessierten Graz besuchten seine Vorlesungen.“10
2. Die politischen Fachvertreter Die Vakanz nach dem Tod Richters war nur kurz. Bereits im Jahr von dessen Ableben trat Robert Sieger seinen Dienst an. Robert Sieger (Abb. 2), geboren am 8. 3. 1864 in Wien, gestorben am 1. 11. 1926 in Graz, studierte Geschichte, Geographie (vor allem bei Penck) und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Er promovierte 1886, legte 1889 die Lehramtsprüfung ab und vertiefte seine Studien in Berlin. 1894 wurde er für Geographie an der Universität Wien habilitiert und 1898 ao. Professor für Wirtschaftsgeographie an der neu errichteten Exportakademie in Wien. 1903 wird er ao. Prof. für Geographie an der Universität Wien und 1905 ordentlicher Professor für Geographie an der Universität Graz, und damit Nachfolger von Eduard Richter. In dem Jubiläumsband Tradition und Herausforderung – 400 Jahre Universität Graz, herausgegeben von Freisitzer, Höflechner, Holzer und Mantl (1985), wurden nur zwei Geographen näher vorgestellt: Eduard Richter und Robert Sieger.11 Die Nichtnennung von Otto Maull war bezeichnend, die Hervorstreichung von Sieger aber sicherlich berech-
9 Erschienen ist dieser Atlas in 4 Lieferungen in Wien 1906–1929. 10 MORAWETZ, PASCHINGER 1987, S. 10. 11 Siehe FREISITZER, HÖFLECHNER, HOLZER, MANTL (Hg.) 1985, S. 139.
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tigt. Sieger war ein ausgesprochen begabter und politisch denkender Geograph mit großer Schaffenskraft und mit einschlägigen Arbeiten, die ein großes Oeuvre abdecken. Seine Hauptinteressen galten der historischen Geographie, der Wirtschaftsgeographie, der Länderkunde, aber auch ausgewählten geomorphologischen und klimatologischen Fragen. Er war 1919 Mitglied des Beirats für geographische Fragen der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in St. Germain, ab 1921 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und 1925/26 Rektor der Universität Graz. Sieger war, wie bereits erwähnt, ein Abb. 2: Robert Sieger politischer Kopf und er machte sich seiQuelle: Archiv der Universität Graz ne Gedanken über die Themen der damaligen Zeit: das Verhältnis von Nation beziehungsweise Nationalität auf der einen Seite und den territorial eindeutig definierbaren Staat auf der anderen Seite, sowie über die Frage nach den „natürlichen“ und „sinnvollen“ Grenzen. Als Österreicher konnte er wenig mit dem Konzept einer Staatsnation, welches von reichsdeutschen Geographen vertreten wurde, anfangen und hat immer wieder aus der Sicht der Doppelmonarchie heraus argumentiert. Für ihn war klar, daß der Begriff „Nation“ drei unterschiedliche Begriffsdimensionen hat: Nation kann Staat, Territorium und kulturelle Gemeinsamkeit bedeuten. Österreich ist zwar, so betont Sieger, ein eigener Staat und besitzt ein eigenes Territorium, gehört aber gleichzeitig der deutschen Nation – im Sinne einer kulturellen Nation – an. „Großdeutsche und Kleindeutsche haben das Wort Nation im Sinne der ,Staatsnation‘ gebraucht. Kirchhoff und Meinecke haben diese der ,kulturellen Nation‘ gegenübergestellt und als die vollkommenere Stufe der Entwicklung, ja als die alleinige Form der Nation angesehen. Aber der nationale Staat, den auch so manche kleinere, zerrissene oder unterdrückte Völker anstrebten, ist aus tiefliegenden geographischen und historischen Gründen innerhalb des deutschen Volks nicht in solcher Geschlossenheit zustande gekommen, wie etwa um dieselbe Zeit in Italien.“12 12 SIEGER 1919, S. 3.
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Mit diesen und ähnlichen Erläuterungen über die nationale Zugehörigkeit „Deutsch-Österreichs“ hat Sieger sicherlich den Zeitgeist getroffen. Die Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Eliten sah Österreich nach dem Ersten Weltkrieg trotz der auferlegten Eigenstaatlichkeit als Teil der deutschen Kulturnation, und der Wunsch nach Vereinigung mit den anderen „deutschen Völkern“ galt über viele Jahre als ein prioritäres Ziel. Sieger hatte als Proponent dieser Idee keine Schwierigkeiten, seine Reflexionen zu veröffentlichten. Über 100 Artikel konnte er in Tagesund Wochenzeitungen (Grazer Tagblatt, Tagespost, Volk und Heimat und anderen) plazieren und damit einen breiteren Abb. 3: Otto Maull Leserkreis erreichen. Quelle: Archiv der Universität Graz Sieger stirbt 1926, nachdem er im Studienjahr 1925/26 das Amt des Rektors bekleidet hatte, unerwartet nach einer Operation. Er war der „österreichischste Geograph“ – wie es Eduard Brückner in einem Nachruf ausdrückte,13 und sein Ableben hinterließ tatsächlich eine tiefe Lücke, zumal es drei Jahre dauerte, bis der Lehrstuhl wieder besetzt werden konnte. Der dafür auserwählte Hugo Hassinger nahm den Ruf nämlich nicht an, sondern ging als Nachfolger von Eugen Oberhummer nach Wien. Es wurde, so berichten Morawetz und Paschinger (1987), mit Erich Obst verhandelt, der jedoch aus finanziellen Gründen absagte. So begann die Universität mit Otto Maull, auf den Obst aufmerksam gemacht hatte, über einen Wechsel nach Graz zu verhandeln. Otto Maull (Abb. 3), geboren am 8. 5. 1887 in Frankfurt am Main, gestorben am 16. 12. 1957 in München, war der erste Nichtösterreicher auf dem Lehrstuhl für Geographie in Graz. Maull studierte Geologie, Geographie und Geschichte in München und Berlin und promovierte 1910 bei Theobald Fischer in Marburg über Die bayerische Alpengrenze. 1918 folgte die Habilitation in Frankfurt am Main (Beiträge zur Morphologie des Peloponnes und des südlichen Mittelgriechenlands), wo er 1923 seine erste Professur erhielt. 1929 wurde Maull Nachfolger von Sieger, war in den Jahren 1932/33 und 13 Siehe dazu MORAWETZ, PASCHINGER 1987, S. 14.
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von 1941 bis 1945 Dekan der Philosophischen Fakultät und prägte die Grazer Geographie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs maßgeblich. Sieger und Maull waren Lehrstuhlinhaber, die sich neben den klassischen geographischen Arbeitsgebieten – Geomorphologie und Länderkunde – besonders für politische Fragen interessierten. Beschäftigte sich der Österreicher Sieger mit den in den 1920er Jahren so heiklen Fragen, wie dem Verhältnis von Volk, Staat und Nation, so war der Deutsche Maull davon weniger tangiert. Er war ein typischer Vertreter der geographischen Geopolitik, der zeitlebens ein organisch-biologisches Staatsverständnis vertrat. Geprägt wurde dieses von Friedrich Ratzel, der in der Expansion des Staates den Schlüssel zum langfristigen Erfolg und Überleben sah. Ratzels positivistische Auffassung sah vor, daß sich Staaten, wie andere Lebewesen auch, in einem ständigen Existenzkampf um essentielle Lebensräume befänden. Die Annexion schwächerer Staaten wurde als natürlicher Vorgang im Entwicklungszyklus eines Staates aufgefaßt, während gesellschaftliche, politische oder kulturelle Konstellationen lediglich eine nachgeordnete Rolle spielten.14 Diese Sicht auf den Staat als einen Raumorganismus, der sich in einem dauernden Überlebenskampf befindet, wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von einer Vielzahl von Wissenschaftlern aufgegriffen und erweitert. In Deutschland waren dies vor allem Erich Obst, Hermann Lautersach, eben auch Otto Maull und besonders Karl Haushofer, die in unterschiedlicher Intensität und Wirksamkeit mithalfen, eine Expansionspolitik durch ein wissenschaftlich-naturalistisches Gewand zu verbrämen. Otto Maull legte in vielen seiner Schriften dieses Weltbild offen und bediente sich dabei einer für heute unüblichen Sprache, die von Biologismen und Begriffen aus der Kriegsberichterstattung („Front“, „Flanke“, „Stoßrichtung“ et cetera) nur so strotzte und keine klare Trennung von wissenschaftlicher Analyse und persönlicher Bewertung erlaubte. Österreich wird – um ein Beispiel zu geben – in seinem Buch Das politische Erdbild der Gegenwart (1931) als „ein unglückliches Restgebilde“ bezeichnet, „ohne die wirtschaftliche Kraft, eine Schweiz sein zu können, belastet mit einer großen historischen Tradition und durch das Mißverhältnis zwischen Land und Hauptstadt, nicht klar orientiert infolge der Mehrzahl der Blickrichtungen, als Staatenganzes ein Problem, für das es im Grunde nur eine befriedigende Lösung gibt, die freilich vielleicht ein langes Warten auf die Anschlußmöglichkeit an das Deutsche Reich ist“.15 Deutschland ist dagegen der „kraftvolle Staat von einst“, aber „aus der Welt zurückgewiesen und in seinem Heimatserdteil grausam zerstückelt worden. […] Die deutsche Bevölkerung der abgelösten Teile ist dem Nationalitätenprinzip zum Trotz vergewaltigt worden. So 14 Vgl. HELMIG 2007. 15 MAULL 1931, S. 138.
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erscheint das Reich gewaltsam zerfetzt und in seiner Kraft nach innen und außen gebrochen […]“.16 Maull produzierte und reproduzierte mit diesen und anderen Texten sehr viel Zeitgeist und es ist für Nachkommende immer sehr schwierig zu bewerten, ob es möglich gewesen wäre, diesen Zeitgeist kritisch zu hinterfragen. Tatsache ist jedenfalls, daß Maull ein ausgesprochen produktiver Wissenschaftler war, der viel publizierte und der sich auch als Funktionär in der universitären Verwaltung engagierte. Maull wurde zum 1. 5. 1938 in die NSDAP aufgenommen, blieb aber parteipolitisch unauffällig. Morawetz und Paschinger haben betont – ohne die formelle Parteimitgliedschaft zu erwähnen –, daß Maull seiner Überzeugung nach nie Nationalsozialist war.17 Er war darüber hinaus Funktionär des NS-Dozentenbundes, einer Einrichtung der NSDAP, deren Zweck es war, die Universitäten und deren Hochschullehrer politisch zu kontrollieren. Er wurde 1943 zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt und war Dekan in den Jahren 1932/33 sowie 1941 bis 1945. Beim Einmarsch der Russen begab er sich zu seiner Familie nach Deutschland und konnte seinen Dienst in Graz nicht mehr antreten, weil ihm der Lehrstuhl entzogen wurde. In München erhielt er 1948 an der Universität einen Lehrauftrag, 1953 wurde er Honorarprofessor.
3. Das Unpolitische kehrt zurück Der Neubeginn Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg war ganz anders als nach dem Ersten Weltkrieg. Die Republik wurde als „Österreich“ und nicht mehr als „DeutschÖsterreich“ ausgerufen, Anschlußgedanken sofort verbannt und mit der Konstruktion einer Österreichischen Nation wurde unmittelbar begonnen. In Graz folgte auf den politisch engagierten Maull nach einer zweijährigen Vakanz 1947 der physische Geograph Hans Spreitzer. Spreitzer, geboren am 15. 8. 1897 in St. Lambrecht (Steiermark), gestorben am 27.10.1973 in Wien, hatte 1922 an der Universität Graz noch bei Robert Sieger promoviert (Die Almsiedlungen des Murauer Gebietes), 1930 folgte die Habilitation an der Technischen Hochschule Hannover mit der Arbeit Die Talgeschichte und die Oberflächengestaltung im Flußgebiet der Innerste. 1936 wurde Spreitzer zum außerplanmäßigen Professor in Hannover ernannt und 1940 in Prag zum ordentlichen Professor berufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Spreitzer nach Österreich zurück und wurde 1947 Professor in Graz. 16 Ebenda. 17 MORAWETZ, PASCHINGER 1987, S. 21.
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Spreitzer widmete sich – ganz in der Tradition eines Eduard Richter – der Hochgebirgsmorphologie. Wie ein roter Faden strukturieren Arbeiten über Gletscherstände, Glazialerosion, Talformen oder Altlandschaften das Schaffen Spreitzers, allzu direkte politische Stellungnahmen finden sich keine mehr. Sein Untersuchungsraum umfaßte die Gebiete des Mur- und Draugletschers, aber auch über Gebiete im Taurusgebirge und in der zentralen Namib hat Spreitzer gearbeitet. Er war in russischer Gefangenschaft, wo er auch Russisch lernte und später in der Sowjetunion Eiszeitforschung betrieb. 1952 wurde er nach Wien berufen, wo er dem verstorbenen Johann Sölch nachfolgte und dort 1968 emeritierte. Nach zweijähriger Vakanz wurde 1954 Herbert Schlenger berufen, der aber nur relativ kurz, nämlich bis 1957, in Graz verblieb. Herbert Schlenger, geboren am 10. 4. 1904 in Neumittenwalde in Schlesien, gestorben am 3. 12. 1968 in Kiel, kam wieder aus der historischen Landeskunde. Er habilitierte sich 1938 für Geographie an der Universität Breslau, wurde 1940 Leiter des Amts für schlesische Landeskunde und 1944 außerplanmäßiger Professor. Nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft und einer Gastprofessur in Köln (1952/53) kam 1954 die Berufung nach Graz und 1957 nach Kiel. Trotz seines kurzen Aufenthaltes in Graz hat er zu den Grazer Geographen intensive Beziehungen unterhalten und insbesondere den Studentenaustausch zwischen Kiel und Graz begründet. Auf Herbert Schlenger folgte Herbert Paschinger (Abb. 4), geboren am 27. 9. 1911 in Neumarkt in der Steiermark, gestorben am 12. 9. 1992 in Graz. Paschinger habilitierte sich 1948 in Innsbruck und bestimmte fast zweieinhalb Jahrzehnte (zwischen 1958 und 1981) die Geschicke des Grazer Instituts. Inhaltlich setzte er mit seinen Arbeiten zur Geo- und Glazialmorphologie die Tradition eines Eduard Richter oder Hans Spreitzer fort. Darüber hinaus war er Autor eines Lehrbuchs der Kartographie, welches durch zwei Jahrzehnte aufgelegt wurde. 1982 folgte ihm Herwig Wakonigg, ein Klimaund Hydrogeograph.18 1967 wurde der damals bereits 64-jährige Sieghard Morawetz, ein „Urgestein“ des Grazer Instituts, der bereits bei Otto Maull studiert hatte und auch dessen Mitarbeiter war, zum ordentlichen Professor ernannt. Morawetz, geboren am 5. 11. 1903 in Knittelfeld in der Steiermark, gestorben am 14. 6. 1993 in Villach, widmete sich auch physischgeographischen Fragestellungen. Die Zweiteilung der Interessensgebiete in physische und humane Geographie etablierte sich erst unter dessen Nachfolger Wilhelm Leitner. Leitner, geboren am 26. 2. 1926 in Peggau in der Steiermark, gestorben 15. 4. 1999 in Graz, 18 Die beiden derzeitigen Lehrstuhlinhaber, Herwig Wakonigg und Friedrich Zimmermann, werden in dieser Darstellung nicht weiter erörtert, ebenso werden die Mitarbeiter des Instituts und ihre Forschungsleistungen nicht erwähnt. Das hat – um dies nochmals zu betonen – allein mit der grundsätzlichen Ausrichtung dieses Beitrags zu tun: Die Geschichte der universitären Geographie steht in Betracht und nicht die Gegenwart.
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war nach dem Studium der Geographie und Geschichte an der Universität Graz zunächst 25 Jahre (1950–1975) Professor an der Bundeshandelsakademie in Graz, mit zusätzlichen Lehraufträgen an der Universität. Leitner konnte sich 1972 habilitieren und 1975 die Nachfolge von Morawetz antreten. Er interessierte sich besonders für eine „Geographie der Geisteshaltung“, was sowohl Ideen als auch sozial und religiös verankerte Werte und Normen umfaßt, aber auch für konkrete regionalgeographische Fragestellungen, die sich bei ihm besonders auf die Türkei bezogen. Er war Kartenautor des Atlas der Steiermark und des Atlas zur Geschichte des Steirischen Bauerntums. 1996 wurde er emeritiert und 1997 von dem auf den Gebieten der Tourismusforschung sowie der Stadtund Regionalentwicklung tätigen Friedrich Zimmermann abgelöst.
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Abb. 4: Herbert Paschinger Quelle: Archiv der Universität Graz
IV. Zusammenfassende Reflexion Eine Reflexion der Geschichte der institutionalisierten Geographie an der Universität Graz zeigt eines sehr deutlich. Die Geographie in Graz war lange Zeit ein sehr viel stärker historisch und sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Fach als es beispielsweise in Wien der Fall war. Die Geographie an der Universität Wien setzte mit der „Eroberung der Alpen“ ein (Friedrich Simony) und war eindeutig naturwissenschaftlich und physischgeographisch ausgerichtet. Eine Humangeographie kam sehr viel später dazu. Graz weist in diesem Bereich einen anderen, eigentlich umgekehrten Entwicklungsweg auf. Eine spezialisierte physische Geographie kam – sieht man von Eduard Richter ab – sehr viel später hinzu, eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg stellte auch in anderer Hinsicht eine Zäsur der institutionellen Entwicklung dar. Die Geburts- und Studienorte aller Fachvertreter vor dem Zwei-
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ten Weltkrieg lagen außerhalb der Steiermark. Zwischen Wien und Graz bestand ein vergleichsweise intensiver personeller Austausch, der Semmering wurde bei Berufungen mehrfach und in beiden Richtungen überschritten. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich die Rekrutierungsstrategie und das Lokale gewann die Oberhand. Bis auf den in Schlesien geborenen und nur kurz in Graz anwesenden Schlenger stammten alle Lehrstuhlinhaber aus der Steiermark oder waren zumindest Absolventen der Universität Graz. Vielleicht war es die Erfahrung, die man mit der politischen Geographie des aus Deutschland stammenden Otto Maull gemacht hatte, vielleicht war es aber auch ein Effekt der Kleinheit des Geographischen Instituts, was zu einer Risikoaversion führte und den Rückgriff auf das Bekannte nahelegte. Tatsache ist jedenfalls, daß das Lokalkolorit bei der Rekrutierungspolitik des Instituts im langfristigen Vergleich zunahm. Schließlich fällt im Rückblick auf, daß es eine wesentliche inhaltliche Konstante gab: Gletscher- und Klimaforschung, und daneben weitere, aber wechselnde Fragestellungen. Jeder neue Lehrstuhlinhaber brachte seine spezifischen Interessen ein, eingebettet in den Zeitgeist, manche sehr erfolgreich, andere wiederum weniger. Die institutionelle Kleinheit bedingte eben auch eine sehr wechselvolle Erfolgsgeschichte, jeweils abhängig von der Persönlichkeit, von der Schaffenskraft und den thematischen Schwerpunktsetzungen der Fachvertreter. Das kann an der außeruniversitären Anerkennung genauso abgelesen werden wie am inneruniversitären Engagement. Aus dem Fach stammten einige Dekane, Vizerektoren und Rektoren, aber eben auch viele, die nur ihre unmittelbaren Aufgaben als Lehrende und Forschende wahrnahmen. Licht und Schatten, Erfolg und Durchschnitt, aber auch Tradition und Fortschritt sind eben auch durch die institutionelle Kleinheit bedingt, wo die Einzelperson immer eine signifikante Größe darstellt. V. Bibliographie Hans BOBEK: Otto Maull †, in: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1959, Wien 1960. Maximilian BITTNER: Wilhelm Tomaschek, in: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 45 (1902), H. 1/2, S. 3–14. Ernst BERNLEITHNER: Sechshundert Jahre Geographie an der Wiener Universität, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien, Band 3, Graz-Köln 1965, S. 55–125. Eduard BRÜCKNER: Robert Sieger †, in: Petermanns Mitteilungen 72 (1926), H. 11/12, S. 281–282. Harald EICHER (Hg.): Festschrift für Wilhelm Leitner zum 60. Geburtstag (= Arbeiten aus dem Institut für Geographie der Karl-Franzens-Universität Graz, Band 27), Graz 1986. Kurt FREISITZER, Walter HÖFLECHNER, Hans-Ludwig HOLZER, Wolfgang MANTL (Hg.): Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985. Jan HELMIG: Geopolitik – Annäherung an ein schwieriges Konzept, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20; Internetversion besucht am 14. 05. 2007.
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Ingrid KRETSCHMER, Johannes DÖRFLINGER, Franz WAWRIK (Hg.): Österreichische Kartographie. Von den Anfängen im 15. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhundert (= Wiener Schriften zur Geographie und Kartographie, Band 15), Wien 2004. Elisabeth LICHTENBERGER: Geographie, in: Karl ACHAM (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 2: Lebensraum und Organismus des Menschen, Wien 2001, S. 71–148. Wilhelm LEITNER (Hg.): Festschrift für Herbert Paschinger (= Arbeiten aus dem Institut für Geographie der Karl-Franzens-Universität Graz, Band 30), Graz 1991. Richard MAREK: Eduard Richters Leben und Wirken, in: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 49 (1906), H. 5, S. 161–255. Otto MAULL: Das politische Erdbild der Gegenwart, Berlin 1931. Sieghard MORAWETZ: Hundert Jahre Geographie an der Karl-Franzens-Universität in Graz 1871–1971 (= Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Universität Graz, Band 15), Graz 1971. Sieghard MORAWETZ, Herbert PASCHINGER: Das Institut für Geographie der Universität Graz 1871– 1980 (= Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Universität Graz, Band 28), Graz 1987. Max Demeter PEYFUSS: Rösler, (Eduard) Robert, in: Österreichisches Biographisches Lexikon, 1815 – 1950, Band 9, Wien 1988, S. 204–205. Eduard RICHTER: Die Gletscher der Ostalpen (= Handbücher zur Deutschen Landes- und Volkskunde, 3. Band), Stuttgart 1888. Robert SIEGER: Vom heutigen Deutsch-Österreich (= 166. Flugschrift des Dürerbundes), München 1919.
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Joseph von Hammer-Purgstall, Michele Benedetti nach einer Zeichnung von Thomas Lawrence Quelle: Stadtmuseum Graz
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Hildegard Kremers † Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) – Diplomat, Historiker, Kulturanthropologe und Poet „[…] que peu de personne depuis 40 ans ont rendu autant de services à la littérature orientale et on autant contribué à la naturaliser en Europe“. Antoine Isaac Silvestre de Sacy, Président de l’Institut de France: Notice sur Joseph von Hammer.1 I. Ein kurzer Blick auf Werk, Wirkung und Person – II. Joseph von Hammer, eine biographische Übersicht – III. Als „Sprachknabe“ in Konstantinopel (1799 –1800) – IV. Die Mission bei Sir Sidney Smith auf der „Tiger“ (1800) und als Botschaftssekretär in Kairo (1800 –1802) – V. Die Übersetzung der Geschichten aus 1001 Nacht ins Französische (1808) – VI. Die erfolgreiche Mission in Frankreich (1809/1810) – VII. Zur Frage der verschollenen Hammer-Korrespondenz
Am 23. November 2006 jährte sich der Todestag des Orientalisten, Diplomaten und Schriftstellers Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall zum 150. Mal, ein Gedenktag, der fast unbemerkt vorüberging. Österreich hatte seinen großen Sohn schon bisher wenig geehrt, und die Stadt Graz hat den Namen des in ihren Mauern Geborenen nur einer sehr unbedeutenden Gasse gegeben. Mit Ausnahme eines Fernsehfilms, der sich bedauerlicherweise nicht ausschließlich auf Hammer konzentrierte, wurde am Abend des 23. November 2006 auch in den Medien kaum seiner gedacht.
I. Ein kurzer Blick auf Werk, Wirkung und Person Es scheint an der Zeit, sich auf Joseph von Hammer-Purgstall zu besinnen.2 Er war der Begründer der Orientalistik in Österreich, die als Wissenschaft erst mit dem Feldzug Napoleons in Ägypten 1798 eingesetzt hatte, ein unermüdlicher Arbeiter in seiner jun-
1 Institut de France, Fonds Cuvier, MSS 3324–3330, hier MS 3329. 2 Über ihn siehe Constantin von WURZBACH: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich […], Wien 1856 –1891, Band VII, S. 267–289; Deutsches Literatur Lexikon, Band 7, 1979, S. 240–242; Birgit HOFFMANN, in: Enzyclopädie des Märchens, Band 6, Berlin-New York 1990, S. 427– 430.
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gen Wissenschaft, ein mutiger Reisender in Ost und West, Dolmetsch nicht nur der vielen Sprachen, die er beherrschte, sondern als Übersetzer und Diplomat auch Vermittler und Brückenbauer. In ihm verband sich der Philologe mit dem Diplomaten, die Wissenschaft mit der Politik. Auf einer ihm gewidmeten Medaille steht zu lesen: „Er verband Europa mit Asien.“ Als Diplomat ebenso wie als Forscher arbeitete er nicht im Elfenbeinturm, in dem seine Wissenschaft heute allzu gerne gesehen wird, für ihn war sie auch Politikum an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, an der nicht nur politische Machtstrukturen aufeinander trafen, sondern auch verschiedene Ideologien, in deren Spannungsfeld beide Teile leben mußten. Allein acht wissenschaftliche Gesellschaften ernannten ihn zu ihrem Mitglied, darunter zwei asiatische und eine amerikanische. Er wurde ausgezeichnet mit dreizehn hohen und höchsten nationalen und internationalen Orden, der Ehrenbürgerschaft der Universitäten von Wien und Graz, sowie den Ehrendoktoraten von Graz und Prag.3 Allerdings war seine Sichtweise von der außereuropäischen Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, für die Europa noch die selbstverständliche, nicht hinterfragte Mitte war, eine andere als die unsere. Über 682 Publikationen zählt Hammers Opus4 an eigenen literarischen, historischen, philologischen, dichtungstheoretischen, aber auch verfassungsrechtlichen Werken, an Übersetzungen aus dem Arabischen, dem Türkischen, dem Lateinischen, dem Französischen und dem Englischen; er übersetzte Die Erzählungen aus 1001 Nacht aus dem Arabischen ins Französische, den Divan des persischen Dichters Hafis ins Deutsche, den Goethe dann in seinem West-östlichen Divan der deutschen Literatur erschloß, die Betrachtungen des Marc Aurel vom Lateinischen ins Persische, die Amoretti-Sonette des englischen Renaissance-Dichters Edmund Spenser ins Deutsche; er verfaßte historische Romane und Zeitschriftenartikel, ferner besorgte er die Editionen seiner eigenen Zeitschrift, der Fundgruben des Orient. Seine von 1827 bis 1833 erschienene Geschichte des Osmanischen Reiches in 10 Bänden besitzt heute noch wissenschaftliche Gültigkeit. Von Bedeutung ist ferner auch seine politikwissenschaftliche Studie mit dem Titel Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches aus dem Jahre 1815. Forschungsreisen als Diplomat und Wissenschaftler in den Vorderen Orient, jahrelange Aufenthalte in Kairo und Konstantinopel, im späteren Alter Reisen zu den Bibliotheken und Archiven in Rom, Turin, Mailand, Dresden oder Berlin runden dieses Bild ab. Und sogar während der Reisen gab er seine Tätigkeit als Schriftsteller, Übersetzer und Historiker nie auf, unermüdlich übersetzte er, sichtete er das Material zu seinen großen historischen Werken. So entstand auf der Überfahrt von Ägypten nach England 1802
3 WURZBACH 1856 –91, Band VII (Anm. 2), S. 267. 4 Ebenda, S. 288 –289.
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die Übersetzung von Ahmad Bin Abubekr Bin Wahshihs (auch: Ahmad Ibn-’Ali Ibn Wahšiya) Werk Unbekannte Alphabete 5 aus dem Arabischen ins Englische. Viele Schriften begleiteten ihn sein ganzes Leben. Er begann die Geschichte des Osmanisches Reiches bereits mit 24 Jahren und vollendete sie erst 1833, also mit 59. Einen Höhepunkt seiner Laufbahn bildete 1847 die Ernennung zum ersten Präsidenten der neu gegründeten Österreichischen Akademie der Wissenschaften nach dem Vorbild der französischen, nachdem er 37 Jahre lang an deren Vorbereitung beteiligt war. Seine Reisetätigkeit dagegen erlahmte nach 1815. Eine Position im Orient sollte er von da an nie mehr bekommen, auch eine Stelle als Gesandter in Konstantinopel erhielt er nicht, denn sein oberster Vorgesetzter Graf Metternich6 war ihm nicht gewogen und erklärte, er habe zuviel Charakter für den Beruf des Diplomaten und präzisierte: „[…] ich brauche weder vorzüglichen Geist, noch ausgezeichnete Kenntnisse, ich brauche charakterlose Maschinen. Sie taugen nicht zum Diplomaten. Sie haben poetisches Talent. Um Gottes Willen! Nur keine Poeten in Geschäften! Ich werde lieber einen Esel schikken als Sie.“7 Es traf Hammer auch schwer, daß er aufgrund interner Intrigen die Stelle eines Kustoden der Hofbibliothek nie bekam. „Metternich liebte es nicht“, kommentiert Hammer, „Ansichten zu hören, die von seinen eigenen abwichen oder ihnen entgegengesetzt waren.“ Freilich hatte Metternich auch andere Gründe, Hammer möglichst nicht selbstständig arbeiten zu lassen. Hammers Bild vom gegenwärtigen Zustand des Osmanischen Reiches war ein anderes als das von Metternich, Hammer glaubte nicht an dessen politische Kraft, er hielt das Osmanische Reich für erstarrt, dekadent – ähnlich den Machtstrukturen der Spätantike – und kommentiert: „Zu der geringen Achtung, welche mir die nähere Kenntnis dieser Regierung einflößte, kam noch die tiefe Abscheu vor der unnatürlichen Sippenverderbnis der Höchsten und der Niedrigsten.“8 Metternich dagegen sah die Osmanen als politischen Partner, als ernstzunehmenden aufstrebenden Block zwischen Rußland und dem Westen. Hammer jedoch war nicht „blind für die Erstarrung des Systems“, darüber hinaus hielt er den Islam für die „unduldsamste aller Religionen […], der den Friedensbruch und die Gewalt gegenüber den ,Ungläubigen‘ als rechtmäßig betrachtet“. Er betont klar, daß „der Islam den ,Ungläubigen‘ nur Kapitulation und niemals einen beständigen Frieden“ gewähre. „Der Islam entbehrt der poli-
5 Wahšiyas Werk datiert aus dem 9. Jahrhundert; Hammers Übersetzung erschien 1806 in London. 6 Clemens Wenzeslaus Lothar Graf von Metternich-Winneburg, 1773 –1859, aus rheinischem Adel, 1809 österreichischer Staatsminister, 1813 Fürst, Gestalter des Wiener Kongresses 1815, 1848 Rückzug aus der Politik. 7 Joseph Frh. von HAMMER-PURGSTALL: Erinnerungen aus meinem Leben: 1774 –1852. Bearbeitet von Reinhart BACHOFEN von ECHT (= Fontes rerum Austriacarum: Abteilung 2, Band 70), Wien u.a. 1940, Band VII, S. 236.
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tischen Freiheit gegenüber Andersdenkenden, auch verwechselt er die politische Weltherrschaft mit der universalen Macht der religiösen Substanz.“9 Es hat Hammer auch an Kritikern nicht gefehlt, die seinen Übersetzungen geringe sprachliche Korrektheit vorwarfen und seine Unbeliebtheit im Kollegenkreis seinem geltungsbedürftigen und wenig kollegialen Wesen zuschrieben, das sich ständig zurückgesetzt fühlte. Auch Hammers toposhafte Menschenzeichnung ist keineswegs immer positiv, kleinliche Verbitterungen fehlen selten. Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit scheinen daher erlaubt.10 „[…] ich, als erster Orientalist Österreichs“, ist eine durchaus gängige, öfter wiederkehrende Selbsteinschätzung.11 So hält er sich auch für einen Künstler, aber keines seiner literarischen Werke hat ihn überdauert. Trotzdem scheint einer seiner Biographen ihm gerecht zu werden, wenn er im Pathos des 19. Jahrhunderts schreibt: „Mit einer unbeugsamen Selbstständigkeit des Charakters verband er eine ans Unglaubliche grenzende Ausdauer und die Arbeitskraft eines Riesen […]. Man hat Hammer seine Ehrsucht übel genommen […]. Die Handlungen aber, mit welchen Hammer nach Ehren strebte, waren insgesamt Thaten der Ehre, deren innerer Gehalt trotz ihren äußeren Gebrechen durch alle Angriffe seiner Gegner nicht geschmälert werden kann.“12 Goethe hat sich nie an der kleinlichen Kritik von Hammers Gegnern beteiligt.
II. Joseph von Hammer, eine biographische Übersicht Joseph Hammer kam am 9. Juni 1774 in Graz zur Welt als ältester Sohn des Gubernialrats Joseph Hammer (seit 1791 von Hammer) im Kälbernen Viertel, nahe dem heutigen Andreas-Hofer-Platz. Seine Mutter stirbt bei der Geburt des elften Kindes, Hammer ist erst dreizehn Jahre alt. Sein Vater kann ihn 1787 nach Wien ins Internat geben, zuerst in den Präparanden-Kurs im Sankt-Barbara-Stift, dann 1788 in die Orientalische Akademie, in der er neun Jahre bleibt. Hier wird er zum diplomatischen Dienst im Orient ausgebildet. In den letzten Jahren seiner Zeit in der Akademie beschäftigt er sich fast ausschließlich mit der Erlernung des Persischen, denn Persien war sein erklärtes Ziel, nachdem er vorher die obligatorischen Sprachen der Akademie erlernt hatte: Arabisch, Türkisch, Griechisch, Latein, aber auch Spanisch, Italienisch, Französisch und Englisch. 8 Ebenda, Band II, S. 41. 9 Ebenda, S. 51. 10 Siehe Reinhart BACHOFEN-ECHT, in: HAMMER: Erinnerungen, Vorwort, S. XI; darin Erwähnung der „Ritterlichkeit“ des Erzherzog Johann gegenüber dem „schwierigen“ Hammer. 11 HAMMER 1940 (Anm. 7), Band XXII, S. 264. 12 WURZBACH 1856 –91, Band VII (Anm. 2), S. 277.
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Persien war das Land seiner Liebe und seiner Sehnsucht, er sollte es sein ganzes Leben umkreisen, aber nie erreichen. 1820 war sogar eine wissenschaftliche Exkursion unter der Führung Hammers nach Persien vorgesehen, begleitet von Wissenschaftlern und Künstlern, wurde jedoch von Metternich nicht genehmigt, um Rußland nicht zu verärgern. Jedoch haben gerade seine Übersetzung des Divan des persischen Dichters Hafis und sein theoretisches Werk über Die schönen Redekünste Persiens international am meisten zu seinem Ruhm beigetragen, da sie Goethe, wie bereits erwähnt, zu seinem WestÖstlichen Divan inspirierten. Es ist nicht davon auszugehen, daß Hammer die orientalischen Sprache flüssig sprach, es sei denn das Türkische, daß er sich aber diese Fertigkeit im Laufe der Jahre erwarb, zum Beispiel im Fall des Persischen und des Arabischen. 1802 berichtet er aus Kairo, daß er täglich Unterricht nehme im Arabischen und im Neugriechischen. Bis zu seinem Tode arbeitet er an der Erweiterung seiner Sprachkenntnisse. In gedrängter Form läßt sich folgendes Lebensbild Hammers rekonstruieren: 1792 erste Tätigkeit als Dolmetsch anläßlich des Besuchs einer türkischen Gesandtschaft am Hof 1797 Sekretär des Hofkommissärs Freiherr von Jenisch, erste literarische Arbeiten 1798 Übersetzung eines türkischen Gedichts, das Wieland im Neuen Teutschen Merkur ediert 1798 als „Sprachknabe“ nach Konstantinopel an die österreichische Gesandtschaft 1799 Reise auf der „Tiger“, einem englischen Kriegsschiff unter Admiral Sir Sidney Smith nach Kairo 1800 beteiligt am Feldzug der Engländer in Ägypten, zwei Jahre in Kairo 1801 Dolmetsch bei den Friedensverhandlungen in Jaffa und Alexandrien 1802 nach England; bei der Überfahrt von Alexandrien nach Portsmouth Übersetzung von Unbekannte Alphabete von Ibn Wahšiya aus dem Arabischen ins Englische 1802 zurück nach Wien, Hammer hat die Wahl zwischen Madrid und Konstantinopel, er entscheidet sich für Konstantinopel 1802 –1806 als Botschaftssekretär in Konstantinopel 1804 Herr von Rosetti, Honorarkonsul in Alexandrien, erwirbt für Hammer eine vollständige Handschrift der Geschichten aus 1001 Nacht 1806 Hammer übersetzt Geschichten aus 1001 Nacht aus dem Arabischen ins Französische 1807 als Generalkonsul in Jassy in Moldavien
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1807 zurückgerufen nach Wien, den Orient wird er nie wieder sehen. Freundschaft mit Graf Wenzeslaus Rzewuski, Initiator der Zeitschrift Fundgruben des Orient zur Förderung der arabischen Studien; rege Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Salon von Madame de Staël, wo er Ludwig Tieck und August Wilhelm von Schlegel kennenlernt 1809 6. Januar: Ersterscheinung der Fundgruben des Orient als erste orientalistische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum, in der in asiatischen und europäischen Sprachen publiziert werden kann 1809 Bekanntschaft mit Graf Pierre Daru, dem Gouverneur Napoleons in Wien 1809 Reise nach Paris, um als Kriegsbeute entwendete orientalische Handschriften zurück zu erhalten 1810 2. April: Teilnahme an der Vermählung Napoleons mit Erzherzogin Marie Louise 1810 zurück nach Wien mit Teilen der geraubten Handschriften 1812 Übersetzung des Divan des Hafis aus dem Persischen ins Deutsche 1815 Heirat mit Caroline von Hennikstein, Tochter eines jüdischen Wiener Bankiers und Kunstmäzens 1815 Hofrat 1815 Veröffentlichung von Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches, gewidmet Erzherzog Johann 1816 –1821 Geschichte der Assassinen 1818 erscheint Geschichte der schönen Redekünste Persiens 1819 geleitet den persischen Botschafter Mirza Abul Hassan an den Hof 1821 in Berlin und Dresden 1824 Korrespondenz mit Jean Francois Champollion13 über die Entzifferung der Hieroglyphen 1825 –1826 Italienische Reise von Triest bis Neapel 1827 –1833 erscheint Geschichte des Osmanischen Reiches in 10 Bänden 1828 Erblicher Ritterstand 1831 Übersetzung der Betrachtungen des Marc Aurel aus dem Lateinischen ins Persische, gewidmet dem Schah von Persien; dafür hohe Auszeichnungen 1833 Erbe von Schloß Hainfeld in der Steiermark sowie von Namen und Wappen der Grafen Purgstall 1835 Freiherr
13 Jean François Champollion (der jüngere) (1790 –1832), Ägyptologe, Teilnahme am Feldzug Napoleons in Ägypten, 1822 im „Brief an Monsieur Dacier“ erste Entzifferung der Hieroglyphen auf der Basis von Young, Bericht darüber in einem Brief an Hammer.
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1836 –1838 Geschichte der Osmanischen Dichtkunst bis auf unsere Zeit seit 1810 Bemühungen um eine österreichische Akademie der Wissenschaften 1842 –1851 in Hainfeld Niederschrift der Erinnerungen aus meinem Leben 1847 Gründung der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Hammer wird deren erster Präsident 1844 Veröffentlichung von Zeitwarte des Gebets in sieben Tageszeiten in Arabisch und Deutsch, ein Stundenbuch 1850 –1854 Arbeit an Literaturgeschichte der Araber (unvollendet) 1856 Hammer stirbt am 23. November in Wien, Beisetzung in Weidling in Niederösterreich Die Stationen in Hammers Leben können wir nur dank einer einzigen Quelle verfolgen, Hammers Erinnerungen aus meinem Leben,14 die, fast 100 Jahre nach seinem Tode das erste Mal erscheinend, eigenmächtig vorgenommene und teilweise sinnentstellende Kürzungen enthalten. Hammer hatte die Erinnerungen zwischen 1841 und 1852 in den wenigen Sommermonaten geschrieben, die er auf seinem Besitz, Schloß Hainfeld in der Steiermark, verbrachte. Doch können weder Hammers greises Alter, noch die Schattenseiten seiner Persönlichkeit, auch nicht die elfmalige Unterbrechung der Niederschrift als Entschuldigung für die vielen Mängel dieser Edition hingenommen werden; diese sind vielmehr eher dem Editor anzulasten, Reinhart Bachofen von Echt, einem Freund der Familie Hammer. Doch wenn diese Erinnerungen auch ab und zu mit Skepsis zu lesen sind, so dienen sie doch als Leitfaden durch ein ungewöhnlich arbeitsintensives, vielseitiges Leben. Einige Stationen dieses Lebens sollen dies nun in Kürze verdeutlichen.
III. Als „Sprachknabe“ in Konstantinopel (1799 –1800) 15 Schon 1792, also im Alter von 18 Jahren, wird Hammer bei einer wichtigen Mission als Dolmetsch eingesetzt, als nach dem Frieden von Susak zwischen Österreich und der Türkei eine große türkische Regierungsdelegation von 100 Diplomaten am Wiener Hof eintraf und von Staatskanzler Fürst Kaunitz empfangen wurde. Es ist sicher erstaunlich, wenn Hammer schon im vierten Jahr seiner Zeit in der Orientalischen Akademie bei dieser Mission in verantwortlicher Stelle steht und sogar an Verhandlungen aktiv teilnehmen kann. Man betraut ihn auch zur selben Zeit mit der Aufstellung eines Titelver14 Siehe Anm. 7. 15 „Sprachknabe“ ist ein Zögling der von Maria Theresia 1756 gegründeten Orientalischen Akademie zur Ausbildung der für den Orient bestimmten Diplomaten.
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zeichnisses und einer Klassifizierung sämtlicher orientalischer Manuskripte in Wiener Besitz. 1819 sollte Hammer eine ähnlich ehrenhafte Aufgabe zufallen, als der persische Botschafter Mirza Abul Hassan nach Wien kommt und Hammer ihn in persischer Sprache empfangen und geleiten darf. Es zeigt, daß Hammer schon zu früher Zeit über ausgezeichnete Sprachkenntnisse verfügte und als vertrauenswürdig galt. In den Erinnerungen beschreibt Hammer den durch Strenge, Eintönigkeit und geistigen Drill gekennzeichneten Lehrplan und Tagesablauf der Akademie, der allerdings durchaus der Pädagogik der Zeit entsprach.16 Das Hauptgewicht lag auf dem Türkischen, das Hammer schon jetzt flüssig zu beherrschen scheint. Man liest zu dieser Zeit in einem Empfehlungsschreiben des berühmten Historikers Johannes von Müller an Christoph Martin Wieland, den Herausgeber des Neuen Teutschen Merkur: „Hammer spricht Türkisch wie wir Deutsch und liest Arabisch wie wir Griechisch.“17 Es folgte das Arabische, wiederum gefolgt vom Persischen, genau nach jener Trias, die Hammer später auch theoretisch propagieren wird18 und die die alte Trias Chaldäisch, Hebräisch, Syrisch ablösen sollte zu Gunsten der Trias Türkisch, Arabisch, Persisch, um damit den Unterricht in der Orientalistik zu modernisieren und von der Theologie zu lösen, mit der zusammen sie bisher gelehrt wurde. Sowohl im Arabischen wie im Persischen legt Hammer zwei von ihm übersetzte Meisterwerke vor, die großen Widerhall finden: die Geschichten aus 1001 Nacht aus dem Arabischen ins Französische und den Divan des Hafis aus dem Persischen ins Deutsche. Das feine Gefühl Hammers für Sprache und Dichtung äußert sich auch in seiner Deutung des Unterschieds zwischen dem Persischen und dem Arabischen: Das Arabische schien ihm „die Sprache der Dichtung“ zu sein, das Persische sah er dem Europäischen dadurch verwandt, daß es „durch höhere Verstandeskunst gezügelt“ sei. Schon in der frühen Akademie-Zeit beschäftigt sich Hammer mit der Übersetzung türkischer Poesie, während seines später vierjährigen Aufenthalts in Konstantinopel folgen Werke zur Sprache, später eine Anthologie türkischer Dichtung, so die Geschichte der osmanischen Dichtkunst bis auf unsere Zeit, und im Laufe der Jahre auch Werke zur türkischen Politik und Verfassung, nämlich Von der Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches und die Geschichte des Osmanischen Reiches.
16 HAMMER 1940 (Anm. 7), Band I, S. 46f. 17 Siehe Christoph Martin WIELAND: Briefwechsel, Band XIII, 1795–97, hg. von Klaus GERBACH, Berlin 1999, S. 292ff. 18 Zur Trias siehe Joseph von HAMMER: Morgenländisches Kleeblatt bestehend aus parsischen Hymnen, arabischen Elegien, türkischen Elogen, Freiburg 1815.
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IV. Die Mission bei Sir Sidney Smith auf der „Tiger“ (1800) und als Botschaftssekretär in Kairo (1800 –1802) Getreu der Trias lag das zweite Schwergewicht im Lehrplan der Orientalischen Akademie auf dem Arabischen. Ein glückliches Geschick ermöglichte es Hammer früh, für längere Zeit in den arabischen Raum zu kommen, als er schon 1800 von seiner ersten Stelle als Botschaftssekretär in Konstantinopel nach Kairo wechseln kann. Sein Ministerium hatte ihn in die Levante und nach Ägypten geschickt, damit er die Haltung österreichischer Botschafter in der Franzosenzeit überprüfe, nachdem Napoleon sich endgültig zurückgezogen hatte. Während der langen Reise auf einem türkischen Transportschiff, hatte ihn in Rhodos die „Tiger“, ein englisches Kriegsschiff aufgenommen, das unter der Leitung von Sir William Sidney Smith stand, dem Hammer durch dessen Bruder, den englischen Außenminister Sir Spencer Smith, empfohlen war. In der Folge diente Hammer dem Admiral nicht nur als Dolmetsch, dieser ließ ihn auch nach der Niederlage Napoleons an den Friedensverhandlungen in Jaffa und Alexandrien zwischen dem Osmanischen Reich und England teilnehmen. Zwischen Hammer und Smith bestand offenbar früh ein Vertrauensverhältnis, denn die Mission, die Hammer bei Smith erfüllte, war von höchstem politischem Interesse, da die Engländer nach dem Sieg Nelsons bei Aboukir (1798) ihre Rolle als Schutzmacht auszudehnen und vertraglich zu fixieren dachten.19 Von nun an konnte er zwei Jahre als Botschaftssekretär in Kairo bleiben, die er zu wissenschaftlicher Arbeit nutzte und zum Erwerb kostbarer Handschriften für die Hofbibliothek, darunter sowohl Bin Wahshihs Werk von den Unbekannten Alphabeten, als auch den bisher unbekannten arabischen Ritterroman Antar. Zu seinem Leidwesen war es Hammer jedoch nicht gelungen, eine Handschrift der Geschichten aus 1001 Nacht zu finden, weder in Kairo noch in Konstantinopel.
V. Die Übersetzung der „Geschichten aus 1001 Nacht“ ins Französische (1808) Schon 1799, bei seinem Weggehen von Wien, wurde Hammer von seinem Vorgesetzten, Außenminister Franz Maria von Thugut, beauftragt, in Konstantinopel eine vollständige Handschrift der Geschichten aus 1001 Nacht zu suchen. Thugut war selbst ein Schüler der Orientalischen Akademie gewesen, die Geschichten aus 1001 Nacht waren ihm zweifellos bekannt dank der Galland-Ausgabe, die wohl jedem Gebildeten der Zeit seit deren erstem Erscheinen zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Paris ein Begriff war. Allerdings war die dreibändige Handschrift, die der Arabist Antoine Galland (1646– 19 HAMMER hatte schon 1798 eine Ode „Auf den Sieg Nelsons bei Aboukir“ veröffentlicht.
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1715) übersetzt und ediert hatte und die aus dem 15. Jahrhundert stammte, nicht vollständig gewesen, sie hörte mit der 281. Erzählung auf. Hammer jedoch gelang es nicht, weder in Konstantinopel 1799 noch in Kairo 1800 –1802, die erwünschte vollständige Handschrift mit 1001 Erzählungen zu finden, und nur eine solche wäre für Thugut von Interesse gewesen. Seine Versuche in Kairo schlugen fehl, weil zwei englische Agenten ebenfalls auf der Suche waren und sich als unkonventioneller erwiesen als er, denn sie ließen sich von Hammer den arabischen Namen der Sammlung sagen und auf ihren Maultieren durch die Innenstadt von Kairo reitend, rief jeder solange „alf laila wa-laila“ bis beide ein Exemplar in Händen hielten.20 Jedoch gelingt es zwei Jahre darauf dem österreichischen Konsul in Alexandrien, Herrn von Rosetti, eine vollständige Handschrift mit 1001 Erzählungen zu erwerben, die er Hammer schenkt, der ein Jahr später in Konstantinopel mit der Übersetzung ins Französische beginnt, zweifellos mit der Vorstellung, mit seiner Übersetzung Gallands Sammlung zu komplettieren. Es ist sicher, daß Hammer sich nicht nur seines Vorgesetzten wegen an diese Arbeit machte. Er muß sich bewußt gewesen sein, daß er eine ungemein traditionsreiche Geschichtensammlung, ein „Weltgedicht“ vor sich hatte, dessen Entstehung mit Sicherheit vor dem 10. Jahrhundert liegt und das die Menschheit seither in zahllosen Übersetzungen und Adaptierungen begleitet. Hammers Manuskript war bei weitem reichhaltiger als die bisher bekannte „Galland-Edition“, es war eine vollständige Version von 1001 Geschichten, die mithin auf größtes Interesse der europäischen wie asiatischen Leserschaft stoßen mußte. Zur Zeit Hammers waren schon mehrere Sammlungen bekannt, die mit der 281. Geschichte abbrachen, nämlich all jene, die auf ein gemeinsames, jedoch unbekanntes Manuskript zurückgingen, das offenbar aus dem syrisch-arabischen Raum stammte; die vollständigen dagegen schienen aus dem afrikanisch-arabischen Raum zu kommen. Auch Hammers Version, die Rosetti in Kairo gefunden hatte, stammte mit ziemlicher Sicherheit aus dem afrikanisch-arabischen Raum. Bei den Geschichten aus 1001 Nacht handelt es sich um eine dynamische Sammlung von Erzählungen, die von einer statischen Rahmenerzählung zusammengehalten werden, welche wahrscheinlich indischen Ursprungs ist. Auch die europäische Literatur weist mehrere solche Erzähl-Sammlungen auf, die die Jahrhunderte überdauert haben und in immer neuen Versionen mit derselben Grundstruktur in Erscheinung treten.21 Die Sammlung wurde vor dem 8. Jahrhundert vom Indischen ins Persische und erst mit der islamischen Eroberung ins Arabische übersetzt. Von der persischen Sammlung
20 HAMMER 1940 (Anm. 7), Band VIII, S. 211. 21 Siehe André JOLLES: „Vorwort“ zu Giovanni BOCCACCIO: Das Decameron, Leipzig 1923, S. I–XCV.
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Hasar Agsanah (Tausend Abenteuer) ist nichts erhalten, sonst hätte die äußerst reizvolle Möglichkeit bestanden, die Islamisierung der Erzählungen beobachten zu können. Gemäß ihrer Dynamik sind die 1001 Geschichten verschiedenartig im Aufbau, es gibt historische Erzählungen, religiöse Legenden, Tragödien, Komödien, Legenden, Burlesken, von erotischem bis hin zu pornographischem Inhalt – und von Beginn an waren sie keine „Märchen“ für Kinder. Ihr statischer „Rahmen“ bildet jeweils das Schicksal von Scheherezade, die 1001 Nächte lang, um ihren Kopf zu retten, dem Sultan Geschichten erzählt. Im Morgengrauen hört sie bei der spannendsten Stelle auf, worauf der Sultan seinen Plan, sie umzubringen, fallen läßt, weil er das Ende der Geschichte hören will. Die Geschichten aus 1001 Nacht haben weder einen gesicherten Autor noch eine definierbare Herkunft. Im Laufe der Jahrhunderte wurde jede neue Ausgabe erweitert, auch verkürzt, das heißt „gereinigt“ und modifiziert, aber auch assimiliert an das jeweilige Umfeld. So erweiterte Galland das ihm vorliegende Manuskript mit jenen Geschichten, die ihm vielleicht von syrischen Straßenerzählern zugetragen worden waren, nämlich „Sindbad der Seefahrer“ oder „Aladin und die Wunderlampe“. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß er sie selbst erfunden hat. Die große Leistung Hammers liegt ohne Zweifel darin, daß er die gesamte Sammlung von 281 auf die ursprünglichen 1001 Erzählungen komplettierte, übersetzte, in Umlauf brachte und damit dem gebildeten Publikum vermittelte. Nach vielen Mühen konnte seine Übersetzung 1823/1824 in einer deutschen Fassung bei Cotta in Stuttgart erscheinen, gefolgt von einer vollständigen französischen Ausgabe in Paris von Jacques Caussin de Perceval, der es nicht für nötig hielt, Hammers Namen zu nennen, obwohl mehr als die Hälfte der Erzählungen von Hammer übersetzt worden war. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erschien in England Arabian Nights, eine vollständige „ungereinigte“ Ausgabe in 17 Bänden von mehreren Autoren, die beim viktorianischen Publikum Skandal erregte.22 Ohne die großen Kenntnisse und die akribische Arbeit des Orientalisten Hammer wäre auch die kritische Aufarbeitung dieses Meisterwerks nicht möglich gewesen, das heute in zahllosen Editionen und 34 Sprachen vorliegt.
22 Die erste vollständige und kritische Ausgabe erschien in Deutschland erst 2004: Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia OTT, München 2004.
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VI. Die erfolgreiche Mission in Frankreich (1809/1810) Die Mission in Frankreich ist sicher eine der bemerkenswertesten und zugleich erfolgreichsten Perioden in Hammers Leben, obwohl sie nur sechs Monate dauert, nämlich von Dezember 1809 bis Mai 1810, wenn ihm auch politische Ereignisse dabei wesentlich zu Hilfe kamen, die er allerdings in seinen Erinnerungen nicht sehen will.23 Trotz der Lückenhaftigkeit des Bildes, das uns von Hammers Intervention in Paris überliefert ist, war diese erfolgreich und ist zu seinen unbestrittenen Verdiensten zu zählen. Denn für die führende, traditionsreiche Stellung Wiens in den Wissenschaften vom Orient war die Wiedergewinnung der von Napoleon geraubten orientalischen Handschriften von unschätzbarem Wert, obwohl die Handschriften nur zum Teil aus Originalen bestanden. Den Kontext gibt das Jahr 1809. Die napoleonischen Kriege sind in vollem Gange, Napoleon ist auf der Höhe seiner Macht, und der Friede von Schönbrunn besiegelt im Oktober 1809 die Niederlage Österreichs. In Wien gibt Napoleon seinem Gouverneur, Graf Pierre Daru und dessen Kommissär Vincent de Denon den Auftrag, die wertvollsten Kunstschätze als Beute mitzunehmen. So nimmt Denon aus der Orientalischen Akademie unter anderen 500 kostbare orientalische Handschriften, nämlich 300 Abschriften und 200 Originale. Nach Hammers Beschreibung in den Erinnerungen war nun die Wiedergewinnung dieser Handschriften allein seiner Geschicklichkeit und seinen Beziehungen zu verdanken. In der Tat waren es jedoch politische Ereignisse, die effiziente politische Stellen Frankreichs dazu bewogen, Hammers Vorhaben indirekt zu begünstigen und zum überraschenden Erfolg zu führen. Dabei spielten im großen politischen Geschehen die orientalischen Handschriften eine bedeutend geringere Rolle, als Hammer meint. Es ist jedoch ohne Relevanz, ob er davon nicht informiert, ob Einzelheiten seiner Pariser Reise ihm entschwunden oder ob sie Kürzungen seines Editors zum Opfer gefallen sind. Wir haben nun Hammers Angaben in Kapitel XV und XVI seiner Erinnerungen überprüft und in den Kontext der sich seit Februar 1810 überstürzenden Ereignisse gestellt. In der Zusammenfassung boten sich die Pariser Ereignisse folgendermaßen dar: Hammer berichtet im Kapitel XV aus Wien, daß 500 orientalische Handschriften geraubt worden seien, zusammen „mit den […] in der Orientalischen Akademie aufbewahrten Exemplaren des ,Neuen Meninsky‘, einem drei-sprachigen Wörterbuch“. Als Verantwortlicher „sei der ,Raubkommissär‘ Vivant de Denon“ zu nennen, unter der Leitung des Gouverneurs, des Grafen Pierre Daru, einem Verwandten von Antoine-Isaac Silvestre de Sacy,24 dem ersten Präsidenten des von Napoleon wiedererrichteten „Institut 23 HAMMER 1940 (Anm. 7), Bände XV, XVI. 24 Antoine-Isaac Silvestre, Baron de Sacy (1758–1838), Orientalist, 1808 Professor der altpersischen Sprache
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de France“. Dank eines Empfehlungsschreibens seines Freundes Silvestre de Sacy an den Grafen Daru, sei es ihm jedoch gelungen, „200 Stücke“ in Wien zurück zu behalten, nur 300 seien nach Paris abtransportiert worden, „allerdings die besten“, das heißt 100 Originale und 200 Abschriften. Im Paris-Kapitel XVI lesen wir dann über Reise und Aufenthalt: Hammer fährt am 9. Dezember von Wien ab und kommt am 17. Dezember in Paris an. Die Straßen sind vom Krieg gekennzeichnet, das österreichische Heer zieht sich zurück, Hammer schreibt: „Ich fuhr in der Nähe der Französischen Grenze durch Scharen österreichischer Kriegsgefangener und mein Herz blutete.“ Er wird vom österreichischen Botschafter in Paris, dem Fürsten Schwarzenberg, freundlich empfangen, freundlich empfängt ihn auch Silvestre de Sacy, der ihm eine Vorstellung beim Innenminister Graf Montalivet vermitteln kann. Die in diesen Tagen bekannt gewordene Scheidung Napoleons von Joséphine Beauharnais bewegt die Pariser Gesellschaft, man spricht von einer Brautwerbung Napoleons in Rußland. Die Bewegung ist noch bei weitem größer, als kurz danach die Nachricht von der Vermählung Napoleons mit der Tochter von Kaiser Franz durchdringt und das bisher so banale gesellschaftliche Leben in Aufregung versetzt. Am 13. Februar 1810 wird der Vertrag von Metternich und dem französischen Botschafter in Wien unterschrieben, und Hammer berichtet: „Mitte März gab mir Silvestre de Sacy die gute Nachricht, daß Napoleon die Zurückgabe der Abschriften genehmigt habe.“ Nun kommt auch Graf Metternich, Hammers oberster Vorgesetzter, zu den Festlichkeiten nach Paris, und es wird Hammer gestattet, als Generalkonsul der Moldau daran teilzunehmen. Am 15. April wird er zusammen mit der österreichischen Delegation dem Kaiserpaar vorgestellt und Hammer notiert – vielleicht etwas geschönt –: „der Kaiser war schon halb an mir vorbei, als Fürst Schwarzenberg meinen Namen nannte. Napoleon kehrte um, sah mich scharf an und ging weiter, ohne ein Wort zu sagen“. Er beteiligt sich am gesellschaftlichen Leben, lernt Alexander von Humboldt kennen und ist bei Fürst Talleyrand geladen, dessen Gattin er „dick und gemein“ [= vulgär] findet.25 Auch den Prinzessinnen des Kaiserlichen Hauses erweist die österreichische Delegation ihre Reverenz, sowohl Elisa Bacciochi, der Großherzogin der Toscana, als auch Paolina Borghese, der Gattin des Fürsten Borghese, und Carolina, der Königin von Neapel und Geliebten Metternichs. Hammer kommentiert: „diese Liebschaft Metternichs hat damals den Geschäften Österreichs in Paris sehr genützt“.
am Collège de France, 1815 Rektor der Sorbonne, erster Präsident des (wiedergegründeten) „Institut de France“. Unter 6022 Werken seiner Bibliothek befinden sich 67 Werke von Hammer. 25 Die Charakterisierung der Fürstin T. als „dick und gemein“ zieht sich als Topos durch die Quellen der Zeit. Das Toposhafte haftet auch manchen anderen Gestalten in Hammers Erinnerungen an.
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Wenige Tage darauf teilt Silvestre de Sacy Hammer mit, „daß das Restitutionsdekret für die orientalischen Handschriften aus der Staatskanzlei herabgelangt sei und damit war am 7. Mai der Zweck meiner Reise erreicht. […] drei Tage, nachdem ich die Nachricht erhalten hatte, übernahm ich die Handschriften und acht Tage später saß ich im Reisewagen als Kurier nach Wien.“ Wir haben nun versucht, sowohl in den Dekreten, Ordonnanzen und Korrespondenzen des Gouverneurs von Wien, Graf Pierre Daru, als auch in der Korrespondenz von Napoleon, als auch in der Sammlung aller Dekrete des Innenministers Graf Montalivet Hinweise auf die Handschriften und deren Rückstellung zu finden.26 Erst bei den Dekreten des Innenministers fand sich der entscheidende Hinweis, nämlich ein „Gnadenakt“27 des Kaisers aus Anlaß seiner Vermählung mit Erzherzogin Marie Louise, der außer summarischen Anweisungen zur Rückgabe von Gegenständen vor allem Namen von nach Österreich geflüchteten französischen Familien enthält, denen der Kaiser die Rückkehr nach Frankreich gestattet. Sollte es je ein „Restitutionsedikt“ für die Handschriften gegeben haben, dann müßte es in einer der Sammlungen vermerkt sein, jedoch findet sich nirgends eine Erwähnung. Der Schluß scheint erlaubt, daß die überragende politische Bedeutung, die Napoleon seiner Vermählung mit der Erzherzogin von Österreich beimaß, ihn zu großzügigen Gnadenerweisen veranlaßte und daß auf dem Wege kaiserlicher Huld 200 Abschriften orientalischer Handschriften auch ohne explizite Anweisung nach Wien zurückkehren konnten. Ein im realen Geschehen offensichtlich nie protokollierter, nur in der Erinnerung Hammers evozierter Verwaltungsakt kann jedoch die großen Verdienste Hammers nicht schmälern. Ohne seine Initiative wäre dieser Teil der Kriegsbeute Napoleons nie nach Wien zurückgekehrt, deren hoher ideeller Wert von den politischen Stellen Österreichs wahrscheinlich nie erkannt worden war. Die 100 Originale, die vorerst in Paris zurückblieben, wurden wahrscheinlich 1815, nach dem Wiener Kongreß, ebenfalls an Österreich zurückgegeben.
VII. Zur Frage der verschollenen Hammer-Korrespondenz Abschließend möchten wir auf ein Desiderat der Hammer-Forschung hinweisen: Wir wissen, daß Hammer eifrig korrespondierte. Das Archiv in Hainfeld, das dank der Voraussicht von Hammers Nachkommen, Cleo und Heinrich von Hammer-Purgstall, die 26 Archives Daru; Régis de CAMBACÉRÈS: Briefe; NAPOLEON: Briefe; Jean Baptiste DUVERGIER (Ed.): Collection complète des lois, décrets, ordonnances, règlements avis du Conseil d’état, Paris 1868–1894. 27 „Acte de bienfaisances et d’indulgences de l’Empereur à cause de son mariage“, 25. 3. 1810, in: DUVERGIER (Ed.) 1868 –1894 (Anm. 26), Band VII, S. 59.
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schwere Zeit der russischen Besatzung 1945 unangetastet überdauert hat, birgt eine Fülle von an ihn gerichteten Briefen. Doch Hammers Gegenbriefe fehlen fast völlig, auch jene an seine französischen Freunde und Kollegen. Seit dem Feldzug Napoleons nach Ägypten (1798/99), der militärisch kein Erfolg war, hatte doch die Kunde vom Orient entscheidenden Auftrieb erhalten. Napoleon war begleitet von 157 Gelehrten vieler Wissenschaftszweige – Ökonomen, Medizinern, Chemikern, Geographen, Kartographen, Arabisten und Archäologen –, aber auch von Künstlern, sowohl Malern wie Kupferstechern. Von nun an war die französische Orientalistik führend in der Ägyptologie. Die Publikation bisher unbekannter HieroglyphenTexte hatte zu lebhaften Diskussionen in der Fachwelt geführt, und dies besonders, als deren Entzifferung durch den Franzosen Jean François Champollion (1790 –1836) 1822 bekannt wurde, dessen Methode allerdings zunächst in den eigenen Reihen, also unter französischen Gelehrten, auf heftigen Widerstand stieß. Am 31. März 1824 berichtet Jean François Champollion in einem in Hainfeld aufbewahrten Brief an Hammer über seine Entzifferungsmethode, die Hammer, offenbar aus eigener Kenntnis der Problematik, als richtig erkannt hatte.28 Wir haben daher in Paris nach Briefen oder sonstigen Schriftstücken Hammers gesucht, sowohl im Nachlaß seiner Freunde, als auch in privaten und öffentlichen Archiven und Bibliotheken, vor allem in den Archiven des „Institut de France“, dessen korrespondierendes Mitglied Hammer seit 1811 gewesen war und nehmen das Ergebnis vorweg: Es ist uns nicht gelungen, Briefe von Hammer zu finden, mit einer einzigen Ausnahme auch keine sonstigen Schriften, obwohl Hammer während 37 Jahren mit Antoine-Isaac Silvestre de Sacy korrespondierte. Die Gegenbriefe von de Sacy befinden sich im Archiv in Hainfeld. In der Handschriftenabteilung des „Institut de France“ enthält der „Fonds de Sacy“ 3027 Briefe. Es war jedoch kein einziger Brief von Hammer dabei. Es ist ebenso unverständlich, daß selbst Henri Dehérain, der 1919 eine grundlegende Publikation über die Korrespondenz von Silvestre de Sacy veröffentlicht, Hammer nicht nennt.29 Für die Forschung ist es unendlich zu bedauern, daß die reiche, an Hammer gerichtete Korrespondenz in Hainfeld nicht durch seine Gegenkorrespondenz ergänzt werden kann. Unter seiner Korrespondenz wäre vor allem die an Silvestre de Sacy gerichtete von großem Interesse gewesen. Es ist dies sowohl für die Wissenschaftsgeschichte als auch für die Geschichte der orientalischen Studien zu bedauern. Wir können nur ahnen, in welch idealer Weise allein die sprachlichen Kenntnisse der beiden sich ergänzt haben müssen: die von Silvestre de Sacy einerseits, der aus einer Rabbinerfamilie stammte, die
28 Zu Champollion siehe Anm. 13. 29 Henri DEHÉRAIN: Silvestre de Sacy et ses correspondants, Paris 1919.
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alten Sprachen beherrschte und eminent versiert war in der Geschichte der Religionen, und die von Hammer andererseits mit seiner reichen Kenntnis der neuen Formen des Türkischen, des Arabischen und des Persischen. Daher wäre das Auffinden der Gegenkorrespondenz ein wichtiges Desiderat der Hammer-Forschung.
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Heinrich Kleiner Ernst Topitsch und sein schwieriger Weg zur ideologiekritischen Weltanschauungsanalyse.* Je schwerer sich ein Erdensohn befreit, je mächtger rührt er unsre Menschlichkeit. C. F. Meyer
Am 20. März 1919 erblickte Ernst Topitsch das Licht der Welt in Wien – just an dem Tage, an dem in Ungarn Béla Kun nach einem gemeinsam mit Trotzky ausgeheckten Putsch eine kommunistische Räteregierung ausrief.1 Zu diesem Zeitpunkt befand sich die junge, am 12. November 1918 nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates der k.u.k. Donaumonarchie gegründete Republik, die sich „Deutschösterreich“ nannte, in mehrfacher Hinsicht in einer viel schlimmeren Situation als das ebenfalls besiegte Deutsche Reich. Denn der deutsche Staat hatte zwar beträchtliche Gebiets- und Bevölkerungsverluste sowie seine völlige Entwaffnung hinnehmen müssen, wurde darüber hinaus zu Reparationszahlungen in geradezu irrwitziger Höhe verurteilt und hatte mit schweren inneren Unruhen zu kämpfen, aber er konnte doch wenigstens seine territoriale und nationale Integrität behaupten und somit die Einheit seines ausgedehnten Wirtschaftsraumes mit all seinen Industriezentren, Binnenmärkten und Handelswegen bewahren. Bis 1918 war Österreich eine Großmacht, nach Rußland der zweitgrößte Flächenstaat Europas mit 676.000 km2, in dem knapp 53 Millionen Menschen lebten – und dann erfolgte in kürzester Zeit der totale Zusammenbruch des großräumigen imperialen Staatsgefüges und sein Zerfall in mehrere Kleinstaaten bei gleichzeitiger Annexion großer Gebietsteile. Dieser Absturz der Großmacht Österreich auf das Niveau eines Kleinstaates mit nur knapp 84.000 km2 und 6,5 Mill. Einwohnern wurde von den Österreichern als unfaßbare, zutiefst schockierende Katastrophe erlebt, so daß sich „ganz Österreich in einer schweren Orientierungs- und Identitätskrise“2 befand. Ruinös wirkte sich vor allem die Zertrennung des ehemals riesigen Wirtschaftsraumes aus: Industrielle Ballungszentren wurden voneinander getrennt, das Verhältnis der ∗
Der vorliegende Beitrag erschien erstmals unter dem Titel „Des Philosophen Erdenwallen. Der lange schwierige Weg des Ernst Topitsch zur ideologiekritischen Weltanschauungsanalyse ,im Spannungsfeld der Ideologien‘“ im Sonderheft 8/2004 der Zeitschrift Aufklärung und Kritik, S. 15 – 49. – Ein Verzeichnis der im folgenden verwendeten Siglen findet sich am Ende dieses Beitrags auf Seite 189. 1 Walter KLEINDEL: Die Chronik Österreichs, Berlin-Darmstadt-Wien 1984, S. 479. 2 I. Spf. d. Id., S. 255.
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Industrieproduktion zur Agrarproduktion geriet in den diversen Teilstaaten völlig aus dem Gleichgewicht und damit auch die proportionalen Relationen zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, was natürlich die Tendenz zur Produktionsanarchie innerhalb der neu entstandenen Kleinstaaten erheblich verstärkte. Das kleingewordene, auf die ursprünglichen deutschsprachigen Kerngebiete der Babenberger und Habsburger reduzierte „Deutschösterreich“ war von all dem am schwersten betroffen. Die Verbindungen zu den böhmischen und mährischen Industriezentren waren weitgehend abgeschnitten, der große ungarische Agrarmarkt stand nicht mehr problemlos zur Verfügung, und die Stadt Wien, die 1914 als Metropole eines 53-Millionen-Reiches 2,2 Mill. Einwohner zählte, war trotz beginnender Abwanderung viel zu groß für eine auf knapp 6,5 Mill. geschrumpfte Gesamtbevölkerung, weshalb man in den Bundesländern stets vom „Wasserkopf Wien“ sprach. Außerdem mußte ein Heer von Staatsdienern, von Beamten und Militärangehörigen, welche die Verwaltung des einstigen Riesenreiches besorgt hatten, nunmehr aber zum überwiegenden Teil überflüssig geworden waren, irgendwie versorgt oder abgefertigt werden. Wie sehr die aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung (vom 16. Februar 1919) hervorgegangenen Volksvertreter die Überlebensfähigkeit dieses Rumpfstaates, der sich wie ein caput mortuum inmitten der membra disiecta ausnahm, fast unisono bezweifelten, beweist die Tatsache, daß sie einhellig die Erklärung abgaben: „Deutschösterreich ist ein Teil der Deutschen Republik“ (!). Dieses Anschlußbegehren wurde von den Alliierten brüsk zurückgewiesen und Restösterreich (Clemenceau: „der Rest ist Österreich“) durfte sich auch nicht mehr „Deutschösterreich“ nennen, sondern erhielt den Namen „Republik Österreich“ – wodurch gewissermaßen ein „Staat wider Willen“ entstanden war. Innenpolitisch aber zeichnete sich zunehmend eine Tendenz zur politischen wie ideologisch-weltanschaulichen Polarisierung ab.3 Auf der einen Seite stand das in der Großstadt Wien und mehreren Industriezentren konzentrierte sozialdemokratische Lager, in welchem sich in zunehmendem Maße die Ideologie eines spezifischen, sich in Verbalradikalismen gefallenden Austromarxismus durchsetzte, auf der anderen Seite stand die erzkonservative Christlich-Soziale Partei, die sich als Massenpartei vorwiegend auf die bäuerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten in der Provinz stützte und sich weltanschaulich dem spezifisch österreichischen Katholizismus bzw. Klerikalismus verschrieben hatte, der nicht selten fundamentalistische Züge trug. Diese polarisierende Lagerbildung ging so weit, daß die rivalisierenden Parteien bewaffnete – groteskerweise vom Innenministerium ausdrücklich bewilligte – Parteiarmeen aufstellten. Den Anfang machte 1922 das konservative Lager mit der Gründung der nach italienischfaschistischem Vorbild aufgebauten „Heimwehr“, 1923 erfolgte im Gegenzug die Auf3 Ebenda.
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stellung des sozialistischen „Republikanischen Schutzbundes“. Immer öfter kam es zwischen den Angehörigen dieser Parteiarmeen zu blutigen Kämpfen, wodurch die politische Auseinandersetzung mit zunehmender Heftigkeit die Gestalt eines latenten Bürgerkrieges annahm. Dazu Topitsch über seine eigenen Beobachtungen: „Doch drang das Grollen der politischen Umbrüche sehr bald an das Ohr des aufgeweckten Kindes. Da gab es die in Wien besonders spektakulären Wahlkämpfe mit manchmal geradezu blutrünstigen Plakaten, mit politischen Schlammschlachten und Schlägereien. Dahinter standen – was ich damals nicht wußte, aber doch irgendwie mitbekam – unfehlbare Parteikirchen samt zugehörigen Parteiarmeen.“4 Diese extreme politische wie ideologisch-weltanschauliche Polarisierung war aber keineswegs bloß die Folge schwerwiegender sozioökonomischer Dysfunktionalitäten und sozialer Konflikte, auch nicht allein die Folgewirkung der damals noch bestehenden beträchtlichen Klassengegensätze, sondern das späte Resultat einer Ursachenverkettung, die in die Tiefenschichten der österreichischen Geschichte reicht. Im Klartext: Die Hauptursache dieser radikalen Entzweiung liegt im spezifischen österreichischen Katholizismus (unter dem Topitsch auch noch in der Zweiten Republik nicht wenig zu leiden hatte). Ist doch der österreichische Katholizismus unleugbar das Ergebnis, sozusagen die „Mißgeburt“ der Habsburgischen Gegenreformation. Zum besseren Verständnis dieser Behauptungen eine ganz kurze Reminiszenz: Die Reformation hatte sich in den Habsburgischen „Erblanden“ (mit Ausnahme des „heiligen Landes“ Tirol) etwa ab 1530 wie ein Flächenbrand ausgebreitet, so daß sich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zur evangelisch-lutherischen Konfession bekannte, sogar – horribile dictu – in Wien, der Haupt- und Residenzstadt des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“. Nach anfänglich eher okkasioneller unkoordinierter Gegenwehr starteten die kirchlich gegängelten Habsburgerkaiser im Geiste der meist von Jesuiten angeführten Gegenreformation eine großangelegte Rekatholisierungsaktion, die derart brutal durchgeführt wurde, daß sie schließlich – infolge des entschlossenen Widerstandes der böhmischen Stände – den Dreißigjährigen Krieg entfachte. Danach wurde in den Habsburgischen Erblanden die Rekatholisierung konsequent mit allen, auch den verwerflichsten Mitteln – mit Militäraktionen („Ketzerkreuzzügen“), physischem und psychischem Terror, rigiden Zensurmaßnahmen, massenhafter Vertreibung der standhaft gebliebenen Protestanten etc. – fortgeführt, bis die „Ketzerei“, die Häresie, unschädlich gemacht war. Dieser Totalsieg der römisch-katholischen Kirche im Bunde mit dem heraufkommenden Absolutismus hatte zur Folge, daß Aufklärung, Liberalismus, Laizismus und Freidenkertum sowie Religions-, Staats- und Gesellschaftskritik, die in Westeuropa und später auch in Deutschland 5 Blütezeiten erlebten, in den von 4 Ebenda. 5 In Deutschland erwuchs die Aufklärung auf dem Boden des Protestantismus, der in Österreich fehlte.
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den strenggläubigen Habsburgern beherrschten „Kron- und Erbländern“ die längste Zeit überhaupt nicht Fuß fassen konnten. Erst die Reformen, die Josef II., der „Jakobiner auf dem Kaiserthron“, während seiner kurzen Regierungszeit (1780 –90) durchführte, und die sein Bruder Leopold II. (1790 –92) vorsichtig weiterführte, schufen kurzfristig Raum für die Ideen und Ideale der Neuzeit und ließen ein neues bürgerliches Beamtentum entstehen, das Träger einer liberalen und laizistischen Gesinnung hervorbrachte. Die folgenden Habsburgerkaiser hingegen schwenkten wieder auf die Linie der permanenten Restauration (die besonders nach der Niederschlagung der „Märzrevolution“ von 1848/49 einen Höhepunkt erreichte), so daß man, einen bekannten Ausspruch von Marx sinngemäß variierend, sagen könnte: Wenn die bigotten Herrscher und die katholischen Pfaffen Angst hatten, wurde restauriert; aber wenn sie keine Angst hatten, wurde erst recht restauriert – es wurde eben immer restauriert. Eigentlich müßte jeder kenntnisreiche Historiker, der die Fähigkeit der reflektierenden Urteilskraft besitzt, und erst recht jeder Geschichtsphilosoph unschwer erkennen können, daß die hierarchisch organisierte, oft einen Staat im Staat (Imperium in Imperio) bildende, absolute Heilswahrheit beanspruchende und dementsprechend mit geistlichem, das heißt ideologisch-weltanschaulichem Monopol ausgestattete katholische Amtskirche dann, wenn sie – wie im Zenit ihrer Macht – aufgrund ihrer Herrschaft über die Seelen auch über das bracchium saeculare, also auch über fast unumschränkte Macht im weltlich-politischen Bereich verfügt, ein totalitäres, inhumanes und überdies bluttriefendes Herrschaftssystem darstellt, dessen tiefe strukturelle und mentale Verwandtschaft mit den modernen ideologisch-politischen totalitären Systemen, mit Faschismus/Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus/Stalinismus, nicht geleugnet werden kann. Helmuth Plessner erkannte, daß durch den Dreißigjährigen Krieg Deutschland „Die verspätete Nation“ (1935, 2. Aufl. 1959) geworden war. Das gilt aber in weit höherem Maße für das alte Österreich. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts änderten sich die Verhältnisse. Die tempobeschleunigte Entwicklung der Industriegesellschaft, die Entstehung von Großstädten und industriellen Ballungsräumen, die Verbreiterung des bürgerlichen Mittelstandes, das Erstarken der Gewerkschaften und der Aufstieg der Sozialdemokratie zur Massenpartei, die, entschieden antiklerikal ausgerichtet, in Arbeiterbildungsvereinen, Volkshochschulen und eigener Presse Volksaufklärung in großem Stil betrieb, entmachteten die Kirche so weit, daß in der Verfassung von 1867 schon recht bedeutsame Ansätze zum Aufbau eines laizistischen Rechtsstaates, zur Gewährung von Religionsfreiheit und damit zur Trennung von Kirche und Staat zu finden sind. Dadurch kam es im österreichischen Geistesleben zu einer verspäteten Aufklärung, die schließlich eine weltweit Bewunderung erregende kulturelle Hochblüte hervorbrachte. Während die Amtskirche aus den genannten Gründen ihre Macht als institutionalisierte Staatsreligion mehr und mehr einbüßte, nahm der Katholizismus im Rahmen
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der sich entwickelnden konstitutionellen parlamentarisch-demokratischen Regierungsform eine neue, überaus einflußreiche Gestalt an: Es entstand der politische Katholizismus. Die konservativen Parteien, zuletzt die christlich-soziale, konnten nämlich zu Massenparteien nur durch eine ideologisch-weltanschauliche Klammer werden, welche die divergierenden Interessen von Unternehmern, Gewerbetreibenden, Groß- und Kleinbauern, provinziellen Kleinbürgern und so weiter zu einer politischen Einheit wählerwirksam zusammenfaßte. In einem so tief durch die Gegenreformation geprägten Land wie Österreich fiel der im Volk noch tief verwurzelten katholischen Religion die Rolle des ideologischen Führungssystems fast ganz von selbst zu. Das aber führte zwangsläufig einerseits zu einer politischen Manipulation der katholischen Religion, während andererseits die Amtskirche bestrebt war, ihren Machtverlust wettzumachen durch die Sanktionierung des in ihrem Namen agitierenden antiaufklärerischen Konservativismus mit seiner reaktionären Mentalität und seiner weltanschaulichen Intoleranz. Hatte sich der „Bund von Thron und Altar“ schon weitgehend aufgelöst, so trat nun an seine Stelle der „Bund von Parteipolitik und Altar“. Nach diesem Exkurs wollen wir zu unserem Ausgangspunkt, der Situation der Ersten Republik, zurückkehren. Die extreme politisch-ideologische Polarisierung, von der die Rede war, wurde noch dadurch verstärkt, daß die liberalen und sozialistischen (städtisch konzentrierten) Kräfte nach dem Zerfall des ehemaligen kulturellen Großraumes ihre reziproken Verbindungen weitgehend verloren hatten und nunmehr isoliert einer rückständigen, konservativ-katholisch geprägten alpenländischen Provinz gegenüberstanden. Die in Wien mit satter absoluter Mehrheit regierende sozialdemokratische Partei hingegen nützte ihre Macht, um großangelegte vorbildliche Reformen (Gesundheitswesen, Sozialfürsorge, Schulwesen etc.) durchzuführen und ein gigantisches (aus den Mitteln einer generellen Wohnbausteuer finanziertes) Wohnbauprogramm ins Leben zu rufen, das sich in riesigen, in einem architektonisch einzigartigen Monumentalstil erbauten Wohnanlagen manifestierte, die das Stadtbild nachhaltig prägten und die Topitsch einmal als „Monumentalbauten des proletarischen Sozialismus“ bezeichnete. Eine autobiographische Notiz von ihm: „In dieses rote Wien wurde ich 1919 hineingeboren.“6 Er wohnte in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Gemeindebezirk (der einst auch das jüdische Ghetto beherbergte), in der Wohlmutstraße in Praternähe, in einer eher tristen, vorwiegend von proletaroiden Kleinbürgern bevölkerten Gegend. Topitsch wuchs auf als Einzelkind in einer vaterlosen Familie mit Mutter, Tante und Großmutter in einem kleinbürgerlichen, aber liberalen und äußerst bildungsbeflissenen Milieu. Seine Mutter war eine damals schlecht bezahlte Lehrerin, die sich später das Studium ihres Sohnes buchstäblich vom Munde abgespart hat. Er besuchte „die unter Otto Glöckel, dem sozi6 I. Spf. d. Id., S. 255.
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aldemokratischen Präsidenten des Stadtschulrates, reformierte [und endgültig von kirchlicher Bevormundung befreite] Volksschule“.7 Das aufgeweckte, sensible Kind registrierte schon früh die überall spürbare Atmosphäre eines latenten Bürgerkrieges mit tiefer Beunruhigung. Als am 15. Juli 1927 eine über ein politisch motiviertes Skandalurteil (Freispruch der „Schattendorfer Mörder“) empörte Menge den Justizpalast – „diese Hochburg der Klassenjustiz“ – stürmte 8 und in Brand steckte, worauf die berüchtigte „Schober-Polizei“ ein wahres Blutbad anrichtete, empfand der frühreife Achtjährige diese Eskalation der Gewalt als Vorspiel eines drohenden manifesten Bürgerkrieges. 1929 kam Topitsch an das Akademische Gymnasium, eine humanistisch-laizistische Eliteschule, wo er eine gründliche philologisch-historische Ausbildung (unter anderem bei dem vorzüglichen Philologen Ernst David Oppenheim) genoß, sich als „Klassenprimus perpetuus“ hervortat und durch einige seiner Mitschüler aus wohlhabenden jüdischen Familien die kultivierte Atmosphäre des emanzipierten jüdischen Bildungsbürgertums kennen lernte.9 Unter dem Eindruck des damaligen dramatischen Zeitgeschehens, so berichtet er, „erwachte schon früh mein Interesse für Geschichte und Politik. Bereits im Untergymnasium verschlang ich Schlossers Weltgeschichte, später fesselte mich C. F. Meyers historischer Roman ,Jürg Jenatsch‘ mit der Gestalt des scharfsinnigpessimistischen Provveditore Grimani, eines hohen Beamten der Republik Venedig. Doch in der obersten Gymnasialklasse wurde ich mit dem großen griechischen Geschichtsschreiber und Geschichtsdenker Thukydides bekannt, dessen illusionsloser Realismus und unbeirrbare Wahrhaftigkeit mir mehr und mehr zum Vorbild wurden. Gewissermaßen mit dem Thukydides im Tornister bin ich dann durch den Zweiten Weltkrieg gezogen und habe seine grundlegenden Einsichten mit geradezu beklemmender Präzision bestätigt gefunden.“10 Auch Oswald Külpes Einleitung in die Philosophie, Wilhelm Windelbands Geschichte der Philosophie und Heines geistvoller Essay über die deutsche Philosophie 11 gehörten zum bevorzugten Lesestoff des jungen Gymnasiasten. „In meiner Lesewut war ich aber auch auf Berthold Auerbachs Spinoza-Roman gestoßen, der mein Interesse für die Philosophie weckte, und Platon gehörte zum obligaten Lesestoff des Gymnasiums.“ 12 Während der junge Schüler zwar bedrückt, aber unverdrossen im Untergymnasium seine Studien trieb und seiner Lesesucht frönte, begann Österreich schier unaufhaltsam
7 8 9 10 11
Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 256. I. Irrg. d. ZG, S. 11. Heinrich HEINE: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Leipzig-Wien o.J. [1890], 4. Bd., S. 11–296. 12 I. Irrg. d. ZG, S. 11.
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in die endgültige Katastrophe zu schlittern. Die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise traf das immer noch unter den Kriegsfolgen leidende wirtschaftlich kaum lebensfähige Land, das sich bisher nur mühsam über Wasser gehalten hatte, an seinem Lebensnerv. Die sprunghaft steigende Massenarbeitslosigkeit in Verbindung mit der Zerrüttung des monetären Systems verschärfte die bestehenden politisch-ideologischen Gegensätze derart, daß im rechten Lager – im Vertrauen auf Mussolinis Unterstützung – Pläne für eine Machtergreifung nach italienisch-faschistischem Muster zu reifen begannen. Anfang März 1933 schaltete der Obmann der Christlich-sozialen Partei, der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (verspottet als „Millimetternich“), das Parlament aus und etablierte im Bunde mit der „Heimwehr“ ein autoritäres Regime, das unter anderem eine Verordnung zur „Errichtung von Anhaltelagern zur Internierung politischer Häftlinge“ erließ (!). Am 12. Februar 1934 brach infolgedessen der offene Bürgerkrieg aus, der mit dem Sieg des regierungstreuen Berufsheeres und der „Heimwehr“ über den sozialistischen „Republikanischen Schutzbund“ endete, wodurch der Weg frei war zur Errichtung des „Christlichen Ständestaates“, der heute allgemein als kleriko-faschistische Diktatur charakterisiert wird, in welcher der politische Katholizismus mit dem Segen der Kirche die absolute Macht errang, was einem Rückfall in den gegenreformatorischen Absolutismus gleichkam – mit verheerenden Auswirkungen auf das Geistesleben.13 Dazu der ironische Kommentar von Topitsch: „1934 erhielt das Österreichische Volk im Namen Gottes, von dem alles Recht ausgeht, eine ständisch-autoritäre Verfassung, was auch alsbald auf das Schulwesen durchschlug.“14 Obwohl er ein erklärter Gegner dieses Klerikofaschismus war und unter der repressiven geistlichen Bevormundung litt, blieb ihm natürlich nichts anderes übrig, als sein Gymnasialstudium zu Ende zu bringen. 1937 legte er die Reifeprüfung in den Wahlfächern Griechisch, Philosophie und Mathematik (!) mit Auszeichnung ab und behandelte in seiner Hausarbeit das hochinteressante Thema „Kallikles in Platons ,Gorgias‘ und Nietzsches Übermensch“.15 Danach inskribierte er an der Universität Wien Klassische Philologie, Philosophie und Geschichte16 – nachdem er ernsthaft ein Studium an der Technischen Hochschule erwogen hatte – und hörte neben Robert Reininger, dem Nestor der Wiener Philosophie, auch den eben berufenen katholischen Philosophen Alois Dempf, der in seinem späteren Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Als Österreich im März 1938 von Hitler-Deutschland gewaltsam annektiert wurde, tangierte das zunächst sein Studium nicht allzusehr, aber bald mußte Topitsch (nach 13 Der Schulunterricht wurde „christianisiert“, an den Universitäten gab es wahre Kahlschläge und die Zensur exekutierte den Index librorum prohibitorum der Amtskirche. 14 I. Spf. d. Id., S. 256. 15 WAA als Strukt. Wiss., S. 547. 16 I. Spf. d. Id., S. 257.
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zwei Semestern) zur Deutschen Wehrmacht einrücken.17 Obwohl er vom ersten Kriegstag an im Einsatz war, verlief sein Heeresdienst glücklicherweise ziemlich undramatisch. Im Polenfeldzug hatte seine Einheit nur einige wenige leichte Gefechte ohne nennenswerte Verluste zu bestehen. Im Westfeldzug mußte seine Kompanie nach dem Durchbruch durch die Weygand-Linie (entlang der Somme und Aisne) mehrmals Sturmangriffe auf französische Stellungen durchführen, aber wenn die deutschen Landser die gegnerischen Stellungen erreicht hatten, waren die schlecht geführten und demoralisierten französischen Soldaten jedesmal schon auf und davon. Nach Beendigung der Kriegshandlungen wurde seine Einheit zuerst an die Kanalküste zwecks Vorbereitung des „Unternehmen Seelöwe“, also der Invasion Englands, verlegt und später, nach Aufgabe der Invasionspläne, im „Protektorat Böhmen und Mähren“ stationiert und dann „nach Polen in die Nähe der damaligen Demarkationslinie verlegt“ (vgl. dazu Stalins Krieg, Einleitung, S. 9). Topitsch war aus innerster Überzeugung ein dezidierter Gegner jeder Diktatur, er lehnte das Nazi-Regime ebenso kompromißlos ab wie das vorhergegangene klerikofaschistische Regime. Die Wehrmacht erschien ihm wie eine „Tauchstation“, die ihn vor einer direkten politischen Konfrontation bewahrte und ihm, wie vielen anderen Regimegegnern, „die Möglichkeit einer Art innerer Emigration“ bot.18 „Doch beschränkte ich mich nicht darauf, bloß den Kopf einzuziehen. Ich benützte ein Kapitel aus dem Werk des großen griechischen Historikers Thukydides, um hinter einem eher notdürftigen antiken Tarnschleier meinem Entsetzen über das Zeitgeschehen im allgemeinen und über die Demoralisierung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im besonderen Ausdruck zu verleihen. Diesen Aufsatz habe ich in einem Studienurlaub [1941] geschrieben, und er ist 1942 in der philologischen Fachzeitschrift ,Wiener Studien‘ erschienen.“19 „Das war ungefähr das Äußerste, was damals überhaupt veröffentlicht werden konnte und im Klartext, ohne die antike Tarnung, hätte es den Kopf kosten können. Das sage ich nicht, um mich als Helden des Widerstandes aufzuspielen, sondern nur, um zu erklären, warum ich angesichts nachgeborener Vergangenheitsbewältiger nicht gerade vor Ehrfurcht in den Boden versinke.“20 17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 256. 19 Ebenda, S. 256f. Das betreffende Thukydides-Zitat lautet: „Noch erregt die schreckliche Verwilderung allenthalben Aufsehen, da man solche Greuel noch nicht gewohnt ist, aber bald wird ganz Hellas von ihr heimgesucht. Die unverschämte Lügenhaftigkeit der Parteimänner auf beiden Seiten zerstört den Sinn für die wahre Bedeutung der Wörter und damit die Voraussetzung einer Kontrolle ihrer Unwahrhaftigkeit. Die Beziehung des Menschen zur Umwelt und zur Welt der sittlichen Werte ist gestört. Er lebt in einem Rausch von Schlagworten und Bildern, die jede Freveltat entschuldigen, ja zu fordern scheint. Es gehört geradezu zum guten Ton, dieses Treiben mitzumachen. Wer sich davon fernhalten will, wird von beiden Seiten angegriffen und vernichtet. Immer mehr gelangen die minderwertigsten Elemente zur Macht […].“
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lm Spätsommer 1942 aber drohte tödliche Gefahr: Das Bataillon, dem er angehörte, wurde an die Ostfront geschickt und der berühmt-berüchtigten 6. Armee (unter General Paulus) einverleibt, die nach raschem Vormarsch durch den Donez-Korridor und dem Übergang über den Don auf Stalingrad vorrückte. Wäre Topitsch bei seiner Einheit geblieben, dann hätte das wohl den sicheren Tod bedeutet, da von den circa 250.000 Mann der eingeschlossenen Stalingrad-Armee bekanntlich kaum 6.000 heimgekommen sind. Aber der Zufall kam ihm zu Hilfe. Er, der passionierte Motorradfahrer, hatte sich als Kradmelder eine doppelseitige Lungenentzündung zugezogen – damals, ohne Antibiotika, eine schwere, ja lebensgefährliche Erkrankung, die einen längeren Aufenthalt im Lazarett nötig machte. Da der Genesende noch nicht voll kriegstauglich war, erhielt er statt des ihm zustehenden Genesungsurlaubes auf Antrag einen Studienurlaub für das WS 1942/43. „Ein glücklicher Zufall hat mich davor bewahrt, im Kessel von Stalingrad Gefrierfleisch zu werden“, bemerkte er sarkastisch im Rückblick. Unter dem Eindruck der Katastrophe von Stalingrad, der er mit knapper Not entgangen war, erwachte sein Interesse an der Erforschung der Kriegsursachen, das ihn nie mehr losgelassen hat, bis er endlich 1985 (mit 66 Jahren) in der Lage war, die Resultate seiner langfristigen intensiven Forschungsarbeit in seinem Aufsehen erregenden Buch Stalins Krieg der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Über die Erfahrungen, die er in seinem Studienurlaub machte, schrieb er: „Die Stimmung in den Seminaren kann man vielleicht am besten als sachlich und gedrückt bezeichnen. Die Männer waren meist beim Militär, so daß die Mehrheit der Studierenden aus Mädchen bestand, die um ihre Väter, Brüder oder Partner bangten. Um sich den immer drückenderen Sorgen zu entziehen, vergrub man sich in das Studium, und besonders in den Altertumswissenschaften gab es auch etwas wie eine geistige Flucht in die Antike – eine Form innerer Emigration.“21 Mit Befriedigung stellte er fest, daß die Mehrheit der Professoren, Dozenten und Studenten nicht mehr aus enragierten Nationalsozialisten bestand, sondern daß sich Widerstand in mannigfachen Formen zu regen begann – von mutiger, manchmal fast tollkühner Regimekritik im Hörsaal und Seminar bis zum „stillen Widerstand“ jener Regimegegner bzw. „Dissidenten“, die insgeheim subversive Gespräche führten, und denen auch er sich anschloß, sowie jener, „die ohne unmittelbarer Kritik an der herrschenden Ideologie, aber auch ohne Rücksicht auf sie, dem Ideal sachlicher Wissenschaftlichkeit treu blieben […]“.22 Nach diesem Studienurlaub ging es wegen immer noch angegriffener Gesundheit nicht an die Front, sondern an den früheren Standort, wo er einem Ausbildungslager für
20 Ebenda, S. 257. 21 Ebenda, S. 259. 22 Ebenda, S. 258f.
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junge Rekruten zugewiesen wurde. Dort betätigte er sich vorwiegend in der Verwaltung, wo er sich dermaßen bewährte, daß er es schließlich zum (Stabs-)Feldwebel brachte. Seine Tätigkeit ließ ihm Muße genug für weiterführende Studien, die sich thematisch hauptsächlich auf Philosophiegeschichte, politische Geschichte und Kriegsgeschichte konzentrierten. Unter anderem führte ihn eine früh entwickelte Vorliebe für Plotin zur Beschäftigung mit neuplatonisch-gnostischen Denkformen (die ihn später zur Entdekkung des ekstatisch-kathartisch-anagogischen Weltanschauungstypus führte), wobei er auch auf das vorzügliche Buch Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen von Robert Schneider (Würzburg 1938) stieß, das ihm später unter anderem als wichtige Quelle für seine Studie Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie (1967) diente. Er begann daraufhin, sich mit den „Schwabenvätern“ auseinanderzusetzen, wobei er Johann Christoph Oetingers Theologia ex idea vitae deducta entdeckte, die ihn faszinierte, weil sie „die Lehre vom Werdenden Gott“ in systematischer Form vorträgt und ihm deshalb (aus späterer Sicht) als „Musterbeispiel eines spätgnostischen anagogisch-panentheistischen Systemdenkens“ erschien. Mehr als zwei Kriegsjahre vergingen für Topitsch noch mit Gamaschendienst, Verwaltungsarbeit, Bürokram und Privatstudien, bis im April 1945 der Widerstand der Deutschen Wehrmacht an allen Fronten zusammenzubrechen begann. Als die „2. ukrainische Front“ (unter Marschall Malinowski) Anfang Mai schon halb Mähren erobert und Brünn eingenommen hatte, wuchs die Gefahr, in sowjetische Gefangenschaft zu geraten. Da sich der Kommandant des Ausbildungslagers schon abgesetzt hatte, und ohnehin keine auszubildenden Rekruten mehr da waren, stellte Topitsch als „Herr der Schreibstube“ sich und seinen Kameraden kurzerhand fingierte Marschbefehle aus und marschierte – die Hauptstraßen natürlich meidend – nach Westen, so schnell ihn die Füße trugen. Die amerikanischen Truppen kamen ihm dabei entgegen, am 6. Mai hatten sie schon Pilsen eingenommen, und er konnte sich ganz in der Nähe in amerikanische Gefangenschaft begeben, wodurch er „dem Iwan gerade noch ausgebüchst“23 war. Im amerikanischen Gefangenenlager wurde er dank seiner vorzüglichen Englischkenntnisse in der Verwaltung als Dolmetscher eingesetzt und schon im September 1945 entlassen24 – gerade rechtzeitig zu Semesterbeginn. 1946, in der Rekordzeit von nur 2 Semestern, konnte er bereits sein Studium der Klassischen Philologie und Alten Geschichte mit der Promotion abschließen, weil durch eine Sonderregelung Kriegsteilnehmern zwei Semester erlassen wurden.25 Er promovierte mit der Dissertation Mensch und Geschichte bei Thukydides,26 überdies „sub auspiciis Praesi23 24 25 26
Ebenda, S. 259. Ebenda, vgl. auch WAA als Strukt. Wiss., S. 548. Ebenda, S. 257. WAA als Strukt. Wiss., S. 548.
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dentis“, der höchsten Auszeichnung, die die Republik Österreich an Promovenden zu vergeben hat. Rückblickend zog er die Bilanz seines Studiums: „Im ganzen also sechs Semester, aufgeteilt auf neun Jahre und drei bzw. vier politische Systeme: den christlichautoritären Ständestaat, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und die wiederhergestellte Demokratie, doch mein Wiener Wohnbezirk war an die russische Zone gefallen, so daß ich auch sowjetischer Untertan war. Wer unter solchen Voraussetzungen nicht Ideologiekritiker wird, ist für dieses Geschäft unbegabt.“27 Nach der Promotion legte er „auch die Lehramtsprüfungen für Gymnasien aus Griechisch, Latein und Philosophie (Hauptfächer) ab und erwarb auch einen Teil der Vorprüfungszeugnisse für Geschichte […]“,28 um sich beruflich abzusichern. Von den AHS-Lehramtsprüfungen brauchte er dann doch keinen Gebrauch zu machen. „Prof. Alois Dempf, mit dem ich während seiner Zwangspensionierung in der Nazizeit weiterhin Kontakt gepflegt hatte, ermöglichte mir den Einstieg in die Assistentenlaufbahn (1948) und ersparte mir so – nachdem ich unwiederbringliche Jahre durch den Krieg verloren hatte – einen weiteren Zeitverlust, den der Umweg über die AHS [die Allgemeinbildende Höhere Schule] bedeutet hätte.“29 „Nun hatte ich unter der braunen Gewaltherrschaft von der Wiederherstellung eines christlichen Humanismus geträumt und darf als gewissermaßen entschuldigende Erklärung dafür meine damalige Jugend ebenso anführen wie die Schrekken der Zeit.“30 Diese etwas verlegen, aber ehrlich zugegebenen und Entschuldigung heischenden „Träume von einem christlichen Humanismus“ (die vor allem wohl Alois Dempf angeregt hatte) dürfen aber nicht falsch verstanden werden: Topitsch war nie ein Geistesknecht der katholischen Amtskirche. Ein freiheitlicher „christlicher Humanismus“ war für ihn damals so etwas wie ein Vehikel zur Moral, eine anzustrebende kulturelle Grundhaltung, die bei ihm selbst aber höchst paradoxe Züge aufwies: Humanismus in christlicher Gestalt, aber ohne Christengott. Dieser „christliche Humanismus“ erwies sich bald als pure Illusion, und „diese Illusion platzte bald genug“.31 Gründlich desillusioniert erkannte Topitsch sehr bald, welch schreckliche Verheerungen die beiden aufeinanderfolgenden Diktaturen im Geistesleben Österreichs und besonders an den Universitäten angerichtet hatten. Schon vor 1934 hatte das beängstigende Erstarken der reaktionär-klerikalen Kräfte die geistige Kultur stark beeinträchtigt. Nur ein Beispiel unter vielen: Durch die Verfassungsreform von 1929, welche die von Hans Kelsen entworfene, 1920 in Kraft getretene Verfassung veränderte, indem man ihr obrigkeitsstaatlich-autoritäre Züge verlieh, wurde Kelsen aus dem von ihm 27 28 29 30 31
I. Spf. d. Id., S. 257. WAA als Strukt. Wiss., S. 548. I. Spf. d. Id., S. 259. Ebenda. Ebenda.
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selbst geschaffenen Verfassungsgerichtshof entfernt „und folgte nach dieser Kränkung einem Ruf nach Köln […]“.32 Durfte schon der Vater der Verfassung nicht mehr über sein Werk wachen, kann man sich vorstellen, wie es in der Personalpolitik im allgemeinen und in der universitären Berufungspolitik im besonderen zuging. Die klerikofaschistische Diktatur (1934–38) veranstaltete dann einen wahren Kahlschlag, es wurde bis zu den Volkshochschulen hinunter „gesäubert“. Prominentestes Opfer unter vielen innerhalb der Fachphilosophie: Heinrich Gomperz, der unter Schuschnigg zwangspensioniert wurde.33 In der Nazi-Diktatur erfolgte daraufhin ein noch schlimmerer Kahlschlag: „1938 traf es dann den greisen Sigmund Freud und die jüdischen Psychoanalytiker und Positivisten […]“,34 der „Wiener Kreis“ wurde ebenso liquidiert wie das Institut von Karl und Charlotte Bühler. „So war es mir auch stets bewußt, welchen enormen Schaden Österreich durch die Vertreibung jüdischer Gelehrter – aber auch Künstler – erlitten hat.“ 35 „Indessen gab es auch 1945 und danach empfindliche personelle Verluste. Man beschränkte sich nicht darauf, braune Aktivisten, Ideologen und Karrieristen zu amovieren, sondern man ging aufgrund formaler und bürokratischer Kriterien vor. Aus meinen Fachbereichen in Wien traf es so Heinrich v. Srbik, den wohl größten österreichischen Historiker des Jahrhunderts; wie sich die Zweite Republik ihm gegenüber verhielt, bildet – milde ausgedrückt – kein Ruhmesblatt. Von den Amovierten ging dann der gleichfalls bedeutende Historiker Otto Brunner schließlich nach Hamburg, der namhafte Literaturhistoriker Josef Nadler nach Saarbrücken, der Kunsthistoriker Karl Oettinger nach Erlangen und schließlich der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr nach München. Wären diese Gelehrten wirklich politisch belastet gewesen, so hätten sie auch in Deutschland keine Chance gehabt.“36 Daß so viele bedeutende Forscher „amoviert“ wurden, ohne politisch gravierend belastet zu sein, ist auch dadurch zu erklären, daß die bloß mittelmäßigen Zunftgenossen den neuerlichen Regimewechsel und die damit verbundenen Entnazifizierungsverfahren als willkommene Gelegenheit nutzten, die geistig Höherrangigen, in deren Schatten sie bisher gestanden hatten, los zu werden. Oft ergab sich so ein Sieg der Mediokrität über die geistige Elite „durch ein Bündnis der Mittelmäßigen mit den Untermittelmäßigen“, wie Topitsch das einmal formulierte. Auch Arnold Gehlen, ein Klassiker der Philosophischen Anthropologie (in Wien Ordinarius für Philosophie in der Nachfolge von Robert Reininger) wurde als „Reichsdeutscher“ (im Burschenschaftsjargon) „cum infamia geschaßt“, wobei etliche Kollegen mitwirk32 33 34 35 36
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ten, die 1940 seine Berufung von Königsberg nach Wien (gegen den anfänglichen Widerstand der Gauleitung) betrieben hatten, und die auch nicht mehr und nicht weniger politisch belastet waren als er. Fazit: „Im Endergebnis glichen die österreichischen Universitäten 1945 nicht nur baulich einem Trümmerfeld, und ein rascher Wiederaufbau – auch in personeller Hinsicht – scheiterte an der finanziellen Not und dem mangelnden Verständnis vieler Politiker.“37 „Nun war in der restaurierten Demokratie die ministerielle Hochschulverwaltung an den ,schwarzen‘ Koalitionspartner gefallen, der alsbald im Sinne einer administrativen Verchristlichung seine neuen Geßlerhüte aufpflanzte.“38 Die schon im April 1945 gegründeten Nachfolgeparteien der ehemaligen Bürgerkriegsparteien, die „schwarze“ Österreichische Volkspartei (ÖVP, vormals: Christlich-soziale Partei) und die „rote“ Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) hatten nach den ersten freien Wahlen (26. November 1945) das Bürgerkriegsbeil begraben und sich zu einer Koalition zusammengetan, wobei die an Mandaten etwas stärkere ÖVP den Kanzler stellte und das Unterrichtsministerium, dieses für Schulen, Hochschulen, Universitäten und die meisten kulturellen Institutionen zuständige Mega-Ministerium, in ihrer „Reichshälfte“ ansiedelte. Damit kündigte sich die Rückkehr des politischen Katholizismus aus dem Exil an. Es zeigte sich, daß auch innerhalb der Rahmenbedingungen einer parlamentarischen Demokratie die mentale Erblast des unseligen Kleriko-Faschismus sich in höchst fataler Weise bemerkbar machte. Gestützt auf eine mitgliederstarke Akademikerorganisation, den CV, den „Cartellverband der katholischen (farbentragenden) Studentenverbindungen“ – dessen „Alte Herren“ nicht nur das Ministerium, sondern auch große Teile des Schulwesens und besonders die Universitäten dominierten –, die „Katholische Aktion“, die „Katholische Hochschülerschaft“ und einige einflußreiche Zellen des berüchtigten Laienordens „Opus Dei“, betrieben die „klerikalrestaurativen Kräfte“ mit allem Nachdruck eine „administrative Verchristlichung“.39 Dieses Vorgehen hatte eine politisch-ideologisch höchst eindimensional ausgerichtete, sozusagen „kyklopische“ Berufungspolitik zur Folge. In erster Linie waren davon natürlich die weltanschaulich relevanten Fächer wie Philosophie, Pädagogik, Human- und Gesellschaftswissenschaften betroffen, aber sogar in die Biologie (!) wurde hineinregiert. Dazu ein besonders skandalöses Fallbeispiel: Konrad Lorenz, der namhafte Ethologe und spätere Nobelpreisträger, der damals schon als Koryphäe galt, kam 1948 als Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Österreich zurück. Karl von Frisch, der
37 Ebenda. 38 Ebenda, S. 259. 39 NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 39.
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berühmte Bienenforscher (und spätere Nobelpreisträger), der Anfang 1950 wegen unzumutbarer restriktiver Bedingungen einen Ruf nach München angenommen hatte, setzte sich sehr dafür ein, daß Lorenz, der ab dem WS 1949/50 an der Universität Wien als Dozent lehrte, sein Nachfolger in Graz werde.40 Lorenz wurde „zweimal, zuerst primo et unico loco, dann, als gegen diesen Einservorschlag sich Einwendungen erhoben, in einem Dreiervorschlag an erster Stelle für das vakant gewordene Ordinariat für Zoologie an der Universität Graz vorgeschlagen“.41 In Wien wiederum beantragten die Zoologieprofessoren Otto Storch und Wilhelm Marinelli wenigstens ein Extraordinariat für Lorenz. Doch der damalige ÖVP-Unterrichtsminister, Felix Hurdes, wies alle Vorschläge und Petitionen zurück. Interne Begründung: K. Lorenz sei ein „gläubiger (!) Darwinist“.42 Lorenz selbst hatte „als verläßliche inside information“ erfahren, „man wolle nicht, daß den steirischen Mittelschulanwärtern die Biologie in so deszendenztheoretischer Form serviert werde, wie dies in der vergleichenden Verhaltenslehre der Fall ist“.43 Was übrigens genau mit meinen eigenen Erfahrungen übereinstimmt: In den Fünfzigerjahren wurde uns Lehramtskandidaten für das Fach Biologie in der „Besonderen Unterrichtslehre“ eingeschärft, unseren Schülern die Evolutionstheorie ja nicht als wohlfundierte, verläßlich verifizierte Theorie darzubieten, sondern bloß als „Darwinistische Hypothese“, um nicht den „Kreationismus“, wie man die Lehre von der Erschaffung des ersten Menschenpaares durch den göttlichen Schöpfer umschrieb, zu desavouieren. Dazu wieder Topitsch: „Jedenfalls wird dem Unterrichtsminister Drimmel [1954 – 64], einer wahren Memnonssäule der damaligen Kulturpolitik, der Ausspruch nachgesagt, unter ihm bekomme kein Positivist und kein Psychoanalytiker eine Professur. Ob dieser Ausspruch authentisch ist, mag offen bleiben, jedenfalls hat Drimmel in diesem Sinne gehandelt.“44 Den schwarzen Unterrichtsministern zwischen 1946 und 1970 hätte man als Warnung ins Stammbuch schreiben sollen: Seid vorsichtig im Umgang mit Philosophen, es könnte sonst dem einen oder anderen passieren, daß er wie Minister Wöllner, der Kant (gestützt auf eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms II.) 1794 wegen „Entstellung und Herabwürdigung des Christentums“ maßregelte, als Feindbild in die Philosophiegeschichte eingeht. Besonders empörte sich Topitsch darüber, „daß ein Anwärter auf eine Philosophieprofessur hinter den verschlossenen Polstertüren des damals ,kohlschwarzen‘ Unterrichtsministeriums nach seiner christkatholischen Rechtgläubigkeit befragt wurde – da
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Benedikt FÖGER, Klaus TASCHWER: Die andere Seite des Spiegels, Wien 2001, S. 190. Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 201. Ebenda, S. 191. I. Spf. d. Id., S. 259f.
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übrigens seine Antwort unbefriedigend ausfiel, wurde eine kulturpolitisch genehmere Persönlichkeit vorgezogen“.45 Das Resultat dieser Kulturpolitik „war eine erstickende provinzielle Restauration“,46 „ein kläglicher Klerikalismus erzeugte in den heiligen Hallen der Alma mater vielfach die Atmosphäre eines geradezu mit Händen greifbaren Obskurantismus, einer schleichenden intellektuellen Unredlichkeit“.47 Aber wieder zurück zum Anfang der akademischen Laufbahn von Topitsch. Obwohl Prof. Dempf, dem er seine Assistentenstelle verdankte, gläubiger Katholik war, blieb auch er von Ungemach nicht verschont: „Eine Clique provinzieller Kleingeister entfaltete einen regelrechten Heckenschützenkrieg gegen Dempf, der schließlich einen Ruf nach München annahm.“48 Vor seinem Abgang setzte Dempf aber dankenswerter Weise noch durch, daß sein Assistent, der zunächst nur bis 1950 bestellt war, auch weiterhin am Institut bleiben konnte, und zwar als „Institutsassistent“, der die Institutsgeschäfte zu führen und die Bibliothek zu betreuen hatte und keiner Lehrkanzel direkt zugeordnet war. Für Topitsch bedeutete der Abgang von Dempf in intellektueller Hinsicht kein gravierendes Ereignis, da er schon begonnen hatte, sich immer weiter von ihm zu entfernen.49 Durch seine Beschäftigung mit der Wissenssoziologie hatte Dempf Topitsch auf Max Weber, den „Lehrer einer illusionslosen Weltbetrachtung“50 aufmerksam gemacht, dessen Werke zu einer Neuorientierung seines Denkens führten. Im Kampf gegen die Bevormundung durch einen „kompakten Austro-Obskurantismus“, so führt Topitsch aus, „las ich mich immer mehr in die Texte jener Wiener, zu erheblichem Teil jüdisch bestimmten Aufklärung und Moderne der Zeit um 1900 ein […] und entdeckte etwa Hans Kelsen, Heinrich Gomperz, den ,Wiener Kreis‘, Sigmund Freud, Karl Popper und andere. Das alles habe ich als Befreiung empfunden. Dementsprechend waren aber damals jene Denker höherenorts suspekt, und die Matadore der christlichen Restauration mögen gar nicht unglücklich darüber gewesen sein, daß ihnen die Nazis diese unbequemen Geister vom Halse geschafft haben.“51 An dieser Stelle ist eine Reflexion auf das Spiel des Zufalls im Leben und insbesondere in der akademischen Laufbahn angebracht: Hätte Topitsch nicht während der Nazizeit mit Dempf Kontakt gehalten und wäre er nicht von diesem aufgrund gemeinsamer „Träume von einem christlichen Huma-
45 46 47 48 49 50 51
NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 46. Ebenda, S. 39. WAA als Strukt. Wiss., S. 548f. Ebenda, S. 548. Ebenda, S. 549. NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 39. I. Spf. d. Id., S. 259f.
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nismus“ als weltanschaulicher Bundesgenosse angesehen worden, dann hätte er ihm die Assistentenstelle gewiß nicht angeboten. Was übrigens beweist, daß gerade in der Philosophie Mißverständnisse sich manchmal auch positiv auswirken können. Wäre Dempf in Wien geblieben, dann hätte er früher oder später bemerken müssen, daß Topitsch in seinem Denken eine Richtung einschlug, die ihn – nach dem Zeugnis von Topitsch selbst – später „schwer enttäuscht, ja geradezu entsetzt“ hat. Hätte dann bei Dempf die akademische Verpflichtung zur Toleranz seine christkatholische Überzeugung neutralisieren können? Hätte er einen Assistenten ertragen können, der, zum Aufklärer mutiert, die Grundfesten seiner Weltanschauung ideologiekritisch untergräbt? „Virtual history“ auch in der persönlichen Lebensgeschichte: Was wäre, wenn …? Und hätte Topitsch in Ermangelung eines direkten Einstieges in die Universitätslaufbahn Gymnasiallehrer werden müssen, dann wäre es ihm unter den obwaltenden Umständen kaum gelungen, in Österreich an einer Universität Fuß zu fassen. C’est la vie! Und da soll noch einer sagen, daß wir nicht in einer „entfremdeten“ Gesellschaft leben! Adorno sagte einmal im Seminar: „Die von uns als normal bezeichnete Gesellschaft verhält sich zu den Totalitarismen nicht wie das Normalbewußtsein zum Wahnsinn, sondern wie der latente zum manifesten Wahnsinn.“ Topitsch hatte die Ideologien, denen er auf seinem Lebensweg begegnet war, und die ihre Absolutheitsansprüche mit politischen Machtmitteln rücksichtslos durchsetzten, derart bedrückend und bedrohlich empfunden, daß er begann, „durch einen Gegenangriff auf die Ideologien der Geistesfreiheit zumindest ein wenig Raum freizukämpfen“.52 „Je mehr ich durch den Anschluß an die aufklärerischen und ideologiekritischen Traditionen geistig auf Kollisionskurs mit der herrschenden Richtung geriet, umso dringlicher stellte sich die Frage, wie ich mich in dieser Situation äußerlich verhalten sollte. Auf der einen Seite waren mir opportunistische Anpassung und Leisetreterei verhaßt, andererseits konnte ich es mir in meiner abhängigen Stellung nicht leisten, die damals kulturpolitisch Maßgebenden direkt zu provozieren. Doch hatte ich schon im Dritten Reich gelernt, wie man seine Meinung ausreichend deutlich formulieren kann, ohne den Gewalthabern geradewegs ins Messer zu laufen […].“53 Ehe aber der sich ankündigende geistige Befreiungsprozeß so richtig in Gang kam, „gab es noch ein kurzes Zwischenspiel bei Robert Reininger, der sich um eine bei Metaphysikern seltene Klarheit bemühte und den ich auch heute noch für einen bedeutenderen Denker halte, als die auf jenem Gebiet so häufigen ,Nebelwerfer‘“.54 Nach eingehendem Studium von Reiningers Metaphysik der Wirklichkeit,55 mit der er schon bei Studienbeginn 1937 bekannt geworden 52 53 54 55
WAA als Strukt. Wiss., S. 549. I. Spf. d. Id., S. 260. WAA als Strukt. Wiss., S. 549. Robert REININGER: Metaphysik der Wirklichkeit, 2 Bde., 2. Aufl., Wien 1947–1948.
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war, charakterisierte er diese treffend als eine in der Nachfolge Kants entwickelte „transzendentalphilosophische Emanationslehre“ und fand bald heraus, daß das „Urerlebnis“, der (auch als „Erlebnisgewißheit“ oder „Seinsgewißheit“ umschriebene) Zentralbegriff, nur durch die Punktualisierung des Bewußtseinsbegriffes auf das Gegenwartsbewußtsein, auf die Aktualität des gegenwärtigen Ich-Bewußtseins, und damit durch die Negation der Wirklichkeit der Zeit, welche somit gleichsam zum „Schleier der Maya“ wird, seinen behaupteten metaphysischen Absolutheitscharakter systemimmanent aufrecht zu erhalten vermag. Topitsch beabsichtigte, eine längere Abhandlung über Reiningers Philosophie zu schreiben, doch andere Themen erwiesen sich dann doch als vorrangig. Erst in Heil und Zeit (1990)56 beschäftigte er sich wieder mit der Philosophie Reiningers, bezeichnenderweise im Kapitel „Heil jenseits der Zeit“. Da er sich in seinem akademischen Umfeld dauernd mit Argumentationsstrategien konfrontiert sah, die hauptsächlich aus – zum Teil sogar reflexiv raffinierten – „Immunisierungsstrategien“ bestanden, welche auf „Leerformeln“, auf Begriffe ohne inhaltliche Bestimmtheit hinausliefen und orakelhaft interpretiert wurden, begann er mit einer gründlichen Analyse dieser Pseudorationalisierung nebuloser Irrationalismen. Über die Kritik der Leerformeln der akademischen Philosopheme hinaus wandte er sich der Analyse jener Leerformeln zu, die geschichtsmächtige Religionen und Ideologien „intensiv benützten, um ,alles und das Gegenteil von allem‘ je nach Bedarf zu rechtfertigen oder zu bekämpfen“.57 „Wichtige Anregungen dazu“, führt Topitsch aus, „verdanke ich auch meinem Lehrer, väterlichen Freund und späteren Kollegen August M. Knoll, der [später, 1962] in einer damals fast revolutionär empfundenen Schrift darlegte, wie die Leerformeln des katholischen Naturrechts im Laufe der Zeit zur jeweiligen Legitimierung der wechselnden politischen Interessen der Kirche verwendet wurden.“58 Mit diesen Untersuchungen schnitt Topitsch das kapitale Thema „Ideologie, Politik, Macht und Moral“ an, das bestimmend wurde für die Weiterentwicklung seines Denkens. Die erste Frucht dieser Untersuchungen war der Aufsatz „Das Problem des Naturrechts“ (1950), den er dann zu seiner Habilitationsschrift Das Problem der Wertbegründung ausarbeitete, die auf eine stark von Max Weber beeinflußte fundamentale Kritik aller Naturrechtsideologien hinauslief.59 1951 erfolgte die Habilitation, „bei der mein Nominalfach mit ,Praktische Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Geschichts- und Sozialphilosophie‘ umschrieben wurde“.60 Seine Lehrtätigkeit als 56 Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse, Tübingen 1990 (2. Kap.: „Heil jenseits der Zeit“). 57 I. Irrg. d. ZG, S. 13. 58 August Maria KNOLL: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, Wien 1962, 2. Aufl., NeuwiedBerlin 1968. 59 I. Spf. d. Id., S. 260f. 60 WAA als Strukt. Wiss., S. 548.
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Dozent zog nach und nach immer mehr Hörer an, als sich herumsprach, daß da einer ist, der Anderes und Interessanteres zu bieten hat als die etablierten „Restaurationsphilosophen“. Auch ich, ein damals 21-jähriger Philosophiestudent im 6. Semester, war von Anfang an mit dabei. Topitschs Lehrveranstaltungen, die Diskussionen in dem kleinen Kreis, der sich um ihn zu bilden begann, und viele private Gespräche wirkten auf mich wie kritische Wecksignale, die mich allmählich aus meinem anfänglichen transzendental-idealistischen Schlummer holten. Das half mir, mich einer philosophischen Denkrichtung zu entwinden, die ich in jugendlicher Unerfahrenheit fälschlich für eine akzeptable Alternative zur christkatholischen Restaurationsphilosophie gehalten hatte, die mich aber, um im Blick auf den jungen Marx zu reden, „wie eine falsche Sirene dem Feind in die Arme trug“, nämlich dem Feind in Gestalt einer insgeheim antiaufklärerischen pseudoidealistischen Rechtfertigungs- und Versöhnungsphilosophie mit vagen, selten angedeuteten, aber stets mitgedachten konservativen, ja autoritären Sinnimplikationen. Ich meine damit eine in der Nachfolge Reiningers entwickelte, aus dem Fundus des – gründlich mißverstandenen, auf eine „Schwundstufe“61 herabgesunkenen – klassischen Deutschen Idealismus schöpfende Denkrichtung, die in intentione obliqua durch „transzendental-dialektische Reflexion auf die Reflexion“ das in intentione recta „selbstunbewußt“ verlaufende, vorgeblich die Sicht auf alle wesentlichen Sinnprobleme verstellende Verstandesdenken radikal zu limitieren suchte, um dasselbe dann vermöge eines sinnerfassenden Vernunftdenkens zu transzendieren. Wobei aber diese methodische „Negation der Negativität des Verstandesdenkens“ (infolge der Ablehnung der Hegelschen Originaldialektik) nie zu „bestimmten Negationen“, nie zu „negativ vermittelten“, aber inhaltsreichen „Affirmationen“ im Sinne Hegels gelangte, sondern bei unbestimmten Negationen stehenblieb, und somit nur Grenzbegriffe bzw. „Noumena im negativen Verstande“ (Kant) zu produzieren vermochte, die so unbestimmt und inhaltsarm waren, daß sich mit ihnen alles und nichts „vermitteln“ ließ, weshalb alle Versuche, auf diese Weise ein „System der philosophischen Wissenschaften“ (Hegel) aufzubauen, in erschöpfenden Sisyphus-Arbeiten versandeten.62 Was dabei herauskam, ließe sich am besten mit dem sinngemäß variierten Spruch des Mephistopheles in Goethes Faust ausdrücken: „Ich sag’ es dir: ein Kerl der [so] reflektiert, / Ist wie ein Tier, auf dür61 In seinem Buch Heil und Zeit, Tübingen 1990, prägt TOPITSCH den trefflichen Begriff „Spätform und Schwundstufe“, S. 97ff. 62 In meiner Dissertation (Wien 1956) „Das Fundamentproblem der philosophischen Methode in transzendental-dialektischer Formulierung“ setzte ich mich mit den neuzeitlichen Versuchen zur methodischen Selbstbegründung der Philosophie in der Neuzeit von Cartesius bis Kant und von Kant über Fichte zu Hegel auseinander, übte Kritik an allen, vermochte aber das z. T. implizierte Versprechen nicht einzulösen, sondern endete mit dem Entwurf eines Methodenkonzeptes, das sich später nicht durchführen ließ. Umso erstaunter war ich darüber, daß meine Arbeit höchstes Lob erntete und ihr im Gutachten die Qualität einer Habilitationsschrift attestiert wurde. Ein Beispiel dafür, daß in dieser Denkatmosphäre gekonnte, stilgerechte Refle-
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rer Heide / Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, / Und ringsherum liegt schöne grüne Weide.“63 Man wird dabei auch an das Urteil Kants über Fichtes Wissenschaftslehre erinnert: Sie komme ihm vor „wie das Haschen nach einem Gespenst“. Kant mag Fichte unrecht getan haben, aber im Hinblick auf eine solche Denkweise trifft sein Urteil ins Schwarze. Und Topitsch sagte über diese mit (pseudo-)transzendentalen Grenzbegriffen operierenden Immunisierungsstrategien im Blick auf Kants berühmtes Diktum, daß das „Verfahren“ der Metaphysik „bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei“:64 „Ich kenne noch Schlimmeres – nämlich das Herumtappen unter bloßen Grenz-Begriffen, die letztlich nichts anderes zum Inhalt haben als die angeblich eingesehene Grenze (des Verstandesdenkens) selbst, so daß wir, wie ständig expressis verbis versichert wird, vom Jenseits dieser Grenze nur ein negatives Wissen (?!) haben können.“ Erwähnung verdient auch, daß Topitsch sich mit dem Werk zweier Künstler beschäftigte, „die mich mit ihrem Interesse für die Nachtseiten des menschlichen Lebens schon zur Zeit meiner Reifeprüfung in Bann schlugen: Francisco Goya und Charles Baudelaire. Nun konnte ich in meinen wissenschaftlichen Arbeiten kaum auf die beiden eingehen. Doch habe ich als Assistent […] die Dissertation von Ingeborg Bachmann (über die kritische Rezeption der Existenzphilosophie Martin Heideggers) betreut (Promotion 1950), und die Kandidatin auf Goyas Bild ,Saturn seine Kinder verschlingend‘ und Baudelaires Gedicht ,Le gouffre‘ aufmerksam gemacht, die dann den Schluß ihrer Arbeit bildeten.“ 65 Eine Redewendung Kants benutzend, ließe sich sagen: Das Studienjahr 1953/54 „gab Topitsch viel Licht“. Ein Forschungsaufenthalt an der Harvard University machte ihn mit Denkpositionen vertraut, aus deren Perspektive ihm der durch und durch provinzielle „Austro-Obskurantismus“ wie eine zwergenhafte Mißgeburt erscheinen mußte. „Ausgezeichnete Bibliotheken und persönlicher Kontakt mit den Professoren Philipp Frank und C. G. Hempel ermöglichten es mir, meinen Gesichtskreis wesentlich zu erweitern.“ 66 Welch ein Understatement! Seine breit gefächerten intensiven Studien wirkten auf sein bereits erworbenes Problembewußtsein wie ein Katalysator, der, um eine Lieblingsfloskel Kants ins (Sprach-)Spiel zu bringen, eine veritable „Revolution der Denkart“ bewirkte, von der er geradezu enthusiastisch zu berichten wußte. In der Neuen Welt, die damals stark vom Geiste der aus Europa vertriebenen Philosophen und
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xionsakrobatik derart imponierte, daß kritische Negationen für affirmative Denksetzungen und ein Scheitern für einen „bedeutenden Ansatz“ gehalten werden konnte. GOETHEs Faust I von 1830: Studierzimmer, „ein Kerl der spekuliert“. Immanuel KANT: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Aufl. (1787), Berlin 1968, S. 11. WAA als Strukt. Wiss., S. 548. Ebenda, S. 549.
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Wissenschaftler geprägt war, wurde ihm seine Aufgabe vollends bewußt: eine fundamentale Metaphysik-Kritik zu erarbeiten, die versucht, die tiefsten Wurzeln aller Metaphysik förmlich auszugraben, welche bis in die Tiefenschichten der hochkulturellen Hochmythologie reichen, die vielfach aus den Sedimenten vorgeschichtlicher archaischer Wirklichkeitsauffassungen, Weltdeutungen und Religionsformen bestehen; und die sich zudem das Forschungsziel setzt, typische Grundmodelle, gewissermaßen soziokulturelle Archetypen der menschlichen Welt- und Selbstinterpretation, ausfindig zu machen, welche die menschliche Daseinsverfassung schlechthin, die vielberufene Conditio humana, in jeweils kulturbedingter Weise thematisieren. Nach diesen kreativen Höhenflügen „kam mir nach meiner Rückkehr der Wiener Obskurantismus noch erstickender vor als früher. Eine von Helmut Schelsky angeregte Gastprofessur an der Universität Hamburg im SS 1955 führte nicht zur Berufung auf das vakante Ordinariat – offenbar war auch hier konsequente Aufklärung nicht gefragt. Damit begann in Wien eine bedrückende Durststrecke. Zwar waren mir Opportunismus und Duckmäuserei verhaßt, aber ich konnte in meiner abhängigen Stellung als noch nicht in ein festes Dienstverhältnis übernommener [„nichtständiger“] Assistent keinen Frontalzusammenstoß mit den Matadoren des Dunkelmännertums riskieren. So mußte ich für einige Zeit eine Art Rumpelstilzchen-Spiel ausführen, doch als ich das Manuskript zu meinem Buch ,Vom Ursprung und Ende der Metaphysik‘ im Frühjahr I957 abgeschlossen hatte, stand ich vor der Alternative, das brisante Stück in der Schreibtischlade zu lassen oder es zu publizieren. Die geisteswissenschaftlichen Lektoren zweier Verlage in Deutschland, wo gerade die restaurative Welle einen Höhepunkt erreicht hatte, lehnten ab, doch der Verlag Springer (Wien), der die Bücher der Neopositivisten veröffentlicht hatte, brachte den Text mit dem Impressum 1958 heraus (2. Aufl., München: dtv 1972). Er war als Herausforderung gedacht und wurde auch so verstanden. Meine Lage in Wien hat das nicht verbessert.“ 67 Zur Illustration seiner mißlichen Lage in Österreich sei eine „Episode von den Alpbacher Hochschulwochen 1957“ erwähnt. „Dort trug ich einige Grundgedanken meines im Satz befindlichen Buches vor und fand in der vergleichsweise liberalen Atmosphäre dieser Veranstaltung lebhaftes Interesse und erfreuliche Anerkennung. Im selben Rahmen sprach auch der damals prominente christliche Existenzialist Gabriel Marcel, erntete aber nur einen Achtungserfolg. Vielleicht auch deshalb äußerte er – was mir brühwarm hinterbracht wurde – über mich: ,Il est marxiste. Il est très dangereux‘. Dergestalt als sehr gefährlicher Marxist denunziert zu werden, kam unter [dem Unterrichtsminister] Drimmel einem Uriasbrief nahe.“68 Jedenfalls bedeutete das Buch Vom 67 Ebenda, S. 549f. 68 I. Spf. d. Id., S. 261.
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Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, das seinem Verfasser die Mitgliedschaft im Pariser Institut International de Philosophie eintrug, für Topitsch den ersten Durchbruch als Autor, der ihn in weiten Kreisen bekannt machte – auch in kommunistischen. „Indessen hat man die Affinität meiner Weltanschauungsanalyse mit marxistischem Gedankengut auch am anderen Ende des ideologischen Spektrums bemerkt und sondierte, ob man mich gewinnen könnte. So traf ich mich mit einem kommunistischen Intellektuellen (dem Philosophen Walter Hollitscher, der seinerzeit am ,Wiener Kreis‘ teilgenommen, sich aber dann dem Kommunismus zugewandt hatte)69 bei einer gemeinsamen Bekannten – also gewissermaßen auf neutralem Boden –, doch das Gespräch dokumentierte in geradezu dramatischer Form die geistige Unfreiheit im Bereich der damaligen sowjetischen Staatsscholastik, […] er sprach, als ob unter dem Tisch ein Tonband liefe, das er dann den Parteiautoritäten vorlegen mußte.“70 „Als ich schließlich höflich, aber bestimmt abwinkte, bemerkte mein Partner: ,Sie wischen mit leichter Hand einen Kardinalshut vom Tisch.‘ Doch Kardinalshüte zu solchen Bedingungen sind für mich wenig attraktiv. Wohl auf diese Abfuhr hin ließ der rote Bär ein formidables Wutgeheul vom Stapel: In der Zeitschrift ,Voprosy filosofii‘ erschien (1959) ein ganzer Besprechungsaufsatz über mein Buch (unter dem Titel ,Der feige Nihilismus des heroischen Positivisten‘),71 der zwar intensive Unmutsäußerungen, aber kaum Argumente enthielt. Gewiß existiert auch ein KGB-Akt über mich, aber er ist meines Wissens nicht freigegeben.“72 „Nichtsdestoweniger war er [dieser Aufsatz] in doppelter Hinsicht interessant. Da gab es den mir von den Matadoren der Restauration wohlbekannten Vorwurf des ,Nihilismus‘, der Artikel nahm aber auch auf Äußerungen Bezug, die ich nirgends in meinen gedruckten Veröffentlichungen, sondern nur in meinen Vorlesungen gemacht hatte. Wurden meine Wiener Vorlesungen von Konfidenten observiert oder waren jene Äußerungen auch in dem Gespräch mit Hollitscher gefallen und von diesem – eventuell sogar auf einem versteckten Tonband festgehalten – seinen Auftraggebern weitergegeben worden?“73 „Nichtsdestoweniger war ich damals an der vom Austro-Obskurantismus geprägten Wiener Fakultät wirklich etwas wie ein Linksaußen“(!),74 „und überdies hatte ich in meine Weltanschauungsanalyse tatsächlich marxistische Motive aufgenommen, vor allem in dem Versuch, Grundformen der mythisch-religiösen und metaphysischen Welt69 70 71 72 73 74
NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 41. I. Spf. d. Id., S. 261; NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 41. NR i. W. d. Jh., S. 41. I. Spf. d. Id., S. 261. NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 41f. I. Spf. d. Id., S. 261.
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deutungen aus Grundsituationen der sozialen Produktion und Reproduktion des Lebens herzuleiten. Den Marxismus als Heilslehre und Herrschaftsideologie habe ich dagegen stets mit Nachdruck kritisiert.“75 „Als ich im Herbst 1959 auf Einladung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau zwei Vorträge hielt, hörte ich es hinter meinem Rücken tuscheln, nun hätte ich mich endgültig entlarvt. Tatsächlich aber war die Einladung auf Anregung polnischer Wissenschaftler erfolgt, die unter Inkaufnahme eines erheblichen Risikos die sowjetische Staatsscholastik – den dialektischen Materialismus – mit den Mitteln der modernen Logik und Wissenschaftstheorie einer einschneidenden Kritik unterworfen hatten. Zu ihnen zählten etwa Kazimierz Ajdukiewicz, Leszek Kolakowski, Stanislaw Ossowski und Maria Ossowska sowie Tadeusz Kotarbinski. Dabei handelte es sich auch um eine Verteidigung der geistigen Freiheit gegen eine totalitäre Ideologie, eine Verteidigung, die ein hohes Maß an Mut und Scharfsinn erforderte.“76 „Diese Leistungen hat dann Zbigniew A. Jordan in seinem Buch ,Philosophy and Ideology. The Development of Philosophy and Marxism-Leninism in Poland since the Second World War‘ (Dordrecht 1963) dem westlichen Publikum bekannt gemacht, leider ohne die gebührende Beachtung zu finden. Auf dieser glänzenden Folie wirkte die lammfromme Ergebenheit, mit der man bei uns die klerikale Restauration mitmachte, doppelt erbärmlich.“77 1959 erhielt ich selbst eine Assistentenstelle am I. Philosophischen Institut, das nach Abspaltung jenes Teiles, der der Lehrkanzel für „Christliche Philosophie“ unterstand,78 in der alten Form bestehen blieb, und wurde so mit meinen 29 Jahren Kollege des um 11 Jahre älteren Topitsch – aber auch sein Leidensgenosse. Topitsch hatte sein „Rumpelstilzchen-Spiel“ mit der Publikation seines brisanten Erstlings nolens volens beendigt, für mich hingegen fing dieses fatale Spiel erst an. Ich war seit jeher auf der Suche nach einer Philosophie gewesen, „die als Wissenschaft wird auftreten können“,79 bin aber dabei in die Sackgasse jener transzendentalen Bewußtseinsphilosophie geraten, die schon Erwähnung fand. Während andere sich mit leerformelartigen, beliebig interpretierbaren Grenz-Begriffen zufrieden gaben, versuchte ich geradezu krampfhaft, diese Denkweise methodisch zu transzendieren, um zu eindeutigen Begriffsinhalten zu kommen, die einer Überprüfung standhalten und sich systemförmig miteinander verbinden lassen – was unter den schon angedeuteten Voraussetzungen ein zum Scheitern verurteil-
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NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 40. I. Spf. d. Id., S. 261. NR i. W. d. Zeitzeuge, S. 41. Die Institutsteilung war zustande gekommen, weil die Ordinarien sich nicht über das Institutsbudget und den Personalplan einigen konnten. 79 Immanuel KANT: Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783).
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tes Unternehmen darstellte, sodaß ich mich schließlich wie Tantalus und Sisyphus zugleich fühlte. In einem letzten Anlauf versuchte ich, nach dem Muster prominenter Neu-Hegelianer wie Richard Kroner, Gerardus Bolland, Jacob Hessing und andere, welche die Seins-Logik Hegels (und damit auch seine Lehre vom absoluten Geist) verwarfen und ihre Denkmodelle vorzugsweise an der Phänomenologie des Geistes orientierten, eine Bewußtseinstheorie zu entwerfen, die konkret inhaltliche Aussagen über die wesentlichen Phänomene des Kulturbewußtseins in seinem Verhältnis zum individuellen Ich-Bewußtsein ermöglichen sollte. Ich spielte alle Denkmöglichkeiten durch, die der oft in der Nachfolge neukantianischer Schulen entwickelte Neu-Hegelianismus bot, bis es mir endlich wie Schuppen von den Augen fiel und ich einsah, daß alle Spielarten der neuhegelianischen Bewußtseinsphilosophie nur abgeblaßte, schemenhafte „Spätformen und Schwundstufen“ (Topitsch) des Hegelschen Systems waren. Zwar operierten diese mit inhaltlich bestimmten Begriffen, sie produzierten aber doch nur Scheinerkenntnisse, welche die intendierte Wirklichkeit des menschlichen Bewußtseins, der Kultur und der Geschichte nicht zu erfassen vermochten, weil sie die Entwicklung des „Kulturbewußtseins“ letztlich doch teleologisch-anagogisch gewissermaßen als eine bewußtseinsphilosophisch säkularisierte Abfolge Hegel’scher „Geistes-Gestalten“ auffaßten. Weshalb, recht besehen, die Kritik Feuerbachs und der Jung- und Linkshegelianer an Hegel, „dem kolossalen alten Kerl“ (F. Engels), auch auf seine neuhegelianischen Epigonen weitgehend zutraf. Nach dem Scheitern dieses letzten Versuches, jenen mit Leerformeln und Immunisierungsstrategien operierenden „Transzendentalismus“, in den ich anfänglich hineingeraten war, zu überwinden, begriff ich endgültig, daß sein „Verfahren“ – pointiert ausgedrückt – meist darin bestand, ein sich aufdrängendes Sachproblem durch eine reflexive Volte in ein Reflexionsproblem zu verwandeln, das dann durch hochabstrakte Reflexionsakrobatik einer Scheinlösung zugeführt wurde; und daß ich von vorneherein sozusagen „auf dem falschen Dampfer“ gewesen bin. Deshalb habe ich – vorerst unbemerkt – die vertrackte Denkart gänzlich verworfen und mich zunächst der Philosophischen Anthropologie im Sinne einer empirisch fundierten „Gesamtwissenschaft vom Menschen“ (A. Gehlen) zugewandt. Durch diesen „heimlichen Abfall“ geriet ich schon zu Beginn in eine höchst prekäre Situation, die derjenigen, in der sich Kollege Topitsch befand, um nichts nachstand; mit dem Unterschied, daß er nach zehn Dienstjahren im Status eines „nichtständigen“ Assistenten als Habilitierter automatisch zum „ständigen“, das heißt beamteten Assistenten ernannt worden war – sodaß er nicht mehr Gefahr lief, durch eine Verweigerung der Verlängerung des jeweils befristeten Dienstvertrages (ohne Angabe von Gründen) durch einen Federstrich des Institutsvorstandes sozusagen auf kaltem Wege aus seinem Amt entfernt zu werden –, während mir als „nichtständigem“ Assistenten das bei jeder anstehenden Vertragsverlängerung zustoßen konnte.
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Später verschlimmerte sich übrigens meine Lage noch dadurch, daß besagter „Transzendentalismus“ die Inhaltsarmut seiner grenzbegrifflich „vermittelten“ Leerformeln durch eine energische Hinwendung zu positiven christlichen Glaubensinhalten wettzumachen trachtete, was mir, dem „dezidierten Nicht-Christen“ (wie Goethe sich nannte),80 „Rumpelstilzchenspiele“ aller Art zunehmend unmöglich machte, so daß ich schließlich mit einer Unduldsamkeit, auf die ich eigentlich nicht gefaßt war, vollends in die Außenseiterrolle gedrängt wurde. Obwohl die Beamtung ihm Rückhalt bot, war Topitsch in keiner beneidenswerten Lage: Er war mit seinen 40 Jahren ein überalterter Assistent, den man 1956 (auf Betreiben R. Meisters, des Ordinarius für „Pädagogik und Kulturphilosophie“) mit dem Titel eines Extraordinarius (tit.a.o. Prof.) abgespeist hatte, und der, als „Metaphysik-Killer“ voll ins Schußfeld des obsoleten Obskurantismus geraten, nicht die geringste Chance hatte, in Österreich je eine Professur zu erhalten. Über diese seine triste Lage sagte er einmal, er versuche, sich „mühsam genug wie das Entlein im zufrierenden Teich ein wenig geistigen Freiraum offenzuhalten“,81 wählte dann aber ein drastischeres Gleichnis: „Ich fühle mich wie in einem auf Grund gegangenen U-Boot, in dem der Sauerstoff allmählich knapp wird und habe kaum noch Hoffnung auf eine Tauchrettung.“ Weil aber Topitsch seinen Humor so gut wie nie verlor, scherzte er im Hinblick auf die geistige Leistungsfähigkeit unserer akademischen Lokalgrößen: „Was ist bei uns der Unterschied zwischen einem ordentlichen und einem außerordentlichen Professor? Der ordentliche leistet nie etwas Außerordentliches, der außerordentliche aber bringt nicht einmal etwas Ordentliches zu Stande.“ Daß wir in zwei, nur durch einen Vorraum und einen Seminarraum getrennten Zimmern in der baufälligen, verwahrlosten Bruchbude des (nur durch zwei Kohleöfen beheizbaren) Instituts in der Liebiggasse hinter der Universität hausten, hatte auch seine Vorteile: Obwohl die Assistententätigkeit infolge des akuten Personalmangels (nur ein Assistent pro Lehrkanzel) und der stetig steigenden Studentenzahlen immer anstrengender und zeitraubender wurde, hatten wir während der langen Dienstzeiten doch fast täglich Gelegenheit zur Erörterung philosophischer und kulturpolitischer Themen. Da Topitsch begonnen hatte, die Ergebnisse der Vergleichenden Verhaltensforschung in seine Weltanschauungslehre einzubeziehen und ich mich wiederum, begünstigt durch mein zusätzliches Biologiestudium, der Philosophischen Anthropologie und ihrem bioanthropologischen Ansatz (besonders bei A. Gehlen) zugewandt hatte, ergab sich eine für beide Teile überaus fruchtbare Symphilosophie, bei der sich unsere philosophischen Positionen – seine reife und meine noch junge – auf
80 Karl LÖWITH: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, 5. Aufl., Stuttgart 1964, S. 34 und 35ff. 81 NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 45.
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Sprungweite annäherten. Ich lieferte ihm einschlägige Literatur über Biologie und Ethologie, und er bestärkte mich in meinem damaligen Vorhaben, eine Erkenntnis-Anthropologie auszuarbeiten, die eine Brücke zwischen Anthropologie und Wissenschaftstheorie zu schlagen vermag. Es ergab sich, daß er mir auch viel aus seinem Leben erzählte und mir seine Kriegserlebnisse ausführlich schilderte. Natürlich zogen wir auch weidlich her über die damaligen Kultur- und Hochschulpolitiker, die wir intra muros unverblümt als Kleriko-Faschisten apostrophierten, und wir verspotteten die „Lehrstuhlpfaffen“ als „akademische Lemuren“, die uns das Leben schwer machten. Grund zum Raisonnieren, Schimpfen und Fluchen hatten wir ja genug, da die österreichischen Universitätsassistenten in illo tempore eigentlich nur staatlich schlecht besoldete Leibsklaven der Ordinarien oder „akademische Domestiken“82 waren, deren Kompetenz – infolge des gänzlichen Fehlens von Schreibkräften und Institutsbibliothekaren – (im Beamtenjargon) nur als „subsidiäre Allzuständigkeit (inclusive Ofenheizen)“ zu definieren gewesen wäre. Solche Reminiszenzen geben Anlaß zu „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“.83 1961 erlebte der schon erwähnte August Maria Knoll (damals Ordinarius für Soziologie) „einen wirklichen Frontalzusammenstoß“ mit den „Matadoren des AustroObskurantismus“. Knoll kam, wie Topitsch ausführt, „aus der Tradition der christlichen Sozialreformer Carl Freiherr von Vogelsang und Anton Orel und war schon früh zur christlichen Arbeiterbewegung gestoßen, war aber auch mit den Lehren Hans Kelsens vertraut und vor allem ein ausgezeichneter Kenner der kirchlichen Moralphilosophie und -theologie. Als Mitarbeiter der damaligen Christlichsozialen Partei hatte er auch Einblick in deren Interna gewonnen, als ,Linkskatholik‘ war er aber immer auch Angriffen aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Als in der ,Österr. Zeitschr. f. öffentliches Recht‘ ein Heft als Festschrift zum 80. Geburtstag von Hans Kelsen (1961) vorbereitet wurde, sandte Knoll einen Beitrag mit dem Titel ,Scholastisches Naturrecht in der Frage der Freiheit‘ ein, in dem er seine theoretischen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen zu diesem Thema verarbeitet hatte. Doch er erhielt das Manuskript von dem Redakteur, Prof. Verdross – der übrigens die Umbrüche von 1918, 1934, 1938 und 1945 wesentlich heil überstanden hatte – mit folgendem […] Begleitschreiben zurück: ,Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Aufsatz nicht in ein streng wissenschaftliches Archiv hineinpaßt, da er nicht in einem ruhig-sachlichen, sondern auffallend polemischen Ton geschrieben 82 I. Spf. d. Id., S. 263 erzählt Topitsch: „Ende der fünfziger Jahre hielt Horkheimer einen Vortrag im Rahmen der Alpbacher Hochschulwochen und äußerte anschließend in einem engeren Kreis, nur mit Domestiken sei ein menschenwürdiges Leben möglich. Ich war damals Assistent – also akademischer Domestik – und konnte nur mit Mühe eine scharfe Bemerkung unterdrücken.“ 83 Vgl. Theodor W. ADORNO: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1964.
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ist und daher nicht als wissenschaftlicher Beitrag, sondern als eine Kampfschrift betrachtet werden muß. Dazu kommt, daß er Beleidigungen enthält, so daß ich mich durch die Veröffentlichung einer strafbaren Handlung mitschuldig [!!] machen würde. […]‘ – Doch Knoll ließ sich durch dieses Schreiben, das er in seinem Tagebuch als ,ein Dokument allerersten Ranges‘ bezeichnete, nicht einschüchtern, sondern beschloß – von seinen Freunden ermuntert – den Aufsatz zu einem Buch auszuarbeiten, das im Frühjahr 1962 unter dem Titel: ,Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit‘ erschien und sogleich die in solchen Fällen häufige Mischung von Entrüstung und Verlegenheit hervorrief. Was den Gegnern an sachlichen Argumenten fehlte, wurde durch Verdächtigungen, Gehässigkeiten und Schikanen kompensiert. Ob diese von ihm sehr intensiv erlebten Kränkungen zu Knolls frühem Tod – er starb am Hl. Abend 1963 – beigetragen haben, mag offen bleiben.“ 84 „Einer der wenigen verständnisvollen Rezensenten schrieb dazu: ,Der Angegriffene hatte plötzlich nirgends mehr die Gelegenheit, sich gegen offensichtliche Mißverständnisse zu wehren, weil man ihm nicht verzeiht, daß man dieses Buch nicht widerlegen kann.‘ Nun ist dieses Buch wirklich einer der wichtigsten Beiträge zu diesem Thema, da es zwar nur einen einzigen Traditionsstrang naturrechtlichen Denkens behandelt, den aber so sachkompetent und wohldokumentiert, daß die erwähnte Beurteilung als ,unwiderleglich‘ kaum zu hoch gegriffen erscheint. Knoll schließt sich Kelsen an, sofern er die Naturrechtslehren als Gebilde aus Leerformeln betrachtet, die mit beliebigen moralisch-politischen Inhalten erfüllt werden können und im Laufe der Geschichte erfüllt worden sind. Dafür bringt er aus seinen profunden historischen Kenntnissen eine imponierende Anzahl von teilweise horriblen Beispielen. So wurde etwa mit dem scholastischen Naturrecht die Kastration von Kirchensängern ebenso gerechtfertigt wie Spiegel oder ähnlicher Kram als ,gerechter Preis‘ für einen Negersklaven. – Obwohl das Buch einen beachtlichen Verkaufserfolg erzielte, konnte sich der österreichische Verlag – wohl aus politischen Gründen – zu keiner Neuauflage entschließen. Doch gelang es mir schließlich, eine solche in überarbeiteter Form und mit einem Vorwort aus meiner Feder versehen 1968 im LuchterhandVerlag (Neuwied-Berlin) herauszubringen.“85 Knolls vernichtende Kritik am Naturrecht war aber nicht die einzige, wenn auch die gründlichste. „Immerhin begann sich damals unter den Jüngeren die Opposition gegen das christlich-restaurative Naturrecht zu regen. 1958 erschien etwa gleichzeitig mit meinem erwähnten Buch (,Vom Urspr. u. Ende d. Met.‘) Gerhard Szczesnys ,Zukunft des Unglaubens‘ und 1961 im ,Hochland‘ der klassische Artikel ,Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933‘ von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieser Aufsatz war von einiger
84 I. Spf. d. Id., S. 262. 85 NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge, S. 44.
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Brisanz, da er die nach 1945 sorgsam gehütete Legende radikal in Frage stellte, das scholastische Naturrecht sei das wahre Palladium von Freiheit und Demokratie gegenüber dem braunen Totalitarismus gewesen. Vielmehr zeigte Böckenförde anhand zahlreicher Beispiele, daß angesehene Naturrechtstheologen den Nationalsozialismus ausdrücklich gerechtfertigt hatten, bis dessen kirchenfeindliche Politik eindeutig hervorgetreten war.“86 Im Winter 1961/62 brachte Topitsch seine Abhandlung „Phylogenetische und emotionale Grundlagen menschlicher Weltauffassung“ zum Abschluß. Wie erwähnt, hatte er sich schon seit geraumer Zeit mit Ethologie beschäftigt, aber erst das Buch des bekannten Sprachpsychologen Friedrich Kainz87 Die ,Sprache‘ der Tiere (Stuttgart 1961), das ihm „wie eine Offenbarung“ erschien, wirkte wie eine Initialzündung, die einen stürmischen geistigen Produktionsprozeß auslöste. Nur selten findet man auf so engem Raum (25 Druckseiten) einen derart konzentrierten Theorieentwurf. Diese Schrift enthält eigentlich in nuce fast schon den gesamten Themenzusammenhang, den Topitsch dann sukzessive bearbeitet hat. „Hatte sich ,Vom Ursprung und Ende der Metaphysik‘ hauptsächlich auf die Vorstellungen vom Kosmos bezogen, so wandte sich die nächste Phase der Untersuchungen den Seelenvorstellungen zu, und dann brachten mich die Forschungen von Konrad Lorenz dazu, auch die Gesichtspunkte der Evolution in meine Betrachtungen einzubeziehen. So entstand diese Abhandlung, wo ich zu zeigen versuchte, daß die emotionalen Grundlagen selbst der mit den größten Erhabenheitsansprüchen auftretenden metaphysischen Spekulationen bis in jenes stammesgeschichtliche Erbe zurückreichen, das wir mit den höheren Tieren gemeinsam haben. So etwas mußte natürlich die Gutgesinnten noch mehr skandalisieren als meine älteren Arbeiten. Abermals stellte sich die Frage der Veröffentlichung. Da bot mir die italienische Zeitschrift ,Filosofia‘ (Torino) die Möglichkeit, den Aufsatz zu publizieren, und ich hoffte, auf diese Weise den Frontalzusammenstoß mit den Matadoren des Austro-Obskurantismus wenigstens hinausschieben zu können.“88 Topitsch glaubte, das explosive Ding weit weg in Turin listig „vergraben“ zu haben – aber es wurde doch entdeckt, und zwar von dem Polyhistor und Vielleser Kainz, der an dieser Abhandlung nicht nur keinen Anstoß nahm, sondern dieselbe als Weiterentwicklung seiner eigenen, in seiner Sprache der Tiere niedergelegten Gedanken auffaßte und stolz präsentierte. Aber das Bekanntwerden dieser Schrift löste in weiteren akademischen Kreisen den befürchteten Skandal aus. Lassen doch diese „Annahmen über die phylogenetischen Voraussetzungen der 86 Ebenda, S. 42. 87 Friedrich KAINZ, der Autor einer 5-bändigen Psychologie der Sprache und einer Personalistischen Ästhetik war damals Ordinarius für Philosophie und als solcher eigentlich eine Fehlbesetzung, da er (zugegebenermaßen) kein Fachphilosoph war. 88 I. Spf. d. Id., S. 261f.
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menschlichen Weltauffassung“89 den verfänglichen Schluß zu, daß Mythologeme und Religionen und somit auch die hochheilige „Offenbarungsreligion“ mit dem stammesgeschichtlich uralten tierischen Erbe des Menschen (in Gestalt von Instinktresiduen, angeborenen Auslösemechanismen, emotionalen Reaktionsdispositionen etc.) weit mehr zu tun haben als mit seiner Intelligenzorganisation, mit seinen rationalen Fähigkeiten. Bald ging es zu wie in der sogenanten „Verleumdungsarie“ des Don Bartolo in Rossinis Barbier von Sevilla. Die rasche Verbreitung des als skandalös empfundenen Textes war vor allem deshalb möglich, weil der CV wie ein dichtes Rhizom Universität und Ministerium durchzog. Für alle Klerikalen hatte sich Topitsch nun endgültig deklariert als „Ohnegott und Satansfreund“. Da man ihm aber keine Gelegenheit zu einer offenen Diskussion gab, hielt er sich an die österreichische Devise: „Nicht einmal ignorieren!“ Aber auch die Transzendentalisten – die übrigens zu diesem Zeitpunkt schon auf dem „Christentums-Trip voll abgefahren“ waren, fühlten sich getroffen und sparten nicht mit herber Kritik. Sie warfen ihm “Plattheit“, „Reduktionismus“ und „Niveaulosigkeit“ vor, bezichtigten ihn, die metaphysische philosophia perennis durch Rückgriff auf das Tierische im Menschen und „Primitivmetaphysiken“ auf barbarische Weise desavouieren zu wollen und ernannten ihn schließlich zum „Heerführer der Seichtigkeit“ (Hegel über Fries). Topitsch ärgerten diese Anwürfe mehr als das Anathema der Klerikalen, weil er die „Transzendentalisten“ bisher für prinzipiell dialogfähig gehalten hatte, da es doch einen gemeinsamen Ansatz gab durch die beiderseitige Auseinandersetzung mit der Philosophie Robert Reiningers. Meine sorgenvollen Berichte über die mich immer mehr in Bedrängnis bringende Hinwendung der Vertreter des „Wiener Transzendentalismus“ zu einem ökumenisch-überkonfessionellen Christentum nahm er anfangs nicht so ganz ernst, weil in Reiningers Metaphysik der Wirklichkeit, die ja den Ausgangspunkt bildete, überhaupt kein Platz war für einen persönlichen Gott oder gar für christliche „Heilswahrheiten“. Betroffen erwiderte er die unfairen, herabsetzenden Anwürfe mit dem Statement: „Ich ziehe aus guten Gründen das ,fruchtbare Bathos der Erfahrung‘ einem bodenlosen Tiefsinn ebenso vor wie eine saubere logische Analyse einer iterativen Reflexionsakrobatik.“ Er geriet also mit geringfügiger Zeitverschiebung in die gleiche, von ihm zuvor beschriebene prekäre Situation wie sein älterer Kollege August M. Knoll. Zur persona non grata erklärt, wurde er, wie man heute zu sagen pflegt, ein Opfer von „Bossing“ und „Mobbing“. Seine Amtsführung wurde bemängelt, nicht wenige mieden plötzlich den persönlichen Kontakt, einige grüßten nicht einmal mehr, etliche lausbübische Studenten versuchten, ihn durch geistlose Witzeleien und derbe Späße zu verulken und lächerlich zu machen – und der Hörsaal leerte sich merklich. Dazu kam noch ein demü89 Ernst TOPITSCH: Phylogenetische und emotionale Grundlagen menschlicher Weltauffassung, Torino 1962, S. 6ff.
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tigender Affront: Topitsch war seit vielen Jahren Vorsitzender der Collegegemeinschaft Wien, deren Aufgabe es war, Vortragsreihen zu organisieren, Gäste einzuladen und die Alpbacher Hochschulwochen vorzubereiten. Bei den fällig gewordenen Vorstandswahlen wurde er durch eine intrigant vorbereitete Wahlmanipulation, die fast schon an einen Putsch grenzte, abgewählt – woraufhin ich aus Protest meine Funktion als Sekretär und Finanzreferent demonstrativ zurücklegte (was mir, nebenbei bemerkt, auch übel angekreidet wurde). Aber im Gefolge dieser sich noch innerhalb des akademischen Rahmens abspielenden Polemiken und Ausgrenzungsversuche braute sich ein gefährliches Gewitter über seinem Haupt zusammen: Einige einflußreiche Scharfmacher oder „Hardliner“ erwogen sogar allen Ernstes eine Zwangspensionierung (!!) wegen angeblicher Vernachlässigung seiner Dienstpflichten als Assistent, und dies, wie es hieß, sogar im Einvernehmen mit dem Minister (auf den Topitsch übrigens so manches köstliche Spottlied gedichtet hatte). Dienstrechtlich wäre das damals durchaus mit etwas jesuitischer Spitzfindigkeit machbar gewesen, Kläger und „Zeugen“ hätten sich schon „gefunden“. Wo ein böser Wille ist, da ist eben auch ein gangbarer böser Weg. Für ein dressiertes Gewissen aber heiligt der höhere Zweck allemal die Mittel. – Eine derartige Zwangspensionierung hätte für Topitsch den totalen Ruin bedeutet, weil diese praktisch einem Berufsverbot an allen österreichischen Universitäten gleichgekommen wäre und ihm auch der Rückzug auf ein Gymnasium abgeschnitten war, da damals eine Einstellung nach Vollendung des 40. Lebensjahres dienstrechtlich nicht mehr möglich war. Ich weiß, wie das ist, zumal ich 1968 in einer ganz ähnlichen Lage war, so daß ich an der Freien Universität Berlin (FUB) Zuflucht nehmen mußte. Die längste Zeit90 galt in Österreich für diejenigen, die an einer modernen wissenschaftlichen Philosophie interessiert waren, der Ausspruch Odo Marquards: „Philosophie als Studium: das bedeutet […] in aller Regel nicht den Beginn einer erfolgreichen Karriere, sondern den Beginn einer persönlichen Tragödie.“ 91 In Bezug auf das damalige Schicksal von Ernst Topitsch ließe sich im Blick auf Hölderlin sagen: Ist die Not am größten, „wächst das Rettende auch“. Nicht immer, aber manchmal doch. Von allen Nöten, in denen er steckte, wurde er schlagartig erlöst durch den Ruf auf eine ordentliche Professur für Soziologie an der Universität Heidelberg, noch dazu – welch gutes Omen – auf den Lehrstuhl, den niemand Geringerer als Max Weber (von 1897–1903) innehatte. 90 Jedenfalls bis 1970, dem Anbruch der Kreisky-Ära, die von allen, die unter der klerikalen Restauration zu leiden hatten und sich bedroht fühlten, zunächst wie eine Erlösung empfunden wurde. Allerdings zeigte sich zur Enttäuschung vieler, daß starre Strukturen, die in 25 Jahren gewachsen waren, nur schwer aufgebrochen werden konnten. Das Optimum des Erreichbaren war oft nur eine Art von weltanschaulich-ideologischem Proporz, welcher der Wissenschaft auch nicht immer förderlich war. 91 Odo MARQUARD: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 6.
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In welcher Gemütsverfassung sich Topitsch damals befand, illustriert folgende Episode: Aufgebracht über die Ankündigung einer Institutsrevision, die nichts Gutes verhieß, schmiß er wutentbrannt seine Post ungeöffnet in die Schublade. Erst nach Tagen, in denen er mit mir die Bibliothek in mustergültige Ordnung brachte, entdeckte er wieder die Post – und damit auch das Schreiben, das den Ruf enthielt. Er stürzte daraufhin in mein Zimmer und rief in freudiger Erregung: „Wider Erwarten hat die Tauchrettung jetzt doch noch funktioniert! Jetzt kann ich wieder frei atmen!“ „Allerdings“, fügte er hinzu, „hätte ich das Schreiben mit dem rettenden Ruf beinahe schubladisiert.“ Mit dieser einschneidenden Caesur endete der erste, teilweise dramatische Abschnitt seiner Lebensgeschichte. * Da ich die Hauptaufgabe meines Beitrages darin sehe, gestützt auf biographische Skizzen, Notizen, persönliche Mitteilungen und Umgangserfahrungen sowie Passagen aus unserem umfangreichen Briefwechsel eine ausführlichere Darstellung der ersten Phase des Lebens- und Bildungsweges von Ernst Topitsch, vor allem der Entwicklung seines Denkens von der mit der Kritik am Naturrecht beginnenden Ideologiekritik zur komplexen Weltanschauungsanalyse vor dem Hintergrund der kulturellen und politischen Verhältnisse im seinerzeitigen Österreich zu geben, kann – bzw. muß – ich mich nunmehr so kurz wie möglich fassen. In Heidelberg erfuhr seine philosophische Forschungsarbeit zunächst eine Retardation, da er das Fach Soziologie zu vertreten hatte, in das er sich erst einarbeiten mußte, weil es galt, die vielfältigen Ergebnisse der empirischen Soziologie in die Lehre einzubringen. Was ihn zu der brieflichen Bemerkung veranlaßte: „Ich bin in doppelter Weise Emigrant: als Österreicher in Deutschland, was mich natürlich gar nicht stört, und als Philosoph in der Soziologie, was zumindest Anfangsschwierigkeiten mit sich bringt.“ Deshalb konnte er den schon früher projektierten Aufsatz „Mythische Modelle in der Erkenntnislehre“ erst 1965 veröffentlichen, in welchem er „eine technomorphe ,Erkenntnisphysik‘“ einer „ekstatisch-kathartischen ,Erkenntnistheologie‘“ gegenüberstellt, „wobei die letztere oft mit dem Anspruch auf ein ,höheres‘, mit den Mitteln des gemeinen ,Verstandes‘ unkontrollierbares ,Vernunft‘wissen verbunden ist“,92 womit er eine Differenzierung herausarbeitete, die einen wichtigen Baustein zum späteren Ausbau seiner Weltanschauungsanalyse bildete. Hocherfreut war er über die Berufung Hans Alberts nach Mannheim (1963), mit dem er schon fast ein Jahrzehnt in brieflichem Kontakt gestanden war, und mit dem sich deshalb „eine anregende Symphilosophie“ ergab.93 92 WAA als Strukt. Wiss., S. 550f. 93 Ebenda, S. 551.
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„lm übrigen“, so schreibt Topitsch im Abstand von drei Jahrzehnten, „gewann ich in Heidelberg schon manche Einblicke in die ideologischen Vorzeichen der Revolte von 1968. So behandelte [1964] auf dem Max Weber gewidmeten 15. Deutschen Soziologentag (ich hatte die Ehre den Einleitungsvortrag zu halten) Herbert Marcuse das Thema ,Industrialisierung und Kapitalismus‘ und erntete von den zahlreich anwesenden Studenten einen geradezu charismatischen Beifall – später wurde sein Werk ,Der eindimensionale Mensch‘, das heute schon wieder fast vergessen ist, für einige Zeit zum Kultbuch der Studentenbewegung. Angesichts der irrationalistischen und utopistischen Untertöne des Vortrags war ich einigermaßen befremdet, doch sah ich die weitere Entwicklung damals noch nicht voraus.“94 Die Studentenbewegung bzw. die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO) war ursprünglich eine gesellschaftskritische antiautoritäre Oppositionsbewegung gegen die nachkriegsbedingte Adenauer-Restauration, das heißt gegen die Restauration der bürgerlichen Gesellschaft vor 1933 und damit gegen die Re-Etablierung eines Konservativismus, der sich gegen alle Reformen, auch diejenigen, die durch die gesellschaftliche Entwicklung nötig geworden waren, hartnäckig sperrte nach der Devise: „Nur keine Experimente“ (Adenauer). Die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule lieferte zwar dem entstehenden oppositionellen Bewußtsein das begriffliche Rüstzeug, aber die theoretischen Inhalte wurden bis zur Unkenntlichkeit vergröbert bzw. vulgarisiert, und die schon von den Jung- und Linkshegelianern erhobene Forderung nach dem „Praktischwerden der philosophischen Theorie“ führte zu kurzschlüssigen, konzeptlosen und oft genug gewaltsamen Aktionen. War die Kritik an aufweisbaren Mißständen (vor allem im universitären Bereich) anfangs so einsichtig und die Reformvorschläge so maßvoll, daß nicht wenige liberale Akademiker und Professoren Sympathien empfanden, so änderte sich die Szene rasch und gründlich: Es entwickelte sich ein fanatischer Aktionismus dessen „kulturelles Niveau sich verkehrt proportional zu den beachtlichen Turbulenzen verhielt“;95 der ständig beschworene „Geist der Utopie“ (Bloch) ging um im Phrasenrausch und die politisch-emanzipatorischen Forderungen wurden derart hinauflizitiert, daß vielen letztlich nur ein totaler revolutionärer Umsturz als erstrebenswertes eschatologisches Nahziel erschien. Und dann geschah das, was selbst erfahrene Hochschulpolitiker und Meinungsforscher nicht für möglich gehalten hatten: Enttäuscht von der Erfolglosigkeit ihrer Agitation bei der Bevölkerung und erst recht bei der Arbeiterschaft, die sich als immun gegen vulgärmarxistische Revolutionsparolen erwies, suchten viele der im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierten oppositionellen Studenten Zuflucht beim 94 I. Spf. d. Id., S. 263. 95 WWA als Strukt. Wiss., S. 551.
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„real existierenden“ Marxismus in Gestalt des Sowjetkommunismus, der zur Weltmacht aufgestiegen war und die Weltrevolution verhieß. „Marxismus-Leninismus“, „Maoismus“ und gelegentlich „Trotzkismus“ wurden zu Führungsideologien, in deren Zeichen wilde Kämpfe um universitäre Machtpositionen ausgetragen wurden, welche die völlig verfehlte Hochschulreform Anfang der Siebzigerjahre zur Disposition gestellt hatte. In Anlehnung an den „Großen Bruder“ und die DDR begann an vielen Universitäten Deutschlands, vor allem auch an der FUB, eine ideologisch motivierte brutale Eroberungspolitik der „linken“ Gruppierungen, die zwangsläufig Erinnerungen wecken mußte an die schon vor 1933 einsetzende Eroberung der Hochschulen durch die Nationalsozialisten. Es kam vor, daß „Bewerber um Dozenturen oder Professuren im offenen Hörsaal von ideologisch fanatisierten Studentengruppen in inquisitorischer Form auf marxistische Rechtgläubigkeit verhört“ wurden.96 In der im August 1968 erschienenen, auf dem Höhepunkt der politischen Turbulenzen im Anschluß an den „Pariser Mai“ verfaßten Schrift Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität97 setzte sich Topitsch in überaus objektiver, besonnener und um gerechte Urteile bemühter Weise mit diesen auf Wissenschaft und Forschung destruktiv wirkenden dramatischen Ereignissen auseinander, zog Parallelen zwischen totalitären „rechten“ und „linken“ Ideologien und machte die marxistischen Ideologen darauf aufmerksam, daß ihr Denken sich im Banne einer längst obsolet gewordenen „Heilslehre“ bewegt, die unverkennbar eine „Herrschaftsideologie“ impliziert. Obwohl diese Turbulenzen in Heidelberg weit weniger spürbar waren als an der FUB, in Frankfurt, Bremen und anderswo, verleideten sie Topitsch dennoch die Heidelberger Universität: „Zwar wurde ich nie persönlich attackiert, doch die endlosen, besonders nächtlichen Palaver mit fanatisierten Ignoranten und hysterischen Heilanden fraßen so viel Arbeitszeit, Arbeitskraft und Arbeitsfreude, daß mir eine sinnvolle wissenschaftliche Tätigkeit in der Neckarstadt für absehbare Zeit nicht mehr möglich erschien. So entschloß ich mich, einen Ruf nach Graz anzunehmen, was ich inzwischen nie bereut habe.“98 Übrigens: Attackiert wurde er zwar nie (während an der FUB die meisten Mitglieder des Lehrkörpers irgendwann mindestens einmal mit Farbeiern beworfen wurden), aber einmal blockierten Studenten die Türe, um ihn am Verlassen des Hörsaales zu hindern und dadurch zu zwingen, ihnen weiterhin Rede und Antwort zu stehen. Er meisterte die Situation souverän, indem er sich unerschrocken der Diskussion stellte und durch sachlich-leidenschaftslose Argumentation seine „Examinatoren“ derart in Verlegenheit brachte, daß sie die Diskussion bald abbrachen und ihn unge96 NR i. W. d. Jh., S. 46. 97 Ernst TOPITSCH: Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universität, Neuwied-Berlin 1968, 2. Aufl. 1969. 98 WAA als Strukt. Wiss., S. 551.
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hindert ziehen ließen.99 Später relativierte er seine Aussage über die Gründe seines Abganges von Heidelberg, indem er angab, daß ihn mehr noch als der nervtötende und zeitraubende „Polit-Zirkus“ das Entstehen der „Massenuniversität“ und der damit verbundene enorme Andrang zum Soziologiestudium bewogen hätte, der Neckarstadt den Rücken zu kehren. Die Berufung zum ordentlichen Professor für Philosophie bedeutete für den nunmehr Fünfzigjährigen einerseits die Rückkehr aus dem soziologischen Exil in die philosophische Heimat und gab ihm andererseits die Möglichkeit, in aller Ruhe und in einer angenehmen freundschaftlich-kollegialen Atmosphäre seine ideologiekritische Weltanschauungsanalyse auszubauen und weiterzuentwickeln. Um einige wichtige Veröffentlichungen nachzutragen, sei hingewiesen auf Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft (1961, 2. Aufl. 1971) sowie auf den in der Heidelberger Zeit von ihm herausgegebenen Sammelband Logik der Sozialwissenschaften, der es zwischen 1965 und 1993 auf 12 Auflagen (!) brachte, ferner auf Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie (1967). In seiner Grazer Schaffensperiode entstanden Mythos – Philosophie – Politik (1969) und 1973 Gottwerdung und Revolution, ein Buch mit einem prima vista ungewöhnlichen Titel,100 in dem Topitsch meisterhaft zeigt, wie die Versuche zur „Entlastung vom Druck der Realität“ im ekstatisch-kathartischen Formenkreis der Weltanschauungstypen oft ein extrem „anagogisches“ Verhalten erzeugen, das im Bestreben, die Welt und alle Übel der Endlichkeit zu transzendieren und damit zu „überwinden“, „das Motiv der Selbstvergottung oder Gottwerdung“101 entstehen läßt. „In Mysterienkulten entwickelte sich dann der Glaube an ein ,höheres‘, den nicht Eingeweihten grundsätzlich unzugängliches Wissen um das Heilsgeheimnis, aus dem in weiterer Folge auch die Unterscheidung zwischen der erhabenen ,Vernunft‘ und dem inferioren ,Verstand‘ hervorgegangen ist. Nach einer zweiten Version ist die Seele durch ihren Fall der Verblendung anheimgefallen, aber die ,wahre Philosophie‘ kann den Bann der Verblendung brechen und ihren Adepten – eben den Auserwählten – den Blick für die Heilswahrheit und den Heilsweg öffnen. Dies konnte dahingehend erweitert werden, daß nicht die einzelnen Seelen, sondern die ganze Menschheit von Gott abgefallen sind; doch in der äußersten Gottesferne sendet dieser den Erlöser, den Messias oder Parakleten, der die rettende Heimkehr ermöglicht. In einer weiteren Steigerung ist sogar Gott selbst in den Fall einbezogen. Er hat sich zur Welt entäußert oder entfremdet, um 99 Briefliche Schilderung von Topitsch selbst und einem mir wohlbekannten Augenzeugen. 100 Ernst TOPITSCH: Gottwerdung und Revolution. Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik, Basel-Stuttgart 1973. (Erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung an der Grazer Universität, gehalten am 3. März 1970.) Erstmalig veröffentlicht in Conceptus, Jg. 1970. 101 Ebenda, S. 11.
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erst im leidvollen Durchgang durch die Weltgestalten zu seinem wahren Selbstbewußtsein und seiner vollendeten Göttlichkeit zu gelangen – im Bewußtsein des Philosophen [Hegel], welcher dergestalt zum Erlöser Gottes wird […]. Doch während der kontemplativ-rückblickende Philosoph sein Geschäft in der Stille der Studierstube verrichten konnte und im politischen Bereich sehr vorsichtig agierte, war der aktivistische Marx in seinem Selbstverständnis der menschheitsgeschichtlich zentrale Heilsbringer, der nicht nur als genialer Theoretiker den Bann der ideologischen Verblendung gebrochen, das Geheimnis der Geschichte entschleiert und so das Erlösungswerk eingeleitet hat. Vielmehr wollte er als siegreicher Führer der proletarischen Revolution dieses Werk auch vollenden durch Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft, des ,himmlischen Jerusalem auf Erden‘.“102 Unter den Voraussetzungen eines konsequenten Materialismus und Atheismus ereignet sich somit im Marxismus die letzte, Geschichtsmächtigkeit erlangende Metamorphose des gnostisch-anagogischen Schemas der Welt- und insbesondere Geschichtsinterpretation. Die durch die Herausbildung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Produktivkräften verursachte „Selbstentfremdung“ oder „Entmenschlichung“ des Menschen erreicht in der kapitalistischen Gesellschaftsformation ihren absoluten Tiefpunkt im Proletariat, aber das errungene theoretische Wissen um die Bewegungsgesetze der ökonomischen Entwicklung wird das Proletariat in der prophezeiten Weltrevolution zum Endsieg über Ausbeutung und Klassenherrschaft führen und die Errichtung der klassenlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft ermöglichen, in der die „Selbstentfremdung“ des Menschen sukzessive „aufgehoben“ werden kann. So steht am Endpunkt einer langen, an Metamorphosen reichen Entwicklungsgeschichte eine weltimmanente, irdische Heilslehre, die in eine Revolutionsideologie mündet, die schließlich zur Herrschaftsideologie mutiert. Was den Titel „Gottwerdung und Revolution“ vollauf rechtfertigt. 1975 folgte ein nicht minder bedeutsames Buch: Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie, das bestrebt ist, „durch eine monographische Untersuchung“ zu zeigen, „daß sich die kritischen Gesichtspunkte der Weltanschauungsanalyse auch an einem der berühmtesten Philosophen bewähren, was natürlich zu weitreichenden Konsequenzen für die gesamte traditionelle Philosophie führen muß“.103 Topitsch weist hier akribisch nach, daß Kants Philosophie ständig Interferenzen zeitigt, insofern Kant einerseits Bahnbrecher des modernen Denkens ist, andererseits aber doch noch unter dem Einfluß der traditionellen Weltauffassung steht. Eine zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage erschien 1992, wurde aber enttäuschenderweise (bis auf eine Rezension) von den Kantforschern ebenso wenig beachtet wie die erste. 102 I. Irrg. d. ZG., S. 17f. 103 Ernst TOPITSCH: Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie. Kant in weltanschaulicher Beleuchtung. Tübingen 1975; 2., überarb. u. erw. Aufl. 1992, Vorwort z. 2. Aufl., S. VII.
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1979 erschien das Buch Erkenntnis und Illusion, das in der zweiten überarbeiteten und erweiterten Auflage von 1988 zu seinem reifsten Werk wurde. Es stellt gewissermaßen das umfassende, soweit wie möglich thematisch systemförmig organisierte Kompendium der Weltanschauungslehre dar, das als philosophisches Lehrbuch gelten darf, welches eigentlich als Pflichtlektüre für das Philosophiestudium fungieren sollte.104 Aber auch in Topitschs Privatleben trat eine bemerkenswerte Veränderung ein: Der bisherige Junggeselle entschloß sich zur Heirat und ehelichte eine gebildete, weltkundige, nur wenig jüngere Dame, die sich durch Charme und Herzenswärme auszeichnete, und die vor ihrer Pensionierung Hotelchefin gewesen war. Er hat dieses späte Glück sehr genossen, allein es währte leider nicht allzu lange: 1987 starb seine Frau nach knapp acht Ehejahren zu seinem größten Kummer an Lungenkrebs. 1985 veröffentlichte Topitsch erstmals sein Aufsehen erregendes Buch Stalins Krieg. Die sowjetische Langzeitstrategie gegen den Westen als rationale Machtpolitik, das seine Leserschaft polarisierte, weil es einerseits Zustimmung fand, andererseits aber wütende Abwehrreaktionen auslöste, die auch vor Anfeindungen und politisch-ideologischen Diffamierungen nicht zurückschreckten. In diesem umstrittenen Buch vertritt Topitsch nämlich die Auffassung, „der Zweite Weltkrieg sei in seiner politischen Tiefendimension ein Angriff der Sowjetunion auf die westlichen Hochburgen des Kapitalismus und wichtigsten Hindernisse für die Weltherrschaft Moskaus gewesen. Eine diesbezügliche Langzeitstrategie [zur Herbeiführung der Weltrevolution] […] hat Lenin bereits 1920 umrissen und Stalin hat sie ebenso konsequent wie taktisch wendig fortgeführt: Die noch bestehenden ,kapitalistischen‘ Staaten sollten [gemäß den Doktrinen der herrschenden Imperialismustheorie] einander in einem zweiten ,imperialistischen Krieg‘ zerrütten, vor allem sollte Deutschland als Rammbock gegen den Westen eingesetzt werden, bis schließlich die ,kapitalistischen‘ Regierungen dem Druck der überlegenen sowjetischen Militärmacht und der roten Revolution nicht mehr standhalten können.“105 Als der Hasardeur Hitler, dessen Ziel die Gewinnung von „Lebensraum im Osten“ und die „Vernichtung des Bolschewismus“ war, Österreich 1938 gewaltsam annektierte und im März 1939 auch noch in die Rest-Tschechoslowakei einmarschierte und eine drohende Haltung gegen Polen einnahm, hätte Stalin (wie er selbst zugab) den Krieg verhindern können, wenn er das vorgeschlagene Bündnis mit Frankreich und England zum Schutze Polens eingegangen wäre. Statt dessen schloß er jedoch den berüchtigten sogenannten „Hitler-Stalin-Pakt“ (Nichtangriffspakt) mit geheimen Zusatzprotokollen (die unter anderem die Teilung Polens beinhalteten) und verschaffte
104 Ernst TOPITSCH: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2.Aufl., Tübingen 1988. 105 I. Irrg. d. ZG, S. 30.
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damit Hitler-Deutschland eine Rückendeckung, gemäß dem Kalkül, daß Hitler nun Polen angreifen und die Westmächte Deutschland daraufhin den Krieg erklären würden. Stalin und die sowjetische Führung rechneten mit einem langen Krieg zwischen den „kapitalistisch-imperialistischen“ Staaten, in welchem sich diese – nach dem Muster des Ersten Weltkrieges – gegenseitig derart erschöpfen, daß innere Unruhen oder gar Revolutionen ausbrechen, die mit Unterstützung der Roten Armee zur Gründung von Sowjetstaaten führen könnten, so daß im günstigsten Fall die Sowjetunion schließlich an der Atlantikküste stehen könnte. „1940 schuf der deutsche Sieg im Westen eine neue strategische Lage: Zwischen der Roten Armee und dem Atlantik stand nur mehr die Wehrmacht. War sie ausgeschaltet, dann hatte Stalin sein erstes Ziel erreicht.“106 Um die Hoffnung auf einen langen Zermürbungskrieg zwischen den „imperialistischen“ Staaten betrogen, begann Stalin mit der Durchführung eines gigantischen Rüstungsprogrammes und dem Aufmarsch der Roten Armee. Hitler wiederum ließ von England vorläufig ab und beschloß den Angriff auf die UdSSR. Auf diese Weise mobilisierten beide totalitär-diktatorischen Systeme alle ihre Kräfte, so daß es nur mehr eine Frage der Zeit war, welches von ihnen in der Lage ist, den Erstschlag zu führen. Die meisten damit beschäftigten Kriegshistoriker neigen zu der Annahme, daß der Aufmarsch der Roten Armee höchstwahrscheinlich im Frühjahr 1942 abgeschlossen gewesen wäre. Obwohl Stalin aus mehreren Gründen, hauptsächlich aber wegen des Balkanfeldzuges, einen deutschen Angriff 1941 für unmöglich hielt, erfolgte der deutsche Erstschlag schon am 22. Juni, das Überraschungsmoment nutzend stießen 152 deutsche Divisionen mit bewährter Blitzkriegsstrategie in eine gewaltige sowjetische Truppenmasse hinein, die aber erst dabei war, sich zu formieren und sich noch in Sicherheit wiegte.107 Obwohl Topitsch wiederholt ausdrücklich betont hat, daß es nicht die Absicht dieser Schrift ist, die aggressive nationalsozialistische Eroberungspolitik oder gar die Nazi-Gräuel durch „Aufrechnung“ irgendwie zu relativieren, sondern lediglich, sine ira et studio die Ursachen dieses kriegerischen Zusammenpralls der beiden expansiv-imperalistisch agierenden totalitären Systeme zu erforschen, versuchte man des öfteren, ihn „ins rechte Eck“ zu drängen. Wohl deshalb, weil er einen Tabu-Bruch begangen hat, indem er den „psychostrategischen Mythos vom ,heimtückischen und vertragsbrüchigen Überfall der faschistischen Aggressoren auf die friedliebende [und fast wehrlose] Sowjetunion‘“108 – der für nicht wenige deutsche und österreichische Historiker und Politologen noch 106 Ebenda, S. 31. 107 Schlagender Beweis: In der ersten Kesselschlacht von Bialystok/Minsk (11. Juli) gerieten über 320.000 Rotarmisten in Gefangenschaft, 1800 Panzer wurden vernichtet oder erbeutet; in der kurz darauf folgenden im Bereich von Smolensk wurden fast 350.000 Rotarmisten gefangengenommen und 3.400 Panzer gingen verloren. Wo waren die alle hergekommen? Die waren eben schon da, unvorsichtigerweise ziemlich grenznah aufgestellt und noch nicht kriegsbereit. 108 Ernst TOPITSCH: Stalins Krieg, S. 147.
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immer eine Art Glaubensbekenntnis darstellt –, zerstört, und außerdem gegen das Dogma von der „Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit der Verbrechen des Faschismus“ verstoßen hat. Dazu Topitsch selbst: „Im Laufe der Zeit hat sich also meine schon 1985 vertretene Auffassung der politischen Tiefendimension des Zweiten Weltkrieges zusehends bestätigt, doch es ist mir nicht gelungen, Gegenargumente herauszufordern. Eine intelligente Kritik, von der ich hätte etwas lernen können, hat es nicht gegeben. Soweit man sich nicht überhaupt auf das Totschweigen beschränkte, kamen meist wissenschaftsfremde, ja wissenschaftsfeindliche Äußerungen. Am schlimmsten ist das Schlagwort oder Totschlagwort ,Revisionismus‘, da alle Wissenschaft auf dem Grundsatz der Revidierbarkeit überkommener Auffassungen beruht und die Bahnbrecher des Erkenntnisfortschritts ,Revisionisten‘ waren und sein werden.“109 Es bleibt daher bei der Devise Spinozas: „Humanas actiones non ridere, non lugere neque detestari, sed intelligere“ (Tractatus politicus 1,4). Stalins Krieg wurde 1985 und auch in zweiter Auflage vom Günter Olzog Verlag (München) herausgebracht und erschien dann unter dem gleichen Titel als erweiterte Neuausgabe bei Busse/Seewald (Herford). 1993 erschien bei demselben Verlag eine abermals erweiterte Auflage unter dem Titel: Stalins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft. Strategie und Scheitern. 1996 erschien eine Übersetzung ins Polnische: Wojna Stalina, Krakóv; 1998 wurde bei Busse/Seewald die 3. (insgesamt 5.) Auflage publiziert, es erfolgte auch eine Übersetzung ins Englische. 2000 erschien noch ein Ergänzungsheft mit neuen Beweisen und Literaturhinweisen zu jener Auflage aus dem Jahr 1998 von Stalins Krieg im Verlag Busse/Seewald. Obwohl Topitsch 1990 noch vollauf mit der Neuausgabe von Stalins Krieg (bei Busse/Seewald) beschäftigt war, fand er noch Zeit für die Fertigstellung des Buches Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse (J. C. B. Mohr/Paul Siebeck, Tübingen). Im Vorwort dazu heißt es: „Die hier vorgelegte Untersuchung bildet eine Fortführung älterer Arbeiten zur Weltanschauungsanalyse und bezieht sich auf ein Thema, das dort zwar mehrfach berührt, aber noch nicht eingehender behandelt worden ist. […] Über die Bedeutsamkeit dieses Themas braucht man wohl nicht viele Worte zu verlieren. Stets hat der Mensch nach dem Heil, nach dem Glück gestrebt und das Unheil, das Unglück abzuwenden gesucht, und oft genug ist er dabei gescheitert. Dabei war die Zeit die entscheidende Macht, an der die Heilshoffnungen immer wieder zuschanden geworden sind, und zumal die zeitliche Begrenzung unseres Lebens durch den Tod ist unentrinnbar geblieben. Diese elementaren Gegebenheiten bilden eine Grundlage der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Zeitproblem – von primitiven Mythen bis zu den 109 I. Irrg. d. ZG, S. 33.
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anspruchvollsten Spekulationen über Zeit und Unsterblichkeit. In diesem Sinne geht es auch hier um Erkenntnis und Illusion.“110 Dabei wird zunächst die Heilssuche „in der Zeit“ von primitiven Phantasien von paradiesischen Zuständen bis zu messianischen Prophezeiungen eines Gottesreiches und gnostisch-hermetischen Geschichtsspekulationen oder der aufgrund einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit entstehen sollenden klassenlosen Gesellschaft in der marxistischen Ideologie kritisch dargestellt, sodann die Heilssuche „jenseits der Zeit“, das heißt durch Negation der Zeit (von den Upanischaden über den Buddhismus und zu R. Reiningers Metaphysik der Wirklichkeit) betrachtet, und schließlich die „Spätformen und Schwundstufen“ dieser Vollformen der Heilslehren in und jenseits der Zeit am Beispiel der Philosophie Reiningers und vor allem Heideggers einer differenzierten kritischen Analyse unterzogen. Die Behandlung der Existenzphilosophie Heideggers durch Topitsch ist dabei neben den kritischen Analysen von Karl Löwith und Walter Schulz so ziemlich das Niveauvollste und Erhellendste, was über dieses Thema je geschrieben wurde. 1994 schrieb Topitsch über „Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts. Betrachtungen eines Zeitzeugen“ mit wertvollen biographischen Angaben, 1995 erschien der biographisch ebenso ergiebige Aufsatz „Im Spannungsfeld der Ideologien“. 1996 veröffentlichte er noch eine Sammlung seiner Aufsätze unter dem Titel Studien zur Weltanschauungsanalyse. 2001 erschien unter dem Titel „Weltanschauungsanalyse als Strukturwissenschaft“ eine komprimierte Kurzdarstellung seiner Weltanschauungslehre, der eine aufschlußreiche autobiographische Skizze vorangestellt ist.111 Zuletzt meldete sich Topitsch mit einer Im Irrgarten der Zeitgeschichte betitelten Schrift 112 zu Wort, in der er wieder eine kurze autobiographische Skizze, dann ein Kurzreferat wesentlicher Kapitel seiner Weltanschauungsanalyse (incl. Stalins Krieg) gibt und sich dann eingehend mit Carl Schmitt und Jürgen Habermas („Ein Kapitel zur politischen Theologie“) beschäftigt, um schließlich unter dem Kapiteltitel „Die dunkle Seite des Mondes“ Reflexionen über die „Schuldfrage“ in der Geschichte anzustellen. Obwohl in seiner Familie Langlebigkeit Tradition hat und er deswegen annahm, daß ihm noch einige Schaffensjahre vergönnt sein könnten, erlag er einem – mit stoischer Ataraxie ertragenen – Leiden, hervorgerufen durch ein zu spät diagnostiziertes Pankreaskarzinom, gegen das auch eine Operation nicht mehr helfen konnte. Von seinen ehemaligen Schülern und Mitarbeitern geradezu rührend umsorgt und betreut, starb er am 26. Januar 2003 im vierundachtzigsten Lebensjahr – mit eiserner Arbeitsdisziplin bis in seine letzten Lebenstage unermüdlich tätig. Topitsch hinterläßt ein stattliches Opus: 110 Ernst TOPITSCH: Heil und Zeit, Tübingen 1990, Vorwort, S. VII. 111 In: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz (Hg. v. T. BINDER, R. FABIAN, U. HOFER, J. VALENT), Amsterdam-New York 2001, S. 547–574. 112 Berlin: Duncker & Humblot 2003.
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14 Bücher und etwa 150 Aufsätze.113 In der zeitgenössischen Philosophie genießt er hohes Ansehen als Denker von Format und gilt als Klassiker der ideologiekritischen Weltanschauungsanalyse und somit als einer, der der Aufklärung einen großen Dienst erwiesen hat. Da er seine Weltanschauungslehre mit vollem Recht für eine von ihm geschaffene neue wissenschaftlich-philosophische Disziplin mit eigenständiger Methode hielt, ergibt sich für alle, die in seinem Sinne denken, die Verpflichtung, sein Werk fortzusetzen und weiterzuentwickeln, weil Erkenntnisfortschritt eben charakteristisch ist für jede echte, methodisch gesicherte Wissenschaft. Dazu ein Fingerzeig: In das Zentrum seiner Weltanschauungslehre ist die Theorie der „plurifunktionalen Führungssysteme“ gerückt, deren eminente Bedeutung für Anthropologie und Kulturtheorie nicht immer in ihrer vollen Tragweite begriffen wird. Obwohl Topitsch „den Nachen Charons schon in der Nähe herumdümpeln“ sah, hat er sich vorgenommen, die Theorie der plurifunktionalen (soziokulturellen) Führungssysteme zu entfalten und weiterzubilden. Ars longa, vita brevis. Wer Topitsch persönlich näher gekannt hat, wird wohl wie Herder über Kant sagen können: „Sein Bild steht angenehm vor mir“.114 * * * Verzeichnis der Kürzel der autobiographisch bedeutsamen Schriften: NR i. W. d. Jh. Zeitzeuge = „Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts. Betrachtungen eines Zeitzeugen“, in: H. BARTA, W. ERNST, H. MOSER (Hg.), Wissenschaft und Verantwortlichkeit, Wien: WUV 1994, S. 37–53. I. Spf. d. Id. = „Im Spannungsfeld der Ideologien“, in: Geschichte und Gegenwart 14 (1995), S.255–264. St. z. WAA = Studien zur Weltanschauungsanalyse. Hg. von W. BAUM, Wien: Turia + Kant 1996. WAA als Strukt. Wiss = „Weltanschauungsanalyse als Strukturwissenschaft“, in: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz. Hg. von T. BINDER, R. FABIAN, U. HOFER, J. VALENT, Amsterdam-New York 2001, S.547–574. I. Irrg. d. ZG = Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Duncker & Humblot 2003 (=Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd.29).
113 Siehe dazu den Nachruf von Karl ACHAM: Ernst Topitsch, in: Almanach d. Österr. Akademie d. Wiss., 153. Jg., Wien 2003, S. 523–538, hier S. 523f. 114 Johann Gottfried HERDER: Briefe zur Beförderung der Humanität, in: Sämmtliche Werke, hg. v. B. SUPHAN, Bd. 17, Berlin 1881, S. 403.
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Abb. 1: Sebastian Jenull Quelle: Archiv der Universität Graz
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Vorbemerkung
Jurisprudenz und Rechtswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick Der folgende Überblick über die Geschichte und Hauptvertreter der Jurisprudenz und der Rechtswissenschaften in Graz ist naturgemäß unvollständig, und es ist als ein Glück anzusehen, daß der Leser auf mehrere wertvolle einschlägige Darstellungen hingewiesen werden kann: auf die zwei in der Buchreihe Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz erschienenen Bände von Gunter Wesener: Römisches Recht und Naturrecht (1978) sowie Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz (2002),1 auf das in derselben Reihe veröffentlichte Buch Strafrecht – Strafprozeßrecht – Kriminologie (1987) von Karlheinz Probst, auf Hermann Baltls „Steirische Beiträge zur Rechtsentwicklung und Rechtsordnung Österreichs“ (1992), auf Robert Walters Abhandlung „Die Lehre des öffentlichen Rechtes an der Karl-Franzens-Universität zu Graz von 1827 bis 1936“ (1966) sowie auf Kurt Eberts Monographie Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz (1969).2 Vor allem unter institutionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist Walter Höflechners Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz (2006) von Bedeutung. – Bereits jetzt sei darauf hingewiesen, daß, wie in den Vorbemerkungen zu den anderen Kapiteln auch, auf die Nennung von Werktiteln in den folgenden Ausführungen zur Grazer juridischen Fakultät3 häufig verzichtet wird; in diesem Zusammenhang sei auf die umfangreiche Auswahlbibliographie in dem vorliegenden Band hingewiesen.4 * Die abendländische Kultur unterscheidet sich von den meisten Hochkulturen dadurch, daß ihr in gewissem Umfang die Zähmung des Staates und der Religion mit Hilfe des Rechts und unter dem Einfluß einer philosophischen Tradition gelungen ist, die unter anderem zur Entstehung der modernen Wissenschaften geführt hat. Zur Weiterentwick-
1 Vgl. in diesem Zusammenhang auch WIEACKER 1959 und 1967. 2 Sehr nützlich sind in diesem Zusammenhang auch einige Ausführungen in OBERKOFLER 1984 und BRAUNEDER 1987. 3 Der Ausdruck „juridische Fakultät“ wird im folgenden, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, des öfteren stellvertretend für ihre im Laufe der Zeit wechselnden Namen verwendet, so zum Beispiel für „Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät“ oder auch für „Rechtswissenschaftliche Fakultät“. 4 Weiterführende Angaben – unter Hinzufügung des jeweiligen Rechtsfaches – unter der folgenden InternetVerbindung: www.koeblergerhard.de/Rechtsfaecher/
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lung dieses Rechts und zu seiner Anpassung an neue politische, ökonomische, soziale und kulturelle Verhältnisse bedarf es einer rationalen Jurisprudenz, die sich unter Berücksichtigung sowohl sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher, als auch natur- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse vor allem mit der Genese, der Durchsetzbarkeit und den Steuerungswirkungen rechtlicher Regelungen befaßt. Der Rechtswissenschaft fiel als institutionalisierter Disziplin seit jeher neben der Heranbildung von qualifizierten und loyalen Juristen die Bereitstellung von Vorschlägen für die möglichst rationelle und zugleich effektive rechtsförmige Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen zu. Sie kann zur Klärung von Fragen beitragen, die sich bei der Anwendung, Bewertung und Änderung von Rechtsnormen ergeben, ohne notwendig selber zur ideologischen Rechtfertigung oder Ablehnung der bestehenden Verhältnisse Zuflucht zu nehmen. Ihr sind vor allem die Rechtsdogmatik, die Rechtstatsachenforschung, die juristische Methodenlehre, die rechtspolitische Argumentation und die Allgemeine Rechtstheorie zuzuordnen.5 Wie gezeigt werden kann, hatte die um die Mitte des 19. Jahrhunderts durch Leo von Thun-Hohenstein erfolgte Reform des Rechtsstudiums in dieser Hinsicht bereits vieles von auch heute aktuell erscheinenden Gesichtspunkten realisiert; einige wertvolle Elemente – insbesondere gewisse geschichts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Inhalte – sind zwischenzeitig durch studienrechtliche Änderungen sogar wieder weitgehend zurückgenommen worden. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, kam es erst 1778, nach der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773 und der Übernahme der Universität durch den Staat, zur Einrichtung einer juridischen Fakultät in Graz.6 Dr. Joseph Balthasar Winckler wurde 1778 der erste Professor der Rechte an der neugegründeten Fakultät. Er entwickelte seit den 1740er Jahren eine umfangreiche Tätigkeit als Autor von Werken zu den Institutionen und den Digesten. Sein Rang als bedeutender Jurist seiner Zeit gründet sich vor allem auf sein zweibändiges Hauptwerk Jus civile universum […], das 1768 in Graz erschienen ist. Die zweite Professur wurde gemäß einem Hofkanzleidekret aus demselben Jahr an Franz Aloys Tiller verliehen, einen Lehrer des Naturrechts und des Römischen Rechts. Schon nach kurzer Zeit verlor die Grazer juridische Fakultät ihren Status als tragendes Element der Universität, da diese zu existieren aufhörte und auf ein Lyzeum herabgestuft wurde. In dieser Zeit, die bis 1827 andauerte, lehrten gleichwohl Juristen von Rang in Graz. Unter den Lehrern am Lyzeum ragt Sebastian Jenull (Abb. 1) hervor, der bedeutendste Strafrechtsdogmatiker des Vormärz, der in allen deutschsprachigen Ländern als 5 Vgl. dazu exemplarisch ROTTLEUTHNER 1973 und KOLLER 1997. 6 Zur Entwicklung des Rechtsstudiums von der Jesuitenuniversität ab 1773 über die Lyzealzeit bis 1848 siehe HÖFLECHNER 2006, S. 23–37. – Zu den Entwicklungen im Privatrecht, aber auch zu den Studienreformen im gleichen Zeitraum siehe WESENER 2002, S. 3–17. – Zu den Entwicklungen im römischen Recht vom 16. Jahrhundert bis 1849 sowie zu den Studienreformen in dieser Zeit siehe WESENER 1978, S. 3–39; zu den Entwicklungen im Naturrecht in der Zeit von 1778 bis ca. 1850 siehe ebenda, S. 125–135.
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eine Autorität ersten Ranges Ansehen genoß.7 Jenull, der kurz nach seiner in Wien erfolgten Promotion zum Doktor der Rechte auf Betreiben Franz Anton von Zeillers als Professor an das Grazer Lyzeum berufen wurde und hier maßgeblich an der Gründung des Joanneums beteiligt war, wirkte auch noch zwei Jahre lang als Inhaber der Lehrkanzel für Politische Wissenschaften, Österreichisches Privat- und Kriminalrecht an der im Jahre 1827 wiederbegründeten Universität. 1829 an die Universität nach Wien berufen, übte er vor allem im Zusammenhang mit der Revision des österreichischen Strafgesetzbuches als Mitglied der Hofkommission für Justizgesetzsachen eine wichtige Funktion aus und wurde – schon im Ruhestand befindlich – Rektor der Wiener Universität im Sturmjahr 1848. Nachdem er sich bereits vorher um die Beseitigung der ärgsten Zensurwillkür beim Kaiser verwendet hatte, nahm er mit großer Begeisterung an den Märzereignissen teil, überlebte jedoch dieses so unglücklich endende Jahr als körperlich und seelisch Gebrochener nicht und verstarb am 28.Dezember 1848. Als die Universität im Jahre 1782 in ein Lyzeum umgewandelt wurde, bedeutete dies für das Jusstudium keine wesentliche Veränderung gegenüber den vormals an der Universität bestehenden Gegebenheiten. Das im Jahre 1778 an der Universität Graz eingeführte Studium umfaßte, wie jenes am Lyzeum zunächst offenbar auch, nur zwei Jahrgänge. Eine Ausweitung des juristischen Lehrplans auf vier Jahrgänge erfolgte erst durch die Zeillersche Studienreform von 1810. Die Zahl der systemisierten Lehrkanzeln wurde gleichzeitig von zwei auf fünf erhöht. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung bestand nun zwischen dem Rechtsstudium an Lyzeen und dem an Universitäten kein Unterschied mehr, lediglich das Promotionsrecht blieb der Grazer juridischen Fakultät bis zur Wiedererrichtung der Universität im Jahr 1827 versagt.8 Mit den Rechts- und Verwaltungsreformen der theresianischen und josephinischen Zeit kam es zu einer Ausweitung und Verdichtung des Gesetzesstaates. Als eine Folge dieser Entwicklungen wuchs, wie erstmals bereits in der Zeit des frühen Staatsabsolutismus, die Bedeutung von gut ausgebildeten Juristen und von Kommissionen, welche die Gesetzgebung initiierten und die Gesetzgebungsverfahren begleiteten. Eine solche war die Hofgesetzgebungskommission, welcher der im Jahre 1751 in Graz geborene Franz Anton von Zeiller (Abb. 2) seit 1801 als Referent angehörte. Hier war er insbesondere mit der Redigierung der letzten Fassungen des bereits seit Kaiserin Maria Theresia geplanten und in mehreren Entwürfen vorliegenden Zivilgesetzbuchs befaßt. Zeiller verstand es, das umfangreiche Material zu diesem Gesetzbuch zusammenzufassen und dessen Umsetzung zu bewerkstelligen. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen
7 Zu den Grazer Juristen in der Zeit des Vormärz allgemein siehe EBERT 1969. 8 Auf die wichtige Rolle, die bei der Wiedererrichtung der Universität Graz durch Kaiser Franz II./I. der aus Graz gebürtige Franz Anton von Zeiller spielte, kann hier nicht eingegangen werden.
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Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, das am 1. Jänner 1811 verkündet wurde und exakt ein Jahr danach in Kraft trat, ist sein Werk. Wie Hermann Baltl dazu ausführt, ist dieses Gesetzbuch „von allen großen europäischen Zivilrechtskodifikationen, mit […] Ausnahme des Code Civil, das bis heute, wenn auch in neuerer Zeit vielfach abgeänderte, am längsten in Kraft stehende Gesetzbuch – es trat in Kraft in einer Zeit, in der Deutschland unter dem Einfluß der historischen Schule zusammenfassende Kodifikationen weithin ablehnte: denn erst 1900 wurde das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich Gesetz. Die Qualität des ABGB hat wirtschaftliche und Abb. 2: Franz Anton von Zeiller politische Veränderungen gewaltigen Quelle: Wikimedia Commons Ausmaßes überdauert: primär wohl deshalb, weil es seine naturrechtlichen Grundsätze, seine klare Sprache und Systematik und seine wertgebundene, aber elastische Konzeption alle oft recht kurzlebigen, politischen, militärischen Wirren etc. überdauern machten.“ 9 – Der Beitrag von Bernd Schilcher zu diesem Sammelband ist dem bedeutenden Werk Zeillers gewidmet. So wie andere Wissenschaftsbereiche auch, nehmen die Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Graz ihren Aufschwung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,10 vor allem nach dem Vollausbau der Universität im Jahr 1863. Den bedeutungsvollen Anfang bezüglich der universitären Institutionalisierung aller drei Wissenschaftsbereiche an den juridischen Fakultäten bildete die Universitäts- und Studienreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein (Abb. 3) vom 2. Oktober 1855. Ihr zufolge sollten die rechtshistorischen Fächer die Basis des Rechtsstudiums sein, das Naturrecht sollte durch Rechtsphilosophie ersetzt werden. Der zweite Teil des insgesamt vier9 BALTL 1992, S. 673. 10 Zur Entwicklung der Grazer juridischen Fakultät in der Zeit von 1848 bis 2002 siehe HÖFLECHNER 2006, S. 330–353. – Zu den Entwicklungen im Privatrecht, aber auch zu den Studienreformen im ungefähr gleichen Zeitraum, also von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, siehe WESENER 2002, S. 18–106. – Zu den Entwicklungen im Römischen Recht in der Zeit von 1849 bis 1959 und abermals – noch ausführlicher – zu den Studienreformen in dieser Zeit siehe WESENER 1978, S. 41–121.
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jährigen Studiums, dem unter anderem eine Staatsprüfung aus Deutscher Reichs- und Rechtsgeschichte in Verbindung mit Österreichischer Geschichte im ersten Teil voranzugehen hatte, umfaßte insbesondere Österreichisches bürgerliches Recht, Strafrecht und Strafprozeßrecht im dritten Studienjahr, und Österreichisches Zivilprozeßrecht, Österreichisches Handels- und Wechselrecht, Österreichische Statistik und – wie auch bereits im Jahr zuvor – Politische Wissenschaften im vierten Studienjahr. Wer sich dem Staatsdienst widmen wollte, hatte im Rahmen der dritten Staatsprüfung neben Österreichischer Statistik auch Prüfungen aus Abb. 3: Leo Graf von Thun-Hohenstein Nationalökonomie und FinanzwisQuelle: Wikimedia Commons senschaft abzulegen. Wie ersichtlich, umfaßte die vom Grafen Thun konzipierte juridische Studien- und Staatsprüfungsordnung des Jahres 1855, die als die größte persönliche Leistung in dem Gesamtwerk der Unterrichtsreform bezeichnet wurde, welche seinen Namen trägt, viele der auch heute den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zuzuordnenden Fächer und stellte zugleich die Weichen für deren Entwicklung in den auf sie folgenden eineinhalb Jahrhunderten. Daher waren später beispielsweise auch der Soziologe Ludwig Gumplowicz und der Sozialökonom Joseph Alois Schumpeter, denen im vorliegenden Sammelband eigene Beiträge gewidmet sind, an der Grazer juridischen Fakultät beheimatet. – Die modifizierte juridische Rigorosenordnung vom 15. April 1872, welche weiteren, 1855 noch nicht durchsetzungsfähigen Plänen Thuns Rechnung trug, blieb (in novellierter Fassung) bis zum 30. September 1995 in Wirksamkeit, also noch über das Jahr 1976 hinaus, in welchem es im Sinne des Universitäts-Organisationsgesetzes (UOG) vom 11. April 1975 an der Universität Graz faktisch zur Teilung der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in eine Rechtswissenschaftliche und eine Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät gekommen war. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, weitgehend auch als eine Folge der Ereignisse des Revolutionsjahres 1848, begegnet man auf allen Gebieten des Rechts Persönlichkeiten, die – sei es als Rechtswissenschaftler oder als Rechtspolitiker des Gesamtstaates – das wissen-
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schaftliche und politische Leben der Steiermark und oft auch Österreichs maßgeblich mitgestaltet haben. So hat beispielsweise der 1811 in Pettau (heute: Ptuj) geborene Moritz Thaddäus Blagatinschegg, Edler von Kaiserfeld, der seit 1870 Landeshauptmann der Steiermark war, sowohl bei den Verhandlungen über den Ausgleich mit Ungarn als auch bei der Festlegung der staatsrechtlichen Gestalt Cisleithaniens im Rahmen der Verfassung von 1867 eine bedeutende Rolle gespielt. – Ein anderer, bereits in der Einleitung zu diesem Sammelband erwähnter Politiker von beachtlicher Wirkung war der 1823 in Graz geborene Karl von Stremayr (Abb. 4), der ursprünglich Dozent für Römisches Recht, später aber zunächst österreichischer KulAbb. 4: Karl von Stremayr tusminister und dann Justizminister war, schließQuelle: Wikimedia Commons lich aber zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes berufen wurde.11 Neben Thun-Hohenstein war er wohl für lange Zeit die bedeutendste Gestalt in der österreichischen Wissenschafts- und Unterrichtspolitik, da unter ihm der definitive Anschluß Österreichs an internationale Spitzenstandards in der wissenschaftlichen Forschung erfolgte. – Die Galerie namhafter aus Graz stammender und den Rechtswissenschaften verbundener politischer Persönlichkeiten reicht herauf bis zu dem als Nationalratspräsident und in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als Bundespräsident tätigen Heinz Fischer.12 Was andererseits die namhaften Repräsentanten der Jurisprudenz und der Rechtswissenschaft anlangt, die in Graz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich wirk11 Stremayr hielt nach seiner im Jahr 1860 erfolgten Habilitation nur ein Jahr lang Lehrveranstaltungen an der Universität Graz ab, da er sich bald der Politik zuwandte. Hier die Stationen seiner politischen Karriere: 1861 Abgeordneter des steirischen Landtages, von 1878 bis 1880 Minister für Cultus und Unterricht, 1879 Vorsitzender des Ministerrates, 1879/80 Justizminister im Kabinett Taaffe und zugleich Unterrichtsminister, von 1893 bis 1899 Präsident des Obersten Gerichtshofes. – In seiner Funktion als Minister für Cultus und Unterricht führte er 1874 die politische Reformgesetzgebung durch. 12 Heinz Fischer habilitierte sich 1978 an der Universität Innsbruck für Politikwissenschaft und wurde dort 1994 zum ordentlichen Professor für dieses Fach ernannt. – Anders geartet war die Beziehung zu Fragen des Rechts bei dem erst 1968 „revisionistisch“ gewordenen Ernst FISCHER, der, 1899 in Komotau geboren und in Graz aufgewachsen, zu einem der wichtigsten KPÖ-Politiker in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Schon einige Zeit zuvor, just zur Zeit des Beginns der großen Moskauer Schauprozesse, reflektierte dieser von der Poesie und den Geisteswissenschaften herkommende und lebenslang Fragen der Ästhetik zugewandte Intellektuelle über die sowjetische Verfassung des Jahres 1936 in einer Schweizer Publikation: Die neuen Menschenrechte. Die Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Basel 1937.
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ten, so können im folgenden nur exemplarische Repräsentanten des jeweiligen Sachgebietes vorgestellt werden; allerdings waren einige von ihnen in mehr als einem Forschungsbereich tätig. * Im Bereich des Zivilrechts13 ist zunächst auf Josef Krainz (Krajnc) hinzuweisen, der, 1821 in Skalis, in der ehemaligen Untersteiermark geboren, in Graz studierte, hier zunächst das Doktorat der Philosophie, dann der Rechte erworben hatte und danach 1848/49 Abgeordneter zum österreichischen Reichstag war. Von 1849 bis 1854 lehrte Krainz an der Grazer juridischen Fakultät, seit 1852 als außerordentlicher Professor. Er war einer von drei Professoren, die aufgrund eines Ministerialerlasses vom Dezember 1849 an der Grazer Universität Vorlesungen in slowenischer Sprache hielten. Über Hermannstadt (heute: Sibiu) in Siebenbürgen führte ihn sein akademischer Weg nach Innsbruck, danach weiter an die Universität Prag, wo er eine ordentliche Professur für Österreichisches Zivilrecht innehatte. Hier verstarb er im Jahr 1875, kurz nach seinem 54. Geburtstag. Krainz hat das System des österreichischen allgemeinen Privatrechts als Lehrbuch und Kommentar aufgebaut, das von seinem Kollegen und Freund Leopold Pfaff aus dem Nachlaß herausgegeben und von diesem sowie von Armin Ehrenzweig weitergeführt wurde. Krainz kommt das Verdienst zu, das erste vollständige System des österreichischen Privatrechts auf historisch-systematischer Grundlage erarbeitet zu haben. Von herausragender Bedeutung ist der 1844 in der Nähe von Zirl in Tirol geborene und 1877 in Graz zum Extraordinarius für Österreichisches Zivilrecht ernannte Emil Strohal (Abb. 5). Hier hatte er sich 1875 für Allgemeines österreichisches Zivilrecht habilitiert und nach 17 Jahren fruchtbaren Wirkens wurde er im Jahre 1892 von Graz zum Nachfolger des berühmten Rudolf von Jhering – und zwar auf dessen ausdrücklichen Wunsch – nach Göttingen berufen. Hier, aber auch während seiner schon 1894 begonnen Tätigkeit an der Leipziger Universität, befaßte sich der deutschnational denkende Strohal unter anderem intensiv mit den politischen Problemen der Doppelmonarchie und deren prekären Beziehungen zum Deutschen Reich. Das Œuvre von Strohal, den unter anderem auch mit Otto von Gierke eine enge Freundschaft verband, weist drei Schwerpunkte auf: Sachenrecht, Beiträge zum ersten und zweiten Entwurf des deutschen 13 Das gemeine Privatrecht, auch Bürgerliches Recht genannt, regelt die Rechtsverhältnisse der Bürger eines Staates untereinander sowie zwischen dem Bürger und dem Staat, sofern dieser als Träger von Privatrechten auftritt. Teilbereiche des Bürgerlichen Rechts sind beispielsweise das Personenrecht, das Sachenrecht, das Familienrecht, das Eherecht oder das Schuldrecht. Das Sonderprivatrecht gilt hingegen nicht für alle Gruppen, sondern nur für bestimmte – so zum Beispiel das Handelsrecht für Kaufleute –, oder es gilt nur für bestimmte Sachbereiche, wie zum Beispiel das Arbeitsrecht, das Wertpapierrecht oder das Urheberrecht.
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Bürgerlichen Gesetzbuches, Erbrecht. Einer seiner Aufsätze: „Die Eigentümerhypothek im österreichischen Recht“, der verschiedentlich für besonders kühn und weitblickend gehalten wird, hat große Bedeutung für die Weiterentwicklung des österreichischen Rechts erlangt. Strohal wurde von zahlreichen Rechtsgelehrten seiner Zeit überaus geschätzt, und dem entspricht auch das abschließende Urteil Gunter Weseners: „Emil Strohal, ein Vertreter der historisch-systematischen Methode der Privatrechtswissenschaft, war zweifellos einer der bedeutendsten Zivilrechtler an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, bahnbrechend auf dem Gebiete des neuen bürgerlichen Rechts.“14 Abb. 5: Emil Strohal Für die Nachfolge von Emil StroQuelle: Archiv der Universität Graz hal wurde von diesem selbst Josef Freiherr Schey von Koromla (Abb. 6) vorgeschlagen, der unter anderem ein Schüler von Joseph Unger, Rudolf von Jhering und Lorenz von Stein war. Schey wurde 1895 zum ordentlichen Professor des Römischen Rechts an der Universität Graz ernannt, wechselte im Jahr 1893 als Nachfolger Strohals auf die ordentliche Professur für Österreichisches Zivilrecht über und folgte 1897 einem Ruf auf ein Ordinariat für Bürgerliches Recht an der Universität Wien. In seiner Grazer Zeit begann Schey mit der Veröffentlichung seines Hauptwerkes Die Obligationsverhältnisse des österreichischen allgemeinen Privatrechts, das verschiedentlich als eine der bedeutendsten Arbeiten der österreichischen Rechtswissenschaft angesehen wird; die erste Lieferung datiert aus dem Jahre 1890. Besondere Verdienste erwarb er sich um die Manz’sche Ausgabe des ABGB, deren Bearbeitung er ab der 14. Auflage (1892) zur Gänze, und zwar bis zur 22. Auflage (1927) übernahm; diese Bearbeitung wird bis heute fortgeführt. Schey, der als Gelehrter wie als Gesetzgeber das österreichische Privatrecht entscheidend mitgeformt hat, wurde 1907 als Mitglied auf Lebensdauer in das Herrenhaus berufen. – Scheys Nachfolger als Ordinarius für Österreichisches Zivilrecht war Paul Steinlechner, der durch 14 WESENER 2002, S. 42. – Zu Strohal siehe auch WENGER 1914 und WELLSPACHER 1915.
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Abb. 6: Joseph Freiherr von Schey-Koromla
Abb. 7: Armin Ehrenzweig
Quelle: Archiv der Universität Graz
Quelle: Archiv der Universität Graz
einen 1975 in Innsbruck veröffentlichten Vortrag „Zur Reform des Eherechts“ einiges Aufsehen dadurch erregte, daß er für die Zurückdrängung der Prinzipien der katholischen Kirche auf diesem Gebiet eintrat. Als Hauptwerk ragt aus seinem reichen Schrifttum die in zwei Teilen erschienene zivilistische Abhandlung Das Wesen der juris communio und juris quasi communio (1876–78) hervor. Der 1864 in Budapest geborene und 1896 an der Universität Wien für österreichisches Privatrecht habilitierte Armin Ehrenzweig (Abb. 7) wurde 1913 mit der ordentlichen Professur für Österreichisches Privatrecht in Graz betraut und zählt zweifellos zu den namhaftesten Rechtsgelehrten der Grazer Universität. Ehrenzweig lehrte hier 21 Jahre lang, bis 1934, wo im Jahr darauf Walter Wilburg als Extraordinarius sein Nachfolger werden sollte. Ehrenzweigs Werk umfaßt ein weites Themenspektrum: Zivilrecht, Prozeßrecht und Rechtsgeschichte. Seine große Leistung ist die Bearbeitung und Neugestaltung des Systems des österreichischen allgemeinen Privatrechts von Josef Krainz und Leopold Pfaff. Dieses Werk wurde ab der dritten Auflage von Ehrenzweig betreut, in den folgenden Auflagen stark umgearbeitet und erweitert, und ab der sechsten Auflage erschien das System von Kainz/Pfaff unter dem Namen von Ehrenzweig. Ehrenzweigs System ist in gewisser Weise zum führenden Buch im Schrifttum des österreichischen
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Zivilrechts geworden, da es als Grundlage der Urteilsbegründung von zahlreichen zivilrechtlichen Entscheidungen diente. Ernst Swoboda, 1919 für Österreichisches allgemeines Privatrecht an der Grazer Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät habilitiert und ab 1924 Titular-Extraordinarius, hat sich als der neben Walter Wilburg bedeutendste Schüler von Armin Ehrenzweig neben verschiedenen zivilrechtlichen Fragen insbesondere mit der Entstehungsgeschichte des ABGB beschäftigt. In diesem Zusammenhang war er vor allem intensiv mit dem Werk von Immanuel Kant sowie mit demjenigen von Franz Anton von Zeiller befaßt. Ähnlich wie der ebenfalls für einige Zeit an der Universität Graz lehrende Moriz Wellspacher15 hat Swoboda dargelegt, daß Zeiller stark unter dem Einfluß des philosophischen Kritizismus Kants stand. Ehrenzweigs geistvollster und wirkungsvollster Schüler war zweifellos Walter Wilburg, der 1905 in Graz geboren wurde, sich 1933 an der Universität Wien für „Österreichisches und Deutsches Zivilrecht sowie ausländisches Privatrecht in rechtsvergleichender Darstellung“ habilitierte und 1934 auf Armin Ehrenzweig als außerordentlicher Professor nachfolgte. Drei Anträgen auf Hebung zum ordentlichen Professor, die für ihn in den Jahren zwischen 1939 und 1944 gestellt wurden, wurde nicht entsprochen, obwohl Wilburg in dieser Zeit eine Reihe von Berufungen auf ein Ordinariat erhielt: von den Universitäten Prag, Wien, Greifswald und Göttingen. Erst mit Oktober 1945 wurde Wilburg zum ordentlichen Professor für Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Graz ernannt. Wilburg, der nicht weniger als sieben Mal das Amt des Dekans bekleidete, war eine der tragenden Säulen der juridischen Fakultät.16 Sein wissenschaftliches Werk betrifft drei Themenschwerpunkte: Schadenersatzrecht, Bereicherungsrecht und methodische Grundfragen des Zivilrechts. – Über die mit seinem Namen verbundene, eminent wirkungsvolle Theorie eines Beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht sowie über andere Aspekte seines Werks informiert im vorliegenden Sammelband der Beitrag von Franz Bydlinski. Der seinem Lehrer Wilburg in wissenschaftlicher und menschlicher Hinsicht eng verbundene Franz Bydlinski wurde 1960 zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Sozialrecht ernannt. Bydlinski, der bald nach seiner Grazer Ernennung gleich mehrere Berufungen auf ordentliche Lehrstühle erhielt, hat den an ihn von der Universität Bonn ergangenen Ruf auf eine ordentliche Professur im Jahre 1963 angenommen. Von 1967 an bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2000 wirkte er an der Wiener Universität als Professor für Bürgerliches Recht. Bydlinskis wissenschaftliches 15 Zu Wellspacher siehe WESENER 2002, S. 62– 67. 16 Daß diese Charakterisierung keine Übertreibung darstellt, ist schon daraus ersichtlich, daß sich unter Wilburg – in chronologischer Reihenfolge – Josef Wegan, Franz Bydlinski, Viktor Steininger und Bernd Schilcher für Privatrecht habilitiert haben und daß zu seinen Schülern Helmut Koziol, Helmut Schnizer, Horst Wünsch, Attila Fenyves und Willibald Posch zählen.
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Werk ist ungemein reichhaltig und breit gestreut, wie zahlreiche Monographien, Aufsätze und Artikel bezeugen. Als seine Arbeitsschwerpunkte sind zu nennen: Zivilrecht und Sonderprivatrechte, Kaufrecht, Eigentumsvorbehalt, Grundrechte und Privatrecht, Arbeitskampfrecht, Schadenersatzrecht, Allgemeines Rechtsgeschäftsrecht, Juristische Methodenlehre, Rechtsgrundsätze und Rechtsethik.17 Als Nachfolger Walter Wilburgs wirkte in Graz von 1975 bis 1978 als ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht der später in Linz, danach in Wien als Professor für Handels- und Wertpapierrecht tätige Josef Aicher; auf ihn folgte, bis zu seiner 1995 erfolgten Annahme eines Rufes an die Universität Wien, Attila Fenyves. Aichers Publikationen sind des öfteren im Grenzbereich von Privatrecht und öffentlichem Recht angesiedelt, wie dies durch die auch rechtstheoretisch interessanten Monographien über das Eigentum als subjektives Recht (1975) und über Grundfragen der Staatshaftung bei rechtmäßigen hoheitlichen Eigentumsbeeinträchtigungen (1978) exemplarisch belegt wird. Franz Bydlinski attestiert Aicher im Blick auf diese beiden Bücher sowie auf ein Gutachten zu Enteignungsproblemen (1985), darin „einen privatrechtlichen und beweglichen Ansatz für die besonders schwierige Abgrenzung zwischen bloßer Beschränkung und ,materieller‘ Enteignung erarbeitet“ zu haben.18 Weitere Schwerpunkte im Schrifttum Aichers bilden wettbewerbsrechtliche sowie allgemeinzivilrechtliche Arbeiten, die ihn als erstrangigen Fachmann auf diesen Gebieten ausweisen. 1964 wurde Viktor Steininger zum ordentlichen Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozeßrecht und Arbeitsrecht ernannt, dessen Publikationen sich vom Familien-, Kindschafts- und Adoptionsrecht19 bis hin zur Rechtsphilosophie, zum Katholischen Kirchenrecht und zur Theologie erstrecken. – 1978 erhielt Bernd Schilcher, in dessen Arbeiten häufig Vorstellungen seines Lehrers Wilburg über ein „Bewegliches System“ fortgeführt werden, eine ordentliche Professor für Privatrecht. Auch mit rechtstheoretischen Fragestellungen war er wiederholt befaßt. – Auf die 1973 geschaffene ordentliche Professur für Privatrecht mit besonderer Berücksichtigung des Wirtschaftsrechtes wurde 1976 Heinz Krejci berufen, der fast ein Jahrzehnt lang in Graz lehrte, ehe er 1985 einem Ruf an die Universität Wien folgte. Krejci zählt zu den namhaftesten und produktivsten Privatrechtslehrern der Zweiten Republik – Eigenschaften, die durch seine mehrheitlich humoristischen literarischen und zeichnerischen Produkte zusätzlich eine sehr reizvolle Aura erhalten.20 Seine zahlreichen Bücher, vor allem jene über Handelsrecht, Privatrecht und 17 Zu Bydlinskis Werk und Wirken siehe Helmut KOZIOL (Hg.): Im Dienste der Gerechtigkeit. Festschrift für Franz Bydlinski, Wien u. a. 2002. 18 Franz BYDLINSKI: Art. „Aicher, Josef“, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Almanach 2000/2001. 151. Jahrgang, Wien 2001, S. 138. 19 Hiermit schließt Steininger in gewisser Hinsicht an einen früher in Graz vor allem von Joseph von Anders bearbeiteten Themenkreis an; vgl. beispielsweise ANDERS 1882, 1887, 1910, 1911. 20 Siehe z.B. Heinz KREJCI: JuRidikulum. UniVerse […] mit CD-ROM, Wien 2004.
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Abb. 8: Hans Georg Ruppe Quelle: Kleine Zeitung Graz, Photo SOMMER
Unternehmensrecht, sind zu Standardwerken des Faches geworden. – Krejcis Nachfolger in Graz wurde der hier habilitierte Willibald Posch, der 1988 zum ordentlichen Professor für Bürgerliches Recht und Privatrechtsvergleichung ernannt wurde und heute am Institut für Zivilrecht, Ausländisches und Internationales Privatrecht tätig ist. Für „Finanzrecht und Finanzpolitik“ hat Hans Georg Ruppe (Abb. 8) 1971 die venia docendi an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien erworben, von wo er 1972 einem Ruf auf die ordentliche Professur für Finanzrecht an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz folgte. Graz hielt er danach trotz eines Rufes an die Wirtschaftsuniversität und eines weiteren an die Universität Wien die Treue. Seit 1987 ist er Ersatzmitglied, seit 1999 Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, ferner gehört er dem Vorstand der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft sowie der International Fiscal Association mit Sitz in Rotterdam an. Gemäß seinen sowohl rechts- als auch wirtschaftswissenschaftlichen Interessen deckt sein wissenschaftliches Werk ein breites Spektrum von einschlägigen Sachproblemen ab. Zahlreiche Monographien und Aufsätze, Fachartikel und Beiträge zu Sammelbänden weisen ihn als Experten auf den Gebieten des österreichischen und internationalen Steuerrechtes, der Umsatzsteuer (welcher eine Zeit lang Ruppes besonderes Interesse galt) sowie der Finanzverfassung und Finanzpolitik aus. Insbesondere sein Beitrag zur Entwicklung der Markteinkommenstheorie, die den steuerlichen Einkommensbegriff als Ergebnis einer entgeltlichen Verwertung von Leistungen (Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen) am Markt erklärt, stieß auf großen Zuspruch unter Fachleuten. Der wertvolle Ertrag von Ruppes Schaffen spiegelt sich unter anderem in dem gemeinsam mit Werner Doralt besorgten zweibändigen Grundriss des österreichischen Steuerrechts, ferner in dem nun in dritter Auflage erschienenen Kommentar zum Umsatzsteuergesetz (2005). Nach den Worten von Georg Stoll gibt das Schaffen Ruppes „Zeugnis vom ständigen ernsthaften (und erfolg-
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reichen) Bemühen um die methodisch exakte Durchdringung eines zufolge der Schnelllebigkeit der Gesetze spröden und oft unsystematischen Rechtsstoffes. Sein Kommentar zum Finanz-Verfassungsgesetz ist in jeder Hinsicht bewundernswert. Ruppes Hauptanliegen ist die wissenschaftliche Fundierung und Weiterentwicklung des Finanzrechtes, das für ihn methodisch und thematisch als rechtswissenschaftliche Disziplin in strenger Gebundenheit an das Verfassungsrecht betrachtet wird und in seinen möglichen rechtspolitischen Beurteilungen den Grundsätzen der Finanzwissenschaft unterworfen zu sehen ist.“21 * Auch die Lehre und Erforschung des römischen Rechts hatte in Graz hervorragende und bedeutende Gelehrte aufzuweisen. – In Linz im Jahre 1818 geboren, trat – gerade einmal 26 Jahre alt – August Chabert 1844 in Graz sein Amt als Professor für Römisches und kanonisches Recht an. Chabert ist einer der bedeutendsten österreichischen Gelehrten aus der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts, der nicht nur umfangreiche rechtsgeschichtliche und rechtswissenschaftliche Studien trieb, sondern insbesondere auch wertvollste Vorarbeiten zur Schaffung einer österreichischen Staats- und Rechtsgeschichte leistete. Chaberts früher Tod – er starb im Alter von nur 31 Jahren – verhinderte die Fertigstellung seines ambitionierten Projekts.22 Im Jahr 1860 kam der bis dahin als ordentlicher Professor des Römischen Rechts an der Universität Innsbruck wirkende Friedrich Bernhard Maassen als Ordinarius für Römisches Recht und kanonisches Recht nach Graz. Erst nach dem Abgang Maassens an die Universität Wien erfolgte 1871 in Graz die institutionelle Trennung von Römischem Recht und Kirchenrecht. – Der mit Abstand hervorragendste Grazer Kanonist war Rudolf von Scherer, der 1845 in Graz geboren wurde, hier ab 1862 das Studium der Rechtswissenschaften betrieb und ein Schüler von Friedrich Maassen war, der ihn durch Anwendung der historischen Methode auf das Kirchenrecht stark beeinflußte. Scherer studierte nach Abschluß seines Rechtsstudiums Theologie in München und Tübingen und wurde 1869 in Graz zum Priester geweiht. 1876 wurde er zum ersten
21 Gerold STOLL: Art. „Ruppe, Hans Georg“, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Almanach 2003/2004. 154. Jahrgang, Wien 2004, S. 132–134, hier S. 133f. – Zu Ruppes Werk siehe auch ACHATZ (Hg.) 2007. 22 Der einzige gedruckte Teil von Chaberts Vorarbeiten dazu ist das im Jahre 1852 von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien unter der Leitung von Anton HYE von GLUNECK publizierte Bruchstück einer Staats- und Rechtsgeschichte der Deutsch-Oesterreichischen Länder. Dabei handelt es sich um die erste systematisch-kritisch angelegte Rechtsgeschichte Österreichs – damals bekanntlich eines Großreichs von eminenter ethnisch-kultureller Vielgestaltigkeit.
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Ordinarius des erneut eingerichteten Lehrstuhls für Kanonisches Recht an der hiesigen Theologischen Fakultät bestellt, lehnte danach Berufungen nach Prag und Freiburg i. B. ab, ging aber 1899 nach Wien. Dort geriet er mit der kirchlichen Autorität in Konflikt und sah sich 1912 zum Rücktritt genötigt. Sein zweibändiges Handbuch des Kirchenrechts zeichnet sich durch eine quellengestützte systematische Durchdringung des umfangreichen Rechtsstoffes aus. – Maximilian Liebmann unternimmt es in seinem Beitrag, das Werk Rudolf von Scherers darzustellen und auch einen Blick auf das nicht gerade einfache akademische Leben dieses redlichen Wissenschaftlers zu werfen. 1862 wurde der bis dahin als ProfesAbb. 9: August Demelius sor des Römischen Rechts an der Quelle: Archiv der Universität Graz Krakauer Universität wirkende Gustav Demelius (Abb. 9) in gleicher Eigenschaft an der juridischen Fakultät in Graz bestellt und wirkte hier 19 Jahre. Er zählt zu den angesehensten Mitgliedern der Grazer Juristenfakultät. Demelius lehnte verschiedene an ihn ergangene ehrenvolle Rufe ab, folgte jedoch schließlich im Jahre 1881 dem an die Wiener Universität. In seine Grazer Zeit fallen zwei seiner Hauptwerke.23 Demelius galt als „der erste Jünger Jherings“, obwohl er das Angebot ausgeschlagen hat, im Jahre 1872 dessen Nachfolger an der Wiener Universität zu werden. Strohal, der voll Anerkennung über Demelius sprach, sah in ihm jemanden, der es verstanden habe, eine ganze Reihe neuer Probleme zu stellen und auf überraschende Weise zu lösen.24 Nach Moriz Wlassak, der von 1882 bis 1884 als Professor des Römischen Rechts in Graz wirkte und bis zum heutigen Tag als bahnbrechender Prozeßhistoriker gilt, wurde Josef von Schey-Koromla auf diesen Lehrstuhl berufen, der danach, im Jahre 1893, auch zum ordentlichen Professor des Österreichischen Zivilrechts ernannt werden sollte. Im Jahr 1897 nahm er einen Ruf auf das Ordinariat für Bürgerliches Recht als Nachfolger von Leopold Pfaff an der Universität Wien an. Auf seine hervorragenden Leistungen als
23 DEMELIUS 1872 und 1880. 24 Siehe dazu WESENER 1978, S. 59.
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Vertreter des österreichischen Zivilrechts wurde bereits oben hingewiesen. Ein Gelehrter von ungemein nachhaltiger wissenschaftlicher Wirkung war der von 1893 bis 1926 in Graz wirkende Romanist Gustav Hanausek. (Abb. 10) 25 Als dessen wichtigste Veröffentlichung gilt das Werk Die Haftung des Verkäufers für die Beschaffenheit der Waare nach römischem und gemeinem Recht mit besonderer Berücksichtigung des Handelsrechts (1883 – 1887). Hanausek, ein Pandektist und Dogmatiker des Privatrechtes, publizierte vor allem zum österreichischen bürgerlichen Recht, zum Handels- und zum Wechselrecht. Seine Interessen galten dabei vor allem Fragen der Gesetzgebungspolitik, auch nahm er in mehreren kriAbb. 10: Gustav Hanausek tischen Abhandlungen zu Entwürfen Quelle: Archiv der Universität Graz Stellung, welche die Änderung oder Ergänzung des ABGB betrafen. Zudem meldete er sich wiederholt zu Fragen der juristischen Studien- und Prüfungsordnung wie auch zu solchen der allgemeinen Hochschulpädagogik zu Wort.26 – Höchste Anerkennung haben vier Gelehrte erfahren, die allesamt Hanauseks Schüler waren: Leopold Wenger, Artur Steinwenter, Paul Koschaker und Mariano San Nicolò.27 Besonders das Seminar Hanauseks, das bezüglich seiner Attraktivität und wissenschaftlichen Folgewirkung als eine Grazer rechtshistorische Variante des berühmten Wiener wirtschaftstheoretischen Seminars von Eugen von Böhm-Bawerk bezeichnet werden könnte, hat sie in besonderer Weise inspiriert. Leopold Wenger (Abb. 11), der sich an der Grazer juridischen Fakultät im Jahre 1901 für Römisches Recht habilitiert hatte, wurde im Jahr darauf zum außerordentlichen Professor ernannt, folgte dann einem Ruf an die Universität Wien, wurde aber 1905 wieder nach Graz rückberufen. Im Jahre 1906 erschien seine wichtige Abhandlung Die 25 Wie in den Vorbemerkungen zu Kap. IV ausgeführt wird, war es Hanausek, der sich, als es um die Nachfolge auf den Lehrstuhl für Politische Ökonomie von Richard Hildebrand ging, in der Berufungskommission mit einem Sondervotum, welchem sich nur noch Adolf Lenz anschloß, für Joseph Schumpeter einsetzte. 26 Dazu siehe insbesondere HANAUSEK 1913a und 1917. 27 Die drei zuletzt Genannten sind allerdings auch als Schüler Wengers anzusehen.
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Stellvertretung im Rechte der Papyri als Festschrift der Karl-Franzens-Universität. Nach Gunter Wesener ist das umfangreiche Schrifttum Wengers durch fünf Forschungsschwerpunkte zu charakterisieren: römischer Zivilprozeß und römische Gerichtsverfassung; öffentliches Recht der Römer; römische Rechtsquellen; Arbeit an den Papyri; Entwicklung des Forschungskonzepts für eine „Antike Rechtsgeschichte“.28 Nach 1908 war Wenger an den Universitäten in Heidelberg, München und Wien tätig. Unmittelbar vor seinem Tode im Jahre 1953 konnte er noch das Erscheinen seines monumentalen Werkes Die Quellen des römischen Rechts Abb. 11: Leopold Wenger erleben. Wenger gilt unstrittig als Quelle: Archiv der Universität Graz einer der größten Romanisten überhaupt.29 Im Jahre 1926 wurde der 1888 in Marburg an der Drau geborene und 1914 an der Grazer juridischen Fakultät habilitierte Artur Steinwenter (Abb. 12) Ordinarius für Römisches Recht. Sein Schrifttum umspannt außer seinem Nominalfach30 und der antiken Rechtsgeschichte eine Vielzahl von Themen: Papyrusforschung, Familien- und Erbrecht, das Recht der Bauern, Geschichte der juristischen Denkformen, Rechtstheorie. Steinwenter, dem bezüglich seines Schrifttums gleichermaßen eine musterhafte Sorgfalt im Detail wie eine tiefe Durchdringung des Stoffes, ferner Originalität in der Erklärung von Einzelfragen attestiert wird, hat sich für die Erschließung von Rand- und Nachbargebieten der Romanistik große und bleibende Verdienste erworben. Von seinen weitgespannten Interessen zeugt insbesondere seine Aufsatzsammlung Recht und Kultur 28 Siehe WESENER 1978, S. 83f. – Wesener weist auch darauf hin, daß die Österreichische Akademie der Wissenschaften 100 Jahre nach Wengers Geburt, im Jahre 1974, eine Kommission für antike Rechtsgeschichte gründete (ebenda, S. 85). 29 Ausführlicher zu Wenger siehe WESENER 1978, S. 79–85, v. a. auch THÜR (Hg.) 2006. 30 Auf dem Gebiet der spätrömischen Rechtsentwicklung, einem Schwerpunkt seiner Tätigkeit, beschäftigte sich Steinwenter vor allem mit dem römischen Kognitionsprozeß, dem Recht der koptischen Urkunden und dem spätantiken Staatskirchenrecht. Das heutige Bild des nachklassischen römischen Zivilprozesses verdanken wir nach Ansicht Gunter Weseners vor allem Artur Steinwenter.
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Abb. 12: Artur Steinwenter
Abb. 13: Julius Georg Lautner
Quelle: Archiv der Universität Graz
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(1958).31 Eine enge Freundschaft verband ihn vor allem mit Walter Wilburg. Als seine Schüler sind Julius G. Lautner, Hermann Baltl, Gunter Wesener, Helmut Schnizer, Franz Bydlinski und Viktor Steininger zu nennen. Im Jahr 1926 erfolgte die Ernennung von Julius Georg Lautner (Abb. 13) zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht und Arbeitsrecht; dies war die erste Professur in Österreich, die das Arbeitsrecht als Lehrfach einschloß. 1929 folgte Lautner einem Ruf an die Handelshochschule Mannheim, 1930 wurde er als ordentlicher Professor an die Universität Zürich berufen. 1972 verstarb Lautner in Zürich. Im Jahr 1976 wurde jenes Buch veröffentlicht, an dem er bis kurz vor seinem Ableben gearbeitet hatte: Zur Bedeutung des römischen Rechts für die europäische Rechtskultur und zu seiner Stellung im Rechtsunterricht. – Auch das Schrifttum von Erich Sachers, der nach dem Weggang Lautners im Jahre 1929 zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht und Arbeitsrecht ernannt wurde, ist weit gestreut. So finden sich neben Untersuchungen zu den beiden durch die Lehrstuhlcharakterisierung angezeigten Forschungsgebieten unter Sachers’ Schriften auch Untersuchungen zur neueren Privat31 Ausführlicher zu Steinwenter siehe WESENER 1978, S. 89–97, ferner BALTL (Hg.) 1958.
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rechtsgeschichte, zum Agrarrecht und zum Zivilprozeßrecht. Zudem war er ein sehr produktiver Mitarbeiter an der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft von Pauly-Wissowa, für die er unter vornehmlich familien- und erbrechtlichen Lemmata mitunter geradezu kleine Monographien verfaßt hat. Paul Koschaker, der als der Begründer der orientalischen Rechtsgeschichte angesehen werden kann und zweifellos zu den bedeutendsten an der Grazer Universität tätig gewesenen Gelehrten zählt, wurde hier 1905 mit einer Studie zum römischen Zivilprozeß habilitiert. Noch in Graz faßte er den Entschluß, sich mit den Keilschriftquellen vertraut zu machen, was ihm vor allem mit der Unterstützung des hier an der Philosophischen Fakultät lehrenden Semitisten Nikolaus Rhodokanakis gelang. Koschaker, der in Graz nur als Dozent wirkte – wiederholten Anträgen der Fakultät um seine Ernennung zum außerordentlichen Professor wurde von seiten des Ministeriums nicht stattgegeben –, wurde 1908 nach Innsbruck, 1909 an die Deutsche Universität in Prag, und 1915 als Nachfolger seines Lehrers Emil Strohal nach Leipzig berufen, wo er 21 Jahre lang Deutsches bürgerliches Recht und Römisches Recht lehrte. Weitere Stationen seines Wirkens als Professor waren die Universitäten Berlin und Tübingen. – Koschakers reichhaltigem und bedeutendem Œuvre, das auch Arbeiten zur Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung einschließt, ist einer der beiden Beiträge von Gunter Wesener zu diesem Sammelband gewidmet. Mariano San Nicolò, der 1887 in Rovereto geboren wurde, habilitierte sich 1913 in Graz und leistete ab August 1914 als Kaiserjäger-Leutnant (und späterer Oberleutnant) Kriegsdienst, wobei er bis September 1918 in Albanien stationiert war. Auf Anregung Koschakers wandte er sich der Keilschriftforschung zu und wurde im Oktober 1918 außerordentlicher Professor für Römisches Recht an der Deutschen Universität in Prag, wo 1920 seine Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrte er an der Universität München und war im Studienjahr 1952/53 deren Rektor. Seit dem Ableben Koschakers galt er als unbestrittenes Haupt der juristischen Keilschriftforschung und als ein besonders tatkräftiger Vertreter der Antiken Rechtsgeschichte. 1957 wurde Theo Mayer-Maly in Graz zum außerordentlichen Professor für Römisches Recht und Sozialversicherungsrecht ernannt. Bereits 1959 folgte er einem Ruf an die Universität Wien. Ab 1960 war Franz Bydlinski als außerordentlicher Professor für Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Sozialrecht dessen Nachfolger in Graz; von ihm war oben bereits die Rede. Nach Bydlinskis Abgang im Jahr 1963 wurde Helmut Schnizer zum außerordentlichen Professor für Kirchenrecht und Römisches Recht ernannt. – 1959 wurde der zwei Jahre zuvor an der Grazer juridischen Fakultät für Römisches Recht und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit habilitierte Gunter Wesener außerordentlicher Professor für Römisches Recht, 1963 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Aus Weseners ungemein reichhaltigem Schrifttum, das außer zahlreichen
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Büchern, Aufsätzen und Artikeln auch weit über 200 Rezensionen umfaßt, sei hier nur auf einige Monographien hingewiesen, aus denen die Bandbreite seiner Interessen ersichtlich wird: Geschichte des Erbrechtes in Österreich seit der Rezeption (1957), Das innerösterreichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert (1963), Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit (1989). Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die seit der 2. Auflage von Wesener besorgte Neubearbeitung von G. Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung (4. Aufl. 1985), welches Werk auch ins Spanische und Italienische übersetzt worden ist.32 Im Jahr 1965 wurde ein neues Extraordinariat für Römisches Recht geschaffen, auf das der bis dahin in Würzburg tätige Arnold Kränzlein berufen wurde. Kränzlein hatte sich unter den Vertretern der antiken Rechtsgeschichte wie ganz allgemein unter den Althistorikern durch sein Buch Eigentum und Besitz im griechischen Recht des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. (1963) bereits einen ausgezeichneten Ruf erworben, ehe er nach Graz kam. Viele Arbeiten zu seinem weiten, die griechische und römische Antike umfassenden Forschungsbereich sollten hier von ihm noch folgen. Seine einige Jahre nach seinem Tode erscheinenden Schriften, herausgegeben von Johannes M. Rainer,33 belegen auf das trefflichste die Leistungen dieses auch als Rektor in Graz tätig gewesenen Gelehrten, der vor allem als einer der profundesten Kenner der altgriechischen Rechte bezeichnet werden kann.34 Als Nachfolger von Arnold Kränzlein wurde 1992 Gerhard Thür, der seit 1978 an der Universität München tätig war, als ordentlicher Professor für Römisches Recht an die Universität Graz berufen. Thür war – zumeist wiederholt – in den USA, in Griechenland, Italien und Ungarn als Gastprofessor tätig, ferner führten ihn mehrere Forschungsaufenthalte in die USA, vor allem nach Princeton, N. J., wo er Gastmitglied des Institute for Advanced Study ist. 1997 wurde er zum Obmann der „Kommission für Antike Rechtsgeschichte“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bestellt. Der Arbeitsschwerpunkt Thürs liegt im griechischen Recht, welchem seine Bücher über die Beweisführung vor den Schwurgerichten Athens und über prozeßrechtliche Inschriften Griechenlands gelten.35 * 32 Auf Weseners beide Bände zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz – WESENER 1978 und 2002 – wurde in diesem Band bereits mehrfach hingewiesen. 33 KRÄNZLEIN 2010. 34 Zu Kränzlein siehe auch Gunter WESENER, Herwig STIEGLER u. a. (Hg.): Festschrift für Arnold Kränzlein. Beiträge zur antiken Rechtsgeschichte, Graz 1986 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 43). 35 Siehe beispielsweise THÜR 1977 sowie THÜR, TAEUBER 1994.
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Graz war für die Rechtsgeschichte seit langem ein guter Boden. Rechtshistorische Beiträge finden sich sowohl bei juristischen Dogmatikern als auch in den Werken von an der Philosophischen Fakultät oder am Archiv des Joanneums (dem späteren Steiermärkischen Landesarchiv) tätigen Historikern. Im Blick auf diese zweite Gruppe von Rechtshistorikern sei exemplarisch auf Aquilinus Julius Caesar, Albert von Muchar, Franz Krones und Josef von Zahn hingewiesen,36 in deren Schrifttum unter anderem auch den Verbindungen von Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft nachgegangen wird. Dies gilt in besonderem Maße für Josef von Zahn, der seit 1861 Archivar am Joanneum und später der erste Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs war. Von ihm sagt Hermann Baltl, daß mit seinem Urkundenbuch der Steiermark hier die rechtshistorische Arbeit erst auf einen gesicherten Boden gestellt worden sei.37 Auf August Chabert, mit dem an der Grazer juridischen Fakultät die Reihe der rechtshistorischen Forschungen glanzvoll begonnen hatte, wurde bereits hingewiesen. Hier ist auch der seit 1871 an der juridischen Fakultät wirkende Hermann Ignaz Bidermann zu nennen, der eigentlich Professor der Staatswissenschaften war. In dessen thematisch weitgestreutem Schrifttum findet sich neben einer Geschichte der österreichischen Gesammt-Staats-Idee: 1526 –1804 (1867–1889) unter anderem auch eine Geschichte des österreichischen Staatsrates sowie eine Geschichte der landesfürstlichen Behörden in Tirol.38 – Mit steirischer Rechtsgeschichte, vor allem mit dem steirischen Landrecht des Mittelalters, hat sich der 1826 in Olmütz geborene Ferdinand Bischoff befaßt. – Ernst von Schwind wiederum, der gerade einmal zwei Jahre, von 1897–1899, Professor der Rechtsgeschichte in Graz war, hat in seinen Wiener Jahren mit seinem Deutschen Privatrecht (1919) ein seinerzeit verbreitetes Lehrbuch verfaßt, zudem ist sein Name – gemeinsam mit dem von Alphons Dopsch – eng mit der Edition des umfassenden Werks Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande im Mittelalter (1895) verbunden. Ein Werk von herausragendem Rang schuf der 1869 in Graz habilitierte Arnold Luschin von Ebengreuth, das von Gunter Wesener im ersten seiner beiden Beiträge zu dem vorliegenden Sammelband dargestellt wird. Im Verlauf seiner Tätigkeit an der Grazer Universität wurde er nicht nur zum eigentlichen Begründer der österreichischen numismatischen, sondern der neueren rechtshistorischen Wissenschaft in Österreich. „Seine Arbeiten zur älteren Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich, zur Adelsgeschichte, zur Stadtgeschichte und zu vielen numismatischen Themen ebenso wie seine hochschulpolitischen Vorschläge, und vor allem auch die von ihm verfaßten, noch heute 36 Zum Werk von einigen der Genannten siehe Alois KERNBAUER: Grazer Geschichtsforscher von europäischem Rang, in ACHAM (Hg.) 2009, S. 559–576. 37 So BALTL 1992, S. 677. – Zu Zahn siehe vor allem POSCH 1968. 38 Siehe BIDERMANN, HOCK 1872 bzw. BIDERMANN 1866.
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unentbehrlichen und grundlegenden Lehrbücher und sein Handbuch der Reichsgeschichte sind bahnbrechend und beispielhaft geworden.“ 39 Es wäre aber falsch, in Anbetracht von Luschins überragendem Format andere Rechtshistoriker vorschnell als Kleinmeister abtun zu wollen. Höchst ungerecht nähme sich so etwas beispielsweise gegenüber Anton Mell aus, der sich nicht nur um das steirische Archivwesen sehr verdient gemacht hat, sondern der auch mit seinem Standardwerk Grundriss der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Landes Steiermark (1929) alle Zweige der Geschichtswissenschaft bereichert hat. Schon zuvor, im Jahr 1914, veröffentlichte er gemeinsam mit Hans Pirchegger die Steirischen Gerichtsbeschreibungen, die, ähnlich wie seine gemeinsam mit Eugen von Müller im Jahr 1913 besorgte Edition der steirischen Weistumsausgabe samt den Kommentaren dazu, zum unverrückbaren Bestand der steirischen Landesgeschichte zählen. – Bezüglich dieses landesgeschichtlichen Aspektes verdient auch Fritz Byloff besondere Erwähnung, der sowohl mit seinen Veröffentlichungen zur steirischen Landgerichtsordnung, als auch insbesondere zur Hexenverfolgung und zum Hexenglauben wertvolle, auch kultur- und sozialgeschichtlich bedeutsame Beiträge zur Strafrechtsgeschichte, seinem rechtshistorischen Arbeitsgebiet, geliefert hat. In gewisser Weise schloß hier der am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte tätige Helfried Valentinitsch mit einigen seiner Publikationen aus den 1980er Jahren an. Zweier Rechtshistoriker sei hier abschließend noch gedacht: des seit 1956 als außerordentlicher und seit 1961 als ordentlicher Professor tätigen Hermann Baltl (Abb.14) sowie des im Jahre 1967 als ordentlicher Professor für Europäische und vergleichende Rechtsgeschichte an die Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät berufenen Berthold Sutter. Baltl, der sich unter anderem mit der Rechtsgeschichte der Bauern intensiv befaßte, konnte zeigen, daß die österreiAbb. 14: Hermann Baltl chischen Weistümer nicht ausschließlich von Quelle: Archiv der Universität Graz der Herrschaft, sondern sehr stark von den 39 So BALTL 1992, S. 678.
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Bauern selbst geformt waren und vielfach auf ältere Territorialeinheiten zurückgehen. Auch zwei andere Arbeitsgebiete Baltls weisen partiell einen Bezug zum bäuerlichen Lebenskreis auf: die Kodifikationsgeschichte des ausgehenden österreichischen Mittelalters sowie die Rechtliche Volkskunde. Für Baltl stand immer der große europäische Zusammenhang in Betracht. Er arbeitete jedoch unter Nutzung römischer und deutscher Inschriften des Mittelalters und anderer Quellen der lange Zeit hindurch vorherrschenden Meinung entgegen, daß die österreichische Situation nur ein Abbild der deutschen sei. In diesem Sinne ist er auch dahingehend initiativ geworden, das Fach „Österreichische Rechtsgeschichte“ in das Curriculum der Juristen aufzunehmen.40 Baltls mittlerweile in zehn Auflagen erschienene Österreichische Rechtsgeschichte ist zu einem Standard-Lehrbuch geworden; weitergeführt wird es von seinem Nachfolger Gernot Kocher, der bereits seit der siebenten Auflage (1993) als Koautor tätig ist. Baltl hat sich durch Einbeziehung der rechtsgeschichtlichen Entwicklungen seit 1918 auch mit Fragen der jüngeren österreichischen Geschichte, so beispielsweise mit Fragen der Neutralität befaßt. Überhaupt weist sein Werk zahlreiche Verbindungen zu Themen aus Nachbargebieten auf: zur rechtlichen Volkskunde, zum Römischen Recht, zu Fragen des Völker- und Menschenrechts sowie zur Österreichischen Geschichte.41 Berthold Sutter besaß durch Habilitation gewissermaßen Heimatrecht sowohl an der alten Philosophischen (beziehungsweise, nach 1975, der Geisteswissenschaftlichen) Fakultät als auch an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen (beziehungsweise der Rechtswissenschaftlichen) Fakultät.42 Seine Schriften umfassen den Zeitraum vom Mittelalter bis zur Gegenwart und seine Themeninteressen betreffen die Religions-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Dies brachte es unter anderem mit sich, daß er sich mit besonderer Intensität dem Leben und Werk des von 1594 bis 1600 in Graz wirkenden Johannes Kepler zuwandte.43 Sutter war Gründer oder Mitbegründer mehrerer Schriftenreihen und Periodika, darunter auch der Zeitschrift Geschichte und Gegenwart, des einzigen international wahrgenommenen historisch-sozialwissenschaftlichen Publikationsorgans in der Steiermark in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sutter war einer der ersten, der das Sprachenproblem als politischen Sprengstoff in der Habsburger Monarchie des späten 19. Jahrhunderts erkannte und die Badenischen Sprachenverordnungen in zwei Bänden (1960 –1965) zum Gegenstand weitausholender Betrachtungen
40 Graz hat auch erstmals ein Institut dieses Namens an einer juridischen Fakultät in Österreich institutionalisiert. 41 Zu Baltl siehe VALENTINITSCH (Hg.) 1988. Siehe auch den Nachruf auf Hermann Baltl von Hugo SCHWENDENWEIN, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Almanach 2004/2005. 155. Jahrgang, Wien 2005, S. 507–514. 42 Zum Folgenden siehe den Nachruf auf Berthold Sutter von Grete WALTER-KLINGENSTEIN, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Almanach 2004/2005. 155. Jahrgang, Wien 2005, S. 523 –540. 43 SUTTER 1975 und 1979.
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und zu einem Standardwerk machte. Daneben verdienen noch besondere Erwähnung: eine Monographie zur Entwicklung der Grundrechte im Mittelalter,44 ein grundlegendes Kapitel für den von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch 1980 herausgegebenen Band über die politische und rechtliche Stellung der Deutschen in Österreich von 1848 – 1918, sowie mehrere Abhandlungen zur steirischen Landesgeschichte, in denen er den Landtagen vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert und den damit zusammenhängenden Fragen der Staatsbildung im Frühabsolutismus besondere Aufmerksamkeit schenkte. * Im Bereich des Öffentlichen Rechts,45 insbesondere zur Theorie und Praxis von Verfassung und Verwaltung, war in Österreich eine nicht von Zensur beeinträchtigte Forschung und Lehre erst seit der politischen Öffnung der Monarchie in der Phase des beginnenden Liberalismus, also im wesentlichen erst seit den 1860er Jahren, möglich.46 „Vorher faßte man“, wie Hermann Baltl bemerkte, „Staatsrecht, Verfassung und Verwaltung mehr unter dem weiten Begriff ,Statistik‘ zusammen und behandelte hier geographische Gegebenheiten, Bevölkerungsverhältnisse und eben auch einschlägige Rechtsfragen.“ 47 Ein exemplarischer Vertreter dieser Forschungsorientierung war Gustav Franz Schreiner, auf den schon in früherem Zusammenhang hingewiesen wurde. Der Statistik kam in Graz, wie in der Habsburger Monarchie allgemein, große Bedeutung schon aus dem Grunde zu, weil man bestrebt sein mußte, dem angehenden österreichischen Verwaltungsbeamten einen zahlenmäßig gestützten Überblick über die komplexen Gegebenheiten in dem Vielvölkerreich zu vermitteln. Ludwig Gumplowicz ist in der Reihe der um 1900 als Vertreter des öffentlichen Rechtes wirkenden Gelehrten, schon weil er sich hier bereits 1876 für Allgemeine Staatwissenschaften habiliterte, als erster zu nennen. Auf einen entsprechenden Antrag der Fakultät ernannte das Unterrichtsministerium Gumplowicz, dessen Venia 1878 auf Österreichisches Staatsrecht und 1879 auf Allgemeine und Österreichische Statistik erweitert worden war, im Jahr 1882 zum Extraordinarius für Allgemeines Staatsrecht und Verwaltungslehre, 1893 aber zum Ordinarius für Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht. Gleichzeitig mit der Ernennung von Gumplowicz zum Ordinarius wurde auf das neu eingerichtete Extraordinariat für Statistik der in Prag tätige Ernst Mischler berufen und auf das Ordinariat für Allgemeines und Österreichisches Staats44 SUTTER 1982. 45 Zur Geschichte der Lehre des öffentlichen Rechtes an der Universität Graz in der Zeit von 1827 bis 1936 siehe WALTER 1966. 46 In diese Zeit fiel auch der bereits erwähnte Ausbau der Universität Graz zur Volluniversität im Jahre 1863. 47 BALTL 1992, S. 677.
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recht Edmund Bernatzik. – Mischler hat während seiner Grazer Jahre gemeinsam mit Josef Ulbrich das erstmals zwischen 1895 und 1897 und in wesentlich umgearbeiteter Form im Jahr 1905 in zweiter Auflage erschienene Österreichische Staatswörterbuch herausgegeben, das ein zuverlässiges Kompendium des Rechts der Habsburger Monarchie darstellt. Auf ihn wird in den Vorbemerkungen zu Kap. IV noch zurückzukommen sein. Gumplowicz und Bernatzik hatten sich in den beiden ihrer Ernennung zu ordentlichen Professoren vorangegangenen Jahren eine ungemein erbitterte Kontroverse geliefert, die bis hart an den Rand persönlicher Beleidigung reichte. Zielte die in der Deutschen Literaturzeitung im Jahre 1891 erschienene Rezension von Gumplowicz auf Bernatziks Buch Die juristische Persönlichkeit der Behörden (1890) ab, so die von Bernatzik in der Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart im Jahre 1892 erschienene auf die Einleitung in das Staatsrecht (1889) von Gumplowicz sowie auf dessen Aufsatz „Das österreichische Staatsrecht“ (1891).48 Mit dem von Bernatzik kritisierten Buch, welches in zweiter vermehrter Auflage unter dem Titel Oesterreichische Reichsgeschichte (1896) erschienen ist, aber insbesondere auch mit seiner Monographie Die soziologische Staatsidee (1892; 2. Aufl. 1902) hat Gumplowicz eine stark naturwissenschaftlich – zum Teil an der Physik, zum Teil an der Biologie seiner Zeit – orientierte Rechts- und Staatstheorie geschaffen. Dies war zu dieser Zeit, wie heute auch, nicht gerade eine übliche Betrachtungsweise unter Juristen. Dazu kam, daß Gumplowicz in seiner Konflikttheorie eine spezifische Eigenschaft des von ihm vertretenen juristischen Sachbereichs deutlicher zum Ausdruck brachte, als es manchem Fachkollegen lieb war: Im Unterschied zum Privatrecht, wo grundsätzlich Gleichstellung der Rechtspartner untereinander herrscht, ist bekanntlich für das öffentliche Recht ein Verhältnis der Überbzw. Unterordnung charakteristisch; der Normunterworfene ist der Staatsgewalt untergeordnet, diese aber selbst oft eine Resultierende von zum Teil höchst widersprüchlichen Interessen. All dies erklärt jedoch allein nicht die Heftigkeit, ja Bösartigkeit der in der erwähnten Kontroverse zutage getretenen Affekte – aber ganz unerheblich sind die in der Sache selbst liegenden Differenzen sicher auch nicht gewesen. – Über das soziologische Werk von Gumplowicz gibt der Beitrag von Gerald Mozetič in diesem Band Auskunft. Ein der Orientierung von Gumplowicz verwandter Vertreter des öffentlichen Rechts war Max Layer (Abb. 15), welcher auch ein Mitglied der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ war; Anlaß für deren Gründung war der 70. Geburtstag von Gumplowicz im Jahr 1908, sie konstituierte sich aber erst im Jahr danach – im Todesjahr von Gumplowicz. Auf Layers Buch Staatsformen unserer Zeit (1919; 2. Aufl. 1923), das in der Schriftenreihe dieser Gesellschaft, in der Reihe Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie, erschienen ist, wird in den Vorbemerkungen und im ersten Beitrag zu Kapitel IV hingewiesen. 48 Siehe zu dieser Kontroverse die interessanten Details bei WEILER 2004, Seite 15–20.
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Layer war insbesondere auch der Autor des schon 1902 in Berlin erschienenen umfangreichen und zu seiner Zeit als maßgeblich angesehenen Werks Principien des Enteignungsrechtes. Dem Schrifttum eines Absolventen der Grazer juristischen Fakultät wird in dem vorliegenden Sammelband ein eigener Beitrag gewidmet, obwohl er hier nie als Dozent oder Professor tätig war: dem deutschen Staatstheoretiker Hermann Heller, der, 1891 in Teschen – im ehemaligen Österreichisch-Schlesien (heute eine polnisch-tschechische Doppelstadt Cieszyn / Český Těšín) – geboren wurde. Am 18. Dezember 1915 wurde er an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Grazer Universität zum Doctor juris Abb. 15: Max Layer promoviert; dies war zu einer Zeit als Quelle: Archiv der Universität Graz zur Erlangung des Doktorgrades noch nicht die Verfertigung einer Dissertation erforderlich war.49 Heller unter die Grazer Rechts- und Sozialwissenschaftler einzubeziehen kommt in gewisser Hinsicht einer reichlich kecken Einvernahme gleich. Doch warum soll man nicht auch einmal einer Person gedenken, die hier – nach Vorstudien vor allem in Wien – nicht nur ihr Studium abschloß, sondern in einem ihrer Frühwerke an exponierter Stelle offenbar auch einen Bezug zu Graz herstellt? 50 Hermann Heller (Abb. 16), der sich 1920 in Kiel für Rechtsphilosophie, Staatslehre und Staatsrecht habilitierte, war von 1922 bis 1924 Erster Leiter des Leipziger Volksbildungsamtes und Direktor der Leipziger Volkshochschule, sodann von 1926 bis 1932 an der Universität Berlin und von 1932 an als Professor an der Universität in Frankfurt am Main tätig. Er mußte diese 1933 als rassisch und politisch Verfolgter verlassen und 49 Lediglich für das Doktorat der Philosophie und das in gleichem Sinne gestaltete Doktorat der technischen Wissenschaften war eine wissenschaftliche Arbeit als Voraussetzung für die Promotion vorgesehen. 50 In seiner als Buch erschienenen Habilitationsschrift Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland (1921) beschwört Heller, wie es scheint, durch die Worte auf dem Titelblatt: „Meinem Freunde / FRIEDRICH VON SZÉKELY – GRAZ / gewidmet“, seine Studentenzeit an der Mur wieder herauf. Die Referenz wäre allerdings noch genauer zu prüfen.
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starb am 5. November desselben Jahres, chronisch krank und gerade einmal 42 Jahre alt, als Emigrant in Madrid.51 Fragt man nach den vier Großen unter den deutschsprachigen Staatsrechtslehrern und Staatstheoretikern der Zwischenkriegszeit, so fallen – nach dem Geburtsjahrgang gereiht – die Namen Hans Kelsen, Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heller. Im Lichte der Analyse des Verhältnisses von Rechtsgrundsatz und Rechtsnorm wird man Heller zu den Rechtspositivisten zählen können, aber bei ihm geht es um ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen Recht und Sitte – bei aller Unverzichtbarkeit ihrer Unterscheidung: „Die Verpflichtungskraft des positiven Rechts ist nur zu verstehen aus der Abb. 16: Hermann Heller als junger Student Verpflichtungskraft sittlicher RechtsQuelle: Universität Leipzig, Institut für Sozialpädagogik grundsätze und der Verpflichtungskraft und Erwachsenenbildung einer Gemeinschaftsautorität. Ein Rechtsgrundsatz allein verpflichtet nur sittlich, nicht rechtlich; das autoritäre Machtgebot kann zwar durch Furcht und Zwang Gehorsam finden, für sich allein aber nicht verpflichten. Jede Vereinseitigung nach der Seite der Idealität oder Faktizität verfälscht das Problem der Rechtspflicht.“ 52 Heller verbindet damit in verfassungstheoretischer Hinsicht, und zwar im Hinblick auf Gemeinwillensbildung und individuelle Rechtsgewährleistung, die Frage nach der normativen Kraft der Verfassung und nach der Möglichkeit einer
51 Vor seinem Studium in Graz und der hier erfolgten (Kriegs-)Promotion studierte Heller in Kiel, Innsbruck und Wien – in Wien unter anderem bei den vormals in Graz tätigen Professoren Josef von Schey und Moriz Wellspacher, bei Armin Ehrenzweig (der ab 1913 in Graz wirkte), ferner bei Eugen von Philippovich, aber auch bei Hans Kelsen, einem seiner späteren intellektuellen Widersacher. – In Wien übernahm, wohl aufgrund der schweren Erkrankung von Hellers Vater, der mit ihm verwandte Professor Josef Redlich die Vormundschaft für Hermann Heller. Ab 1914 diente Heller in einem Artillerie-Regiment als Einjährig-Freiwilliger und zog sich an der Front bereits jene Erkrankung zu, die 1933 seinen frühen Tod mit verursachen sollte. Er setzte seinen Kriegsdienst in der militärgerichtlichen Praxis fort, 1918 begann dann seine akademische Karriere an der Universität Leipzig, an der er bis 1920 blieb, dann folgte die Habilitation in Kiel, wo er sich der tatkräftigen Unterstützung Gustav Radbruchs und Walter Jellineks erfreuen konnte. – Einen guten Überblick über Hellers Leben vermittelt FIEDLER 1995. 52 HELLER 1927, S. 51.
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Einheitsbildung der Rechts- und Gesellschaftsordnung durch Verfassungsgebung. In staatstheoretischer Hinsicht wiederum geht es ihm nicht nur um die Wechselbedingtheit von Recht und Macht, sondern um die Möglichkeit eines sozialen Rechtsstaates vor dem Hintergrund der Klassenauseinandersetzung und der sich bereits real abzeichnenden Möglichkeit rechter und linker Diktaturen in der Endphase der Weimarer Republik.53 – Florian Oberhubers Beitrag in dem vorliegenden Band gilt dem Werk dieses anregenden Staatstheoretikers. Die Krisenjahre 1931 bis 1933/34 und 1934 bis 193854 waren an Österreichs Universitäten, und vor allem auch in Graz, gekennzeichnet durch eine Reihe von gravierenden Einsparungsmaßnahmen, zugleich Abb. 17: Ludwig Adamovich aber auch durch dramatische politische BeQuelle: Archiv der Universität Graz gebenheiten: Aktionen deutschnationaler Studenten, die Ereignisse vom März 1933 sowie die im Mai desselben Jahres erlassene Notverordnung. In diese Geschehnisse wurden unter anderem zwei in Graz tätig gewesene Professoren des Staats- und Verwaltungsrechts unmittelbar involviert: der zu dieser Zeit bereits in Wien als Ordinarius wirkende Max Layer und Ludwig Adamovich (Abb. 17), der jenes Fach in den Krisenjahren in Graz vertrat. Layer hat mit Unterstützung seines Grazer Kollegen Adamovich die Rechtmäßigkeit der aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassenen Notverordnung bestritten und geriet darüber mit der Staatsmacht in folgenreiche Auseinandersetzungen, welche mit seiner politisch verfügten vorzeitigen Pensionierung endeten. Adamovich wiederum hat bereits 1931 durch sein entschlossenes Auftreten deutschnationalen Radikalisierungen Einhalt geboten und später in gewissem Maße auch Versuche eingedämmt, die Universität im Sinne des autoritären Ständestaates gefügig zu machen. Ab 1934 war er als Nachfolger Layers an der Universität Wien tätig, war Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Staatsrat und Bundesrat, und 1938 letzter Justizminister im Kabinett Schuschnigg IV vor Beginn der NS-Herrschaft. Von 1945 bis 1947 war er Rektor der Universität Wien und von 1946 bis 1955 Präsident des 53 Siehe dazu MÜLLER, STAFF (Hg.) 1984 und DENNINGER 1986.
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Abb. 18: Erwin Melichar
Abb. 19: Wolfgang Mantl
Quelle: Die Presse, Photo Harald Hofmeister
Quelle: Wirtschaftskammer Steiermark
Verfassungsgerichtshofs. In Fachkreisen werden von ihm bis auf den heutigen Tag Die österreichischen Verfassungsgesetze des Bundes und der Länder (1925) sowie sein Grundriß des österreichischen Verfassungsrechtes (1947) geschätzt. Nach 1945 haben auf dem Gebiet des Staats- und Verwaltungsrechts zunächst unter anderem Johann Mokre55 und Hermann Ibler supplierend gelehrt. – 1956 wurde Erwin Melichar (Abb. 18) zum ordentlichen Professor für Öffentliches Recht ernannt, der in Fachkreisen vor allem aufgrund der Arbeiten Gerichtsbarkeit und Verwaltung im staatlichen und kanonischen Recht (1948) sowie Finanzverfahren und Rechtsstaat (1962), ferner für sein Gutachten Die Entwicklung der Grundrechte in Österreich (1964) Wertschätzung erfahren hat. Sein Schrifttum erstreckt sich vom Kirchenrecht über das Staats- und Verwaltungsrecht sowie die Verwaltungslehre bis zum Zivilprozeßrecht, Finanzrecht und Dienstrecht. Melichar, der 1963 als Nachfolger von Adolf J. Merkl an die Universität Wien berufen wurde, war von 1977 bis 1984 Präsident des Verfassungsgerichtshofs.56
54 Dazu HÖFLECHNER 2006, S. 136 –153 bzw. S. 154 –183. 55 Dazu Reinhard MÜLLER: Johann Mokre (1901–1981), in: Archiv zur [später: für die] Geschichte der Soziologie in Österreich – Newsletter Nr. 8, Mai 1993, S. 3 –11. 56 Zu Melichars Werk und Wirken siehe Heinz SCHÄFFER, Kurt RINGHOFER (Hg.): Im Dienst an Staat und Recht. Internationale Festschrift Erwin Melichar zum 70. Geburtstag, Wien 1983.
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Von 1962 bis 1966 lehrte Robert Walter Verwaltungslehre in Graz. Diesem ungemein produktiven Wissenschaftler ist im öffentlichen Recht – ähnlich wie in der Sozialphilosophie Ernst Topitsch – die Rezeption des Werks von Hans Kelsen zu danken, dessen Interpretation er sowohl durch wissenschaftliche Veranstaltungen als auch durch eine Vielzahl von Untersuchungen maßgeblich gefördert hat.57 – 1965 wurde Gustav Kafka für Verfassungsrecht ernannt, der vor allem mit seinem Seminar, welches er des öfteren gemeinsam mit Professoren anderer Fakultäten leitete, einen dem alten generalistischen Bildungsgedanken verpflichteten Lehrstil kultivierte, welchem später auch sein eheAbb. 20: Karl Korinek maliger Assistent Wolfgang Mantl verbunQuelle: Archiv Karl Acham den blieb. – Mantl (Abb. 19), seit 1975 außerordentlicher, seit 1979 als Nachfolger von Ludwig Adamovich ordentlicher Professor für Politikwissenschaft und Verfassungsrecht, hat sich 1974 mit einer Arbeit habilitiert, die unter dem Titel Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt. Ein Beitrag zur modernen Staatsformenlehre (1975) erschienen ist. Seine weit gefächerten Interessen umspannen die Philosophie und die Historie ebenso wie die Allgemeine Staatslehre sowie das Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Mantl ist unter anderem Mitherausgeber der seit 1981 erscheinenden und schon über 80 Bände umfassenden Studien zu Politik und Verwaltung, des Sammelbandes Liberalismus. Perspektiven und Interpretationen (1996) sowie des Katholischen Soziallexikons (2. Aufl. 1980). Ferner sei noch auf das von ihm allein edierte Werk Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel (1992) hingewiesen. Der 1970 an der Universität Salzburg für Verfassungs- und Verwaltungsrecht habilitierte Karl Korinek (Abb. 20) war von 1973 bis1976 ordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Universität Graz, wechselte dann an die Wirtschaftsuniversität Wien und schließlich an das Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien,
57 Vgl. in diesem Zusammenhang Horst DREIER: Rezeption und Rolle der reinen Rechtslehre. Festakt aus Anlaß des 70. Geburtstages von Robert Walter. Mit Laudationes von Clemens Jabloner und Ludwig Adamovich sowie einer Bibliographie des Jubilars, Wien 2001.
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wo er auch dem Institut für Europarecht zugeteilt war. Seit 1978 Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (ständiger Referent), war er von 2003 bis 2008 dessen Präsident. Korineks Schriften zum öffentlichen Recht sind thematisch breit gestreut und umfassen Themen des Wirtschafts-, Verfassungs- und Verwaltungsrechts, der Grundrechte, der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Selbstverwaltung, aber auch des Telekommunikationsrechts. Erwähnt seien hier seine Habilitationsschrift Wirtschaftliche Selbstverwaltung. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung am Beispiel der österreichischen Rechtsordnung (1970), das gemeinsam mit anderen Autoren verfaßte Buch Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen (1982) und der von ihm mitherausgegebene Sammelband Gemeinschaftsrecht und Wirtschaftsrecht (2000). Wie seine beiden im Bereich des öffentlichen Rechts in Graz tätigen Fachkollegen Melichar und Korinek vor beziehungsweise nach ihm, so war auch der 1973 an der Universität Wien für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik habilitierte und im Jahr darauf als Ordinarius für Öffentliches Recht an die Universität Graz berufene Ludwig (Karl) Adamovich (Abb. 21) Präsident des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Sein Vater bekleidete, wie bereits erwähnt, diese Funktion ebenfalls, er selbst von 1984 bis 2002. Zuvor war er, nach seiner 1976 erfolgten Rückkehr von Graz nach Wien, hier als Leiter des Verfassungsdienstes tätig. Die wichtigsten Werke von Ludwig Adamovich sind systematische Darstellungen des Österreichischen Verfassungsrechts und des österreichischen Verwaltungsrechts. Stets um rechtstheoretische Klarheit bemüht und unter Bezugnahme auf rechtsphilosophische Fragen – etwa solche nach dem Verhältnis von Reiner Rechtslehre und Hermeneutik – wendet er sich der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit,58 dem Umgang mit den Grundrechten,59 aber auch der Einordnung von Neubildungen – wie der Volksanwaltschaft – in das Verfassungsgefüge 60 zu. Zahlreiche Ehrendoktorate und Ehrenmitgliedschaften zieren seine wissenschaftliche Tätigkeit.61 An dem Grazer Institut für Öffentliches Recht, Politikwissenschaften und Verwaltungslehre wirkte nach seiner im Jahre 1968 erfolgten Berufung Richard Novak (Abb. 22) als Leiter der Abteilung für Österreichisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht, für welches Fach er 1967 an der Universität Wien die Venia erworben hatte. Nach Ablehnung verschiedener an ihn ergangener Rufe blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2007 in Graz tätig. Den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit bilden Fragen der Rechtsstaatlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsgerichtsbar58 59 60 61
Siehe dazu z. B. ADAMOVICH 2004. So in ADAMOVICH 2001. So in dem von Ingrid KOROSEC herausgegebenen Band Die Arbeit der Volksanwaltschaft, Wien 2001. Siehe die beiden ihm zu Ehren erschienenen Festschriften FUNK u. a. (Hg.) 1992 und FUNK u. a. (Hg.) 2002.
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keit. Von besonderem Wert sind seine seit 1987 jährlich veröffentlichten kritischen Besprechungen der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs, welche 2007 unter dem Titel Lebendiges Verfassungsrecht als Sammelband erschienen sind. Für diesen wesentlichen Beitrag zur Diskussion über die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts erhielt Novak im Jahr 2008 den Österreichischen Verfassungspreis. – Gerhart Wielinger, ehemaliger Mitarbeiter Novaks und 1974 in Graz für Verfassungs- und Verwaltungsrecht habilitiert, war nach der Ablehnung eines Rufes an die Universität Salzburg im Hauptberuf als Verwaltungsbeamter im Bundeskanzleramt sowie im Amt der Steiermärkischen Landesregierung, jeweils im Verfassungsdienst tätig; zuletzt wirkte er in Graz als Landesamtsdirektor. Als Themenschwerpunkte seiner wissenschaftlichen Publikationen sind die Bedingungen der Möglichkeit rechtsstaatlicher Verwaltung sowie die Rechtstheorie als Hilfe bei der Lösung von Fragen der Rechtspraxis zu nennen. Er ist bestrebt, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Lösung von Problemen der Rechtspolitik, und Erfahrungen aus dem Grenzbereich von Politik und Verwaltung zur Formulierung wissenschaftlicher Fragestellungen zu nutzen. Seit 1978 als außerordentlicher und seit 1980 als ordentlicher Professor war auch Christian Brünner am Institut für Öffentliches Recht, Politikwissenschaften und Verwaltungslehre tätig. Sein Schrifttum umfaßt neben Arbeiten zur
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Abb. 21: Ludwig (Karl) Adamovic Quelle: VfGH
Abb. 22: Richard Novak Quelle: Archiv Karl Acham
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Verwaltungslehre unter anderem solche zur religiösen Diskriminierung und zur österreichischen Hochschulpolitik. Gemeinsam mit Wolfgang Mantl und Manfried Welan ist er zudem Mitherausgeber der Reihe Studien zu Politik und Verwaltung. – Von 1978 bis 1999 hatte am gleichen Institut Bernd-Christian Funk eine ordentliche Professur inne. Funk zählt zu den kenntnisreichsten und produktivsten Autoren im Bereich des öffentlichen Rechts in Österreich und ist ein herausragender Experte auf den Gebieten des Verfassungs- und des Verwaltungsrechts. Zudem hat er maßgebliche Arbeiten zum Hochschulbeziehungsweise Universitätsrecht sowie zu Fragen der Juristenausbildung verfaßt, daneben aber auch eingehende Darstellungen des Mineralstoffgesetzes und des Abfallwirtschaftsrechts. Ein besonderes persönliches wie wissenschaftliches Anliegen sind ihm Fragen der politischen Freiheits- und der Menschenrechte. Ähnlich wie Ludwig Adamovich, mit dem und über den er umfänglich veröffentlicht hat, zieht er auch philosophischrechtstheoretische Grundsatzfragen in seinem Schrifttum stets mit in Betracht.62 * Aus den Ausführungen zum öffentlichen Recht sollte klar geworden sein, in welch enger Beziehung dessen Grundlagenprobleme zur Rechtsphilosophie stehen. Insofern mutet es seltsam an, daß der Rechtsphilosophie heute im Unterschied zu der ihr von Thun-Hohenstein zugedachten Rolle an österreichischen Universitäten verschiedentlich nur mehr die Eigenschaft eines zweifelhaften Dekors der „eigentlichen“ Rechtsfächer zugeschrieben wird. Graz hat auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie und der Rechtslogik seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einige ganz hervorragende Exponenten aufzuweisen. Zu nennen ist hier als erster, obwohl an der philosophischen Fakultät tätig, Ernst Mally (Abb. 23). Dieser habilitierte sich 1913 bei Alexius Meinong mit einer Schrift über Gegenstandstheoretische Grundlagen der Logik und Logistik und übernahm einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er von 1915 bis 1918 diente, nämlich im Jahr 1925, Meinongs Lehrstuhl, den er bis 1942 innehatte. Mally gilt als Begründer der deontischen Logik und er führte auch den Begriff „deontisch“ im Deutschen ein.63 Bei der deontischen Logik handelt es sich um jenen Bereich der Logik, in dem normativen Begriffen wie „geboten“, „verboten“, „Verpflichtung “, „Erlaubnis“ usw. eine zentrale Bedeutung zukommt. Mally hat in seinem Buch Grundgesetze des Sollens 64 erstmals ein formales System der deontischen Logik vorgeschlagen und gründete dieses auf die Syn62 Als Würdigungen seines Werks siehe EISENBERGER (Hg.) 2003 und NOVAK (Red.) 2003. 63 Der Ausdruck „deontisch“ stammt von dem Altgriechischen déon, was deutsch soviel bedeutet wie das Nötige oder das Angemessene. 64 Grundgesetze des Sollens. Elemente der Logik des Willens, Graz 1926.
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tax von Alfred North Whiteheads und Bertrand Russells Aussagenkalkül. Davon war offenbar wiederum an der juridischen Fakultät in Graz Hans (später auch: Johann) Mokre, ebenfalls ein Meinong-Schüler, inspiriert worden. Er, der sich mit einer damals ganz aktuellen Schrift über Gegenstandstheoretisches zur Reinen Rechtslehre im Jahr 1928 habilitiert hatte, veröffentlichte 1932 die von ihm übersetzte Einführung in die mathematische Logik sowie die Einleitung und einige Teile der Principia Mathematica von Whitehead und Russell. Diese Übersetzung ist seit den 1980er Jahren, versehen mit einem Beitrag des großen Mathematikers Kurt Gödel, mehrfach neu aufgelegt worden.65 – Das erste sinnvolle System Abb. 23: Ernst Mally der deontischen Logik wurde von G. H. von Quelle: Archiv der Universität Graz Wright vorgeschlagen.66 Von Wright führte den Begriff „deontic“ (als Anglifizierung der von Mally eingeführten Bezeichnung) im Englischen ein. Seither haben Philosophen und Informatiker viele Systeme der deontischen Logik entwickelt. Einer, der sich unter Verwendung eigener Argumente mit diesem berühmten Philosophen auf Diskussionen einließ, war der nach seiner im Jahre 1968 erfolgten Flucht aus der ČSSR auf Betreiben Johann Mokres für die Grazer juridische Fakultät gewonnene Ota Weinberger. Weinberger, der von 1972 bis 1989 das Institut für Rechtsphilosophie leitete,67 thematisierte die seines Erachtens oft nicht hinreichend präzisierten argumentativen Voraussetzungen der deontischen Logik.68 Wenn wir nämlich die dem Handeln zugrunde-
65 Mokre, der nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit unter anderem das noch nicht als Institut verankerte Fach Soziologie an der juridischen Fakultät vertrat, veröffentlichte auch einige einschlägige, in der Bibliographie zu diesem Band exemplarisch angeführte Arbeiten, die mit philosophischer Logik nicht unmittelbar zu tun haben. 66 Georg Henrik von WRIGHT: Handlung, Norm und Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik. Hg. und eingeleitet von Hans POSER, Berlin-New York 1977. 67 Ein Umstand verdient hier erwähnt zu werden, der nicht von vornherein mit der Rechtsphilosophie assoziiert wird: Weinberger, der 1974 auch ein Buch mit dem Titel Studien zur Normenlogik und Rechtsinformatik verfaßte, hat die Initiative seines Mitarbeiters und nachmaligen außerordentlichen Universitätsprofessors Alfred Schramm zur Einrichtung eines Rechtsinformatik-Lehrganges gefördert. Schramm ist es dann gelungen, einen funktionierenden elektronischen Rechtsinformatik-Dienst an der Grazer Rechtswissenschaftlichen Fakultät einzurichten – etwas bis dahin Einzigartiges an einer österreichischen Universität. 68 Siehe vor allem WEINBERGER 1996.
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liegenden Entscheidungen darstellen wollen, so müssen wir nach Weinberger auch die ihnen zugrundeliegenden jeweils zwei Arten von Informationen und Normen in den Blick nehmen und analysieren. Er unterscheidet dabei einerseits zwischen Tatsacheninformation und stellungnehmender Information (in welcher Standards, Präferenzen als Ergebnisse relativen Wertens, Ziele und Zwecke Ausdruck finden), andererseits zwischen einer sinnvollen Norm – dem Bedeutungskorrelat eines im Sprachsystem wohlgeformten Normsatzes – und einer Norm, der in einem bestimmten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen System Geltung zukommt. Es sei nun üblich, diese disjunktiven Satzkategorien einander als theoretische und praktische Sätze gegenüberzustellen, und diese Unterscheidung ist nach Weinberger auch durchaus sinnvoll. Die damit oftmals verknüpfte Behauptung, daß zumindest eine Art von Normen Gegenstände betreffe, die dadurch erkannt würden, daß sie in einem Entdeckungsvorgang freigelegt werden, lehnt er jedoch ab. Denn beide Arten von Normen seien Gedankengebilde, die zunächst nur verstehend erfaßt werden können. Daher war Weinberger bestrebt, die neuere Rechtslogik durch eine sowohl im engeren Sinn linguistische, als auch durch eine Handlungs-Hermeneutik zu ergänzen.69 Eine solchermaßen „gnoseologisch differenzierte Semantik“ steht nach Weinberger vor der Aufgabe, „die verschiedenen Grundbegriffe der stellungnehmenden Sprache oder jenes Teils der Sprache, der stellungnehmende Informationen ausdrückt, zu inspizieren. Was ,Wert‘, ,Zweck‘, ,Norm‘ (,Sollen‘, ,Dürfen‘) bedeuten und welche Relationen zwischen diesen Begriffen gelten, wird durch die Theorie jener Operationen klargestellt, welche der Bestimmung und Lenkung der Handlung zugrunde liegen.“70 Damit müsse aber die semantische Analyse auch den Intentionen Aufmerksamkeit schenken. Sie, die durch Normen bewirkt oder kanalisiert werden, die aber auch normgenerierend wirken, seien die Bindeglieder zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Folglich kommt nach Weinberger auch den Normen ein institutionelles Dasein zu. Institutionen sind nämlich weder bloß individuell „konstruiert“ noch nur nach funktionalen Gesichtspunkten sozial „konstituiert“, wie heute oft behauptet wird. Ihr Eigenleben zeige sich vielmehr darin, daß die ihnen korrespondierenden Verhaltensweisen oft auch dann beibehalten werden, wenn sie ihre ursprüngliche Funktion bereits verloren haben.71 – Peter Koller, ehemals Weinbergers Assistent, hat über ihn den Beitrag zu diesem Band verfaßt. Es nimmt nicht wunder, daß sich zwischen Ota Weinberger und einem der ganz großen deutschsprachigen Soziologen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich Helmut Schelsky, so etwas wie eine partielle Konvergenz der Interessen feststellen läßt; beide teilten die Überzeugung, daß in den jüngeren Rechts- und Sozialwissenschaften der 69 Siehe dazu Christiane und Ota WEINBERGER: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1987. 70 WEINBERGER 1985, S. 40. 71 Vgl. ebenda, S. 46.
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Analyse von Institutionen nicht der gebührende Platz eingeräumt werde. Dies hat Schelsky wohl mit dazu veranlaßt, die Honorarprofessur am Grazer Institut für Rechtsphilosophie anzunehmen. Auf höchst anregende Weise fanden hier logische Stringenz und soziologischer Wirklichkeitssinn zueinander. – Auf Schelsky wird in der Vorbemerkung zu Kap. IV noch näher Bezug genommen. Als ein Schüler Weinbergers, wenn auch mit dem Bestreben, nicht nur die Welt des Sozialen begriffs- und argumentationslogisch zu erschließen, sondern das Sozialmoralische im positiven und negativen Sinn auch argumentativ als gut bzw. schlecht zu erweisen, ist Peter Koller seit 1991 als ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie am Werk. Seine Erörterungen sozialmoralischer Fragen, die durch das Bestreben zu charakterisieren sind, die Grenzen des Rationalen soweit wie nur möglich in das vermeintlich Irrationale oder Arationale gesellschaftlicher Problemlagen hinein zu verschieben, nötigen auch nonkognitivistischen Vertretern der Rechts- und Sozialphilosophie Achtung ab. Mit seinen Publikationen über Fragen der politischen Freiheit und der sozialen Gleichheit sowie über Probleme der globalen Gerechtigkeit hat sich Koller mittlerweile auch international fast höhere Anerkennung erworben als mit seinen rechtstheoretischen Schriften, deren Qualität ebenfalls unbestritten ist. * Schuld und Strafe sind, wie man meinen könnte, das Terrain der Rechtsphilosophen – es gilt dies allerdings noch unmittelbarer für die Vertreter des Strafrechts, des Strafprozeßrechts und der Kriminologie. Schon seit den Tagen von Sebastian Jenull, also seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts,72 erfuhr das Strafrecht in Graz besondere Pflege; Karlheinz Probsts einschlägige historische Darstellung belegt dies eindringlich.73 Julius Vargha (Abb. 24), der 1875 in Graz für Strafrecht habilitiert wurde, gilt neben dem ebenfalls hier im Jahre 1876 habilitierten Franz Eduard von Liszt (Abb. 25) als einer der namhaftesten Kriminologen seiner Zeit und wie dieser als Mitbegründer der Kriminalsoziologie. Während Liszts Karriere diesen über Gießen, Marburg und Halle nach Berlin führte, verlief der akademische Lebensweg von Vargha, ähnlich wie der des mit ihm befreundeten Ludwig Gumplowicz, zur Gänze in Graz: ab 1876 war er hier zunächst Privatdozent, ab 1882 außerordentlicher Professor des Strafrechts, 1898 ordentlicher Professor für Strafrecht und Strafprozeßrecht, 1902 für Rechtsphilosophie und Völkerrecht, und ab 1905 für Strafrecht. Drei Jahre nach Antritt dieser Professur wurde seine akademische Karriere durch einen Gehirnschlag beendet.
72 Auf ihn wurde bereits zu Beginn dieser Vorbemerkung Bezug genommen. 73 Siehe PROBST 1987.
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Abb. 24: Julius Vargha
Abb. 25: Franz Eduard von Liszt
Quelle: Archiv der Universität Graz
Quelle: Wikimedia Commons
Liszt war an seinen Wirkungsorten ungleich erfolgreicher als Vargha in Graz. Sein 1871 erstmals erschienenes Lehrbuch des deutschen Strafrechts erreichte bis 1932 insgesamt 46 Auflagen und stellte eine systematische Rechtsdogmatik aus liberal-rechtsstaatlicher Sicht dar. Bestimmend für die bedeutende, über die engeren Fachkreise hinausreichende Wirkung Liszts war seine Antrittsrede in Marburg („Marburger Programm“), in der er neue kriminalpolitische, insbesondere präventive Ziele proklamierte. In Ansätzen hatten diese Gedanken bereits in dem Buch Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882) Ausdruck gefunden, in welchem sich Liszt in hohem Maße seinem ehemaligen Wiener Lehrer Rudolf von Jhering verbunden zeigt. Liszt wollte die bis dahin herrschenden Theorien überwinden, welche auf metaphysischen Begründungen der Vergeltungsstrafe beruhten: Nicht der Vergeltung, sondern eben der zweckgerichteten Spezialprävention solle der Strafvollzug dienen. Liszts kriminalpolitische Forderungen standen in enger Beziehung mit sozialpolitischen, welche auf eine Verbesserung des sozialen Umfeldes der Delinquenten hinausliefen sowie auf ein konkretes Programm ihrer Resozialisierung im Strafvollzug. In diesem Zusammenhang trat er für eine Differenzierung der Spezialprävention nach Tätertypen ein. Diese seine kriminalpolitischen Gedanken fanden in den Strafrechtsreformen des 20. Jahrhunderts vielfältige Berücksichtigung.74 74 In Vergessenheit geraten ist Franz von Liszts Standardwerk Völkerrecht. Systematisch dargestellt, das zwischen
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Vargha geriet im Unterschied zu Liszt in Österreich rasch in Vergessenheit – in gewisser Weise, so scheint es, sogar schon zu Lebzeiten. Im Ausland hingegen wurde er verschiedentlich sehr respektiert, unter anderem wurde er Ritter des königlich schwedischen Wasa-Ordens. Schon vor dem ungleich bekannter gewordenen Hans Gross, dem Begründer der enzyklopädischen Kriminologie, hat er die soziologische Kriminologie durch Übernahme von vornehmlich französischen, aber auch von Ludwig Gumplowicz und Anton Menger stammenden Anregungen zu einem festen Gedankengebäude zusammengefügt. In Varghas Schrifttum finden sich frühe Ansätze dessen, was man heute in der Kriminalsoziologie „Etikettierungstheorie“ (englisch: „labeling theory“) bezeichnet. Durch diese wird Devianz oder abweichendes Verhalten nicht als etwas objektiv Vorhandenes, sondern als etwas sozial Zugeschriebenes erklärt. Normen sind ihr zufolge nicht soziale Tatsachen von der Art, daß sie bereits „objektive“ Bedeutungen mit sich bringen, vielmehr werden sie in sozialen Aushandlungsprozessen mit Bedeutung belegt und als geltend festgesetzt. Auf die Abweichung bezogen bedeutet dies, daß Handlungen nicht bereits für sich kriminell oder abweichend sind, sondern erst als solches – weil von den sozial ausgehandelten Normen abweichend – definiert werden müssen. Das ließ die zur Zeit Varghas dominante Frage nach den physiologischen Ursachen der Kriminalität, wie der Devianz allgemein, als eine Frage von sekundärer Bedeutung erscheinen. Hans Gross, dessen Antrag, sich an der Grazer Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät für Strafrecht mit der Beschränkung auf die gerichtliche Untersuchungswissenschaft (Kriminalistik) zu habilitieren, im Jahre 1896 zurückgewiesen worden war, erhielt 1898 – ohne Habilitation – einen Ruf an die Universität Czernowitz; hier wurde er zum Ordinarius für Strafrecht ernannt und 1900 auch zum Dekan gewählt. 1902 lehrte er an der Prager Universität, 1905 wurde er zum ordentlichen Professor für das Österreichische Strafrecht und Strafprozeßrecht an die Universität Graz berufen. Gustav Hanausek, der später in der Affäre um die Ernennung von Joseph Schumpeter als charakterlich ebenso imponierende wie wissenschaftlich vorausschauende Persönlichkeit eine bedeutende Rolle spielen sollte, hat sich auch in der Causa Habilitation Gross exponiert: Gemeinsam mit dem Rechtshistoriker Arnold von Luschin-Ebengreuth hat er sich vehement für die Anerkennung der rechtswissenschaftlichen Bedeutung des damals neuen Fachgebietes der Kriminalistik und Kriminologie sowie für die Habilitation von Hans Gross eingesetzt. – Schon im Jahre 1893 war von Gross das Handbuch für Untersuchungsrichter und Polizeibeamte erschienen, das zahllose Auflagen erfuhr und in alle Weltsprachen übersetzt wurde. Gross ging es um die „Erscheinungslehre des Verbrechens“, die er nur in Verbindung 1898 und 1919 in 11 Auflagen erschienen ist und woraus damals zahlreiche Juristen ihr völkerrechtliches Wissen bezogen haben. (Völkerrechtsfragen wurden naturgemäß im Lichte der Kriegsschuldfrage, wie sie bei den Pariser Friedensverhandlungen eine Rolle spielte, in Deutschland und Österreich nach 1919 anders gedeutet als vor Ende des Ersten Weltkriegs.)
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von dogmatischer Wissenschaft, naturwissenschaftlich orientierter Arbeit und realer Praxis als sinnvoll erachtete. Damit ist er zum Begründer der modernen Kriminalistik geworden. Gross ist auch der Begründer des erstmals 1899 erschienenen Archivs für Criminalanthropologie und Kriminalistik, das unter dem geänderten Namen Archiv für Kriminologie mittlerweile auf weit über 200 Bände angewachsen ist. – Über Liszt, Gross und Vargha handelt der Beitrag von Michael Bock im vorliegenden Sammelband. Als Nachfolger von Gross wirkte in Graz ab 1909 Adolf Lenz (Abb. 26), der zuvor, wie Schumpeter auch, an der Universität Czernowitz lehrte. Ähnlich wie Franz von Liszt forschte Lenz vor allem in Abb. 26: Adolf Lenz den Bereichen Völkerrecht, Strafrecht und Quelle: Archiv der Universität Graz Kriminologie. Seine wichtigste Leistung war die Begründung der Kriminalbiologie – gewissermaßen im Sinne einer Gegentendenz zu Varghas Forschungsansatz. Lenz schuf auch die „Kriminalbiologische Untersuchungsstelle“ und gründete 1927 die „Kriminalbiologische Gesellschaft“. In Anlehnung an die durch Franz von Liszt eingeführte Typenbildung und an die Konstitutionsbiologie von Ernst Kretschmer versuchte Lenz nicht nur, bestimmten Körperbautypen bestimmte Temperamente zuzuschreiben, sondern auch bestimmte Delinquenz- und Verbrechensdispositionen. Die im Jahre 1931 unter seiner Anleitung erschienene Gemeinschaftsstudie Mörder ist der deutlichste Ausdruck dieses nicht unumstrittenen Forschungsansatzes einer phänotypischen Prädiagnostik, der heutzutage in gewissen Versuchen der molekularbiologischen Erklärung von Verbrechensdispositionen eine Entsprechung hat. Ernst Seelig, dem Nachfolger von Adolf Lenz auf dem Grazer Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Kriminologie ist es gelungen, die Kriminologie als Pflichtvorlesung für Juristen in deren Studienplan zu verankern. – Zu Fritz Byloff, der im Jahre 1940 Ordinarius an dem soeben erwähnten Institut wurde, ist bereits weiter oben, im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Rechtsgeschichte, einiges gesagt worden. Hier möge der Hinweis auf seine Arbeiten Das Verbrechen der Zauberei (crimen magiae) (1902), Die Teufelsbündler. Eine Episode aus der steirischen Gegenreformation (1927) und
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Hexenglaube und Hexenverfolgung in den österreichischen Alpenländern (1934) genügen, die ihn als einen gleichermaßen profunden Strafrechts- und Kulturhistoriker wie Volkskundler ausweisen. Autoren vom Schlage Byloffs würde man heute wohl an die rechtshistorischen Institute verweisen. – Davon völlig verschieden ist der Zugang zur Strafrechtsthematik in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an der Universität Graz gewesen. Ganz allgemein war man bestrebt, sich an modernen Ansätzen, damit aber eher an den Weiterentwicklungen von Liszts Arbeiten zur Resozialisierung oder von Varghas Etikettierungsansatz zu orientieren, welcher in den kriminalsoziologischen Arbeiten der 1960er Jahre gewissermaßen neu erfunden wurde.75 Dazu kamen neue Anforderungen in didaktischer wie rechtspolitischer Hinsicht, welche die Lehre im Strafrecht und Strafprozeßrecht an die Kriminologie wie überhaupt an die moderne Rechtstatsachenforschung heranzuführen nötigten. Ein Beispiel dafür, wie neuere didaktische Gesichtspunkte auch das Lehrbuchwissen des Faches bestimmen, stellt das von dem Grazer Strafrechtslehrer Peter Schick gemeinsam mit Marianne Hilf verfaßte Werk Strafrecht. Fälle und Lösungsmuster zum materiellrechtlichen Teil (2008) dar, von dem der Verlag unter anderem „Lebensnähe der Fälle statt Lehrbuchkriminalität“, „Klarheit der Falllösungsschemata“ und – als offensichtlich erreichbares Lernziel – „Beweglichkeit im Falllösungsdenken“ verheißt.
75 Es handelt sich dabei um den von US-amerikanischen Soziologen aus dem Umkreis des Symbolischen Interaktionismus entwickelten und oben kurz charakterisierten „labeling approach“; siehe dazu den Beitrag von Michael BOCK in diesem Band.
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Maximilian Liebmann Rudolf Ritter von Scherer – Rechtshistoriker und Theologe I. Biographie: 1. Familiäres Umfeld, 2. Ausbildung, 3. Werdegang – II. Lehrer und Forscher an der Grazer und Wiener Theologischen Fakultät: 1. In Graz, 2. In Wien
I. Biographie 1. Familiäres Umfeld „Nach vierjähriger Ehe bekamen Anton R. v. Scherer, Konzipist beim k. k. steiermärkischen Gubernium, und Sophie geb. Sockl das erste ihrer vier Kinder, welches am der Geburt (11. August 1845) folgenden Tage in der Taufe den Namen Rudolf erhielt.“ So beginnt Rudolf Ritter von Scherer seine im Jänner 1906 maschinschriftlich verfaßte Autobiographie.1 Über seinen Vater läßt er uns wissen, daß seine berufliche Situation als politischer Beamter ihn nicht befriedigte und er folglich bestrebt war, irgendwie lehramtlich tätig zu sein. So habe er, „da andere Bewerbungen fehlschlugen, an Sonntagen unentgeltliche populäre Vorträge über Naturgeschichte, Technologie und verwandte Gegenstände“ gehalten. Dieses Unbefriedigt- und Unausgelastetsein des Vaters Anton von Scherer mag damit zusammenhängen, daß dessen Vater Claudius Ritter von Scherer ein gleichermaßen erfolgreicher wie anerkannter Mediziner war und gerade wegen seiner Verdienste um die Medizin geadelt, das heißt in den Ritterstand erhoben worden war.2 Über seine Mutter Sophie von Scherer ließ uns Sohn Rudolf in seiner Autobiographie wissen, daß sie ihren „Formensinn“ nicht nur durch Zeichnen und Malen ausübte. So habe sie im Sturmjahr 1848 drei Bände Erfahrungen aus dem Frauenleben in Graz herausgebracht, wofür sie der junge Kaiser Franz Joseph mit seinem Bild und der Goldenen Ehrenmedaille ausgezeichnet habe. Hingegen verschweigt Rudolf, daß seine Mutter im selben Jahr, datiert mit 17. November 1848, in Graz die 18-seitige Broschüre Offenes Sendschreiben an den Congreß der hochwürdigsten Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg drucken ließ beziehungsweise veröffentlichte. Dieses Sendschreiben erreichte die hohe Geistlichkeit in Würzburg jedoch nicht, denn sie hatte ihre Konferenz schon beendet.3 1 Archiv der österreichischen Akademie der Wissenschaften (AÖAW), Personal-Akt Rudolf von Scherer. Die Kenntnis dieses Aktes verdanke ich Herrn Dr. Stefan Sienell, der ihn mir freundlicherweise kopierte und postalisch übermittelte. 2 Herta NEUNTEUFL: Frauen im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 7/8 (1975), S. 149–164. 3 Michaela KRONTHALER: Kirchen- und gesellschaftspolitische Bestrebungen sowie pastorale Bemühungen der Österreichischen Bischofkonferenzen 1848 –1918, Graz 2000, unveröff. Habilitationsschrift, S. 88.
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Dafür provozierte sie mit diesem Sendschreiben einen heftigen Familienzwist, besser gesagt einen Geschwisterstreit zwischen ihr und ihrem Bruder Theodor Sockl,4 einem engagierten Vertreter des damals im Schwange stehenden Deutschkatholizismus. Wenngleich Sophie von Scherers Eingabe bei der Würzburger Bischofskonferenz ob der verspäteten Einreichung keinerlei Resonanz erreichen konnte und weil der familiärgeschwisterliche Streit neben und außer der Angelegenheit über die deutschkatholische Bewegung5 vor allem kirchlich-religiöse sowie kirchenpolitische Fragen betraf, sei nun diesen das volle Augenmerk geschenkt. Beide fokussieren jedoch das geistige Umfeld, in dem Rudolf aufwuchs und welches den Entschluß, sich dem Priesterberuf zu widmen, reifen ließ. Hatte Sophie von Scherer schon in ihrem dreibändigen Frauenleben im Abschnitt „Religion und Priester“ ihre Reformideen zu Papier gebracht und der breiten Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt, so erneuert sie diese gerafft im Sendschreiben. Sie geißelt die Tendenz, „die Unfehlbarkeit der römisch-katholischen Kirche zu bezweifeln, zu belächeln und zu verdächtigen“, und sichert sich damit geschickt gegen etwaige Unterstellungen, bei ihren Reformvorstellungen unkatholisch oder unkirchlich zu sein, ab. Forsch fordert sie darauf die Bischöfe auf: „Emanzipiert Euch – nicht von Rom, nicht vom römischen Papste […], aber von Formen, die sich ja ändern können, sich geändert haben, die sich stets den Bedürfnissen und Forderungen der Zeit anpaßten, ohne der Lehre Eintrag zu tun.“ 6 Ein förmliches Aggiornamento also, wie es 110 Jahre später Papst Johannes XXIII. programmatisch formulieren sollte, geäußert von einer außergewöhnlichen Vordenkerin,7 die von sich selbstbewußt sagte, sie sei „um 100 Jahre zu früh geboren“.8 Für den kirchenbaulich-liturgischen Bereich findet Sophie von Scherer in jeder Kirche einen Altar, höchstens drei Altäre für ausreichend. Alles Störende, auch in Gemälden, 4 Theodor SOCKL veröffentlichte, datiert mit 3. Dezember 1848, in Graz eine Broschüre: „Offener Brief an meine Schwester: beleuchtend das von ihr verfasste Offene Sendschreiben an den Congreß der hochwürdigsten Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg“. Auf dem Titelblatt der Broschüre ist als Erscheinungsjahr allerdings 1849 angegeben. Nicht ganz drei Wochen später, datiert mit 22. Dezember 1848, replizierte die streitbare Schwester Sophie ihrem Bruder Theodor mit dem 14 Seiten umfassenden Traktat: „Erwiderung auf den an mich gerichteten offenen Brief meines Bruders über mein offenes Sendschreiben an den Congreß der hochwürdigen Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg“. Hier ist als Erscheinungsjahr etwas verwirrend wieder 1848 angegeben; dies dürfte darin seinen Grund haben, daß Sophie ihre Broschüren beim Verlag Kienreich, ihr Bruder Theodor beim Verlag Eduard Ludewig herausbrachte. 5 Wolfgang HÄUSLER: Deutschkatholische Bewegung, in: Adam WANDRUSZKA, Peter URBANITSCH (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848 –1918, Band 4: Die Konfessionen, Wien 1985, S. 596 – 615; Andreas POSCH: Die deutschkatholische Bewegung in Steiermark, in: Jahrbuch der österreichischen LeoGesellschaft, Wien 1928, S. 72–116. 6 Offenes Sendschreiben, S. 4. 7 Michaela KRONTHALER: Eine außergewöhnliche Vordenkerin, in: Sonntagsblatt, 27. Mai 2001, S. 14. 8 NEUNTEUFL 1975 (Anmerkung 2), S. 156.
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solle vermieden werden, wie zum Beispiel Heiligenscheine, die hl. Dreifaltigkeit solle nicht wie in bisheriger Form sondern sinnbildlich, „etwa als eine Gruppe von drei Genien mit den Attributen der Allmacht, Liebe und Weisheit“ dargestellt werden. Nur eine hl. Messe und nicht zugleich mehrere Parallelmessen sollen zelebriert werden. Gute, auf ein gebildetes Publikum abzielende Predigten seien vonnöten. Litaneien und andere Gebetsformen, „die nicht unmittelbar zum Glauben und zur Lehre selbst gehören“, sollen vermieden werden. Außerdem solle so weit wie möglich „die deutsche oder überhaupt die Landessprache“ bei der Liturgie verwendet und der Gottesdienst vereinfacht werden. Die zeitgemäße Bildung des Priesterstandes sei ein dringendes Bedürfnis geworden. Die Aufhebung des Zölibates sei für die Zukunft zu wünschen. Dadurch würden die Priester leichter Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen, zudem sei es wahrlich leichter, „das Unbeschworene zu halten, als zu versprechen, was erst die Zukunft als schwer oder leicht uns gestaltet“. Euphemisch fährt sie fort: „Wahrlich Hunderte – Tausende, würden den Glauben erhalten, wenn die Form des Gottesdienstes und die Stellung und Bildung des Priesterstandes ihren Ansichten und ihrer Bildungsstufe so entspräche, daß sie daran nichts zu rügen fänden und kein Ärgernis nehmen.“ Am Schluß ihrer Wünsche deponiert Sophie Scherer noch die Bibelinterpretation: „Tausende würden im Glauben erstarken, wenn ihnen die Bibel geöffnet wäre, dieser reiche Born christlicher Überzeugung.“
2. Ausbildung Mit vorzüglichem Erfolg legt der außergewöhnlich begabte Rudolf am 13. August 1862 die Matura an dem von Admonter Benediktinern geleiteten Akademischen Gymnasium in Graz ab. Dessen Direktion hatte damals der Gelehrte Richard Peinlich inne. Mathematik, Geschichte und Griechisch waren seine Lieblingsfächer; während andere für die Maturaprüfung lernten und sich vorbereiteten, „las er“, schreibt Scherer in seiner in der dritten Person abgefaßten Autobiographie, „nicht nur den ganzen Homer, sondern zahlreiche Dialoge Platons, Dramen von Sophokles und andere Klassiker“. Zur Beherrschung der alten Sprachen, wobei Griechisch es ihm besonders angetan hatte, fügten sich später Kenntnisse von Französisch, Italienisch und Englisch. Sein Vorhaben, gleich nach der Matura sich dem Theologiestudium zu widmen, was damals soviel hieß wie das Priesteramt anzustreben, scheiterte am Einspruch seines Vaters. Nüchtern und prägnant redete er seinem Sohn ins Gewissen: „Nicht allzu jung den entscheidenden Schritt zu tun“, was nur hieß, Rudolf soll sich nicht gleich für den Priesterberuf festlegen, zuerst soll er sich umschauen und was Ordentliches erlernen, nämlich „ordnungsgemäß Jus studieren“. Damit wurde Vater Anton, ohne es zu ahnen, indirekt zum Wegweiser für den unübertroffenen Forscher und Gelehrten in Rechts-
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geschichte, insbesondere im Bereich des Kirchenrechtes respektive der Kanonistik. Sohn Rudolf befolgte den Rat seines Vaters zwar lustlos, aber gewissenhaft, und besuchte fleißig die obligaten Vorlesungen über deutsches und römisches Recht. Aber keiner, nicht einmal die tüchtigsten Professoren, konnten ihn fesseln. So folgt er der im Gymnasium schon entwickelten Neigung und betreibt mit Eifer philologische und historische Studien. Das Neue Testament arbeitet er in Griechisch gewissenhaft durch; der Erlernung der englischen Sprache, schreibt er, wurde durch Studium des Gotischen ein tieferer Untergrund gegeben. Sanskrit zu erlernen scheiterte am Mangel pädagogischer Fähigkeiten des Professors. Umso mächtiger wird er vom bekannten Historiker Johann Baptist Weiß in den Bann gezogen. Im zweiten juristischen Semester trifft er auf den die Weichen seines künftigen wissenschaftlichen Lebensweges stellenden Professor für Kirchenrecht, den berühmten Kanonisten Friedrich Maassen, der Rudolf Scherer für jenes Fachgebiet begeisterte, auf dem er als Forscher und Lehrer seine Triumphe feiern sollte.9 In seiner Autobiographie spezifizierte Scherer: Friedrich Maassen habe ihn „auf ein gründlicheres Studium des Kirchenrechtes hingewiesen und ermahnt, schon deshalb, d. h. aus methodischen Gründen römisches und germanisches Recht gewissenhaft zu studieren“.10 Schließlich habe Maassen ihm „mit glücklichem Griff“ ein Kirchenrechtsbuch zur Lektüre empfohlen, das er nicht nur begierig gelesen, sondern das „wegen der Frische der Darstellung, der Genauigkeit der Citate, der Fülle geistreicher Bemerkungen“ ihm gewissermaßen zum Paradigma geworden sei. Im damals noch jungen Studenten sei der erwachende kritische Geist „nicht erdrückt, sondern im Gegenteil erst recht gestärkt“ worden. Daß er sich bereits mit dem protestantischen Kirchenrecht auseinandergesetzt hat, läßt Scherer uns mit der nüchternen Feststellung wissen: „[…] die Unsicherheit der protestantischen Kirchenrechtslehrer auf eigenem Boden war größer, als dies innerhalb der fest organisierten Kirche möglich schien“. Jedenfalls haben diese Erfahrungen ihn zum Entschluß geführt, „wenn nicht ausschließlich, doch vorwiegend sich dem Studium des katholischen Kirchenrechtes zu widmen“, wobei ihn weniger das geltende Kirchenrecht „als vielmehr dessen geschichtliche Entwicklung“ in den Bann gezogen habe. Der enge Kontakt beziehungsweise „der nähere Verkehr“, wie Scherer formulierte, „mit dem gefeierten Kanonisten“ – gemeint ist Friedrich Maassen – „dauerte ununterbrochen während der Jahre 1863 – 67“. Bedingt durch die Vorbereitung auf die erste Staatsprüfung und die vier Rigorosen sei er allerdings stark reduziert gewesen.
9 Nikolaus GRASS: Die Kirchenrechtslehrer der Universität Graz und ihre Bedeutung für die Erforschung des klassischen kanonischen Rechts, in: Studia Gratiana, Band VIII, Bologna 1962, S. 272 – 304, speziell S. 274. 10 Alle weiteren Zitate, sofern sie nicht anderwärtig ausgewiesen, das heißt belegt werden, sind seiner Autobiographie (siehe Anmerkung 1) entnommen.
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Kryptisch distanziert fährt Scherer fort: „Maassen war übrigens eine viel zu noble Natur, als daß er darauf ausgegangen wäre, für sein politisches Parteiprogramm wirksam Schule zu machen.“ Dieses so genannte politische Parteiprogramm Maassens wird wohl in dessen Engagement für die Bildung der katholisch-konservativen Partei in der Steiermark der sechziger Jahre und in Agitationen, den Untergang des Kirchenstaates und das Unfehlbarkeitsdogma betreffend, zu orten sein.11 Maassen hatte damals auch zu den Exponenten der Grazer juridischen Fakultät gehört, die die Wahl eines besonders profilierten Theologen zum Rektor beeinspruchten, weil es galt, den „Schein des Mangels toleranter Gesinnung […] von der Universität abzuwenden“.12 Der Hinter- und Urgrund von Maassens Engagement war die gerade schwelende respektable ideologisch-weltanschauliche Auseinandersetzung, die bald weit über die Universität hinaus die Gesellschaft in Atem hielt: die Frage nach der Freiheit der Wissenschaft, spezifiziert in der Frage, ob die darwinistische Abstammungslehre auf der Universität der Lehrfreiheit wegen vertreten werden darf, obwohl sie klar der biblischen Schöpfungslehre widerspräche.13
3. Werdegang Nach der Ablegung der entsprechenden juridischen Prüfungen, bei denen er eine Auszeichnung aus römischem Recht erhielt, folgte am 31. Juli 1867 die Promotion. Aber noch davor, gleich nach dem Tod seines Vaters im Jänner 1867, bemühte sich Scherer mit Erfolg um Nachinskription an der Grazer Theologischen Fakultät. Die verpflichtend vorgeschriebene Erlernung beziehungsweise Einführung in die hebräische Sprache fiel ihm wesentlich leichter, als eine slawische Sprache „und später – zu spät – die ungarische Sprache wenigstens einigermaßen zu erlernen“. Wichtig war es Scherer auch zu betonen, daß er „durch Jahre hindurch dem ‚Orion‘ angehörte, einer nicht farbentragenden, fortschrittlich gesinnten Verbindung, welche das Hauptgewicht auf Sauberkeit des Charakters ihrer Mitglieder und deren Übung in freier Behandlung wissenschaftlicher Fragen legte“. Diese äußerst positive Wertung einer Studentenverbindung fällt auf, wird aber leicht erklärlich, wenn man weiß, daß er deren Mitbegründer und höchst engagiertes Mitglied war und mehrere Funktionen wie Präses und Vizepräses bekleidete. 11 Nikolaus GRASS: Maassen, in: Österreichisches Biographisches Lexikon, Band V, 1972, S. 385; Karl SCHWECHLER: 60 Jahre Grazer Volksblatt, Graz-Wien 1926, insbesondere S. 208 –213. 12 Maximilian LIEBMANN: Die Theologische Fakultät im Spannungsfeld von Universität, Kirche und Staat von 1827 bis zur Gegenwart, in: Kurt FREISITZER u. a. (Hg.): Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985, S. 156 –185, speziell S. 160 und 176, Anmerkung 56. 13 LIEBMANN 1985 (Anmerkung 12), S. 157ff.
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Im „Orion“, dessen Geschichte kein Geringerer als Karl Hugelmann verfaßt hat,14 fand Scherer einen Freundeskreis, der ihn prägte und den er prägte. Im November 1864 war „Orion“ gegründet worden, als sein Gründungsvater firmiert der eben genannte Jurist und Historiker Hugelmann.15 Hier im „Orion“ traf Scherer immer wieder bei den statutarisch geforderten oftmaligen Zusammenkünften Persönlichkeiten von Rang und Namen, neben und außer Maassen u. a. die Professoren August Tewes und Franz Krones. Nach Karl Gottfried Hugelmann,16 der Scherer zu seinem 70. Geburtstag eine Würdigung in der Reichspost verfaßt hatte, verband sie alle „die heiße Liebe zum großen deutschen Volk, hochstrebender Wissenschaft und treuer Freundschaft“.17 Über Themen wie zum Beispiel Kirchenstaat, Konkordat, Duell und Freimaurer wurde im „Orion“ mit Vorliebe referiert und diskutiert. Scherer sprach über Themen mit zeithistorischer Relevanz und Brisanz, wie Römischer Index, Rechtliche Natur der Konkordate und anderes, wobei uns leider keinerlei Manuskripte oder dergleichen erhalten geblieben sind. Zum Eklat war es im „Orion“ im November 1866 gekommen, als ein Mitglied eine politische Parteirede gehalten hatte, die Scherer absolut zuwider war. Scherer zog postwendend die Konsequenz und trat aus dem „Orion“ aus. Die Studentenverbindung reagierte nicht minder spontan und ernannte ihn, „seine großen Verdienste um den ‚Orion‘ anerkennend, zum Ehrenmitglied, und da er diese Ernennung annahm, so verblieb er zur Freude der Gesellschaft, wenngleich in veränderter Form, in ihren Reihen“.18 Über die Folgen der katastrophalen Niederlage bei Königgrätz läßt sich Scherer vernehmen: „Das Kriegsjahr 1866 war nicht im Stande seine Liebe zu Österreich zu schwächen, wenn auch die früher gehegte großdeutsche Idee in politischer Beziehung den Todesstoß erhalten hatte.“ Die Einheit der Nation bedinge ohnehin nicht die Einheit des Staates, „gerade deshalb ist das nationale Empfinden sowenig an konfessionelle als an staatliche Zugehörigkeit geknüpft“. Scherer „fühlte in sich“, so formuliert er, „einen unwiderstehlichen Drang, die Theologie an jenen Universitäten Deutschlands zu studieren, deren theologische Fakultäten einen wohlbegründeten Weltruf wahrhaft wissenschaftlichen Betriebes der sonst leider nur schulmäßigen Theologie besaßen“. Zu letzteren dürfte er neben Graz auch Wien 14 Karl HUGELMANN: Geschichte der akademischen Verbindung „Orion“ 1864 –1875, 62-seitiges, maschinschriftliches Manuskript, Graz 1925. Die Kenntnis dieses Manuskriptes verdanke ich Herrn Kollegen Günter Cerwinka. Dazu: Max DOBLINGER: Burschenschaft und deutsche Einheitsbewegung in Graz bis 1880, Graz-Wien-Leipzig 1921. 15 Österreichisches Biographisches Lexikon, Band III, 1965, S. 8. 16 Gerhard HARTMANN: Für Gott und Vaterland, Kevelaer 2006, S. 343 –346. 17 Karl Gottfried HUGELMANN: Zu Rudolf v. Scherers 70. Geburtstag, in: Reichspost, Nr. 375, 11. August 1915, S. 7f., speziell S. 7. 18 HUGELMANN 1925 (Anmerkung 14), S. 22.
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gezählt haben, denn als Theologische Fakultäten, die seinen Vorstellungen entsprachen, nennt er an erster Stelle München und an zweiter Tübingen. Daß dieses Auslandsstudium ihm finanziell (wirtschaftlich) möglich war, verdankte er dem „Königin Anna von Polen-Stipendium“. Wenngleich sein Aufenthalt in den genannten Universitäten beziehungsweise Fakultäten nur jeweils ein Semester betrug, war jener „aber trotzdem nachhaltig, ja entscheidend für die wissenschaftliche Grundstimmung“. Warum das? Was konnten beide Fakultäten in je einem Semester ihm so Grundlegendes geboten haben? Nicht nur die einzig erlaubte wissenschaftliche Einstellung, die Wahrheit zu finden und zu sagen, ist es, die ihn für sein Arbeiten, Forschen und Lehren geformt haben, „sondern“ – und nun folgt seine richtungweisende Selbstcharakterisierung mit klarer wissenschaftlicher Ab- und Ausgrenzung – „in Folge der vorwiegend historischen Richtung seiner Studien wurde er [Scherer] gewohnt, als Ideal die richtige, sachgemäße Erforschung des positiv gegebenen Materials anzusehen“. Dem schließt er sogleich seine Erklärung an, warum er für seine Forschungsarbeiten harsche Kritik erfahren hat: „Daraus ist wohl zu erklären, daß er [Scherer] sogenannten spekulativen Erörterungen jeder Art, mögen dieselben auf theologisch-dogmatischem, auf metaphysischem, auf naturrechtlichem Gebiete sich ergeben, einen Geschmack abzugewinnen nie geneigt war“; ganz konkret ortet er direkt anschließend auch seine Gegnerschaft: „[…] ein Umstand, welcher ihm später systematische Anfeindung seitens einer gerade entgegengesetzte Prinzipien verfolgenden Gesellschaft [S.J.] eintrug.“ Die Professoren in Deutschland, die „seine Neigung für geschichtliche Studien wesentlich beeinflußten“, nennt er namentlich, und das waren Historiker von Rang und Namen, die insbesondere im Konnex mit dem I. Vatikanum, speziell das Unfehlbarkeitsdogma betreffend, Geschichte gemacht haben. In München, von wo er im April 1868 nach Graz zurückkehrte,19 ist es Johannes Joseph Ignaz von Döllinger, der meist als Begründer der Altkatholischen Kirche genannt wird, wenngleich er selber dieser nie angehört hat. Döllinger hat das I. Vatikanum publizistisch vehement bekämpft, und Gewissensgründe ließen ihn die Zustimmung zu dessen Beschlüssen versagen. In Tübingen, wo er an München anschließend studierte, ist es Carl Joseph von Hefele, Verfasser der berühmten Konziliengeschichte. Zum Bischof ernannt, nahm Hefele am I. Vatikanum teil und war ein profilierter historisch-fundierter Wortführer der Minorität zur Verhinderung der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. – Mit deutlichem Abstand zu den genannten, ihn besonders prägenden Professoren nennt Scherer weitere Professoren, denen hier nicht weiter nachgegangen sei.20
19 Ebenda, S. 32. 20 Josef KREMSMAIR: Rudolf Ritter von Scherer, in: Franz POTOTSCHNIG, Alfred RINNERTHALER (Hg.): Im Dienst von Kirche und Staat. In memoriam Carl Hollböck, Wien 1985, S. 327–346, speziell S. 330.
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Aufhorchen läßt Scherer wegen etwas, das er über beide Universitätsstädte noch zum Besten gibt: „An beiden Orten erschloß sich ihm aber eine ganz neue Welt durch die Teilnahme an dem frisch und froh pulsierenden studentischen Leben.“ Hatte er sich einer studentischen Verbindung analog zum „Orion“ in Graz angeschlossen? Dafür spricht seine wohlwollende Kritik: „Merkwürdig genug machten sich die Ausartungen des Komments nicht in peinlicher Weise bemerkbar; ja es scheint, daß unmittelbar nach dem Kriegsjahre 1866 die studentischen Unsitten weniger hervortraten als dies vor- wie nachher der Fall war.“ Will er damit um Verständnis werben, daß er in Tübingen zum Ehrenmitglied der CV-Verbindung Guestfalia avancierte,21 ohne dies direkt zu erwähnen? Als externer Theologe beziehungsweise Alumne, der noch nicht im Priesterseminar wohnt, gönnte Scherer sich im Sommer 1868 noch eine Rhein-Thüringen-Sachsen-Reise und sucht am 15. August 1868 von Tübingen aus um Aufnahme ins Grazer Priesterseminar an,22 vollendet hier seine theologischen Studien und wird am 19. Juli 1869 von Fürstbischof Johann B. Zwerger zum Priester geweiht. Nach seiner Primiz in der kleinen Grazer Leechkirche, wobei er Gott „für die glückliche Erreichung des von ihm seit den Knabenjahren erwünschten Charismas dankte“, folgten drei Kaplansjahre in der südsteirischen Dekanatspfarre Leibnitz. Hier habe er den Blick für das Wahrhafte und Notwendige, das „von dem schulmäßigen Beiwerk unschwer zu unterscheiden“ sei, erhalten. Hinter dieser schulkritischen Wertung stecken Querelen und ärgerliche Auseinandersetzungen des schon hochgebildeten Doktor juris und Theologen, der Studien an den bedeutendsten deutschen Fakultäten betrieben hatte. Beides ließ ihn, den Adeligen, schon im Alumnat des Grazer Priesterseminars weit über den Durchschnitt der aus dem Bauernstand rekrutierten Kommilitonen hinausragen. Im ländlichen Leibnitz mußte er sich mit den zuständigen Schulbehörden herumschlagen. Sein Verhalten den Schülern und der Schulbehörde gegenüber brachte ihm sogar eine schriftliche Rüge des Bezirksschulrates, bestätigt durch den Landesschulrat, ein.23 Freude bereitete ihm in den Leibnitzer Kaplansjahren jedoch die Tatsache, daß seine ihm nahestehenden Freunde wie zum Beispiel Maassen aus den Turbulenzen im Gefolge des I. Vatikanums „das innere Gleichgewicht, die Sicherheit und Freudigkeit des Glaubens wieder gefunden haben“. Offensichtlich ficht das Unfehlbarkeitsdogma und die
21 Alois GROSZMANN: Die ersten Ehremitglieder des CV in Oesterreich, in: Mitteilungsblatt des ÖCV und des ÖAHB, Nr. 17, 15. Februar 1938, S. 5. Dazu: Gerhard HARTMANN: Im Gestern bewährt, im Heute bereit. 100 Jahre Carolina 1888 –1988, Graz-Wien-Köln 1988, S. 25f. – Das Datum der Ernennung zum Ehrenmitglied, 6. August 1866, stößt bei der zeitlichen biographischen Einordnung auf Schwierigkeiten, weil Scherers Studienaufenthalt in Tübingen eindeutig nur für die Zeit nach München 1868 belegt ist. 22 Michaela SOHN-KRONTHALER: Rudolf Ritter von Scherer (1845 –1918), in: Karl Heinz FRANKL, Peter G. TROPPER (Hg.): Das „Frintaneum“ in Wien, Klagenfurt/Celovec 2006, S. 114 –116. 23 KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 331f.
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damit einhergehende turbulente Auseinandersetzung Scherers tiefen Glauben und Kirchentreue nicht an. Nach den drei Kaplans- und mit Streit gespickten Katechetenjahren suchte er am 2. Juli 1872 bei der kirchlichen Behörde, das heißt beim Fürstbischof, um Urlaub von pastoralen Verpflichtungen an, nicht um sich beschaulich zu regenerieren, sondern „um im k. k. höherem Bildungsinstitute für Weltpriester in Wien Musse zu finden zur Vollendung seiner theologischen Rigorosen“. Ein Rigorosum, das Biblikum, hatte er 1870 als Leibnitzer Kaplan in Graz abgelegt, noch fehlten ihm drei für das Doktorat in Theologie notwendige Rigorosen sowie die entsprechende Dissertation. Fürstbischof Zwerger, der auch am „Frintaneum“ studiert hatte, entband ihn von den pastoralen diözesanen Pflichten, und mit kaiserlicher Entschließung vom 22. September 1872 wurde er im höheren Priesterbildungsinstitut zu St. Augustin, kurz „Frintaneum“ 24 genannt, aufgenommen. Die fehlenden drei Rigorosen konnte er in Wien ablegen, die Dissertation jedoch nicht zu Ende bringen. Der zweijährige Studienurlaub war ihm kaum mehr als ein Lernurlaub, obgleich er „drei recht gute Meditationen und mehrere recht gute Predigten“ gehalten haben soll.25 Sein Gesamturteil über seine zwei Frintaneumsjahre bedarf keiner Interpretation: „Geistige Anregung bot dieser Aufenthalt nicht.“ Dem berühmten Wiener Bibelwissenschafter Karl Werner, den er noch vor Beendigung seiner Studien kennenlernte, stellte er allerdings ein exzellentes Zeugnis aus. Mit Karl Gottfried Hugelmann, Hörer und Schüler Scherers, sei die detaillierte Biographie abgerundet: „Nicht ohne Absicht haben wir die Lehrjahre Scherers so ausführlich dargestellt, weil sie mit besonderer Treue die Elemente aufweisen, deren Verbindung das Bild des fertigen Mannes ergibt.“26
II. Lehrer und Forscher an der Grazer und Wiener Theologischen Fakultät 1. In Graz Wie eine Erlösung aus einer dumpfen beruflich-geistigen Durststrecke klingt seine Eintragung über das Ereignis, das nun eintrat: „Noch während der Ferien des Jahres 1874 erhielt Sch. [Scherer] die ihn freudigst überraschende Nachricht, daß ihn das Professorenkollegium der theologischen Fakultät Graz mit der Supplentur der eben freigewordenen Lehrkanzel der Kirchengeschichte betraut habe.“
24 SOHN-KRONTHALER 2006 (Anmerkung 22). 25 Ebenda, S. 15. 26 HUGELMANN 1915 (Anmerkung 17), S. 7; dazu: GRASS 1962 (Anmerkung 9), S. 276.
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Für seine Lehrtätigkeit als Grazer Kirchenhistoriker schob er die überkommenen Lehrbücher ob ihrer Veralterung beiseite und erarbeitete für seine Hörer, die zum Teil schon älter als er waren, eigene Vorlesungen und diktierte den Grundriß Kirchengeschichte. In Ergänzung und zum besseren Verständnis bemühte er sich, „denselben durch ausführliche Erörterungen in deutscher Sprache lebendig und interessant zu gestalten“. Um zum ordentlichen Professor ernannt zu werden, mußte er sich, weil nur Supplent, „zwei aus schriftlicher Klausurarbeit und mündlichem Vortrag bestehenden Klausurprüfungen aus Kirchengeschichte und Kirchenrecht unterziehen“, und das zugleich während seiner Vorbereitungen für das kirchenhistorische Kolleg. So nebenbei erfolgte an der Wiener Universität 1875 seine Promotion zum Dr. theol. mit der Dissertation De patriarchatus Constantinopolitani historia. Zugleich mit Scherer mußte Leopold Schuster, der von der Fakultät zum Supplenten für Kirchenrecht bestellt worden war, zu Klausur und Klausurprüfungen antreten. An Scherers Arbeit wurde von der Kommission „das gründliche Wissen, die überwältigende Gelehrsamkeit, die große Belesenheit“ gerühmt. Bei Schuster wurde die Pietät gegen die Kirche, die praktische Ausnützung der Geschichte, die anregende Darstellung hervorgehoben. Beide wurden für vorzüglich geeignet erklärt.27 Nach zwei Jahren endete die kirchenhistorische Supplentur beziehungsweise Lehrtätigkeit; mit 20. Mai 1876 erfolgte Scherers „Ernennung zum ordentlichen Professor des Kirchenrechts mit der Verpflichtung, auch Vorträge über Dogmengeschichte und theologische Literaturgeschichte zu halten“. Damit hatte Scherer seinen Beruf des Kirchenrechtshistorikers, in dem er wahre Triumphe feierte, erreicht. Die Theologische Fakultät Graz hatte mit seiner Ernennung einen doppelten Gewinn, einerseits war eine Koryphäe gewonnen und anderseits wurde ein eigener Lehrstuhl, nämlich der des Kirchenrechts, errichtet. Bis dahin war das Kirchenrecht ein förmliches Stiefkind der Kirchengeschichte, das vom Kirchenhistoriker „gegen eine Remuneration vorgetragen wurde“. Diese Ernennung zum ordentlichen Professor war dem 31-jährigen Scherer „die endliche Erreichung seines heiß ersehnten Lebenszieles“. Vergällt wurde diese überschäumende Freude „durch den jähen Tod der Mutter, deren Lebensabend zu verschönern seine süße Pflicht gewesen wäre“. Anderseits war es ihm wieder Freude und Genugtuung, daß ihn seine einstigen Lehrer auf der juridischen Fakultät mit offenen Armen aufnahmen und ihn zum Examinator des Kirchenrechtes bestellten. Für die Theologische Fakultät, die nun einen eigenen Kirchenrechts-Lehrstuhl errichtet bekam, legte Scherer präzis einen Vorlesungsplan fest. Hierbei erlebte er „die 27 Andreas POSCH: Geschichte der Grazer theologischen Fakultät im letzten halben Jahrhundert (1890 –1940) mit einem Rückblick über ihre Gesamtgeschichte. Maschinschriftliches Manuskript, o.J. (Universitätsarchiv Graz)
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Genugtuung, daß die von ihm gewählte Ordnung auch von anderen Autoren, und zwar trotz persönlicher Gegnerschaft, rezipiert wurde“. Besonders wichtig war ihm dabei, „die Grundbegriffe des Rechts im bewußten Gegensatz zur moraltheologischen Behandlung der verwandten Materien“ seinen Hörern klar zu machen. Neben und außer Kirchenrecht hatte er ernennungskonform kirchenhistorische Sparten wie Geschichte der Apologetik, vornicänische und patristische Dogmengeschichte, und Lehrveranstaltungen über Augustinus zu absolvieren, wobei ihm seine mühelose Beherrschung von Griechisch und Latein sehr zustatten kam. Das Miteinbeziehen von Literatur protestantischer Provenienz war ihm ebenso selbstverständlich wie die Benützung von möglichst guten Quellenausgaben. Diese so aufbereiteten kirchenhistorischen Kollegien mundeten den Hörern mehr als seine „Vorlesungen über Kirchenrecht, deren juristisches Kolorit den Theologen etwas fremdartig anmutete“. Seine Lust, kirchenpolitische Fragen, wie zum Beispiel die heiß umkämpfte Zivileheproblematik, literarisch in Tagesblättern zu erörtern, mündete in ständiger Mitarbeit beim Archiv für katholisches Kirchenrecht und bei der Literarischen Rundschau. Diese publizistische Tätigkeit fand sehr bald reichliche Ausweitung in diversen einschlägigen Jahrbüchern und Zeitschriften, wie zum Beispiel im Jahrbuch der Görres Gesellschaft und der Linzer Theologisch-praktischen Quartalschrift. Als Festschrift der k.k. Karl-Franzens-Universität Graz aus Anlaß der Jahresfeier am 15.11.1879 veröffentlichte Scherer im selben Jahr: Über das Eherecht bei Benedikt Levita und Pseudo-Isidor. Ein Jahr darauf ließ er in Graz aus dem literarischen Nachlaß von Franz Josef von Buß die umfangreiche Biographie Winfrid – Bonifacius erscheinen. Nach Abschluß seines dogmenhistorischen Vorlesungsmanuskripts – Scherer nennt es „Kollegienhefte“ – faßte er den Plan, das zu erarbeiten und zu veröffentlichen, was seinen Weltruf begründen und ihn zum bedeutendsten Theologen der Grazer Theologischen Fakultät bis in unsere Tage werden ließ: „Ein Handbuch des Kirchenrechtes herauszugeben.“ Nach einem genauen Plan, den er in seiner Autobiographie festhielt, wollte er vorgehen, weit spannte er den Bogen der hierfür nötigen Quellenerfassung. Er war sich völlig im Klaren, wie schwierig das von Graz aus sein werde: „Die bändereichen Sammlungen der Entscheidungen der römischen Behörden und der Verordnungen einzelner Ordinariate; endlich die keineswegs leicht zu beschaffenden Zusammenstellungen einheimischer wie fremder staatlicher Gesetze und Verordnungen älteren wie neueren Datums […]. Dazu kam die einschlägige monographische Literatur, soweit sie erreichbar war.“ Statt Urlaub und Erholung in frischer Alpen- oder Meeresluft zu suchen, unternahm er zeitaufwändige Bibliotheksreisen in einschlägige deutsche und österreichische Städte. Wie wollte und konnte Scherer all das schaffen, mögen wir uns heute fragen, ohne Kopier- und Faxgerät, Telefon, Internet und e-mail?
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Welches Ziel Scherer anstrebte und was er erreichen wollte, hat er klar definiert: „Als Ideal schwebte ihm eine gedrängte Darstellung des geltenden Rechtes und seines Werdeganges vor, welche durchaus verläßlich, weil aus den Quellen selbst geschöpft sein sollte. Nichts sollte ohne Beweis und nichts ohne Grund – nur der Phrase wegen – geschrieben werden. Objektiv sollte die Darstellung sein, ohne ein dürres Regestenwerk zu sein; der Kritik, auch der meritorischen, sollte der Mund nicht verschlossen sein.“ Mit Bravour und Elan ging Scherer „1884 an die Fertigstellung des 1. Halbbandes des zunächst auf zwei Bände berechneten Werkes“. Der zweite Halbband des Handbuchs des Kirchenrechtes mit 379 Seiten folgte alsbald darauf, und so lag der 1. Gesamtband seines epochalen Werkes mit 687 Seiten im August 1886 vor, was „dem Verfasser manches uneingeschränkte Lob von Seite der Wissenden eintrug.“ Lob und Anerkennung weitete sich sehr rasch bis zur Bewunderung aus.28 Dieser durchschlagende Erfolg mag dazu beigetragen haben, daß der Senat der Karl Franzens-Universität in Graz Scherer am 25. Juni 1888 für das Studienjahr 1888/89 zum Rektor wählte. Scherer nahm jedoch „unter Hinweis auf seine Kränklichkeit die Wahl nicht an“.29 Konkretisierend berichtet Scherer in seiner Autobiographie von einer schleichenden Ermüdung und von einer heftigen Nephritis, die ihn in Karlsbad Abhilfe und Heilung suchen ließ. Nach strenger Milchdiät sei es ihm möglich gewesen, an seinem Großprojekt weiterzuarbeiten, so konnte im August 1891 die erste kleinere Hälfte des II. Bandes erscheinen. So „nebenbei“ veröffentlichte er im Archiv für katholisches Kirchenrecht zwei grundlegende Aufsätze: „Die Prozeßfähigkeit der kirchlichen Institute“ (1882) und „Geschichte des kanonischen Eherechts“ (1891). Für Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon verfaßte er 109 Artikel meist historisch-wissenschaftlichen Inhalts.30 Seine fürstbischöfliche Berufung 1879 ins Konsistorium und Offizialat der Diözese Seckau hat er offensichtlich mehr als Last denn als Ehre empfunden, jedenfalls machte er die damit verbundene Mehrarbeit auch namhaft für die verzögerte Drucklegung seines Eherechts. Der Hauptgrund lag jedoch in einem plötzlich im Mai 1894 aufgetretenen Augenleiden mit der Gefahr einer Netzhautablösung, was die „strengste Augendiät“ erforderte. Dazu kam „eine Neurasthenie, welche erst allmählich einer gewissen Ruhe 28 Dazu: GRASS 1962 (Anmerkung 9), S. 283f.; HUGELMANN 1915 (Anmerkung 17); KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 335; Bruno PRIMETSHOFER: Rudolf Ritter von Scherer (1845 –1918), in: Ernst Chr. SUTTNER (Hg.): Die Kath.-Theologische Fakultät der Universität Wien 1884 –1985, Berlin 1984, S. 216 –227, speziell S. 218f.; Friedrich RINNHOFER: Grazer Theologische Fakultät vom Studienjahr 1827/28 bis 1938/39, Band 1 und 2 (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz, 82. Band), Graz 1991, hier Band 1, S. 179ff. u. a. 29 POSCH o.J. (Anmerkung 27): Senat-Sitzungsprotokoll, unterschrieben vom Rektor Boltzmann am 26. Juni 1888. 30 Dazu: Scherers Bibliographie in der hervorragenden Dissertation von RINNHOFER (Anmerkung 28), Band 2, S. 688–698.
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des Gemütes Platz machte“. Dieser an Depression gemahnende Hinweis wird durch Scherers Bemerkung über „voraussichtliche Resignation“ mehr gestützt als relativiert. Die nachfolgende Erläuterung dazu kann wohl nur eine süffisante Ironie sein: Die „intensive Fortsetzung des bisherigen Arbeitens wurde Scherer nur durch eine andere an sich nicht minder peinliche erleichtert: durch die Notwendigkeit für die im Mai 1898 erschienene 2. Hälfte des II. Bandes (S. 257–880) seines Werkes das bischöfliche Imprimatur anzusuchen.“ Scherer hatte sich bisher um solche Imprimaturvorschriften nicht gekümmert. So „war es Scherer sehr übel vermerkt worden, daß er sein Handbuch ohne Imprimatur erscheinen ließ“.31 Die Notwendigkeit, um das bischöfliche Imprimatur, das heißt die Druckerlaubnis, einzukommen, dürfte er aus zwei Gründen als schwer verkraftbar empfunden haben. Der erste Grund lag in der damit verbundenen Zensurierung überhaupt. Scherer formulierte drastisch: „Mit der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des zensurierten Autors erscheint auch die Authentie und Genuität seines Werkes vernichtet oder wenigstens in Frage gestellt.“ Der zweite Grund, den er nicht erläutert, könnte in der Instanz, bei der er um das Imprimatur32 ansuchen mußte, gelegen sein. Diese war sein ehemaliger Kollege an der Grazer Theologischen Fakultät, der Professor für Kirchengeschichte Leopold Schuster, der 1888 vom Verzicht Scherers auf das Rektorsamt profitiert hatte und statt Scherer zum Rektor avanciert war. Inzwischen war Leopold Schuster Ende 1893 zum Fürstbischof von Seckau und damit zum vorgesetzten Zensor aufgestiegen. Scherer hat sich dann doch gefügt, und so erschien sein zweiter Band des Handbuchs des Kirchenrechtes mit dem Imprimatur seines Zensors, Fürstbischof Leopold Schuster. Sein 1901 in Graz erschienener Grundriß war praktisch sein Vorlesungsmanuskript, das er ohne seinen vollen Namen auf dem Titelblatt veröffentlichte. „So entging er der Zensur, die denn auch von Scherer nicht eingeholt wurde.“33
2. In Wien Scherer in seiner Autobiographie: „Im Jahre 1899 erging an Scherer der Ruf, die erledigte Lehrkanzel des Kirchenrechts an der theologischen Fakultät der Wiener Universität zu übernehmen. Gerne leistete er diesem Rufe Folge; nichts hielt ihn in Graz zurück.“ Graz war ihm offensichtlich zu eng, zu unbedeutend geworden, wenngleich von Graz aus sein wissenschaftlicher Ruhm weit über Österreich hinaus gedrungen war. 31 KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 336f. 32 Über die Imprimatur-Probleme an der Grazer Universität vgl. LIEBMANN 1985 (Anmerkung 12), S. 166ff. 33 Hans von VOLTELINI: Nekrolog Scherer, in: Almanach der Akademie der Wissenschaften, 69. Jg. 1919, S. 198–219, hier S. 208.
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Seine Fakultät hatte ihn bereits dreimal zum Dekan gewählt: 1881/82, 1887/88 und 1892/93. Daß er durch 12 Jahre Vertreter seiner Fakultät in der Bibliothekskommission in Graz war, ist ihm wichtig genug, um es in der Autobiographie niederzuschreiben. Eine staatlich-kaiserliche Auszeichnung hat ihn offensichtlich besonders gefreut und herausgehoben; so hält er fest, worüber wir heute schmunzeln mögen: „Im Jahre 1896 wurde Scherer von Seiner Majestät mit dem Titel eines Hofrates ausgezeichnet“; dem fügt er ergänzend hinzu: „für Graz ein Unicum.“ Im selben Jahr war er von der Universität Budapest und vier Jahre darnach von der Universität Czernowitz zum Ehrendoktor ernannt worden. Wegen der für Sachsen bestimmten Hörerschar „des wendischen Seminars“ hatte es ihn besonders gefreut, „bereits 1883 über eine Berufung nach Prag an die damals noch ungeteilte theologische Fakultät verhandeln zu können, aber er lehnte schließlich lediglich aus nationalen Erwägungen ab“. Eine weitere Berufung, und zwar die im März 1887 nach Freiburg i. Br., reizte ihn auch nicht, Graz zu verlassen. So „schlug er diese ehrenvolle Berufung damals mit Rücksicht auf die für literarische Arbeiten notwendige Ruhe ab“. Als die Berufung nach Wien erfolgte, hielt ihn nun nichts in Graz zurück. Warum? Weil er in Graz „tatsächlich nur für die Alumnen der Seckauer Diözese vortrug, während er in Wien wegen der Teilnahme der aus Ungarn kommenden Pazmanen und der sogenannten Frintanisten auf Entfaltung einer ausgebreiteten Wirksamkeit hoffen durfte“; also der Hörer, insbesondere der Frintanisten wegen. Keine Frage, der vierundfünfzigjährige Rudolf Ritter von Scherer war bereits am Zenit seines wissenschaftlichen Ruhmes und Schaffens angelangt, als ihn in Graz nichts mehr hielt und er dem Ruf nach Wien Folge leistete. Mit einer Gegenstimme war Scherer von der Wiener Theologischen Fakultät auf die primo et unico loco-Liste gesetzt worden. Hinter dieser namentlich nicht bekannten Gegenstimme ortet Primetshofer gewisse Bedenken über Scherers Haltung zu bestimmten philosophisch-theologischen Grundfragen des Kirchenrechts. So sei Scherer vorgeworfen worden, daß er zwar nicht die Inhalte beziehungsweise Verbindlichkeit des Naturrechtes leugne, wohl aber, daß er dessen Inhalten nicht den Namen „Recht“ zubillige. „Dies deshalb nicht, weil er, von einer Position des von der historischen Schule geprägten Rechtspositivismus ausgehend, als Recht nur das bezeichnen wollte, was durch positives Gesetz in die Rechtsordnung aufgenommen worden sei.“ 34 Diese seine Grundhaltung, die in Scherers erstem Band des Kirchenrechtshandbuches klar zu Tage trat, fand auch vehementen Widerspruch. „Vor allem die Vertreter der neuscholastischen Sozial- und Rechtsphilosophie innerhalb des Jesuitenordens haben nicht nur Scherers
34 PRIMETSHOFER 1984 (Anmerkung 28), S. 218.
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Rechtspositivismus abgelehnt, sondern auch dessen Haltung zum Naturrecht herber Kritik unterzogen.“35 Karl Gottfried Hugelmann lauschte als junger Student Scherers Antrittsvorlesung in Wien. Der Dekan der Theologischen Fakultät, Albert Ehrhardt, Professor für Kirchengeschichte, stellte Scherer dem Auditorium als einen Lehrer vor, „dessen Name genannt wird und genannt werden wird, so weit und so lange als es eine theologische Wissenschaft gibt“.36 Über Scherers Lehrtätigkeit weiß sein Schüler Hugelmann des Weiteren zu berichten: „Groß ist die Zahl der Schüler, welche im Laufe dieser Jahre dem klaren und ruhigen Vortrag des Lehrers lauschten, dessen Name alsbald weit über die Grenzen des österreichischen Vaterlandes hinaus klang und auch ungewöhnlich viele Studenten der juridischen Fakultät in den Hörsaal der theologischen führte.“ Seinem Dekanat an der Wiener Theologischen Fakultät 1902/03 folgt 1904 seine Wahl zum Rektor der Alma Mater Rudolfina einstimmig wie in Graz. Das ist bei diesem seinem Ansehen und seiner offensichtlichen Beliebtheit nicht verwunderlich. Allerdings verwundert Scherers diesmalige Begründung seiner Ablehnung „in Würdigung seines Temperamentes“ auch nicht. Ganz anders sein Verhalten bei seiner Wahl in die kaiserliche Akademie der Wissenschaften, eine bei Theologen damals besonders seltene Ehrung. 1905 wird er zum korrespondierenden und zwei Jahre später zum wirklichen Mitglied gekürt.37 Bei Scherers wissenschaftlicher Ausbildung, seinen Positionen und seinem Charakter ist es nicht verwunderlich, daß er nolens volens in den Trubel des Modernismus- und Antimodernismusstreites gerät. Durch das Motu proprio „Sacrorum Antistitum“ Papst Pius X. vom 1. September 1910 und durch die Erklärung der römischen Konsistorialkongregation drei Wochen später wurden von höchsten kirchlichen Stellen Überwachungsvorschriften für Theologieprofessoren, insbesondere ihre Lehrtätigkeit betreffend, promulgiert, die sowohl die jährliche Ablegung des Antimodernisteneides als auch die Vorlage der Vorlesungsunterlagen gegenüber der bischöflich-diözesanen Kurie und die durch diese erfolgende Beaufsichtigung der Lehrveranstaltungen selber inkludierten. Die Theologische Fakultät in Graz, genau genommen Scherers Schüler und Nachfolger in Graz, Johann Haring,38 verfaßte eine Bittschrift, die der Dekan Anton Michelitsch unterfertigte und an die österreichische Bischofskonferenz schickte. Zugleich sandte er diese den anderen Theologischen Fakultäten Österreichs mit dem Ersuchen, „einer 35 KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 336. Kremsmair bezieht sich hierbei insbesondere auf die 23 Seiten umfassende Rezension des an der Gregoriana in Rom lehrenden Kanonisten, des Jesuiten F. X. Wernz, der 1906 zum General des Jesuitenordens gewählt wurde. 36 HUGELMANN 1915 (Anmerkung 17), S. 7. 37 GRASS 1962 (Anmerkung 9), S. 279. 38 Ebenda, S. 290ff.
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gleichen oder ähnlichen Bittschrift beizutreten“. Lediglich Wien und Prag (deutschsprachige Fakultät) schlossen sich der Grazer Initiative an.39 Devot wie kaum noch mehr möglich, trug die Grazer Theologische Fakultät ihre Bitte vor: Hochwürdigster Episkopat! Das in Ehrfurcht gefertigte Professorenkollegium der theologischen Fakultät an der Universität in Graz unterbreitet zufolge einstimmigen Beschlusses dem hochwürdigsten Episkopat Österreich ehrfurchtsvoll nachstehende Bitte:
Die genannten Theologischen Fakultäten, das heißt die entsprechenden Professorenkollegen, baten demnach, der hochwürdigste Episkopat geruhe […] eine Modifikation der erwähnten päpstlichen Dekrete für die österreichischen theologischen Fakultäten – falls diese überhaupt unter den Begriff „seminarii professores“ fallen – beim Apostolischen Stuhle zu erwirken.
Begründet und erläutert wurde die Bitte mit zwei Argumenten: einerseits durch Hinweis auf das ohnehin schon im allgemeinen kanonischen Recht dem Episkopate zustehende Recht auf Überwachung der theologischen Studien, anderseits brachte man die Befürchtung zum Ausdruck, es drohe der bloße Bestand dieser neuen detaillierten Verordnungen […] die Stellung der theologischen Fakultäten an den Staatsuniversitäten bei der nun einmal tatsächlich in und außerhalb der Universitäten herrschenden Strömung ernsthaft zu gefährden.
Sogar gutgesinnte katholische Laien fänden diese Vorschriften mit dem akademischen Geist und Leben für unvereinbar, außerdem bestünden nicht einmal für die Religionslehrer an den Schulen „derartige Überwachungsvorschriften“. Zudem hätten neuerdings die Agitationen gegen die theologischen Fakultäten an Schärfe zugenommen. Die Imprimatur-Vorschriften bereiteten der Theologischen Fakultät hinreichend Schwierigkeiten, und ihre Gegner operierten mit dem Österreichischen Staatsgrundgesetz, demzufolge die Wissenschaft und ihre Lehre frei seien. „Hiedurch wird die öffentliche Meinung immer mehr mit dem Gedanken vertraut, daß die theologischen Fakultäten Fremdkörper im Universitätsverbande bedeuten und daher auszuscheiden seien.“ 40 Die Wiener Theologische Fakultät hatte inzwischen, datiert mit 23. Oktober 1910, unter Berufung auf päpstliche Weisung ein Schreiben von der fürsterzbischöflichen Kurie mit detaillierten Anordnungen und der Aufforderung zur Eidesleistung erhalten, was nun Scherer vollends auf den Plan treten ließ. In zwei Anträgen versuchte er seine 39 LIEBMANN 1985 (Anmerkung 12), S. 169f. 40 Ebenda, S. 169.
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Kollegen an der Wiener Theologischen Fakultät zu einer kritischen beziehungsweise ablehnenden Beschlußfassung zu bewegen. Scherer argumentierte gemäß seinen rechtshistorischen und rechtspositivistischen Prinzipien. Demzufolge dürfe und solle nach geltendem Kirchenrecht von einem dem Amtseid verpflichteten Inhaber einer kirchlichen Stelle kein wiederholter Amtseid gefordert werden. Scherer weitete seine Kritik hierbei auch direkt auf die päpstliche Enzyklika „Pascendi“ vom September 1907 aus. Eine Beschwörung und eidliche Verpflichtung auf derartige Disziplinarvorschriften kenne das kanonische Recht nicht. „Textkritik und geschichtliche Methode würden als etwas hingestellt, das besser vermieden werden müßte.“ 41 Hier fühlte er sich offensichtlich in seiner ganzen Arbeit und Forschungstätigkeit persönlich betroffen, wenn nicht angegriffen. Was die Opportunität der Überwachung und speziell des Eides betraf, schloß er sich der Grazer Eingabe an. Scherer ging jedoch einen Schritt weiter und argumentierte mit dem geltenden Kirchenrecht, um päpstliche Anordnungen zu Fall zu bringen, womit er von vornherein auf verlorenem Posten stand. Dazu kommt, daß er die fürsterzbischöfliche Kurie mit der Unterstellung angriff, ihre Auffassungen „setzen vormärzliche Zustände voraus“. Keiner seiner Anträge fand die Zustimmung seiner Fakultät, das heißt des Professorenkollegiums, sein zweiter Antrag unterlag bei der formalen Abstimmung am 5. November 1910 mit sechs gegen drei Stimmen.42 Damit stand Scherer isoliert da, mit seinen rechtshistorischen und rechtspositivistischen Prinzipien hatte er sich selber isoliert. Päpstliche Anordnungen mit kirchenrechtlichen Argumenten entkräften zu wollen, mutet wie Realitätsverlust an. Die Bischofskonferenz befaßte sich mit den drei Eingaben der Theologischen Fakultäten, die Graz initiiert hatte, ihr Referent für Studienangelegenheiten, der schon charakterisierte Fürstbischof von Seckau, Leopold Schuster, referierte in ihr überheblich: Die vorgebrachten Einwände und Bedenken seien so schwach und gewichtslos, „daß sie bei ,Männern der Wissenschaft‘ kaum ernst genommen werden können; es scheint vielmehr, daß ein gewisser innerer Widerwille, ob bewußt oder unbewußt, gegen die rückhaltslose Unterwerfung unter die kirchliche Autorität oder eine falsche Scheu, sich öffentlich als gehorsamer Sohn der Kirche zu bekennen, das Hauptmotiv der ablehnenden Haltung sei. In beiden Fällen aber ist die Ausführung der päpstlichen Anordnung eine heilsame Remedur.“ 43 Die Antwort der Bischöfe selber war im Ton zwar moderat, aber in der Sache versuchten sie für sich eine Kompetenzerweiterung zu erreichen, indem sie erklärten, bei 41 PRIMETSHOFER 1984 (Anmerkung 28), S. 223. 42 KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 343. 43 Gedrucktes Protokoll der bischöflichen Versammlung vom 8.–17. November 1910; KRONTHALER 2000 (Anmerkung 3), S. 613f.
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der römischen Kurie zu erwirken, daß die jährliche Ablegung des verordneten Eides dem Ermessen des zuständigen Bischofs überlassen werde. Über Nacht war aber alles anders geworden, als durchsickerte, daß der aus der Heimat- und Pfarrgemeinde von Fürstbischof Leopold Schuster stammende Kardinal und Apostolische Nuntius in München, Andreas Frühwirth, bei Papst Pius X. am 31. Oktober eine Privataudienz hatte und dieser sich vernehmen ließ: „Der Antimodernisteneid brauche, dem Wortlaut des Motu proprio gemäß, nicht auf die Universitätsprofessoren angewendet werden.“44 Damit war für die ernannten universitären Theologieprofessoren der Eid an sich obsolet geworden, nicht jedoch auf Wiener Boden, „denn offenbar unter Druck des Wiener Ordinariates leisteten die Professoren den Antimodernisteneid, lediglich Professor Scherer war nicht bereit, den Eid abzulegen“.45 Scherer wurde von mehreren Seiten nahe gelegt, wenn nicht gedrängt, den Eid doch zu leisten, wenngleich er nicht vonnöten sei, schließlich sei die Eidesleistung verdienstlich. Da habe er geantwortet: „Er beanspruche keinen Parkettsitz im Himmel, er sei schon mit dem Platz in der vierten Galerie zufrieden.“46 Das war mehr Ironie als wissenschaftliche Antwort, und das war auch mürrische Resignation. Scherer hatte sich in der Fakultät nicht nur isoliert, er war zum Außenseiter geworden. Wie lange er dies durchzustehen vermochte, war nur eine Frage der Zeit. Er arbeitete zwar an dem dritten Band seines Handbuches weiter, ohne ihn zu veröffentlichen, wofür neben schweren körperlichen Leiden seelische Depressionen namhaft gemacht wurden. Seine Schaffenskraft ließ „durch diese körperlichen Leiden und Mißverständnisse mit der kirchlichen Autorität“ nach, meint Martetschläger.47 Scherer selber hatte in den Vorbemerkungen zum bewußten, von Karl Gottfried Hugelmann partiell veröffentlichten dritten Band die Gründe für den nicht erfolgten Abschluß notiert: diese „seien nicht allein schwere körperliche Leiden gewesen, sondern auch tiefe Besorgnis wegen Maßnahmen der kirchlichen Autorität, welche unter dem Pontifikat Pius X. ihren Höhepunkt gefunden hätten“.48 Somit blieb sein fulminantes wissenschaftliches Werk ein Torso. 44 LIEBMANN 1985 (Anmerkung 12), S. 171; dazu: PRIMETSHOFER 1984 (Anmerkung 28), S. 225f., und KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 344. 45 KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 345; Elisabeth KOVÁCS: Studien und Strukturen im Wandel 1884 –1938, in: SUTTNER 1984 (Anmerkung 28), S. 323 –342, hier S. 332. 46 VOLTELINI 1919 (Anmerkung 33), S. 209. 47 Johannes MARTETSCHLÄGER: Scherer, Rudolf Ritter von, Kanonist, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, IX. Band, 1995, Sp. 158 –159, hier Sp. 159. 48 PRIMETSHOFER 1984 (Anmerkung 28), S. 220; Nikolaus GRASS: Österreichische Kanonistenschulen aus drei Jahrhunderten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 22. Band, kanonistische Abteilung 41, 1955, S. 354.
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Hofrat Dr. Rudolf von Scherer, der gefeierte Stern am kanonistischen Himmel, einer der größten Kanonisten der Gegenwart, in höchstem Maße angesehen im In- wie auch im Ausland, dessen Geistesarbeit nicht so bald veraltern oder überholt werden wird, der große Forscher und Lehrer von beispielloser Beliebtheit, der im preußischen Herrenhaus als gelehrtester Kanonist der Gegenwart gefeiert wurde, dem ein unvergänglicher Platz in der Geschichte der deutschen Wissenschaft zugeschrieben wurde, den die Tübinger katholische Theologenschule stolz zu den Ihren zählen durfte,49 suchte um vorzeitige Pensionierung an und beschloß mit dem Studienjahr 1911/12 seine Lehrtätigkeit. All seinen Ehrungen im gesellschaftlich-staatlich-bürgerlichen Bereich, seinen ihm gegenüber vorgebrachten Lobeshymnen von historisch-wissenschaftlichen Autoritäten hat sich keine kirchliche, sei es eine fürstbischöfliche oder römisch-kuriale, zugesellt. Seine Berufung 1879 ins Konsistorium und ins Offizialat der Diözese Seckau bedeutete mehr Konsulatstätigkeit als Ehre und Auszeichnung. Scherer wurde weder Kanonikus noch konnte er die Stufenleiter päpstlicher Ehrungen vom Monsignore über den Prälaten bis zum Apostolischen Protonotar emporsteigen, wie es seinem Schüler und Nachfolger am Grazer Lehrstuhl, Johann Haring, gegönnt war. Das hat aber Scherers Nachfolger am Wiener Lehrstuhl für Kirchenrecht, den berühmten Eduard Eichmann, nicht daran gehindert, festzuhalten, er werde „es immerdar als seine höchste akademische Ehrung betrachten, der Nachfolger Scherers auf der Wiener kirchenrechtlichen Lehrkanzel gewesen zu sein“.50 Sang- und klanglos war sein Abschied. Johann Haring weiß zu berichten, daß der Pensionist Scherer sich des Öfteren vernehmen ließ: „Nirgends ist ein Pensionist so vergessen wie in Wien.“51 Vereinsamt starb Scherer im 74. Lebensjahr am 21. Dezember 1918 und fand in Graz am St.Leonhard-Friedhof seine letzte Ruhestätte.
49 GRASS 1962 (Anmerkung 9) hatte diese hier aufgelisteten, von einschlägigen Fachmännern stammenden Würdigungen bzw. Qualifizierungen gesammelt und festgehalten. 50 Eduard EICHMANN: Kanonistische Chronik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 40.Band, kanonistische Abteilung 9, 1919, S. 371–373, hier S. 372. Nikolaus GRASS berichtet 1955 in seiner Abhandlung „Österreichische Kanonistenschulen aus drei Jahrhunderten“ in der Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, 22. Band, kanonistische Abteilung 41, S. 361 von einer allgemeinen Erzählung, nach der die österreichische Regierung bei Scherer anläßlich des bevorstehenden Konklaves 1903 um ein Gutachten eingekommen sei. Hierbei habe Scherer sich zugunsten des kaiserlichen Exklusivrechtes geäußert. „Dies mag ihn“, so Grass, „bei Kanonisten der kurialen Richtung, deren Gunst Scherer ohnehin nicht besaß, noch weiter mißliebig gemacht haben.“ Diese von Grass festgehaltene allgemeine Erzählung konnte bis heute nicht untermauert werden. Dazu: KREMSMAIR 1985 (Anmerkung 20), S. 340. 51 Johann HARING: Hofrat Dr. Rudolf Ritter v. Scherer, in: Literarischer Anzeiger, 33. Jg., Nr. 4, 15.1.1919, Sp. 52f.
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Gunter Wesener Arnold Luschin von Ebengreuth (1841–1932), Rechtshistoriker und Numismatiker I. Die Unterrichts- und Studienreformen des Ministers Thun-Hohenstein – II. Lebenslauf Arnold Luschins – III. Luschin als Rechtshistoriker – IV. Luschin als Numismatiker – V. Luschin als Stadthistoriker – VI. Von der „Österreichischen Reichsgeschichte“ zur „Österreichischen Rechtsgeschichte“ – VII. Ämter und Ehrungen Luschins – VIII. Werke (in Auswahl) – IX. Literatur – X. Siglen-Verzeichnis
I. Die Unterrichts- und Studienreformen des Ministers Thun-Hohenstein Durch kaiserliches Patent vom 15. März 1848 war in Österreich Lehr- und Lernfreiheit gewährt worden. Am 28. Juli 1849 wurde Leo Graf Thun-Hohenstein zum Minister des Cultus und Unterrichts ernannt. Durch diesen bedeutenden Staatsmann erfolgte eine umfassende Universitäts- und Studienreform,1 im Jahre 1855 eine entscheidende, dauerhafte Reform des österreichischen Jusstudiums. Die Juristen sollten an den Rechtsfakultäten der Universitäten der österreichischen Reichshälfte eine Ausbildung nach einer neuen einheitlichen Studienordnung erhalten, die den wissenschaftlichen Anforderungen entsprach. Das Rechtsstudium an der Theresianischen Ritterakademie wurde mit 1. Oktober 1849 eingestellt. Von oben herab sollte eine Neugestaltung des Rechtsunterrichts und eine Neuordnung der österreichischen Rechtswissenschaft durchgeführt werden. Ziel war die Wiedereingliederung der österreichischen Rechtswissenschaft in die deutsche.2 Der Theorie sollte ein Grundstudium dienen, das zugleich die Kenntnis des Gemeinen Rechts (Ius commune) vermitteln und damit der Rechtsvergleichung zugute kommen sollte. Daran sollte ein zweiter Abschnitt anschließen, der dem österreichischen Recht und den politischen Wissenschaften im Sinne des altösterreichischen Studienplanes gewidmet war. Der österreichische Jurist sollte vielseitiger ausgebildet sein als der deutsche. Basis des Rechtsstudiums sollten die rechtshistorischen Fächer bilden; das von Thun verab-
1 Dazu grundlegend H. LENTZE: Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (= Sitzungsberichte der Österr. Akad. der Wiss., phil.-hist. Kl. 239/2, Wien 1962); W. OGRIS: Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, Festvortrag 1999 (= Wiener Universitätsreden, N.F. 8, Wien 1999); G. WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (= Geschichte der Rechtswiss. Fakultät der Univ. Graz, T. 1), Graz 1978, S. 41ff.; G. OBERKOFLER: Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1984, S. 121ff. 2 LENTZE: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 102, S. 213f.
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scheute Naturrecht sollte gänzlich fallen; an seine Stelle trat die Rechtsphilosophie.3 Thun vertrat Gedanken, die ihm vor allem durch den deutschen Rechtshistoriker und Kanonisten George Phillips,4 seit 1851 Professor an der Wiener Universität, nahegebracht worden waren.5 Gegen starken Widerstand der Anhänger der traditionellen österreichischen Rechtslehre des Vormärz gelang es Thun, seine Reformpläne zu verwirklichen. Am 24. Februar 1855 erließ Kaiser Franz Joseph eine allerhöchste Entschließung, in der er seine Verfügungen über die Hochschulreform weitgehend im Sinne Thuns traf. Damit war der Kampf um das Studiensystem grundsätzlich abgeschlossen. In dieser „a. h. Entschließung“ findet sich folgende grundlegende Verfügung:6 „Bei Behandlung der juridischen Fächer wird die dogmatische, die historische und die philosophische Methode zweckmäßig zu verbinden, und mit Beachtung Meiner unterm 8. September v. J. bezüglich des römischen Rechtes, der Rechtsgeschichte und des kanonischen Rechtes erlassenen Entschließung7 dahin zu streben seyn, den Studierenden ein gründliches Verständniß der Prinzipien der Rechtswissenschaft und die Befähigung zu vermitteln, sich jene Detailkenntnisse, welche keinen Gegenstand eines wissenschaftlichen Vortrags zu bilden geeignet sind, durch eigenen Fleiß, Selbstthätigkeit und Praxis leicht erwerben zu können.“ Die Neuordnung des juridischen Studiums, die in der juridischen Studien- und Staatsprüfungsordnung vom 2. Oktober 18558 ihren Niederschlag fand, ist mit Hans Lentze9 als „Thuns eigenstes Werk“ zu bezeichnen, als „seine größte persönliche Leistung in dem Gesamtwerk der Unterrichtsreform, die seinen Namen trägt“.
3 Dazu P. GOLLER: Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848 –1945), Frankfurt am Main 1997. – Der erste Vertreter der Rechtsphilosophie an der Grazer Universität (von 1850 bis 1860) wurde Heinrich Ahrens; zu diesem E. HERZER: Der Naturrechtsphilosoph Heinrich Ahrens (1808 –1874), Berlin 1993. 4 Vgl. H. LENTZE: George Phillips, der große Kanonist des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift F. Loidl zum 65. Geburtstag, Band I, Wien 1970, S. 160f.; W. M. PLÖCHL, in: ÖBL VIII (1983), S. 45; F. KALDE, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon VII (1994), S. 515ff.; A. THIER, in: NDB 20 (2001), S. 401f. 5 OGRIS: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 18f. 6 LENTZE: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 347; WESENER: Römisches Recht (oben Fn. 1), S. 43. – Zu den Verdiensten Kaiser Franz Josephs um die Universitätsreform siehe LENTZE: Universitätsreform, S. 232f., S. 235. 7 Zum Ministerial-Erlass vom 13. Sept. 1854 aufgrund a. h. Entschließung vom 8. Sept. 1854 LENTZE: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 233f.; WESENER: Römisches Recht (oben Fn. 1), S. 43, Fn. 19. 8 Zum Inhalt LENTZE: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 236ff.; K. EBERT: Die Pflege der Rechtsgeschichte an der Universität Graz im Zeichen der Historischen Schule, in: ZRG Germ. Abt. 87 (1970), S. 239ff., insbes. S. 244ff. 9 Unterrichtsreform (oben Fn. 1), S. 237.
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Höchst beherzigenswert scheinen Thuns Ausführungen in seinem alleruntertänigsten Vortrag vom 29. Juni 1855:10 Wer im Laufe eines Jahres zum ersten Male durch die Geschichte des römischen Rechtes, Institutionen und Pandekten hindurch geführt worden ist, kann nicht sofort Rechenschaft von dem, was er studiert hat, ablegen, wenn er nicht statt für seine Bildung mit Interesse an dem Gegenstande zu studieren, nur bemüht war, das Gehörte zu memorieren. Er muß erst durch einige Zeit selbstthätig den Stoff des Unterrichtes verarbeiten und nichts ist damit nützlicher zu verbinden, als das Studium verwandter Gegenstände, das ihn nöthiget, immer wieder auf das bereits gehörte zurückzukommen, während das Abprüfen des einzelnen Gegenstandes die große Menge der Studierenden geradezu verleitet, mit der Prüfung den Gegenstand fallen zu lassen, und zu der wahrhaft fruchtbaren Methode des Studierens gar nicht zu gelangen.
Nach der juridischen Studien- und Staatsprüfungsordnung vom Jahre 1855 war ein vierjähriges Studium vorgeschrieben; im ersten Jahr waren Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte und Römisches Recht samt der Geschichte desselben vorzutragen, im zweiten Jahr im Wintersemester Gemeines deutsches Privatrecht, im Sommersemester Rechtsphilosophie und abgesondert davon gleichzeitig Encyclopädie der Rechtswissenschaften; nebstbei im Winter- oder Sommersemester, oder durch beide Semester, kanonisches Recht. Zu Ende des 4. Semesters, spätestens im Verlaufe des 5. Semesters, war eine Staatsprüfung aus Römischem Recht, kanonischem Recht, deutscher Reichs- und Rechtsgeschichte in Verbindung mit österreichischer Geschichte zu bestehen. Am Ende des Studiums waren die II. und III. Staatsprüfung abzulegen. Die alten Semestral- und Annualprüfungen wurden somit durch das deutsche System der Staatsprüfungen abgelöst. Die vier Rigorosen der Zeiller’schen Studienordnung von 181011 wurden zunächst beibehalten; Thun mußte hier der konservativen Opposition Zugeständnisse machen. Erst die Rigorosenordnung vom Jahre 1872 brachte die von Thun vorgeschlagene Neuregelung. Von den drei Rigorosen umfaßte das I. Rigorosum die Fächer „Römisches, kanonisches und deutsches Recht“. Das „deutsche Recht“ hatte „deutsche Rechtsgeschichte“ und „deutsches Privatrecht“ zum Gegenstand. Alle drei Rigorosen konnten ursprünglich erst nach absolviertem Studium abgelegt werden. Diese Rigorosenordnung von 1872 blieb (in novellierter Fassung) bis zum 30. September 1995 in Wirksamkeit, also mehr als einhundertzwanzig Jahre.12 10 Bei LENTZE: Unterrichtsreform (oben Fn. 1), S. 358f. 11 Dazu K. EBERT: Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz. Rechtswissenschaft und Rechtslehre an der Grazer Hochschule zwischen 1810 und 1848, Graz 1969, S. 41f. 12 Vgl. G. WESENER: Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz (= Geschichte der Rechtswiss. Fakultät der Univ. Graz, T. 4), Graz 2002, S. 20.
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Im Zuge der Thun’schen Universitäts- und Studienreform, insbesondere der Reform der Juristenausbildung, wurde in Österreich die bis dahin herrschende Exegetische Schule der Zivilistik13 durch die Historische Schule beziehungsweise die deutsche Pandektenwissenschaft abgelöst. Das österreichische ABGB sollte nun so wie das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten nach den Grundsätzen der Historischen Schule und der Pandektistik behandelt werden.14 Einen wertvollen Helfer fand Thun im Zivilrechtler Joseph Unger (1828 –1913),15 seit 1856 Professor in Wien. Die pandektistische Strömung führte zwar nicht zu der von Unger ursprünglich geplanten Gesamtreform des österreichischen Zivilrechts, wohl aber letzten Endes zu den drei Teilnovellen zum ABGB in den Jahren 1914 bis 1916. Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte war nach der Studienordnung von 1855 kein eigenes Fach; wohl war bei der I. Staatsprüfung die deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte in Verbindung mit österreichischer Geschichte zu prüfen. Erst mit der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien- und Staatsprüfungsordnung von 1893 (RGBl. Nr. 68) trat bei der rechtshistorischen Staatsprüfung neben die Fächer römisches Recht, Kirchenrecht und deutsches Recht als viertes Fach die „österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechtes)“.16 Arnold Luschin von Ebengreuth studierte an der Wiener Universität Rechtswissenschaften in den Jahren 1860 bis 1864 nach der Studienordnung von 1855, in der zwar die rechtshistorischen Fächer eine dominierende Rolle spielten, spezielle österreichische Rechtsgeschichte aber nicht vertreten war.
II. Lebenslauf Arnold Luschins Arnold Luschin von Ebengreuth17 wurde am 26. August 1841 in Lemberg geboren. Sein Vater Andreas Luschin (1807–1879) stammte aus einer krainischen Bauernfamilie, 13 Vgl. W. BRAUNEDER: Privatrechtsfortbildung durch Juristenrecht in Exegetik und Pandektistik, in: Zeitschrift f. Neuere Rechtsgeschichte 1983, S. 22ff.; G. WESENER: Adalbert Theodor Michel (1821–1877) – ein später Vertreter der Exegetischen Schule der österreichischen Ziviljurisprudenz, in: Festschrift für L. Carlen zum 60. Geburtstag, Zürich 1989, S. 47ff. 14 Dazu LENTZE: Universitätsreform (oben Fn. 1), S. 102ff.; vgl. W. OGRIS: Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1968; Ders.: Die Historische Schule der österreichischen Zivilistik, in: Festschrift H. Lentze, Innsbruck-München 1969, S. 449ff. 15 Dazu H. LENTZE: Joseph Unger, Leben und Werk, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von F. Arnold, Wien 1963, S. 219ff.; OGRIS: Entwicklungsgang (oben Fn. 14), S. 11ff.; Ders.: Historische Schule (oben Fn. 14), S. 457ff.; W. BRAUNEDER, in: HRG V (1998), Sp. 483ff. 16 Dazu unten Kap. II und VI. 17 Zum Lebenslauf siehe unten Bibliographie, insbes. A. LUSCHIN-EBENGREUTH: Aus den Erinnerungen eines alten Numismatikers, in: Numismatische Zeitschrift N. F. 23 (1930), S. 117–130 u. N. F. 25 (1932),
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studierte in Wien und Graz Rechtswissenschaften und mußte als österreichischer Staatsbeamter häufig den Dienstort in der Monarchie wechseln. Zunächst diente er bei der Finanzprokuratur in Laibach, wurde dann nach Lemberg versetzt, wo er 1840 Therese Rudesch heiratete. Weitere Stationen waren Czernowitz und Zara (Zadar), die Hauptstadt Dalmatiens. Sein Übertritt zur Justiz führte ihn nach Rudolfswert (Neustadtl) in Krain, Temesvár, Wien und schließlich wieder nach Laibach, wo er als k.k. Landesgerichtspräsident wirkte. 1873 wurde er nobilitiert (Adelsprädikat „Ritter von Ebengreuth“, Verdeutschung des Geburtsorts Ravnidol in Unterkrain).18 Die Familie teilte naturgemäß den jeweiligen Dienst- und Wohnort des Vaters. So verbrachte Arnold Luschin seine Kinderjahre in der Seestadt Zara, besuchte die Volksschule in Rudolfswert, dann das dortige Gymnasium, hierauf das Gymnasium in Temesvár, von 1855 bis 1857 das fürstbischöfliche Knabenseminar Aloysianum in Laibach, dann wieder das Piaristengymnasium in Temesvár, wo er im Juli 1860 die Reifeprüfung ablegte. Von 1860 bis 1864 studierte er, wie bereits erwähnt, Rechtswissenschaften in Wien, wo er das Absolutorium erlangte. Von seinen Lehrern sind vor allem der Rechtshistoriker Heinrich Siegel,19 der Kirchenrechtler Theodor Pachmann,20 Joseph Unger21 und Lorenz von Stein,22 Professor der politischen Wissenschaften, zu nennen. Im letzten Jahr seiner juristischen Studien (1863/64) besuchte Arnold Luschin als Gasthörer Vorlesungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, so das Kolleg über Chronologie bei Theodor Sickel.23
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S. 1–8; M. RINTELEN: Nachruf, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 27 (1933), S. 1– 13; P. PUNTSCHART: Nachruf, in: ZRG Germ. Abt. 53 (1933), S. XXIX – LIV; G. PROBSZTOHSTORFF: Arnold Ritter Luschin von Ebengreuth (1841–1932), in: Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher, Band XVI, Wien-München-Zürich 1965, S. 100 –111. – Eine eingehende, gediegene Darstellung bietet M. LUSCHIN-DREIER in ihrer Grazer juristischen Dissertation: Arnold Luschin Ritter von Ebengreuth – ein Leben im Zeichen der Rechtsgeschichte (Univ. Graz 1992), mit Schriftenverzeichnis (S. 286 –304) und Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 305 –319). Vgl. LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 27ff. Vgl. A. LUSCHIN v. EBENGREUTH: Nachruf, in: ZRG Germ. Abt. 20 (1899), S. VIIff.; H. LENTZE: Die germanistischen Fächer an der juridischen Fakultät, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien, Band II, Graz-Köln 1965, S. 61ff., insbes. S. 66ff.; LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 71ff.; G. WESENER, in: ÖBL XII (2005), S. 236. F. v. SCHULTE, in: ADB 25 (1887), S. 59f.; P. LEISCHING, in: NDB 19 (1999), S. 749f.; W. M. PLÖCHL: Theodor Ritter von Pachmann, in: Festschrift N. Grass II (1975), S. 361ff.: LUSCHINDREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 81ff. Zu Unger siehe LENTZE oben Fn. 15. K. Th. INAMA-STERNEGG, in: ADB 35 (1893), S. 661ff.; LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 75ff. Vgl. LUSCHIN: Erinnerungen (oben Fn. 17), S. 125; LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 92ff.
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Im September 1864 übersiedelte Arnold Luschin nach Graz, wo er als Rechtspraktikant tätig war. Nach Ablegung der Rigorosen wurde er am 18. Juli 1866 an der Universität Graz zum Doktor der Rechte promoviert.24 Josef Zahn,25 der Vorstand des landschaftlichen Archivs der Steiermark, wurde auf Luschin, der sich seit seiner Jugendzeit mit Numismatik befaßt hatte und beachtliche Kenntnisse auf diesem Gebiete besaß, aufmerksam, und Luschin erhielt eine Anstellung im Münz- und Antikenkabinett und am Archiv des Joanneums. Schon 1867 vertauschte er diese Stellung mit der eines Adjunkten am Steiermärkischen Landesarchiv.26 Freilich betrachtete er diese Position „von Anfang an nur als Sprungbrett zu höheren Zielen“.27 Er strebte eine Universitätslaufbahn an. Zunächst dachte er an das Fach Kulturgeschichte; er beschäftigte sich hauptsächlich mit Numismatik, Paläographie und Chronologie. Seine Tätigkeit im Landesarchiv führte ihn zu den Urkunden und damit zu rechtsgeschichtlichen Fragen hin. So machte er 1867 eine nach Materien zusammengestellte Abschrift des kurz zuvor im Archiv aufgefundenen steirischen Landrechts, um diese mit einem in derselben Handschrift befindlichen Text des Schwabenspiegels zu vergleichen.28 Am 3. Juli 1869 ersuchte Luschin die Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät um Verleihung der venia als Privatdozent für „Geschichte des deutschen Rechtes in Österreich“. Seine Habilitationsschrift resultierte gewissermaßen aus der Fülle an Urkunden, die das Archiv des Joanneums aufwies. Die Arbeit beruht auf ungefähr 12.000 Urkunden aus der Zeit bis 1499. Daneben verarbeitete Luschin wichtige Rechtshandschriften und eine große Zahl an Akten, die ihm seit der Vereinigung des Joanneum-Archivs mit dem landschaftlichen Archiv in reicher Menge zur Verfügung standen. Nach erfolgtem Habilitationskolloquium und der öffentlichen Probevorlesung beschloß das Professorenkollegium am 27. Oktober 1869 die Zulassung Arnold Luschins als Privatdozent für das beantragte Fach. Noch im November des Jahres erfolgte die Bestätigung durch das Ministerium für Cultus und Unterricht.29 Der Gegenstand der Luschin erteilten venia docendi „Geschichte des deutschen Rechtes in Österreich“ bereitete bereits „die Verselbständigung der österreichischen Reichsgeschichte als besonderen Lehrgegenstand“ vor.30 24 LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 22f. 25 WURZBACH: Biographisches Lexikon 59 (1890), S. 92ff.; LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 104ff. 26 LUSCHIN: Erinnerungen (oben Fn. 17), S. 127; vgl. LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 104, S. 189f. 27 LUSCHIN: Erinnerungen (oben Fn. 17), S. 127. 28 LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 186f. 29 Ebenda, S. 188f. 30 So M. RINTELEN: Nachruf (oben Fn. 17), S. 5.
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Ordinarius für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte und deutsches Privatrecht an der Grazer Universität war seit 1865 Ferdinand Bischoff (1826 –1915).31 Dieser hielt regelmäßig eine fünfstündige Vorlesung über „Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte“. Luschin hielt im Sommersemester 1870 ein zweistündiges Seminar „Geschichte der Quellen des deutschen Rechtes in Österreich“, im Sommersemester 1871 unter dem Titel „Geschichte des Rechts in Steiermark“, im Sommersemester 1872 eine Vorlesung „Geschichte der österreichischen Rechtsquellen“ (zweistündig), im Wintersemester 1872/73 „Geschichte des deutschen Rechts in Österreich“ (dreistündig).32 Im November 1872 wurde Luschins Arbeit „Die Entstehungszeit des österreichischen Landesrechtes“ als Festschrift der Universität Graz publiziert (dazu unten Kap. III). Am 31. Oktober 1872 richtete Luschin ein Gesuch an das Ministerium, ihm die „Stelle eines außerordentlichen Professors für österreichische Rechtsgeschichte an der Universität Graz zu verleihen“.33 Ferdinand Bischoff 34 unterstützte dieses Gesuch in vollem Maße. In seiner Sitzung vom 30. Dezember 1872 faßte das Kollegium der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät den Beschluß, das Gesuch Luschins dem Ministerium befürwortend zu unterbreiten. Es erkannte sowohl den Bedarf für eine außerordentliche Professur für österreichische Rechtsgeschichte als auch die Würdigkeit des Antragstellers an. Der Minister für Cultus und Unterricht Karl Ritter von Stremayr35 schlug dem Kaiser vor, Luschin zum Extraordinarius der Deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte zu ernennen, „mit der speziellen Verpflichtung zur Pflege und zum Vortrage der österreichischen Rechtsgeschichte“. Diesem Antrag entsprechend wurde Arnold Luschin mit Dekret vom 25. März 1873 zum außerordentlichen Professor ernannt. Im Jahre 1879 erschien Arnold Luschins grundlegende Untersuchung „Geschichte des ältern Gerichtswesens in Österreich ob und unter der Enns“. Im Sommersemester 1879 hielt Luschin eine zweistündige Vorlesung über dieses Thema. Mit allerhöchster Entschließung vom 21. März 1881 wurde Luschin zum ordentlichen Professor der deutschen und österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte an der Universität Graz 31 Zu diesem A. LUSCHIN v. EBENGREUTH, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 14 (1916), S. 165ff.; P. HRADIL, in: ZRG Germ. Abt. 36 (1915), S. 648f.; Th. MAYER-MALY, in: NDB 2 (1955), S. 262f.; EBERT: Pflege der Rechtsgeschichte (oben Fn. 8), S. 277ff.; H. BALTL: Ferdinand Bischoff – Rechtsgeschichte und Musikwissenschaft. Ein altösterreichisches Gelehrtenleben, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 83 (1992), S. 383ff. 32 Vgl. EBERT: Pflege der Rechtsgeschichte (oben Fn. 8), S. 281; LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 189; G.WESENER: Anfänge und Entwicklung der „Österreichischen Privatrechtsgeschichte“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift f. Neuere Rechtsgeschichte 2006, S. 364ff., insbes. S. 370. 33 Dazu eingehend LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 191ff. 34 Zu Bischoff siehe BALTL oben Fn. 31. 35 WURZBACH: Biographisches Lexikon 40 (1880), S. 36ff.; WESENER: Römisches Recht (oben Fn. 1), S. 72f.
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ernannt.36 An der Universität Wien war 1871 das erste Ordinariat für „Österreichische Rechtsgeschichte“ geschaffen worden, das Johann Adolph Tomaschek (1822–1898) erhielt (seit 1863 Extraordinarius des Faches).37 Ab Wintersemester 1881/82 las Luschin regelmäßig in jedem Wintersemester fünfstündig „Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte“, daneben dreistündig über „Die Hauptlehren der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte“. Im Sommersemester 1882 hielt er ein zweistündiges Seminar über „Das ältere Erb- und Familienrecht in Österreich“ ab.38 Durch das Gesetz betreffend die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien und Staatsprüfungen von 1893 (RGBl. Nr. 68) wurde eine fünfstündige Obligatvorlesung sowie das Prüfungsfach „Österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechtes)“ im Rahmen der rechtshistorischen Staatsprüfung eingeführt.39 So erfreulich die Einführung dieses vierten rechtsgeschichtlichen Faches an sich war, bedeutete es doch für die österreichische Privat-, Prozeß- und Strafrechtsgeschichte einen Rückschlag, da diese Gebiete der österreichischen Rechtsgeschichte nunmehr stark vernachlässigt wurden.40 Lehre und Forschung konzentrierten sich auf die Verfassungsund Verwaltungsgeschichte der Monarchie. Als F. Bischoff 1897 in den Ruhestand trat, wurde zunächst Ernst Freiherr von Schwind41 sein Nachfolger. Dieser folgte aber bereits 1898 einem Ruf nach Wien. Nach seinem Abgang wurde 1899 Paul Puntschart (1867–1945)42 auf die Lehrkanzel berufen. Arnold Luschin von Ebengreuth bekleidete mehrfach akademische Ämter, das des Dekans der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in den Jahren 1888/89 und 1897/98, das des Rektors der Karl-Franzens-Universität im Studienjahr 1904/05. Bei seiner feierlichen Inauguration am 4. November 1904 sprach er über das Thema „Die Universitäten. Rückblick und Ausblick“.43 Luschin war viele Jahre Mitglied der rechts36 Die Schaffung dieses zweiten Ordinariats für Rechtsgeschichte (neben F. Bischoff ) ist von M. LUSCHINDREIER in ihrer Dissertation (oben Fn. 17), S. 209ff., eingehend dargestellt worden. 37 Vgl. LENTZE: Die germanistischen Fächer (oben Fn. 19), S. 71ff.; WESENER: Österreichische Privatrechtsgeschichte (oben Fn. 32), S. 369. 38 Vgl. EBERT: Pflege der Rechtsgeschichte (oben Fn. 8), S. 281f. 39 Dazu eingehend K. EBERT: Zur Einführung der Österreichischen Reichsgeschichte im Jahre 1893, in: Die österreichische Rechtsgeschichte. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hg. von H. C. FAUSSNER, G. KOCHER u. H. VALENTINITSCH, Graz 1991, S. 49ff.; U. FLOSSMANN: Österreichische Privatrechtsgeschichte als Teildisziplin der Rechtsgeschichte Österreichs, in: ebenda, S. 91ff., insbes. S. 103f. 40 So LENTZE: Die germanistischen Fächer (oben Fn. 19), S. 83; vgl. auch LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 266f. 41 Vgl. LENTZE: Die germanistischen Fächer (oben Fn. 19), S. 92ff. 42 M. RINTELEN, in: ZRG Germ. Abt. 67 (1950), S. 513ff.; G. KOCHER, in: ÖBL VIII (1983), S. 336. 43 Im Druck erschienen, Graz 1905.
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historischen Staatsprüfungskommission; Präses derselben wurde er erst im hohen Alter von 85 Jahren, im Jahre 1926.44 Arnold Luschin von Ebengreuth wurde nach seinem „Ehrenjahr“ mit Ende September 1912 in den Ruhestand versetzt. Sein Nachfolger wurde 1916 sein ehemaliger Schüler Max Rintelen (1880 –1965).45 Arnold Luschin verstarb am 6. Dezember 1932 zu Graz; er wurde in der Familiengruft auf dem St. Leonhard-Friedhof beigesetzt.
III. Luschin als Rechtshistoriker Luschins Hauptbedeutung als Rechtshistoriker liegt eindeutig im Bereiche der österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte, vor allem der Geschichte der Rechtsquellen, des Gerichtswesens, aber auch der Rezeption des römischen Rechts. An Grundlegung und Aufbau der österreichischen Reichsgeschichte als eines eigenen rechtsgeschichtlichen Faches kommt ihm ein wesentlicher Anteil zu.46 In seiner ersten Monographie Die Entstehungszeit des österreichischen Landesrechtes (Graz 1872) 47 setzte er sich mit den Untersuchungen von Heinrich Siegel48 und Viktor Hasenöhrl 49 zu diesem Thema auseinander; er kam zu Resultaten, die mit jenen Emil Franz Rößlers 50 übereinstimmten, die dieser schon 1853 in einem Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften in Wien dargelegt hatte, die jedoch nur in dürftigem Umfang publiziert worden waren.51 In der Geschichte des ältern Gerichtswesens in Österreich ob und unter der Enns (Weimar 1879) behandelt Luschin in beispielhafter Weise Gerichtshoheit und Gerichtsverfassung eines Landes. Wegen der starken Zersplitterung, welche die deutsche Rechtsgeschichte im Allgemeinen kennzeichnet, die auch für die österreichischen Länder zutrifft, tritt Luschin für Untersuchungen kleiner territorialer Einheiten ein. Auch bei der Dar-
44 Dazu eingehend LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 249ff. 45 Zu diesem H. LENTZE: Almanach der Österr. Akad. der Wiss. 116 (1966), S. 277ff.; F. KLEIN, in: ZRG Germ. Abt. 83 (1966), S. 557ff.; G. WESENER, in: Zeitschrift des Hist. Vereines für Steiermark 61 (1970), S. 255ff.; Ders., NDB 21 (2003), S. 642f. 46 So M. RINTELEN: Nachruf (oben Fn. 17), S. 5. 47 Publiziert als Festschrift der Universität Graz zur Jahresfeier am 15. November 1872. 48 Siehe oben Fn. 19. 49 Zu diesem FLOSSMANN: Österreichische Privatrechtsgeschichte als Teildisziplin (oben Fn.39), S. 106f.; WESENER: Österreichische Privatrechtsgeschichte (oben Fn. 32), S. 375f. 50 H. BALTL: Emil Franz Rößler. Ein Rechtshistoriker zwischen Österreich und Preußen, in: Festschrift für H.Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 229ff. 51 Vgl. A. LUSCHIN: Die Entstehungszeit des österreichischen Landesrechtes, Graz 1872, Vorwort u. S. 1.
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stellung der Geschichte eines einzelnen Rechtsinstituts wird auf „die locale Ausgestaltung fortwährend Rücksicht“ zu nehmen sein (Vorrede, S. IV).52 In späten Jahren hat Luschin „Hans Ampfingers Bericht über das gerichtliche Verfahren in Kärnten 1544“ herausgegeben,53 eine Darstellung des Verfahrens „im Landsrechten zu Kärnten“.54 Höchst wertvoll, sowohl für die Rezeptionsgeschichte wie für Familiengeschichte, sind Luschins Arbeiten über „Österreicher an italienischen Universitäten zur Zeit der Reception des römischen Rechts“ (aus den Jahren 1880 bis 1885, Sonderabdruck, Wien 1886).55 Luschins Österreichische Reichsgeschichte. Ein Lehrbuch (Geschichte der Staatsbildung, der Rechtsquellen und des öffentlichen Rechts)56 wurde zum führenden Handbuch der österreichischen Rechtsgeschichte.57 Luschin verstand es, „die Einzelergebnisse zu einer einheitlichen Darstellung zusammenzufassen, die den Ländern gemeinsamen Züge der Entwicklung hervorzuheben, ohne die Gegensätze zu verwischen“.58 Das Werk ist als „die beste damalige Darstellung der Geschichte des öffentlichen Rechtes eines deutschen Landes“ anzusehen.59 Ganze Abschnitte beruhen auf selbständigen Untersuchungen des Verfassers, da Vorarbeiten fehlten. Die „Übersicht der Rechtsquellen in ÖsterreichUngarn nach den einzelnen Kronländern“ (1. Aufl., § 47) ist heute noch grundlegend. Der deutschen Rechtsgeschichte gewidmet ist die Darstellung der „Verfassung und Verwaltung der Germanen und des deutschen Reiches bis zum Jahre 1806“.60 Luschins Quellenstudien brachten auch wertvolle Ergebnisse für die geschichtlichen Hilfswissenschaften, für Siegel- und Wappenkunde, die Chronologie und die Geschlechtergeschichte.61 52 Um zu einer zutreffenden Gesamtauffassung über die Rezeption des römisch-gemeinen Rechts in Deutschland zu gelangen, verlangte noch P. KOSCHAKER (Europa und das römische Recht, München 1947, 4. unver. Aufl. 1966, S. 142) „Untersuchungen über den Hergang der Rezeption in kleinen und kleinsten Gebieten“. Vgl. G.WESENER: Geschichte des Erbrechtes in Österreich seit der Rezeption, Graz-Köln 1957, S. 10. 53 In: Carinthia I. 103 (1913), S. 162ff. 54 Vgl. G.WESENER: Das innerösterreichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert, Graz 1963, S. 23 u. S. 29. 55 Siehe unten Kap. VIII; vgl. P. PUNTSCHART: Nachruf (oben Fn. 17) S. IL f.; G. WESENER: Der Einfluss von Bartolus de Sassoferrato in Oesterreich, in: Bartolo da Sassoferrato. Studi e documenti per il VI centenario I, Milano 1961, S. 91ff., insbes. S. 94f.; I. MATSCHINEGG: Österreicher als Universitätsbesucher in Italien (1500–1630). Regionale und soziale Herkunft – Karrieren – Prosopographie (Diss. Univ. Graz, Graz 1999). 56 Bamberg 1896; 2. Aufl. unter dem Titel: Handbuch der Österreichischen Reichsgeschichte, I. Bd.: Österreichische Reichsgeschichte des Mittelalters, Bamberg 1914. 57 So M. DOBLINGER, M. RINTELEN: Arnold Luschin-Ebengreuth zu seinem 80. Geburtstage 26. August 1921, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 18 (1922) (= Festgabe des Historischen Vereines für Steiermark. Gewidmet Arnold Luschin-Ebengreuth zum 26. August 1921, Graz 1921), S. 3f. 58 M. DOBLINGER, M. RINTELEN: Arnold Luschin-Ebengreuth (oben Fn. 57), S. 4. 59 M. RINTELEN: Nachruf (oben Fn. 17), S. 7. 60 In: Kultur der Gegenwart, Teil II, Abt. II.1, Leipzig-Berlin 1911, S. 198–342. 61 Vgl. P. PUNTSCHART: Nachruf (oben Fn. 17), S. LIV.
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IV. Luschin als Numismatiker Luschins besondere Liebe galt seit frühen Tagen der Numismatik.62 Schon als Knabe, noch in Zara, begann er Münzen zu sammeln. Die Jahre 1855/57, die er im Aloysianum in Laibach zubrachte, waren für seine Entwicklung „vom Münzsammler zum Münzkenner“ von Bedeutung. Im Kustos des Historischen Vereins, Herrn Anton Jelouschek, fand er einen tüchtigen Historiker und Münzkenner, der sich seiner annahm. Von entscheidender Bedeutung wurde Luschins Bekanntschaft und Freundschaft mit Josef Karabacek, dem späteren Wiener Orientalisten, die seit der Gymnasialzeit in Temesvár bestand.63 Von Dr. Theodor Elze, Pastor von Laibach und Provinzialhistoriker,64 empfing Luschin den Anstoß zu seiner ersten numismatischen Arbeit „Über zwei angebliche Laibacher Münzen“, die im April 1864 in den Mitteilungen des Historischen Vereins in Krain erschien.65 Vor allem den Bemühungen Luschins und Karabaceks ist die Gründung der Numismatischen Zeitschrift und der Wiener Numismatischen Gesellschaft um 1869/1870 zu verdanken.66 Maßgeblich mitbestimmend für den großen Erfolg von Luschins numismatischen Forschungen waren seine umfassenden wirtschafts- und rechtshistorischen Kenntnisse. Die Numismatik sollte neben der Beschreibung einer Münze auch die Untersuchung der wirtschaftlichen Funktion der Münze und die rechtlichen Aspekte zum Gegenstand haben.67 Hervorzuheben sind Luschins „Beiträge zur Münzgeschichte der Steiermark“,68 die „Umrisse einer Münzgeschichte der österreichischen Lande im Mittelalter“69 sowie Wiener Münzwesen im Mittelalter (Wien 1913). Einen Höhepunkt bildet das Opus Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittelalters und der neueren Zeit (München 1904; 2. Aufl. 1926). Zu Recht kommt Arnold Luschin der Ehrentitel eines „Altmeisters der österreichischen Numismatik“ zu.70
62 Dazu A. LUSCHIN-EBENGREUTH: Aus den Erinnerungen eines alten Numismatikers (oben Fn.17). 63 Ebenda, S. 122ff.; vgl. LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 55ff.; Art. Karabacek, in: ÖBL III (1965), S. 228f. 64 Vgl. LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 60ff. 65 LUSCHIN-EBENGREUTH: Erinnerungen (oben Fn. 17), S. 125. 66 Ebenda, S. 127ff. 67 Vgl. M. RINTELEN: Nachruf (oben Fn. 17), S. 6. 68 In: Numismatische Zeitschrift 11 (1879), S. 243ff. 69 In: Numismatische Zeitschrift N. F. 2 (1909), S. 137ff. 70 Vgl. PROBSZT-OHSTORFF: Luschin von Ebengreuth (oben Fn. 17), S. 105f.
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V. Luschin als Stadthistoriker Arnold Luschin befaßte sich auch mit Grazer Stadtgeschichte, so mehrfach mit dem Joanneum: „Der Leseverein am Joanneum, ein Beitrag zur Geschichte der Grazer Gesellschaft“ (Festrede)71 und „Das Joanneum, dessen Gründung, Entwicklung und Ausbau zum steiermärkischen Landesmuseum (1811–1911)“.72 Verständlicherweise galt Luschins besonderes Interesse der Herrschafts- und Besitzgeschichte des Rosenberges, da er seit 1883 Eigentümer des Schlößchens Rosegg, des sogenannten Minoritenschlößls, auf dem Rosenberg war.73 Höchst wertvoll und nützlich ist das von Luschin erarbeitete „Häuser- und Gassenbuch der Inneren Stadt Graz“.74
VI. Von der „Österreichischen Reichsgeschichte“ zur „Österreichischen Rechtsgeschichte“ Nach der Thun’schen Studienordnung von 1855 war Österreichische Reichs- beziehungsweise Rechtsgeschichte noch kein eigenes Fach (siehe oben Kap. I). Erst durch die rechtsund staatswissenschaftliche Studien- und Staatsprüfungsordnung vom 20. April 1893 (RGBl. Nr. 68) wurde neben den bisherigen drei Fächern der rechtshistorischen Staatsprüfung als viertes Obligatfach „Österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechtes)“ eingeführt.75 Zu den Wegbereitern einer österreichischen Rechtsgeschichte76 zählt neben manchen anderen, wie August Chabert,77 Emil Franz Rößler,78 Rudolf Kink79 und Ferdinand Bischoff,80 an vorderster Stelle auch Arnold Luschin.81 71 In: Jahresbericht des Joanneums 1889. 72 In: Festschrift: Das steiermärkische Landesmuseum und seine Sammlungen, Graz 1911, S. 67ff. 73 Einiges vom Rosenberg, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 21 (1925), S. 5ff. u. 25 (1929), S. 105ff. 74 In: F. POPELKA: Geschichte der Stadt Graz I, Graz 1928, Neudruck 1959, S. 493–532. 75 Dazu eingehend K. EBERT: Einführung der Österreichischen Reichsgeschichte im Jahre 1893 (oben Fn. 39). Zur Studienreform von 1893 vgl. WESENER: Römisches Recht (oben Fn. 1), S. 77. 76 Vgl. H. BALTL: Die österreichische Rechtsgeschichte, in: Festschrift H. Lentze (Innsbruck 1969), S. 35ff., insbes. S. 36; K. EBERT: Die Einführung der Österreichischen Reichsgeschichte (oben Fn. 39), S. 55f.; U. FLOSSMANN: Österreichische Privatrechtsgeschichte als Teildisziplin (oben Fn. 39), S. 97ff.; WESENER: Österreichische Privatrechtsgeschichte (oben Fn. 32), S. 364ff. 77 H. BALTL: Dr. August Chabert und die österreichische Rechtsgeschichte, in ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 276ff. 78 Siehe oben Fn. 50. 79 N. GRASS: Rudolf Kink. Der Geschichtsschreiber der Universität Wien. Der Vorkämpfer der österreichischen Rechtsgeschichte, in: Schlern-Schriften 138 (1954), S. 227ff.; Wiederabdruck in N. GRASS (Hg.): Österr. Historiker-Biographien I, Innsbruck 1957, S. 109ff. 80 Zu Bischoff siehe BALTL, Fn. 31. 81 Vgl. M. DOBLINGER, M. RINTELEN: Arnold Luschin-Ebengreuth (oben Fn. 57), S. 2ff.
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Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bemühten sich die österreichischen Rechtsfakultäten mit Erfolg um die Schaffung von Lehrkanzeln für österreichische Rechtsgeschichte.82 Bei der wissenschaftlichen Grundlegung sowie beim Aufbau einer österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte kommt Arnold Luschin durch seine Lehrveranstaltungen in diesem Bereich und seine Forschungen zur Geschichte des Rechts in Österreich große Bedeutung zu. Als ein überaus wichtiger Beitrag ist die Geschichte des ältern Gerichtswesens in Österreich ob und unter der Enns (1879) anzusehen.83 Aus Anlaß der Beratungen über die Verbesserung der juristischen Studienordnung in den Jahren 1886 und 1887 beantragte Luschin, daß von den Rechtshörern statt der seit 1855 vorgeschriebenen Vorlesung über österreichische Geschichte an der philosophischen Fakultät der Besuch einer Vorlesung über österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte verlangt werde, welche speziell für die Bedürfnisse des Rechtsunterrichtes einzurichten sei.84 Dieser Forderung wurde durch die Studien- und Staatsprüfungsordnung von 1893 zumindest partiell Rechnung getragen. Zu einer Neufassung der juristischen Studien- und Staatsprüfungsordnung kam es im Jahre 1935 (BGBl. Nr. 378/1935). Entsprechend den drei Staatsprüfungen wurde das Studium in drei Studienabschnitte gegliedert und auf neun Semester ausgedehnt; jeder Abschnitt umfaßte drei Semester. An die Stelle der „Österreichischen Reichsgeschichte“ trat die „Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“. Die juristische Studien- und Staatsprüfungsordnung 1945 (StGBl. Nr. 164) war im Wesentlichen eine Neuauflage der Studienordnung von 1935. Der rechtshistorische Studienabschnitt wurde auf zwei Semester verkürzt; die Gesamtdauer des Studiums betrug damit wieder acht Semester. Gegenstände der Ersten Staatsprüfung waren weiterhin Römisches Recht, Kirchenrecht, Deutsches Recht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Die alte Rigorosenordnung von 1872 blieb weiterhin in Kraft.85 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist vor allem der Grazer Rechtshistoriker Hermann Baltl 86 mit Energie und Erfolg für eine „Österreichische Rechtsgeschichte“, eine Rechtsgeschichte des österreichischen Raumes, als selbständige Disziplin in Forschung und 82 83 84 85 86
Siehe oben bei Fn. 36 u. 37. Vgl. oben Kap. III. M. DOBLINGER, M. RINTELEN: Arnold Luschin-Ebengreuth (oben Fn. 57), S. 3. Siehe oben bei Fn.12. H. BALTL: Selbstbiographie, in: Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österr. Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit, hg. von H. BALTL, N. GRASS u. H. C. FAUSSNER, Sigmaringen 1990, S. 23ff.; Ders.: Rückblick, Rechenschaft und Dank, in: Die Grazer Juristenfakultät 1945–1985. Hermann Baltl 40 Jahre akademischer Lehrer und Forscher. Würdigung und Erinnerungen, Graz 1986, S. 30f.; H. VALENTINITSCH: Hermann Baltl als Forscher und akademischer Lehrer, in: Recht und Geschichte. Festschrift H. Baltl zum 70. Geburtstag, hg. von H. VALENTINITSCH, Graz 1988, S.11ff.; H. SCHWENDENWEIN: Nachruf, in: Almanach der Österr. Akad. der Wiss. 155 (2004/2005), S. 507ff.
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Lehre eingetreten.87 Neben der Geschichte des öffentlichen Rechts im engeren Sinne sollte auch die Geschichte des Straf- und Prozeßrechts und die Privatrechtsgeschichte entsprechend berücksichtigt werden.88 Mit dem Bundesgesetz vom 2. März 1978 über das Studium der Rechtswissenschaften (BGBl. Nr. 140/1978) war diesen Bestrebungen Erfolg beschieden. An die Stelle des „Deutschen Rechts“ (Deutsche Rechtsgeschichte und Geschichte des Deutschen Privatrechts) und der „Österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“ trat nun das Fach „Österreichische Rechtsgeschichte und Grundzüge der Europäischen Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Auf Grund des Universitäts-Studiengesetzes von 1997 (BGBl. I Nr. 48/1997) kam es freilich bedauerlicherweise zu einer wesentlichen Einschränkung der rechtshistorischen Fächer.89
VII. Ämter und Ehrungen Luschins Außer seinen akademischen Ämtern90 hatte Luschin eine Reihe von anderen Funktionen.91 So war er zunächst Korrespondent, seit 1876 Konservator der „k.k. CentralCommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale“, seit 1900 auch Mitglied derselben. Seit 1882 war er korrespondierendes, seit 1892 wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien, seit 1898 Delegierter der Akademie in der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Seit 1904 war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, seit 1906 auch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, ferner des R. Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti. 1887 wurde Luschin Präsident des Kuratoriums des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum.92 1905 wurde er zum Mitglied des Herrenhauses auf Lebensdauer berufen.93 Im Jahre 1898 wurde Luschin der Orden der Eisernen Krone III. Klasse verliehen, 1904 der Titel Hofrat, 1912 aus Anlaß der Übernahme in den dauernden Ruhestand 87 Über die Notwendigkeit einer österreichischen Rechtsgeschichte, in: Jur. Blätter 72 (1950), S. 397ff.; Die österreichische Rechtsgeschichte (oben Fn. 76), S. 35ff. 88 Vgl. FLOSSMANN: Österreichische Privatrechtsgeschichte als Teildisziplin (oben Fn. 39), S. 91ff.; WESENER: Österreichische Privatrechtsgeschichte (oben Fn. 32), S. 364f., Fn.1. 89 Nach dem Grazer Studienplan für das Diplomstudium der Rechtswissenschaften lauten die Bezeichnungen der beiden rechtshistorischen Fächer derzeit „Römisches Recht als Grundlage der Europäischen Rechtssysteme“ und „Österreichische und Europäische Rechtsentwicklung“. 90 Siehe oben Kap. II bei Fn. 43 u. 44. 91 Dazu LUSCHIN-DREIER: Arnold Luschin (oben Fn. 17), S. 112ff. 92 Vgl. ebenda, S. 153ff. 93 Vgl. ebenda, S. 174ff.
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das Komturkreuz des Franz Joseph-Ordens. 1922 verlieh die Universität Graz dem Achtzigjährigen das Ehrendoktorat der Staatswissenschaften.
VIII. Werke (in Auswahl) Rechtsgeschichte: Die Entstehungszeit des österreichischen Landesrechtes. Eine kritische Studie, Graz 1872; Die steirischen Landhandfesten. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte des ständischen Lebens in Steiermark, in: Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen 9 (1872), S. 119 –207; Geschichte des ältern Gerichtswesens in Österreich ob und unter der Enns, Weimar 1879; Österreicher an den italienischen Universitäten zur Zeit der Rezeption des römischen Rechts, I. Abt., in: Blätter des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich, Jgg. 1880–1882, II. u. III. Abt., ebd. Jgg. 1883 –1885; auch als Sonderabdruck (1886); Quellen zur Geschichte deutscher Rechtshörer in Italien, in: Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften 113 (1886), S. 745–792; Fortsetzungen ebd. 124 (1891), XI. Abh., S. 1–30, 127 (1892), II. Abh., S. 1–144; Familiennamen deutscher Rechtshörer, welche an italienischen Universitäten vor dem Jahre 1630 studirt haben, Wien 1892; Österreichische Reichsgeschichte. Ein Lehrbuch (Geschichte der Staatsbildung, der Rechtsquellen und des öffentlichen Rechts), Bamberg 1896; 2. Aufl. unter dem Titel: Handbuch der Österreichischen Reichsgeschichte, I. Bd.: Österreichische Reichsgeschichte des Mittelalters, Bamberg 1914; Die Anfänge der Landstände, in: Historische Zeitschrift 42 (1897), S. 427– 455; Das Landschreiberamt in Steiermark, in: Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen 29 (1898), S.194–243; Grundriß der österreichischen Reichsgeschichte, 1. Aufl. Bamberg 1899, 2. Aufl. ebd. 1918; Der deutsche Text des Mainzer Landfriedens und das österreichische Landesrecht, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 25 (1900), S. 541–558; Ungarische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der älteren Zeit, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung N. F. 32 (1908), S. 275ff.; Verfassung und Verwaltung der Germanen und des deutschen Reiches bis zum Jahre 1806, in: Kultur der Gegenwart, Teil II, Abt. II.1, Leipzig-Berlin 1911, S. 198–342; Hans Ampfingers Bericht über das gerichtliche Verfahren in Kärnten, in: Carinthia I. 103 (Festschrift A. R. v. Jaksch, 1913), S. 162–190.
Numismatik: Über zwei angebliche Laibacher Münzen, in: Mitteilungen des Historischen Vereines für Krain (1864), S. 30–32 u. Numismatische Zeitung, Weißensee 1864, S. 129–134; Beiträge zur Münzgeschichte der Steiermark im Mittelalter, in: Numismatische Zeitschrift 11 (1879), S. 243–269; Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittelalters und der neueren Zeit, München 1904, 2. Aufl. 1926; Umrisse einer Münzgeschichte der österreichischen Lande im Mittelalter, in: Numismatische Zeitschrift N. F. 2 (1909), S. 137–190; Wiener Münzwesen im Mittelalter, Wien 1913; Das Ausklingen der Friesacher Währung, in: Numismatische Zeitschrift N. F. 20 (1927), S. 1–9.
Grazer Stadtgeschichte: Der Leseverein am Joanneum, ein Beitrag zur Geschichte der Grazer Gesellschaft. Festrede, in: Jahresbericht des Joanneums 1889; Das Joanneum, dessen Gründung, Entwicklung und Ausbau zum steiermärkischen Landesmuseum (1811–1911), in: Festschrift: Das steiermärkische Landesmuseum und seine Samm-
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lungen, Graz 1911, S. 67–148; Einiges vom Rosenberg, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 21 (1925), S. 5– 46 u. 25 (1929), S. 105–128; Häuser- und Gassenbuch der Inneren Stadt Graz, in: F. POPELKA: Geschichte der Stadt Graz, Band I, Graz 1928; Neudruck 1959, S. 493–532.
IX. Literatur BURDA, I.: Arnold Luschin von Ebengreuth (phil. Diss. Univ. Graz 1949). DOBLINGER, M., M. RINTELEN: Arnold Luschin-Ebengreuth zu seinem 80. Geburtstage 26. August 1921, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 18 (1922) (= Festgabe des Historischen Vereines für Steiermark. Gewidmet Arnold Luschin-Ebengreuth zum 26. August 1921, Graz 1921), S.1–26 (Schriftenverzeichnis S.13–26). EBERT, K.: Die Pflege der Rechtsgeschichte an der Universität Graz im Zeichen der Historischen Schule, in: ZRG Germ. Abt. 87 (1970), S. 239–286, insbes. S. 279–282. GRASS, N., in: Österr. Biographisches Lexikon, Band V (1972), S. 373 –374. GRASS, N., in: Neue Deutsche Biographie, Band 15 (1987), S. 529–531. LENTZE, H.: Thun und die deutsche Rechtsgeschichte, in: MIÖG 63 (1955), S. 500–521. LENTZE, H.: Die germanistischen Fächer an der juridischen Fakultät, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien II, Graz-Köln 1965, S. 61–103, insbes. S. 91. LUSCHIN-DREIER, M.: Arnold Luschin Ritter von Ebengreuth – ein Leben im Zeichen der Rechtsgeschichte (jur. Diss. Univ. Graz 1992), mit Schriftenverzeichnis (S. 286–304) und Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 305–319). LUSCHIN-EBENGREUTH, A.: Aus den Erinnerungen eines alten Numismatikers, in: Numismatische Zeitschrift N. F. 23 (1930), S. 117–130 u. N. F. 25 (1932), S. 1–8. PROBSZT-OHSTORFF, G.: Arnold Ritter Luschin von Ebengreuth (1841–1932), in: Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher XVI, Wien-München-Zürich 1965, S. 100 –111. RINTELEN, M., in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte III (1984) Sp.103f.
Nachrufe: ERBEN, W., F. BILGER, in: MIÖG 48 (1934), S. 189 –197. PUNTSCHART, P., in: Almanach der (Wiener) Akademie der Wissenschaften 83 (1933), S. 191–207. PUNTSCHART, P., in: ZRG Germ. Abt. 53 (1933), S. XXIX–LIV. RINTELEN, M., in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 27 (1933), S. 1–13. VOLTELINI, H., in: Forschungen und Fortschritte 9 (Berlin 1933), S. 32. WENGER, L., in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1933/34, S. 20 –27.
X. Siglen-Verzeichnis ABGB
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch
ADB
Allgemeine Deutsche Biographie
BGBl.
Bundesgesetzblatt
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HRG
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
MIÖG
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
NDB
Neue Deutsche Biographie
ÖBL
Österreichisches Biographisches Lexikon
RGBl.
Reichsgesetzblatt
StGBl.
Staatsgesetzblatt
ZRG
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte
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Paul Koschaker Quelle: Archiv der Universität Graz
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Gunter Wesener Paul Koschaker (1879–1951), Begründer der altorientalischen Rechtsgeschichte und juristischen Keilschriftforschung I. Lebenslauf – II. Forschungsbereiche – III. „Antike Rechtsgeschichte“ und historische Rechtsvergleichung – IV. „Die Krise des römischen Rechts“ – V. „Europa und das römische Recht“ – VI. Ehrungen – VII. Werke (in Auswahl) – VIII. Literatur
I. Lebenslauf Zu den bedeutendsten Gelehrten des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte des Altertums zählt Paul Koschaker.1 Am 19. April 1879 zu Klagenfurt als Sohn des Magistratsdirektors Theodor Koschaker und der Clementine geb. Kamprath geboren, besuchte er dort das Gymnasium, legte 1897 die Reifeprüfung ab, bezog dann die Universität Graz und wollte zunächst Mathematik studieren, wandte sich aber nach einigen Semestern dem Studium der Rechtswissenschaften zu. Römisches Recht hörte er noch beim alten Professor August Tewes2 und bei Gustav Hanausek.3 Im Seminar von Gustav Hanausek empfing er die ersten Anregungen zu selbständiger wissenschaftlicher Tätigkeit. Im Sommersemester 1901 inskribierte er die einstündige Vorlesung des Privatdozenten Leopold Wenger4 über „Ergebnisse der Papyrusforschung“. Am 25. Juni 1 Zum Lebenslauf siehe unten Bibliographie, insbes. P. KOSCHAKER: Selbstbiographie, in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in: Selbstdarstellungen, hg. von N. GRASS, Band II, Innsbruck 1951, S. 105–125; Nachruf von K.-H. BELOW, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 104 (1954), S. 1– 44 (mit vollständigem Schriftenverzeichnis). – Einen guten Überblick über die Rechtsgeschichte des Alten Orients gibt W. SELB: Antike Rechte im Mittelmeerraum, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 130ff. 2 Zu diesem G. WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (= Geschichte der Rechtswiss. Fak. der Univ. Graz, T. 1), Graz 1978, S. 51ff. 3 Zu diesem ebenda, S. 98ff. 4 Vgl. L.WENGER: Selbstbiographie, in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von N. GRASS, Band I, Innsbruck 1950, S. 133ff.; P. KOSCHAKER: Leopold Wenger. Ein halbes Jahrhundert rechtsgeschichtlicher Romanistik. Ein Rückblick, in: Festschrift für L.Wenger, Band I, München 1944, S. 1ff.; A. STEINWENTER: Leopold Wenger 4. 9. 1874 –21. 9. 1953, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1955, S. 157ff.; W. KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, in: Geist und Gestalt. Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band I, München 1959, S. 255ff.; A. KRÄNZLEIN: Leopold Wenger 1874–1953, in: Die Universität Graz. Jubiläumsband 1827–1977. Ein Fünfjahr-Buch, Graz 1977, S. 63ff.; G. WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 79ff.; E. HÖBENREICH: À propos „Antike Rechtsge-
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1903 erfolgte Koschakers Promotion zum Doktor der Rechte sub auspiciis Imperatoris. Bereits im Herbst 1902 war Koschaker, so wie schon vor ihm Leopold Wenger, mit einem Reisestipendium des österreichischen Unterrichtsministeriums nach Leipzig gegangen, wo er in Ludwig Mitteis5 und Emil Strohal6 ausgezeichnete Lehrer fand. Beiden stand er als Assistent zur Seite. Von Mitteis wurde er in die Papyrologie eingeführt. Koschaker habilitierte sich 1905 an der Grazer rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit einer Studie zum römischen Zivilprozeß: Translatio iudicii (Graz 1905).7 Koschaker hatte sich das Thema selbst gewählt. Es ist charakteristisch für Koschaker, daß er die ihm von Mitteis gestellte Untersuchung der augusteischen Ehegesetze abgelehnt hatte, da sie ihm „zu stark historisch“, das heißt zu wenig juristisch war, und stattdessen ein prozeßrechtsgeschichtliches Thema mit dogmatischer Fragestellung wählte.8 Bald folgte eine papyrologische Abhandlung über den alexandrinischen Archidikastes.9 Schon während seiner Privatdozentenjahre in Graz wandte sich Koschaker der altorientalischen Rechtsgeschichte zu. Mit Hilfe des Grazer Semitisten Nikolaus Rhodokanakis begann er in die Sprache der Keilschriftquellen einzudringen. Im Jahre 1907 heiratete Paul Koschaker Helene Waidmann, Tochter des Baurats Waidmann, in Graz. In den Jahren 1907 und 1908 stellte die Grazer juristische Fakultät mehrfach den Antrag auf Ernennung Koschakers zum außerordentlichen Professor. Antragsteller waren Hanausek und Wenger. Im Juli 1908 wurde Koschaker ex aequo loco mit Ernst Rabel (Basel)10
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schichte“: Einige Bemerkungen zur Polemik zwischen Ludwig Mitteis und Leopold Wenger, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte [im folgenden zitiert als „ZRG“] Rom. Abt. 109 (1992), S. 547ff.; G. THÜR: Leopold Wenger – Ein Leben für die Antike Rechtsgeschichte, in: G.THÜR (Hg.): Gedächtnis des 50. Todesjahres Leopold Wengers (= Österr. Akademie der Wiss., phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 741. Bd., Veröffentlichungen der Kommission für Antike Rechtsgeschichte Nr. 12), S. 1ff.; E. HÖBENREICH: Der „Königsgedanke“, ebd., S. 17ff. Vgl. L. WENGER: Ludwig Mitteis und sein Werk, Wien-Leipzig 1923; J. PARTSCH: Ludwig Mitteis. 1859– 1921, in: ZRG Rom. Abt. 43 (1922), S. VIff.; E. HÖBENREICH: À propos „Antike Rechtsgeschichte“ (oben Fn. 4), S. 547ff.; W. SELB, in: Neue Deutsche Biographie [im folgenden zitiert als „NDB“] 17 (1994), S. 576f.; R. ZIMMERMANN: „In der Schule von Ludwig Mitteis“: Ernst Rabels rechtshistorische Ursprünge, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 65 (2001), S. 13ff. Vgl. G. WESENER: Emil Strohal (1844 –1914). Über die Pandektistik zum neuen bürgerlichen Recht, in: Iurisprudentia Universalis. Festschrift für Th. Mayer-Maly zum 70. Geburtstag, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 853ff.; Ders.: Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz (= Geschichte der Rechtswiss. Fak. der Univ. Graz, T. 4), Graz 2002, S. 32ff. Bestätigung der venia mit Ministerial-Erlaß vom 7. April 1905. KOSCHAKER: Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 109f. Vgl. KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 264. Beiträge zur Geschichte des Urkunden- und Archivwesens im römischen Ägypten, in: ZRG Rom. Abt. 28 (1907), S. 254ff., und 29 (1908), S. 1ff. Vgl. F. GAMILLSCHEG: Ernst Rabel (1874–1955). Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, in: Rechts-
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und Ivo Pfaff (Prag) für das Ordinariat für römisches Recht nach L. Wenger vorgeschlagen. Den Ruf erhielt Ivo Pfaff.11 Im Sommersemester 1908 vertrat Koschaker eine Innsbrucker Lehrkanzel. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1908 erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen Professor des römischen Rechts an der Universität Innsbruck (als Nachfolger von Ludwig Schiffner). Bereits im Frühjahr 1909 wurde Koschaker ordentlicher Professor für römisches Recht an der Deutschen Universität Prag (als Nachfolger von Ivo Pfaff).12 1914 folgte er einem Ruf an die neu gegründete Universität Frankfurt am Main. Doch schon nach einem halben Jahr (1915) wurde er Nachfolger seines Lehrers Emil Strohal an der Universität Leipzig. Dort lehrte er einundzwanzig Jahre (1915 bis 1936) deutsches bürgerliches Recht und römisches Recht. Für keilschriftrechtliche Forschungen war Leipzig mit seinem semitistischen Institut und dessen ausgezeichneter Bibliothek ein herrlicher Boden. Hier wirkten die Orientalisten Heinrich Zimmern, Franz Heinrich Weißbach, Benno Landsberger13 und Johannes Friedrich. Besonders mit Benno Landsberger verband Koschaker ein enger fachlicher Kontakt. Seit seiner Grazer Zeit war Koschaker mit Max Rintelen14 befreundet. Rintelen habilitierte sich 1907 an der Universität Leipzig für Deutsche Rechtsgeschichte. Koschaker und Max Rintelen waren zur gleichen Zeit (1909 bis 1914) Professoren an der Deutschen Universität Prag. 1925 wurde Koschaker von der Grazer juristischen Fakultät primo loco als Nachfolger von Ivo Pfaff vorgeschlagen,15 verblieb aber in Leipzig. Auch Berufungen nach Wien (1925) und München (1926) lehnte er ab. Im Jahre 1936 folgte Koschaker einem Ruf auf den Lehrstuhl Savignys in Berlin. Dort hielt er mit dem Sumerologen Adam Falkenstein16 gemeinsame Übungen über Keilschrifturkunden juristischen Inhalts. Persönlich fühlte sich Koschaker aber in Berlin nicht wohl.17 1941 nahm er daher einen Ruf in die ruhige schwäbische Gelehrtenstadt Tübingen an, wo er sich 1946 emeritie-
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wissenschaft in Göttingen, hg. von F. LOOS, Göttingen 1987, S. 456ff.; G. KEGEL: Ernst Rabel – Werk und Person, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches u. internationales Privatrecht 54 (1990), S. 1ff.; Ders.: Ernst Rabel (1874–1955). Vorkämpfer des Weltkaufrechts, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hg. von H. HEINRICHS u. a., München 1993, S. 571ff.; R. ZIMMERMANN: „In der Schule von Ludwig Mitteis“: Ernst Rabels rechtshistorische Ursprünge (oben Fn. 5); R.-U. KUNZE: Ernst Rabel und das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, 1926–1945, Göttingen 2004. Vgl. WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 86 u. S. 113. Zu diesem WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 86ff. Vgl. W. von SODEN, in: NDB 13 (1982), S. 516f. Vgl. M. RINTELEN: Selbstbiographie, in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in: Selbstdarstellungen, hg. von N. GRASS, Band II, Innsbruck 1951, S. 139ff., insbes. S. 156; G. WESENER, in: NDB 21 (2003), S. 642f. WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 89 u. S. 113. Nachruf auf A. Falkenstein von H. PETSCHOW, in: ZRG Rom. Abt. 84 (1967), S. 630ff. KOSCHAKER: Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 118.
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ren ließ. Nach seiner Emeritierung war Koschaker noch als Gastprofessor tätig, 1946/47 in München, im Sommersemester 1948 in Halle an der Saale, 1949/50 in Ankara18 und im Wintersemester 1950/51 in Bonn. Im Frühjahr 1951 unternahm Koschaker eine Vortragsreise in die Schweiz, hielt einen Vortrag in Zürich bei seinem alten Schüler und Freund Julius G. Lautner19 und erlag völlig unerwartet am 1. Juni 1951 im 73. Lebensjahr in Basel einem Herzschlag. Zu Koschakers zahlreichen Schülern zählen neben anderen Mariano San Nicolò (Prag und München, †1955),20 der ihn noch in Graz hörte, Julius G. Lautner (Zürich, †1972),21 Martin David (Leiden, †1986),22 Karl-Heinz Below (Heidelberg und Mannheim, †1984),Viktor Korošec (Laibach/Ljubljana, †1985),23 Kudret Ayiter (Ankara, †1986),24 Josef Klíma (Prag, †1991)25 und Herbert Petschow (München, †1991).26 II. Forschungsbereiche Koschakers Forschungsgebiet reicht von den Keilschriftrechten über das römische Recht und das Recht der Papyri bis zur neueren Privatrechtsgeschichte und zur historischen Rechtsvergleichung. Zu Recht wird Koschaker als der eigentliche Begründer der altorientalischen Rechtsgeschichte und Keilschriftrechtsforschung angesehen.27 Zwar befaßten sich auch schon andere mit dem Codex Hammurabi und den Keilschriftrechten, so der Assyriologe Jules Oppert,28 der Polyhistor Joseph Kohler (1849–1919)29 und der Franzose Édouard Cuq 18 Vgl. K. AYITER: Paul Koschaker und der Unterricht des römischen Rechts an der Universität Ankara, in: Études Jean Macqueron, Aix-en-Provence 1970, S. 31ff. 19 Zu diesem G.WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 102ff.; Nachruf von M. KASER, in: ZRG Rom. Abt. 89 (1972), S. 518ff. 20 Zu diesem W. KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 259ff.; WESENER: Römisches Recht und Naturrecht (oben Fn. 2), S. 116ff.; G. RIES, in: NDB 22 (2005), S. 430f. – M. San Nicolò wurde im September 1917 Nachfolger Koschakers an der Deutschen Universität Prag. 21 Siehe oben Fn. 2. 22 Nachruf auf M. David von H. PETSCHOW u. H. ANKUM, in: ZRG 105 (1988), S. 989ff. 23 Nachruf von J. KRANJC, in: ZRG Rom. Abt. 104 (1987), S. 908ff. 24 Nachruf von K.-H. ZIEGLER, in: ZRG Rom. Abt. 104 (1987), S. 901ff. 25 Nachruf von G. RIES, in: ZRG Rom. Abt. 108 (1991), S. 672ff. 26 Nachruf von G. RIES, in: ZRG Rom. Abt. 109 (1992), S. 786ff.; Manfred MÜLLER, in: NDB 20 (2001), S. 270f. 27 So M. SAN NICOLÒ, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1952, S. 164; KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 265; G. RIES, in: NDB 12 (1980), S. 608. 28 P. KOSCHAKER: Keilschriftrecht, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 89, N. F. 14 (1935), S. 1f. 29 K. LUIG, in: M. STOLLEIS (Hg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon, München 1995, S. 351f. Vgl. KOSCHAKER, in: ZRG Rom. Abt. 49 (1929), S. 188f.
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(1850–1934),30 aber erst Koschakers umfassende Rechtsvergleichung und „sein starkes dogmatisches Talent schufen […] das sichere Fundament für die rechtshistorische Deutung des zum Teil sehr spröden Quellenmaterials“.31 Die erste Arbeit Koschakers aus diesem Bereich, das 1911 erschienene Babylonisch-assyrische Bürgschaftsrecht,32 verfolgt ein einzelnes Rechtsinstitut durch die gesamte babylonische Geschichte. Die Rechtsvergleichenden Studien zur Gesetzgebung Hammurapis, Königs von Babylon (Leipzig 1917)33 geben einen Ausschnitt aus den wichtigsten Instituten des altbabylonischen Privatrechts. Koschaker ging es dabei um den Charakter des im Codex Hammurabi vorliegenden Gesetzeswerkes. Er konnte beweisen, daß der Kodex sumerische Gesetze in ihrer ursprünglichen Fassung zusammengestellt, ergänzt und teilweise abgeändert hat.34 Eine zusammenfassende Darstellung der grundsätzlichen Fragen hat Koschaker 1935 in seinem Aufsatz „Keilschriftrecht“35 gegeben; er betrachtet die „Geschichte des Keilschriftrechts, das selbst wieder ein System verschiedener Rechte darstelle“, „als eine selbständige rechtsgeschichtliche Disziplin“ (S. 38). Von Koschakers Arbeiten zum römischen Recht ist neben der Monographie über die Translatio iudicii vor allem der Beitrag zur Festschrift für G. Hanausek (1925) zu erwähnen: „Bedingte Novation und Pactum im römischen Recht“. Das Thema „Unterhalt der Ehefrau und Früchte der dos“ behandelte Koschaker in den Studi Bonfante (IV, 1930, S. 1ff.), die „adoptio in fratrem“ in den Studi Riccobono (III, 1936, S. 359ff.). Aus einem Vortrag ist die Abhandlung „L’alienazione della cosa legata“ hervorgegangen.36 Zu erwähnen sind ferner die Vorträge „Bemerkungen zur Entwicklung der Consolidation im römischen Recht“37 und „Grundstückskauf im Licht der historischen Rechtsvergleichung“.38 Koschaker ist immer wieder zum römischen Recht zurückgekehrt. Von allgemeiner Bedeutung ist die 1937 erschienene Untersuchung „Die Eheformen bei den Indogermanen“,39 wo Koschaker „den organischen Zusammenhang der Kauf30 E. CUQ: Études sur le droit Babylonien, les lois Assyriennes et les lois Hittites, Paris 1929; dazu KOSCHAKER, in: ZRG Rom. Abt. 51 (1931), S. 541ff. – Zu Cuq KOSCHAKER, in: ZRG Rom. Abt. 56 (1936), S. 433ff.; R. DOMINGO, in: R. DOMINGO (Hg.): Juristas universales III, Madrid-Barcelona 2004, S. 598ff. 31 KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 265. 32 Ein Beitrag zur Lehre von Schuld und Haftung (= Festschrift der K. K. Karl-Franzens-Universität in Graz für das Studienjahr 1908/09 aus Anlaß der Wiederkehr des Jahrestages ihrer Vervollständigung), Leipzig-Berlin 1911. 33 Das Buch ist dem Andenken Emil Strohals (†1914) gewidmet; vgl. oben Fn. 6. 34 Vgl. K.-H. BELOW, A. FALKENSTEIN, in: ZRG Rom. Abt. 68 (1951), S. XV. 35 Wie oben Fn. 28, S. 1ff. 36 In: Conferenze Romanistiche, Pavia 1939 (Milano 1940), S. 89ff. 37 Vgl. Studia et Documenta Historiae et Iuris 15 (1949), S. 399. 38 Vgl. Studia et Documenta Historiae et Iuris 16 (1950), S. 471. 39 In: Deutsche Landesreferate zum II. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung im Haag 1937 (= Sonderheft des 11. Jg. der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht), S. 77ff.
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ehe mit einer Reihe von anderen Rechtseinrichtungen aufzeigt“ (S. 79). Posthum erschien die Arbeit „Eheschließung und Kauf nach alten Rechten, mit besonderer Berücksichtigung der älteren Keilschriftrechte“.40 Koschaker ist für eine „vergleichende Rechtsgeschichte“ eingetreten, in der die Rechte der Antike gleichberechtigt nebeneinander stehen (siehe unten Kap. III).41 In einem Vortrag in der Akademie für Deutsches Recht in Berlin hat Koschaker im Dezember 1937 das römische Recht als ein wesentliches Element der europäischen Kultur gegen die Angriffe des Nationalsozialismus verteidigt (siehe unten Kap. IV). Die damals entwickelte Konzeption hat er nach dem Zweiten Weltkrieg seinem Buch Europa und das römische Recht (1947) zugrunde gelegt. Er gibt hier nicht nur eine glänzende Darstellung der Rezeption des römischen Rechts, sondern auch eine Soziologie des Juristenrechts (siehe unten Kap. V).
III. „Antike Rechtsgeschichte“ und historische Rechtsvergleichung Bereits in seiner Wiener Antrittsvorlesung am 26. Oktober 1904 hat Leopold Wenger42 den Gedanken einer „Antiken Rechtsgeschichte“ entwickelt.43 Wenger hat sein Konzept, das vielfach auf Mißverständnis und Ablehnung stieß, wie vor allem bei Ludwig Mitteis,44 immer wieder neu und schärfer formuliert.45 Wengers letzte und abschließende Formulierung findet sich in seinen Quellen des römischen Rechts (Wien 1953), S. 29: Wohl aber halten es die Vertreter einer „Antiken Rechtsgeschichte“ auch auf dem Gebiet von Staat und Recht für zutreffend, daß für die antike Welt nur eine zusammenschauende, die einzelnen nationalen
40 In: Archiv Orientální 18/3 (= Symbolae Hrozný IV, Prag 1950), S. 210ff. 41 Vgl. KOSCHAKER: L’histoire du droit et le droit comparé, surtout en Allemagne, in: Introduction à l’étude du droit comparé. Recueil d’études en l’honneur d’Edouard Lambert I, Paris 1938, S. 274ff.; G. PFEIFER: Keilschriftrechte und historische Rechtsvergleichung – methodengeschichtliche Bemerkungen am Beispiel der Eviktionsgarantie in Bürgschaftsform, in: Sachsen im Spiegel des Rechts. Ius Commune Propriumque. Hg. von A. SCHMIDT-RECLA, E. SCHUMANN, F. THEISEN, Köln-Weimar-Wien 2001, S. 11ff. 42 Siehe oben Fn. 4. 43 L. WENGER: Römische und Antike Rechtsgeschichte, Graz 1905. 44 Antike Rechtsgeschichte und romanistisches Rechtsstudium (Sonderabdruck aus dem 18. H. der Mitteil. des Wiener Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums, Wien u. Leipzig 1917); zu der Kontroverse E. HÖBENREICH: À propos „Antike Rechtsgeschichte“ (oben Fn. 4), S. 547ff., insbes. S. 554ff.; zu L. Mitteis siehe oben Fn. 5. 45 Etwa L.WENGER: Der heutige Stand der römischen Rechtswissenschaft, München 1927, 2. Aufl. München 1970, S. 1ff.; Wesen und Ziele der antiken Rechtsgeschichte, in: Studi Bonfante II (Milano 1930), S. 463ff., insbes. S. 469ff.; Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953, S. 27, Fn. 1; weitere Angaben bei E. HÖBENREICH: À propos „Antike Rechtsgeschichte“ (oben Fn. 4), S. 556, Fn. 36.
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Rechtsgestaltungen auch in der wissenschaftlichen Betrachtung in Beziehung zueinander stellende Forschung ein richtiges Bild von der tatsächlichen Rechtslage aufzuzeigen vermag. Die Antike Rechtgeschichte betrachtet die im Alexanderreich und nachher in noch viel gewaltigerem Umfang im römischen Weltimperium zusammengefaßten Nationen und Staatengebilde bewußt als eine durch den Gang der Geschichte gewordene zusammengehörige Einheit und will die geschichtlich gegebene großartige politische und kulturelle Synthese, die einerseits der Hellenismus und dann dessen Erbe Rom vollzogen haben, auch auf dem Gebiete der Staats- und Rechtsordnung erfassen. Die Antike Rechtsgeschichte will auch für Staat und Recht an Stelle einer ganz unabhängig gesonderten Betrachtung des babylonischen, ägyptischen oder sonst eines orientalischen Rechts einerseits und der Rechte der klassischen Völker anderseits die Feststellung der Beziehungen auch der orientalischen Rechtsordnungen eben zum griechischen und römischen setzen.
Wenger war sich im Klaren, daß es kein antikes Recht, sondern nur Rechte der Antike gibt.46 Er sah aber im Begriff der „antiken Rechtsgeschichte“ mehr als eine bloße Zusammenfassung der verschiedenen rechtshistorischen Forschungsgebiete. „Überzeugt von der inneren Einheit der antiken Kultur, wollte er [Wenger] auch in der Rechtsgeschichte des Altertums einen durchlaufenden Entwicklungsgang erkennen, dessen Endpunkt die justinianische Gesetzgebung als Synthese des klassischen Rechts mit volksrechtlichen und christlichen Elementen aus der östlichen Reichshälfte bilde.“47 Bedenken gegen Begriff und Namen „antike Rechtsgeschichte“ hat Paul Koschaker geäußert.48 Er ist für eine vergleichende Rechtsgeschichte beziehungsweise historische Rechtsvergleichung49 eingetreten. Er nimmt den Standpunkt ein,50 daß es höchst schwierig sei, Rechtsrezeptionen nachzuweisen, wenn der Rezeptionsvorgang erst aus den Rechtssätzen und Rechtsinstituten selbst erschlossen werden muß. Auch eine weitgehende Übereinstimmung in Rechtssätzen zweier Rechte beweise noch gar nichts für 46 Vgl. KOSCHAKER, in: Festschrift Wenger I (1944), S. 8. 47 KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 257f. – Bedenken gegen eine solche von Wenger vertretene Synthese äußert M. KASER: Das römische Privatrecht, Band I, 2. Aufl., München 1959, S. 9f.; vgl. auch W. SELB: Antike Rechte im Mittelmeerraum (oben Fn. 1), S. 47ff. 48 Forschungen und Ergebnisse in den keilschriftlichen Rechtsquellen, in: ZRG Rom. Abt. 49 (1929), S. 188ff., insbes. S. 194ff.; Keilschriftrecht (oben Fn. 28), S. 1ff., insbes. S. 34ff. 49 Vgl. dazu KOSCHAKER: L’histoire du droit et le droit comparé (oben Fn. 41), S. 274ff.; Ders.: Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 113f.; eingehend J. G. LAUTNER: Methoden einer antik-rechtsvergleichenden Forschung, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 47 (1933), S. 27ff.; Ders.: Zur Bedeutung des römischen Rechts für die europäische Rechtskultur und zu seiner Stellung im Rechtsunterricht, Zürich 1976, S. 99ff.; W. ERBE: Der Gegenstand der Rechtsvergleichung, in: Rabels Zeitschrift 14 (1942), S. 196ff., insbes. S. 213ff.; W. KUNKEL: Paul Koschaker und die europäische Bedeutung des römischen Rechts, in: L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, Band I, Milano 1954, S. IIIff.; ZIMMERMANN: „In der Schule von Ludwig Mitteis“ (oben Fn. 5), S. 31ff.; G. PFEIFER: Keilschriftrechte (oben Fn. 41), S. 11ff. 50 Forschungen und Ergebnisse (oben Fn. 48), S. 194ff.
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eine Entlehnung; vielmehr spiele selbständige Parallelentwicklung von Rechtsinstituten eine viel größere Rolle. Koschaker51 hält „unabhängige Parallelgestaltung aus ähnlichen äußeren Bedingungen noch immer für das wahrscheinlichste“. Seine Bedenken gegen die „antike Rechtsgeschichte“ betreffen somit primär die Entlehnungsfrage.52 Besondere Bedeutung behielt für Koschaker die Erforschung einzelner Rechtsinstitute.53 Koschakers Bestreben war es, mit seiner rechtsvergleichenden Forschung die Grundlagen einer Rechtstypologie zu schaffen.54 Einen wohlabgewogenen, vermittelnden Standpunkt vertritt Artur Steinwenter in seinem Nachruf auf Leopold Wenger:55 Aber als heuristisches Prinzip wissenschaftlicher Forschung, das in der antiken Urkundenlehre schon mit Erfolg Verwendung gefunden hat, wird Wengers Theorie [sc. einer „antiken Rechtsgeschichte“] immer ihren Wert behalten, auch neben der Methode der vergleichenden Typenforschung, wie sie Koschaker postuliert hat. Denn immer wird sich jeder Rechtshistoriker, der ein Institut eines antiken Rechts quellenmäßig darstellen will, nicht nur fragen müssen, ob es Parallelerscheinungen dazu in anderen Ordnungen gibt, sondern auch ob wechselseitige Beziehungen oder gar direkte Beeinflussungen möglich und nachweisbar sind.
IV. „Die Krise des römischen Rechts“ Punkt 19 des Parteiprogramms der NSDAP, verabschiedet am 24. Februar 1920, besagte: „Wir fordern Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht.“56 Die deutsche Reichsstudienordnung des Jahres 1935 gestattete anstelle der römischrechtlichen Vorlesungen nur mehr eine „antike oder römische Rechtsgeschichte“. Im Jahre 1937 wurde Koschaker zu einem Vortrag eingeladen, mit dem die Akademie für Deutsches Recht in Berlin eine Serie rechtswis51 52 53 54
Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 114. KOSCHAKER: Keilschriftrecht (oben Fn. 28), S. 36. Vgl. G. PFEIFER: Keilschriftrechte (oben Fn. 41), S. 15. Vgl. A. STEINWENTER: Paul Koschaker zum 70. Geburtstag, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 2 (1949), S. 68. 55 In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1955, S. 161f. – Verteidigt wird Wengers Konzept in jüngster Zeit von E. HÖBENREICH: Der „Königsgedanke“ (oben Fn. 4); vgl. auch G. HAMZA: „Antike Rechtsgeschichte“ und rechtsvergleichende Forschungen auf ethnischer Basis, in: Studia Iuridica Caroliensia I (Budapest 2006), S. 87ff. 56 Vgl. KOSCHAKER: Europa und das römische Recht, München-Berlin 1947, 2. unver. Aufl. 1953; 4. unver. Aufl. 1966, S. 311f.; P. LANDAU: Römisches Recht und deutsches Gemeinrecht. Zur rechtspolitischen Zielsetzung im nationalsozialistishen Parteiprogramm, in: Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, hg. von M. STOLLEIS und D. SIMON, Tübingen 1989, S. 11ff.
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senschaftlicher Vorträge eröffnete. Koschaker sprach über „Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft“ vor einem exklusiv nationalsozialistischen Auditorium.57 Naturgemäß durfte er das Parteiprogramm nicht frontal angreifen, er umging es vielmehr und rollte die Front von hinten auf.58 Er wies auf die parallel zur Rezeption verlaufende Entstehung einer Rechtswissenschaft hin, „die, weil sie sich auf dem römischen als dem Recht des imperium Romanum aufbaute, zur europäischen Rechtswissenschaft wurde“.59 Vortrag und Buch waren jedenfalls „als offenes und leidenschaftliches Bekenntnis zum römischen Recht, dem Fundament der modernen Rechtskultur, ein mutiges Wagnis“.60 Koschaker warnte einerseits vor den Gefahren einer übertriebenen Interpolationenforschung,61 andererseits vor den Gefahren einer einseitigen Historisierung der romanistischen Rechtswissenschaft.62 Das Ziel einer Aktualisierung des römischen Rechts in der Vorlesung könne nur „auf Grund einer systematisch-dogmatischen Darstellung des römischen Privatrechts“ erreicht werden.63
V. „Europa und das römische Recht“ Die von Koschaker bereits in seiner Schrift Die Krise des römischen Rechts (1938) entwickelte Konzeption wurde von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg im Buch Europa und das römische Recht (1947)64 fortgeführt und ausgebaut.65 Koschaker bietet in diesem Werk eine vorzügliche Darstellung der mittelalterlichen Jurisprudenz, der Glossatoren und Kommentatoren, ferner der Humanisten sowie der Rezeption des römischen Rechts im weiten Sinne. Wohl als Erster hat Koschaker die Rezeption des römischen Rechts im gesamteuropäischen Rahmen gesehen und behandelt.66 Die Darstellungen der neueren Privatrechtsgeschichte 57 Vgl. KOSCHAKER: Deutschland, Italien und das römische Recht, in: Deutsches Recht 8 (1938), S. 183f.; Ders.: Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 122f. – Der Vortrag wurde in etwas erweiterter Form publiziert unter dem Titel „Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft“ (= Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Römisches Recht und fremde Rechte, Nr. 1, München-Berlin 1938). Vgl. auch KOSCHAKER: Probleme der heutigen romanistischen Rechtswissenschaft, in: Deutsche Rechtswissenschaft. Vierteljahresschrift der Akademie für Deutsches Recht 5 (1940), S. 110ff. 58 So KOSCHAKER: Selbstbiographie (oben Fn. 1), S. 123. 59 Die Krise des römischen Rechts (oben Fn. 57), S. 17. 60 KUNKEL: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte (oben Fn. 4), S. 266f. 61 Die Krise des römischen Rechts (oben Fn. 57), S. 37ff., S. 43f. 62 Ebenda, S. 50ff.; vgl. LAUTNER: Zur Bedeutung des römischen Rechts (oben Fn. 49), S. 137ff., insbes. S. 150ff. 63 Die Krise des römischen Rechts (oben Fn. 57), S. 78. 64 2., unver. Aufl. München-Berlin 1953; 4. unver. Aufl. 1966. 65 Vgl. dazu die eingehende Besprechung von E. GENZMER, in: ZRG Rom. Abt. 67 (1950), S. 595ff.; KUNKEL: Paul Koschaker (oben Fn. 49), S. VIIIff. 66 Vgl. GENZMER, in: ZRG Rom. Abt. 67 (1950), S. 598.
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von Erich Molitor,67 Franz Wieacker68 und Gerhard Wesenberg69 sind erst einige Jahre später erschienen. Zu Recht schlägt Erich Genzmer in seiner Rezension von Koschakers Buch70 eine schärfere begriffliche und terminologische Unterscheidung zwischen Wiederaufleben, Renaissance des römischen Rechts (wie in Italien, Spanien, Frankreich) und dessen Aufnahme, Rezeption (in Deutschland, Österreich, in den Niederlanden) vor. Koschaker71 unterscheidet zwischen der politischen und der kulturellen Romidee. Die politische Romidee hat in Rom, im Sacrum Imperium Romanum, im Reich der Ottonen und Staufer gewirkt, hat auch die Glossatoren maßgeblich beeinflußt. Die kulturelle Romidee ging darüber hinaus; sie war von Bedeutung für die Einflüsse des römischen Rechts in der Gestalt des Corpus Iuris Civilis auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich. Einen eigenen Abschnitt widmet Koschaker in seinem Buch (S.164ff.) dem Juristenrecht und dem Juristenstand als Träger des Juristenrechts. Er bietet eine Soziologie des Juristenrechts, die aus einer vergleichenden Betrachtung des römischen, anglo-amerikanischen und französischen Juristenrechts gewonnen wird. Auch in Europa und das römische Recht nimmt Koschaker gegen die neuhumanistische Richtung und die einseitige Historisierung des Studiums des römischen Rechts Stellung. Die rechtsgeschichtliche Forschung soll natürlich in keiner Weise beschränkt werden. Seine Kritik (S. 342) richtet sich „nur gegen die Ausschließlichkeit, mit der die neuhumanistische Richtung die historische Betrachtung auf das römische Recht anwendet, weil sie dadurch die Romanistik zu einem Teil der Geschichtswissenschaft macht und so das Gebiet der Rechtslehre verläßt, die durch ihre Interessen an sich und besonders auch beim römischen Recht wegen der Stellung, die sein Studium seit den Glossatoren in einer Jahrhunderte langen Entwicklung eingenommen hat, an das geltende Recht gebunden ist“.
VI. Ehrungen Die hohe internationale Reputation, die Paul Koschaker zukam, zeigt sich in den zahlreichen Ehrungen;72 Koschaker war mehrfacher Ehrendoktor, Dr.iur.h.c. der Univer67 Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, Karlsruhe 1949. 68 Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1952, 2. Aufl. 1967. 69 Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, Lahr/Baden 1954. 70 In: ZRG Rom. Abt. 67 (1950), S. 598. 71 Europa und das römische Recht (oben Fn. 56), S. 3, S. 43ff., S. 79f. 72 Vgl. K.-H. BELOW, A. FALKENSTEIN, in: ZRG Rom. Abt. 68 (1951), S. XVIII.
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sitäten Athen und Freiburg im Breisgau, Dr.phil.h.c. von Graz und Leipzig; er besaß die seltene Würde eines Ehrendoktors der Universität Oxford, hon. D(octor) (of ) C(ivil) L(aw) und war Mitglied der Akademien der Wissenschaften zu Berlin, Mainz und München, auswärtiges Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, korrespondierendes Mitglied der Akademien von Athen, Bologna, Göttingen und Wien, seit 1936 Ehrenmitglied der philosophisch-historischen Klasse der Wiener Akademie, korrespondierendes Mitglied der Vooraziatisch-egyptisch Gezelschaft Ex Oriente Lux (Leiden) und des Riccobono Seminary of Roman Law in America. Seine zahlreichen Freunde und Schüler im In- und Ausland brachten ihm 1939 zur Vollendung des 60. Lebensjahres zwei Festschriften dar.73 Als Gedächtnisschrift erschien 1954 das zweibändige Werk L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker (Milano).
VII. Werke (in Auswahl) Zum römischen Recht: Translatio iudicii, Graz 1905; Bedingte Novation und Pactum im römischen Recht, in: Abhandlungen zur Antiken Rechtsgeschichte. Festschrift für G. Hanausek, Graz 1925, S. 118–158; Unterhalt der Ehefrau und Früchte der dos, in: Studi in onore di P. Bonfante IV (1930), S. 1–27; Adoptio in fratrem, in: Studi in onore di S. Riccobono III, Palermo 1936, S. 359ff.; Die Krise des römischen Rechts und die romanistische Rechtswissenschaft, München-Berlin 1938; L’alienazione della cosa legata, in: Conferenze Romanistiche, Pavia 1939, Milano 1940, S. 89–183; Europa und das römische Recht, München-Berlin 1947; 4. unver. Aufl. 1966. Zum Recht der Papyri: Der Archidikastes. Beiträge zur Geschichte des Urkunden- und Archivwesens im römischen Ägypten, in: ZRG Rom. Abt. 28 (1907), S. 254–305, u. 29 (1908), S. 1– 47. Zu den Keilschriftrechten: Babylonisch-assyrisches Bürgschaftsrecht. Ein Beitrag zur Lehre von Schuld und Haftung, Leipzig-Berlin 1911; Rechtsvergleichende Studien zur Gesetzgebung Hammurapis, Königs von Babylon, Leipzig 1917; Quellenkritische Untersuchungen zu den „altassyrischen Gesetzen“ (= Mitteilungen der VorderasiatischAegyptischen Gesellschaft 26, Heft 3), Leipzig 1921; Hammurabis Gesetz. Bd. VI. Übersetzte Urkunden mit Rechtserläuterungen von P. Koschaker und A. Ungnad, Leipzig 1923; Beiträge zum altbabylonischen Recht, in: Zeitschrift f. Assyriologie 35 (1924), S. 192–212; Neue keilschriftliche Urkunden aus der ElAmarna-Zeit (= Abh. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 39, Nr. 5), Leipzig 73 Festschrift Paul Koschaker mit Unterstützung der Rechts- u. Staatswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität Berlin und der Leipziger Juristenfakultät zum 60. Geburtstag überreicht von seinen Fachgenossen, 3 Bände (Weimar 1939). – Symbolae ad iura orientis antiqui pertinentes Paulo Koschaker dedicatae, quas adiuvante Th. Folkers edid. J. FRIEDRICH, J. G. LAUTNER, J. MILES eq., Leiden 1939.
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1928; Forschungen und Ergebnisse in den keilschriftlichen Rechtsquellen, in: ZRG Rom. Abt. 49 (1929), S. 188 –201; Fratriarchat, Hausgemeinschaft und Mutterrecht, in: Zeitschrift f. Assyriologie 41 (1933), S. 1– 89; Keilschriftrecht, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 89, N. F. 14 (1935), S. 1–39; Eheschließung und Kauf nach alten Rechten mit besonderer Berücksichtigung der älteren Keilschriftrechte, in: Archiv Orientální 18/3 (= Symbolae Hrozný IV, Prag 1950), S. 210–296. Rechtsvergleichung: Zur Geschichte der arrha sponsalicia, in: ZRG Rom. Abt. 33 (1912), S. 383–416; Über einige griechische Rechtsurkunden aus den östlichen Randgebieten des Hellenismus. Mit Beiträgen zum Eigentums- und Pfandbegriff nach griechischen und orientalischen Rechten (= Abh. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 42, Nr. 1), Leipzig 1931; Die Eheformen bei den Indogermanen, in: Deutsche Landesreferate zum II. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung im Haag 1937 (Sonderheft des 11.Jahrgangs der Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht), S. 77–140b.
VIII. Literatur KASER, M.: Grazer Lehrer des römischen Rechts seit der Jahrhundertwende, in: 400 Jahre Akademisches Gymnasium in Graz 1573–1973, Graz 1973, S. 122–125. KOSCHAKER, P.: Leopold Wenger. Ein halbes Jahrhundert rechtsgeschichtlicher Romanistik. Ein Rückblick, in: Festschrift für L. Wenger, München 1944, S. 1–9. KOSCHAKER, P.: Selbstbiographie, in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von N. GRASS, Band II, Innsbruck 1951, S. 105–125. KUNKEL, W.: Paul Koschaker und die europäische Bedeutung des römischen Rechts, in: L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, Band I, Milano 1954, S. III–XII. KUNKEL, W.: Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, in: Geist und Gestalt. Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band I, München 1959, S. 249– 268, insbes. S. 263ff. OBERKOFLER, G.: Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1984, S. 315–318. OBERKOFLER, G.: Die Vertreter des Römischen Rechts mit deutscher Unterrichtssprache an der KarlsUniversität in Prag, Frankfurt am Main 1991, S. 48–51. PFEIFER, G.: Keilschriftrechte und historische Rechtsvergleichung – methodengeschichtliche Bemerkungen am Beispiel der Eviktionsgarantie in Bürgschaftsform, in: Sachsen im Spiegel des Rechts. Ius Commune Propriumque. Hg. von A. SCHMIDT-RECLA, E. SCHUMANN, F. THEISEN, Köln-Weimar-Wien 2001, S. 11–37. RIES, G.: Koschaker, Paul, in: Neue Deutsche Biographie 12 (1980), S. 608f. STEINWENTER, A.: Paul Koschaker zum 70. Geburtstag, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 2 (1949), S. 68. WENGER, L.: Paulo Koschaker Sexagenario, in: Festschrift Koschaker, Band III, Weimar 1939, S. 1–23. WESENER, G.: Römisches Recht und Naturrecht (= Geschichte der Rechtswiss. Fak. der Univ. Graz, T. 1), Graz 1978, S. 112–115. WESENER, G.: Paul Koschaker (1879–1951), in: R. DOMINGO (Hg.): Juristas universales, Band III, Madrid-Barcelona 2004, S. 971–974. ZIMMERMANN, R.: „In der Schule von Ludwig Mitteis“. Ernst Rabels rechtshistorische Ursprünge, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 65 (2001), S. 1–38.
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Nachrufe: BELOW, K.-H., A. FALKENSTEIN, in: ZRG Rom. Abt. 68 (1951), S. IX–XIX. BELOW, K.-H., in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 104 (1954), S. 1– 44 (vollständiges Schriftenverzeichnis S. 31– 44). FRANCISCI, P. de, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris 17 (1951), S. 384–388. GIARO, T.: Aktualisierung Europas. Gespräche mit Paul Koschaker, Genova 2000, Lit. 177–205. Vgl. dazu die sehr scharfe, aber durchaus berechtigte Kritik von F. STURM, in: ZRG Rom. Abt. 120 (2003), S. 352ff.; negativ auch Th. MAYER-MALY, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 70 (2002), S. 179. KLÍMA, J.: Paulo Koschaker, dem Bahnbrecher auf dem Gebiete des Keilschriftrechtes, in memoriam, in: Archiv Orientálni 19 (1951), S. 276–282. KLÍMA, J.: Zur letzten Begegnung, in: L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker II, Milano 1954, S. 595–601. [KOSCHAKER, Paul:] Liste der Werke Koschakers zur orientalischen Rechtsgeschichte in: Symbolae ad iura orientis antiqui pertinentes Paulo Koschaker dedicatae, Leiden 1939, S. 243–246. [KOSCHAKER, Paul:] Paul Koschaker, Gelehrter, Mensch, Freund. Briefe aus den Jahren 1940 bis 1951. Hg. u. eingel. von G. KISCH, Basel-Stuttgart 1970. SAN NICOLÒ, M., in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1952, S. 163–165. SAN NICOLÒ, M., in: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1953, S. 361–367. WENGER, L., in: Iura – Rivista internazionale di diritto romano e antico 3 (1952), S. 491–497.
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Bernd Schilcher Franz Anton von Zeiller als Gesetzgeber und Begründer einer bürgerlichen Rechtskultur
I. Er wäre selbst wohl am meisten überrascht gewesen, hätte man ihn zu seinen Lebzeiten den Begründer einer bürgerlichen Rechtskultur genannt. Denn was Zeiller, der Sohn eines minder begüterten Handelsherrn aus Graz, der erst mit 46 Jahren nobilitiert wurde,1 unter „Bürger“ „bürgerlicher Gesellschaft“ und „bürgerlichem Recht“, verstand, hatte mit unserer heutigen Vorstellung von Bürgergesellschaft wenig zu tun – also mit einer dem Feudalismus entronnenen, vom Staat klar getrennten und dennoch von ihm abhängigen, (begrenzt) autonomen Wirtschaft und Gesellschaft von Privateigentümern, die untereinander im politischen Diskurs stehen.2 Diese Sicht der bürgerlichen Kultur beginnt in Deutschland und Österreich wohl erst mit Hegel. Im zweiten Abschnitt seiner Philosophie des Rechts von 1821, betitelt „Die bürgerliche Gesellschaft“, spricht Hegel von einem „System der Bedürfnisse“ arbeitender und besitzender Privatpersonen, die in klarer Distanz zum Staat leben und für die Abstimmung der Einzelinteressen mit den Gruppen- und Klasseninteressen zuständig sind. „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt; als Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen.“3 Er vertritt bei Hegel das Gemeinwohl. Wobei freilich die rechtliche Qualität des Bürgers einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Der „Civis“ der altrömischen Republik und der griechischen Polis, wie auch sein Nachfolger im französischen „Citoyen“ und im „Citizen“ des englischen und amerikanischen Humanismus, nehmen an der Machtausübung teil. Sie sind Staatsbürger im heutigen Sinn, ausgestattet mit dem aktiven und passiven Wahlrecht – zumindest wenn sie Eigentum nachweisen können. 1 Nämlich am 27. 10. 1797. Siehe J. KUDLER: Nachruf auf F. v. Zeiller, in: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzeskunde, hg. v. V. A. WAGNER, Band III (1828), S. 443ff. 2 So M. RIEDEL: Der Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: Ders.: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1969, S. 135ff.; P. WEINACHT: „Staatsbürger“. Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs, in: Der Staat 8 (1969), S. 41ff.; L. KOFLER: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 7. Aufl., Neuwied-Berlin 1979, insbesondere S. 306ff. 3 G. W. F. HEGEL: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders.: Gesammelte Werke 7, Stuttgart-Bad Cannstatt 1928, S. 262f.
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Dagegen ist der deutsche und österreichische Bürger am Ende des 18. Jahrhunderts, den auch Zeiller als Gesetzgeber anspricht, der bloße Untertane ohne politische Rechte. „Die Subjekte des bürgerlichen Rechts“, sagt Zeiller in seinem Kommentar zum ABGB, „sind die Einwohner des Staates. Unter dem allgemeinen Ausdruck versteht man a) sowohl die einzelnen Untertanen, als auch b) moralische Personen (Gesellschaften) […], ja c) selbst den Beherrscher des Staates […], wenn er zu seinem Privatzweck Rechtsgeschäfte eingeht.“4 Besitzt dieser Untertane auch noch die Staatsbürgerschaft, so erhält er „den vollen Genuß der bürgerlichen Rechte“.5 Und nochmals betont Zeiller in diesem Zusammenhang: „Auch der Landesfürst, als das oberste herrschende Mitglied, ist Staatsbürger.“ 6 Diese Funktion als bloßer Normadressat hat mit dem ideologischen Bürgerbegriff des späteren 19. Jahrhunderts nichts zu tun. Er kennzeichnet nur den Adressaten des positiven allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs. Während sich nämlich das „natürliche Privatrecht“ an jeden Menschen wendet, wenn er ein „vernünftiges, frei handelndes Wesen“ ist,7 hat das ABGB als ein positives Gesetz nur den Staatsbürger im Auge. Plastischer als Zeiller formuliert der von ihm sehr geschätzte Anselm von Feuerbach: „Während der Mensch als Mensch seine Rechte besitzt und erkennt durch Vernunft, ist für den Bürger als Bürger das Positivgesetz die erste und nächste Quelle aller seiner Rechte und Zwangsverbindlichkeiten.“8 Und: „Als Mensch und philosophischer Denker ist er Richter über die Gesetze des Staates; aber als Bürger ist er nur ihr Sklav.“ 9 Diese Unterscheidung von natürlichem Recht und positivem Recht führt freilich nicht zu einem strikten Dualismus. Denn auch das positive Recht wird zwar „unter der Voraussetzung des Staates“ angewendet, ist aber „ebenfalls von der Vernunft gegeben“, wie Zeiller ausdrücklich betont.10 Denn: „Das Recht ist keine Erfindung der Klugheit, keine Geburt der Willkür und Laune. Die allgemeinen Rechtsvorschriften sind uns schon durch die Vernunft gegeben; von dem Gesetzgeber sollen sie auf die mannigfaltigen Verhältnisse und die Geschäfte des bürgerlichen Lebens angewendet und vermittels der Gerichtshöfe in Vollzug gesetzt werden.“11 4 F. v. ZEILLER: Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, Bd. I, Wien 1811, S. 32. 5 So ausdrücklich § 28 ABGB. 6 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 134. 7 So F. v. ZEILLER: Natürliches Privatrecht, 2. Aufl., Wien 1808, S. 5–9, S. 11, S. 23 usw. 8 P. J. A. FEUERBACH: Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft, 1804, Nachdruck samt Vorwort von W. NAUCKE, Darmstadt 1969, S. 38. 9 Ebd., S. 30. 10 In: J. OFNER: Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des ABGB I, Wien 1889, S. 31 (künftig: Prot). 11 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 1.
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Der zweite entscheidende Unterschied zwischen den „bürgerlichen Verhältnissen“ des 18. Jahrhunderts einerseits in Preußen und Österreich, andererseits in Frankreich und England liegt im politischen und sozialen Umfeld des Bürgers. In Frankreich ist es die Republik mit ihrer Verfassung samt Grundrechtskatalog und dem emanzipierten dritten Stand. England wiederum hat nie eine absolute Monarchie gekannt, sondern nur gewisse Prärogativen des Königtums. Seit der Glorreichen Revolution waren Adel und Bürgertum überhaupt nur unscharf voneinander geschieden und bildeten insgesamt eine Gegenmacht zum Herrscher. Es überrascht daher nicht, daß zum Beispiel der einflußreiche schottische Moralphilosoph Adam Ferguson, den auch Zeiller immer wieder respektvoll zitiert, in seinem Essay on the History of Civil Society (1767)12 nicht den Handels- und Wirtschaftsbürger zum Träger der bürgerlichen Gesellschaft macht, sondern die Gentry, also den besitzenden Landadel. Ihm traut er mehr Sinn für das Gemeinwohl zu, in ihm sieht er den Nachfolger des griechischen und römischen Civis.13 Das alles war mit Preußen und Österreich im 18. Jahrhundert nicht vergleichbar. In beiden Ländern herrschten damals zwar aufgeklärte und reformfreudige, aber nichtsdestoweniger absolute Monarchen. Der Feudalismus war keineswegs überwunden und die Standesunterschiede zwischen dem Adel und dem Bürgertum ganz erheblich. Dazu kommt in beiden Ländern eine rückständige, weil immer noch durch Zunftordnungen, Produktionsbeschränkungen und Eingriffe des Herrschers gegängelte Wirtschaft. Erst 1809 ließ in Österreich Kaiser Franz I. durch ein Dekret seinen „allerhöchsten Willen“ verbreiten, daß „bei den Kommerzialgewerben die freie Konkurrenz mit der Entfernung aller ängstlichen Nebenrücksichten standhaft behauptet werde“.14 Von einem „Wirtschaftsliberalismus“ konnte aber auch dann noch keine Rede sein. Dasselbe galt für Preußen, selbst wenn seine Wirtschaft fortschrittlicher war als die österreichische. Es ist daher wenig verwunderlich, daß dort das durchaus aufgeklärt-bürgerliche, allgemeine preußische Landrecht von 1794 kläglich an seiner ständisch-feudalen Umgebung gescheitert ist. Die klaren naturrechtlichen Ziele von Freiheit und Gleichheit waren angesichts der feudalen Adelsvorrechte und eines unterentwickelten Bürgertums schon bald ein Torso.15 „Was für Bemühen kostet es nicht“, schreibt F. J. v. 12 In deutscher Übersetzung A. FERGUSON: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Leipzig 1768, nunmehr herausgegeben und eingeleitet von Z. BATSCHA und H. MEDICK, Frankfurt a. M. 1986. 13 Vgl. ebd.: Versuch, S. 342ff., S. 445. 14 Vgl. J. SLOKAR: Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz I., Wien 1914, S. 135f. 15 So auch D. GRIMM: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 41. Vgl. auch E. Gans, der das Scheitern des ALR auch darin sieht, daß der „Geist der Zeit“ nach einem Bürger verlangte, der „eine freie selbständige an dem Staat teilnehmende Person“ sei. (E. GANS: Über die Untersuchungsmaxime des Preußischen Civilprocesses, in: Ders. [Hg]: Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung, Berlin 1830– 32, S. 450ff.) Umfassend dazu T. WÜRTENBERGER: Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., Tübingen 1991, S. 73ff.
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Hendrich schon 1797, „das gothische Gebäude der Feudalität umzustürzen? Und nach einer Arbeit von Jahrhunderten, um es zu zerstören, sind noch immer so viele Ruinen davon liegen geblieben, daß ihr Schatten die besten Gesetze am Gedeihen hindert.“16 Reussiert hingegen hat der französische Code Napoléon von 1804. Freilich in einer aufgeklärten und durch die Revolution von 1789 gewalttätig „verbürgerlichten“ Umgebung, die von der Theorie der Volkssouveränität geleitet war. Dem kommt zweifellos ein Gesetz sehr entgegen, das ganz entschieden auf dem Prinzip der Freiheit und Gleichheit aufbaut: allgemeine Geltung des Privatrechts ohne Unterschied des Standes, der Religion und des Geschlechts; dazu Privatautonomie, Eigentumsfreiheit und Testierfreiheit.17 Das ABGB von 1811 ist, wie wir noch sehen werden, aus ganz demselben Holz. Wie konnte nun aber ein so bürgerliches Gesetz in einer so „preußischen“ Umgebung bestehen, ohne – wie das ALR – an der feudal-ständischen Sozialstruktur frühzeitig zu zerschellen?
II. Die Antwort auf diese Frage gibt Gelegenheit, den Rechtsphilosophen und Legisten Zeiller, aber auch den Begründer der bürgerlichen Rechtskultur und nicht minder erfolgreichen politischen Taktiker kennenzulernen. Ein Gesetzbuch wie das ABGB, das eine 50jährige Kodifikationsgeschichte aufweist, durchläuft naturgemäß viele Perioden. Diese Perioden haben Namen: die der vier Monarchen Maria Theresia, Josef II., Leopold II. und Franz I.; aber auch der entscheidenden Referenten bzw. Redaktoren wie Josef Azzoni, Johann Bernhard Horten, Wilhelm von Haan, Anton Freiherr von Martini und Franz von Zeiller. Dazu kommen noch eine Reihe von politischen Beamten, an ihrer Spitze Sonnenfels, der nicht nur der am längsten dienende, sondern auch der bedeutendste unter ihnen war. Die wichtigsten Stationen der ABGB-Kodifikationsgeschichte beginnen 1791 mit der Auflösung der alten Kompilationskommission und der Einsetzung der neuen Josephinischen Kommission. Referent wurde zunächst von Haan, Vorsitzender und ent-
16 F. J. v. HENDRICH: Über den Geist des Zeitalters und die Gewalt der öffentlichen Meinung, Königstein 1797, S. 145; Scriptor Reprints, Kronberg 1979. 17 Der Code Civil galt nicht nur in Frankreich und in den linksrheinischen Gebieten, sondern in zahlreichen deutschen Teilstaaten. So in Danzig (1807), im „Königreich Westfalen“ (1808), in Baden (1809), im „Großherzogtum Berg“ (1810) und in den Städten Köln, Leipzig, Halle, Gießen, Göttingen, Düsseldorf, Koblenz und Straßburg. Als Rheinisches Zivilgesetzbuch bleibt es sogar bis zur Einführung des BGB am 1.1.1900 in Geltung. Vgl. H. KASPERS u. a. (Hg): Vom Sachsenspiegel zum Code Napoléon, 2.Aufl., Köln 1965, S. 152ff.
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scheidender Kopf des Unternehmens Martini. Sein Entwurf, den er 1796 vorlegte und der ein Jahr später in Westgalizien „ausprobiert“ wurde, stellt einen völlig neuen Aufbau dar und bedeutet „den Höhepunkt des Naturrechts und der Entwicklung“ in Österreich.18 Martini ging, wie alle Anhänger des Naturrechts, vom Prinzip der individuellen Freiheit aus. Da es in Österreich, anders als in Frankreich, weder eine Verfassung noch einen Katalog von Grundrechten gab, die diese Freiheit sichern halfen, stellte Martini einen solchen Katalog von allgemeinen Menschenrechten kurzerhand als „Einführung“ vor sein Gesetzbuch. In rund 30 Paragraphen wurden das Recht auf Leben, auf Persönlichkeitsentwicklung, auf Eigentum, Vertragsfreiheit, auf Verteidigung sowie auf eine Rechtswegegarantie auch gegen den Landesherrn festgelegt. Ob Martini selbst diesen Vorspann als eine Vermischung von öffentlichem und privatem Recht gesehen hat, ist nicht ganz klar. Und wenn, dann sah er beides unter dem gemeinsamen Staatszweck vereint, der individuellen Freiheit größtmögliche Sicherheitsgarantie zu geben. Aber genau das war politisch nicht mehr opportun. Mit dem Tod Leopold II. im Jahr 1792 endete die österreichische Reformperiode des aufgeklärten Absolutismus, die mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht begonnen hatte und mit so entscheidenden Liberalisierungen wie der Abschaffung der Leibeigenschaft, der Folter und der Todesstrafe, dem Toleranzpatent und der Gründung moderner Einrichtungen der Medizin, der Wissenschaft und Wohlfahrt fortgesetzt worden war. Leopold II. hatte sogar vor, dieses Reformwerk durch eine Verfassung samt Grundrechtskatalog zu krönen. Diese Periode des Fortschritts wurde einerseits durch die Auswüchse der Französischen Revolution, vor allem aber durch den österreichischen Thronwechsel beendet. Unter Leopolds Sohn und Nachfolger setzte abrupt eine lange Periode der Revolutionsangst und der Restauration ein.19 Schon 1794 wurde eine Kommission aus politischen Hofräten eingesetzt, die den Entwurf Martinis bzw. das sogenannte westgalizische Gesetzbuch auf seine politische Verträglichkeit hin überprüfen sollte. Dort stieß man sich sehr rasch am Grundrechtskatalog Martinis, der als überflüssig und bedenklich eingestuft wurde.20 Auch wurde die gefährliche Nähe des Gesetzbuchs zur „Idee vom contractu sociali“ angeprangert. Son18 So M. WELLSPACHER: Das Naturrecht und das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB (künftig: ABGB-FS), Teil I, Wien 1911, S. 179ff. 19 Dabei fehlt es nicht an aufmunternden Zurufen. So riet L. Börne Österreich und Preußen im Namen „des liberalen Geists unserer Zeit“ zu einer umfassenden Verfassungsreform; A. v. Feuerbach sieht in den Begriffen „Verfassung, Organisation, Gesetzgebung“ den „Geist der neuesten Zeit“. Ebenso E. M. Arndt. Aber vergeblich. Vgl. L. BÖRNE: Schüchterne Bemerkungen über Preußen und Österreich (1818), in: Gesammelte Schriften, hg. von A. KLAAR, Leipzig 1899, Bd. I, S. 45ff., S. 47f.; A. v. FEUERBACH: Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft (1810), in: Kleine Schriften vermischten Inhalts, Nürnberg 1833, S. 152ff., S. 173; E. M. ARNDT: Geist der Zeit, 2. Aufl., London-Berlin 1807. 20 Vgl. zu dieser „Wende“ WELLSPACHER: Das Naturrecht (Anm.18), S. 179ff.; S. ADLER: Die politische
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nenfels, bislang glühender Anhänger der Reform, wechselte rasch seine Position und „schwang sich auf die Woge der Revolutionsfurcht“:21 Man habe in Frankreich gesehen, „wie der Haufe die ihm unbehutsam angebotenen Sätze von Menschenrechten, von Freiheit und Gleichheit versteht und kommentiert“. Das seien für die Untertanen nur Anreize zu „verwegenen Vernünfteleien“.22 Tatsächlich wollte Sonnenfels seinen eigenen politischen Kodex an die Stelle des Grundrechtskatalogs von Martini setzen. Dieser sollte freilich nicht die Reform, sondern die Stärkung der Staatsmacht und die Rückkehr zur absoluten Monarchie ohne Grund- und Freiheitsrechte bringen.23 Auf Martinis Beschwerde hin, daß die politischen Räte seinen Entwurf nicht nur prüften, sondern abändern wollten, wurde er 1797 abgelöst und eine „gemischte Kommission“ eingesetzt, in die nunmehr der Lieblingsschüler Martinis, Zeiller, als Referent einzog. Zeiller stand sofort vor der Alternative, den drohenden „politischen Katechismus“ Sonnenfels’ zu akzeptieren und damit das ganze gesetzgeberische Werk der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit zu gefährden, oder auf den Grundrechtskatalogs seines Vorgängers Martini zu verzichten. Er entschied sich für letzteres und stellte selbst den Antrag, die 30 Paragraphen der Einführung zu streichen. Das fiel ihm letztlich umso leichter, als er im Hinblick auf drei wesentliche Grundsätze, die hinter dieser „Einführung“ Martinis standen, mit seinem Lehrer ohnedies nicht einer Meinung war. III. Der erste Punkt betraf die wichtige Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral, der zweite den Rechtsbegriff selbst, und der dritte schließlich das Verhältnis von privatem und öffentlichem Recht. Martini schrieb bekanntlich in § 1 seines Entwurfs: „Recht ist alles, was an sich selbst gut ist, was nach seinen Verhältnissen und Folgen etwas Gutes enthält oder hervorbringt und zur allgemeinen Wohlfahrt beiträgt.“ Zeiller hielt dies für die Auffassung des „älteren Naturrechts“. Später nannte man es das „vorkritische“. Unter dem Eindruck Kants lehnte Zeiller diese Auffassung kategorisch ab. Das Recht habe nicht das Sittengesetz zu verwirklichen. Das sei auch gar nicht mög-
Gesetzgebung in ihren geschichtlichen Beziehungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, in: ABGBFS (Anm.18), S. 110ff. 21 D. GRIMM: Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: W. SELB, H. HOFMEISTER (Hg.): Forschungsband Franz von Zeiller (1751–1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte (= Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten, XIII), Wien-Graz-Köln 1980, S. 94ff., S. 97. 22 So bei ADLER: Die politische Gesetzgebung (Anm. 20), S. 115f. 23 GRIMM: Recht und Staat (Anm.15), S. 220.
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lich, „weil der Mensch oft ein Recht zu einer Handlung habe, die unsittlich ist“.24 Als Beispiele führt Zeiller an, daß jedermann sein Eigentum zerstören dürfe, sein Vermögen verschleudern und unmäßig leben könne; daß es ihm erlaubt sei, hohe Zinsen zu verlangen und einen „dürftigen Schuldner“ zu exekutieren.25 Wer solches tue, habe zwar die Vorwürfe „seines Gewissens und Gottes Gericht“ zu fürchten, nicht aber den Arm des Gesetzes.26 Das Recht im strengen Sinne sei eine Einschränkung der Freiheit auf diejenigen Handlungen, mit denen die freie Tätigkeit aller anderen vereinbar ist.27 Das entspricht ganz der Kantschen Auffassung von Recht28 und führt, worauf Mayer-Maly aufmerksam gemacht hat, zur Parömie „in dubio pro libertate“.29 Mit dieser Auffassung lehnt Zeiller letztlich auch den Rechtsbegriff Martinis ab, zunächst einmal schon in seiner ontologischen Begründung. Für Martini ist das Gute auch das Richtige und somit die Grundlage unserer Pflichten: Das Sein begründet das Sollen.30 Ganz anders sieht es Zeiller. Bei ihm steht nicht das Gute im Vordergrund, sondern die Freiheit als ein „Urrecht des Menschen“.31 Sie ist keine Eigenschaft der Vernunft, sondern eine Existenzweise jeder vernunftbegabten Person.32 „Der Mensch“, sagt Zeiller, „hat das Vermögen, nach Vernunft zu wollen und zu handeln, er hat freie Willkür, Freiheit.“33 Vernünftige Wesen sind daher Selbstzweck und haben die Fähigkeit, selbst Zwecke zu setzen und Sachen als Mittel zur Ausführung dieser Zwecke zu gebrauchen. Dieser Zugang zum Rechtsbegriff bedeutet, daß Zeiller Recht nicht primär als Pflicht, wie Martini, sieht, sondern als eine Befugnis. „Das Recht (subjektiv) als Befugnis einer Person“, schreibt Zeiller, „ist das Vermögen zu rechtlichen Handlungen, i.e. zu allen, aber auch nur zu denjenigen Handlungen, bei denen ein geselliger Zustand äußerlich frei tätiger Wesen stattfinden kann.“34 Martini hingegen betont den Pflichtcharak-
24 25 26 27
28 29 30 31 32 33 34
ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 21. Prot I (Anm. 10), S. 14. ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 63. Prot I (Anm. 10), S. 13; ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 8; F. v. ZEILLER: Abhandlung über die Principien des ABGB für die gesamten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, Wien 1815– 1820; Bd. II, 1816, S. 169. (Nachdruck, herausgegeben von W. BRAUNEDER, Wien 1986) Siehe G. LUF: Freiheit und Gleichheit, Wien u.a. 1978; E. SWOBODA: Das ABGB im Lichte der Lehre Kants, Graz 1926, S. 23ff., S. 30ff. T. MAYER-MALY: Zeiller, das ABGB und wir, in: Forschungsband Franz von Zeiller (Anm. 21), S. 1ff., S. 4. So ausdrücklich auch B. SCHMIDLIN: Der Begriff der bürgerlichen Freiheit bei Franz v. Zeiller, in: Forschungsband Franz von Zeiller (Anm. 21), S. 192f. ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 59. SCHMIDLIN: Forschungsband Franz von Zeiller (Anm. 21), S. 197. ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 6. Ebd., S. 9.
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ter des Rechts. Er folge aus dem natürlichen Streben aller Wesen nach dem Guten und nach Vollkommenheit. Wer danach strebt, hat ganz bestimmte Pflichten.35 Das sind nun keineswegs nur theoretische Spielereien. Vor allem bei den „erwerblichen Rechten“ wird der Unterschied praktisch. Für Martini folgt die Begründung des Eigentumsrechts aus der Rechtspflicht jedes Menschen zur Selbsterhaltung.36 Diese Pflicht gehört zu den zahlreichen weiteren Pflichten jedes Menschen, die aus seinem Zweck, die „Vollkommenheit durch das Gute“ zu erreichen, folgen.37 Tatsächlich rechtfertigt eine solche Pflicht aber in keiner Weise die Aneignung und den ausschließlichen Gebrauch von Sachen; sie bietet dieser Aneignung auch nur unsichere Grenzen. Warum sollen A, B und C auf Eigentum verzichten müssen, weil zum Beispiel D zur Selbsterhaltung und zur „Erreichung seiner Vollkommenheit“ einen besonders großen Teil an sich gezogen hat? Dasselbe gilt für den Besitz der Sachen. Auch hier vermag die Selbsterhaltungspflicht vielleicht ein Existenzminimum zu rechtfertigen, keinesfalls aber mehr. Eine solche Beschränkung lag aber kaum in der Absicht Martinis. Für Zeiller folgt daher auch hier das Recht auf Besitznahme grundsätzlich aus der Befugnis jedes Menschen zur Selbstbestimmung. Jedes vernünftige Wesen hat ein „Urrecht“, sich herrenlose Sachen (nullius dominii) anzueignen und zu gebrauchen.38 Was den Umfang dieses Sacherwerbs anlangt, so ist dieser bei Zeiller prinzipiell eingeschränkt. Er verweist dafür ausdrücklich auf seinen eingangs formulierten „Hauptgrundsatz“: Jedermann kann sich demnach so viel aneignen, daß sein Erwerb mit den Erwerbungen der anderen vereinbar bleibt.39 Dann stimmt „seine Verfahrensart mit dem Rechtsgesetz überein“. Womit also der „Rechtsgrund der ursprünglichen Erwerbung […] teils (subjektiv) in dem Urrechte der Persönlichkeit und Selbstbehauptung40 teils (objektiv) in der Herrenlosigkeit des Gegenstandes“ gelegen ist. Natürlich kennt auch Zeiller Rechtspflichten. Sie sind für ihn aber nicht das Primäre, sondern bloß die Folge der naturgemäß zwangsweisen Durchsetzung der subjektiven Rechte des Einzelnen. „Als sinnlichvernünftiges Wesen behauptet er [der Mensch] mit Grund den rechtlichen Freiheitsgedanken; er fordert mit Zwang, daß er darin nicht beschränkt werde. Er muß aber denselben Freiheitsgrad jedem anderen Menschen als gleichfalls sinnlichvernünftigem Wesen zugestehen. Diese Schuldigkeit nennt man eine Rechtspflicht.“ Und wiederum: „Das oberste Gesetz für Rechtspflichten sagt demnach
35 So auch SCHMIDLIN: Forschungsband Franz von Zeiller (Anm. 21), S. 197f. 36 C. A. v. MARTINI: Lehrbegriff des Naturrechts: Neue vom Verfasser selbst veranstaltete Übersetzung seines Werks „De lege naturali positiones“, Wien 1799; Neudruck Aalen 1970, S. 46. 37 Ebd., S. 23. 38 ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm.7), S. 59, S. 81. 39 Ebd., S. 81. 40 Ebd., S. 59.
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aus: Unterlass alle Handlungen, wodurch die rechtlich freie Wirksamkeit anderer beeinträchtigt wird.“ 41
IV. Überaus bedeutsam sind schließlich die Auffassungsunterschiede zwischen Martini und Zeiller bezüglich der Trennung des privaten vom öffentlichen Recht. Martini sah beide Varianten des Rechts im gemeinsamen Staatszweck vereint, nämlich die Freiheit des Einzelnen zu sichern. Dem diente sowohl das ABGB als privates Gesetzbuch, als auch der Grundrechtskatalog in Gestalt eines öffentlich-rechtlichen Vorspanns zum bürgerlichen Gesetzbuch. Diese Auffassung mutet im Grunde durchaus modern an. Auch heute pflegen private Rechte wie das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf Leben und Gesundheit, auf Eigentum und Privatautonomie durch Kataloge von Menschenrechten abgesichert zu werden. Freilich außerhalb des Privatrechts, in den jeweiligen Verfassungsurkunden eines Staates oder zumindest in gesonderten meist verfassungsrechtlichen Gesetzen. Solche Verfassungen und Grundrechtskataloge hatten jedoch schon im ausgehenden 18. Jahrhundert durchwegs einen anderen Zweck. Sie sollten hauptsächlich die Machtfülle des absoluten Staates beschränken und eine ganze Reihe von Angelegenheiten aus seiner Fürsorge herausnehmen. Wirtschaft und Gesellschaft wurden solcherart zu autonomen Bereichen, die vom Staat abgekoppelt erschienen. Gleichzeitig durfte der Einzelne eine Reihe von neuen Tätigkeiten frei entfalten und selbst seine sozialen Beziehungen, die bisher obrigkeitlich gestaltet waren, nach eigenem Willen einrichten. Die konkrete Aufgabe, dem Einzelnen einen rechtlichen Rahmen seiner privaten Tätigkeit zu geben und dafür zu sorgen, daß die Grenzen zwischen den subjektiven Rechten der Einzelnen abgesteckt und gesichert wurden, fiel dem bürgerlichen Recht zu. Und freilich, soweit damit staatlicher Zwang verbunden war, auch dem Staat. Da diese privaten (Freiheits)Rechte an der Person des einzelnen Bürgers anknüpften und nicht an seinem sozialen Status, mußte das Privatrecht allgemeine Geltung über die Standesgrenzen hinaus beanspruchen. Es mußte ein allgemeines bürgerliches Recht werden – also antifeudal, antiständisch und gegen alle Privilegien und Sonderrechte. Der Staat wiederum brauchte nicht mehr von oben herab für die soziale Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen. Durch die natürliche Gesetzmäßigkeit der liberalen Gesellschaft würde sich nach allgemeiner Meinung die soziale Gerechtigkeit gleichsam von selbst einstellen.42
41 Ebd., S. 11. 42 GRIMM: Recht und Staat (Anm. 15), S. 192ff.
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Tatsächlich zeigte es sich, daß eine bürgerliche, oder auch bürgerlich-adelige Gesellschaft, wie beispielsweise die englische, selbst ohne Grundrechte, allein auf der Basis eines liberal-aufgeklärten Privatrechts existieren konnte. Dabei spielte die Glorreiche Revolution eine geringe Rolle. Denn die Rechte der englischen Bürger blieben auch nach 1688 mit dem Common Law identisch. Neu war nur ihre verstärkte politische Mitwirkung. So konnten die Bürger nötigenfalls Statutargesetze im Parlament beschließen, die ein möglichst staatsfreies Wirtschaftssystem gewährleisteten. Das Privatrecht selbst wurde dadurch nicht berührt. Diese Situation ist mit der österreichischen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, wie schon gesagt, nicht vergleichbar. Politisch kehrte man hierzulande zur absoluten Monarchie zurück; der wirtschaftliche Freiraum war ziemlich gering und ein selbstständiges Bürgertum existierte bestenfalls in jenen Ansätzen, die das ständischfeudale System zuließ. In dieser Lage wollte Zeiller offensichtlich retten, was zu retten war: nämlich ein prinzipiell „allgemeines“, der Freiheit und Gleichheit verpflichtetes Bürgerliches Recht, das – wie der Code Civil – den natürlichen Grundsätzen eines aufgeklärten und kritischen Naturrechts entsprach. Das wichtigste Instrument dieses Rettungsversuchs war das öffentliche Recht. Nach Zeillers Plan sollte es alle jene Materien aufnehmen, die sich als Gefährdung des freiheitlichen ABGB herausstellten: in erster Linie den Grundrechtskatalog Martinis, dessen drohende Ersetzung durch einen reaktionären politischen Vorspann Sonnenfels’ verhindert werden mußte. Doch sollte das öffentliche Recht noch mehr bewirken. So ordnet zum Beispiel §13 ABGB an, Privilegien und Sonderrechte weiterhin durch „politische Verordnungen“ aufrecht zu erhalten. Ebenso sollten das gesamte Gewerberecht, aber auch das Handelsrecht und alle Lehns- und Standesrechte ins öffentliche Recht transferiert werden, wie schließlich auch die Privatrechte des Militärs und die „politischen Kameral- und Finanzgegenstände“.43 Das Ergebnis war ein gereinigtes allgemeines Privatrecht, oder anders ausgedrückt: ein liberaler Fremdkörper im feudalständischen Umfeld nebst Zunftzwang, Nutzungs-, Produktions- und Verteilungsbeschränkungen in der Wirtschaft. Als Teilungsformel zwischen privatem und öffentlichem Recht benützte Zeiller die alte Regel, wonach das Privatrecht nur für die Verhältnisse der Untertanen „unter sich“ zuständig war, das öffentliche hingegen für das Verhältnis der Untertanen zur Obrigkeit. Derartige „politische“ Bestimmungen hatten in einem Privatrechtsgesetzbuch keinen Platz.44 43 Vgl. das Kundmachungspatent vom 1. 6. 1811, abgedruckt in: H. KLANG, F. GSCHNITZER: Kommentar zum ABGB, Bd. I/1, 2. Aufl., Wien 1964, S. 25f. 44 Prot I (Anm.10), S. 6ff.; GRIMM: Recht und Staat (Anm. 15), S. 218; M. BULLINGER: Öffentliches Recht und Privatrecht, Stuttgart 1968, S. 37ff.
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Sie widersprachen nicht zuletzt auch dem von Zeiller so bezeichneten Grundsatz der „Eigentümlichkeit“ des Privatrechts. Privatrecht soll nur Privates regeln. Für Zeiller war das preußische ALR ein abschreckendes Beispiel: Daß dieses auch alles Staatsrecht, Verwaltungs- und Polizeirecht in einem Gesetzbuch vereinigt hatte, führte nach Zeillers Überzeugung zu einer „verkünstelten Architektur“ und letztlich mit zum Scheitern des Gesetzbuchs.45 Bei Zeiller selbst geht der Unterschied freilich noch tiefer. Das hängt mit seinem Rechtsbegriff zusammen. Da das bürgerliche Recht nur die Aufgabe hat, die Freiheit aller Bürger miteinander vereinbar zu machen, können seine Regeln im Großen und Ganzen ohne Eingriffe des positiven Gesetzgebers allein durch die Vernunft gefunden werden. Damit setzt das bürgerliche Recht den Staat nur in sehr geringem Umfang voraus: Der greift ein, wenn es die besonderen Verhältnisse der Staatsbürger unbedingt notwendig machen, er verleiht dem Gesetzbuch seine Geltung, und er garantiert die Rechtsdurchsetzung mit Hilfe unabhängiger Gerichte.46 „Wir denken uns in einem Zivilgesetzgeber nicht einen Schöpfer, sondern einen Erklärer der von der Vernunft gegebenen Rechte.“47 Dagegen verwirklicht nach Ansicht Zeillers das öffentliche Recht nicht die natürliche Vernunft, sondern die ständig wechselnden Staatszwecke und Ansichten des Herrschers. Auf diese Weise entsteht ein Wesensunterschied zwischen privatem und öffentlichem Recht. Würde man das bürgerliche Recht mit dem öffentlichen vermischen – wie das nach Zeillers Auffassung Martini mit seinem Grundrechtskatalog getan hat –, könne das erstere „leicht ein ebenso schwankendes, von dem Winke der obersten Macht abhängiges Ansehen“ erhalten wie das öffentliche.48 Darunter würde vor allem die Rechtspflege leiden, die auf Kontinuität ausgerichtet sei.
V. Mögen diese Argumente Zeillers auch sehr prinzipiell angelegt sein, sie erfüllten bei ihm zusätzlich einen taktischen Zweck. Mit seinem Antrag, den „öffentlich-rechtlichen“ Vor45 Auch der König selbst (Friedrich Wilhelm II.) meinte, daß „das Staatsrecht und die Regierungsform aus einem Gesetzbuch über das Privatrecht herausgenommen werden müssten“. Zitiert nach A. VOIGT: Gesetzgebung und Aufklärung in Preußen, in: H. J. SCHOEPS (Hg.): Zeitgeist der Aufklärung, Paderborn 1972, S. 139ff., S. 145. Immerhin weist das ALR 16.000 Paragraphen aus, gegenüber 1.502 im ABGB, 2282 im Code Napoléon und 2385 im BGB. 46 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 1. 47 F. v. ZEILLER: Jährlicher Beytrag zur Gesetzeskunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten, Bd. I, Wien 1806, S. 51; vgl. auch Prot I (Anm. 10), S. 6. 48 ZEILLER: Gesetzeskunde I (Anm. 47), S. 52.
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spann Martinis zum bürgerlichen Gesetzbuch zu streichen, erreichte Zeiller, daß auch Sonnenfels aufgab. Das ABGB blieb rein, unpolitisch und grundrechtsfrei. Letzteres freilich nur äußerlich. Denn in Wahrheit verfolgte auch Zeiller, wie vor ihm schon Martini, ein stark ideologisches Programm, nämlich Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit mit Hilfe des ABGB durchzusetzen. Dies alles unter der Theorie eines universalen Privatrechts.49 Ein solches Programm ist zweifellos ein wesentlicher Teil bürgerlicher Rechtskultur im heutigen Sinne. Freilich nur ein Teil. Was fehlt, ist das demokratische Element als Ausfluß der alten Lehre von der Volkssouveränität. Mitbestimmende und gestaltende Bürger gab es in Österreich lange Zeit hindurch nicht. Man könnte überspitzt von einer bürgerlichen Rechtskultur ohne Bürger sprechen. Je deutlicher es für Zeiller wurde, daß Menschenrechte und Verfassung, politische Rechte der Bürger und eine wirklich freie Wirtschaft und Gesellschaft unmittelbar nicht erreichbar waren, desto intensiver widmete er sich den verbleibenden Elementen der bürgerlichen Rechtskultur: der Freiheit und Gleichheit – und vor allem auch der Rechtsstaatlichkeit. Die Freiheit ist für Zeiller ein Urrecht des Menschen. Er selbst nennt das ABGB ein „Gesetzbuch, worin die Freiheit der Person und des Eigentums zum Hauptgegenstand gemacht wird“.50 „Freie Tätigkeit“, sagt Zeiller vor der Hofkommission am 21.12.1801, „ist das Streben jedes vernünftigen Wesens.“ Ohne sie gebe es keine Zufriedenheit und keine Glückseligkeit. Doch ist Zeiller gleichzeitig auch um Gleichheit bemüht. Das beginnt schon bei der Geltung des Gesetzbuchs. Als allgemeines bürgerliches Recht gilt es auch allgemein – somit für alle Untertanen „ohne Unterschied des Geschlechts, des Ranges oder des Religionsbekenntnisses“.51 „Es ist“, sagt Zeiller „kein rechtlicher Grund vorhanden, warum Rechte der Untertanen verschieden sein sollten.“ Diese Rechtsgleichheit bezieht sich auch auf die Art, Güter zu erwerben, die persönliche Sicherheit, die Ehe und das Eigentum, handle es sich nun um die „untersten Bürgerklassen“ oder die „ersten, mächtigsten und angesehensten Stände“. In einer solchen Gleichheit liege „eine unerläßliche Grundbedingung des Staatsvereins“.52 Durch solche Proklamationen wird natürlich die Realität der ständischen Sozialordnung ignoriert. Mit Standesrechten, sagt Zeiller, habe „das Privatrecht nichts zu schaffen, indem 49 50 51 52
So ausdrücklich auch GRIMM: Staat und Recht (Anm. 15), S. 221. ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. III, S. 187. Ebd., Bd. I, S. 177. Prot I (Anm. 10), S. 6; vgl. auch ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 70ff.; „Sie (die Gleichheit) lehrt uns, in jedem Menschen, so niedrig seine Lage in dem bürgerlichen Leben sein mag, die Menschheit zu ehren, in als ein moralisches Wesen unverletzbar und heilig zu achten.“
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es sich seiner Natur nach auf solche Rechte beschränkt, welche allen Mitgliedern, unbeschadet jeder Verschiedenheit, auf gleiche Weise offen stehen können und sollen“.53 Wo das ABGB tatsächlich in Kollision mit der ständischen Ordnung oder dem politischen System kommen konnte, wurden diese Störungen einfach auf die politische Gesetzgebung verwiesen: so beispielsweise in § 13 ABGB bezüglich aller Privilegien und Sonderrechte, in § 359 das Lehensrecht betreffend; in § 761 für das bäuerliche Erbrecht; in § 1146 für das grundherrlich-bäuerliche Verhältnis; in § 1160 für den Gesindevertrag, und so weiter.54 Freilich ist Zeiller kein Phantast. Die Behauptung einer „gänzlichen Gleichheit der Rechte“ erscheint ihm sogar „ganz widersinnig“.55 „Gleichheit der Rechte in dem Sinn, daß […] der Unfähige, der Träge, der Verdienstlose ebenso viel als der Fähige, der Emsige, der Mann von Verdiensten besitzen soll, ist eine unsinnige und höchst widerrechtliche Forderung.“ Sie erscheint ihm wie die Behauptung, daß deshalb, weil alle Menschen einen Leib haben, auch alle Menschen „dieselbe körperliche Beschaffenheit, die ganz gleiche Gesichtsbildung und Gesichtsfarbe“ haben müßten.56 Tatsächlich folgt Zeiller mit dieser Auffassung ein weiteres Mal seinem Vorbild Kant, der alle Standesschranken zwar strikt ablehnte, andere Unterschiede in der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich anerkannte.57 Nur die Geburt als Differenzierungsgrund wird von Kant und Zeiller nicht vertreten. Damit nähert sich Zeiller aber bereits dem modernen Gleichheitssatz, nach welchem eben nur Gleiches gleich zu behandeln ist, während im übrigen nach dem „Ausmaß der Unterschiede“ differenziert werden muß. Ob und in welchem Umfang dabei die persönliche Leistung, der Besitz, die Bildung und andere Kriterien eine Rolle spielen sollen, wird von Zeiller nicht näher ausgeführt. Höchst bedeutsam ist, daß Zeiller bei der formalen Gleichheit nicht stehen bleibt. Vielmehr interveniert er an vielen Stellen des Gesetzbuches ganz im Sinne eines modernen „Schwächeren-Schutzes“. In diesem Punkt unterscheidet sich das ABGB nachhaltig von anderen Gesetzbüchern, vor allem vom deutschen BGB aus dem Jahr 1900. Ganz allgemein wehrt sich Zeiller zunächst entschieden gegen „Billigkeitsentscheidungen“ im Recht, weil man sonst „den Armen vor dem Reichen, den Mindermächtigen vor dem Mächtigeren und so weiter zu begünstigen“ habe. „Wohltaten“ solcher Art zu verteilen, sei aber nicht Aufgabe des bürgerlichen Rechts, und „ein Gerichtshof ist keine Behörde der Wohltätigkeit“.58 „Allein“, fährt Zeiller fort, „es gibt eine Ungleich-
53 ZEILLER: Gesetzeskunde I (Anm. 47), S. 41. 54 Einen vollständigen Überblick über die „politischen Verweisungen im ABGB“ gibt R. v. MAYR: Das bürgerliche Gesetzbuch als Rechtsquelle, in: ABGB-FS I (Anm. 18), S. 386ff. 55 ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 71. 56 Ebd., S. 72 in der Fußnote. 57 I. KANT: Gesammelte Werke, Bd. IV, hg. von W. WEISCHEDEL, Darmstadt 1964, S. 146ff. 58 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 69f.
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heit der Verhältnisse im bürgerlichen Leben, die leicht zur Überlistung und Unterdrükkung anderer gemißbraucht werden kann, und die der Gesetzgeber durch seine Fürsorge, daß alle gleichen Schutz der Rechte genießen, ausgleichen muß.“59 Diese ausgleichende Fürsorge muß von Gesetzes wegen „den Mindermächtigen, der sein Recht in seiner Lage zu bewahren nicht vermag gegen die Unterdrückung der Überlegenen“ schützen. Gemeint ist dabei „der besondere Schutz der Ungeborenen, der Minderjährigen, Verstandlosen, Abwesenden, der Gemeinden udgl“.60 Besondere Mittel dieses Schutzes sind nach Zeillers Ansicht „die Bestimmung des Preises der Lebensmittel und der rechtlichen Zinsen, sowie die Ungültigkeitserklärung verschiedener in einer Zwangslage geschlossener Verträge“.61 Auch im besonderen Teil des ABGB kehrt der Schwächeren-Schutz immer wieder. So hält Zeiller im Vertragsrecht die Vorstellung, daß „minderscharfsinnige Parteien gegen Überlistungen sicher zu stellen“ sind, für einen „Hauptsatz über die Gültigkeit der Verträge“;62 im Schenkungsrecht wiederum sei der Gesetzgeber zur „Fürsorge“ verpflichtet, „die Einwohner sicher zu stellen“, daß sie nicht ihre Güter „zum eigenen und der nächsten Angehörigen Verderben an andere, zumal an Unwürdige, verschleudern“.63 Beim Pfandvertrag schließlich entwickelt das ABGB bereits einen ganz modernen Konsumentenschutz. In den §§ 1371 und 1372 sind eine Reihe von „Nebenbedingungen“ des Pfandvertrags ungültig, weil sie „auf eine offenbare Verkürzung oder Bedrückung des einen oder anderen Teiles abzielen“.64 Dazu gehören die Abreden, „daß nach der Verfallzeit der Schuldforderung das Pfandstück dem Gläubiger zufalle; daß er es nach Willkür, oder in einem schon im Voraus bestimmten Preise veräußern, oder für sich behalten könne; daß der Schuldner das Pfand niemals einlösen, oder ein liegendes Gut keinem anderen verschreiben dürfe“. Ebenso ungültig ist der Nebenvertrag, der dem Gläubiger die Fruchtnießung der verpfändeten Sache einräumt. Durchgehender Grund für die Ungültigkeit solcher Verträge ist die typisch „verdünnte Willensfreiheit“ des Pfandschuldners, der dringend Geld braucht und daher erfahrungsgemäß zu allen möglichen Vereinbarungen bereit ist. Heute kennen praktisch alle Privatrechte solche Einschränkungen der Privatautonomie. Aus § 1310 ABGB, der die Schadenersatzpflicht eines Deliktsunfähigen unter anderem ausdrücklich von seinem „Vermögen“ abhängen läßt, kann ein allgemeines Scha-
59 60 61 62 63 64
Ebd., S. 70. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 71. ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. III, S. 187. Ebd., S. 190. ZEILLER: Commentar (Anm. 4), Bd. IV, 1813, S. 47.
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denstragungsprinzip abgeleitet werden, das heute in Gestalt der Haftpflichtversicherung umfassende Gültigkeit beansprucht.65 Dem hochliberalen deutschen BGB in seiner Grundfassung sind alle diese Überlegungen vollkommen fremd. Daher kann man das ABGB auch schwerlich als „liberales“ Gesetzbuch bezeichnen. Es ist zweifellos ein antifeudales, bürgerliches Gesetzbuch, das liberale Gedanken vertritt, die im Freiheitspathos des Naturrechts wurzeln.66 Letztlich sucht es aber einen Ausgleich zwischen liberalen und sozialen Ideen und kommt damit, wie wir noch sehen werden, einem modernen, auf Pluralität bedachten Privatrecht bereits sehr nahe.
VI. Wie ist es nun um die Rechtsstaatlichkeit des ABGB bestellt? Gemeint ist freilich: aus der Sicht von heute, denn der Begriff der Rechtsstaatlichkeit war dem 18. Jahrhundert nicht geläufig. Man könnte zunächst meinen, daß das bürgerliche Recht grundsätzlich nicht der richtige Ort für die Anwendung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips sei, weil sich dieses in der Forderung nach Legalität der öffentlichen Verwaltung erschöpft. Und in der Tat wird die Gleichsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Legalitätsprinzip im Sinn des Art 18 B-VG von der älteren österreichischen Verfassungslehre bis in die jüngste Zeit herauf vertreten.67 Heute wird die Rechtsstaatlichkeit erheblich umfassender gesehen.68 Zu ihren wesentlichen Elementen gehört die Volkssouveränität,69 die Gesetzesbindung, der Schutz von Grundrechten, die Existenz unabhängiger Gerichte, effiziente Rechtsschutzeinrichtungen, die Rückführbarkeit von Rechtsakten auf Gesetze und mittelbar auf die Verfassung, die Bestimmtheit, Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Rechtsnormen sowie schließlich die Grundsätze des „fair trial“.70
65 Siehe den Überblick bei Ch. v. BAR: Das „Trennungsprinzip“ und die Geschichte des Wandels der Haftpflichtversicherung, in: Archiv für die zivilistische Praxis 181 (1981), S. 289. 66 So auch MAYER-MALY: Zeiller (Anm. 29), S. 10 unter Zitierung Caronis. 67 Vgl. W. ANTONIOLLI, F. KOJA: Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Wien 1996, S. 125f.; Art 18 (1) B-VG lautet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden.“ 68 Vgl. vor allem T. ÖLLINGER: Verfassungsrecht, 5. Aufl., Wien 2003, S. 73f., S. 81ff. 69 Art 1 B-VG: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus.“ 70 Unabhängigkeit der Richter, Einführung der republikanischen Regierungsform oder der „Universalmonarchie“, politische Rechte des Bürgertums und eine „ausgleichende Annäherung zwischen den Ständen“, sei eine Forderung des Zeitgeistes von 1780–1800, meinte E. Brandes; E. BRANDES: Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808, S. 21, S. 80, S. 186 und S. 191.
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Bei aller Verschiedenheit des öffentlichen und des privaten Rechts sowohl damals als auch heute, lassen sich doch eine Reihe von rechtsstaatlichen Bezügen des alten ABGB erkennen. So wird das bürgerliche Gesetzbuch als positives Gesetz gesehen, das dem Einzelnen Befugnisse einräumt, „wonach ein Bürger von einem oder mehreren seiner Mitbürger eine Handlung oder Unterlassung zu fordern und vermittels des Gerichtshofs zu erzwingen befugt ist“.71 Solcherart gibt auch das ABGB jedenfalls Richtlinien des Handelns an, die so klar, bestimmt und verständlich sein müssen, daß sie für sich allein oder mit Hilfe der Interpretationsregeln der §§ 6 und 7 ABGB von Gerichten unschwer durchgesetzt werden können. Damit sind aber schon mehrere Elemente der Rechtsstaatlichkeit in den Blick gerückt: so die Existenz von Gerichten, die einen wirksamen Rechtsschutz ermöglichen; die Klarheit, Bestimmtheit und Verständlichkeit der gesetzlichen Anordnungen, die nötig ist, um – letztlich im Wege eines Urteils – eindeutige Handlungsanleitungen für die Bürger zu geben. Zeiller selbst hielt die Grundsätze der Klarheit, Bestimmtheit und Verständlichkeit für wesentliche legistische Prinzipien. Denn: „Die Kenntnis der Gesetze hängt von ihrer Deutlichkeit und Bestimmtheit ab.“ Und: „Rechte und Rechtspflichten müssen, um sich in der Wechselwirkung darauf berufen zu können, erkennbar sein (non esse ed non apperere est idem in iure).“72 Diese Bestimmtheit und Verständlichkeit muß nicht nur für den „vollendeten Rechtsgelehrten“ zutreffen und den „gebildeten Bürger“, sondern sogar für den „Bürger von schlichtem Verstand“.73 Dieser sollte sich zumindest „bei einfachen Rechtsgeschäften über seine Rechte und Verbindlichkeiten aus dem Gesetzbuch belehren“ können.74 Zeiller nimmt aber für das ABGB auch in Anspruch, daß es „vollständig“ ist. Es gibt seiner Überzeugung nach erschöpfend Auskunft über die bürgerlichen Rechte. Diese Vollständigkeit kann freilich „nie durch eine, auch noch so ausgedehnte, ängstliche Kasuistik, worin man jeden einzelnen Fall buchstäblich entschieden finden soll […] erreicht werden.“75 Kein Gesetzgeber der Welt sei in der Lage, jeden denkbaren Fall im voraus zu erkennen und zu regeln. Daher wird der „süße Traum eines vollständigen, alle Fälle bestimmt entscheidenden Gesetzbuchs endlich wohl allgemein verschwunden“ sein.76 Vollständigkeit erreicht man nach Zeiller vielmehr durch ein „tief durchdachtes, 71 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 31f. 72 Ebd., S. 34. 73 Ebd., S. XIIf., S. 34: „Für den Bürger von schlichtem Verstand soll auch der Text die einzige Anleitung in seinen gewöhnlichen Rechtsgeschäften sein; tiefe Erörterungen verwirren ihn, und in verwickelten Rechtsfällen muss er bei Sachverständigen Rat einholen.“ 74 ZEILLER: Probe eines Kommentars über das neue ABGB, in: F. v. ZEILLER: Jährlicher Beytrag (Anm. 47), Bd. IV, Wien 1809, S. 68, S. 72. 75 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 21f. 76 ZEILLER: Natürliches Privatrecht (Anm. 7), S. 39.
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aber einfaches (von allen gelehrtem Prunk gereinigtes) System“ von allgemeinen Rechtsgrundsätzen77 und dadurch, daß man „den Richtern die Freiheit einräumt, gehaltvolle, allgemeine Vorschriften nach vernünftigen Auslegungsregeln anzuwenden und wenn auch diese sie verlassen sollten, nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen der Vernunft, die keinen Rechtsfall unentschieden läßt, zu erkennen (§§ 6–8 ABGB)“.78 Unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie auch unter den natürlichen Rechtsgrundsätzen der Vernunft versteht Zeiller „unveränderliche Regeln“, die schon durch die Vernunft einleuchten.79 Sie alle zusammen bilden ein System der natürlichen Rechte, das in sich stimmig ist.80 Die positiven Gesetze freilich können „einseitige, in das System nicht einpassende Abänderungen“ enthalten, insbesondere dann, „wenn die Grenzen der mannigfaltigen Zweige der Gesetzgebung nicht genau abgesteckt und daher häufige Kollisionen der verschiedenen, dieselben verwaltenden Behörden zu besorgen sind; wenn das bürgerliche Gesetzbuch von mehreren Mitarbeitern zerstückelt oder vereinzelt und von bloßen Rechtsgelehrten ohne Beratschlagung mit Geschäftsmännern […] bearbeitet wird; dann läßt sich freilich ein Einklang der Gesetze nimmer mehr erwarten“. Doch bleibt in solchen Fällen immerhin die Hoffnung, daß man durch „strenge Sorgfalt auf systematische Einheit der Gesetzgebung“ wieder weiter kommt.81 Wie man das alles generell und grundsätzlich erreichen kann, erörtert Zeiller in einem späteren Rückblick auf seine legistische Tätigkeit. Seiner Meinung nach muß man die unklaren Regeln des positiven Rechts einmal auf ihren Zweck hin untersuchen und zum anderen auf „leitende Prinzipien“ zurückführen, die den Gesetzen zugrunde liegen.82 Was sind nun solche „leitenden Prinzipien“? Zeiller nennt in seiner Abhandlung eine erkleckliche Anzahl solcher Prinzipien. Den absoluten Schutz des Eigentums beispielsweise, die Anerkennung des freien Willens bei Verträgen und das Prinzip der Vertragstreue. Auffällig ist, wie oft Zeiller in bestimmten Rechtsgebieten gleich auf mehrere, bisweilen sogar widersprüchliche Prinzipien zurückgreift. So hebt er beispielsweise neben „dem Willen des Erblassers“ die Familienerbfolge hervor, die „das Band der Freundschaft oder Verwandtschaft unter den Familienmitgliedern enger knüpft“,83 und schließlich den Grundsatz des Pflichtteils.
77 78 79 80 81 82 83
ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. XIII. ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. I, S. 172f. ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 21. Ebd., S. 19, wo Zeiller das Recht „als Ausspruch der Vernunft“ bezeichnet. Ebd., S. 20f. ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. I, S. 167. Ebd., Bd. II, S. 192.
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Noch deutlicher wird die Idee einer Kombination von Prinzipien bei der Erklärung des gutgläubigen Erwerbs (§ 367 ABGB). Zeiller will hier gleich vier Elemente verbinden: Die Sicherheit des Verkehrs, den (subjektiven) Vertrauensschutz und die gesetzliche Reaktion auf die Unvorsichtigkeit und Sorglosigkeit des Eigentümers, sowie die Einschränkung dieses Grundsatzes auf den entgeltlichen Erwerb.84 Den „Schwächeren-Schutz“ bei Verträgen mit Personen, die im Rechtsverkehr typisch unterlegen sind, haben wir als Gegenprinzip zur Privatautonomie bereits erörtert. Im Schadenersatz werden schließlich sogar fünf Prinzipien zur Kombination angeboten: das Verschulden „als oberstes Prinzip“;85 die Haftung der „Verstandlosen“, die sich vor allem auf deren Vermögen gründet;86 das Proportionalitätsprinzip, wonach bei grobem Verschulden volle Genugtuung, bei leichter Fahrlässigkeit hingegen nur „eigentliche Schadloshaltung“ geschuldet wird;87 das Zufallsprinzip, das den Geschädigten seinen Schaden prinzipiell selbst tragen läßt (§ 1311 ABGB), sowie schließlich das Prinzip der Solidarhaftung bei mehreren Schädigern, das im Zweifel gilt.88 Ich habe schon einmal festgestellt, daß sich dieser „Prinzipienkatalog“ Zeillers erstaunlich weitgehend mit den modernen Rechtsprinzipien Franz Bydlinskis deckt, die dieser in einer bewundernswerten und in jeder Hinsicht eindrucksvollen Darstellung entwickelt hat.89 Doch geht diese Übereinstimmung noch weiter und überschreitet dabei sogar die Grenzen von Rechtskulturen. So hat der US-Amerikaner M. Bayles gezeigt, daß auch das Common Law eine ganze Reihe von „Principles“ kennt, die gleichfalls recht häufig in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen.90 Wie zum Beispiel Bydlinski und Zeiller das „Prinzip der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“ dem „Konsumentenschutzprinzip“ gegenüberstellen, so konfrontiert auch Bayles sein „Principle of Freedom“ mit einem „Principle of Public Limits“. Zeillers „Hauptgrundsatz der Rechtslehre“, daß die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit aller übrigen Staatsbürger vereinbar sein muß, der unter anderem auch im Eigentumsrecht des ABGB positiviert wurde,91 findet sich in einer ganz ähnlichen Formulierung bei Bayles: „Ownership should be exclusive to the extent compatible with similar exclusivity of others.“ 84 Siehe dazu H. HOFMEISTER: Die Rolle Zeillers bei den Beratungen zum ABGB, in: Forschungsband Franz von Zeiller (Anm. 21), S. 117. 85 ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. IV, S. 173. 86 Ebd., S. 174. 87 Ebd. 88 ZEILLER: Abhandlung (Anm. 27), Bd. V, S. 174. 89 F. BYDLINSKI: System und Prinzipien des Privatrechts, Wien u.a. 1996. 90 M. BAYLES: Principles of Law. A Normative Analysis, Dordrecht u.a. 1987. 91 Vgl. § 364 (1): „Überhaupt findet die Ausübung des Eigentumsrechts nur insofern statt, als dadurch (nicht) in die Rechte eines Dritten ein Eingriff geschieht.“
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Ähnlich wie schon Zeiller kennt auch Bydlinski eine ganze Reihe von Schadenersatzprinzipien, so den Grundsatz des „Schadensausgleichs“, der „Schadensverursachung“, des „Verschuldens“ und der „Vermögensabwägung“. Bayles wiederum faßt diese Prinzipien in ein einziges „Principle of Compensation“ zusammen: „People should be compensated for their losses by those whose activities produced the harms and who either could have conducted the activities without producing them or are able to spread the costs.“ Das Proportionalitätsprinzip Zeillers, das ein angemessenes Verhältnis zwischen Haftungsgrund und Haftungsumfang verlangt, wird bei Bydlinski zu einem Grundsatz der „Verhältnisrechnung“ zwischen den Haftungsgründen auf Seiten des Schädigers und jenen auf Seiten des Beschädigten. Aber auch Bayles kennt das „Principle of apportionment“: „Parties should ultimately be liable for damages in proportion to their responsibility for the harm.“
VII. Daß Zeiller – ganz im Gegensatz zum späteren Hochliberalismus des deutschen BGB – fast nie ein einziges Prinzip auf einem Rechtsgebiet allein „regieren“ läßt, hat seinen Grund in einer legistischen Maxime, die Zeiller das Prinzip der „unterschiedlichen Bedürfnisse“ nennt. Er weiß, daß er ein Gesetzbuch für einen Vielvölkerstaat vorlegt, mit unterschiedlichen Kulturen, divergierender Geschichte und stark abweichenden äußeren Bedingungen. „Allein die Verschiedenheit des Klimas, der Bevölkerung, Verfassung und Kultur, der Grad der religiösen, sittlichen und politischen Aufklärung, die herrschende Erziehungsart und Beschäftigung, der Gemüts-Charakter und Wohlstand der Einwohner, kurz die Verschiedenheit der äußeren und inneren Verhältnisse begründet auch eine Verschiedenheit der Rechtsverhältnisse, nach welchen die darauf sich beziehenden Gesetze modifiziert werden müssen. Solche Modifikationen muß „ein weiser Gesetzgeber bei Abfassung eines Gesetzbuches stets vor Augen haben“.92 Heute würden wir sagen, Zeiller hat die Pluralität der bürgerlichen Gesellschaft zu berücksichtigen versucht, ein Unterfangen, das juristisch nur mit einer „kombinierenden Methode“ bewältigt werden kann.93 So „kombiniert“, wie wir gesehen haben, bei92 ZEILLER: Commentar I (Anm. 4), S. 23. 93 So ausdrücklich F. BYDLINSKI: Die „Elemente“ des beweglichen Systems: Beschaffenheit, Verwendung und Ermittlung, in: B. SCHILCHER, P. KOLLER, B. C. FUNK (Hg.): Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000, S. 9ff., der die „Pluralität der Elemente“ hervorhebt; zuvor schon B. SCHILCHER: Gesetzgebungstheorie und Privatrecht, in: G. WINKLER, B. SCHILCHER: Gesetzgebung. Kritische Überlegungen zur Gesetzgebungslehre und Gesetzgebungstechnik (= Forschungen aus Staat und Recht, 50), Wien-New York 1981, S. 35ff., wo dem beweglichen System Wilburgs vor allem auch die Fähigkeit attestiert wird, „die neue gesellschaftliche Pluralität“ zu bewältigen: S. 51ff. Vgl. neuerdings auch B. SCHIL-
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spielsweise § 367 ABGB das Prinzip des (subjektiven) Vertrauensschutzes und des (objektiven) Prinzips der Verkehrssicherheit mit dem Entgeltgrundsatz einerseits sowie dem Schutzverlust wegen der Sorglosigkeit des ursprünglichen Eigentümers.94 Wer zum Beispiel bei einem Kunsthändler als „befugtem Gewerbsmann“ ein teures Bild kauft, das der Entlehner des Bildes dort vorübergehend ausstellen wollte, der wird Eigentümer. Denn für ihn spricht sein guter Glaube an die Verkaufsbefugnis des Händlers und der objektive Verkehrsschutz: Es wäre sehr belastend, müßte jeder Käufer eines Bildes detektivische Nachforschungen über seine Herkunft anstellen, bevor er es von einem offiziellen Händler kaufen darf. Hinzu kommt, daß man dem ursprünglichen Eigentümer vorhalten kann, er habe sein teures Bild auf eigenes Risiko verliehen. Und zur Beruhigung: Vom Entlehner und unter Umständen auch vom Händler bekommt der ursprüngliche Eigentümer seinen Schaden immerhin in Geld ersetzt. Das deutsche BGB hingegen zerteilt diese Einheit willkürlich in zwei gegensätzliche Regeln. § 932 schützt allein das subjektive Vertrauen: Eigentümer wird, wer eine Sache gutgläubig vom Nichteigentümer erwirbt. § 935 wiederum will das genaue Gegenteil. Demnach sind gestohlene, verlorene oder sonst abhanden gekommene Sachen kein Gegenstand des gutgläubigen Erwerbs. Beide Anordnungen schießen über das Ziel. So genügt der gute Glaube allein praktisch nie – das heißt, ohne objektiven Verkehrsschutz und den Vorwurf gegen den ursprünglichen Eigentümer. Umgekehrt verhindert die bloße Tatsache, daß eine Sache ohne den Willen des Eigentümers an den Nichtberechtigten gelangt, den gutgläubigen Erwerb nicht in jedem Fall. Ersteht zum Beispiel jemand einen gestohlenen Ring in einer öffentlichen Versteigerung, so gehört er ihm. Und zwar deshalb, weil hier der gute Glaube gemeinsam mit dem gesteigerten Verkehrsschutz einen ausreichenden Grund für den Erwerb darstellt. Ganz allgemein folgt daraus, daß derjenige Gesetzgeber, der grundsätzlich mit unterschiedlichen Verhältnissen rechnet, also mit einer prinzipiellen Vielfalt von Interessen und gesellschaftlichen Wertungen und für sie auch in der Regel mehrere Rechtsprinzipien zur Lösung aufkommender Probleme bereithält, einer „monistischen Sicht“, die stets nur von einem Entweder/Oder ausgeht, überlegen ist. Das zeigt sich auf allen Gebieten. Testierfreiheit und Familienerbfolge stehen sich, wie Zeiller darlegt, nicht unversöhnlich gegenüber, sondern lassen sich über den Kom-
CHER: Skizzen einer Strukturtheorie der Rechtsgewinnung, in: Privatrecht und Methode. Festschrift für Ernst A. Kramer, hg. von H. HONSELL, Basel 2004, S. 31ff. 94 § 367 ABGB lautet: „Die Eigentumsklage findet gegen den redlichen Besitzer einer beweglichen Sache nicht statt, wenn er beweist, daß er diese Sache entweder in einer öffentlichen Versteigerung oder von einem zu diesem Verkehre befugten Gewerbsmanne, oder gegen Entgelt von jemandem an sich gebracht hat, dem sie der Kläger selbst zum Gebrauche, zur Verwahrung, oder in was immer für einer anderen Absicht anvertraut hatte.“
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promiß des Pflichtteils ohne weiteres kombinieren.95 Ebenso soll das Prinzip des Verschuldens nicht gegen jenes der objektiven Haftung ausgespielt werden, sondern in Abstimmung mit diesem fließende Übergänge erzeugen. Ein Reiter, dem zum Beispiel das Pferd durchgeht, erzeugt eine hohe objektive Gefährlichkeit, die schon für sich allein, also ohne den Vorwurf eines Verschuldens des Reiters, für eine Haftung ausreicht. Bewegt sich das Pferd hingegen vorschriftsmäßig, so genügt die dadurch erzeugte geringere Gefährlichkeit nicht: Dem Reiter muß für eine Haftung noch zusätzlich zumindest leichte Fahrlässigkeit angelastet werden können. Dieses Ergebnis entspricht nicht zuletzt dem von Zeiller hervorgehobenen Prinzip der Proportionalität: Nur wenn der Haftungsgrund oder die Haftungsgründe ein bestimmtes Gewicht erreichen, können sie die Haftung in ihrem Umfang rechtfertigen.
VIII. Es zeigt sich sohin, daß Zeillers ABGB viel „moderner“ ist als das um beinahe 100 Jahre jüngere deutsche BGB. Das liegt nicht zuletzt auch am divergierenden Richterbild der beiden Rechtsordnungen. Für Zeiller und seine Zeit ist der Richter ein „Gesetzgeber“ im Einzelfall, der Recht gestaltet und dazu an die Anordnungen des positiven Gesetzes, aber auch an allgemeine Rechtsgrundsätze und an die „natürlichen Prinzipien der Vernunft“ gebunden ist; moderner ausgedrückt: an „überpositive“ Wertungen und Richtlinien. Ganz anders die deutsche, pandektistische Sicht des Richters als „Mund des Gesetzes“ (Montesquieu).96 Demnach ist er eine Subsumtionsmaschine, die nur nach den Regeln der logischen Deduktion funktioniert: Der rechtliche Obersatz wird mit dem realen Sachverhalt als Untersatz konfrontiert und ergibt nach dem modus barbara die Schlußfolgerung. Diese Vorstellung führt zwangsläufig zu immer ausführlicheren, „geschwätzigeren“ Gesetzen, die oft schon dem „Erlaßstil“ der Einzelverfügung in der Eingriffsverwaltung nahekommen und solcherart eine Vollständigkeit und Lückenlosigkeit des Gesetzes vortäuschen, über die Zeiller, wie wir sahen, nur spotten konnte: über den „ausgeträumten“ Traum vom Gesetzbuch aller klar entschiedenen Fälle.
95 Niels Bohr spricht im Zusammenhang mit der Quantenphysik nicht von „Kombination“, sondern von „Komplementarität“: Er versucht, die gegensätzlichen Standpunkte der Wellentheorie und der Partikeltheorie, die jeweils allein nicht imstande sind, die Quantenphysik zu erklären, im Sinne eines komplementären Verhältnisses zueinander fruchtbar zu machen. Siehe N. BOHR: Quantum Postulate and the Recent Development of Atomic Theory, in: Nature 121 (1928), Nr. 580. 96 Siehe R. OGOREK: Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986; ebenso W. FIKENTSCHER: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976, S. 272, S. 282.
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Nachdem die meisten Rechtsordnungen Europas mit Ausnahme des englischen Common Law diesen Stil der Gesetze bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts übernommen hatten, kehren wir seit einiger Zeit wieder zum Ausgangspunkt der Zeillerschen Prinzipienlegistik zurück. In der Europäischen Union erweist sich die offene „Richtlinie“ als die geschmeidigere Alternative zur detailverliebten „Verordnung“. Sie schafft Spielräume für unterschiedliche Umsetzung und Abwägung im Einzelfall. Der EuGH selbst geht in seiner Judikatur von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ aus, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.97 Und in der neueren europäischen Rechtsliteratur findet man immer häufiger „Prinzipien eines europäischen Haftpflichtrechts“, „Allgemeine Grundsätze des europäischen Vertragsrechts und Geschäftsführungsrechts“ und ähnliches mehr.98 Gleichzeitig wird die logische Struktur der „Rechtsprinzipien“ im Vergleich zu den „Rechtsregeln“ geklärt99 und auch die Rechtsvergleichung und das Internationale Privatrecht auf die Ebene der Rechtsgrundsätze gehoben.100 Diese wachsende Vorliebe für Rechtsprinzipien mag äußerlich mit der Entwicklung Europas zu einer Art Vielvölkerstaat zusammenhängen, wie ihn auch Zeiller für das ABGB am Ende des 18. Jahrhundert vorfand. Doch hat sich zudem die Einstellung zur Legalität geändert. Je komplexer die rechtlichen Sachverhalte in der nationalen und transnationalen Pluralität werden, desto mehr Abwägungsspielraum wird für den Einzelfall gefordert. Diesen Spielraum erreicht man aber nur in der Welt der Prinzipien, nicht in der der minutiösen Regeln. Da diese Entwicklung auch vor dem öffentlichen Recht nicht haltmacht – Stichwort: Finale Programmierung statt Konditionalprogramme –, muß die Vorstellung von lückenlosen Gesetzen auch dort aufgegeben werden. Dadurch wird die heutige Sicht der Rechtsstaatlichkeit als (verfassungs-)gesetzliche Determinierung der einzelnen Rechtshandlungen ähnlich offen und prinzipienorientiert, wie dies zur Zeit Zeillers üblich war. 97 Art. 288 EGV; siehe auch R. E. PAPADOPOULOU: Principes généraux du droit et droit communautaire origine et concrétisation, Athen 1996. 98 Siehe die bislang 8 Bände der Serie Principles of European Tort Law, herausgegeben vom European Center of Tort and Insurance Law – ECTIL zwischen 1996 und 2004. 99 R. DWORKIN: The Model of Rules, in: University of Chicago Law Review 34 (1967), S. 14; R. ALEXY: Theorie der Grundrechte, Baden-Baden 1985, S. 81, S. 125, S. 146; A. FALZEA: I principi generali del diritto, in: Rivista di diritto civile I (1991), S. 455ff.; W. ENDERLEIN: Abwägung in Recht und Moral, Freiburg i.B.-München 1992; S. JACOBY: Allgemeine Rechtsgrundsätze. Begriffsentstehung und Funktion in der europäischen Rechtsgeschichte, Freiburg i.B. u.a. 1997; F. BYDLINSKI: Fundamentale Rechtsgrundsätze, Wien u.a. 1988; E. A. KRAMER: Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze – Versuch einer Strukturierung, in: Im Dienste der Gerechtigkeit. Festschrift für Franz Bydlinski, hg. von H. KOZIOL und P. RUMMEL, Wien u.a. 2002, S.197ff. 100 Siehe beispielsweise das Konzept des „Transnationalen Rechtspluralismus“ bei G. TEUBNER: Globale Bukowina, in: Baseler Schriften zur europäischen Integration 21 (1996) und KRAMER: Funktion (Anm. 99), S. 211ff.
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D. Grimm hat schon vor einiger Zeit die „Fernwirkung der Zeillerschen PrivatrechtsKodifikation“ hervorgehoben101 und gemeint, daß das ABGB zwar nicht unmittelbar, aber doch „sozialprophetisch“ für die Zukunft gewirkt habe. Das heißt, das Gesetzbuch mußte zwar bis 1867 auf eine verfassungs- und grundrechtliche Absicherung und bis 1918 auf einen voll funktionierenden Parlamentarismus warten, um seinen eigenen Anspruch auf ein „allgemeines“ bürgerliches Recht auch real einlösen zu können; bis dahin war es durch das von Zeiller propagierte „öffentliche Recht“ im Sinne von Zunftund Standesordnungen, Bindungen an Grund und Boden, Produktions- und Verteilungsbeschränkungen der Wirtschaft an einer solchen allgemeinen Geltung in der täglichen Wirklichkeit gehindert. Aber die naturrechtlichen Maximen der Freiheit und Gleichheit im ABGB erwiesen sich auch schon im 19. Jahrhundert als eindrucksvolle Versprechen für eine künftige demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung.102 War Zeiller durch die restaurativen politischen und sozialen Bedingungen unter Franz I. an der Verwirklichung einer echten Bürgerbeteiligung im Sinne von Demokratie und Volkssouveränität gehindert, so erwiesen sich seine intensiven Arbeiten an der – ebenso bürgerlichen – Idee der Rechtsstaatlichkeit im Sinne einer Bindung richterlicher Rechtsgestaltungen an allgemeine Rechtsgrundsätze von zukunftsweisender Bedeutung. Der Legist Zeiller ist solcherart auch und gerade heute noch eine bedeutsame Quelle juristischer und rechtstheoretischer Erkenntnis. Soferne schließlich Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit wichtige Elemente einer bürgerlichen Rechtskultur aus heutiger Sicht sind, darf man den großen Grazer Juristen getrost ihren österreichischen Begründer nennen.
101 GRIMM: Recht und Staat (Anm. 15), S. 227. 102 Weitere Elemente der bürgerlichen Rechtskultur des 19. Jahrhunderts sind die Verrechtlichung und Professionalisierung der Rechtsberufe. Vgl. Ch. DIPPER (Hg.): Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert, Professionalisierung und Verrechtlichung in Deutschland und Italien, Berlin 2000. Daneben hebt J. Messner noch die „Gleichberechtigung von Eigentum und Arbeit“ und die „Internationalisierung“ als wesentliche Teile der Rechtskultur hervor; J. MESSNER: Kulturethik und Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Nachdruck der Ausgabe von 1954, München 2001, S. 375f.
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Franz Bydlinski Walter Wilburg (1905 –1991) *
Wilburg war ein großer Rechtsgelehrter mit allen äußeren Attributen eines solchen. Das gilt schon für die rasche Karriere: Dem Studium besonders bei Armin Ehrenzweig in Graz, wo ihn sein Vater Max Wilburg, zugleich Praktiker und Universitätsprofessor, schon frühzeitig für das Zivilrecht interessierte, folgte der Beginn der eigenen wissenschaftlichen Arbeit bei dem berühmten Rechtsvergleicher Ernst Rabel in Berlin, die frühe Habilitation bei Oskar Pisko in Wien und alsbald die Grazer Ehrenzweig-Nachfolge als junger Extraordinarius. Krieg und Naziherrschaft ließen den nicht anpaßbaren und daher mißliebigen Gelehrten unter anderem Erfahrungen als einfacher Volkssturmsoldat sammeln. Nach Kriegsende wurde er Ordinarius und hatte als mehrfach gewählter Dekan, als Rektor und Senator, aber vor allem kraft seiner Persönlichkeit und seines Einsatzes entscheidenden Anteil am Wiederaufbau seiner Fakultät und Universität. Die Details dieser Arbeit sind heute kaum mehr glaublich: Es fehlte an allem. Dementsprechend allumfassend war die Zuständigkeit etwa des Dekans, die daher zum Beispiel die Beschaffung von Papier oder Heizmaterial einschloß. Seiner Grazer Fakultät ist er trotz wiederholter auswärtiger Berufungen, unter anderem nach Prag, Wien und Göttingen, stets treu geblieben. Auch noch nach seiner Emeritierung hat er dort Seminare gehalten. 1. Aber zurück zu den Anfängen: Zwei Landschaften hat sich Walter Wilburg stets in besonderer Weise verbunden gefühlt: der steirischen Heimat, in deren Hauptstadt er am 22. Juni 1905 geboren ist, und dem Kärntner Bergland, an das ihn weit zurückreichende verwandtschaftliche Beziehungen binden. Kindheits- und Jugendjahre verlebte er im Schutz eines hochgebildeten, weltoffenen Hauses, das den einzigen Sohn des nachmaligen Präsidenten der Finanzprokuratur in glücklicher Weise erzog und bildete. Der Matura am Lichtenfels-Realgymnasium in Graz folgte das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten in Graz und Wien – Lehrjahre, in denen Wilburg hervorragende Gelehrte hörte; auch vom Vater, der nebenamtlich Privatdozent, später tit. ao. Universitätsprofessor für Zivilrecht in Graz war, ist ihm manches juristische Problem geöffnet worden. Mit der Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaften Ende des Jahres 1928 begann eine weitere Studienzeit, verbunden mit Aufenthalten im Ausland, *
Die folgende Darstellung ist im Wesentlichen eine Kombination aus der – anonym erschienenen – Einleitung zur Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wilburg, Graz 1965, und aus meinem Nachruf, erschienen in Juristische Blätter 1991, S. 776f.
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insbesondere in Italien und Frankreich, Ländern, denen Wilburg, ebenso wie ihren Rechtsordnungen, stets besonders nahe stand.1 Nach der Promotion und kurzer Gerichtspraxis ging Wilburg nach Berlin und fand dort Anschluß an das Max-Planck-Institut für Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung und an dessen hochangesehenen Leiter, den berühmten Romanisten, Dogmatiker und Rechtsvergleicher Ernst Rabel, der sein eigentlicher Lehrer wurde. In der geistig ungeheuer anregenden Atmosphäre des damaligen Berlin und des Instituts setzte alsbald mit Nachdruck die eigene wissenschaftliche Arbeit ein. Es lag nahe, daß Wilburg zur Mitarbeit an dem Rechtsvergleichenden Handwörterbuch eingeladen wurde. Sein erster Beitrag war die Darstellung des „Wildschadens“ in diesem Handwörterbuch (IV, 1933, S. 108ff.). Schon sie gehört einem Rechtsbereich an, der später eines seiner Hauptarbeitsgebiete werden sollte: dem Schadenersatzrecht. Noch vor dem Erscheinen des erwähnten und eines weiteren Artikels im Handwörterbuch hat Wilburg seine erste große Arbeit publiziert, mit der er sich auch habilitierte: „Zur Lehre von der Vorteilsausgleichung“ (Iherings Jahrbücher 82, 1932, S. 51ff.). Die Arbeit untersuchte in rechtsvergleichender und dogmatischer Methode einige zentrale Probleme des Schadenersatzrechts und brachte bereits reichen, bis heute wirksamen Ertrag: Begründet wird hier vor allem die grundsätzliche Lösung des Problems der Vorteilsausgleichung, wonach der aus der schädigenden Handlung dem Verletzten (zugleich) entstandene Vorteil den Beschädiger nicht entlastet, wenn der Schaden nicht aus der Welt geschafft, sondern nur auf einen Dritten überwälzt wird; eine Lösung, von der Selb viel später feststellen sollte, sie habe sich in der deutschen Lehre und Rechtsprechung durchgesetzt. Dogmatisch außerordentlich fruchtbar war dabei die Erkenntnis, daß die bishin völlig getrennt behandelten Probleme der Vorteilsausgleichung und des Drittschadens engstens zusammenhängen: Mußte man vorher bei Ablehnung der Vorteilsausgleichung die kaum verständliche Figur eines Schadenersatzanspruches ohne Schaden hinnehmen, so zeigte Wilburg, daß eben in Wahrheit der Schaden des Dritten, auf den der Nachteil überwälzt worden war, vom Verletzten geltend gemacht wird („versteckte Korrektur“ eines Schadenbegriffes, der nur auf das Interesse des Verletzten abstellt). Auch wo es nicht möglich ist, die Vermögensbewegungen beim Verletzten in einen Schaden und einen (nicht anzurechnenden) Vorteil aufzulösen, also in den „reinen“ Drittschadensfällen, erweisen sich ähnliche Gesichtspunkte als entscheidend. Damit war für Vorteilsausgleichung und Drittschaden der Anschluß an die grundlegende Wertung des Rechtssystems gefunden, nach welcher der Beschädiger die von ihm beeinträchtigten Rechtsgüter zu ersetzen hat. Die Durchführung dieser Grundwertung 1 Dieser informative Absatz wurde von Wilburgs Freund Hermann Baltl, dem Herausgeber der ersten, im Jahr 1965 veröffentlichten Festschrift für Walter Wilburg, in der Einleitung zu dieser formuliert.
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wäre unmöglich, wenn den Schädiger Rechtsverhältnisse des Verletzten entlasten sollten, die – ohne daß sie dies bezwecken – dessen Schaden ungeachtet der entstandenen Rechtsgütereinbuße wirtschaftlich auf einen Dritten abwälzen. In zahlreichen wichtigen Fällen bewirken technische Vorschriften der „Regreßordnung“, die Legalzessionen vorschreiben, daß der Ersatzanspruch dem kraft Überwälzung wirtschaftlich Geschädigten zukommt. Sie sind Einzelausprägungen des gezeigten Grundgedankens, der jedoch weit über sie hinauswirkt. Daß dieselben Gedanken zum Beispiel für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall entscheidend sind, hat an Wilburg anschließend Steininger dargelegt. Wilburg vertritt in der erwähnten Arbeit im Anschluß an seine Lehrer Rabel und Ehrenzweig sowie an die ständige österreichische Rechtsprechung weiter mit Nachdruck die Lehre vom Rechtswidrigkeitszusammenhang und baut diese inzwischen auch im deutschen Rechtsbereich – zum Teil unter seinem Einfluß – sehr verbreitete Auffassung durch eine „sachliche“ Bestimmung des Rechtswidrigkeitszusammenhanges aus: Die Frage gehe nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich dahin, welche Person die Schutznorm vor Schaden bewahren, sondern auch dahin, welche sachlichen Interessen sie schützen wolle, wie dies übrigens schon § 823 II BGB zeige. Auch bei der Vertragsverletzung ist die objektive Auslegung des Vertrages als der verletzten Norm maßgebend. Der Verletzer hat im Rahmen des Rechtswidrigkeitszusammenhanges den bei wem immer entstandenen normalen, typischen Schaden – bei Körperverletzung zum Beispiel die Nachteile der Arbeitsunfähigkeit und die Heilungskosten – zu ersetzen. Noch einen Schritt weiter geht Wilburg, wenn er in der erwähnten Abhandlung ganz allgemein die Lehre vom objektiven Schaden (Wert des verletzten Rechtsgutes) als Minimalschaden entwickelt, den der Beschädiger jedenfalls zu ersetzen habe. Mit Recht wird dieser Schadensbegriff auf die rechtsverfolgende Aufgabe des Schadenersatzrechtes gestützt: Der Wert bildet den Vermögensgehalt des verletzten Rechtes. Diese Lehre vom objektiven Mindestschaden hat in Deutschland, wo das Gesetz kaum Anhaltspunkte für den objektiven Schadensbegriff bietet, zusammen mit der etwa gleichzeitig vertretenen, ähnlichen Lehre von Neuner stärksten Einfluß im Zusammenhang mit der überholenden Kausalität geübt. Führende Untersuchungen, unter anderem von Larenz, lösen dieses Problem durch Übernahme der Lehre vom objektiven Wert als Mindestschaden. 2. Auch in der Folgezeit hat sich Wilburg den Problemen des Schadenersatzrechtes mit besonderer Intensität gewidmet. Nach einer Abhandlung über den „Unternehmer im Schadensrecht“ (Wissenschaftliches Jahrbuch der Universität Graz, 1940), in der vor allem die Konzentration der Haftung im Unternehmer und der Halterbegriff untersucht werden, erschienen seine Elemente des Schadensrechtes (1941). Nach dem Urteil von
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Autoren, die dem Buch keineswegs unkritisch gegenüberstehen, handelt es sich um die „bisher gelungenste Systembildung unserer Haftungsgrundlagen“; um ein Werk, welches das Schadenersatzrecht aus dem Zustand der Erstarrung und Resignation der letzten dreißig Jahre herausführt (Esser); um eine Schrift, die durch die Originalität der zugrundeliegenden Idee hervorragt und deren Erkenntnisse zu der bisher vergeblich gesuchten einheitlichen Systematik des Schadenersatzrechtes führen können (Klang). Der dogmatische Standpunkt des Buches ist in der Tat vollkommen neuartig und allein geeignet, zu einer vollständigen wissenschaftlichen Erfassung des Schadenersatzrechtes zu führen. Wilburg hat hier zwingend nachgewiesen, daß man mit einem einheitlichen Prinzip dem Schadenersatzrecht überhaupt nicht beikommen kann, sondern daß es eine Reihe verschiedener Schadenszurechnungsgründe gibt und daß erst aus ihrem Zusammentreffen in bestimmter Art und Weise die Bejahung der Haftung folgt. Diese Gründe oder „Elemente“ sind erstens die Inanspruchnahme fremden Rechtsgutes durch Eingriff oder Gefährdung, zweitens die Verursachung des Schadens durch Umstände, die sich in der Sphäre (im Herrschafts- und Interessenbereich) des Haftenden ereignen, und drittens der Vorwurf eines Mangels in dieser Sphäre, der verschiedenste Intensitätsgrade umfassen kann: vom schweren Willensfehler (Verschulden in allen Abstufungen) über Verstandesfehler, körperliche Schwäche, Verschulden der Gehilfen bis zu Mängeln der zur Sphäre gehörigen Sachen. Hilfsweise kann als viertes Element die Abwägung der Vermögenslage in Betracht kommen. Je nach Zusammentreffen der Elemente nach Zahl und Gewicht soll der Richter im Einzelfall den Umfang der Haftung ermitteln. Haftungselemente auf seiten des Geschädigten fallen bei der Abwägung gegen ihn ins Gewicht, was insbesondere auch für die Selbstgefährdung zutrifft. Die Abwandlungen dieser Elemente im Rahmen vertraglicher (und anderer) Sonderverbindungen werden im zweiten Teil des Werkes dargelegt. Eine Fülle wichtigster Einzelfragen, insbesondere die Gründe der Konzentration der Haftung beim Unternehmer, der Begriff der höheren Gewalt, die Gehilfenhaftung, die Reichweite der Haftung usw., ferner das Konkurrenzverhältnis zwischen unerlaubter Handlung und Schuldverletzung werden gründlich und mit einer Fülle neuer Gedanken im letzten Teil des Buches untersucht. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der erarbeiteten Grundsätze. Der große theoretische „Wurf“ (Esser) liegt darin, daß damit die Alternativen vermieden sind, die, gleichmäßig unbefriedigend, bisher herrschten: die Resignation, die sich damit begnügen wollte, neben dem Verschuldensprinzip – das durch „Objektivierung“ des Verschuldensmaßstabes selbst bereits problematisch geworden ist – einen regellosen Haufen bloß positiv-gesetzlicher Sondervorschriften (der Gefährdungshaftung et cetera) zu registrieren, und der hoffnungslose Versuch, die Gesamtheit der Haftungsfälle durch ein überfordertes Prinzip zu erfassen, dem notgedrungen eine völlig
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konturenlose Billigkeitsklausel angefügt werden muß, welche auch scheinbar exakte Teilergebnisse völlig entwertet. Im Gegensatz zu manchen mißverständlichen Deutungen verfolgt Wilburg keineswegs freirechtliche Tendenzen. Er bekämpft gerade mit Nachdruck die dogmatische und gesetzgeberische Resignation, die wesentliche Fragen bloß nach „Billigkeit“ oder „den Umständen des Einzelfalles“ entscheiden will. Wilburgs Anliegen ist es, die Rechtsanwendung auch in den problematischen Grenz- und Unsicherheitszonen gerade nicht mit Leerformeln der angedeuteten Art letztlich völlig unberaten zu lassen, sondern ihr die nach rechtlicher Wertung maßgebenden Gesichtspunkte konkret mitzuteilen, deren Abwägung und Anwendung im Einzelfall freilich richterliche Aufgabe bleiben muß. Der Fall etwa, daß es auch nach völliger Aufklärung des Sachverhaltes zweifelhaft bleibt, ob den Beschädiger bereits ein leichter Verschuldensvorwurf trifft oder ob er noch schuldlos ist, ist ebenso alltäglich wie unlösbar, solange man lediglich den mit einem weiten „Begriffshof“ ausgestatteten Begriff des Verschuldens heranzieht: In diesem Grenzbereich des Begriffes ist eine wissenschaftlich begründete Bejahung oder Verneinung „des Verschuldens“ ex definitione ausgeschlossen. Die „Lösung“ ist rasch bei der Hand: Dann müsse eben der Richter im Einzelfall entscheiden. Aber nach welchen Maßstäben, wenn man ihm nur den – gerade versagenden – Verschuldensbegriff an die Hand gibt? Wilburg ermöglicht zumindest für viele Fälle eine rationale Lösung durch den hilfsweisen Rückgriff auf andere in der Rechtsordnung erkennbare Haftungselemente: Ist die Schädigung im Rahmen eines Betriebes von einiger – wenn auch für die „Gefährdungshaftung“ nicht ausreichender – Gefährlichkeit vorgefallen, oder hat ein objektiver (zum Beispiel Verstandes-) Mangel des Beschädigers oder seiner Anlagen und Sachen mitgewirkt, wird die Haftung zu bejahen sein. In dieselbe Richtung deutet ein hoher Grad der Ursächlichkeit. Fehlt es an solchen hilfsweise wirksamen Gründen und liegt etwa gar der Schadenserfolg schon im Grenzbereich des gerade noch adäquat Verursachten, so wird man den Anspruch richtigerweise ablehnen. Von entscheidender Bedeutung muß aber Wilburgs Theorie für einen Gesetzgeber sein, der, wie geboten, ein innerlich ausgewogenes, von Wertungswidersprüchen freies Recht der Schadensordnung anstrebt. Es liegt durchaus im Rahmen der Möglichkeiten dieser Theorie, daß zunächst der Gesetzgeber selbst in geeigneten Fällen die Haftungselemente abwägt und für den leicht übersehbaren, typischen Sachverhalt, den „Durchschnittsfall“, das Abwägungsergebnis in elastisch geformte Tatbestände zusammenfaßt, die immer noch wesentlich konkretere Richtlinien enthalten könnten als zum Beispiel Art. 43 OR. Wilburg selbst bringt das durch die Anerkennung der Möglichkeit, „Durchschnittsregeln“ aufzustellen, zum Ausdruck. Esser hat im Anschluß an die Ergebnisse Wilburgs einen Gesetzesvorschlag formuliert. So mag es bei richtiger Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter durchaus sein, daß soweit wie möglich doch
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schon der erstere die von Wilburg dogmatisch herausgearbeiteten „Bausteine“ eines ausgewogenen Systems des Schadensrechtes (Klang) zu Tatbeständen formt, die genügend elastisch sind, um in besonders gelagerten Fällen dem Richter eine entsprechende eigene Abwägung der Haftungselemente zu ermöglichen. Zusammenfassend wird man Wilburgs Theorie als die bisher umfassendste Herausarbeitung der grundsätzlichen Maßstäbe aus dem ganzen Rechtsstoff bezeichnen können, welche unter den Gegebenheiten der heutigen Rechtsgemeinschaft die Erfüllung der entscheidenden Aufgabe des Schadensrechts ermöglichen, nämlich die Gewährleistung des Schutzes bestehender Rechtsgüter unter Aufrechterhaltung des notwendigen Spielraumes für die persönliche Entfaltung des Einzelnen, der auch zur Schaffung neuer Güter erforderlich ist. 3. Wie wenig Wilburg freirechtlichen Tendenzen zugerechnet werden darf, zeigt sich auch in seiner letzten schadensrechtlichen Arbeit („Empfiehlt es sich, die Haftung für schuldhaft verursachten Schaden zu begrenzen? Kann für den Umfang der Schadenersatzpflicht auf die Schwere des Verschuldens und die Tragweite der verletzten Norm abgestellt werden?“, in: Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages, II/C, 1. Abt., 1962, S. 3ff.), die sich zunächst mit den Haftungsgrenzen beschäftigt und sich dann gerade gegen den Vorschlag wendet, de lege ferenda bei leichtem Verschulden dem Richter schlechthin einen Ermessensspielraum für die Haftungsminderung einzuräumen. Wilburg empfiehlt vielmehr im Anschluß an seine früheren Ergebnisse, das richterliche Ermessen „durch grundsätzliche Richtlinien umfassend zu lenken“. 4. Bleibt im Schadensrecht bei aller verdienten Anerkennung, die die wissenschaftlichen Ergebnisse Wilburgs erfahren haben, noch viel zu tun, was die Verwertung dieser Ergebnisse anlangt, so kann man in seinem zweiten Hauptarbeitsgebiet, im Bereicherungsrecht, von einem bereits vollzogenen Durchbruch seiner Theorie sprechen. Schon zu Beginn seiner Grazer Lehrtätigkeit, 1934, ist Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung nach österreichischem und deutschem Recht erschienen, sein einflußreichstes Werk. Er zeigt hier, daß sich auch die Bereicherungsansprüche nicht monokausal erklären lassen; daß insbesondere die Bereicherung „in sonstiger Weise“ nicht als letztlich unerklärliches Anhängsel der Leistungskondiktion erfaßt werden darf; daß vielmehr Klarheit nur erreicht werden kann, wenn die Bereicherungstypen der Leistungskondiktion einerseits, der sonstigen Bereicherung andererseits voneinander in der Grundlage deutlich getrennt werden. Nach dem Zeugnis Rabels hat Wilburg jene Zweiteilung „für alle behandelten Rechtsordnungen klar erwiesen“. Das Werk untersucht in der Folge – neben zahlreichen Einzelfragen – vor allem die dogmatische Begründung des allgemeinen Bereicherungsanspruches. Wilburg kommt hier zu dem Ergebnis, daß der (allgemeine) Bereichungsanspruch aus der Fortwirkung eines Grundrechtes, zum Beispiel des Eigentums, entsteht, sobald ein Nichtberechtig-
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ter Vorteile empfängt, die nach dem Zweck („Zuweisungsgehalt“) des beeinträchtigten Rechtes dem Berechtigten zugewiesen sind. Diese Erkenntnis hat entscheidende praktische Konsequenzen, insbesondere den Wegfall der Notwendigkeit eines Schadens des Bereicherungsgläubigers – an welcher Voraussetzung häufig, besonders im Immaterialgüterrecht, nur noch fiktiv festgehalten worden war – und die Klärung der höchst verschwommenen Anspruchsvoraussetzung der „Unmittelbarkeit“ der Bereicherung. Wie Wilburg zeigt, ist diese Voraussetzung je für die Leistungskondiktion und den allgemeinen Bereicherungsanspruch in ganz unterschiedlicher Weise zu konkretisieren. Die „Unmittelbarkeit“ wird aufgelöst in die Bestimmung der Aktiv- und Passivlegitimation jeweils aus den Grundlagen des Anspruches. Fortgeführt und abgerundet sind die bereicherungsrechtlichen Untersuchungen in den Beiträgen zur zweiten Auflage des Klang-Kommentars: Zu den §§ 1431ff. ABGB hat Wilburg die Leistungskondiktionen im Allgemeinen untersucht (VI, S. 430ff.); zu § 1174 ABGB die Leistung zu unerlaubtem Zweck (V, S. 461ff.). Die Beiträge haben nichts mit dem üblichen Kommentarstil gemein, sondern stellen selbständige Untersuchungen des Rechtes der Leistungskondiktionen dar, also jener Materie, die Wilburgs erstes bereicherungsrechtliches Werk nur am Rande, vor allem zu Abgrenzungszwecken, berührt hatte. Nach einer außerordentlich eindrucksvollen Auseinandersetzung mit der gesamten causa-Lehre, die erweist, daß sich die Leistungskondiktion keineswegs aus dem Mangel eines Schuldverhältnisses ausreichend erklären läßt und daß darüber hinausgehende Deutungen dem causa-Begriff jeden eigenen Inhalt nehmen, zeigt Wilburg, daß die Leistungskondiktionen auf Mängeln des Leistungsaktes beruhen, die analog zu den rechtsgeschäftlichen Mängeln zu bestimmen sind; die also insbesondere Irrtum, Zwang, Unerlaubtheit und Wegfall der Geschäftsgrundlage umfassen. 5. Lediglich die Beiträge zum Klang-Kommentar haben in der frühen österreichischen Rechtsprechung erheblichen Einfluß ausgeübt, während die grundlegende Monographie Wilburgs über die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung ihr anscheinend völlig unbekannt blieb. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat langfristig ganz grundsätzliche bereicherungsrechtliche Entscheidungen in Auseinandersetzung mit unbekannten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, aber ohne die geringste Verwertung der Ergebnisse getroffen, die Wilburg in seinem in der deutschsprachigen Wissenschaft längst zu hohem Einfluß aufgestiegenen Werk gefunden hat. So kann es nicht wundernehmen, wenn die österreichische Rechtsprechung gelegentlich noch später der sonst allenthalben im Gefolge Wilburgs überwundenen Lehre folgt, der Schaden des Bereicherungsklägers bilde eine Höchstgrenze seines Anspruches. Doch hat Stanzl bei der Kommentierung des § 1041 ABGB die „überzeugend begründete“ Bereicherungslehre Wilburgs übernommen, was ihr entsprechende Verbreitung auch in Österreich verschafft hat.
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Anderwärts hatte man schon viel früher begonnen, den „Wert der Wilburgschen Konzeption“ (von Caemmerer) wissenschaftlich voll zu würdigen. Der Aufbau des Bereicherungsanspruches auf der theoretischen Grundlage des beeinträchtigten Rechtes, dessen Zweck die Zuweisung bestimmter vermögenswerter Güter an den Berechtigten enthält, hat samt den daraus folgenden Konsequenzen inzwischen, vor allem dank der entscheidenden Unterstützung durch von Caemmerer und Larenz, ganz überwiegende Anerkennung gefunden. Unabhängig von der Diskussion über Randfragen ist das Fundament der Bereicherungslehre gelegt. Was den Anspruchsinhalt betrifft, so hatte Wilburg für den Fall unmöglicher Rückgabe zwei Varianten entwickelt: Der Bereicherungsgläubiger kann entweder einen Anteil an dem vom Schuldner erzielten Verwendungsgewinn verlangen (mit der Teilung wird dem Umstand, wie geboten, Rechnung getragen, daß auch die Mühe und die Rechtsgüter des Bereicherungsschuldners an der Erzielung des Gewinnes beteiligt gewesen sein können) oder es ist für die Verwendung des fremden Rechtsgutes ein angemessenes Entgelt zu bezahlen. Die neuere Lehre hat allein die zweite Möglichkeit weiter verfolgt und richtet den Bereicherungsanspruch weithin auf „Wertersatz“. Daß dies eine gewisse Gefahr mit sich bringen kann, die Grenzen des Bereicherungsrechtes in Richtung auf „quasikontraktliche“, von einem erlangten Vorteil des Schuldners ganz unabhängige Ansprüche zu überschreiten, hat Wilburg zuletzt in seiner Abhandlung „Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechtes“ (Archiv für die civilistische Praxis 163, 1964, S. 346ff.) dargetan. Ohne weiteres einleuchtend ist ja nur die Wegnahme dessen, was der Schuldner zu Unrecht aus fremdem Gut erlangt hat. Hat er dagegen zwar, vielleicht völlig schuldund ahnungslos, fremdes Gut verwendet, jedoch ohne den Berechtigten zu schädigen und ohne einen Vorteil aus der Verwendung zu ziehen, so bedarf es besonderer Gründe, die eine Entgeltspflicht zumutbar machen. Wilburg unternimmt es, in einer knappen Arbeit von fast unerschöpflichem Gedankenreichtum jene Gründe aufzudecken, und entwickelt neben in ihrer Bedeutung beweglichen Gesichtspunkten einen festen Tatbestand, den wissentlichen Eingriff in fremdes Gut bzw. die wissentlich grundlose Inanspruchnahme der fremden Leistung. Hier wird ohne Rücksicht auf einen erlangten Vermögensvorteil des Schuldners und einen Schaden des Gläubigers eine Vergütungspflicht ausgelöst. Nur in eingeschränktem Rahmen wird man also einen aus dem beeinträchtigten Zuweisungsgehalt des verletzten Rechtes entspringenden Anspruch auf Wertersatz ohne Rücksicht auf einen erlangten Vorteil des Schuldners billigen können. Wilburg nahm von den erarbeiteten Grundlagen des außergeschäftlichen Schuldrechtes her auch eine Lösung jener Probleme in Angriff, die in der Rechtsgeschäftslehre unter dem Titel der „faktischen Vertragsverhältnisse“ größte Beunruhigung angerichtet haben. Er zeigt, daß dort, wo der geschäftliche Wille und selbst der äußere Schein eines
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solchen, also die im weitesten Sinn verstandene „Erklärung“, vollständig fehlen, mit den Kategorien der Vertragslehre schlechthin nicht gearbeitet werden kann; daß ferner mit dem Hinweis auf „Faktisches“ nichts getan ist, weil dadurch nie Zugang zu einer – notwendigerweise normativen – Anspruchsgrundlage gewonnen werden kann, und daß die Lösung allein im außergeschäftlichen Schuldrecht liegt. Er macht sichtbar, daß die Probleme der „faktischen Vertragsverhältnisse“ weithin mit dem von ihm entwickelten außergeschäftlichen Entgeltsanspruch (wenn man will, mit einem „quasikontraktlich“ gefärbten Bereicherungsanspruch auf Wertersatz) gelöst werden können. Dieser Ansatz, der offenbar allein geeignet ist, die faktischen Vertragsverhältnisse dogmatisch zu überwinden, ist bereits jetzt nicht ohne Auswirkungen geblieben. Wenn im Hinblick auf den „Parkplatzfall“ und ähnliche Erscheinungen formuliert wurde: „Die Bewertung beruht hier nicht auf einer ungreifbaren, mit dem System unvereinbaren Vertragsgrundlage sozialer Kontakte, sondern es handelt sich um Ansprüche, die Inhalt und Grenzen aus dem Zuweisungsgehalt der verletzten Rechte empfangen“ (Mestmäcker), so liegt das vollkommen auf Wilburgs Linie. 6. Vor allem in der letztgenannten Arbeit und schon wesentlich früher in den Elementen des Schadensrechtes hat Wilburg eine rechtswissenschaftliche Methode praktisch angewendet, die er in einer kleinen, aber bedeutsamen Schrift – seiner Rektoratsrede – zum Gegenstand allgemeiner methodischer Reflexionen machte: Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht (1950). Wilburg knüpft hier an die Interessenjurisprudenz an, die „das Recht in soziologischer Methode aus den Motiven, die für den Gesetzgeber maßgebend gewesen sind, zu erforschen und weiterzubilden“ suche. Wilburg will dagegen die „bewegenden Kräfte“ in die Normen und in ihre Tatbestände verlegen, wodurch elastischere Normen als bisher entwickelt werden könnten, die dem Zusammenspiel verschiedener Gesichtspunkte Raum geben. An einer Fülle grundsätzlicher Probleme des Privatrechts – solcher, die er bereits monographisch untersucht hatte, aber auch neu einbezogener – zeigt Wilburg in seiner methodischen Arbeit im Einzelnen die Grenzen auf, die der Problemlösung durch starr normierte Tatbestände gesetzt sind, und die Möglichkeiten, die in einer elastischen Gestaltung liegen. Als Beispiel sei etwa die Analyse des Wuchertatbestandes erwähnt, der Wilburgs Vorstellungen vom Zusammenwirken verschiedener Wertungsgesichtspunkte in besonderem Maße entspricht. Die Anregungen, die hier vor allem für das Vertragsrecht gegeben sind, sollten nicht ungenützt bleiben. Wilburg schreibt selbst seiner Methode zunächst dogmatische Bedeutung zu, also die Bedeutung, ein Hilfsmittel der rationalen Durchdringung des Rechtes, des Aufdekkens der dahinter stehenden, häufig gerade nicht unter einem einzigen Gesichtspunkt erfaßbaren „Kräfte“ (Rechtsgründe, Prinzipien, Wertungen) zu sein, während ihre Verwertung für das positive Recht eine Frage der Gesetzestechnik und, soweit Lehre und
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Praxis das Recht fortbilden, des juristischen Temperaments darstelle. Er vermerkt, es sei gerade der Sinn seines Vorschlages, zu vermeiden, daß die Gerichte nur auf Billigkeit, das jeweilige Rechtsempfinden, die guten Sitten oder ähnliche inhaltslose Begriffe verwiesen würden. So ist es auch nur sehr bedingt richtig, wenn bei der rechtsphilosophischen Wiederentdeckung der „Topik“ als juristischer Denkform Wilburgs Methode als eine topische in Anspruch genommen wurde (Viehweg). Topisches Denken soll dadurch gekennzeichnet sein, daß nicht von einem zusammenhängenden System gegebener Ordnungsgesichtspunkte ausgegangen wird, sondern vom einzelnen Problem, das man mit ad hoc als allgemein einleuchtend erfahrenen Argumenten diskutiert. Ob die behauptete Gegensätzlichkeit der Denkformen in dieser Schärfe überhaupt möglich ist, kann hier dahinstehen: Wilburgs Anliegen ist es jedenfalls gerade, das System so elastisch und umfassend zu gestalten, daß es die am Einzelproblem allenfalls entdeckten „topoi“ in sich aufnehmen kann. Treffend ist es dagegen, wenn Wüst in einer methodisch auf Wilburg aufbauenden Untersuchung die gesetzlichen Richtlinien als eine Zwischenform ansieht, welche die gesetzestechnische Alternative von tatbestandlich scharf umgrenzter Norm und Generalklausel ergänzen und so die fatale Alternative überwinden kann, daß – unvorhersehbar – entweder nach der gesetzlichen tatbestandlichen Norm entschieden oder diese mittels der Generalklausel umgangen wird. 7. Die Wilburg zuteil gewordenen Ehrungen entsprachen seinem wissenschaftlichen Rang und Ansehen. Er war ordentliches Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Ehrendoktor in Wien und Göttingen und Träger hoher staatlicher Auszeichnungen. Zum 60. Geburtstag wurde ihm von Fachkollegen und Schülern eine „normale“ Festschrift dargebracht, zum 70. eine Fakultätsfestschrift mit Beiträgen auch der fachlich fernerstehenden Fakultätskollegen und einiger ihm besonders verbundener auswärtiger Zivilrechtler. Einen ersten Hinweis auf seine wissenschaftlich und persönlich völlig singuläre Stellung insbesondere an seiner Fakultät mag der Umstand geben, daß einige damalige Assistenten der Grazer Fakultät aus verschiedenen Fächern, die in der Festgabe der schon Arrivierten aus Raumgründen nicht zum Zuge kamen, als Ausdruck ihrer dankbaren Wertschätzung ihre Beiträge spontan zu einer zusätzlichen „Assistentenfestschrift“ vereinigten: ein meines Wissens beispielloser Vorgang. Zum 80. Geburtstag Wilburgs wurde – unter seiner Teilnahme – in Graz ein Symposion über „Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht“ veranstaltet. Zahlreiche in- und ausländische Referenten haben dabei vor allem über die konkrete Verwendung des von Wilburg entwickelten beweglichen Systemdenkens in ihren Arbeiten und Arbeitsgebieten berichtet und so eine relativ umfassende Momentaufnahme des Einflusses dieser Arbeitsweise in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft über das Zivilrecht
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hinaus zustandegebracht. Die Arbeiten des Symposions wurden unter demselben Titel in einem Sammelband veröffentlicht. Das Zurückführen konkreter rechtlicher Problemlösungen auf das Zusammen- und Gegeneinanderwirken mehrerer, häufig abstufbarer rechtlicher Kriterien („Elemente“, Prinzipien) ist wohletabliert. Eine genauere Darstellung des ungemein originellen wissenschaftlichen Werkes von Walter Wilburg hätte vor allem das Konzept des „beweglichen Systems“ näher auszuführen, ferner seine grundlegenden schadensersatzrechtlichen Arbeiten in den Grundgedanken zu referieren, seine auch in Deutschland überaus einflußreich gewordene Theorie der ungerechtfertigten Bereicherung zusammenzufassen und einiger Abhandlungen zu Einzelfragen aus anderen Rechtsmaterien zu gedenken. Jedoch wird es genügen, über das hier Gesagte hinaus auf die bereits vorliegenden Würdigungen in den Einleitungen der erwähnten Festschriften zu verweisen. Knapp zusammenfassende Würdigungen finden sich auch in den Juristischen Blättern zum 60. und 70. Geburtstag (Juristische Blätter 1965 und 1975). Zu ergänzen sind zwei Spätpublikationen Wilburgs: Die Abhandlung zum „Abschied von § 419 BGB“ in der Festschrift Larenz, die wohl den entscheidenden Anstoß zur Abschaffung dieser Vorschrift in Deutschland gegeben hat, sowie die kritische rechtsvergleichende Untersuchung zum gutgläubigen Erwerb in der Festschrift Baltl. Posthum erschienen ist „Die ,Subsidiarität‘ des Verwendungsanspruchs“ ( Juristische Blätter 1992, S. 545ff.). 8. Langfristig gewinnt Wilburgs Werk umso mehr an Einfluß, je deutlicher die methodische Rekonstruierbarkeit mancher Grundlagenelemente erkennbar wird. Das gilt in erster Linie für sein zentrales Konzept vom beweglichen Systemdenken, das längst über die von ihm und seinen unmittelbaren Schülern damit bearbeiteten Rechtsgebiete hinaus überall dort mit Nutzen herangezogen wird, wo man mit den überkommenen juristischen Methoden nicht recht weiterkommt. Wer über die Prozeßzwecke arbeitet, wer Generalklauseln, wie etwa die guten Sitten, den wichtigen Grund oder neue „konsumentenrechtliche“ Generalformeln dogmatisch durchdringen will; wer Grundlinien wettbewerbsrechtlicher Rechtsprechung verfolgt; wer grundlegenden gewerberechtlichen Abgrenzungsfragen nachgeht oder an eine Systematisierung der verfassungsrechtlichen Judikatur zum Gleichheitsgrundsatz denkt: er stößt bei zureichender Reflexion auf das bewegliche Systemdenken. Für das Nähere ist auf den oben bezogenen Sammelband zu verweisen. Die schwierigsten Grenzfragen des Enteignungsrechts verlangten einen Lösungsansatz im Sinne des beweglichen Systems (Aicher). Sogar für die besonders schwierigen strafrechtsdogmatischen Probleme des fortgesetzten Deliktes hat man die Ergiebigkeit beweglichen Systemdenkens aufweisen können (Schmoller). Das Grundkonzept des „beweglichen Systems“ selbst ist inzwischen, was dem Kommunikationsfluß innerhalb der Rechtswissenschaft kein gutes Zeugnis ausstellt, sogar zweifach „neu entdeckt“ worden: unter dem Stichwort „Sandhaufentheorem“ in etwas
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vergröberter Form von einem angesehenen deutschen Rechtspraktiker (R. Bender); in einer theoretisch subtil durchgebildeten Lehre von den Prinzipien, ihrer Anwendung und ihren Kollisionen von einer aktuellen Strömung in der Rechtstheorie (Dworkin, Alexy, Koch-Rüssmann, P. Koller). Diese hat auch deutlich gemacht, daß es sich bei den „Elementen“ oder „Kräften“ des beweglichen Systems um Prinzipien handelt, also um eine besondere Art von normativen Größen mit angebbaren, praktisch wichtigen Eigenschaften.2 Auch die Untersuchungen Wilburgs zu konkreteren Sachthemen sind alles andere als überholt: Seine zahlreichen originellen Ideen, die für seine Arbeiten so kennzeichnend sind, besitzen „Zeitzünderwirkung“. Manche knappe Äußerung zu einer (für ihn) Randfrage bleibt tragfähiger als lange Ausführungen anderer. Sein „Versuchsballon“ über „Wertverfolgung“ hat so den Anstoß zu einer monumentalen rechtsvergleichenden Publikation zum Thema gegeben – allerdings aus fremder Feder (V. Behr). Als in Österreich plötzlich, nach langjähriger Stagnation, die analoge Anwendung der „Risikohaftung“ des § 1014 ABGB in der Rechtsprechung anerkannt wurde und gewichtige Voraussetzungs- und Folgefragen geklärt werden mußten, war zu vielem überhaupt nur in der „alten“ schadensrechtlichen Monographie Wilburgs aus dem Jahr 1941 eine Stellungnahme zu finden. Ähnliches gilt für eine jüngere, auch zu den eigentlichen Haftungsgrundfragen durchdringende Untersuchung zum österreichischen Prozeßkostenrecht: Im 20. Jahrhundert hat nur Wilburg in einem Kapitel seiner Elemente dazu umfassend Stellung bezogen. Das sind Beispiele, die sich aus dem Stegreif einstellen. Weitere wären unschwer zu finden. 9. Daran gemessen, daß Wilburg durch viele Jahrzehnte über zahlreiche Probleme und Problemkomplexe nachdachte, große Literatur- und Rechtsprechungsmengen darüber las, beständig Notizen und Konzepte anfertigte, verbesserte und in seinen – ebenso spannenden wie schwierigen – Lehrveranstaltungen ausprobierte, hat er verhältnismäßig wenig publiziert. Die Erklärung scheint zu sein: Für Wilburg wurde die juristische Arbeit eigentlich erst dort richtig interessant, wo die anderen aufgehört hatten. Seine umwerfend brillante Fähigkeit, Argumente und Theoriegebäude rasch, präzis und gründlich zu analysieren, betraf für ihn eigentlich nur einen weniger interessanten Vorfragenbereich. Sie tritt daher auch in seinen Publikationen nur sehr andeutungsweise und nur für besonders aufmerksame Leser und Kenner des vorausgehenden Diskussionsstandes in Erscheinung. Worauf es Wilburg eigentlich ankam – so möchte ich jetzt rückblickend schließen –, war die überzeugende große Idee als Synthese der analytisch gewonnenen, für sich allein
2 Vgl. den von Bernd SCHILCHER, Peter KOLLER und Bernd-Christian FUNK herausgegebenen Sammelband Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000.
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unergiebigen Teilwahrheiten, formuliert in möglichst unmittelbarem Zugriff auf die gestellten Sachprobleme und die einschlägigen Gerechtigkeitskriterien. Sein Ideal war es wohl, für alle aufgetretenen und denkbaren Fallkonstellationen und Sachverhaltsnuancen in seinen Forschungsbereichen (selbstverständlich nicht die je fertigen Lösungen, aber) die zureichenden Lösungsansätze zu bieten, die jedem Sachkenner in ihrer Richtigkeit unmittelbar einleuchten sollten. Die Ableitung und Abstützung der einzelnen Kriterien blieb zumindest teilweise im Vorfragenbereich, den jeder Sachkenner für sich bewältigen mochte. Denn dafür sind „nur“ umfassende Sach- und Rechtskenntnisse sowie analytische Fähigkeiten gefordert – Eigenschaften, die Wilburg als selbstverständlich voraussetzte. Die Lösungsvorschläge selbst sollten also auch einen guten Teil der Begründungsarbeit, nämlich den implizit gebliebenen, repräsentieren. Das aber ist schwierig; die genannten, die Kompetenz des Lesers betreffenden Voraussetzungen bedeuten häufig eine Überforderung, die zu erkennbaren Verständnis- und Rezeptionsschwierigkeiten führte. Daraus ist wohl die große und immer größere Akribie zu erklären, die Wilburg der Verfeinerung seiner Problemstellungen und seiner Lösungsgesichtspunkte widmete, sowie die selbstkritische Neigung, alles immer noch besser und überzeugender abzuwägen. Dabei ging es ihm stets um Gesamtlösungen, nicht um noch so förderliche Teilergebnisse. Durch diese Ansprüche an sich selbst hat Wilburg in gewisser Weise sogar seine ungewöhnliche Begabung überfordert. Andererseits war er davon überzeugt, daß man ganz Außergewöhnliches wenigstens anstreben müsse, um etwas einigermaßen Ordentliches zu leisten. Nicht Resignation oder allgemeine Skepsis war daher seine Konsequenz, sondern eben der immer wiederholte Versuch, es besser zu machen. Daher war er stets ein rastlos Suchender; immer schwerer wurde es ihm, eine Untersuchung als fertig, ein Problem als einstweilen gelöst zu behandeln. Unversehrt blieb freilich sein Systemstreben nach geschlossener Gestaltung großer Rechtsmaterien. Die vorstehenden skizzenhaften Versuche fügen sich zu einem Bild: zum Bild Walter Wilburgs als eines großen Meisters von absoluter sachlicher Autorität, von evidenter und völlig anerkannter Hochbegabung, Kompetenz und Wirkung im Fach; zugleich aber als eines Gelehrten, der, ständig und ohne die geringste Effekthascherei mit seinen eigenen Überlegungen und Positionen unzufrieden, angestrengt um ihre Verbesserung rang. Er war für seine Studenten und Schüler – auch wenn erst der weite Rückblick das Bild so klar vermittelt – der unbestrittene große Meister und zugleich der immer wieder neu Suchende, der mit der Materie ebenso zu kämpfen hatte wie der blutigste Anfänger; freilich auf einem ganz unvergleichbaren Niveau. Wilburg starb am 22. 8. 1991. Etwa 10 Jahre davor hatte ihm ein schwerer Verkehrsunfall schon viel von seiner Gesundheit und seine Arbeitskraft genommen.
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Michael Bock Hans Gross und Julius Vargha – Die Anfänge wissenschaftlicher Kriminalistik und Kriminalpolitik I. Die Ausgangslage: Strafrecht im Sinne des Deutschen Idealismus – II. Der Aufbruch im Geist wissenschaftlicher Weltauffassung – III. Von der gerichtlichen Untersuchungskunde zur modernen Kriminalistik – Hans Gross – IV. Unzeitgemäße Betrachtungen zur Rechtsstellung des Strafgefangenen – Julius Vargha – V. Zur Wirkungsgeschichte
Exemplarisch für die Vergänglichkeit des Ruhms in den Wissenschaften stehen die Namen von zwei einstmals höchst geachteten Grazer Sozialwissenschaftlern, die in der Tat die moderne Kriminalistik und Kriminalpolitik wesentlich mitbestimmt haben, mit deren Werk man aber heute selbst in Fachkreisen oft nur sehr mangelhaft vertraut ist.1 Gross und Vargha haben beide in der Zeit um 1900 geforscht und gewirkt, in einer Epoche also, in der die deutschsprachige Wissenschaft2 im allgemeinen und die österreichische Wissenschaft3 im besonderen auf dem Höhepunkt ihrer internationalen Geltung, Bedeutung und Reputation standen. Doch auch ihre Auffassungen und die von ihnen begründeten Traditionen haben die Brüche von 1918 und 1945 im deutschen Sprachraum nicht unbeschadet überlebt und sind allenfalls in ihnen selbst fremden Sprachen, Adaptionen und Anverwandlungen weiter überliefert worden. Hier kann es nur darum gehen, einige wesentliche Gedanken dieser beiden Grazer Forscher in Erinnerung zu rufen. Dafür ist es allerdings nötig, zunächst die geistige Ausgangslage kurz zu skizzieren, die sie vorgefunden haben, denn nur auf diesem Hintergrund wird erkennbar, was es heißt, daß wir es bei Gross und Vargha mit den Anfängen wissenschaftlicher Kriminalistik und Kriminalpolitik zu tun haben.
1 Wesentliche Teile dieses Beitrags sind bereits publiziert unter dem Titel: Kriminelles Verhalten, Kriminologie, Kriminalistik; in: Karl ACHAM (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 3.1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, Wien 2001, S. 241–255. 2 Siehe dazu Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD, Friedrich H. TENBRUCK (Hg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, sowie Karl ACHAM, Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD (Hg.): Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, Stuttgart 1998. 3 Siehe dazu Karl ACHAM (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bände, Wien 2000–2006.
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I. Die Ausgangslage: Strafrecht im Sinne des Deutschen Idealismus Seit dem Zerfall der mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen wurde in ganz Europa unter den Gebildeten die Frage diskutiert, wie das Verhältnis von Staat und Untertanen ohne den christlichen Interpretationsrahmen zu denken und in rechtliche Formen zu gießen sei. Trotz großer Unterschiede im Einzelnen kreisen die Überlegungen um die Denkfigur eines nach der Vernunft gestalteten Gesellschaftsvertrags, der die Schwächen der menschlichen Natur bzw. die Unsicherheit und Not des Lebens im Naturzustand ausgleichen sollte. In Österreich geriet die Strafrechtspflege vor allem im 18. Jahrhundert in den Bann dieses Denkens. Cesare Beccaria mit seinem klassischen Werk Über Verbrechen und Strafen von 1764 machte Schule. Im Lichte einer vernunftgemäßen Auslegung von Gemeinwohl und Staatsräson erschienen das mittelalterliche Strafensystem und der Inquisitionsprozeß zunehmend als irrational. Der Präventionsgedanke bemächtigte sich der Kriminalpolitik des aufgeklärten Absolutismus.4 Die Freiheitsstrafe und mit ihr der Gedanke der Spezialprävention, das heißt der fördernden Einwirkung auf den Delinquenten anstelle seiner Vernichtung, war zwar ursprünglich in den protestantischen Ländern entstanden, verbreitete sich aber im 18. Jahrhundert über ganz Europa. Erste Fallsammlungen5 belegen das beginnende erfahrungswissenschaftliche Interesse am Täter und an den sozialen Verhältnissen, aus denen er kommt. Im Gewande philosophischer und straftheoretischer Erörterungen über eine rationale Kriminalpolitik und Strafrechtspflege waren also die Themen, denen sich später Gross und Vargha widmen sollten, an sich schon 100 Jahre früher auf der Tagesordnung gewesen. Gleichwohl führt von hier aus kein direkter Weg zur modernen Kriminalistik und Kriminalpolitik. Denn im gesamten deutschen Sprachraum setzte sich im 19. Jahrhundert zunächst die Straftheorie des Deutschen Idealismus durch, gemäß welcher die Unterstellung der Strafrechtspflege unter das Zweck- und Nützlichkeitsdenken des aufgeklärten Absolutismus und den damit verbundenen präventiven Zugriff auf den Bürger ein Skandal für die Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen war. Die Spezialprävention erschien in diesem Lichte als bloße Dressur, der generalpräventive Appell, wie ihn etwa die sogenannte Theorie des psychologischen Zwangs von Anselm Feuerbach6 thematisierte, als Aufforderung zu subalternen Berechnungen von Kosten
4 Vgl. Eberhard SCHMIDT: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Nachdruck der 3.Aufl., Göttingen 1983. Die diesbezüglichen österreichischen Reformbestrebungen (ebd. S. 220f.) sind untrennbar mit dem Namen von Joseph von Sonnenfels (1733 –1817) verknüpft. 5 Vgl. die verschiedenen, nach dem Vorbild der Causes célèbres et interessantes (Paris 1734) des französischen Anwalts François Gayot de PITAVAL unter dem Gattungsnamen Pitaval herausgegebenen Sammlungen. 6 Anselm von FEUERBACH, J. A. MITTERMAYER: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts [1801], 14. Aufl., Gießen 1847, S. 37–40.
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und Nutzen der Straftat, wo doch allein die aus freier Einsicht gewonnene Moralität dem wahren Wesen des Menschen gemäß sein könne. So wurde der Präventionsgedanke erneut tief diskreditiert und die zweckfreie Vergeltung des begangenen Unrechts zur alleinigen Legitimationsgrundlage staatlichen Strafens erklärt. Die Folge war eine weitgehende Beschränkung der Strafrechtswissenschaft auf Strafrechtsdogmatik im engeren Sinn, das heißt auf die peinlich genaue Feststellung der Voraussetzungen der Strafbarkeit einerseits und einer möglichst tatproportionalen Strafzumessung andererseits. Die Wirkung auf den Täter und die Allgemeinheit interessierte nicht. Zwar gab es weiterhin Bemühungen, Reformideen aus dem 18. Jahrhundert weiter zu verfolgen, insbesondere auf dem Gebiet des Strafvollzugs, diese fanden aber kaum Widerhall in den großen straftheoretischen Ideen der Zeit und blieben deshalb auf engagierte Vollzugspraktiker beschränkt, die mehr oder weniger vereinzelt wirkten.7
II. Der Aufbruch im Geist wissenschaftlicher Weltauffassung Es ist nun bekannt, daß die Philosophie des Deutschen Idealismus, die weit über die universitäre Philosophie hinaus das geistige Klima der Epoche geprägt hatte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unter Druck geriet. Hierzu trugen nicht nur die Strukturkrisen bei, die man bald als „sociale Frage“ bezeichnete,8 sondern auch eine wachsende Zahl populärwissenschaftlicher Lehren, die den geistigen Führungsanspruch von Jurisprudenz und Philosophie in Frage stellten, so wie diese zuvor den der Theologie abgewiesen hatten. Die Frühsozialisten, Karl Marx und Auguste Comte sind hier einschlägig, aber auch Charles Darwin. Der Glaube an die Naturwissenschaften, verbunden mit einem geschichtsphilosophisch unterbauten Fortschrittsglauben verbreitete sich in zahllosen Weltanschauungsvereinen, Parteien, Geheimbünden und sektenartigen Vereinigungen. In diesem geistigen Klima entstanden die Kriminologie und die Kriminalistik gewissermaßen als Realien des Strafrechts, und in diesem Zusammenhang müssen auch die hier zu behandelnden österreichischen Gelehrten gesehen werden.9 Es ist nun nötig, kurz einen Dritten im Bunde einzuführen, der zwar nicht direkt zum Thema gehört, sich aber immerhin teilweise in Graz habilitierte und im Übrigen in den Reden und Schriften von Gross und Vargha als „spiritus rector“ stets implizit präsent ist: den großen Franz von Liszt. 7 Vgl. etwa SCHMIDT 1983 (Fußnote 4), S. 346–352. 8 Eckart PANKOKE: Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik. Grundfragen der deutschen „Socialwissenschaft“ im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973. 9 Die biographischen Daten und die Einzelheiten der akademischen Karrieren entnehme ich der gründlichen Arbeit von Karlheinz PROBST: Geschichte der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Teil 3: Strafrecht – Strafprozeßrecht – Kriminologie, Graz 1987.
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Abb. 1: Franz von Liszt Quelle: Wikimedia Commons
Die epochale Bedeutung von Franz von Liszt (Abb. 1) liegt weniger in eigenen bedeutenden Forschungsleistungen als vielmehr darin, daß er die diffusen Strömungen der Zeit programmatisch zu bündeln und ihnen universitäre wie außeruniversitäre Geltung zu verschaffen verstand. Schon seine Marburger Antrittsvorlesung von 1882 mit dem bezeichnenden Titel „Der Zweckgedanke im Strafrecht“10 brachte den straftheoretisch anstehenden Grundkonflikt auf den Begriff. Daß der Staat mit dem Strafrecht Zwecke verfolgen dürfe und solle, nämlich durch die Verhütung von zukünftigen Straftaten die Rechtgüter wirksam zu schützen (Prävention), war eine Kampfansage gegen die herrschende, noch ganz im Geiste des Idealismus stehende Strafrechtswissenschaft 10 Franz von LISZT: Der Zweckgedanke im Strafrecht [1882], in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 1, Berlin 1905, S. 126–179. Im Jahr 1882 gründete von LISZT zusammen mit Adolf DOCHOW auch die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (= ZStW), die mit wechselnden Herausgebern (v. Liszt bis zu seinem Tode 1918) bis heute fortgeführt wird.
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seiner Zeit. Franz von Liszt eröffnete damit den später so genannten Schulenstreit zwischen der klassischen und der modernen Strafrechtsschule, deren Inspirator und Anführer er zeitlebens blieb. Sein Grundgedanke war einfach und bestechend: Daraus, daß eine wirksame Verbrechensvorbeugung ohne die Kenntnis der tatsächlichen Wirkungszusammenhänge bei der Begehung von Straftaten und ihrer Sanktionierung nicht sinnvoll in Angriff genommen werden kann, folgte für ihn, daß die Strafrechtswissenschaft ihre Beschränkung auf Strafrechtsdogmatik aufgeben und sich zur „Gesamten Strafrechtswissenschaft“11 erweitern müsse. Kriminologie und Pönologie seien als wissenschaftliche Aufgabengebiete der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ anzusehen und noch zu ergänzen um die Kriminalpolitik, in welcher die Folgerungen aus den genannten Wissenschaften für die Gestaltung der Strafrechtspflege und der gesellschaftlichen Einrichtungen im weiteren Sinn zu ziehen seien, sofern sie mit der Begehung von Straftaten in Zusammenhang stünden.12 Im Jahr 1888 gründete Franz von Liszt das „Kriminalistische Seminar“,13 in dem eine Vielzahl begabter Strafrechtler aus den verschiedensten Ländern Europas zusammentrafen, von denen mindestens bis in die zwanziger Jahre hinein nahezu die gesamte deutschsprachige Strafrechtswissenschaft maßgeblich geprägt wurde; jedoch auch in anderen Ländern finden sich deutliche Spuren der Schüler aus dem Liszt’schen Kriminalistischen Seminar. Hinzu kam noch 1889 die Gründung der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“14 und ihrer viel beachteten Mitteilungen.15 Diese Gründungen wirkten sich teils prägend, teils verstärkend auf die seit dieser Zeit in ganz Europa beginnenden Strafrechtsreformen aus, durch welche Schritt für Schritt das klassische Vergeltungsstrafrecht in das moderne Präventionsstrafrecht umgebaut wurde. Dies war der große weltanschaulich-ideologische Umbruch, den Gross und Vargha – jeder auf seine Weise – teils schon im Grundsatz vollzogen vorfanden, teils auf ihrem je eigenen wissenschaftlichen Feld auszubauen und weiter durchzuführen trachteten. Insofern verstanden sie sich auch beide als Mitarbeiter an jenem großen Werk, mittels dessen die Menschheit gemäß den einschlägigen geschichtsphilosophischen Vorstellungen des Positivismus endgültig ihrer Bestimmung zugeführt werden sollte. Und die Gestimmtheit für diese Botschaft hatte eben Franz von Liszt aus den Salons und Kaf11 Ebenda, S. 178. 12 Franz von LISZT: Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung; in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, Berlin 1906, S. 230–250, dort S. 234. 13 Vgl. die Anzeige in ZStW 8 (1888), S. 438, sowie den ersten Bericht in ZStW 9 (1889), S. 233f.; aufschlußreich auch Eberhard SCHMIDT: Persönliche Erinnerungen an Franz von Liszt, in: Hans-Heinrich JESCHECK: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1969, S. 1–11. 14 Vgl. die Anzeige nebst Satzung in ZStW 9 (1889), S. 363ff. 15 Mitteilungen der Internationalen kriminalistischen Vereinigung, 21 Bände von 1889 bis 1914, 6 Bände einer „Neuen Folge“ erschienen zwischen 1926 und 1933.
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feehäusern, aus den Vereinslokalen und Parteizentralen in das Zentrum der konservativen akademischen Jurisprudenz getragen.
III. Von der gerichtlichen Untersuchungskunde zur modernen Kriminalistik – Hans Gross Hans Gross (Abb. 2) wurde 1847 in Graz geboren, ging dort zur Schule und wurde nach dem Studium der Rechtswissenschaften am 31. Juli 1870 zum Doctor iuris utriusque promoviert. Er publizierte anschließend einige kleinere Arbeiten, eine akademische Karriere versuchte er jedoch erst 1893, als er sich mit seinem berühmten Handbuch für Untersuchungsrichter in Graz zu habilitieren versuchte. Stattdessen war er als Staatsanwalt und Richter in der Justizpraxis tätig und blieb dies auch bis zu seiner Berufung nach Czernowitz 1898. Seine Grazer Habilitation war nach endlosen Querelen gescheitert.16 Nach einem weiteren Ruf an die Universität Prag 1902 wurde Gross aber schließlich 1905 zum ordentlichen Professor des österreichischen Strafrechts und Strafprozeßrechts an der Universität Graz ernannt. Auch Hans Gross war im Glauben an die Wissenschaft groß geworden. Teils aufgrund seiner jahrelangen untersuchungsrichterlichen Tätigkeit, teils aufgrund von erstaunlich weit ausgreifender Lektüre in Natur- und Technikwissenschaften sowie vor allem auch der Medizin, erarbeitete sich Hans Gross die Grundlagen zu einem neuen System der Untersuchungskunde, der er den Namen Kriminalistik gab. Natürlich fing auch er nicht auf einer tabula rasa an. Er fand zum Beispiel das Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde (1838) von Ludwig von Jagemann vor, das aber im Wesentlichen eine Technik der polizeilichen Vernehmung enthielt: Regeln darüber, wie Fragen und Fallen zu stellen sind, wie Zugzwänge aufzubauen und so das Geständnis zu erlangen sei, für das der Einsatz der Folter nicht mehr in Betracht kam. Er kannte auch das große Werk über Das deutsche Gaunertum (1858–1862) des Berliner Polizeipräsidenten Avé-Lallemant, in welchem Sprache und Zeichen der Gauner und typische Vorgehensweisen erklärt wurden. Dies alles integrierte er durchaus.17 Jedoch zeichnet sich seine eigene Kriminalistik gerade durch die systematische Anwendung modernster naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Gebiet des strafrechtlichen Personen- und Sachbeweises aus. Er entwickelte eine erstaunliche Phantasie, einschlägige Möglichkeiten überhaupt erst zu erkennen und naturwissenschaftliche Methoden, die sonst in ganz anderen Forschungs- und Praxiskontexten eingesetzt wurden, für die Zwecke der Identifizierung 16 Vgl. PROBST 1987 (Fußnote 9), S. 34ff. 17 Friedrich GEERDS: Historische Kriminalistik, in: Archiv für Kriminologie 151 (1973), S. 1–16; Géza KATONA: Die Entwicklung der Kriminalistik im 18. und 19. Jahrhundert, in: Archiv für Kriminologie 154 (1976), S. 1–8.
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Abb. 2: Hans Gross Quelle: Archiv der Universität Graz
des Täters, der Spurensicherung und der Rekonstruktion des Tatgeschehens einzusetzen. Und wenn es die moderne Genforschung schon damals gegeben hätte, wäre Gross sicher der Erfinder des genetischen Fingerabdrucks geworden. In dem von ihm 1898 gegründeten Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik18 finden wir Gross auch weiterhin als einen unermüdlichen Rezensenten nicht nur der deutschsprachigen, sondern auch der internationalen Literatur auf diesem Gebiet.19 Darüber hinaus zeigen die Beiträge des Archivs, in welchem heute schwer vorstellbaren
18 Die Zeitschrift wurde ab 1916 als Archiv für Kriminologie von Hermann HORCH, Heinrich SCHMIDT, Robert SOMMER, Franz STRAFELLA und Hermann ZAFITA weitergeführt, ab 1922 von Robert HEINDEL, ab 1959 von Franz MEINERT und ab 1972 von Friedrich GEERDS. 19 Schon 1900 wartete er mit einem kriminalistischen Register auf, das einen Eindruck von der Fülle der verarbeiteten Methoden und Quellen gibt (Hans GROSS: Encyclopädie der Kriminalistik, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 6 [1900], S. 1–96).
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Maß es Hans Gross gelungen ist, Wissenschaft und Praxis weit über den deutschsprachigen Raum hinaus für sein Anliegen zu gewinnen. Eine Vielzahl von Mitarbeitern beteiligte sich mit kleineren und größeren Beiträgen, mit Rezensionen oder auch mit Mitteilungen über interessante Fälle, ganz im Sinne der bodenständigen Gross’schen Auffassung, daß in der Wissenschaft zuerst das Sammeln, Beschreiben und Vergleichen erfolgen müsse und man erst dann zur Theorie und zum System gelangen könne. Ein weiterer Schritt in der Konsolidierung der Kriminalistik gelang Hans Gross mit der Einrichtung eines kriminalistischen Institutes an der Universität Graz im Jahr 1913.20 Das Institut litt zwar unter schlechten räumlichen und finanziellen Bedingungen, doch fand Gross auch hier wieder schnell internationale Beachtung und Anerkennung. Der Ausbau des Instituts erfolgte in verschiedene Richtungen: Zunächst wurde eine Abteilung für Vorträge über die strafrechtlichen Hilfswissenschaften eingerichtet, um ein ständiges Forum des wissenschaftlichen Austauschs zu institutionalisieren, sodann eine Handbibliothek, die beim damaligen Stand der Dinge notwendigerweise aus der leihweisen Überlassung von Teilen aus Gross’ eigener Bibliothek bestand. Drittens wurde das bisher beim Straflandesgericht untergebrachte Kriminalmuseum nun an die Universität, respektive das Gross’sche Institut übergeben. (Nach einer längeren Zeit des Verfalls wurde dieses Museum inzwischen wieder auf angemessene Weise im Keller des Hauptgebäudes der Universität Graz eingerichtet.21) Viertens wurde ein eigenes Laboratorium eingerichtet, welches sich an die bestehenden Laboratorien der Lehrkanzeln für gerichtliche Medizin und medizinische Chemie anschloß und die besonderen, für kriminalistische Untersuchungen nötigen Apparate enthielt, die in anderen Laboratorien nicht zur Verfügung standen. (Reste davon sind ebenfalls noch vorhanden.) Eine fünfte Einheit bildete die so genannte kriminalistische Station, die sowohl den Gerichten und Staatsanwaltschaften Gutachten liefern als auch den Studenten, die hier mitarbeiteten, Gelegenheit zum Lernen geben sollte. Schließlich wurde das wissenschaftliche Organ, das seit 1898 von Gross herausgegebene Archiv, dem Institut zugeordnet.22 Das Institut profitierte insbesondere auch von der Zusendung interessanter Waffen, Muster, Präparate und so weiter aus bedeutenden Strafsachen, welche von den Gerichten auf Veranlassung des Justizministeriums eingereicht wurden. Sowohl das Institut als auch das Archiv wurden nach dem Tode von Hans Gross ab 1915 von seinen Schülern und Nachfolgern weitergeführt. 20 Vgl. Adolf LENZ, Ernst SEELIG: Das Kriminologische Institut der Universität Graz, in: Festschrift zur Feier des 350-jährigen Bestehens der Karl Franzens Universität in Graz, Graz 1935, S. 121ff. 21 Eine hübsche Sammlung von Fällen, die liebevoll aus dem Fundus des Museums rekonstruiert worden sind, enthält Christian BACHHIESL, Ingeborg GARTLER, Andrea NESSMANN, Jürgen TREMER (Hg.): Räuber, Mörder, Sittenstrolche. 37 Fälle aus dem Kriminalmuseum der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2003. 22 Vgl. hierzu PROBST 1987 (Fußnote 9), S. 50f.
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IV. Unzeitgemäße Betrachtungen zur Rechtsstellung des Strafgefangenen – Julius Vargha Abb. 3: Julius Vargha Quelle: Archiv der Universität Graz
Julius Vargha (Abb. 3) hat zu Lebzeiten nie die Bedeutung von Franz von Liszt oder Hans Gross gehabt. Sein Name dürfte nur Spezialisten bekannt sein. Er wird hier behandelt, weil sich in seinem zweibändigen Hauptwerk über Die Abschaffung der Strafknechtschaft eine Auffassung über die Rechtsstellung des Strafgefangenen findet, die für die damalige Zeit revolutionär war und sich erst langsam und viel später in Gesetzgebung und Rechtsprechung Bahn gebrochen hat. Vargha wurde 1841 in Ungarn geboren, absolvierte das Gymnasium in Neuhaus in Böhmen und beendete sein Studium der Rechtswissenschaften im Sommersemester 1863 in Graz. Zwischen seiner Promotion 1866 und der Habilitation 1873 unternahm er Studienreisen nach Italien, der Schweiz, Frankreich und Deutschland, um sich mit
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der Strafrechtspflege dieser Länder, insbesondere Italiens, vertraut zu machen. Vargha erhielt in Graz 1882 die Stellung eines besoldeten außerordentlichen Professors, und 1898 wurde ihm auch der Titel eines ordentlichen Professors verliehen. Das damals zur Besetzung anstehende Ordinariat für Strafrecht und Strafprozeßrecht erhielt er jedoch nicht, wobei es durchaus eine Rolle gespielt haben mag, daß Vargha in Bezug auf die Willensfreiheit – ähnlich übrigens wie der zur gleichen Zeit in Graz tätige Soziologe Ludwig Gumplowicz – einen streng deterministischen Standpunkt einnahm, der dem zuständigen Minister gefährlich und revolutionär schien. Die Grazer „masterminds“ der Sozialwissenschaften hatten es offensichtlich nicht leicht an ihrer Universität. In der Tat ist Julius Vargha von den hier besprochenen Wissenschaftlern vielleicht am intensivsten durchdrungen von der Vorstellung, die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf die menschlichen Dinge würde zum Fortschritt der Kultur Entscheidendes beitragen. Seine Lektüre sind aber weniger die Werke, die Hans Gross zur naturwissenschaftlichen Fundierung des Personen- und Sachbeweises einsetzt, sondern vielmehr die klassischen Werke der italienischen, französischen und englischen Kriminologie, ergänzt um psychologische und psychiatrische, gelegentlich auch soziologische Werke, und schließlich die seit Adolphe Quételet in Aufschwung befindliche Kriminalstatistik. Es geht ihm um die Erklärung des kriminellen Verhaltens, nicht um die Ergreifung und Überführung des Täters. Was den vorhin genannten Determinismus betrifft, so sind Varghas Ansichten nicht besonders originell. Er versucht, die Motivation des Verbrechers in neurophysiologische Vorgänge aufzulösen, die im Übrigen durch eine Vielzahl von Ursachen, insbesondere auch soziale, wie Armut und Arbeitslosigkeit, hervorgerufen sein können. Für die Kriminalität vom Typus des „Augenblicksverbrechers“, bei dem es an sich ja per definitionem keine persistenten „Ursachen“ der Kriminalität gibt, hypostasiert er einen sogenannten „Momentsirrsinn“, um die psychophysische Ableitung lückenlos darstellen zu können, was ebenso kraus wie bezeichnend für den damaligen Zeitgeist der wissenschaftlichen Weltanschauung ist, dem Vargha hier folgt. Originell sind dagegen die Folgerungen, die Julius Vargha aus dem Determinismus für die Gestaltung der Strafrechtspflege zieht. Wenig überraschend ist hierbei, daß wir ihn zunächst bezüglich der Hauptdichotomie auf der Seite der jungen deutschen Kriminalistenschule um Franz von Liszt finden, die sich in dieser Zeit ihre heftigen Gefechte mit der klassischen, am Vergeltungsgedanken festhaltenden Schule lieferte. Daß eine auf Schuld und Vergeltung aufbauende Strafrechtspflege und Kriminalpolitik der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten kann, ist auch für Vargha ausgemacht. Er eröffnet jedoch innerhalb der modernen Anschauungen eine zweite Front, die für seinen Standpunkt charakteristisch ist. Für viele Strafrechtler der modernen Schule, und so auch etwa für Hans Gross und Franz von Liszt, war der moderne Determinismus, der
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den Delinquenten zwar nicht für schuldig, aber für gefährlich ansah, durchaus vereinbar mit einer repressiven, vor schwerer körperlicher Mißhandlung nicht zurückstehenden Vollzugspraxis. Es war noch eine Zeit ungebrochenen bürgerlichen Selbstbewußtseins, in der irgendwelche Rücksichten, die den energischen Schutz der Gesellschaft vor Straftaten in Frage stellen konnten, wenig Widerhall fanden. Auch bei Hans Gross steht die naturwissenschaftliche Fundierung der Kriminalistik ganz selbstverständlich im Dienste einer Effektivierung der Verbrechensbekämpfung, deren Legitimität irgendeiner weiteren Begründung nicht zu bedürfen schien. Anders Vargha. Er denkt hier konsequenter. Für ihn folgt aus dem Umstand, daß das Verbrechen in einer neurophysiologischen Ursachenkette steht, nicht nur, daß der Verbrecher nicht wegen Schuld zu verurteilen ist, die man vergelten müßte, sondern auch, daß die sichernden Maßnahmen, denen dieser wegen seiner Gefährlichkeit gegebenenfalls zuzuführen ist, über diesen Sicherungszweck hinaus in keiner Weise grausam oder erniedrigend sein dürfen. Der Gefangene ist weder ein wildes Tier noch ein Sklave, sondern er bleibt Mitmensch und Mitbürger. Der Unglückliche, bei dem Anlage, Umwelt und situative Umstände jenen Verursachungsprozeß ausgelöst haben, an dessen Ende das Verbrechen steht, verdient nach Vargha Förderung und Hilfe; wenn nötig, muß man die Gesellschaft auch auf Dauer vor ihm schützen, aber ein grausamer, entwürdigender oder entehrender Eingriff ihm gegenüber ist niemals zu rechtfertigen. Wer dies zuläßt oder gar vergeltende Grausamkeit fordert, ist nicht nur im Unrecht und leichtsinnig, weil es leicht auch ihn oder ein Mitglied seiner Familie treffen kann, sondern er beweist damit nur, daß er längst nicht auf der Höhe des ethischen Fortschritts steht. Wie Franz von Liszt ist auch Julius Vargha davon überzeugt, daß seine Ideen nicht nur richtig sind, sondern daß sie sich letztendlich unaufhaltsam durchsetzen werden, weil ihre geschichtsphilosophische Macht sie über die Querulanten und Kleingeister der Gegenwart triumphieren lassen wird.
V. Zur Wirkungsgeschichte Das hervorstechende Merkmal der „enzyklopädischen Kriminologie“ der von Hans Gross gegründeten Österreichischen Schule liegt in der Synthese der gesamten Kriminalwissenschaften.23 Eine solche Integration hatte zwar auch Franz von Liszt inauguriert, als er forderte, die Strafrechtswissenschaft zur „Gesamten Strafrechtswissenschaft“
23 Vgl. hierzu schon die Graphik im Vorwort zur 4. Auflage von Hans GROSS’ Handbuch für Untersuchungsrichter (1904) sowie die Weiterentwicklungen bei Roland GRASSBERGER: Qu’est-ce que la Criminogie?, in: Revue de Criminologie et de Police Technique 1949, S. 3–9.
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zu erweitern, das heißt die klassische Strafrechtsdogmatik um die wissenschaftliche Erforschung der Ursachen des Verbrechens (Kriminologie) und der Wirkungen der Strafe (Pönologie) sowie um die daraus folgenden Geltungsgrundsätze der staatlichen Institutionen der Bekämpfung des Verbrechens (Kriminalpolitik) zu ergänzen. Doch blieb dies eine Integration unter strafrechtlichen Vorzeichen. Das Strafgesetz sollte die „magna charta des Verbrechers“ bleiben und nur in diesem strafrechtlich abgegrenzten Bereich sollte, erfahrungswissenschaftlich angeleitet, Prävention sein. Bei Hans Gross hingegen ist der Umstand, daß die Bekämpfung des Verbrechens strafrechtlichen Regeln folgt, nur ein Zugeständnis an die gegenwärtig noch begrenzten erfahrungswissenschaftlichen Möglichkeiten im Zugriff auf das Verbrechen und den Verbrecher. Das Ziel ist ein von rechtsdogmatischen Fesseln gelöstes, allein erfahrungswissenschaftlichpsychologisches „Einwägen“ der Strafe,24 und im übrigen sollte es keine Beschränkungen für präventive Maßnahmen geben, sofern sie nur sauber wissenschaftlich begründet sind. Denn der Fortschritt ist in sich gerechtfertigt, und wer wollte das Ziel einer Verhütung oder Verminderung des Verbrechens für die Gesellschaft und den Täter selbst ernsthaft in Frage stellen? Gross denkt hier „radikal“ positivistisch. Man wird an die totalitäre Konsequenz erinnert, mit welcher Auguste Comte in seinem Système25 die Gestaltung der Gesellschaft aus dem Geist des Positivismus ausführt, während er für die Juristen nur Verachtung kennt. Ernsthafte Selbstzweifel fehlen hier wie dort. Sich der wissenschaftlich deduzierten Wahrheit entgegenzustellen sei entweder närrisch oder böswillig, zumal sie sich ohnehin durchsetzen werde. In Graz waren die wichtigsten Exponenten der enzyklopädischen Kriminologie nach Gross zunächst Adolf Lenz als Leiter des Instituts und dann Ernst Seelig,26 auch das Archiv wurde weitergeführt und das Handbuch erfuhr laufend Neuauflagen. International sank der Stern dieser Schule schon nach 1918, stärker noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als die US-amerikanischen Sozialwissenschaften ihren Siegeszug um die Welt antraten und mit angemessener Verspätung auch Österreich erreichten.27 Die US-amerikanische Kriminologie war zwar in sich sehr heterogen und bunt, aber doch, erstens, ziemlich stark kriminalsoziologisch dominiert und zweitens institutionell klar von der Strafrechtspflege getrennt. So kam es, daß sich die Kriminalistik im engeren Sinn, das heißt die Lehre von der Ermittlung und Überführung des Täters, als eine polizeiliche Hilfswissenschaft überwiegend von der Kriminologie ablöste, die ihrerseits stärkere aka24 Ganz klar hat GROSS dies in seiner Grazer Antrittsvorlesung vom 25. Oktober 1905 ausgesprochen, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 21 (1905), S. 169–183. 25 Auguste COMTE: Système de politique positive (1851–1854), in: Œuvres, Bände VII–X, Paris 1968 bis 1971. 26 Vgl. PROBST 1987 (Fußnote 9), S. 56–72 sowie ebenda die Graphik S. 192. 27 Noch ganz in der alten Tradition steht Roland GRASSBERGER: Österreich und die Entwicklung der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, in: Wissenschaft und Weltbild 1965, S. 277–289.
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demische Ambitionen hatte und sich dabei auf Ursachen- und Behandlungsforschung verlegte, wenn sie nicht ohnehin ganz sozial- und justizkritisch eingestellt war.28 Bleibende und unbestrittene Bedeutung hatte Gross nur in diesem engeren kriminalistischen Bereich behalten, während er ansonsten zunehmend kritisch gesehen wurde. Vor allem seine forschen kriminalpolitischen Forderungen, etwa auch nach eugenischen Maßnahmen,29 kamen zu Recht in Mißkredit, daneben auch seine Geringschätzung für die freiheitssichernden Wirkungen von Strafgesetz und Strafrechtsdogmatik.30 Übrigens fiel auch auf Franz von Liszt der Schatten des Vorwurfs, über der kriminalpolitischen Effektivierung der Strafrechtspflege die Gefahren ihrer Instrumentalisierung für politische Zwecke übersehen zu haben.31 Reziprok dazu erinnerte man sich gelegentlich an Julius Vargha, der seinerzeit eher im Schatten von Gross stand. Sein menschlicher Blick auf den Straftäter paßte besser in die Zeit der nun erst voll einsetzenden Strafrechts- und Strafvollzugsreformen. Darüber hinaus konnte er als früherer Vorläufer des sogenannten Etikettierungsansatzes (labeling approach) für die österreichische Kriminologie reklamiert werden.32 Mit Recht wurde allerdings betont, daß dies nur mit erheblichen Einschränkungen möglich ist,33 denn 28 Nach einer verbreiteten Definition interessiert sich danach die Kriminologie für „die Vorgänge der Entstehung von Gesetzen, der Verletzung von Gesetzen und der Reaktion auf Gesetzesverletzungen“ (Edwin H. SUTHERLAND, Donald R. CRESSEY: Criminology [1924], 10. Aufl., Philadelphia u. a. 1978, S. 3). 29 Hans GROSS: Die Degeneration und das Strafrecht, in: Allgemeine Österreichische Gerichtszeitung 1904, S. 307–310. 30 In diesem Punkt richtig, wenn auch insgesamt einseitig Wolfgang STANGL: Bruchlose und abgebrochene Traditionen der österreichischen Kriminologie, in: Kriminalsoziologische Bibliographie 1982, S. 3–22; im historischen Urteil gerechter Karlheinz PROBST, Peter J. SCHICK, Michael SUPPANZ: Hans Gross, in: Kurt FREISITZER u.a. (Hg.): Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985, S. 211–223. 31 So zum Beispiel Wolfgang NAUCKE: Die Kriminalpolitik des Marburger Programms, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1982, S. 525–564. Die Breite dieser Gesamttendenz, und damit die Sonderstellung Varghas, wird im Übrigen in einigen neueren wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten offensichtlich; vgl. Peter BECKER: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002; Silviana GALASSI: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; Richard F. WETZELL: Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880–1945, Chapel Hill 2000. 32 So vor allem Karlheinz PROBST: Die moderne Kriminologie und Julius Vargha, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1976, S. 335–351, sowie Ders.: Der Labeling-approach, eine österreichische kriminologische Theorie, in: Österreichische Richterzeitung 1977, S. 45–51. 33 PROBST 1976 und 1977 (Fußnote 32). Tatsächlich hat sich Vargha zwar gelegentlich in dem Sinn geäußert, daß die gesellschaftlichen Normen das Verbrechen konstituieren und überdies dem historischen Wandel unterliegen, doch bleibt dies in seinem Werk gegenüber der positivistischen Grundauffassung und Grundstimmung marginal. Im übrigen stammen die Etikettierungsansätze aus der reichen und durchaus eigenständigen Tradition der Chicago-Schule. Auch für sie ist der Gedanke, daß es ohne Norm kein Verbrechen gibt, nur ein Gesichtspunkt unter anderen, welcher allerdings in der neueren Kriminologie in Deutschland und Österreich einseitig und eher irreführend rezipiert wurde.
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die feinen interaktionistischen und konstruktivistischen Beobachtungen des labeling approach, so etwa das Gespür für die Ausdrucksformen der sogenannten „Definitionsmacht“, für die Zeremonien der Degradierung und für die subtilen Mechanismen der Stigmatisierung sowie deren kriminalitätsfördernde Wirkungen sind dann doch – bei allem Respekt für Vargha – eher Leistungen der neugierigen Soziologen aus der Chicago-Schule gewesen,34 die durch ihre Stadt stromerten, während Vargha trotz seiner Reisen ein Schreibtischgelehrter blieb. Immerhin zeigt aber Varghas Einsicht, daß es ohne Gesetz kein Verbrechen und ohne Norm keine Devianz gibt, daß man nur die eine Seite der Medaille sieht, wenn man allein – und dies im Vollgefühl bornierter Rechtschaffenheit – auf die kriminelle Motivation des Täters und ihre Entstehung schaut und nicht auch den formenden und nicht selten verstärkenden Einfluß sieht, den die Institutionen der Strafrechtspflege ihrerseits auf kriminelle Karrieren ausüben. Vargha ist daher ein früher und prominenter Vertreter einer sich selbst kritisch reflektierenden Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik, und diese Attitüde wäre auch heute durchaus wieder angebracht, wo es wieder oftmals nur tönt: „früher, härter, länger, für immer!“ Während also Hans Gross zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach beim FBI, bei Scotland Yard und beim deutschen Bundeskriminalamt in Wiesbaden präsent ist, fehlt es unserer derzeitigen kriminalpolitischen Diskussion wieder an der kritischen Reflexivität eines Julius Vargha. Die kritischen Kriminologen, die eine Zeitlang ziemlich laut waren, sind jedenfalls weitgehend verstummt.
34 Vgl. zum Labeling Approach und seiner Rezeption in Deutschland Michael BOCK: Kriminalsoziologie in Deutschland. Ein Resümee am Ende des Jahrhunderts, in: Horst DREIER (Hg.): Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Gedächtnissymposium für Edgar Michael Wenz, Tübingen 2000, S. 115–136, sowie Hendrik SCHNEIDER: Schöpfung aus dem Nichts. Mißverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach und ihre Folgen im Jugendstrafrecht, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1999, S. 202–213.
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Florian Oberhuber Hermann Heller: Politische Theorie und wissenschaftliche Weltanschauung
„Der Betrachter der politischen Wirklichkeit findet sich zunächst einem chaotischen Durcheinander der entgegengesetztesten Behauptungen, Forderungen, Schlagworte und Aktionen gegenübergestellt, ein verwirrendes Kampfgetöse umgibt ihn, das dem ungeübten Ohr, besonders in revolutionären Epochen, den Eindruck völliger Sinnlosigkeit machen muß.“ (Ideenkreise, S. 269) Mit dieser Diagnose beginnt Hermann Heller seine Arbeit zu den Politischen Ideenkreisen der Gegenwart (1926),1 in der er seine früheren ideengeschichtlichen Studien zusammenführte und eigene politische Erfahrungen reflektierte.2 Als Ziel dieser Arbeit setzte Heller sich die rationale Ordnung seines Gegenstands: zum einen nach systematischen Gesichtspunkten, zum anderen hinsichtlich der konkreten Entfaltung der politischen Ideen in der deutschen Geschichte. Es gelte, „zwischen den verschiedenen Ideenkreisen selbst einen Zusammenhang zu finden, um so ihren Entwicklungsgang wenigstens in einer bescheidenen Skizze einer Gesamtanschauung einheitlich begreifen zu können“ (Ideenkreise, S. 273). Auf diesem Weg der historischen Reflexion könnte es gelingen, die innere Logik der politischen und sozialen Entwicklung zu begreifen und für die Aufgaben der Gegenwart Orientierung zu gewinnen. Die folgenden Überlegungen werden dieses Problem der Orientierung ins Zentrum einer Rekonstruktion des Heller’schen Denkens stellen. Es war die Zeit selbst, namentlich der Bruch, den die Errichtung der Weimarer Republik in mehrfacher Hinsicht bedeutete, welche die Frage der Orientierung gerade auch für die juristische Zunft aufwarf. Der in der Praxis dominante Gesetzespositivismus hatte schon im ausgehenden 19. Jahrhundert darauf verzichtet, über die Systematisierung und Kommentierung des Rechts hinaus eine umfassende Deutung und Legitimation der politischen Ordnung zu geben. Mit dem Umbruch von 1919 wurde diese Abstinenz zum Problem, galt es doch, die neuen Verhältnisse rechtlich wiederum einzuholen und eine zeitgemäße Interpretation der Weimarer Verfassung zu entwickeln.3 Zugleich war die Zeit relativer politischer 1 Werke von Hermann HELLER werden hier wie im Folgenden direkt im Text zitiert. Zu den Werkkürzeln vgl. die Auswahlbibliographie am Ende des Beitrags. 2 Vgl. Wolfgang SCHLUCHTER: Hermann Heller. Ein wissenschaftliches und politisches Portrait, in: Christoph MÜLLER, Ilse STAFF (Hg.): Staatslehre in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main: 1985, S. 24–42, hier S. 29. 3 Wolfgang MÄRZ: Der Richtungs- und Methodenstreit in der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD, Friedrich TENBRUCK (Hg.): Gei-
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Stabilität vorbei. Die politischen Parteien standen einander als integrale Massenbewegungen mit unversöhnlichen Gesellschaftsentwürfen und steigenden Erwartungen an politische Gestaltbarkeit gegenüber. Die Gefahr eines Bürgerkriegs war ständig gegenwärtig. Den politischen Eliten fehlte eine Orientierung am Kompromiß, und auch die Intelligenz zerfiel in scharf getrennte Lager und verschärfte den politischen Antagonismus durch ihre Abschließung gegeneinander und die Geringschätzung der praktischen Politik gegenüber der Haltung einer fundamentalen Opposition zum Status quo.4 Hermann Heller nahm in diesem Kontext eine seltene Position ein. Er war zuallererst für die staatliche Ordnung, und erst dann Sozialist. Er hatte in der späten Habsburgermonarchie das Problem schwindender Staatsloyalität und erstarkender politisch-nationaler Bewegungen konkret erfahren. Den Staat als Voraussetzung jedes positiven politischen Prozesses galt es zu verstehen und zu rechtfertigen – gerade gegenüber einem schlechten Revolutionspathos von links. Diese Aufgabe bewegte Heller in allen Dimensionen seines Schaffens: als politischen Schriftsteller und Redner, als Wissenschaftler, als politischen Pädagogen und als praktizierenden Juristen. Die folgenden, notwendigerweise kurzen Überlegungen werden die Grundzüge seiner Antwort auf die Weimarer Situation herausarbeiten. Hellers im engeren Sinne juristische Arbeiten und Interventionen werden dabei außer Acht gelassen; hier sei auf die umfassende Sekundärliteratur verwiesen.5 Die Aufmerksamkeit gilt vielmehr der spezifischen Dimension einer politischen Theorie in Hellers ausgesprochen vielseitigem Werk, wobei besonders deren Spannungsverhältnis zum Anspruch und den Anforderungen von Wissenschaft beleuchtet werden soll.
I. Hermann Ignatz Heller wurde am 17. Juli 1891 in Teschen im Osten der Habsburgermonarchie geboren (heute polnisch-tschechisch Cieszyn/Český Těšín). Über sein Leben ist nur wenig bekannt.6 Die Familie war schon länger in Teschen ansässig gewesen und steswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entstehung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 75–133, hier S. 78–88. 4 Zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik vergleiche man nur Walter LAQUEUR: Weimar. A Cultural History 1918 –1933, London 1974, S. 41–77. 5 Zum Beispiel Wolfgang SCHLUCHTER: Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln-Berlin 1968; David N. DYZENHAUS: Legality and legitimacy: Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller in Weimar, Oxford 1997; Ingeborg MAUS: Hermann Heller und die Staatsrechtslehre der Bundesrepublik, in: Christoph MÜLLER, Ilse STAFF (Hg.): Staatslehre in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1985, S. 194–220. 6 Vgl. Klaus MEYER: Hermann Heller. Eine biographische Skizze, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 293–313; Christoph MÜLLER: Hermann Heller. Leben, Werk, Wirkung, in: Hermann HELLER:
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gehörte der jüdischen Gemeinde an. Der Vater, Jakob Heller, arbeitete als Rechtsanwalt. Hermann ging im gemischtnationalen Teschen zur deutschen Schule, sodann ins Kronprinz-Rudolf-Gymnasium im mährischen Friedek (Frýdek-Místek). Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaften in Wien, Innsbruck, Kiel und Graz. Im Jahr 1915 legte er dort während eines Urlaubs vom Kriegsdienst seine Promotion ab. Eine Dissertation sah die Studienordnung nicht vor.
Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 429–476; Wilfried FIEDLER: Die Wirklichkeit des Staates als menschliche Wirksamkeit – Über Hermann Heller (Teschen 1891–Madrid 1933), in: Oberschlesisches Jahrbuch 11 (1995), S. 149–167.
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Nach Kriegsende ging Heller zunächst nach Leipzig, wo er unter anderem für die von dem Staatsrechtler Richard Schmidt bei Reclam herausgegebene Reihe Bücher für staatsbürgerliche Bildung die Einleitungen zu Hegels Verfassung Deutschlands (1919) und Lassalles Arbeiter-Programm (1919) verfaßte. Heller fand bei den beiden Autoren jene politischen Probleme bearbeitet, die er für Weimar als zentral ansah: nationale Machtpolitik und soziale Frage. Die politischen Ideenkreise von Nationalismus und Sozialismus gelte es zu versöhnen, um einerseits die Nachkriegssituation zu bewältigen und andererseits die schädliche Polarisierung zwischen den Parteien zu überwinden. Hellers eigenes politisches Schreiben richtete sich dabei primär an das sozialistische Lager, war er doch im Jahr 1920, wohl unter dem Einfluß Gustav Radbruchs, der SPD beigetreten. Heller engagierte sich in der Partei im Rahmen der sozialistischen Jugend und besonders des Hofgeismarer Kreises, der sich unter dem Eindruck der Ruhr-Krise (1923) gebildet hatte und für einen Sozialismus im nationalen Rahmen eintrat. In dem Buch Sozialismus und Nation (1925) legte Heller eine theoretische Fundierung dieser Position vor, welche insbesondere eine scharfe Kritik von marxistischen Ideologemen wie Pazifismus, Internationalismus und Staatsverneinung enthielt, denen Heller das Programm einer realistischen Politik für die SPD entgegensetzte. Im vorliegenden Kontext interessiert an diesen frühen Arbeiten vor allem deren eigentümliche Spannung zwischen der Betonung von pragmatischer Politik und Entzauberung politischer Mythen auf der einen Seite und der Affirmation eines politischen Pathos auf der anderen. Sozialismus und Nationalismus, das waren jene politischen Ideen, für die sich eine junge Generation begeistern konnte, und es liegt nahe, Hellers ideengeschichtliche Reflexion als späte Einholung der eigenen politischen Sozialisation zu begreifen. In seiner Einleitung zum Arbeiter-Programm lobte er Lassalles Leistung, der Arbeiterklasse „jenen begeisternden religiösen Hintergrund“ gegeben zu haben, „dessen keine wahrhaft große politische Bewegung entraten kann“ (Arbeiter-Programm, S. 9): Die Herrschaft des Arbeiterstandes mußte als letztes aller Ziele gerechtfertigt werden, dann durfte sein politisches Programm die Kraft einer Erlösungsidee beanspruchen. […] So gab Lassalle dem popolo einen dio, und der Glaube an ihn mußte selbst dem Größten das geben, wofür er mit Ehren untergehen konnte. (Ebenda, S. 9f.)
Heller sah diese gleichsam religiöse Kraft politischer Vokabulare nicht nur als unhintergehbares Element der politischen Realität, sondern auch als notwendige Ressource für den Kampf um eine gerechte Gesellschaft. Es war dies auch ein Grund, warum er den „rationalistischen“ Liberalismus eines Hans Kelsen ablehnen mußte, um stattdessen auf eine zeitgemäße Erneuerung des Moments der Utopie zu setzen.
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Die Zerstörung einer transzendenten Begründung von Werten und Verbindlichkeiten und die Entleerung des anthropologischen Universalismus und aller ethisch-politischen Gehalte, die er in der Weimarer Situation als umfassende „geistige Krise“ diagnostizierte, rechnete Heller eben jenem „Positivismus“ (Materialismus, Naturalismus) des 19.Jahrhunderts zu, als dessen Erben er Kelsen verstand. Die zynischen Theorien eines Sorel oder Pareto betrachtete er als verzweifelte Reaktionen auf den Nihilismus, hinter denen letztlich die Sehnsucht nach einer geistigen Erneuerung stehe. Der Faschismus, der als Schöpfer neuer Werte antritt, könne diese Erneuerung jedoch nicht leisten: er verbleibe „in einem ,religiösen Kunstgewerbe‘, einer Als-Ob-Mythologie und einer geschickten Propagandatechnik“ (Fascismus, S. 604), welche das Fehlen echter Lösungen der sozialen Frage, des Klassengegensatzes und der Krise der demokratischen politischen Techniken nur verberge. Während Heller den Faschismus also hinsichtlich seiner geistigen Grundlagen wie seiner politischen Praxis dekonstruierte,7 teilte er die Diagnose einer Krise der Gegenwart und einer notwendigen umfassenden Erneuerung. Eine „radikal desillusionierte und zutiefst glaubenssehnsüchtige Jugend“ könne mit den überkommenen Antworten, vertreten durch eine „zutiefst ratlos[e]“ Kriegsgeneration, nicht befriedigt werden (ebenda, S. 60f.). Neue, grundlegende politische Wertentscheidungen müßten wachsen, um Staat und Recht wiederum eine transzendente Legitimation zu verleihen (ebenda, S. 471). Unter den Weimarer Eliten sah Heller dieses Potential nicht. Seine Option galt folglich der Demokratie als jener offenen politischen Form, welche einer Erneuerung von unten Raum gebe, indem sie zumal das „Selbsterziehungswerk“ der Arbeitnehmerschaft durch deren Einbeziehung in den politischen Prozeß, und daher auch die Konfrontation mit den Notwendigkeiten politischer Praxis ermögliche (ebenda, S. 609). Aus diesen Positionen erhellt sich die zentrale Stellung, die der politischen Bildung für Heller zukommen mußte. Von einer zeitgemäßen politischen Theorie forderte er nicht nur Wissenschaftlichkeit etwa im Sinne einer neukantianischen Methodenreinheit, sondern auch politisch-pädagogische Wirksamkeit (Krisis, 24). Aufklärung als kritische Entzauberung politischer Illusionen war die eine Seite dieses Auftrags; positive geistige sowie politisch-ethische Orientierung war die andere. – Beides suchte Heller auch in der pädagogischen Praxis zu verwirklichen, in seinem Engagement in der sozialistischen Jugenderziehung sowie der Volkshochschularbeit in Kiel und Leipzig.
7 Hellsichtig im Hinblick auf Österreich HELLERs Kritik des Korporatismus etwa bei Othmar Spann: „Mit innerer Notwendigkeit muß die korporative Idee in ihr genaues Gegenteil, in die höchst unorganische, notwendig zentralistische Diktatur ohne organische Kontinuität umschlagen, wenn und soweit es ihr an einem statischen und soziologisch wirksamen Wertkosmos fehlt.“ (Fascismus, S. 483)
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II. Die Problematik einer politischen Theorie der Gegenwart und ihrer Erneuerung skizzierte Heller erstmals 1926 in seinem Aufsatz „Die Krisis der Staatslehre“. Wiederum kritisierte er primär den Gesetzespositivismus als „substanz- und bindungslose[n] Formalismus“, der gerade durch sein Aufgeben „ethisch-metaphysische[r] Bestimmungen“ dem unkontrollierten Wuchern von Metaphysik wie von „Pseudo- und Kryptosoziologie“ erst den Weg geebnet habe (Krisis, S. 9f.). Heller kritisierte im Sinne des aufkommenden staatsrechtlichen Antipositivismus das Projekt einer autonomen Rechtswissenschaft und betonte deren Einbettung in die empirischen Kulturwissenschaften. Auf der anderen Seite grenzte er sich von einem Empirismus ab, wie er ihn etwa bei Adepten von Ludwig Gumplowicz in Graz kennen gelernt haben mag, der normative Fragen negiere, um Recht nur als Resultante gesellschaftlicher Interessenkämpfe zu begreifen (ebenda, S. 14). Die Staatslehre müsse also entgegen einseitigen methodologischen Programmen an die klassischen philosophischen Themen anknüpfen, wie beispielsweise an die Frage nach dem „Wesen, der Realität und Einheit des Staates, das staatliche Zweck- und Rechtfertigungsproblem, die Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Macht“ oder das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (ebenda, S. 10). Diese Bestimmung schloß ausdrücklich die Aufgabe mit ein, auch auf solche Fragen Antworten zu geben, die tief in die parteipolitischen Konflikte der Gegenwart hineinreichten. Denn der Versuch des Positivismus, die Politik durch Anlehnung an ein Modell der logisch-mathematischen Wissenschaften aus der Staatslehre auszutreiben, sei Ausdruck einer Entscheidungsangst, die letztlich in einen Agnostizismus und Relativismus münde (Problematik, S. 276). Eine juristische Objektivität im naturwissenschaftlichen Sinn sei eine Chimäre. De facto erniedrige sie die Jurisprudenz zur Dirne, „die sich dem jeweiligen Machthaber an den Hals wirft“.8 Eine Zuspitzung erfuhr diese Polemik gegen den Gesetzespositivismus an der umstrittenen Frage der Auslegung des Gleichheitsgrundsatzes der Weimarer Verfassung. Heller motivierte seine Kritik mit einer historischen Erzählung von der Verleugnung der „materiellen Rechtsstaatsidee“ durch das Bürgertum im Angesicht des aufsteigenden Proletariats. Aus der Gleichheitsidee als Rechtsgrundsatz sei im Zeichen des Positivismus eine bloße Verwaltungsmaxime geworden, „die ohne Rücksicht auf den gerechten oder ungerechten Inhalt des Gesetzes dessen berechenbare Anwendung auf den Einzelfall verlangte“ (Rechtsstaat, S. 449).9 Dem gegenüber knüpfte Heller an die idealistische
8 HELLER (Krisis, S. 13) übernimmt dieses Zitat von Rudolf LAUN: Der Staatsrechtslehrer und die Politik, in: Archiv des öffentlichen Rechts 43 (1922), S. 164. 9 Die Biegsamkeit juristischer Argumentationen zeige sich daran, daß gegenwärtig gerade politisch rechts ste-
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Rechtsphilosophie an und formulierte unter dem Schlagwort „sozialer Rechtsstaat“ das Programm einer „Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeitsund Güterordnung“ (ebenda, S. 451). Unter dem materiellen Rechtsstaatsgedanken verstand Heller mit Hegel die Realisierung der Idee der Freiheit durch das Recht. Damit war vor allem jene Kritik an einem Zynismus der Freiheit mitgedacht, wie sie Karl Marx dem bürgerlichen Liberalismus vorgeworfen hatte, nämlich daß formelle Freiheit unter Voraussetzung ungleicher Lebensbedingungen die reale Unfreiheit der Arbeiterklasse zur Folge habe (Ideenkreise, S. 327 und S. 375). In seiner Arbeit zu den Ideenkreisen aktualisierte Heller diese Forderung nach Einlösung der Prinzipien des bürgerlichen Universalismus auch für die Arbeiterklasse gemäß den ökonomischen Bedingungen der Zwischenkriegszeit – inklusive eines eindringlichen sozialstatistischen Einblicks in das zeitgenössische Arbeiterelend, kontrastiert mit einer Bestandsaufnahme jüngerer sozialpolitischer und sozialrechtlicher Entwicklungen (ebenda, S. 393–407). Eine entsprechende Wendung der Hegel’schen Rechtsphilosophie in Richtung der sozialen Frage konnte Heller bei Lorenz von Stein finden.10 Dieser hatte – noch unter monarchischen Bedingungen – bereits die Idee eines „sozialen Königtums“ als Antwort auf das Auseinanderfallen von Staat und Gesellschaft ausformuliert. Die Dynamik der freigesetzten Wirtschaftsgesellschaft produziere einen strukturellen Bürgerkrieg von Besitzenden und Nicht-Besitzenden, den jene aus sich heraus nicht lösen könne. Nur ein im Verhältnis zur Gesellschaft möglichst unabhängiger Staat, so von Stein, könne gegenüber dieser mit Marx als Klassengegensatz gedachten Dialektik der sozialen Bewegung vermitteln. Seine verwaltende Tätigkeit könne die Voraussetzungen schaffen, unter denen alle Individuen über ihre gesellschaftliche Bedingtheit hinaus ihre autonome Persönlichkeit realisieren können, sodaß sich durch die „Arbeit“ des Staats die Idee der Selbstbestimmung in der Gesellschaft fortsetze. Diese Idee des Staates als „die zur persönlichen Einheit erhobene Gemeinschaft des Willens aller einzelnen“11 liegt auch Hermann Hellers Programm eines sozialen Rechtsstaats zugrunde und fundiert jene Auffassung von materieller Gerechtigkeit, welche ihm für die Auseinandersetzung der Gegenwart Orientierung verlieh. Anders als von Stein hende Juristen einer substantiellen Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes das Wort reden, allerdings um weiter reichende wohlfahrtsstaatliche Interventionen im Sinne eines Willkürverbots zu verunmöglichen (vgl. Rechtsstaat, S. 449). 10 Zur von Stein’schen Rezeption der idealistischen Philosophie vgl. Stefan KOSLOWSKI: Die Geburt des Sozialstaats aus dem Geist des Deutschen Idealismus. Person und Gemeinschaft bei Lorenz von Stein, Weinheim 1989. 11 Lorenz von STEIN: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830, München 1921 (1850), S. 35, S. 40–46.
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hatte Heller dieses rechtsstaatliche Ideal jedoch unter Bedingungen der Abwesenheit einer monarchischen Repräsentanz der Staatsautorität zu denken. Die Begriffe der Volkssouveränität und der magistratischen Repräsentation nehmen folglich eine zentrale Bedeutung in seiner politischen Theorie ein, welche rückblickend nicht zu Unrecht als „republikanisch“ bezeichnet wurde.12 Heller dachte Demokratie in der Rousseau’schen Tradition als Herrschaft des Volks als Einheit über das Volk als Vielheit (Souveränität, S. 97) und stellte damit die liberté des anciens klar gegenüber den liberalen Freiheiten in den Vordergrund. Zur konkreten Realisierung des Allgemeinwillens kam der Legislative die zentrale Stellung zu, sie sei gegenüber den anderen Gewalten, zumal den Gerichten, zu stärken. Ihre Stellung sei allerdings keineswegs souverän, sondern auf das Volk als Auftraggeber zu beziehen. Das hieß einerseits, daß die Volksvertreter als Amtsträger aufgerufen seien, über ihre parteiund interessenpolitischen Beziehungen hinaus im Sinne des Allgemeinwillens zu handeln. Andererseits liege das Spezifikum der demokratischen Volksbindung darin, daß eine explizite und wirkungsvolle juristische Bindung bestehe, und dies aufgrund der Bestellung der Repräsentanten durch Wahl und der Möglichkeit der mittelbaren oder unmittelbaren Abberufung durch das Volk (Homogenität, S. 426). Fundiert wurde diese politische Theorie von Heller mit einer soziologischen Interpretation des Begriffs der Volkssouveränität. Er verstand diese nicht nur als fiktives Legitimationsprinzip oder als Ergebnis rein technischer Arrangements wie Wahlen und Mehrheitsprinzip, sondern als „reale Existenz einer volonté générale“ (Souveränität, S. 97). Er interessierte sich folglich ganz empirisch für das Problem der „Vergemeinschaftung der individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gemeinwillens“ (ebenda, S. 105). Diese wollte er nicht bloß als Produkt der Rechtsordnung denken, sondern als Prozeß von unten, der schließlich in den Staatswillen als „durch staatliche Organe individualisierte, wirksame Entscheidungseinheit“ münde (ebenda). Die Voraussetzungen demokratischer Politik sah Heller folglich ganz konsequent in einem substantiellen Volksbegriff, der sowohl die „sinnfremden“ Voraussetzungen der Vergemeinschaftung etwa in geographischen Bedingungen und in der „Blutsverfestigung“, als auch die historisch akkumulierte Formenwelt des objektiven Geistes umfaßte (Souveränität, S. 105f.). Staat und Recht seien letztlich – im Sinne der Volkssouveränität – nach dem Schema von Kraft und Ausdruck zu verstehen: „Die repräsentativen Instanzen repräsentieren in sich die zur Einheit eines Willens verbundenen Werte und Kräfte einer Gemeinschaft“ (ebenda, S. 107). Das Allgemeine, von dem Hellers Rechtsstaatsidee ihren Ausgang nimmt, wurde also gemäß dieser Lehre der Volkssouveränität 12 Marcus LLANQUE: Politik und republikanisches Denken. Hermann Heller, in: Hans J. LIETZMANN (Hg.): Moderne Politik. Politikverständnisse im 20.Jahrhundert, Opladen 2001, S. 37– 61.
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nicht mehr als rechtsphilosophisches Prinzip gedacht, sondern in eine real existierende, physisch-natürliche wie historisch-soziologische Partikularität – das Volk – verlegt, wobei es allerdings nur durch die politischen, das heißt staatlichen Einrichtungen zur Erscheinung kommen könne.13 Freilich muß Hellers substantialistische Interpretation der Volkssouveränität als strategischer Einsatz gegen die autoritären Tendenzen der Weimarer Konstellation verstanden werden. Andererseits ist eine für die „deutschen Mandarine“ (Fritz Ringer) charakteristische Geringschätzung des ,bloß‘ Formalen gegenüber den geistigen und willensmäßigen Gehalten ein durchgehendes Merkmal des Heller’schen Denkens. Hauptziel seiner Polemik blieb – bis zur Erkenntnis der faschistischen Gefahr14 – der liberale Individualismus und Positivismus, den er sich nicht scheute mit dem häßlichen Wort des „Demoliberalismus“ zu verunglimpfen. In ihm und in dessen Rückzug auf das Formale sah Heller den geistesgeschichtlichen Grund der Krise der Gegenwart, und als bloß „demoliberale“, tendentiell aber kapitalistische Klassenherrschaft charakterisierte er in seinen Polemiken den Weimarer Status quo (Homogenität, S. 430f.). Das Ideal des republikanischen Rechtsstaats war Hellers Vorschlag zur Überwindung der Klassenspaltung, das er durch Schaffung eines politischen common ground zu verwirklichen suchte. Über die Appelle zur Einheit und Orientierung am Allgemeinen hinaus blieb die Frage der Realisierung dieses voraussetzungsreichen Ideals jedoch unklar.
III. Hellers Untersuchungen zur Volkssouveränität offenbaren den Zug, die Fragen einer politischen Theorie nicht nur mit den ihr eigenen argumentativen Mitteln zu behandeln, sondern durch das zeitgemäße Organon einer Kultur- und Geisteswissenschaft zu fundieren und objektivieren. Freilich war es richtig, gegenüber den Naturwissenschaften ein besonderes Verhältnis des Denkens zum „geisteswissenschaftlichen Objekt“ anzunehmen – ein Objekt, das „immer zugleich gegeben und aufgegeben, gefunden und gebildet, erkannt und gesetzt wird“ (Problematik, S. 277). Während etwa Hans Kelsen hier aber einer konsequenten Autonomisierung von Recht und Rechtswissenschaft das 13 Ingeborg MAUS (1985, Anmerkung 5, S. 211–219) hat die Folgen dieser Konstruktion für Hellers juristische Methode aufgezeigt, die es den Richtern erlaubt, sich in der Interpretation auf außerjuristische Realitäten zu beziehen, ohne aber Kriterien für diesen Einbezug angeben zu können. 14 Dem Faschismus gegenüber verwies HELLER 1929 auf die Bedeutung der klassischen liberalen Freiheiten und setzte den diversen Irrationalismen entgegen: „Soll die heutige, vornehmlich vom Bürgertum geschaffene Kultur und Zivilisation erhalten, geschweige denn erneuert werden, so muß unter allen Umständen der erreichte Grad der Berechenbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen nicht nur bewahrt, sondern sogar noch erhöht werden.“ (Fascismus, S. 460)
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Wort redete, meinte Heller den Weg in eine ganzheitliche Seinswissenschaft gehen zu müssen. Denn die Einheit der Staatslehre als Wissenschaft könne nicht methodologisch, sondern nur ontologisch begründet werden, das heißt in einer vorausgesetzten Gesamtwirklichkeit: […] deshalb muß der Einheitsbezug der Allgemeinen Staatslehre die empirische Erlebbarkeit und Verstehbarkeit des Staates in der Totalität seiner sozialen und damit auch rechtlichen Beziehungen sein. Allgemeine Staatslehre ist nur als empirische Sozialwissenschaft möglich. (Krisis, S. 26)
Staat und Recht waren für Heller in die soziale Wirklichkeit zurückzuholen, und zwar als „sozialpsychologisch wirksame gesellschaftliche Seinsgebilde, nicht aber als Naturphänomene“ (Krisis, S. 28), wie er im Sinne der zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Psychologie und Soziologie formulierte. Das Programm einer Erneuerung der Staatslehre hänge folglich an einer umfassenden wirklichkeitswissenschaftlichen Synthese.15 Dieses zukünftige wissenschaftliche System würde die soziologische Erforschung von Staat und Recht nach unten ergänzen durch Einbeziehung der politischen Geographie, Anthropologie und Massenpsychologie, zugleich würde sie aber auch die normativen Gesichtspunkte einer „Rechtfertigungslehre des Staates“ integrieren (ebenda, S. 29). Heller erhoffte sich viel von der Einlösung dieses Programms in seiner Staatslehre, an der er bis zu seinem Tod in Madrid am 5.November 1933 unermüdlich gearbeitet haben soll. Die Überwindung der „Krise“ in der Theorie solle gleichsam der Ausgangspunkt sein für die Gesundung auch des politischen Lebens. Diese Engführung von Weltanschauung und Wissenschaft erscheint aus der Sicht des gegenwärtigen Standes der Erkenntniskritik als überholt. Die Politikwissenschaft schritt auf dem Weg der Positivierung fort. Zugleich sieht die politische Theorie den ihr eigenen Raum des öffentlichen Diskurses, der Auseinandersetzung um das politische Zusammensein, schärfer konturiert. Das Trennungsdenken, das Heller an Liberalismus und Positivismus bekämpfte, erwies sich als durchaus zur erstrebten „Integration“ fähig. Die Neuzeit kann sich selbst behaupten, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, solange sie konsequent auf dem (immanenten) Boden ihrer Möglichkeiten verbleibt.
15 Dies umfasse auch die Aufgabe, „die normwissenschaftliche Methode selbst in ihrer gesellschaftsimmanenten Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit zu durchleuchten, nicht aber […] sich dieser normativen Methode selbst zu bedienen“.
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Auswahlbibliographie von Publikationen Hermann Hellers 1. Selbständig erschienene Publikationen Einleitung zu: Ferdinand LASSALLE, Arbeiter-Programm (1919), in: Hermann HELLER, Gesammelte Schriften [= GS], hg. v. Martin DRATH, Otto STAMMER, Gerhart NIEMEYER und Fritz BORINSKI, Bd.1, Leiden 1971, S. 3–11. (Kürzel: Arbeiter-Programm) Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte (1921), in: GS 1, S. 21–240. Freie Volksbildungsarbeit (1924), in: GS 1, S. 623–680. Sozialismus und Nation (1925), in: GS 1, S. 437–526. Die politischen Ideenkreise der Gegenwart (1926), in: GS 1, S. 267–412. (Kürzel: Ideenkreise) Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts (1927), in: GS 2, S. 31–202. (Kürzel: Souveränität) Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung (1929), in: GS 2, S. 319–369. Europa und der Fascismus (1929), in: GS 2, S. 463–609. (Kürzel: Fascismus) Staatslehre, hg. v. Gerhart NIEMEYER (1934), in: GS 3, S. 79–395.
2. Nicht selbständig erschienene Publikationen Die Krisis der Staatslehre (1926), in: GS 2, S. 3 –30. (Kürzel: Krisis) Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung (1928), in: GS 2, S. 203–247. Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), in: GS 2, S. 421–433. (Kürzel: Homogenität) Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart (1929), in: GS 2, S. 249– 278. (Kürzel: Problematik) Rechtsstaat oder Diktatur (1929), in: GS 2, S. 443 – 462. (Kürzel: Rechtsstaat) Politikwissenschaft. Übersetzung v. Michael HENKEL und Oliver LEMBCKE (zuerst veröffentlicht 1933 unter dem Titel „Concepto, desarrollo y función de la ciencia política“, englische Fassung 1934 unter dem Titel „Political Science“), in: Jahrbuch Politisches Denken 13 (2003), S. 1–29.
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Peter Koller Ota Weinberger (1919–2009) I. Kurzbiographie – II. Normenlogik und praktische Rationalität – III. Rechtstheorie
I. Kurzbiographie Ota Weinberger wurde am 20. April 1919 in Brünn (Brno) geboren, als Kind gebildeter, gut situierter, nicht-orthodoxer jüdischer Eltern, die sich auch noch nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie lange der deutschen Kultur verbunden fühlten und der deutschen Sprache bedienten.1 Und diese Herkunft war für seinen Lebensweg von entscheidender Bedeutung. Schon kurze Zeit, nachdem er das Gymnasium absolviert und ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Brünn begonnen hatte, wurde die damalige Tschechoslowakei von den Truppen HitlerDeutschlands überrollt. So wie auch alle anderen Juden waren seine Familie und er der Verfolgung ausgesetzt. Vier Jahre seines Lebens verbrachte er in verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz. Nach dem Krieg setzte er sein rechtswissenschaftliches Studium fort und trat nach dessen Abschluß in den Gerichtsdienst ein. Da wurde die nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererstandene Tschechoslowakische Republik abermals zerstört, nun durch die Kommunisten, die eine totalitäre Diktatur errichteten. Weinberger mußte wegen seiner Weigerung, in die Kommunistische Partei einzutreten, den Gerichtsdienst quittieren und sich als Schlosser seinen Lebensunterhalt verdienen. Allerdings fand er daneben Zeit, ein Studium der Philosophie an der Universität Prag zu absolvieren. Weinberger, der sich schon viel früher unter dem Einfluß seiner Brünner Lehrer Franz Weyr und Karel Engliš für Fragen der Rechtstheorie zu interessieren begonnen hatte, widmete seine philosophische Dissertation dem Problem des logischen Operierens mit Normen, woraus später sein Buch Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik, ein Pionierwerk der jungen Disziplin der Normenlogik, hervorging.2 Da er sich auf das unverdächtige Gebiet der formalen Logik verlegte, gelang es ihm schließlich 1 Siehe zum Lebensweg von Ota WEINBERGER auch seinen autobiographischen Aufsatz: Aus intellektuellem Gewissen. Ein Rückblick auf mein wissenschaftliches Leben, in: Aus intellektuellem Gewissen. Aufsätze von Ota Weinberger über Grundlagenprobleme der Rechtswissenschaft und Demokratietheorie, hg. zum achtzigsten Geburtstag des Autors von M. FISCHER, P. KOLLER, W. KRAWIETZ, Berlin 2000, S. 11–35. 2 Ota WEINBERGER: Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik, Prag 1958, wieder abgedruckt in Ders.: Studien zur Normenlogik und Rechtsinformatik, Berlin 1974, S. 59–186.
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doch, an der Universität Fuß zu fassen, ohne den sonst geforderten Nachweis politischer „Verläßlichkeit“ erbringen zu müssen. So konnte er sich an der Universität Prag für Logik und Rechtstheorie habilitieren und diese Fächer an der rechtswissenschaftlichen Fakultät als Dozent vertreten. Mit 1968 kam der Aufbruch, der „Prager Frühling“. Wie viele andere Bürger auch, engagierte sich Weinberger für die Überwindung der stalinistischen Parteidiktatur durch liberale und demokratische Reformen. Er gehörte dem „Klub der engagierten Parteilosen“ an, einer Vereinigung, die das Machtmonopol der kommunistischen Partei in Frage stellte. Doch nach einigen Monaten war die Hoffnung auf eine Transformation des politischen Systems der Tschechoslowakei zu einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ dahin, als die sowjetischen Panzer der Reformbewegung ein gewaltsames Ende setzten. Weinberger, der sich zur Zeit der Intervention der sowjetischen Armee gerade in Wien beim damals stattfindenden Weltkongreß für Philosophie aufhielt, entschloß sich kurzerhand, nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückzukehren, sondern im Westen ein Auskommen zu suchen. Das war ein Wagnis, weil er zu dieser Zeit hierzulande selbst in der Fachwelt kaum bekannt war. Denn die meisten seiner bis dahin veröffentlichten Arbeiten waren in tschechischer Sprache erschienen, und auch diejenigen seiner Schriften, die er, wie einige Studien zur Normenlogik, in deutscher oder französischer Sprache verfaßt hatte, waren – teils wegen ihres entlegenen Erscheinungsorts, teils wegen ihres esoterisch anmutenden Themas – nur wenigen Spezialisten zugänglich. Allerdings führte er ein umfangreiches Buchmanuskript in deutscher Sprache mit sich: das Manuskript seiner Rechtslogik, einer umfassenden monographischen Darstellung, die 1970 erschien und ihn in der deutschsprachigen Fachwelt sofort weithin bekannt machte.3 Nachdem sich Weinberger zunächst einige Jahre als Lehrbeauftragter und Gastdozent an den Universitäten Wien, Graz und Linz durchgeschlagen hatte, erhielt er mehrere Rufe, darunter auch den Ruf auf die nach Johann Mokres Emeritierung freie Professur für Rechtsphilosophie in Graz, dem er schließlich Folge leistete. Die Zeit von Weinbergers Tätigkeit als Ordinarius von 1972 bis 1989 war überaus fruchtbar. Durch einen unablässigen Strom von wissenschaftlichen Publikationen über alle Bereiche der Rechtstheorie und der praktischen Philosophie hat er sich in der internationalen Fachwelt großes Ansehen erworben und zum guten Ruf der Grazer Philosophie wesentlich beigetragen. Auch nach seiner Emeritierung war er noch geraume Zeit publizistisch tätig, nicht nur als Forscher, sondern auch als Autor zahlreicher Kommentare zu diversen politischen Streitthemen in lokalen Printmedien. Nach mehreren schweren Krankheiten, die seine letzten Jahre überschatteten, starb er am 30. Januar 2009 in Graz.
3 Ota WEINBERGER: Rechtslogik, Wien 1970; 2., umgearbeitete und wesentlich erweiterte Aufl., Berlin 1989.
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Weinbergers Publikationen, die ein außerordentlich weites Feld von Forschungsgebieten abdecken, sind sonder Zahl und kaum überblickbar.4 Da es im Rahmen dieser knappen Skizze nicht möglich ist, sein Gesamtwerk zu würdigen, werde ich mich auf die zwei zentralen Schwerpunkte seines Schaffens beschränken. Dabei handelt es sich einerseits um Probleme der Normenlogik und der praktischen Rationalität und andererseits um Fragen der Rechtstheorie.
II. Normenlogik und praktische Rationalität Zum Gebiet der Normen- und Rechtslogik hat Weinberger bahnbrechende Beiträge geleistet. Die wichtigsten seiner frühen Arbeiten zu dieser Thematik sind in dem Band Studien zur Normenlogik und Rechtsinformatik abgedruckt; eine zusammenfassende und umfassende Darstellung seiner normenlogischen Konzeption bietet seine Rechtslogik, die zum Standardwerk avancierte und wohl noch immer die beste Darstellung dieses Gebiets in deutscher Sprache darstellt.5 Weinbergers Konzeption der Normenlogik läßt sich kurz vielleicht am besten dadurch charakterisieren, daß man sie mit einem konkurrierenden Ansatz konfrontiert, der in eine andere Richtung führt. Dieser Ansatz geht dahin, einfach die übliche Logik auf Normsätze anzuwenden, indem man sie um einige Regeln erweitert, die den Gebrauch normativer Ausdrücke (zum Beispiel Gebotensein, Erlaubtsein) betreffen. Weinberger lehnt diese Vorgangsweise ab, weil sie auf einer Verkennung des epistemologischen und semantischen Unterschieds zwischen deskriptiven und präskriptiven beziehungsweise normativen Sätzen beruhe und unvermeidlich in unausräumbare Paradoxien führe. Angesichts dieses Unterschieds hält er es vielmehr für notwendig, eine Logik der Normen als eine eigenständige, von der Logik der indikativen Sprache verschiedene Normenlogik zu entwickeln, die der spezifischen Eigenart normativer Sätze Rechnung trägt. Eines der tragenden Konstruktionselemente dieser Logik betrifft den Folgerungsbegriff. Da wir Normsätze ebenso wie Aussagesätze als Glieder logischer Schlußfolgerun4 Verzeichnisse von Weinbergers Publikationen sind in den Festschriften enthalten, die ihm gewidmet wurden: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, hg. von W. KRAWIETZ, H. SCHELSKY, G. WINKLER, A. SCHRAMM, Berlin 1984, S. 615–624; Institution und Recht. Grazer Internationales Symposium zu Ehren von Ota Weinberger, hg. von P. KOLLER, W. KRAWIETZ, P. STRASSER, Berlin 1994 (= Rechtstheorie, Beiheft 14), S. 285–306. – Die Gesamtzahl von Weinbergers Publikationen dürfte, abgesehen von kleineren Beiträgen (wie Rezensionen, Zeitungsartikeln u. dgl.), bei 29 selbständigen Publikationen und circa 215 Abhandlungen in Fachzeitschriften und Sammelbänden liegen. 5 Ota WEINBERGER: Studien zur Normenlogik und Rechtsinformatik, Berlin 1974; Ders.: Rechtslogik (Anm. 3). Einen gerafften und leichter verständlichen Überblick vermittelt das Werk: Christiane und Ota WEINBERGER: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979.
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gen zu verwenden pflegen, schlägt Weinberger vor, den Folgerungsbegriff dahingehend zu erweitern, daß er auch ein Schließen mit Normsätzen zuläßt. Liegt nach herkömmlicher Auffassung eine logische Folgerung genau dann vor, wenn die Konklusion unmöglich falsch sein kann, sofern die Prämissen wahr sind, so lautet Weinbergers Vorschlag folgendermaßen: Ein Satz S, der entweder ein Aussagesatz oder ein Normsatz sein kann, folgt logisch aus einer Menge aussagender und/oder normativer Prämissen genau dann, wenn es ausgeschlossen ist, daß S entweder unwahr oder ungültig ist, wenn alle aussagenden Prämissen wahr und alle normativen Prämissen gültig sind. Diese Definition schließt den alten Folgerungsbegriff als Sonderfall ein und sie läßt überdies normenlogische Folgerungen zu, also Folgerungen, deren Konklusion ein Normsatz ist. Die Prämissen solcher Folgerungen müssen nicht lauter Normsätze sein, sondern sie können auch Aussagesätze enthalten, wie das zum Beispiel beim juristischen Syllogismus der Fall ist. Ein grundlegendes Postulat von Weinbergers Normenlogik lautet aber, daß aus einer Prämissenmenge, die nur Aussagesätze enthält, kein Normsatz abgeleitet werden kann, oder anders gesagt: daß die Prämissen eines Schlusses, dessen Konklusion ein Normsatz ist, zumindest einen normativen Satz enthalten müssen. Dieses Postulat ist die logisch präzise Formulierung der These, daß aus einem Sein kein Sollen folgt. In engem Zusammenhang mit der Nichtableitbarkeit von Werten und Normen aus rein beschreibenden Sätzen steht für Weinberger die These des Non-Kognitivismus. Diese These verknüpft das metalogische Postulat der Nichtableitbarkeit mit der erkenntnistheoretischen beziehungsweise methodologischen Annahme, daß eine auf bloßer Erfahrungserkenntnis gestützte Begründung normativer Sätze nicht möglich ist. „Sie behauptet nicht nur, daß deduktiv keine informativen praktischen Sätze aus rein beschreibenden (Erkenntnisse ausdrückenden) Prämissen gewonnen werden können, sondern hält es überhaupt für unmöglich, informative praktische Sätze rein kognitiv zu begründen, das heißt ohne solche Argumente, die auch Stellungnahmen enthalten.“6 Den zweiten Teil dieser These begründet Weinberger damit, daß Normen, Zwecke und Werte – anders als die Tatsachen der Erfahrungswelt, die objektiv gegeben sind – nicht an und für sich bestehen, sondern der willenhaften Stellungnahme von Menschen entspringen. Während es für die Verifikation oder Falsifikation empirischer Sätze eine objektive Grundlage gebe, bleibe die Annahme oder Ablehnung praktischer Sätze stets an die subjektive Werteinstellung der Individuen gebunden. Da Werte und Normen also weder objektiv erkannt, noch auf rein logischem Wege aus Voraussetzungen gewonnen werden können, die nicht ihrerseits wieder normative Stellungnahmen enthalten, sei eine objektive Begründung von Maßstäben richtigen Handelns nicht möglich.
6
Ota WEINBERGER: Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie, in Ders.: Moral und Vernunft, WienKöln-Weimar 1992, S. 161–184, hier S. 171.
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Daraus ergibt sich für die Theorie des praktischen Denkens, mit der sich Weinberger ebenfalls sein Leben lang beschäftigt hat, die folgenreiche Konsequenz, daß die Vernunft allein keine inhaltlichen Maßstäbe des richtigen Handelns, seien dies Maßstäbe der Klugheit oder der Moral, liefern kann. Dessen ungeachtet hält er rationale Argumentation im Bereich der Praxis, so zum Beispiel über die Normen und Ziele unseres Handelns, nicht nur für möglich, sondern sogar für unentbehrlich, weil er sie als ein elementares Erfordernis zwischenmenschlicher Koexistenz betrachtet. Als normative Prämissen einer solchen Diskussion können dabei sowohl die Zielsetzungen und Wertüberzeugungen einzelner Personen, als auch weithin anerkannte Wertvorstellungen und Grundsätze dienen. Da in jeder Gesellschaft bestimmte normative Standards als verbindlich anerkannt werden, bestehe in vielen Fällen auch Aussicht, im Wege rationaler Diskussion zu einer Einigung zu gelangen, wofür es auch diverse Methoden des Argumentierens gebe, wie zum Beispiel das Suchen nach möglichst schwachen und allgemein anerkannten Prämissen und das Bemühen um Konsensfindung.7 Weinberger hat zu vielen weiteren Fragen der Philosophie im Allgemeinen und der praktischen Philosophie im Besonderen immer wieder Stellung bezogen und hierzu markante Positionen vertreten. Es sei hier insbesondere auf seine Arbeiten zur Kausalität, zur Struktur wissenschaftlicher Gesetze, zur Frage der Willensfreiheit, zur Handlungstheorie, zur Metaethik und zur Theorie der Gerechtigkeit verwiesen.8 Was die Gerechtigkeitstheorie betrifft, so befassen sich seine ersten diesbezüglichen Studien vor allem mit den logischbegrifflichen Aspekten der Gerechtigkeit, der sogenannten formalen Gerechtigkeit, deren Erforderlichkeit sich für ihn schon aus der Regelhaftigkeit rechtlicher und moralischer Normen ergibt. Später setzte er sich in vermehrtem Umfang mit den Problemen der Begründung inhaltlich gehaltvoller Gerechtigkeitspostulate auseinander. Seine Konzeption, die er selbst als „analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie“ bezeichnet, steht zwar jeder Form der kognitiven Fundierung materialer Gerechtigkeit skeptisch gegenüber, versucht aber gewisse Forderungen der Gerechtigkeit aus der weithin anerkannten Idee einer reziprok ausgewogenen Rollenzuweisung im Rahmen institutionell verfaßter Ordnungen sozialen Zusammenlebens zu gewinnen.9
7 Siehe dazu zum Beispiel WEINBERGERs folgende Aufsätze: Grundlagenprobleme der Theorie des juristischen Denkens; Wahrheit, Recht und Moral; beide in Ota WEINBERGER: Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 61–94, bzw. S. 127–145; ferner: „Wissen“ und „Nicht-Wissen“ in der praktischen Argumentation; Der Streit um die praktische Vernunft; beide in Ota WEINBERGER: Moral und Vernunft, Wien-Köln-Weimar 1992, S. 3–21 bzw. S. 315–336. 8 Eine repräsentative Auswahl dieser Arbeiten enthalten die folgenden Sammelbände: Ota WEINBERGER: Studien zur formal-finalistischen Handlungstheorie, Frankfurt a. M. 1983; Recht, Institution und Rechtspolitik, Stuttgart 1987. 9 Siehe dazu Weinbergers Aufsätze: Gleichheitspostulate; Einzelfallgerechtigkeit; beide in: Logische Analyse in
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III. Rechtstheorie Ein weiterer, mit der Normenlogik verknüpfter Forschungsschwerpunkt Weinbergers ist die Rechtstheorie, innerhalb welcher er die einschlägigen Analysen sowohl der Wiener rechtstheoretischen Schule um Hans Kelsen als auch jener der Brünner Schule um Franz Weyr kritisch aufgenommen und sie mit den Mitteln normenlogischer Analyse zu einer eigenständigen Konzeption weiterentwickelt hat.10 Obwohl ihm die Reine Rechtslehre Kelsens stets als ein wichtiger Bezugspunkt seiner eigenen Überlegungen diente, hat ihn die kritische Auseinandersetzung mit ihr in vielen Hinsichten zu entgegengesetzten Auffassungen geführt. So ist er dem rigiden methodischen Monismus Kelsens, der alles Soziologische und Politische aus den Rechtswissenschaften verbannt, stets entgegengetreten. Ja, er konnte zeigen, daß der Versuch, jede Bezugnahme auf soziale Fakten aus der Rechtsbetrachtung auszuschließen, sich selbst innerhalb des angeblich monistischen Ansatzes der Reinen Rechtslehre nicht durchhalten läßt. Ein anderer Aspekt, in dem sich die Auffassung Weinbergers von der Reinen Rechtslehre wesentlich unterscheidet, ist die Theorie der Struktur und der Dynamik des Rechts. Ein Beispiel ist Kelsens Konzeption der Rechtsnorm, nach der alle Rechtsnormen ihrer logischen Struktur nach Sanktionsnormen sind. Da diese Konzeption nicht nur keine befriedigende Erklärung der Funktionsweise vieler rechtlicher Normen liefert, sondern auch innerhalb der Kelsenschen Theorie zu Widersprüchen führt, hat Weinberger einen anderen Weg beschritten. Er schlägt ein ganz allgemeines Formschema genereller Rechtsnormen als allgemeiner Bedingungsnormen vor, das einerseits der Formenvielfalt des Rechts hinreichenden Spielraum läßt, andererseits aber durch eine genaue Analyse der Struktur und des Zusammenspiels seiner einzelnen Normen konkretisiert werden kann. Der stärkste Gegensatz, der Weinberger von der Reinen Rechtslehre trennt, betrifft jedoch die von Kelsen zuletzt vertretene Auffassung, daß es logische Beziehungen zwischen Normen überhaupt nicht gebe und infolgedessen auch nicht die Möglichkeit, mit Normen logisch zu operieren.11 Weinberger ist dieser Auffassung in mehreren Arbeiten entschieden entgegengetreten, indem er zeigte, daß sie nicht nur für die Rechtstheorie, der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 146–163 bzw. S. 164–194; ferner: Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie; Die Conditio humana und das Ideal der Gerechtigkeit; Der normativistische Institutionalismus und die Theorie der Gerechtigkeit; alle in Ota WEINBERGER: Moral und Vernunft, Wien-Köln-Weimar 1992, S. 161–184 bzw. S. 185–200 und S. 234–260. 10 Siehe dazu, neben seiner Rechtslogik, vor allem die folgenden Werke WEINBERGERs: Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, insbes. S. 15–125; Recht, Institution und Rechtspolitik, Stuttgart 1987; Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik, Berlin 1981. Eine knappe Zusammenfassung seiner Rechtstheorie bietet WEINBERGERs Buch: Norm und Institution, Wien 1988. 11 Siehe dazu das posthum erschienene Werk von Hans KELSEN: Allgemeine Theorie der Normen, hg. von K. RINGHOFER und R. WALTER, Wien 1979.
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sondern für das ganze juristische Denken verhängnisvolle Konsequenzen hat. Wenn es nämlich überhaupt keine logischen Beziehungen zwischen den Normen einer Rechtsordnung gebe, dann sei es weder möglich, das Recht als eine in sich zusammenhängende Einheit von Normen zu begreifen, noch bestehe Aussicht, das juristische Denken durch Regeln des rationalen Argumentierens zu disziplinieren. Diese Konsequenzen lassen sich nach Weinbergers Ansicht jedoch im Rahmen einer angemessenen Konzeption des normenlogischen Schließens ohne weiteres vermeiden. Denn mit Hilfe dieser Konzeption könne gezeigt werden, in welcher Weise die einzelnen Normen einer Rechtsordnung logisch zusammenhängen und insgesamt eine geordnete Gesamtheit ergeben.12 Nimmt man alle Elemente des rechtstheoretischen Denkens von Weinberger zusammen, so ergibt sich eine Vorstellung des Rechts, die sich nicht nur von der Reinen Rechtslehre wesentlich unterscheidet, sondern auch, verglichen mit anderen Theorien, relativ originelle Züge hat. Diese seine Vorstellung hebt sich von realistischen Ansätzen, die das Recht als ein rein empirisches Phänomen begreifen wollen, ebenso ab wie von rein normativistischen Theorien, die im Recht nichts weiter als eine Menge normativer Sinngehalte sehen. Dagegen möchte Weinberger beide Perspektiven miteinander verbinden, um das Recht, wie auch andere soziale Normenordnungen, zugleich als empirische Tatsache und als ideales Sinngebilde zu erfassen. Um diese Verbindung zwischen der gedanklich-idealen und der empirisch-realen Dimension des Rechts zu erhellen, verwendet Weinberger das Konzept der Institution, das ja, in einem weiten Sinne verstanden, ein relativ dauerhaftes Muster sozialer Interaktionen unter dem Regime einer kohärenten Menge handlungsleitender Normen bezeichnet. Und deswegen, weil er das Recht als eine umfassende Institution versteht, nennt er seine Auffassung „institutionalistischen Rechtspositivismus“.13 Läßt man die zahlreichen und vielfältigen Beiträge Weinbergers Revue passieren, dann ergibt sich der Eindruck, daß sie sich zu einem übergreifenden und zusammenhängenden Theorieprojekt verbinden, das er seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn verfolgt und Schritt für Schritt vorangetrieben hat. Die wichtigsten Grundelemente dieses Projekts lassen sich vielleicht summarisch, wenn auch nur in Umrissen und vergröbernd, durch die folgenden Thesen andeuten, die miteinander zusammenhängen und sich gleichsam wie ein roter Faden durch Weinbergers Denken ziehen: 12 Vgl. Ota WEINBERGER: Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik, Berlin 1981. 13 Siehe dazu Ota WEINBERGER: Die Norm als Gedanke und Realität, in Ders.: Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 95–110; Bausteine des Institutionalistischen Rechtspositivismus; Institutionentheorie und Institutionalistischer Rechtspositivismus; beide in Ders.: Recht, Institution und Rechtspolitik, Stuttgart 1987, S. 11–42 bzw. S. 143–181. Unabhängig von Ota WEINBERGER hat auch Donald Neil MACCORMICK eine ähnliche Theorie entwickelt. Beide haben ihre diesbezüglichen Beiträge in einem gemeinsamen Sammelband veröffentlicht, der sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache erschienen ist: Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985; An Institutional Theory of Law, Dordrecht 1986.
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– die semantische These, daß schon aus erkenntnis- und handlungstheoretischen Gründen strikt zwischen deskriptiver und präskriptiver Sprache zu differenzieren ist; – die logische These, daß ein logisches Operieren mit Normen ebenso möglich ist wie mit Aussagesätzen, obschon zwischen den logischen Regeln beider Bereiche gewisse Unterschiede bestehen; – die non-kognitivistische These, daß eine objektive, sich allein auf Tatsachen oder Vernunftgründe stützende Begründung von Normen nicht gelingen kann; – die rechtstheoretische These, daß jede Rechtsordnung ein dynamisches, aber geregeltes Zusammenspiel von Normen und Tatsachen, also eine umfassende Institution, darstellt; – die handlungstheoretische These, daß rationales Handeln in einer geeigneten Kombination planmäßiger Zielverfolgung und intervenierenden Dezisionen besteht; – die moralphilosophische These, daß eine annehmbare Moral auf die Bewältigung der Zukunft zielen und die Verantwortung jeder Person für ihr eigenes Handeln unterstreichen muß; – und die politikphilosophische These, daß Gerechtigkeit ein dialektisches Abwägen zwischen einer Pluralität von Werten verlangt und auf einen konsensfähigen Interessenausgleich gerichtet sein muß.
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Vorbemerkung
Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick Der folgende kurze Überblick über die Geschichte und Hauptvertreter der Sozialwissenschaften in Graz ist naturgemäß unvollständig, und es erscheint geboten, schon zu Beginn auf einige Autoren hinzuweisen, deren einschlägige in der Auswahlbibliographie enthaltene Arbeiten die vorliegenden Ausführungen vertiefen können: auf Hermann Ibler, Reinhard Müller, Erich Mittenecker, Günter Schulter, Helmuth P. Huber, Gerhard Benetka und Giselher Guttmann;1 wie generell, so ist auch hier Walter Höflechners Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz von Nutzen.2 Im folgenden wird auf die Nennung von Werktiteln von oder zu Grazer Sozialwissenschaftlern meist verzichtet; sie finden sich in der umfangreichen Auswahlbibliographie. Wie schon in der Einleitung zu diesem Sammelband erwähnt, gingen die Sozialwissenschaften in Graz, wie auch an anderen österreichischen Universitäten, aus der juridischen und aus der philosophischen Fakultät hervor: die Wirtschaftswissenschaften und die Soziologie aus der juridischen, die Psychologie – einschließlich der hier besonders interessierenden Sozialpsychologie – aus der philosophischen Fakultät.3 Unter den an verschiedenen Fakultäten der Grazer Universität tätigen Sozialwissenschaftlern in der Zeit um 1900 herrschte so etwas wie ein methodologischer Common sense vor: unter ihnen fanden keine Kontroversen über „wahre“ oder „in letzter Instanz entscheidende“ Faktoren statt, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert anderswo üblich waren. In den Gedankengebäuden von Alexius Meinong und Joseph Alois Schumpeter etwa – den bedeutendsten hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts tätigen Vertretern der Philosophie und Psychologie bzw. der Wirtschaftswissenschaften – fand sich für monokausale Deutungen und Erklärungen kein Platz. Auch die mitunter radikal milieutheoretischen Ansichten von Ludwig Gumplowicz fanden hierorts so gut wie keinen positiven Widerhall – Gumplowicz war in Graz, wohl auch wegen seiner als einseitig empfundenen Sicht gewisser Dinge, ziemlich isoliert. Im allgemeinen verstanden sich die hier tätigen 1 Siehe IBLER 1985 zur Volkswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz, MÜLLER 1989 und MÜLLER 1998 zu den Anfängen der Soziologie in Graz, MITTENECKER, SCHULTER (Hg.) 1994 und HUBER 1995 zur Psychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie BENETKA, GUTTMANN 2001 zur akademischen Psychologie in Österreich (mit entsprechender Bezugnahme auf Graz). 2 HÖFLECHNER 2006. 3 Zu den Entwicklungen an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in den Jahren 1848 bis 2002 siehe ebenda, S. 330–353, zu denen an der Philosophischen Fakultät im selben Zeitraum ebenda, S. 254–292.
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Sozialwissenschaftler darauf, soziale Ereignisse als (stochastische) Vorgänge aufzufassen, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten: als Vorgänge, die weder, wie in der Newtonschen Welt, rein mechanisch, noch, wie in der Mikrowelt der Quantenmechanik, völlig zufallsgesteuert ablaufen. Graz war in dieser Hinsicht „mainstream“, die Originalität der Beiträge von Grazer Sozialwissenschaftlern lag daher auch nicht im Bereich der Methodologie, sondern eher in den Forschungsdesigns. Auch später, nach dem Zweiten Weltkrieg, dominierte – wenn auch nach einiger Verzögerung – eine Übernahme der mittlerweile anderswo entwickelten Methoden: so vor allem der Spielund Entscheidungstheorie sowie der Planungsrechnung (Netzplantechnik) in den Wirtschaftswissenschaften, der multiplen Regressionsanalyse und der Netzwerkanalyse in der Psychologie, nur vereinzelt auch in der Soziologie.
* Der für die Soziologie bestimmende Grundbegriff der Gesellschaft bezieht sich in seiner weitesten Fassung auf eine Gruppe von Personen, welche durch eine unterscheidbare und thematisch faßbare Menge normativer Beziehungen vereint sind, wobei das Denken, Fühlen und Wollen sowie die Handlungen der Menschen nicht von den Erwartungen der anderen isoliert werden können. Teil derselben Gesellschaft zu sein besagt dabei nach Gumplowicz, Subjekt der gemeinsamen, in den sozialen Wechselbeziehungen wirksamen Werte und Normen seiner eigenen Gruppe zu sein, die – mit anderen in Konflikt oder Kooperation befindlich – eine bestimmte Position im geschichteten Gefüge der Gesamtgesellschaft einnimmt. Ludwig Gumplowicz ist der mit Abstand bedeutendste unter den Grazer Soziologen. Geboren und aufgewachsen in Krakau, begann seine akademische Karriere 1876 mit seiner Habilitation für Allgemeines Staatsrecht und sie endete auch hier im Jahr 1909 (auf traurige Weise, nämlich durch Suizid), nachdem er 1893 zum ordentlichen Professor für Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht ernannt worden war.4 – Auf das Werk und das Wirken von Gumplowicz bezieht sich der Beitrag von Gerald Mozetič im vorliegenden Sammelband. Bereits vor Gumplowicz stießen in der Steiermark soziologische Fragen auf das Interesse der vor allem im Umkreis von Erzherzog Johann tätigen Humangeographen. Diese kultivierten hier die schon aus dem 18. Jahrhundert herrührenden Methoden der historisch-statistischen Topographie,5 worauf bereits in den Vorbemerkungen zu Kapitel II die4 Zur Karriere von Gumplowicz in Graz siehe die sehr instruktiven Abhandlungen WEILER 2001 und 2004. 5 Das Vorherrschen von im weiteren Sinne geographischen Interessen unter den mit dem Steirischen Prinzen verkehrenden Gelehrten kommt nicht von ungefähr. Einerseits waren es die kameralistischen Statistiker,
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ses Sammelbandes hingewiesen wurde. Forschungen dieser Art, wie sie etwa von Karl Schmutz, Johann Springer, Gustav Franz von Schreiner und Georg Göth betrieben wurden, bildeten für die Einrichtung soziologischer Lehrveranstaltungen an der Grazer juridischen Fakultät einen guten Nährboden.6 Explizit soziologische Lehrveranstaltungen wurden später von Julius Vargha und Alfred Gürtler abgehalten.7 So ist auch die enge Nachbarschaft, die sich zwischen Soziologen und Statistikern – im Falle Gürtlers sogar in Personalunion – herausbildete, keineswegs verwunderlich. Wie beispielsweise von Gustav Franz von Schreiner, der ab 1828 als ordentlicher Professor der Statistik und Ökonomie an der juridischen Fakultät der Universität tätig war,8 so wurden auch später bestimmte der Soziologie verwandte Fragen von Universitätslehrern erörtert, noch ehe soziologische Lehrinhalte unter diesem Namen an der Universität eine Rolle spielen sollten. Zu nennen sind hier vor allem die ab 1871 am Institut für Geographie an der Philosophischen Fakultät wirkenden Humangeographen, auf deren Wirken Heinz Fassmann in seinem Beitrag in Kap. II Bezug nimmt. In enger Nachbarschaft zur Soziologie wirkte später neben Ludwig Gumplowicz an der Grazer juridischen Fakultät der aus der Sozialpolitik kommende Ernst Mischler, der hier ab 1893 über 17 Jahre lang Universitätsprofessor der Statistik war. Mischler, der gemeinsam mit Josef Ulbrich das Österreichische Staatswörterbuch herausgab, wurde zum Initiator des Statistischen Landesamtes für Steiermark in Graz, dessen Direktor er bis 1911 war. Unter seinen zahlreichen in Graz erbrachten außeruniversitären Leistungen ragen denen in dem Vielvölkerstaat hohe Bedeutung zukam; für sie waren die Anregungen der von steuerpolitischen und militärischen Zielen bestimmten frühen französischen Soziographie von Wichtigkeit, desgleichen für Erzherzog Johann, der seit 1801 Generaldirektor des österreichischen Genie- und Fortifikationswesens war. Andererseits spielten volkskundliche Interessen auf Seiten des Erzherzogs eine große Rolle. Für deren Entwicklung war das im Jahr 1796 erschienene Buch des Statistikers Joseph Rohrer Über die Tyroler. Ein Beitrag zur österreichischen Völkerkunde von Bedeutung, das zum Bestand der Bibliothek des Erzherzogs gehörte und von diesem besonders geschätzt wurde. Dies hat mit der Liebe Johanns zu Tirol zu tun, aber auch mit dem zu Beginn des 19.Jahrhunderts aufkommenden Interesse am Volksleben, wie es dann im spezifisch romantischen Schrifttum von Wilhelm Heinrich Riehl exemplarisch zum Ausdruck kommt. – Im Blick auf beide erwähnten Einflüsse bzw. Interessenrichtungen kommt den von Erzherzog Johann unter der Mitwirkung des an der Wiener Universität tätigen Franz Anton Lehmann im Winter 1810/11 entwickelten Fragentwürfen an sämmtliche steyermärkische Werbbezirke zum Behufe einer physicalischen Statistik dieses Landes besondere Bedeutung zu. – Siehe dazu den Beitrag des Herausgebers in Kap. I. 6 Die unter dem Einfluß Franz von Zeillers im Jahre 1810 zustandegekommene juridische Studienreform sah bereits für den ersten Jahrgang Lehrveranstaltungen aus Statistik vor. Auch später noch wurde dieser ein besonderer Platz im Rahmen der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien eingeräumt. – Zur Statistik an Österreichs Lyzeen und Universitäten im 19. Jahrhundert siehe FICKER 1876. 7 Vargha war es erstmals in Graz möglich, wenn auch nur für die begrenzte Zeit der Jahre 1893 bis 1898, eine regelmäßige zweistündige Vorlesung aus Soziologie an der juridischen Fakultät zu verankern; deren Titel: „Criminal-Anthropologie und Sociologie“. (Gürtler hat eine solche, worauf noch hingewiesen werden wird, später gewissermaßen verstetigt.) – Siehe dazu MÜLLER 1998, S. 285. 8 Zu Schreiner siehe IBLER 1985, S. 20–23.
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hervor: die Einrichtung des Steiermärkischen Landesarmen- und Siechenkatasters, die 1897 erfolgte Gründung der Gemeinnützigen Arbeitsvermittlung für Graz und Steiermark, die 1906 erfolgte Gründung des Reichsverbandes der allgemeinen Arbeitsvermittlungsanstalten Österreichs sowie die Initiierung der Statistischen Mittheilungen über Steiermark (Graz) sowie seine Mitwirkung im Redaktionskollegium der Blätter für das Armenwesen (Graz). Wie Reinhard Müller, der wohl kundigste Erforscher der Vor- und Frühgeschichte der Soziologie in Österreich, bemerkte, starb mit Mischler, der ein Jahr vor seinem Tod zum Präsidenten der k.k. Statistischen Zentralkommission in Wien ernannt worden war, „nicht nur der führende österreichische Verwaltungsstatistiker, sondern auch ein international anerkannter Wissenschaftler: So war er Ehrenmitglied der Royal Statistical Society in London und der Gesellschaft für Geographie und Statistik in Frankfurt am Main, ordentliches Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts, Mitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft und der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen, Prag.“9 Gumplowicz war in Graz innerhalb seiner Fakultät – sieht man von seiner Freundschaft mit dem Kriminologen Julius Vargha10 ab – eine ziemlich isolierte Existenz, scharte jedoch einige sehr respektable Schüler um sich. Zunächst ist hier der für Vergleichende und österreichische Statistik habilitierte Alfred Gürtler zu nennen, der auch ein Schüler Mischlers war:11 Gürtler hat erstmals im deutschsprachigen Gebiet der Habsburger Monarchie regelmäßig, und zwar seit dem Wintersemester 1908/09, eine für Studierende der Staatswissenschaften obligatorische Soziologie-Vorlesung an der juridischen Fakultät abgehalten. Neben Gürtler und dem später in Italien als Soziologe tätigen Franco Rodolfo Savorgnan verdienen noch drei weitere Schüler von Gumplowicz erwähnt zu werden: Hugo Forcher, der, 1914 an der Universität Wien für Statistik habilitiert, hier in der Zwischenkriegszeit eine Universitätsprofessur bekleidete; Franz Zizek (Žižek), der zunächst in der k.k. Statistischen Zentralkommission sowie im Handelsministerium in Wien tätig war, sich dort 1909 für Statistik habilitierte und 1916 als ordentlicher Universitätsprofessor der Statistik an die Universität Frankfurt am Main berufen wurde;12 schließlich der Staatsrechtler und Ökonom Otto von ZwiedineckSüdenhorst (Abb. 1), der mit seinem 1911 erschienenen Buch Sozialpolitik ein bis auf den heutigen Tag aktuelles Standardwerk zu diesem Sachgebiet publizierte und als Pro-
9 MÜLLER 1998, S. 288. 10 Dazu siehe den in Kap. III des vorliegenden Bandes abgedruckten Beitrag von Michael BOCK, ferner PROBST 1987. Auch in der Vorbemerkung zu Kap. III wird auf Vargha kurz Bezug genommen. 11 Mischler hat Gürtler – letztlich ohne Erfolg – für jene Professur ins Spiel gebracht, auf die Joseph Schumpeter berufen wurde. 12 Hier war Zizek auch Direktor des Statistischen Seminars und einer der Direktoren des Instituts für Wirtschaftswissenschaften.
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fessor der Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Karlsruhe sowie an den Universitäten Breslau und München lehrte. Aus Anlaß des 70. Geburtstags von Ludwig Gumplowicz wurde im Jahre 1908 in Graz auf Betreiben des mit diesem befreundeten Friedrich Sueti, eines Redakteurs der Grazer Tagespost, sowie des nachweislich einzigen Koautors von Gumplowicz, des für Österreichische Verwaltungsgesetzeskunde habilitierten und damals als Stadtrat tätigen Rudolph Ferdinand Franz Bischoff, eine „Soziologische Gesellschaft“ gegründet.13 Dieser Gesellschaft gehörte nach wenigen Jahren unter anderem auch Joseph Schumpeter an. Aus ihr ging im Jahre 1918 die erste österreichische soziologische Schriftenreihe hervor, die Zeitfragen aus dem Abb. 1: Otto von Zwiedineck-Südenhorst Gebiete der Soziologie. Dem damaligen Quelle: Bayerische Akademie der Wissenschaften Stadtrat Julius Bunzel, auf dessen Betreiben diese Schriftenreihe gegründet wurde, gelang es, neben Joseph Schumpeter auch den damaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Ferdinand Tönnies, sowie den Grazer Philosophen Hugo Spitzer (der, wie noch erwähnt werden wird, das Seminar für philosophische Soziologie an der Grazer Philosophischen Fakultät gründete) als Mitherausgeber der Schriftenreihe zu gewinnen, die einige respektable Publikationen umfaßt.14 Die Soziologie zählt auch Joseph Alois Schumpeter zu den ihren. Dies läßt sich nicht nur angesichts seiner vorhin erwähnten Aktivitäten im Rahmen der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ rechtfertigen, sondern auch durch sein immer wieder betontes Interesse an einer sinnvollen Kooperation von Wirtschaftstheoretikern, Wirtschaftshistorikern und Soziologen, sowie insbesondere durch eine ganze Reihe von ihm verfaßter soziologischer Schriften. Hingewiesen sei hier allein auf seine von Erich Schneider und Arthur Spiethoff 1953 herausgegebenen Aufsätze zur Soziologie, von denen zwei in
13 Siehe dazu MÜLLER 1989. 14 Über einiges damit in Zusammenhang Stehende gibt der Beitrag des Herausgebers in Kapitel IV Aufschluß.
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Schumpeters Grazer Zeit fallen: einer zur Soziologie der Imperialismen und ein wichtiger anderer zur Finanzsoziologie, der ursprünglich als selbständige Publikation erschienen ist.15 – Schumpeter als Soziologen behandelt im vorliegenden Band der Beitrag von Manfred Prisching. (Auf den Wirtschaftswissenschaftler Schumpeter wiederum bezieht sich der ausführliche Beitrag von Heinz Dieter Kurz.) An Sympathisanten fehlte es der Soziologie an der Grazer juridischen Fakultät wahrlich nicht. Zunächst ist hier insbesondere der namhafte Vertreter des Österreichischen Privatrechts Armin Ehrenzweig zu nennen. Für ihn ist die Jurisprudenz eine „Erfahrungswissenschaft“.16 Man zählt ihn zu den Wegbereitern der „soziologischen Methode“, da er sozialen Gegebenheiten bei der Analyse der Entstehung und Durchsetzung von Gesetzesnormen große Bedeutung beimißt.17 – Sodann ist auf den seit 1926 in Graz wirkenden Professor für Politische Ökonomie Wilhelm Andreae hinzuweisen, der sich, dem Kreis um den Dichter Stefan George nahestehend und später mit Othmar Spann befreundet, vor allem mit Platon beschäftigte und aus dem Studium der Philosophie und Soziologie Anregungen für die Verwirklichung einer neuen Lebenskultur zu gewinnen hoffte.18 Anders war die Einstellung zur soziologischen Gesellschaftsanalyse bei Max (Maximilian) Layer geartet. Dieser hat sich in Graz im Jahr 1902 für Verwaltungsrecht habilitiert, lehrte danach an der Wiener Universität und war ab 1908 als ordentlicher Professor des Allgemeinen und Österreichischen Staatsrechts, der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechts in Graz tätig. Layer veröffentlichte als Band 5 der von der Grazer Soziologischen Gesellschaft herausgegebenen Reihe Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie im Jahr 1919 das Buch Staatsformen unserer Zeit. Monarchien, Republiken, Bundesstaaten und Staatenbündnisse, dessen zweite Auflage im Jahr 1923 erschien. Layer, der von 1924 bis 1929 auch Mitglied des Verfassungsgerichtshofs war und 1928 einem Ruf an die Universität Wien folgte, wurde 1933 aus politischen Gründen zwangsweise in den Ruhestand versetzt. – Auf dem Wege der Deutung des römischen Rechts hat wiederum Paul Koschaker, wie Gunter Wesener ausführt,19 einen Zugang zur Rechtssoziologie gefunden. Mit seinem 1947 erschienenen Buch Europa und das römische Recht habe er nicht nur eine glänzende Darstellung der Rezeption des 15 Siehe dazu auch noch in dieser Vorbemerkung weiter unten. 16 Wie er im Vorwort zum ersten Band des Systems des österreichischen allgemeinen Privatrechts aus dem Jahre 1925 bemerkt, sei Aufgabe des Systems „die Darstellung des wirklich geltenden Rechtes. Nicht darum handelt es sich, was in Österreich Rechtens sein soll, sondern was hier Rechtens ist.“ 17 Siehe dazu WESENER 2002, S. 78. 18 Über Andreaes Denken und sein umfangreiches Schrifttum gibt die ihm zum 70. Geburtstag gewidmete Festschrift ANDREAE 1959 Auskunft. 19 Siehe WESENER 1978, S. 115. – Siehe vor allem auch den Beitrag von WESENER zu Koschaker im vorliegenden Band.
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römischen Rechts, sondern auch eine bahnbrechende Studie aus dem Geiste einer Soziologie des Juristenrechts vorgelegt. Ein weiterer, in seinem Schrifttum immer wieder auch der Soziologie zugeneigter Universitätslehrer an der Grazer juridischen Fakultät war der hier seit 1931 als außerordentlicher, seit 1934 als ordentlicher Professor für Politische Ökonomie wirkende Josef Dobretsberger (Abb. 2). Er, ein Schüler Hans Kelsens, Mitglied des Cartellverbandes der katholischen Studentenverbindungen (CV), Bundesminister für soziale Verwaltung in der Ersten Republik, nach 1945 jedoch der KPÖ nahestehend, zählt zu den politisch schillerndsten Figuren der Grazer Universitätsszene. Von ihm heißt es, daß er wegen seiner letztlich Abb. 2: Josef Dobretsberger vergeblichen Politik einer Verständigung Quelle: Archiv der Universität Graz mit den im Februar-Aufstand 1934 geschlagenen Sozialdemokraten zu Bundeskanzler Schuschnigg im Gegensatz gestanden sei, desgleichen wegen gravierender Unterschiede bezüglich der die österreichischen und deutschen Gewerkschaften betreffenden wirtschaftspolitischen Fragen; andererseits gibt es gute Gründe für die Annahme, daß Dobretsbergers vorzeitiges Ausscheiden aus der Bundesregierung im Jahr 1936 aufgrund des ihm gegenüber erhobenen Verdachts erfolgt ist, sich eine luxuriöse Wohnung vom Chef der in einen veritablen Skandal verwickelten „Phönix“-Versicherungsgesellschaft finanziert haben zu lassen.20 Dobretsberger verfaßte vor der ihm durch den politischen Wechsel des Jahres 1938 aufgenötigten Emigration, welche ihn über Istanbul nach Kairo führte, nicht nur dem autoritären Ständestaat genehme Publikationen, wie das Buch Von Sinn und Werden des Neuen Staates (1934), sondern auch eine Reihe ernsthafter wissenschaftlicher Abhandlungen, darunter das Buch Die Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft (1927) und den in dem damals geschätzten, von Alfred Vierkandt herausgegebenen Handwörterbuch der Soziologie (1931) erschienenen Artikel „Historische und soziale Gesetze“.21 Nach seiner Rückkehr 20 Die österreichische Finanzmarktaufsichtsbehörde bezeichnete den die Regierung Schuschnigg bis ins Mark erschütternden Phönix-Skandal rückblickend als „absoluten Tiefpunkt“ in der Geschichte der österreichischen Versicherungswirtschaft.
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aus der Emigration nahm Dobretsberger wieder seine Lehrtätigkeit als Vertreter der Politischen Ökonomie auf, war 1946/47 Rektor der Universität Graz, verlegte seine Aktivitäten jedoch mehr und mehr in die Politik. Gelegentlich mit dem Spitznamen „Sowjetsberger“ belegt, war er unter anderem 1949 Obmann der „Demokratischen Union“ und trat als Spitzenkandidat auf, als sich diese Partei für die Nationalratswahl 1953 mit der KPÖ und den Linkssozialisten zur sogenannten „Volksopposition“ (VO) zusammenschloß.22 Über seine (zunächst nur) linkskatholische Orientierung gibt sein Buch Katholische Sozialpolitik am Scheideweg (1947) Auskunft, über seine finanzsoziologisch orientierten Ansichten zur Währungstheorie und Währungspolitik die bereits 1946 erschienene Sammlung von 14 Studien mit dem Titel Das Geld im Wandel der Wirtschaft, über sein gewiß nicht geringes Selbstwertgefühl schließlich die von ihm selbst besorgte Aufsatzsammlung mit dem Titel Wirtschaft und Gesellschaft aus dem Jahr 1963, welchen Titel er offensichtlich ohne zu zaudern von einem der Hauptwerke Max Webers entlehnte. Sozialökonomische, sozialpolitische und soziologische Themen umfaßten die Lehrveranstaltungen des im Jahr 1951 an der juridischen Fakultät für Sozialpolitik habilitierten Benedikt Kautsky (Abb. 3), der über „Probleme der Gemeinwirtschaft“ las und Lehrveranstaltungen über die Gewerkschaftsbewegung sowie über soziale Strukturwandlungen in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten abhielt. Der in Abb. 3: Benedikt Kautsky, nach der Befreiung im KZ Buchenwald Stuttgart geborene Sohn des für die Quelle: Wikimedia Commons Geschichte der deutschen Arbeiterbe21 In diesem Wörterbuch, das die gesamte Elite deutschsprachiger Soziologen der damaligen Zeit versammelt, scheint auch der in dem vorliegenden Sammelband durch einen eigenen Artikel gewürdigte Hermann Heller mit dem Artikel „Staat“ auf, an österreichischen Beiträgern – außer Dobretsberger – jedoch nur der Sinologe Arthur von Rosthorn sowie zwei Ethnosoziologen: die Steyler Missionare Wilhelm Koppers und Georg Höltker aus St. Gabriel in Mödling. 22 Nach dem Zeugnis namhafter Kommunisten der damaligen Zeit war Dobretsberger von Seiten der KPÖ für den Fall als Bundeskanzler vorgesehen, daß diese in den Oktoberstreiks des Jahres 1950 einen durchschlagenden politischen Erfolg erzielen würde.
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wegung sehr bedeutenden Karl Kautsky war, nachdem er 1917/18 seinen Kriegsdienst in der österreichisch-ungarischen Armee geleistet hatte, im Staatsamt des Äußeren unter Otto Bauer sowie als Privatsekretär bei Karl Renner tätig und schloß danach ein Doktoratsstudium an der philosophischen Fakultät der Universität Berlin mit den Hauptfächern Soziologie und Nationalökonomie ab. Kautsky kehrte nach Wien zurück und wurde 1921 Leiter der volkswirtschaftlichen und statistischen Abteilung der Arbeiterkammer, welche Stelle er bis 1938 innehatte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war er bis 1945 in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Auschwitz interniert und lebte danach als freier Schriftsteller in der Schweiz, bis er 1950 als Leiter der eben gegründeten Volkswirtschaftsschule der steirischen Arbeiterkammer nach Graz-Stiftingtal geholt wurde, wo er bis 1958 wirkte. Als stellvertretender Generaldirektor der Creditanstalt-Bankverein nach Wien berufen, hat er als Verfasser des Vorentwurfes des im Jahr 1958 verabschiedeten Wiener Parteiprogramms der Sozialistischen (später: Sozialdemokratischen) Partei Österreichs deren weitere Entwicklung maßgeblich beeinflußt. 1959 hat sich Anton Burghardt (Abb. 4) als ein Vertreter der katholischen Soziallehre an der Grazer Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät für Sozialpolitik und Soziologie habilitiert. Nachdem er bereits im Jahr darauf für die Fächer seines Nominalfaches als Lehrbeauftragter nach Graz verpflichtet worden war, wurde er 1964 zum außerordentlichen Titularprofessor und 1966 zum ordentlichen Professor für Sozialpolitik (später erweitert auf Volkswirtschaftspolitik) und Betriebssoziologie ernannt. Mit Burghardt wurde also die bisher im Rahmen der Politischen Ökonomie vertretene Disziplin der Sozialpolitik mit eigener Lehrkanzel und eigenem Institut selbstständig. Doch bereits 1969 folgte Burghardt einem Ruf an die damalige Hochschule für Welthandel (die heutige Wirtschaftsuniversität) in Wien, und für Sozialpolitik sollte es von da an in Graz auch Abb. 4: Anton Burghardt Quelle: Dr. Karl Kummer Institut keine eigene Professur mehr geben.
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Von Burghardts umfangreichem Schrifttum fallen sein Lehrbuch der Allgemeinen Sozialpolitik (1966) in die Zeit seines Grazer Wirkens, ferner Neuauflagen seines erstmals 1957 erschienenen Lehrbuchs der Volkswirtschaftslehre. * Als eigene Abteilung, wenn auch noch nicht als eigenes Institut wurde die Soziologie an der Grazer Universität erstmals am Philosophischen Institut in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eingerichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte dann an der juridischen Fakultät ihre Institutionalisierung erfolgen. Dem bereits 1882 für Philosophie habilitierten und seit 1905 in diesem Fach als ordentlicher Professor tätigen Hugo Spitzer (Abb.5) gelang es, im Jahr 1920 das Seminar für philosophische Soziologie zu gründen, das nach seiner Emeritierung im Jahre 1925 von Konstantin Radakovic weitergeführt wurde. Spitzer war bereits in den 1880er Jahren durch drei Bücher zur Philosophie der organischen Wissenschaften bekannt geworden, wobei vor allem seine 1886 erschienenen Beiträge zur Deszendenztheorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft einiges Aufsehen erregten.23 Radakovic wiederum wandte sich in seinem Schrifttum der 1920er und 1930er Jahre, nach anfänglicher Beschäftigung Abb. 5: Hugo Spitzer mit der Philosophie der Biologie, vor Quelle: Archiv der Universität Graz allem der Erkenntnistheorie des britischen Skeptizismus zu. Er war während des Zweiten Weltkriegs als politisch unzuverlässig vom Dienst suspendiert, hat jedoch nach 1945 das einstige Seminar für philosophische Soziologie als gleichnamige Abteilung des Philosophischen Instituts geleitet. Als Assistentin war hier Judith Jánoska-Bendl tätig, die sich 1964 in Graz mit der Arbeit Methodologische Aspekte des Idealtypus – Max Weber und die Soziologie der Geschichte (1965) habilitierte, welche in der Fachwelt auf großes Interesse stieß. Sie war danach in 23 Siehe SPITZER 1881, 1883 und 1886.
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Darmstadt und Bern tätig und verstarb im Jahr 2007. – Die Abteilung für philosophische Soziologie des Institutes für Philosophie hörte faktisch bereits zu Beginn der 1970er Jahre auf zu existieren. Mit der Etablierung des Instituts für Soziologie an der als eine Folge des Universitätsorganisationsgesetzes (UOG) 1975 neu geschaffenen Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät endete auch die Institutionalisierung der Soziologie an der juridischen Fakultät, an welcher nach dem Zweiten Weltkrieg ein Institut für Soziologie eingerichtet worden war. Diese Namensgebung erfolgte im deutschen Sprachraum erstmals 1919 an der Universität Frankfurt, wo Franz Oppenheimer – ein in seinem Schrifttum verschiedentlich Ludwig Gumplowicz nahestehender Gelehrter – Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie und theoretische Nationalökonomie war. In Österreich wurden Professuren für das Nominalfach Soziologie erst nach dem Zweiten Weltkrieg üblich. In Graz wirkte ab 1949, nach seiner Rückkehr aus der politischen Emigration, Johann Mokre als ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie, Allgemeine Staatslehre und Soziologie an der juridischen Fakultät. Die soziologische Lehre war dabei vor allem für das staatswissenschaftliche Studium vorgesehen, und in dessen Rahmen konnten ab 1949 auch soziologische Dissertationen verfaßt werden. Eine institutionelle Entkoppelung der Soziologie von der Rechtsphilosophie und der Staatslehre erfolgte an der juridischen Fakultät 1965 mit der Gründung des „Instituts für Soziologie“, das Ausbildungs- und Betreuungsfunktionen für verschiedene an der Fakultät eingerichtete Studienrichtungen übernahm. Das Institut wurde – wie andere Institute auch – bis zu der im Jahr 1968 erfolgten Berufung des von Mokre in Graz habilitierten und zwischenzeitig an der Hochschule für Welthandel (der heutigen Wirtschaftsuniversität) in Wien tätigen Kurt Freisitzer von Johann Mokre geleitet. Unter Mokre waren hier Karl (Karel) A. Kubinzky sowie der danach als Professor in Bonn sowie in Salzburg tätige Justin Stagl (Abb. 6) als Assistenten beschäftigt. Kubinzky hat sich zu einem der kompetentesten Stadthistoriker von Graz entwickelt, Stagl dagegen, der von der Ethnologie herkommt, zu einem namhaften Kultursoziologen. Besonders bekannt wurde er durch seine Bücher Kulturanthropologie und Gesellschaft (1974), Aspekte der Kultursoziologie (1982) sowie Eine Geschichte der Neugier (2002), welch letzteres auch in englischer Sprache erschienen ist. Im Rahmen der Neuorganisation durch das UOG 1975 zu einem Teil der neu gegründeten Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät geworden, erlebte das Institut für Soziologie dank der Initiative Freisitzers24 eine Ausweitung: 1974 wurde mit der Berufung von Karl Acham eine ordentliche Professur für „Soziologische Ideengeschichte und Wissenschaftslehre“ geschaffen, 1985 wurde Max Haller zum dritten Ordi24 Dieser hatte – außer dem Amt des Dekans an der alten Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät – von 1981 bis 1983 auch das Amt des ersten Rektors26 inne, den die neugegründete Fakultät stellte. Unter ihm
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narius berufen. Mit seiner Berufung wurden die beiden zwischenzeitig geschaffenen Abteilungen am Institut – für „Allgemeine Soziologie und Sozialforschung“ sowie für „Soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre“ – um die Abteilung für „Gesamtgesellschaftliche Analysen und Methoden der empirischen Sozialforschung“ erweitert. Dominieren im Schrifttum des 2010 verstorbenen Kurt Freisitzer vor allem Arbeiten zu soziologischen Aspekten der Raumplanung und der Wohnungssoziologie, so wird durch das Schrifttum von Acham und Haller das breite Spektrum abgedeckt, welches umfänglich der Namensgebung ihrer Abteilungen entspricht. Abb. 6: Justin Stagl Eine darüber hinausgehende AkzenQuelle: Archiv Karl Acham tuierung ergibt sich im Fall Achams durch seine Arbeiten geschichtstheoretischer, kultursoziologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Art, im Falle Hallers vor allem durch solche zur Wissenschaftssoziologie und zur soziologischen Theorie. Im Schrifttum der an dem Institut tätigen außerordentlichen Professoren Manfred Prisching, Helmut Kuzmics, Gerald Mozetič, Christian Fleck und Franz Höllinger stehen Publikationen zur politischen Soziologie, zur historischen Soziologie und Kultursoziologie, zur Geschichte der Soziologie sowie zur Religionssoziologie im Vordergrund.25 Von besonderem Wert – ähnlich dem des Meinong-Archivs, das dem Institut für Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät assoziiert ist – ist das in seiner Art einzige Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ), das in erfolgte im Herbst 1981 die erste von linken Studenten unternommene Besetzung des Rektorats der Grazer Universität. Die von Ende Oktober bis Mitte Dezember dauernde Besetzung wurde vom harten Kern der Belagerer, einigen Kommunisten und Linkssozialisten, wohl nicht zufällig just zu der Zeit beendet, als an der Warschauer Universität die Polizei die dortigen studentischen Proteste mit massiver Gewalt unterdrückte und zahlreiche Studierende verhaftete. 25 Vor allem Prisching hat es geschafft, mit seinen politik- und wirtschaftssoziologischen Analysen sowie mit Großessays zur zeitgenössischen kulturellen Lage auch international wahrgenommen zu werden. Ähnliches gilt für Kuzmics und seine an Norbert Elias orientierten zivilisationstheoretischen Untersuchungen sowie für Flecks Arbeiten zur Emigrationsforschung.
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der Person von Reinhard Müller einen höchst kompetenten Archivar und Sachwalter hat, der es versteht, immer wieder interessantes Material für das Archiv zu erwerben.26 Auch nach der Institutionalisierung der Soziologie an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als eigener Studienrichtung sowie nach ihrer beträchtlichen personellen Ausweitung blieb die Erörterung soziologischer Sachfragen keineswegs auf die neue Fakultät beschränkt. Dies gilt beispielsweise für Ota Weinberger, aber vor allem auch für dessen ehemaligen Mitarbeiter Peter Koller, dessen venia sich sowohl auf die Rechtsphilosophie als auch die Rechtssoziologie erstreckt und auf den bereits in den Vorbemerkungen zu Kap. III Bezug genommen wurde. Weinberger hat sich stets zu einem Begriff der praktischen Philosophie bekannt, der nicht nur die Antworten auf die Frage, „wie man handeln soll, also nicht nur Ethik und Jurisprudenz, sondern die Gesamtheit der philosophischen Analysen und wissenschaftlichen Disziplinen [betrifft], in deren Mittelpunkt der Handlungsbegriff steht. Zur praktischen Philosophie“, so führt er aus, „zähle ich daher auch die Ökonomie und die Soziologie.“27 Gleiches gilt für Koller, der seit 1991 ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität ist. Seine Arbeiten betreffen gleichermaßen Fragen der Moralphilosophie und der politischen Theorie wie der Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Ausgehend insbesondere von der Erörterung der Möglichkeiten moralischen Handelns in einer moralisch defekten sozialen Umwelt erörtert er zentrale Fragen der politischen Theorie, wie zum Beispiel Probleme der politischen Freiheit, der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit. Nach und nach rückten dabei immer mehr Problemerörterungen in den Mittelpunkt seines Interesses, die den Zusammenhang von internationaler politischer sowie wirtschaftlicher Ordnung und globaler Gerechtigkeit betreffen. Dabei gewinnen auch rechtssoziologische Erörterungen von Formen sozialer Gleichheit, Ungleichheit und Kooperation im Weltmaßstab besondere Bedeutung. Koller neigt in seinem Schrifttum – im Unterschied zu Weinberger – der Auffassung eines ethischen Kognitivismus zu, also einer Lehrmeinung, welche die rationale Begründbarkeit moralischer Werte und Normen behauptet.28
26 Das AGSÖ geht auf eine Initiative Christian Flecks zurück und ist nach einem sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckenden Provisorium seit 2010 in archivtauglichen Räumen in der Elisabethstraße untergebracht. – Reinhard MÜLLER ist im übrigen auch der Verfasser des Internet-Lexikons „50 Klassiker der Soziologie“, für das er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Es bietet Materialien zu Leben und Werk berühmter Soziologen sowie gegebenenfalls auch umfassende Informationen zu deren Nachlässen. 27 WEINBERGER 1985, S. 38. 28 Dies ist so zu verstehen, daß nicht nur ein Konsens über die Regeln eines (instrumentell aufgefaßten) vernünftigen Diskurses über moralische Probleme erreichbar sei, sondern daß auch eine konsensuelle Bestimmung der (substantiell aufgefaßten) vernünftigen moralischen Ziele selbst prinzipiell möglich sei.
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Am Institut für Rechtsphilosophie verbrachte einer der namhaftesten deutschen Soziologen seit dem Zweiten Weltkrieg als Honorarprofessor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät seine letzten Jahre als akademischer Lehrer: Helmut Schelsky (Abb. 7). Wie Arnold Gehlen, Helmut Plessner, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und René König zählt er zu den prägendsten Gestalten der deutschen Soziologie und Sozialphilosophie in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945. Aus Schelskys umfangreichem Werk ragen vor allem Bücher über die Soziologie der Institutionen und der Sexualität, über die sozialen Folgen der Automatisierung, über die deutsche Universität und ihre Reformen Abb. 7: Helmut Schelsky sowie über Schule und Erziehung in Quelle: Archiv der Universität Bielefeld der Industriegesellschaft hervor. Sein Spätwerk ist einerseits von einem gesteigerten Interesse für Fragen der Rechtssoziologie geprägt, andererseits von der Auseinandersetzung mit den sich seines Erachtens immer mehr einen Priesterstatus arrogierenden Intellektuellen der sogenannten 68er-Bewegung. Schelsky erwarb sich große Verdienste um den Transfer von in der Nachkriegszeit aktuellen soziologischen Gegenwartsklassikern der US-amerikanischen Soziologie in den deutschen Sprachraum, wie etwa von David Riesmans (u. a.) Lonely Crowd, aber auch durch die 1969 gegründete „Reformuniversität Bielefeld“ mit ihrem „Zentrum für Interdisziplinäre Forschung“ (ZIF), die beide weit über Deutschland hinaus wirkten. Für sie hat Schelsky weitgehend selbst das Gründungspersonal ausgewählt, unter anderem Reinhart Koselleck, Hermann Lübbe und Niklas Luhmann. So hat er das Profil der Geistes- und Sozialwissenschaften Deutschlands in gewiß nicht unbedeutendem Umfang mitgeformt. Schelsky, dessen erstmals 1957 erschienenes Buch Die skeptische Generation den Rang eines auch international vielbeachteten Gegenwartsklassikers erlangt hatte, erlebte allerdings noch, wie ein großer Teil seines auch noch heute anregenden Schrifttums modischen Tendenzen des Faches Platz machen mußte. Dieses Routine-Schicksal von Gelehrten hat ihn nicht sosehr verdrossen, wohl jedoch der Umstand, daß jüngere Funktionäre der von ihm gegründeten Universität Bielefeld die mit ihr, seinem Werk,
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Abb. 8: Helmut Schoeck
Abb. 9: Ernst Topitsch und Leszek Kolakowski
Quelle: Verlag Herder KG Freiburg i. Br.
1964 in Alpbach, Photo Pfaundler Quelle: Archiv Karl Acham
ursprünglich verbundenen Ideen zu verwerfen schienen. Dies und auch das, wie man sagt, von ihm ausgelöste, aber nicht beabsichtigte Zerwürfnis mit seinem ehemaligen Mentor und Freund Arnold Gehlen hat ihn doch einigermaßen betroffen gemacht. Sowohl der Rückzug als Lehrer in die relativ provinzielle Abgeschiedenheit von Graz als auch die Wahl seines letzten Wohnsitzes auf Burg Schlaining im Burgenland, an deren Ummauerung er auch seine letzte Ruhestätte fand, scheinen in nicht unerheblichem Maße eine Reaktion darauf zu sein. Ähnlich wie der späte Schelsky dem Konservativismus-Vorwurf ausgesetzt war, so wurde auch der aus Graz stammende Helmut Schoeck (Abb. 8) mit dem Verdikt bedacht, nicht konstruktiv zu wirken, sondern nur auf die Gesellschaftsentwürfe anderer destruktiv zu reagieren, damit aber im eigentlichen Sinne ein Reaktionär zu sein. Und doch überragte auch er, wie Schelsky, die überwiegende Mehrheit seiner Kritiker an Gelehrsamkeit und Originalität. Schoeck, der 1948 bei Eduard Spranger mit der Arbeit Karl Mannheim als Wissenssoziologe promovierte, war von 1950 bis 1965 an amerikanischen Universitäten tätig, lehrte von 1965 bis 1990 an der Universität Mainz und starb im Jahre 1993. Sein Schrifttum ist ungemein reichhaltig. Besonders bekannt wurde er durch sein erstmals 1966 erschienenes Buch Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Das Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Graz – ein summarischer Überblick S 379
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Buch, das von namhaften Philosophen und Wissenschaftlern, so beispielsweise von Karl Raimund Popper, gepriesen wurde und dessen Wirkung weit über akademische Kreise hinausreichte, wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Zu Standardwerken avancierten ferner sein seit 1969 immer wieder erweitertes und ergänztes Soziologisches Wörterbuch sowie seine von ausführlicher ideengeschichtlicher und institutioneller Kenntnis geprägte Geschichte der Soziologie (1. Aufl. 1964). Ein Überblick über die Soziologie in und aus Graz wäre unvollständig, würde man nicht auch auf das Werk von zwei an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät tätig Abb. 10: Ingomar Weiler gewesenen Wissenschaftlern hinQuelle: Archiv Karl Acham weisen: auf Ernst Topitsch (Abb. 9) und auf Ingomar Weiler (Abb. 10). Topitsch, der 1962 von Wien nach Heidelberg berufen worden war, kam im Jahr 1969 an das Grazer Institut für Philosophie, wo er bis kurz vor seinem Tode im Jahr 2003, also weit über seine Emeritierung im Jahre 1989 hinaus, als akademischer Lehrer wirkte. Als Weltanschauungsanalytiker war er vor allem Heinrich Gomperz, Max Weber und Hans Kelsen verbunden, in epistemologischer Hinsicht wiederum den Auffassungen von David Hume, Victor Kraft und den jüngeren Bestrebungen der genetischen Erkenntnistheorie. In seinen philosophischen Schriften, die in der überarbeiteten und erweiterten zweiten Auflage seines Buches Erkenntnis und Illusion (1988) einen gewissen Abschluß erfahren haben, legt er in erkenntnisgenetischer – also auch wissenssoziologischer – Absicht die Entstehungs-, Wirkungs- und Geltungsbedingungen einiger grundlegender, die Geschichte und das Selbstverständnis der Menschen prägender Vorstellungen und Ideen in verschiedenen Kulturen und auf verschiedenen Stufen von deren Entwicklung dar. – Seinem Wirken ist der Beitrag von Heinrich Kleiner in Kapitel II gewidmet. Der von 1976 bis 2002 als ordentlicher Professor am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde wirkende Ingomar Weiler wiederum behandelt in seinem Schrift-
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tum zur Geschichte der griechischen und römischen Antike immer wieder auch genuin soziologische Sachprobleme: Formen der sozialen Ungleichheit und die Behandlung von Sklaven, Behinderten und anderen sozial Depravierten. Neben ungefähr 50 Aufsätzen und Artikeln geben vor allem zwei Monographien über die quellengestützte Befassung des Autors mit den einschlägigen Themen Aufschluß: Soziale Randgruppen und Außenseiter im Altertum (1988) und Die Beendigung des Sklavenstatus im Altertum (2003). Sein Werk liefert nicht allein dem historischen Soziologen wertvolles Faktenmaterial, es besteht vielmehr in weiten Teilen selbst aus soziologischen Analysen. Weiler ist Mitarbeiter an dem im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz von Heinz Heinen herausgegebenen und in Ausarbeitung befindlichen Handwörterbuch der antiken Sklaverei, wobei ihm die Betreuung und Koordinierung der Sektion Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte obliegt. * Die Tradition der akademischen Psychologie in Graz beginnt mit Alexius Meinong (Abb. 11), der als ein Schüler Franz Brentanos im Jahre 1882 auf die nach Alois Riehl freigewordene Lehrkanzel als außerordentlicher Professor für Philosophie hierher berufen wurde. In Graz gelang es ihm, 1894 das erste experimentalpsychologische Laboratorium an einer österreichischen Universität einzurichten. Seine namhaftesten Schüler waren Stephan Witasek, Christian von Ehrenfels, Alois Höfler, Anton Oelzelt-Newin und Vittorio Benussi.29 Insbesondere Benussi hat die sogenannte „Produktionstheorie“ der Gestalten, gemäß welcher Gestalten nicht spontan gegeben seien, sondern vom Subjekt „produziert“ würden, anhand von sehr detaillierten experimentellen Untersuchungen ausgearbeitet. Die allgemein von den Psychologen der Meinong-Schule als verbindlich angesehene Orientierung an dem Prinzip der empirischen Überprüfung bedeutete allerdings nicht den Ausschluß von Themen, die man landläufig Abb. 11: Alexius von Meinong als der experimentellen Analyse unzugänglich Quelle: Archiv der Universität Graz
29 Siehe dazu Helmuth P. HUBER: Die Grazer Schule der Psychologie um Meinong, in: ACHAM (Hg.) 2007, S. 375–396.
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Abb. 12: Stephan Witasek
Abb. 13: Christian von Ehrenfels
Quelle: Archiv der Universität Graz
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angesehen hat; und so waren immer wieder auch Fragen der Ethik und Ästhetik Gegenstand einschlägiger Analysen. Im besonderen gilt dies für Meinongs Kronschüler Stephan Witasek (Abb. 12) und Christian von Ehrenfels (Abb. 13).30 So hat Witasek, der von Meinong bereits als sein Nachfolger ausersehen, jedoch in relativ jungen Jahren einem Leiden erlegen war, unter anderem zur Ethik und Ästhetik publiziert. Gleiches gilt für Ehrenfels, der sich darüber hinaus der Beziehung von Wissenschaft und Okkultismus, Fragen der Religion sowie solchen der Sexualmoral zugewandt hat. Bis auf den heutigen Tag trifft sein System der Werttheorie (1897–98) unter Philosophen und Psychologen auf nicht nur historisches Interesse. Gewissermaßen in Parenthese sei hier daran erinnert, daß Meinong Robert Musil (Abb. 14) einlud, sich bei ihm zu habilitierten. Promoviert wurde Musil im Jahr 1907 in Berlin, wo er bei dem Psychologen und Musikforscher Carl Stumpf eine von dem ehemals in Graz wirkenden Philosophen Alois Riehl31 als Koreferenten mitbeurteilte 30 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise WITASEK 1904 und WITASEK 1907 sowie EHRENFELS 1897–98 und 1907. – Zu Witasek siehe ZEMLJIC 1993, zu Ehrenfels FABIAN 1986. 31 Riehl, der 1882 Graz verlassen hatte und danach an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Kiel und Halle tätig war, übernahm 1905 den Lehrstuhl von Wilhelm Dilthey in Berlin.
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Abb. 14: Robert Musil, Zeichnung von Martha Musil,
Abb. 15: Fritz Heider
April 1909; Quelle: Karl Corino
Quelle: HEIDER 2004
Dissertation mit dem Titel „Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs“ einreichte. Musil, der Meinongs Angebot ausschlug, wurde wiederholt von Zweifeln geplagt,32 ob es nicht doch besser gewesen wäre, dies nicht getan zu haben – aber wer weiß, was dadurch wiederum der Literatur und Musils mit den Jahren stetig anwachsender Leserschaft entgangen wäre? Neben Sachbereichen der äußeren Wahrnehmung waren es, wie bereits angedeutet, auch solche der inneren Wahrnehmung, denen die Forschungen am Grazer Psychologischen Institut galten. Dies veranschaulicht in besonderem Maße der letzte Promovend Meinongs, Fritz Heider (Abb. 15). Heider, ein gebürtiger Wiener, der nach seiner Grazer Studienzeit fachliche Beziehungen auch zu Charlotte und Karl Bühler, William Stern, den Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer, insbesondere aber zu Kurt Lewin unterhielt, hat in seiner Autobiographie Meinong als den Lehrer bezeichnet, der auf ihn den größten Einfluß ausgeübt hat – und dies, obwohl er in seinen Vorlesungen psychologische Probleme nur am Rande gestreift habe.33 Mit 32 Siehe in diesem Zusammenhang die Vorbemerkung von Adolf FRISÉ in: Robert MUSIL: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik, Reinbek bei Hamburg 1980. 33 Vgl. HEIDER 2004, S. 25.
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seinen Forschungen zur Attributions- und Balancetheorie, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk The Psychology of Interpersonal Relations aus dem Jahre 1958 dargelegt hat, avancierte er zu einem der namhaftesten Sozialpsychologen des 20. Jahrhunderts. Ihm als einem bereits international hoch ausgezeichneten Wissenschaftler hat die Universität Graz im Jahr 1981 die Würde eines Ehrendoktors verliehen. – Peter Gasser-Steiner hat Heider im vorliegenden Sammelband einen Beitrag gewidmet. In ähnlichem Geist wie die Grazer Schule um Meinong, welche die Erörterung psychologischer Probleme auf empirische Methoden gegründet hatte, versuchte der seit 1947 als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Hubert Rohracher an der Universität Wien tätige Erich Mittenecker (Abb.16) die Wissenschaft vom Psychischen aus dem Bereich des bloß Introspektiven herauszulösen. Sein Instrumentarium, um die Inhalte des Psychischen durch Psychologie überprüfbar zu machen, waren Statistik und klassische Testtheorie. Eine Ergänzung dieser Methoden durch eine „Gegenstandstheorie“, oder gar ihre Verschränkung mit dieser, wie die Vertreter der Meinong-Schule dies intendierten, lehnte er gleichwohl ab. Nachdem Mittenecker für einige Zeit an der Universität Tübingen als ordentlicher Professor tätig war, folgte er im Jahr 1968 einem Ruf an die Universität Graz. In Anlehnung an das Minnesota Multiphasic Personality Inventory hatte er schon zuvor gemeinsam mit Walter Toman einen selbständigen Beitrag zur praktischen Anwendung quantitativer Diagnostik entwickelt: einen Persönlichkeits-Interessen-Test für das Wiener Arbeitsamt.34 Mit den für die Anwendung statistischer Auswertungsverfahren erforderlichen Methoden machte Mittenecker die Studierenden des Faches Psychologie durch sein Lehrbuch Planung und statistische Auswertung von Experimenten (1952; 10. Aufl. 1983) vertraut, welches das erste einschlägige Werk in deutscher Sprache war. Da sich die deutschsprachige Psychologie immer mehr an den in den USA entwickelten Forschungsstandards orientierte, fand es rasche Verbreitung. Obwohl der Untertitel dieses Werks verheißt, eine „Einführung für Psychologen, Biologen und Mediziner“ zu sein, war es – gemeinsam mit den darauf basierenden Vorlesungen und Übungen am Grazer Institut für Psychologie – auch eine vorzügliche Quelle für die im Bereich der empirischen Sozialforschung anwendbaren Methoden. Bei Mittenecker und seinen Mitarbeitern in „Methoden“ ausgebildet worden zu sein, war daher etwa für Studierende der Soziologie in Graz stets von Vorteil. Die von Hubert Rohracher, Erich Mittenecker, Walter Toman und Sylvia BayrKlimpfinger bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg am Psychologischen Institut der Universität Wien vertretene methodisch fundierte und empirisch-nüchterne Betrachtungsweise psychologischer Probleme erwies sich als ein sicheres Fundament, auf dem 34 Siehe Mitteneckers Selbstdarstellung in MITTENECKER 1992; sie enthält auch eine vom Autor selbst zusammengestellte Auswahlbibliographie.
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Abb. 16: Erich Mittenecker
Abb. 17: Lilian Blöschl
Quelle: WEHNER (Hg.) 1992
Quelle: Archiv Karl Acham
mehrere Absolventen des Instituts akademische Karrieren aufzubauen vermochten. Vor allem seit den späten 1950er Jahren wurden überproportional viele Absolventen des Wiener Instituts an deutsche und schweizerische Universitäten berufen. Dies gilt auch für zwei im Anschluß an ihre Tätigkeit in Deutschland nach Graz Berufene: für die in Düsseldorf tätig gewesene Vertreterin der Pädagogischen Psychologie Lilian Blöschl (Abb. 17), die an das Grazer Institut für Pädagogik berufen wurde, und für Helmuth P. Huber, der über München und Hamburg an das Grazer Institut für Psychologie kam. – Blöschl wurde international vor allem durch ihr Buch Psychosoziale Aspekte der Depression. Ein lerntheoretisch-verhaltenstherapeutischer Ansatz (1978) bekannt. Mit den Fragestellungen der pädagogischen Psychologie, welche sich hauptsächlich mit Entwicklungspsychopathologie und der heilpädagogischen Psychologie beschäftigt, überschreitet sie in ihrem Schrifttum die Pädagogik im engeren Sinn. Denn ihr geht es insbesondere um den Bereich der emotionalen Befindlichkeit und der Befindlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen sowie um soziale Beziehungen und Beziehungsprobleme bei diesen. – Helmuth P. Huber wiederum schuf sich hohe fachliche Reputation vor allem durch eine Monographie über Psychometrische Einzelfalldiagnostik (1973), durch seine Mitherausgeberschaft am Handbuch psychologischer Grundbegriffe (1977) und durch seine 2008 erschienene Allgemeine Klinische Psychologie.
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Mit Inkrafttreten des UOG 1975 und der Aufgliederung der alten Philosophischen Fakultät in eine Geisteswissenschaftliche und eine Naturwissenschaftliche Fakultät wurde das Institut für Psychologie der letzteren zugeordnet. Zu den Mitarbeitern Mitteneckers, dem als Lehrstuhlinhaber der besonders durch Studien zur Gedächtnisforschung bekannte Dietrich Albert folgte, zählten vor allem Erich Raab, Günter Schulter, Willibald Butollo, im Bereich der Sozialpsychologie jedoch insbesondere Gerold Mikula. – Mikula ist vor allem durch seine Abhandlungen zur sozialpsychologischen Gerechtigkeitsforschung bekannt geworden, zu welchem Thema er auch einen repräsentativen Sammelband 35 herausgegeben hat. Bei Forschungen zu diesem Teilbereich der Sozialpsychologie geht man unter Heranziehung verschiedener methodischer Ansätze aus der Psychologie und den empirischen Sozialwissenschaften insbesondere den Fragen nach, wie es sich in einer Gesellschaft mit den Vorstellungen von Gerechtigkeit und mit der Beurteilung von Gerechtigkeit beziehungsweise Ungerechtigkeit verhält, wie die Motive der Beseitigung von Ungerechtigkeit geartet sind, und wie sich diese Vorstellungen, Urteile und Motive in einer Gesellschaft herausbilden. Dabei werden individualpsychische Merkmale, aber auch durch ökonomische, politische und kulturelle Einflußfaktoren geprägte Einstellungen zum Gegenstand der Betrachtung. Im Gegensatz zu den normativen Gerechtigkeitstheorien philosophischer Provenienz fällt die sozialpsychologische Gerechtigkeitsforschung keine Urteile darüber, was unter Gerechtigkeit verstanden werden soll, sondern sie untersucht auf deskriptive Weise, wie die Menschen über Gerechtigkeit denken und wie sie jeweils nach Maßgabe ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen die zwischenmenschlichen und kollektiven Verhältnisse beurteilen. Einer der ganz herausragenden deutschsprachigen Sozialpsychologen nach dem Zweiten Weltkrieg war in der frühen Phase seiner akademischen Karriere in Graz tätig: Peter Robert Hofstätter (Abb. 18). Hofstätter stand als junger Wissenschaftler in Wien mit Karl und Charlotte Bühler sowie mit Egon Brunswik in Kontakt und war zunächst für einige Zeit in der Ersten Republik als (österreichischer) Heerespsychologe tätig und nach den Märzereignissen 1938 als Heerespsychologe der Deutschen Wehrmacht – anfangs in Wien, später in Berlin. Im Jahr 1943 arbeitete er zunächst beim Kriminalbiologischen Dienst des Reichsjustizministeriums, danach diente er als Kanonier bei einer in Italien eingesetzten Infanteriedivision und geriet in englische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung kehrte er jedoch nicht mehr in seine Heimatstadt Wien zurück, sondern kam im September 1945 nach Graz, wo er sich kurz vor Weihnachten 1945 habilitierte. Hofstätter hatte schon Jahre zuvor, nämlich 1940, als einer der ersten in einem Aufsatz über Typenanalyse die multiple Faktorenanalyse (im Sinne der Q-Technik) auf die Ähnlichkeiten zwischen Personen, oder besser: zwischen deren Selbstbeschreibungen, in einem Fragebogen angewendet. Zudem war ihm schon 1941 an der Universität 35 Siehe MIKULA (Hg.) 1980.
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Wien der Titel eines Dr. phil. habil. verliehen worden, allerdings wurde ihm die venia legendi verweigert.36 In Graz leitete Hofstätter die Psychologische Beratungsstelle der Volkshochschule und hatte als ehemaliges Mitglied der NSDAP einige Zeit zu warten, ehe er hier eine universitäre Vorlesungstätigkeit aufnehmen konnte. Von 1949 bis 1956 lehrte er in den USA, danach an der damals neu gegründeten „Hochschule für Sozialwissenschaften“ in Wilhelmshaven, schließlich von 1959 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1979 an der Universität Hamburg. In die Zeit seiner Grazer Tätigkeit fielen Hofstätters drei Bücher Einführung in die Tiefenpsychologie (1948), Vom Leben Abb. 18: Peter R. Hofstätter des Wortes, das Problem an Platons Dialog Quelle: WEHNER (Hg.) 1992 „Kratylos“ dargestellt (1949) und Die Psychologie der öffentlichen Meinung (1949). Besonders erfolgreich wurde Hofstätter als Autor von zwei Büchern zur Sozialpsychologie, die, wie auch ein Buch über Gruppendynamik, in mehreren Auflagen erschienen sind; sie wurden jedoch in den Schatten gestellt durch den erstmals im Jahr 1957 als Fischer-Lexikon erschienenen Band Psychologie, von dem bis zur 25. Auflage im Jahre 1981 rund 640.000 Exemplare verkauft wurden. Als Hofstätter im Jahre 1963 in der Wochenzeitung Die Zeit einen Artikel mit dem Titel „Bewältigte Vergangenheit?“ veröffentlichte und darin den Sinn der in Deutschland praktizierten Art der Vergangenheitsbewältigung in Frage stellte, zog er zum Teil heftigste Kritik – auch aus dem Ausland – auf sich. Da er sich in der Folge an der Universität verschiedentlich hintergangen und ausgegrenzt fühlte, emeritierte er zum frühest möglichen Termin mit 65 Jahren. – Hofstätter, der sich in seinem Schrifttum auch ideengeschichtlich als ungemein versiert erweist, war im Rückblick auf die Psychologie des 20. Jahrhunderts davon überzeugt, daß ihr die Trennung von der Philosophie, wovor schon Wilhelm Wundt 1913 ausdrücklich gewarnt hatte, nicht sonderlich gut bekommen ist.37 * 36 Näheres dazu, wie allgemein zu seinem Leben und Werk, findet sich als Selbstdarstellung in HOFSTÄTTER 1992. 37 Siehe ebenda, S. 132.
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Ehe es nach dieser kurzen Darstellung der Soziologie und der Psychologie darum geht, die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Graz zu skizzieren, erscheinen einige Hinweise auf die Beziehungen zwischen diesen und den soeben besprochenen Disziplinen am Platz. Psychologische Theorien sind bekanntlich für die Ökonomen in bestimmten Zusammenhängen gleich bedeutsam wie die Forschungstechniken und Methoden der Psychologen für die empirische Soziologie. Will man beispielsweise erklären, warum eine bestimmte Person mit einem extrem geringen Anfangskapital innerhalb kurzer Zeit zu einem namhaften Güterproduzenten aufgestiegen ist, wird man ohne Rekurs auf ihr Humanvermögen (human resources), und das heißt auch auf psychologische Variablen, nicht auskommen. Aber im Grunde hängt nach Auffassung der Ökonomen bei gegebenen Institutionen alles von den relativen Güter- und Faktorpreisen ab. Ein großer Teil des täglichen Geschehens wird aus ihrer Sicht daher am besten als Reaktion auf Knappheitsänderungen angesehen werden können. Dies korrespondiert der Sichtweise der Ökonomik in ihrer sogenannten „neoklassischen“ Periode. Sie läßt sich durch die Tendenz charakterisieren, die institutionellen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns, wie sie insbesondere für rechtswissenschaftliche und soziologische Betrachtungen bedeutsam sind, als exogene Daten zu behandeln und in den Kompetenzbereich dieser beiden anderen Wissenschaftsbereiche zu verweisen. Im Sinne dieser Auffassung wurde vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine immer deutlichere Abgrenzung zwischen Ökonomik, Rechtswissenschaft und Soziologie vorgenommen: Der eigene Kernbereich wird möglichst klar definiert, wobei die Gegenstände der jeweils anderen Disziplin in den „Datenkranz“ verlagert werden. In diesem Sinne seien Rechtswissenschaft und Soziologie zuständig für das Institutionenproblem, die Ökonomik ihrerseits für die mit der optimalen Allokation knapper Güter verbundenen Probleme. Diese Abgrenzung ist nicht immer nur als ein mit der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen verknüpfter Sachverhalt anzusehen, denn oft ist sie auch verbunden mit der Idee einer „theoretischen Autonomie“ der jeweiligen Disziplinen. Die von Seiten der Ökonomik vertretene Auffassung kam, wie nicht nur die Entwicklung der Forschungsarbeiten, sondern auch der Lehrinhalte und Studienpläne zeigt, durchaus einer auch in der Rechtswissenschaft und Soziologie nachweisbaren Tendenz entgegen: nämlich auszuscheren aus den ehemals die verschiedenen Disziplinen integrierenden Studienordnungen und Forschungsprogrammen, um auf diese Weise so etwas wie fachliche Autarkie unter Beweis zu stellen. Nicht selten wurde zugleich damit auch der Platz unter der finanziell lukrativen Lehrplatzsonne sichergestellt und ausgeweitet. Und doch wird – jedenfalls auf Seiten der Ökonomik – bereits seit einiger Zeit, wenn auch nicht immer mit Erfolg, eine verstärkte Bezugnahme einerseits auf den sogenannten „Property-Rights-Ansatz“, andererseits auf die in den USA als „Public Choice“ und bei
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uns als „Neue Politische Ökonomie“ umschriebene Forschungsrichtung propagiert.38 Das Bemühen der Vertreter dieser Entwicklungen in der ökonomischen Theorie geht dahin, eine systematische Einbeziehung des Institutionenproblems in die ökonomische Analyse voranzutreiben. So stellt etwa Bruno S. Frey – in erstaunlicher Ähnlichkeit zur Merkmalsbestimmung der Soziologie, die Emile Durkheim in den Regeln der soziologischen Methode (1895) vorgenommen hat – fest, dieser neue ökonomische Ansatz könne „als eine moderne Theorie der Institutionen aufgefaßt werden“.39 Angesichts solcher Ansätze zu einer neuen Einbindung des institutionellen Denkens in die Ökonomik40 liegt der Gedanke an die Vertreter der deutschen Historischen Schule und des amerikanischen ökonomischen Institutionalismus nahe, die ja auch die Berücksichtigung institutioneller Strukturen gegenüber der klassischen beziehungsweise der neoklassischen Ökonomik betont haben. Beide haben sich allerdings zur klassischen Theorie in einen ausdrücklichen Gegensatz gestellt, ohne zur Entwicklung einer theoretischen Alternative beizutragen, während es den vorhin genannten jüngeren institutionalistischen Schulen, etwa den Vertretern der „Neuen Politischen Ökonomie“, darum zu tun ist, das allgemeine sozialtheoretische Erkenntnisprogramm wiederzubeleben. Dieses ist, wie Hans Albert ausführt, „als Erbe der schottischen Moralphilosophie“ von Anfang an in der theoretischen Ökonomik angelegt gewesen, jedoch mit der Entwicklung zur Neoklassik teilweise wieder verlorengegangen.41 Wie die universitäre Entwicklung zeigt, ist die Umsetzung der erwähnten Einsichten in den einschlägigen Studienprogrammen weitgehend unterblieben.42 Derzeit gibt es ja bekanntlich sogar, wie bereits an früherer Stelle festgestellt wurde, und zwar nicht nur in Graz, auf Seiten gewisser Wirtschaftswissenschaftler mentale Reserven gegenüber der an der eigenen Fakultät eingerichteten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Deren Vertreter sehen sich verschiedentlich – das eine Mal mit mehr, das andere Mal mit weniger Berechtigung – dem Vorwurf ausgesetzt, theoriefern zu agieren.43 – In Graz hat Gerald Schöpfer den seit 1965 als Leiter des Institutes für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte fungierenden Hermann Ibler Mitte der 1970er Jahre abgelöst. An diesem Institut hat 38 Vgl. in diesem Zusammenhang bereits die Ausführungen in VANBERG 1983. 39 So bereits im Jahr 1977 Bruno S. FREY in: Moderne Politische Ökonomie. Die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik, München, S. 120. 40 Zu der ambivalenten Beziehung von Soziologie und Ökonomik siehe in diesem Zusammenhang MIKLHORKE 2009. 41 Vgl. dazu ALBERT 1977, aber auch bereits ALBERT 1967. 42 Siehe dazu auch die Ausführungen in den Schlußbemerkungen zu diesem Band. 43 Eigenartig mutet dabei allerdings an, daß selbst dort, wo, wie im Fall von Knut Borchardt an der Universität München, die Wirtschaftsgeschichte stets theoretisch unterlegt wurde, dies kein Schutz gegen die Liquidierung dieses Lehrstuhls nach dem Abgang seines international hochgeschätzten Inhabers war. Man spricht dann gern von Personen, an denen es als Nachfolgern mangelt, meint aber doch zumeist die Sache.
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sich Stefan Karner durch umfangreiche und zum Teil vorzügliche Arbeiten zur politischen Zeitgeschichte hohes internationales Ansehen erworben, jedoch scheint die Entfremdung zwischen Vertretern der „Geschichte“ und solchen der „Theorie“ mittlerweile bereits eine wechselseitige zu sein – die Wahl der Forschungsthemen indiziert dies auch im konkreten Fall hinreichend deutlich. * Die Wirtschaftswissenschaften, verstanden im Sinne der britischen und französischen Klassiker des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts, beginnen österreichweit erst mit Joseph Kudler (Abb. 19), der am Lyzeum in Graz mit der Statistik und den Politischen Wissenschaften befaßt war – eine Universität gab es hier ja erst wieder ab 1827. Kudler, ein Neffe Franz Anton von Zeillers, war unter anderem auch Mitbegründer des Lesevereins am Joanneum sowie der Steiermärkischen Landwirtschaftsgesellschaft. Im Jahre 1821 folgte er einem Ruf als Professor für Politische Wissenschaften und Österreichische Politische Gesetzeskunde an die Universität Wien. In seiner Wiener Zeit entstanden die über Österreich hinaus anerkannten wirtschaftswissenschaftlichen Werke Kudlers, insbesondere die erstmals 1846 erschienenen Grundlehren der Volkswirtschaft. Dieses als Handbuch und Lehrbehelf für Professoren und Studenten gedachte Werk markiert den Beginn der modernen Wirtschaftstheorie in der Habsburger Monarchie. Es blieb, wie Hermann Ibler ausführt, „auf lange Sicht das grundlegende Lehrbuch der sich nun immer deutlicher aus dem Zusammenhang der Politischen Wissenschaften zur Eigenständigkeit herauslösenden Wissenschaft der Nationalökonomie“.44 Nach dem Statistiker Johann Springer und dem Geographen, historischen Topographen und Statistiker Gustav Franz von Schreiner, der einer der ersten Professoren an der im Jahr 1827 wiedergegründeten Universität war, waren Wilhelm Kosegarten und Richard Hildebrand Vertreter einer Volkswirtschaftslehre, die in qualitativer Hinsicht wohl mitunter von den hauptberuflich außerhalb der Universität Graz tätigen Dozenten Emanuel Herrmann – er gilt als Erfinder der Postkarte –, Hermann Bischof, Franz von Myrbach-Rheinfeld und Leo Petritsch überboten worden sein dürfte.45 Hildebrand, der längere Zeit abwechselnd mit Bischof die Vorlesungen aus Dogmengeschichte und Finanzwissenschaft abhielt, übte seine Lehrtätigkeit über 40 Jahre lang bis 1911 aus und wurde auf sehr eigentümliche Weise aktiv, als es um die Bestellung seines Nachfolgers ging. Dieser sollte schließlich einer Denkrichtung entstammen, die ihm zeitlebens fremd blieb: der Wiener Grenznutzenschule.
44 IBLER 1985, S. 17. 45 Siehe dazu ebenda, S. 29–44.
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Abb. 19: Joseph Kudler
Abb. 20: Joseph Alois Schumpeter, ca. 1920
Quelle: Archiv der Universität Graz
Quelle: ANDROSCH, HASCHEK (Hg.) 1987
Jede Schumpeter-Biographie berichtet von den fatalen Umständen seiner Berufung nach Graz, aber kaum eine von den peinlichen studentischen Initiativen zwei Jahre nach dem im Jahr 1910 an ihn ergangenen Ruf. Die Fakultät schlug vor, den für Vergleichende und österreichische Statistik habilitierten Alfred Gürtler als außerordentlichen Professor zum Nachfolger Hildebrands zu bestellen, und nur zwei Mitglieder der Berufungskommission: der Professor des Römischen Rechts Gustav Hanausek und der Strafrechtler und Kriminologe Adolf Lenz, sprachen sich in einem Sondervotum für Joseph Schumpeter (Abb. 20) aus. In Hanauseks von Lenz unterstütztem Sondervotum heißt es: „das eine scheint festzustehen, daß Schumpeter ein Mann von hervorragendem Talent und origineller Kraft ist und man über einen Schriftsteller von seiner Bedeutung in einem Vorschlag für staatswissenschaftliche Professuren nicht zur Tagesordnung übergehen soll“. Dagegen äußerte sich Hildebrand in arger Verkennung der wissenschaftlichen Qualifikation Schumpeters, der vor allem wegen seines 1908 erschienenen Buches Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie in Fachkreisen bereits sehr geschätzt wurde, mit folgender Beurteilung: „Schumpeter ist kein Mann von ,origineller Kraft‘. Selbst das Spiel mit mathematischen oder mechanischen Begriffen und Analogien, das sich z. B. in seinem häufigen Gebrauch von Ausdrücken wie
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,Funktion‘, ,Statistik‘ und ,Dynamik‘ etc. kundgibt, ist nicht dem Kopfe Schumpeters entsprungen, sondern von Walras und Jevons entnommen. Während aber diese Gelehrten sich der Differential- und Integralrechnung zum Zwecke schärferer Formulierung bestimmter Beziehungen zwischen veränderlichen Größen bedienen, findet sich davon bei Schumpeter keine Spur. Im übrigen segelt dieser ganz im Fahrwasser der ,Wiener Schule‘. Es ist daher auch menschlich sehr begreiflich, daß seine Wiener Lehrer und Freunde auf ihn große Stücke halten. Daß auf Rezensionen, unter der sich übrigens auch eine vernichtende […] befindet, nichts zu geben ist, weiß jeder Gelehrte.“ Aber es sollte noch massiver kommen. Denn Schumpeter, so führte Hildebrand aus, vertrete nur „eine ganz unfruchtbare, abstrakte, formalistische Richtung […], deren Spezialität nur in dem Spiel mit mathematischen oder mechanischen Begriffen und Analogien besteht und bei der auch nicht die Spur eines Lichtstrahles auf das wirkliche Leben fällt“; und weiter heißt es in der Stellungnahme: „Sein Buch über ,Das Wesen und den Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie‘ enthält nichts als leere Allgemeinheiten und Trivialitäten, die nur, als ob es wichtige Entdeckungen wären, mit großer Emphase und Selbstgefälligkeit vorgebracht werden. Etwas, das man auch nur im entferntesten als eine wissenschaftliche Leistung bezeichnen könnte, hat er bis jetzt nicht aufzuweisen.“ 46 Schumpeter, für dessen Berufung nach Graz sich sein Lehrer Eugen von BöhmBawerk direkt bei Kaiser Franz Joseph verwendet hatte, bekleidete die Professur für Politische Ökonomie formell von 1911 – die „allerhöchste Entschließung Sr. Majestät“ ist mit 30. Oktober 1911 datiert – bis zu der von ihm selbst beantragten Enthebung im Jahre 1921; er übte jedoch seit Ende 1918 seine Lehrtätigkeit faktisch nicht mehr aus. Dafür, daß er sich in Graz nicht wohl fühlte, waren gewiß verschiedene Gründe maßgeblich, ein nicht unerheblicher könnte wohl auch die schon im Jahr 1912 von studentischer Seite zum Ausdruck gebrachte Ablehnung seiner Person als akademischer Lehrer gewesen sein.47 Die gegen Schumpeter gerichteten Aktivitäten begannen am 14. Oktober, als er gegen 9:30 Uhr, nach Betreten des Hörsaals, von der dort in großer Zahl versammelten Studentenschaft mit Lärmen und Schreien empfangen wurde, so daß er nach einem vergeblichen Versuch, zu Wort zu kommen, den Hörsaal wieder verließ. Der Rektor, der von zwei Studierenden gebeten wurde, sich über die Sorgen und Beschwerden der Studierenden im Hörsaal zu unterrichten, leistete diesem Ersuchen Folge. Im Hörsaal brachte ein Student im Namen aller anderen anwesenden Studierenden eine Anzahl von Beschwerden vor, die sich hauptsächlich gegen die Art richteten, wie Schumpeter die
46 Zitiert nach IBLER 1985, S. 48ff., wo auf das im Grazer Universitätsarchiv unter der Nummer 1685 vorliegende Protokoll der juridischen Fakultät aus dem Studienjahr 1910/11 Bezug genommen wird. 47 Aufschluß darüber gibt Akt Nr. 472 der Grazer juridischen Fakultät im Archiv der Universität Graz.
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Studierenden behandle und streng prüfe. Wie es in dem Konzept eines Schreibens an das k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht vom 5. November 1912 heißt – ein solcher Bericht an das Ministerium wurde mit Datum vom 29. Oktober 1912 von Seiten des Präsidiums der k.k. steiermärkischen Statthalterei vom Rektor Professor Zoth verlangt –, wies der Sprecher dabei „auf die außerordentliche Erregung in der Studentenschaft hin, die schließlich zu den heutigen Vorfällen geführt habe, und bat, zu bewirken, daß Schumpeter Graz wieder verlasse“. Dort heißt es weiter, daß der Hörsaal zur Zeit der Vorlesung Schumpeters in den nächsten Tagen leergeblieben sei, und nachdem Schumpeter vergeblich versuchte, mit den Studierenden Fühlung aufzunehmen und zu verhandeln, habe der Rektor im Einvernehmen mit dem Dekan der juridischen Fakultät, Prof. Layer, die Ordnung der Angelegenheit übernommen. Im Verlauf des Oktober kam es zu einer Deeskalation der Angelegenheit. Am 25. d. M. fand eine Studentenversammlung statt und der Ausschuß der deutschen Studentenschaft sandte eine „Promemoria“ an den Rektor. Im Ton versöhnlich gehalten, zeigt sich in dem Schriftstück dennoch deutlich, daß vor allem der Wechsel von der durch Hildebrand repräsentierten Variante der historischen Nationalökonomie zu einer modernen Ökonomik sowie die Tatsache, daß dies den Studierenden einiges an persönlichem Einsatz abverlangte, das eigentliche Problem gewesen sein dürfte. Denn unter anderem wird Schumpeter „die […] Herabsetzung altverdienter Lehrer“ vorgeworfen, zu denen die Studenten „stets in größter Verehrung aufgeblickt“ hätten, dann wird er aber vor allem auch aufgefordert, „hinsichtlich des Umfanges des Stoffes die Einschränkung seiner Anforderungen auf ein billiges Maß“ vorzunehmen und „sein Urteil gemäß der Prüfungsordnung nach streng objektiver Überlegung und unter Berücksichtigung des Wissens des Prüflings auch in den anderen Fächern“ abzugeben. Schließlich möge es Schumpeter vermeiden, „in allzustrenger Weise, sei es auf direktem oder indirektem Wege, das Versagen in seinem Fache als maßgebend für das Gesamt-Kalkül zu betreiben“. – Das darauffolgende Studienjahr 1913/14 verbrachte Schumpeter als Austauschprofessor an der Columbia University in New York, wo er – gerade einmal 30 Jahre alt – gewissermaßen kompensatorisch mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet wurde. Es ist nicht bekannt, daß Schumpeter aus dem Kreise der Grazer Studierenden Anregungen oder auch nur erwähnenswerten Zuspruch erfahren hätte. Deren Treue zum Althergebrachten hatte wohl, wie einige Formen vermeintlicher Treue auch sonst, hauptsächlich mit Bequemlichkeit zu tun. Schumpeter hingegen dürfte unter anderem wohl auch die von diesen Studierenden „stets in größter Verehrung“ gehaltenen „altverdienten Lehrer“ vor Augen gehabt haben, als er sich im Abstand von rund 50 Jahren über gewisse, ihnen geistig nahestehende Personen im „Verein für Socialpolitik“ in seiner Geschichte der ökonomischen Analyse folgendermaßen äußerte: „Wenn die Fähigkeit zur Beschreibung der Handelspraktiken von Milchverteilern plus einer bedingungslosen
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Treue zu den Idealen des Vereins – zweifellos glorifiziert durch ein wenig Philosophie und einige andere Elemente der deutschen Kultur – ausreichten, um jemanden zu einem Ökonomen zu machen, der zu gegebener Zeit auch akademische Würden erlangt, dann sollte uns die Feststellung nicht überraschen, daß sich das Angebot dem Charakter der Nachfrage anpaßte. Sonst hervorragende Männer hörten auf, nach den höheren Sphären schöpferischer und exakter Wissenschaft zu streben; andere, die auch sonst nichts Hervorragendes leisteten, verzichteten mit einem Seufzer der Erleichterung auf diese Sphären und bildeten sich darauf sogar noch etwas ein.“48 Schumpeter fand in Graz wohl noch am ehesten als Mitglied der „Soziologischen Gesellschaft“ Anschluß bei Geistesverwandten. In der von ihm als einem Exponenten dieser Gesellschaft mitherausgegebenen Reihe Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie publizierten nämlich unter anderem der bereits erwähnte ehemalige Dekan Layer, der namhafte deutsche Soziologe Ferdinand Tönnies, aber insbesondere auch Karl Přibram, der nach seiner Emigration in die USA, ähnlich wie Schumpeter, zu einem der weltweit namhaftesten Historiker der ökonomischen Analyse werden sollte.49 Selbst schrieb Schumpeter in dieser Reihe ein kleines Büchlein, das ein Klassiker der Finanzsoziologie wurde: Die Krise des Steuerstaates (1918). In seine Grazer Zeit fällt das Erscheinen einiger von Schumpeters Meisterwerken. Sein theoretisches Hauptwerk Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung nennt im Impressum 1912 als Erscheinungsjahr, und 1914 erscheinen – und zwar in Max Webers Reihe Grundriß der Sozialökonomik – die Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, ein Werk, das bereits den großen Dogmenhistoriker erahnen läßt, als welchen man ihn von seiner postum erschienenen Geschichte der ökonomischen Analyse (engl. 1954, dt. 1965) kennt; zusätzlich veröffentlicht Schumpeter 1916 bzw. 1919 die Aufsätze „Das Grundprinzip der Verteilungstheorie“ und „Zur Soziologie der Imperialismen“. Trotz aller Liebe zum Herkömmlichen hat sich der neue Geist dessen, was man heute Österreichische Schule der Nationalökonomie nennt, auch in Graz entwickelt, wenn auch erst spät wirklich durchgesetzt. Die Ansätze sind mit den Namen von Alfred Amonn (Abb. 21) und Hans Mayer verbunden. Amonn, dessen vielbeachtetes Buch Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie im Jahr 1911 erschienen war, supplierte in der bis zu Schumpeters Dienstantritt eingetretenen Vakanz Hildebrands Lehrveranstaltungen. Sein Buch war während seiner Tätigkeit als Assistent am Staatswissenschaftlichen Institut der Universität Wien entstanden, und mit ihm konnte 48 SCHUMPETER, S. 982. 49 Layer veröffentlichte in dieser Reihe, wie an früherer Stelle schon erwähnt, sein Buch Staatsformen unserer Zeit. Monarchien, Republiken, Bundesstaaten und Staatenbündnisse, Tönnies eines über Menschheit und Volk, und Přibram gleich zwei: Die Grundgedanken der Wirtschaftspolitik der Zukunft und Die Probleme der internationalen Sozialpolitik. – Siehe dazu auch den Beitrag des Herausgebers in Kapitel IV.
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sich Amonn an der Universität Freiburg i. Ue. (Fribourg) habilitieren. Von 1912 bis 1920 war er als außerordentlicher, danach als ordentlicher Professor in Czernowitz tätig, eine weitere Professur führte ihn nach Prag an die Deutsche Universität, bis er schließlich in Bern ein neu geschaffenes Ordinariat für Theoretische Nationalökonomie und Finanzwissenschaft erhielt, das er bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit im Jahre 1953 innehatte. Amonns umfangreiches Werk ist in theoretischer Hinsicht einerseits vor allem auf Ricardo, andererseits auf die österreichische Grenznutzenlehre hin orientiert und reich an methodologischen und dogmengeschichtlichen Erörterungen. Wie das Schrifttum von Schumpeter oder von Friedrich A. von Hayek, so beeindruckt auch das von Abb. 21: Alfred Amonn Amonn durch eine weitgefächerte und Quelle: Schweizerische Zeitschrift für zugleich profunde Gelehrsamkeit. Volkswirtschaft und Statistik 99 (1963) Hans Mayer (Abb. 22) wurde 1921 zum ordentlichen Professor der Rechts- und Staatswissenschaften ernannt. (Seit Juni 1919 erfolgte nicht mehr die Benennung einer Professur nach dem Fachgebiet, sondern nach der jeweiligen Fakultät.) Mayer war bereits als junger Student von den Auffassungen der österreichischen Grenznutzenschule fasziniert und habilitierte sich, in der Verwaltungspraxis des Finanzdienstes stehend, mit einer Schrift über die Wert- und Preisbildung der Produktionsmittel. Noch vor Abschluß des Habilitationsverfahrens erhielt er einen Ruf als außerordentlicher Professor an die Universität Freiburg i. Ue. (Fribourg), wo er von 1912 bis 1914 blieb. Nach mehreren Frontdienstjahren war Mayer ab 1917 bis Kriegsende im Wissenschaftlichen Komitee für Kriegswirtschaft des Kriegsministeriums tätig, nach Kriegsende im Staatsamt für Heerwesen der Ersten Republik. 1919 folgte er einem Ruf an die Deutsche Technische Hochschule in Prag, von wo er dann als Nachfolger Schumpeters nach Graz berufen wurde. Von hier kehrte er bereits 1922 wieder nach Wien zurück, wo er nach der Emeritierung seines Lehrers Friedrich (von) Wieser dessen Lehrstuhl übernahm. Er hielt aber noch bis zum Ende des Sommersemesters 1923 Vorlesungen an der Grazer Universität. Obwohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Bedeutsamkeit nicht vom Range eines Schumpeter oder
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Hayek, ist es ihm zuzuschreiben, daß sich die Österreichische Schule der Nationalökonomie an der Wiener Universität zu einer schulbildenden Kraft entwickelte – heftig angefochten von Othmar Spann, dessen Universalismus auch in Graz eine nicht unbedeutende Anhängerschaft hatte. – Wie sich am Beispiel Schumpeters und Mayers exemplarisch zeigt, war die Universität Graz, ähnlich wie die Grazer Bühnen, oft bloß eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer anderswo besonders erfolgreichen Karriere unter besseren Bedingungen; und dies sowohl in ökonomischer Hinsicht, als auch in Bezug auf Forschungsmöglichkeiten und wissenschaftliche Resonanz. Nach einem Intermezzo des der neoklassischen Schule nahestehenden Eduard Lukas verbrachte mit Wilhelm Röpke ein weiterer namhafter Ökonom einen Kurzaufenthalt Abb. 22: Hans Mayer an der Universität Graz. Röpke, der im Alter Quelle: Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek von 24 Jahren als jüngster deutscher Professor an die Universität Jena berufen worden war, wirkte gerade als Gastprofessor der Rockefeller-Stiftung in den USA, als ihn im Jahre 1928 der Grazer Ruf erreichte. Doch schon im Jahr darauf ersuchte er um Enthebung von seinem Lehramt und seinen Lehrverpflichtungen in Österreich, da er einen Ruf an die Universität Marburg anzunehmen die Absicht hatte, dem er dann auch gefolgt ist. Röpke, der 1933 aus politischen Gründen zunächst in die Türkei, dann in die Schweiz emigrierte, entfaltete vor allem in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von Genf aus eine europaweit stark beachtete Wirkung als einer der geistigen Väter des ordoliberalen Denkens.50 Von seinem ungemein umfangreichen Œuvre, dessen Bedeutung – bedingt durch die wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre – in gewisser Hinsicht wieder erkannt und anerkannt wird, fällt das Buch Finanzwissenschaft (1929) in seine Grazer Zeit. – Richard Sturns Beitrag zu dem vorliegenden Sammelband ist auf das Werk Wilhelm Röpkes bezogen.
50 Siehe dazu PEUKERT 1992.
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Als Supplenten in der Zeit der Unterbesetzung, die nach der im Jahr 1926 erfolgten Ernennung Wilhelm Andreaes zum außerordentlichen Professor für Politische Ökonomie schon deshalb anhielt, da auch Röpkes Nachfolger Paul Haensel Graz bald wieder verließ, standen zwei auch politisch Aktive als Lehrkräfte zur Verfügung: Josef Dobretsberger und Wilhelm Taucher, der sich im Jahr 1923 für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftspolitik habilitierte.51 Dobretsberger und Taucher – auf Taucher wurde bereits in der Einleitung zu diesem Band ausführlicher Bezug genommen – sollten beide in den 1930er Jahren Professoren an der juridischen Fakultät werden. Tauchers politische Tätigkeit war sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Republik ungemein fruchtbar; in geringerem Maße gilt dies für Dobretsberger, von dessen politischem Wirken man sagt, es sei nach 1945 vor allem als Reaktion einer beleidigten Person zu deuten, die vergeblich darauf hoffte, von ihren christlich-sozialen Freunden zum Bundeskanzler gekürt zu werden. Vor allem für Dobretsberger gilt, daß sein wissenschaftliches Werk von politischen Aktivitäten vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde, da ihm kaum Zeit für gründliche Arbeit blieb. Vor allem hat er sich aber – auch noch nach der Hochblüte seiner politischen Aktivitäten – oft nur wenig Zeit für seine Pflichten als Universitätslehrer genommen. Gemeinsam mit Anton Tautscher, einem dem Universalismus Spanns nahestehenden (und auch den angeblich allzu liberalen Auffassungen Röpkes gegenüber feindlich gesonnenen) konservativen Spätkameralisten, ist er hauptverantwortlich für die Approbation von qualitativ oftmals verheerenden staatswissenschaftlichen Dissertationen. Diese doppelt praktizierte Nachlässigkeit, aber auch die mangelnde Kontrolle durch übergeordnete Instanzen führten zum geradezu seriell erwerbbaren Doktordiplom in den Staatswissenschaften, einem als „Dr. graz“ verulkten akademischen Titel, welcher der Reputation der Universität sehr zum Schaden gereichte und ihr dazu noch Spott eintrug. Eine Einstellung gegen das analytische Denken und gegen die auf mathematischen Grundlagen basierende Volkswirtschaftstheorie läßt sich, wie bei Tautscher, so schon bei den während des Zweiten Weltkriegs in Graz lehrenden Ökonomen Paul Friedrich Schröder und Hellmut Wollenweber feststellen. Der nach dem Kriege in der BRD wieder als Agrarsoziologe tätig gewordene Wollenweber stand in Graz in enger Fühlung mit dem von Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld (Abb. 23) – nach dessen Tätigkeit als Professor an den Universitäten Kiel und Berlin – im Jahr 1940 in Mariatrost-Fölling bei Graz gegründeten universitätsexternen „Forschungsinstitut für Deutsche Volkswirtschaftslehre“. Bereits im Jahr 1914 war von Gottl-Ottlilienfeld in dem von Max Weber besorgten Grundriß der Sozialökonomik eine umfangreiche Abhandlung über „Wirtschaft und Technik“ erschienen, die für Weber einen Anlaß zu gegenwartsdiagnostischen Überlegungen 51 Zu Taucher siehe IBLER 1985, vor allem S. 63f. und S. 78–80.
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bildete. Auch Werner Sombart schätzte ihn, und noch in der Zwischenkriegszeit galt Gottl-Ottlilienfeld als namhafter Theoretiker der Rationalisierungsbewegung und der technischen Sozialökonomie.52 Als glühender Verehrer Henry Fords sah er es als dessen Verdienst an, durch regelmäßige Investition eines großen Teils seines Profits die Produktion und damit den Volkswohlstand zu fördern und auszuweiten. Dadurch sei es möglich, die freiheitshemmende Zentralverwaltungswirtschaft des Bolschewismus gleichermaßen zu überwinden wie den entfesselten Kapitalismus, der im Namen eines ideologisierten Begriffs von Freiheit Reichtum für einige und Armut für viele produziere. Gottl-Ottlilienfelds technische Sozialökonomie fand verschiedentlich hohe internationale Anerkennung, insbesondere in Japan.
Abb. 23: Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld Quelle: Universtitätsbibliothek der HU Berlin, Porträtsammlung
* Eine ernsthafte Forschung und Ausbildung im Bereich der Wirtschaftswissenschaften begann nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Graz erst mit dem Wirksamwerden des Einflusses von Karl Lechner (Abb. 24) an der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät. Lechner war als Vertreter der Betriebswirtschaftslehre (BWL) bestrebt, zunächst an jenen von Erich Gutenberg in Deutschland initiierten Neuentwurf des gesamten Bereichs der BWL und der Funktionsbestimmung ihrer einzelnen Disziplinen anzuschließen. Obwohl selbst ein Vertreter des genuin österreichischen Revisions-, Treuhand- und Rechnungswesens,53 stand er Weiterentwicklungen sowohl im Sinne der System- als auch der Entscheidungstheorie (mit allen Erfordernissen ihrer mathemati52 Darüber hinaus hat beispielsweise Martin Heidegger in Sein und Zeit (erstmals 1927 erschienen) voll Anerkennung auf Gottl-Ottlilienfelds Grenzen der Geschichte aus dem Jahr 1904 hingewiesen. 53 Das von Lechner im Jahr 1964 gegründete Institut für Betriebswirtschaftslehre wurde 1976 in „Institut für Revisions-, Treuhand- und Rechnungswesen“ umbenannt; seit 2007 heißt es „Institut für Unternehmensrechnung und Wirtschaftsprüfung“.
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schen Fundierung) von Beginn an mit Sympathie gegenüber. Bereits 1966 und 1967 wurden unter seiner Anleitung an der noch ungeteilt bestehenden Rechts- und staatswissenschaftlichen (für kurze Zeit auch: Rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen) Fakultät die Studiengänge Betriebswirtschaft bzw. Volkswirtschaft eingerichtet, und ab 1968 konnte neben dem „Dr. iur.“ auch das Doktorat der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften („Dr. rer. soc. oec.“)54 erworben werden. Als eine Folge dieser Entwicklungen lief das Studium der Staatswissenschaften – mit dem Abschluß des als „Dr. graz“ ironisierten „Dr. rer. pol.“ – im Jahr 1972 aus. Lechner formte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit dem Verwaltungswirtschaftler Herbert Kraus, dem Soziologen Kurt Freisitzer und dem bereits früh international bekannten Peter Swoboda, dem späteren Vorstand des Instituts für Industrie und Fertigungswirtschaft, die Kerngruppe der wenige Jahre danach durch das UOG 1975 aus der juridischen Fakultät herausgelösten Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.55 Bis Ende 1974 wurde dieser Kreis um den bei einem Verkehrsunfall in jungen Jahren ums Leben gekommenen MarketingExperten Johannes Bidlingmaier, den Mathematiker und Statistiker Otwin Becker, die späteren Vorstände der Abb. 24: Karl Lechner, Gem. in der Aula der Universität Graz Institute für Wirtschaftspolitik bzw. Quelle: Archiv Karl Acham Wirtschaftstheorie Dieter Bös und Helmut Kuhn, sowie den neben Freisitzer zweiten Soziologen, den Ideenhistoriker und Wissenschaftstheoretiker Karl Acham, erweitert. Im Jahr 1975, noch vor Inkrafttreten des UOG, kamen als Nachfolger Bidlingmaiers und des an die Universität Heidelberg berufenen Otwin Becker Hans-Peter Liebmann bzw. Jochen Hülsmann hinzu, als Nachfolger von Dieter Bös wurde Lutz Beinsen berufen, und auf Helmut Kuhn folgte Christian Seidl für Volkswirtschaftslehre. Lechner war ein begnadeter Lehrer und trotz seiner anwendungsorientierten Einstellung stets offen für die Erörterung von Grundlagenfragen der Wirtschaftswissen54 Doctor rerum socialium oeconomicarumque. 55 Dazu, wenn auch nur kurz, die Darstellung in HÖFLECHNER 2006, S. 354–356.
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schaften sowie für Anregungen aus den Nachbardisziplinen. Die von ihm gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Anton Egger sowie seinem ehemaligen Mitarbeiter Reinbert Schauer verfaßte Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre ist im Jahr 2008 in 24. Auflage erschienen. Neben Anton Egger kam unter den später in Graz tätigen Professoren der Betriebswirtschaftslehre am ehesten Gerwald Mandl Lechners Fachorientierung nahe, der sich aber naturgemäß auf zwischenzeitig weiterentwickelte Formen der Konzernrechnungslegung, der Unternehmensbewertung und der Betriebswirtschaftlichen Prüfung verlegte. Auf diesen Gebieten hat Mandl vor allem auch in Deutschland Anerkennung erfahren. – Für den viel zu früh im 55. Lebensjahr verstorbenen Karl Lechner hatte der inzwischen ebenfalls bereits verstorbene Peter Swoboda den im vorliegenden Sammelband abgedruckten Nachruf verfaßt.56 Peter Swoboda war ab 1970 für fast drei Jahrzehnte – er schied im Jahre 1997 vorzeitig aus dem Dienst – der international respektierteste Vertreter der an der Karl-FranzensUniversität tätigen Vertreter der Betriebswirtschaftslehre. 1964 an der Wiener Hochschule für Welthandel (der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien) habilitiert, wurde er im Jahr darauf Visiting Associate Professor an der University of Illinois, Urbana. Damals wurde Swoboda mit dem Denkstil und der Methodik einer stark kapitalmarktorientierten Finanzierungstheorie anglo-amerikanischer Prägung vertraut, wodurch seine weitere wissenschaftliche Entwicklung eine neue Ausrichtung erfuhr. 1966 wurde er ordentlicher Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere betriebswirtschaftliche Steuerlehre, an der Universität Frankfurt, 1970 folgte er einem Ruf an die Universität Graz. Hier übernahm er den neugeschaffenen Lehrstuhl für Industriebetriebslehre und wurde Gründungsdekan der gemäß UOG 1975 eigenständig gewordenen Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Von 1980 bis 1981 war er erster Präsident der 1974 gegründeten European Finance Association. – Auf Peter Swobodas Werk, sein profundes Wissen, aber auch seine tatkräftige Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses57 nimmt im vorliegenden Band der Beitrag von Adolf Stepan Bezug. Seit Ende der 1980er Jahre kam es unter den Grazer Betriebswirten – vor allem als eine Folge des Einflusses US-amerikanischer Methoden und Lehrinhalte – zu einer starken, auch branchenbezogenen Differenzierung und zur Schaffung einer ganzen Reihe neuer Institute: so beispielsweise des Institutes für Informationswissenschaft (Wolf Rauch), des Institutes für Banken und Finanzierung (Peter Steiner), des Institutes für Innovationsmanagement (Heinz Strebel) und des Institutes für Internationales Manage56 Siehe auch die beiden Nachrufe LOITLSBERGER 1982 und 1983. 57 Mehrere seiner ehemaligen Schüler wurden – meist nach einer akademischen Tätigkeit im Ausland – Professoren an österreichischen Universitäten: Josef Zechner an der Wirtschaftsuniversität Wien, Adolf Stepan und Helmut Uhlir an der Technischen Universität Wien, und Peter Steiner sowie Edwin O. Fischer an der KarlFranzens-Universität Graz.
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ment (Ursula Schneider).58 Alfred Wagenhofer (Abb. 25), der Vorstand des Instituts für Unternehmensführung – heute heißt es Institut für Unternehmensrechnung und Controlling –, der sich 1990 an der Technischen Universität Wien für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre habilitierte, repräsentierte in dieser Phase des Aus- und Umbaus der Fakultät – eine zweite, noch umfassendere sollte in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts folgen – am markantesten die neue Ausrichtung der BWL. Er beschäftigte sich insbesondere mit der internationalen Entwicklung des Rechnungswesens, und dies vor allem unter Einbeziehung informationspolitischer Ziele. Die Schwerpunkte der Forschungen Wagenhofers, zu dessen Schülern auch der langjährige Rektor der Universität Graz Alfred Gutschelhofer zählt, lieAbb. 25: Alfred Wagenhofer gen auf Interner und Externer UnternehmensQuelle: Archiv Karl Acham rechnung,59 Controlling sowie Agency Theory. Er lehrte als Gastprofessor unter anderem in Kanada, Großbritannien und Australien und übernahm leitende Funktionen internationaler fachspezifischer Wissenschaftsorganisationen; so war er 1997/98 Präsident der European Accounting Association, 2005–2007 Vizepräsident der American Accounting Association, und 2007/08 Vorstandsmitglied und designierter Vorsitzender des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft. So besitzt Wagenhofer auch über den deutschen Sprachraum hinaus hohes Ansehen. * 58 Zu Ende des Jahrhunderts, im Sommersemester 1999, gab es außer den soeben genannten noch folgende betriebswirtschaftliche Institute, denen auch das Institut für Wirtschaftspädagogik zugezählt werden kann: Institut für Revisions-, Treuhand- und Rechnungswesen; Institut für Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Verwaltung und Verwaltungswirtschaft; Institut für Handel, Absatz und Marketing; Institut für Industrie und Fertigungswirtschaft; Institut für Statistik, Ökonometrie und Operations Research; Institut für Unternehmensführung. – Die Namengebung hat sich mittlerweile entscheidend gewandelt – in den Wirtschaftswissenschaften selbst ist offensichtlich ähnlich viel im Fluß wie im Fall der Geld- und Warenströme. Und so sind mittlerweile auch einige der soeben erwähnten Institute nicht mehr unter dem herkömmlichen Namen oder aber überhaupt nicht mehr existent. Als bedenklich nimmt sich dabei die in Graz in jüngster Zeit nachweisbare Tendenz einer Eliminierung (Substitution) sogenannter „weicher“ Fächer, wie etwa des Innovationsmanagements, aus. Auch ist es nicht Ausdruck einer weitsichtigen Planung, die zukunftsträchtigen Bereiche der Energie-, Wasser- und Ressourcenwirtschaft einer anderen Fakultät zu überlassen, es jedoch beim Fehlen einer soliden Ausbildung in Ökonometrie und Wirtschaftsinformatik zu belassen. 59 Siehe dazu exemplarisch WAGENHOFER, EWERT 2003.
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Parallel zu den Entwicklungen im Bereich der Soziologie und Betriebswirtschaftslehre verliefen jene in der Volkswirtschaftslehre. Noch 1975 gab es das von Helmut Kuhn geleitete Institut für Wirtschaftstheorie sowie das Institut für Wirtschaftspolitik, dem Dieter Bös vorstand. Im Jahre 1977 wurden beide zum Institut für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik vereinigt, 1999 wurde dieses abermals umbenannt in „Institut für Volkswirtschaftslehre“. Dieter Bös, der nach seiner Tätigkeit in Graz zunächst in Wien und dann an der Universität Bonn lehrte, wo er bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Finanzwissenschaften innehatte, erlangte während seiner Tätigkeit in Bonn insbesondere durch seine Beiträge zur Theorie der öffentlichen Wirtschaft, zur PriAbb. 26: Christian Seidl vatisierung und Deregulierung, sowie zur Quelle: Institut für Finanzwissenschaft und Theorie der Preisbildung hohe internatioÖffentliche Wirtschaft der Universität Graz nale Anerkennung. Zu diesen Themen verfaßte er neben zahlreichen Aufsätzen auch einige vielbeachtete Monographien.60 Christian Seidl (Abb. 26), der sich 1973 an der Universität Wien habilitiert hatte und 1975 nach Graz berufen wurde, leitete hier seit 1976 das Institut für Finanzwissenschaft und öffentliche Wirtschaft.61 Nach der vorher erfolgten Ablehnung eines Rufes an die Universität München verließ er 1986 Graz und nahm eine Professur an der Universität Kiel an, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 als Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft, Sozialpolitik und Gesundheitsökonomik wirkte; zusätzlich war er bereits im Jahr 1998 zum Leiter des Lorenz-von-Stein Instituts für Verwaltungswissenschaften an der Universität Kiel bestellt worden. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren führten ihn nach Großbritannien, in die USA, nach Kanada und Israel, zudem war er zwischen 1979 und 1985 Mitglied der österreichischen Steuerreformkommission. Seidl hat zahlreiche Artikel und Aufsätze sowie drei Bücher zu verschiedenen Sachgebieten 60 Siehe v. a. BÖS 1989, 1991 und 1994. 61 Der bei Seidl in Graz als Assistent tätig gewesene Richard STURN ist seit 1997 außerordentlicher Professor am Institut für Finanzwissenschaft. Neben zahlreichen Artikeln und Aufsätzen erschien von ihm auch die Monographie Individualismus und Ökonomik. Modelle, Grenzen, ideengeschichtliche Rückblenden (1997), zudem ist er Mitherausgeber des Jahrbuchs für normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik.
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der Ökonomik verfaßt und ein knappes Dutzend herausgegeben oder mitherausgegeben, unter anderem mit Dieter Bös und Peter J. Hammond. Unter den von ihm besorgten Editionen befinden sich auch solche mit bislang weitgehend unbekannt gebliebenen Aufsätzen von Joseph Schumpeter, aber auch der englischsprachige Band einer von ihm im Jahr 1983 organisierten Schumpeter-Konferenz in Graz. Im Jahr 1978 erfolgten die Berufungen des Ökonometrikers Stefan Schleicher und des bis dahin als Referent für Konjunkturanalyse und -prognose am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung tätig gewesenen Gunther Tichy. Schleicher verlegte das Hauptaugenmerk seiner Forschungen im Laufe der Jahre auf die ökonomische ModelAbb. 27: Gunther Tichy lierung nachhaltig wirksamer ökologischQuelle: Archiv Karl Acham politischer Strukturen im Hinblick auf Energie- und Klima-Probleme sowie auf damit zusammenhängende Sicherheitsfragen. In diesem Bereich ist er auch als Politikberater und Regierungsbeauftragter wiederholt tätig geworden. – Gunther Tichy (Abb. 27) habilitierte sich 1976 aus Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik und erhielt in Graz eine gleichnamige ordentliche Professur. Davor war er in Wien als für Volkswirtschaft, Marketing und Werbung zuständiger Stabsdirektor der Girozentrale und Bank der Österreichischen Sparkassen sowie als Referent für Konjunkturanalyse und -prognose am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung tätig. Später, von 1992 bis 2005, leitete er auch das Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Tichy ist ein ungemein fruchtbarer Wissenschaftler und als solcher Autor von unzähligen Abhandlungen, aber auch von mehreren Büchern zu Fragen der Konjunkturtheorie, Konjunkturpolitik, Arbeitslosigkeit und Industrieökonomik. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben den soeben erwähnten Themenbereichen vor allem noch Geld- und Währungspolitik, Bankwesen, Wechselkurstheorie und -politik, Forschungsund Technologiepolitik sowie Regionalpolitik. Tichys gesamtes wissenschaftliches Schrifttum ist anwendungsbezogen, weist aber zugleich nahezu durchgehend eine theoretische Fundierung auf. Er gilt als der bedeutendste Vertreter der Speziellen Volkswirt-
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schaftspolitik Österreichs und als einer der namhaftesten Forscher zu Fragen der Konjunkturpolitik im deutschen Sprachraum. Zu den profiliertesten Forschern nicht nur im deutschen Sprachraum, allerdings auf anderem Gebiet: dem der Produktionstheorie sowie der Theoriegeschichte der Ökonomik, zählt Heinz Dieter Kurz (Abb. 28), der seit 1979 an der Universität Bremen tätig war, ehe er im Jahre 1988 dem Ruf auf eine ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz folgte. Als Wirtschaftstheoretiker beschäftigt er sich außer mit Produktion noch mit Wachstum, technischem Wandel und Einkommensverteilung, als Theoriehistoriker wiederum deckt er die ganze Bandbreite der ökonomischen Dogmengeschichte ab. Dies wird durch eine Reihe von Büchern und Abhandlungen belegt, erst jüngst wieder durch die Edition von zwei Bänden über Klassiker des ökonomischen Denkens (2008–09). Darüber hinaus ist Kurz, der in namhaften britischen und USamerikanischen Zeitschriften publiziert, General Editor der unveröffentlichen Werke von Piero Sraffa. Mehrere Bücher von ihm erschienen in englischen Verlagen und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt, so etwa die ursprünglich 1995 bei Cambridge University Press publizierte und gemeinsam mit Neri Salvadori verfaßte Theory of Production, die 2002 auf Russisch und 2008 auch auf Chinesisch erschienen ist. * Spieltheorie und experimentelle Wirtschaftsforschung haben das Bild der Wirtschaftswissenschaften maßgeblich verändert. Solange das Interesse der Spieltheoretiker kooperativen Spielen zugewandt war, hat die Spieltheorie nur wenig Anwendung auf die Wirtschaftstheorie gefunden; erst als klar wurde, welche vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten die nicht-kooperative Spieltheorie besitzt, richtete sich das Interesse der Wirtschaftswissenschaftler auf diese. Was wiederum die experimentelle Wirtschaftsforschung anlangt, so hat diese die neoklassische Theorie mit deren übertriebenen Rationalitätsannahmen mehr und mehr in die Defensive gedrängt, weil man im Sinne der Anregungen von Herbert Simon und seinen Nachfolgern damit begann, sich von der vollständigen Rationalität als leitender Grundannahme für alle Erklärungen menschlichen Verhaltens abzuwenden und statt dessen nach empirischen Regelmäßigkeiten zu suchen, die als Aus-
62 Forschungen auf diesem Gebiet, wie sie heute in verschiedenen Bereichen der Betriebswirtschaftslehre üblich sind, blieben in Graz für einige Zeit auf das von Peter Swoboda geleitete Institut für Industrie und Fertigungswirtschaft sowie auf das Institut für Statistik, Ökonometrie und Operations Research beschränkt, wo sich neben Ulrike Leopold-Wildburger vor allem die dort habilitierten Mitarbeiter Hans Kellerer und Ulrich Pferschy mit einschlägigen Themen befaßten. – Auf Betreiben von Ulrike Leopold-Wildburger und Peter Swoboda wurde im Jahr 1996 Reinhard Selten das Ehrendoktorat der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Graz verliehen, der im Jahre 1994 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet worden war.
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gangspunkt neuartiger verhaltenstheoretischer Modellierungen dienlich sein können.62 Die experimentelle Wirtschaftsforschung, zu welcher unter anderem der an der Universität Zürich lehrende österreichische Ökonom Ernst Fehr hervorragende Beiträge lieferte, hat auch unser Bild von der wirtschaftlichen Motivation verändert, da sie uns zeigt, daß und warum Verhalten keineswegs ausschließlich selbstbezogen ist. Zudem zeigen uns einschlägige verhaltenstheoretische Modellierungen, daß Lernen nicht immer nur eine mechanische Reaktion auf Lust und Leid, Belohnung und Bestrafung, Gewinn und Verlust darstellt, sondern oft das Resultat der Abb. 22: Heinz D. Kurz verstandesmäßigen Verarbeitung von ErQuelle: Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz fahrungen ist. Naturgemäß sind diese wiederum durch den Handlungskontext, also eine Situation bestimmt, die mehr ist als eine faktographisch darstellbare Lage; sie ist ein Amalgam von Fakten, Annahmen und Deutungsweisen. Deshalb bedarf es in den Wirtschaftswissenschaften aber auch, um zu angemessenen Situationsanalysen in der Gegenwart zu gelangen, zweierlei: einerseits der Kenntnis der Situationsdeutungen von Menschen, welche sich in der Vergangenheit in einer Lage befanden, die der unseren ähnlich war, andererseits der Kenntnis jener allgemeinen Theorien, welche sich auf deren wirtschaftliches Handeln bezogen, das sich unter spezifischen historischen Bedingungen ereignete. Und so ist in der Ausbildung von Wirtschaftswissenschaftlern (neben der Soziologie) der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ein entsprechender Stellenwert als jener Disziplin im Curriculum der Volks- und Betriebswirte zuzuweisen, der es um die Darstellung der Struktur und Genese typischer (und atypischer) Institutionen und Situationen zu tun ist, unter denen sich wirtschaftliches Handeln ereignet. Aber für die Komplettierung der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis ist vor allem auch die Kenntnis der Geschichte wirtschaftswissenschaftlicher Theorien unverzichtbar. Joseph A. Schumpeter hat in diesem Zusammenhang die Überzeugung vertreten, nur ein Studium der Wirtschafts- und Theoriegeschichte böte eine gewisse Gewähr dafür, daß man Ideologien nicht blind zum Opfer fällt. Er vertrat sogar die ketzerische Auffassung, daß eine Ausbildung in Wirtschaftstheorie, die nicht von einer solchen in
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Wirtschafts- und Theoriegeschichte begleitet wird, schlechter sei als überhaupt keine Theorie. Wer den Fortschritt einer Wissenschaft befördern wolle, sei zudem gut beraten, ihre bisherigen Leistungen zu kennen.63 Wer möchte dem heute widersprechen?
63 Siehe dazu auch KURZ 2010.
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Der im Jahr 1909 in Berlin gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ gingen im deutschen Sprachraum mehrere sozialwissenschaftliche Vereinigungen voraus. Genannt werden zumeist der 1858 gegründete „Volkswirtschaftliche Kongreß“ sowie der ungleich bedeutsamere „Verein für Socialpolitik“,1 dessen Gründung in das Jahr 1873 fällt und der seit 1894 auch eine österreichische Landesgruppe unterhielt. Obwohl demselben Sprachkulturraum zugehörig, werden die im Bereich der deutschen Länder der Donaumonarchie schon vor dem Jahr 1909 bestehenden sozialwissenschaftlichen Vereinigungen im Regelfall nicht erwähnt – von ihren ungarischen und slawischen Entsprechungen erst gar nicht zu reden.2 Dies mutet nicht zuletzt deshalb eigentümlich an, da sich unter den 39 Personen, welche die Einladung zu der am 3. Januar 1909 erfolgten Gründung der DGS unterzeichneten, mit Rudolf Goldscheid, Ludo Moritz Hartmann und Max Adler immerhin drei Mitglieder des seit 1907 bestehenden ersten soziologischen Vereins im deutschen Sprachraum, der „Soziologischen Gesellschaft“ in Wien, befanden. Dieser kam für die im Jahr 1908, also ebenfalls noch vor dem Gründungsjahr der DGS, gegründete „Soziologische Gesellschaft“ in Graz eine Vorbildfunktion zu, ihren Ursprung hatte sie allerdings in dem unter Soziologiehistorikern weitgehend ignorierten, 1895 gegründeten „Socialwissenschaftlichen Bildungsverein“. Über die drei zuletzt genannten Vereinigungen handelt der folgende Beitrag.
I Die österreichisch-ungarische Monarchie erschien bereits den Angehörigen der Zeit um 1900 durch zwei Tendenzen in besonderem Maße gefährdet: einerseits durch die nationalistischen Bestrebungen in den sogenannten Kronländern, andererseits durch die sozialen Verwerfungen einer verspätet, aber mit umso größerer Heftigkeit erfolgten Industrialisierung und ökonomischen Liberalisierung seit den Fünfzigerjahren des
1 Vgl. beispielsweise Wolfgang GLATZER: Die akademische soziologische Vereinigung seit 1909, im Internet unter www.soziologie.de/index.php?id=14. 2 Zu nennen ist hier insbesondere die bereits im Jahr 1901 in Budapest gegründete Soziologische Gesellschaft (Társadalomtudományi Társaság).
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19. Jahrhunderts. Dazu kam verschiedentlich als eine Folge der Beschleunigung des Vertrautheitsschwundes ein Gefühl des allgemeinen Wandels und des Verlustes von Orientierung sowie Verhaltenssicherheit. Was hier aufbrach, war die antagonistische Struktur eines monarchisch verfaßten Vielvölkerstaates: Auf der einen Seite trug der alte Kaiser Franz Joseph noch das Prädikat „Von Gottes Gnaden“, auf der anderen Seite forderten die bereits seit Jahrzehnten erwachten Nationalitäten – wenn auch vielfach noch im Rahmen des Gesamtstaates – Autonomie, die Wissenschaften emanzipierten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von staatlicher und kirchlicher Bevormundung, und die Arbeiterbewegung meldete sich immer unüberhörbarer zu Wort. Die zentrifugalen Kräfte im Inneren des Reiches wurden oft auch von außen unterstützt. Um 1900 umfaßte das habsburgische Reich Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Slowaken, Ruthenen, Serben, Kroaten, Slowenen, Italiener und andere mehr, und jeder Abgeordnete im Reichsrat hatte das Recht, sich in seiner Muttersprache an das Parlament zu wenden, wobei nicht weniger als 10 Sprachen zugelassen waren: Deutsch, Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch, Serbisch, Kroatisch, Slowenisch, Italienisch, Rumänisch und Russisch. Will man die Hauptprobleme der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse der Habsburger Monarchie um 1900 benennen, so sind diese nationalpolitischer, mentaler (sozialpsychologischer) und sozialökonomischer Art. Sie betreffen (1) die sogenannte Nationalitätenfrage, welche in dem sprachlich und ethnisch-kulturell vergleichsweise homogenen Deutschen Reich keine Rolle spielte; (2) das sich vornehmlich unter den Angehörigen der adeligen und bürgerlichen Gesellschaftsschichten einstellende Gefühl einer alle Lebensbeziehungen erfassenden Relativierung und Historisierung, das sowohl durch die Migrationsprozesse in der in ethnisch-religiöser Hinsicht vielgestaltigen Habsburger Monarchie als auch durch die neuen sozialen Bewegungen ausgelöst wurde; (3) die sogenannte „Soziale Frage“, die sich vor allem als Folge der Abwanderung der ländlichen Bevölkerung aus den verschiedenen Teilen des Reiches in die städtischen Ballungszentren und der nur unzureichend erfolgten institutionellen Anpassung an die Bedingungen der fortschreitenden Industrialisierung ergab. Die oftmals kulturell entwurzelten Arbeiter konnten so etwa auf keinerlei Besitztümer und Ersparnisse zurückgreifen, sobald sie ihren Arbeitsplatz wegen Krankheit, Unfällen oder aus Altersgründen verloren. Hier lag gewiß der wichtigste Ansatzpunkt für die staatlich organisierte Sozialpolitik, die von so gut wie allen politischen Lagern Zuspruch erfahren hat. 1. Die Nationalitätenfrage. Die Nationalitätenfrage fand in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen Ausdruck. Hier mag es genügen, nur auf vier Autoren hinzuweisen: auf Ludwig (Ludwik) Gumplowicz und seine Bücher Raçe und Staat (1875), Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn (1879) und Sociologie
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und Politik (1892); auf Gustav Ratzenhofer, einen – trotz seines Ausgangs von einer individualistischen Sozialphilosophie – von Gumplowicz inspirierten und ihm freundschaftlich verbundenen sozialwissenschaftlichen Autodidakten und dessen dreibändiges Werk Wesen und Zweck der Politik (1893); auf Karl Renner, den späteren Staatskanzler der Ersten und Bundespräsidenten der Zweiten Republik, und seine (unter dem Pseudonym „Synopticus“) erschienene Monographie Staat und Nation (1899); schließlich auf Otto Bauer, den geistigen und politischen Führer der österreichischen Sozialdemokratie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, und dessen bereits früh erschienenes Buch Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907).3 In allen genannten Werken kommt dem Zusammenhang von kultureller Eigenart, sozialökonomischen Gegebenheiten und den Möglichkeiten der politisch-rechtlichen Durchsetzungsfähigkeit nationaler Interessen in einer dem Anspruch nach übernationalen Rechtsordnung eine herausragende Rolle zu. 2. Das Problem des historischen Relativismus. Eine besondere Gestalt nahmen der Historismus und Kulturrelativismus in der Donaumonarchie an. Was in anderen europäischen Ländern bestenfalls Folge ethnologischer Erkenntnis war, war auf dem Boden der ethnisch heterogenen Donaumonarchie ein gewissermaßen endogen erworbenes Lebensgefühl: Man machte die Erfahrung, daß alles relativ ist, daß dem einen die Dinge so, dem anderen anders erscheinen. Zwei klassische Vertreter eines auf der Einsicht in die historische Wandelbarkeit philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse beruhenden epistemologischen Relativismus waren im Österreich um 1900 die Philosophen Richard Wahle und Fritz Mauthner. Wahle und Mauthner standen in ihrer frühen intellektuellen Entwicklung in enger Beziehung zu Ernst Mach, sie radikalisierten jedoch dessen Ansichten dramatisch. Mach konzipierte die Wissenschaftsgeschichte als ein kritisches Unternehmen: sie solle die Wissenschaft durch deren historisierende Rekonstruktion von Metaphysik reinigen, die nichts anderes sei als Vorstellungen, deren Ursprünge vergessen worden sind. Machs Forschungen haben dazu geführt, einerseits von den Aussagen und Aussagensystemen, welche Bilder der Wirklichkeit darstellen, vorzudringen zu den für sie konstitutiven Methoden und Forschungstechniken, andererseits aber auch – darüber hinausgehend – zu jenen psychischen und sozialen Gegebenheiten, welche als außerwissenschaftliche Voraussetzungen die Entstehung von Hypo3 Hier entwirft dieser spätere Führer der österreichischen Sozialdemokratie ein vom sozialistischen Internationalismus doch ziemlich abweichendes Bild vom „Nationalitätsprinzip des Sozialismus“: „Alle Nationen“, so führt er aus, sind „in gemeinsamer Beherrschung der Natur vereinigt, die Gesamtheit aber in nationale Gemeinwesen gegliedert, die zu selbständiger Entwicklung und freiem Genuß ihrer nationalen Kultur berufen sind […].“ – Otto BAUER: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (= Marx-Studien, Bd. 2; 2. Aufl. 1924); in: Otto Bauer Werkausgabe, Band 1, Wien 1975, S. 47–662, hier S. 570.
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thesen und Theorien in den Einzelwissenschaften mitbedingen. Ihm, dem es um den Nachweis relationaler Gegebenheiten, nicht aber um einen alles Kognitive verflüssigenden Relativismus ging, folgte in diesem Bestreben der mit ihm befreundete und von ihm geförderte Philosoph und Psychologe Wilhelm Jerusalem, der mit der im Jahre 1909 in der Zeitschrift Zukunft erschienenen Abhandlung „Soziologie des Erkennens“ zu einem der Begründer der modernen Wissens- und Wissenschaftssoziologie wurde. Just gegen eine derartige Soziologisierung und Psychologisierung unseres Erkennens und seiner Resultate hatte sich kurze Zeit zuvor Edmund Husserl, ein ehemaliger Student Franz Brentanos in Wien, mit seinem zweibändigen Werk Logische Untersuchungen (1901/1902) gewandt. 3. Die Soziale Frage. Von besonderer Bedeutung war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Soziale Frage geworden. Politik und Sozialwissenschaft in der Donaumonarchie waren, wie in anderen europäischen Ländern auch, parteiübergreifend durch sie bestimmt. Bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer weltanschaulichen Orientierung waren so beispielsweise die Christlich-Sozialen Carl von Vogelsang und der langjährige Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der Führer der österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler und der Sozialliberale Eugen von Philippovich, ein namhafter Volkswirtschaftstheoretiker und Begründer der „Sozialpolitischen Partei“, in ihrem Wirken durch den Einsatz für die sozial Schwachen bestimmt. Kennzeichnend war für sie die Haltung einer gleichsam patriarchalischen Fürsorge, wie sie in der Habsburger Monarchie durch Joseph II. in einer gegenüber den verschiedenen Völkern und Religionsangehörigen vergleichsweise offenen Art praktiziert worden war und selbst im Parteiwesen auch nach 1900 noch vorherrschend blieb.4 Auch in der Wissenschaft fand dieses sozialpolitische Engagement reichhaltigen Ausdruck. Zu erwähnen sind hier insbesondere die frühen Untersuchungen des Wirtschaftswissenschaftlers Emil Sax über Die Wohnungszustände der arbeitenden Klassen und ihre Reform (1869), die Untersuchungen des späteren ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik Tomáš G. Masaryk über den Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation (1881), die sozialpolitischen Reformprogramme von Joseph Popper-Lynkeus, die Pionierarbeiten zum Arbeiterschutz und zur Sozialmedizin von Ludwig Teleky, die sozialpolitischen Schriften von Lujo Brentano sowie die Arbeiten von Rosa Mayreder zu einer modernen Frauenpolitik.
4 Dazu siehe Inge ZELINKA: Der autoritäre Sozialstaat. Machtgewinn durch Mitgefühl in der Genese staatlicher Fürsorge, Wien-Münster 2005.
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Die soziologische Theorie im Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts – orientiert einerseits an Lorenz von Steins Auffassungen von Gemeinwohl und „Sozialkönigtum“, andererseits an der organizistischen Staatslehre Albert Schäffles – mobilisierte zwar ein auf das Gesamtwohl gerichtetes Empfinden, trug aber den empirischen Gegebenheiten der Sozialen Frage nur ungenügend Rechnung.5 Eher galt dies für das Werk von Ludwig Gumplowicz, dem einzigen österreichischen Klassiker der Soziologie, der verschiedentlich als Vater der soziologischen Konflikttheorie betrachtet wird.6 Es waren die Konflikte zwischen den Nationen, Ständen und Klassen und innerhalb derselben, die man im organizistischen Denken, wie es später in variierter Form Othmar Spann vertreten hat, appellativ zu überbrücken suchte, welche in der Konflikttheorie aber zur Sprache gebracht wurden. Besondere Akzente setzte man bezüglich der empirischen Sozialforschung in Österreich jedoch im Bereich der Statistik. In dem ethnisch-kulturell und sozial so vielschichtigen Gebilde der Habsburger Monarchie waren statistische Erhebungen, welche jener Komplexität Rechnung trugen, von größtem Nutzen. Statistik wurde in dem Großreich zu einem wesentlichen Element des Verwaltungshandelns und des Herrschaftswissens. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Karl von Czoernig-Czernhausen, den Verfasser einer dreibändigen Ethnographie der österreichischen Monarchie (1855–57), und auf Karl Theodor von Inama-Sternegg hinzuweisen, deren Leistungen gewissermaßen einen krönenden Abschluß der unter Kaiserin Maria Theresia begonnenen und von ihrem Sohn Joseph II. fortgeführten einschlägigen Bemühungen darstellen. War jener der Verfasser der in ihrer Methodik auch international bahnbrechenden Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie seit 1848, so hat dieser 1890 erstmals die zentrale Bearbeitung der österreichischen Volkszählung mit elektrischen Maschinen durchgeführt. Die Statistische Zentralkommission, das spätere Statistische Zentralamt, erlangte unter ihm den Rang einer weltweit anerkannten Spitzenorganisation. Deren Entwicklung machte es unter anderem möglich, in Österreich sehr früh die Grundlagen für eine zeitgemäße Sozialpolitik zu schaffen. – Auch in Graz, wo neben Wien die intensivste Befassung mit sozialwissenschaftlichen Sachproblemen im deutschsprachigen Teil der Monarchie stattfand, fällt an der Universität der hohe Anteil von Statistikern ins Auge: Neben dem aus der Sozialpolitik kommenden Ernst Mischler ist hier insbesondere auf Hugo Forcher, Franz Žižek und Alfred Gürtler – allesamt frühere Studenten von Ludwig Gumplowicz – hinzuweisen. 5 Zu diesen Entwicklungen siehe zum Beispiel John TORRANCE: Die Entstehung der Soziologie in Österreich 1885–1935, in: Wolf LEPENIES (Hg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin. Übersetzungen von Wolf-Hagen KRAUTH, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1981 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 367), S. 443–495. 6 Zu Gumplowicz vgl. exemplarisch Gerald MOZETIČ: Ein unzeitgemäßer Soziologe: Ludwig Gumplowicz,
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II In Deutschland gab es die Soziologie als akademisches Lehrfach, welches diese Bezeichnung trug, erst nach dem Ersten Weltkrieg, in Österreich erst nach dem Zweiten. Bahnbrechend, was die akademische Institutionalisierung des Faches betrifft, war Frankreich, wo bereits 1872 eine erste „Societé de Sociologie“ und 1893, ebenfalls in Paris, das Institut International de Sociologie gegründet wurde. Zehn deutsch-österreichische Sozialwissenschaftler zählten zwischen 1893 und 1909 zu deren Mitgliedern – den Anfang machten Carl Menger von Wolfensgrün, das Haupt der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, und Ludwig Gumplowicz.7 Als erste namhafte deutsche sozialwissenschaftliche Vereinigung wurde, wie bereits erwähnt, im Jahr 1873 der „Verein für Socialpolitik“ gegründet, 22 Jahre danach, also 1895, der Wiener „Socialwissenschaftliche Bildungsverein“.8 Dem Wiener „Socialwissenschaftlichen Bildungsverein“, welcher auch in Graz und Czernowitz ein Pendant hatte, kam in Österreich eine Pionierrolle bei der Meinungsbildung über den Begriff „Sozialwissenschaft“ zu, wobei dessen Umfang ähnlich weit gefaßt wurde wie im Falle des „Vereins für Socialpolitik“ im Deutschen Reich. Das Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen, in welchen ihre namhaftesten Repräsentanten tätig waren, ist beeindruckend: So war beispielsweise Ludo Moriz Hartmann ein Fachvertreter der Römischen und Mittelalterlichen Geschichte, Emil Reich ein Literaturwissenschaftler (und wie Hartmann ein Initiator der Volkshochschul-Bewegung), Emil
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in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 621–647; Karl ACHAM: Ludwig Gumplowicz und der Beginn der soziologischen Konflikttheorie im Österreich der Jahrhundertwende, in: Britta RUPP-EISENREICH, Justin STAGL (Hg.): Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat: Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918 (= Ethnologica Austriaca, 1), Wien 1995, S. 170–207. – Siehe dazu auch die beiden in Anmerkung 28 erwähnten Aufsätze WEILER 2001 und WEILER 2004. Als weitere Mitglieder sind zu nennen: Eugen von Böhm-Bawerk, Anton Menger, Karl Theodor von InamaSternegg, Eugen Philippovich von Philippsberg, Emil Reich, Rudolf Goldscheid, Rudolf Eisler und Wilhelm Jerusalem. Unter maßgeblicher Beteiligung von Mitgliedern dieses Vereins kam es im Jahr 1907 zur Gründung der „Soziologischen Gesellschaft“ in Wien – auf personaler Ebene wurde jener unmittelbar in diese übergeführt –, und ein Jahr später wurde die Grazer „Soziologische Gesellschaft“ ins Leben gerufen. – Reinhard MÜLLER, dem derzeit wohl kundigsten Historiker der Frühgeschichte der österreichischen Soziologie, sind zwei wertvolle Studien zu danken, in denen er diesen Entwicklungen nachgeht: Vergessene Geburtshelfer. Zur Geschichte der Soziologischen Gesellschaft in Graz (1908–1935), in: Archiv zur [später: für die] Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Graz), Nr. 3, November 1989, S. 3–25; Universitäre Parias und engagierte Dilettanten – Die Anfänge der Soziologie in Graz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Band 27/28, Graz 1998, S. 281–302; Die Stunde der Pioniere. Der Wiener „Socialwissenschaftliche Bildungsverein“ 1895 bis 1908, in: Andreas BALOG, Gerald MOZETIČ (Hg.): Soziologie in und aus Wien, Frankfurt a. M.-Berlin u. a. 2004, S. 17–48.
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von Fürth ein Jurist und Sozialökonom und zudem Gemeinderat der bürgerlich-liberalen „Sozialpolitischen Partei“, Josef Redlich ein Universitätslehrer des Staatsrechts und der Verwaltungslehre, Ludwig Teleky – er war unter anderem Hausarzt des sozialdemokratischen Arbeiterführers Victor Adler –, wie schon erwähnt, ein Pionier der modernen Sozialmedizin, Karl Renner ein Rechtswissenschaftler und Rechtsoziologe (in der Nachfolge der früher ebenfalls in Wien tätig gewesenen und das Leben des Rechts als einen Kampf der Völker, der Klassen, der Individuen und der Staatsmacht deutenden Rechtstheoretiker Rudolf von Jhering und Georg Jellinek), Carl Furtmüller schließlich ein Pädagoge, Volksbildner und Schulreformer. Dazu kommen noch folgende Soziologen: der mit der Lösung sozialer Probleme auf evolutionstheoretischer Grundlage befaßte und institutionell ungemein rührige Rudolf Goldscheid, Otto Bauer als namhafter Theoretiker der Klassen- und Nationalitätenkonflikte, Carl Grünberg als der spätere Begründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und damit Ahnherr der Kritischen Theorie, Max Adler als ein höchst unkonventioneller, nämlich transzendentalphilosophischer Vertreter des Austromarxismus, und Friedrich Hertz, der sich mit dem Rassismus, später aber auch mit dem Nationalismus und der deutschen Mentalitätsgeschichte befaßte. Von großer wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung sind die beiden oftmals nur als Philosophen betrachteten Mitglieder Rudolf Eisler und Wilhelm Jerusalem: Eisler machte sich nämlich nicht nur als Verfasser etwa des legendären dreibändigen Wörterbuchs der philosophischen Begriffe und Ausdrücke (1900) und – später – des Kant-Lexikons (1930) einen Namen, sondern er ist auch Verfasser des ersten historischsystematischen Lehrbuchs der Soziologie; seine Soziologie erschien im Jahre 1903 als Göschen-Taschenbuch. Wilhelm Jerusalem wiederum gilt, wie bereits erwähnt, als Mitbegründer der Wissens- und Wissenschaftssoziologe. Nicht wenige Mitglieder des „Socialwissenschaftlichen Bildungsvereins“ waren auch als Politiker tätig. Neben den Sozialdemokraten Otto Bauer und Karl Renner sei hier auf den parteilosen ersten österreichischen Bundespräsidenten Michael Hainisch hingewiesen, der den sich seit Ende der 1880er Jahre formierenden österreichischen Fabianern angehörte. Die Mitglieder des Bildungsvereins entstammten unterschiedlichen politischen Lagern, obschon die Mehrzahl von ihnen zu den Austromarxisten zählte oder diesen nahestand. Von besonderer Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die von den Vertretern unterschiedlicher Fachdisziplinen und politischer Orientierungen frequentierten sozialpolitischen Enqueten. So fand im Vereinsjahr 1899/1900 eine Wohnungs-Enquete statt – der Jurist Emil von Fürth ist in diesem Zusammenhang als Fachmann für Wohnungsfürsorge zu nennen –, 1900/01 eine über die Lage der erwerbstätigen Studenten, 1901/02 eine über die hygienischen Zustände in der Wiener Industrie. Eine von Friedrich Hertz für den „Socialwissenschaftlichen Bildungsverein“ zusammengestellte Bibliographie weist in thematischer Hinsicht auf die sozialpolitische
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Positionierung des Vereins hin: Wohnungsfrage, Arbeiterschutz, Alkoholismus, Kommunalpolitik, Frauenfrage, Gewerkschaftswesen, Unternehmerverbände, Agrarfragen, Genossenschaftswesen, Erziehung unter besonderer Berücksichtigung der Volksbildung, Nationalitätenfrage, Rassenfrage, Antisemitismus; ferner – als allgemeiner gehaltene Themen – Krisen, Werttheorie, Währungsfrage, Sozialismus.9 Mit dieser politisch-pragmatischen Orientierung erschien den Mitgliedern des Bildungsvereins allerdings eine Befassung mit sowohl gesellschaftstheoretischen, als auch kunsthistorischen sowie ästhetischen Fragestellungen als durchaus vereinbar, was sich insbesondere an dem Vortragsleben des Vereins zeigen läßt.10 Die Liste der auswärtigen Referenten umfaßte aus dem Bereich der Sozialwissenschaften im engeren Sinne so klangvolle Namen wie die des Staatstheoretikers Franz Oppenheimer, der Rechtstheoretiker und Rechtssoziologen Eugen Ehrlich, Otto Sinzheimer und Rudolf Stammler, des Sozialhistorikers Karl Lamprecht und des Philosophen Ludwig Stein, aus dem Bereich der Kunst hingegen beispielsweise die der Literaten Ricarda Huch und Ernst Lissauer. Die 1907 gegründete Wiener „Soziologische Gesellschaft“ ging aus dem „Socialwissenschaftlichen Bildungsverein“ hervor. Zu ihren Gründungsmitgliedern zählten die Privatgelehrten Rudolf Goldscheid und Rudolf Eisler, die Künstlerin, Kulturphilosophin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder, der Privatdozent und spätere Professor für Geschichte sowie Volksbildner Ludo Moriz Hartmann, der Professor des Staatsrechts und der Verwaltungslehre Josef Redlich, der Gymnasiallehrer, Privatdozent und spätere Professor für Philosophie und Pädagogik Wilhelm Jerusalem, der Rechtsanwalt und spätere Professor der Gesellschaftslehre Max Adler, der Professor für Zoologie Bertold Hatschek, der Parlamentsbeamte, Reichsratsabgeordnete und später als Staatskanzler (sowie als Bundespräsident der Zweiten Republik) amtierende Karl Renner, sowie der Reichsratsabgeordnete und spätere Bundespräsident Michael Hainisch. Diese erste „Soziologische Gesellschaft“ im deutschen Sprachraum stellte, wie bereits erwähnt, das ausdrückliche Vorbild für die im Frühjahr 1908 in Graz entstandene gleichnamige Vereinigung dar.
III Betrachtet man die Struktur und die Aktivitäten des „Sozialwissenschaftlichen Bildungsvereins“ und der aus ihm hervorgegangenen Wiener „Soziologischen Gesellschaft“, so fällt zunächst einmal die hochgradig interdisziplinäre Orientierung auf, aber zugleich
9 Siehe MÜLLER 2004 (Anmerkung 8), S. 24f. 10 Siehe ebenda, S. 30–34.
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auch – trotz der numerischen Dominanz sozialdemokratischer und marxistischer Politiker sowie Sozialwissenschaftler – die Pluralität von politischen Einstellungen und sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen. In gesellschaftstheoretischer Hinsicht beherrschte neben einer an Marx oder Gumplowicz anknüpfenden Konflikttheorie der Evolutionismus das sozialwissenschaftliche Erscheinungsbild des Vereins. Dessen Hauptvertreter war der verschiedentlich dem Lamarckismus nahestehende Rudolf Goldscheid.11 Dieser Autor, der ähnlich wie Rudolf Eisler und für lange Zeit auch Wilhelm Jerusalem den außeruniversitären Mitgliedern der beiden Wiener sozialwissenschaftlichen Vereinigungen angehörte, trat als Literat und als Soziologe in Erscheinung. Als Soziologe wurde Goldscheid vor allem mit den Büchern Zur Ethik des Gesamtwillens. Eine sozialphilosophische Untersuchung (1902), Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft (1905), Verelendungs- oder Meliorationstheorie? (1906), Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie. Eine Programmschrift (1908) und Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie (1911) bekannt. Schon mit seinem wissenschaftlichen Erstlingswerk aus dem Jahre 1902 verfolgte Goldscheid das Ziel, eine auf psychologischen und evolutionstheoretischen Erkenntnissen beruhende „rationale“ Ethik zu formulieren, auf deren Grundlage er den Zustand der zeitgenössischen Staaten zu kritisieren und ein besseres Staatsmodell an deren Stelle zu setzen suchte. Sozialwissenschaft und Ethik sollten dazu verhelfen, auf kausaler Grundlage erworbene objektive Naturerkenntnisse in subjektive Handlungsziele zu transformieren, deren überindividuelle summative Effekte sich zu einem das gesellschaftliche, staatliche und internationale Geschehen umfassenden teleologischen Prozeß formieren. Durch Einsicht in diesen Prozeß sollte sich nach Goldscheids Überzeugung eine Höherentwicklung der Menschheit insbesondere mit Hilfe der technischen Naturbeherrschung bewerkstelligen lassen. Unter Zugrundelegung von Ansichten des Neolamarckismus, wie sie sein Freund Paul Kammerer12 hegte, betonte Goldscheid gegenüber dem landläufig vertretenen Evolutionismus die aktive Anpassung des Menschen, welche es diesem ermögliche, seine Milieubedingungen zu verändern und damit, da diese ja für seine psychophysische Verfassung wesentlich seien, auch sein geistig-bio11 Zu Goldscheid siehe vor allem Georg WITRISAL: Der Soziallamarckismus Rudolf Goldscheids. Ein milieutheoretischer Denker zwischen humanitärem Engagement und Sozialdarwinismus, Diplomarbeit Graz 2004; Wolfgang FRITZ, Gertraude MIKL-HORKE: Rudolf Goldscheid. Finanzsoziologie und ethische Sozialwissenschaft, Wien-Berlin-Münster 2007. 12 Der Biologe Paul Kammerer wollte durch seine einstmals spektakulären Versuche mit Geburtshelferkröten die Vererbung erworbener Eigenschaften beweisen. Als er verdächtigt wurde, seine experimentellen Ergebnisse gefälscht zu haben, nahm er sich im Jahre 1926 das Leben. Im September 2009 hat der chilenische Biologe Alexander Vargas in einem Beitrag für das Journal of Experimental Zoology eine neue Lesart von Kammerer unter Gesichtspunkten der Epigenetik befürwortet. Vor allem regte er neue Experimente an, zumal die von Kammerer nie mehr wiederholt wurden.
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logisches Schicksal mitzugestalten. Deshalb sprach Goldscheid statt von Evolution immer wieder von „Höherentwicklung“.13 Goldscheid, dessen Engagement nicht nur die Gründung der „Soziologischen Gesellschaft“ in Wien, sondern auch maßgeblich jene der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ zu verdanken ist, überwarf sich völlig mit deren wohl prominentestem Mitglied Max Weber.14 Weber, der sich von der Gründung der DGS die Bildung eines Gegenpols zu den sich im „Verein für Socialpolitik“ breitmachenden Tendenzen einer ihm suspekt erscheinenden „wertenden Wissenschaft“ erhoffte, fand sich durch eine Initiative brüskiert, die in der Versammlung vom 7. März 1909 – also bald nach der am 3. Jänner 1909 erfolgten Gründung – von Goldscheid eingebracht und auch von den versammelten Mitgliedern angenommen wurde: „Die Versammlung beauftragt den Vorstand, die baldige Gründung einer Ortsgruppe Berlin vorzubereiten, die die ersten drei oder vier Propagandavorträge für den kommenden Sommer zu veranstalten hat.“15 Während Weber gewährleistet wissen wollte, „daß der wissenschaftliche Charakter, d.h. der Ausschluss aller und jeder Propaganda für ,ethische‘, politische usw. Zwecke, conditio sine qua non“ sei,16 war das Interesse Goldscheids und anderer Mitglieder vorrangig darauf gerichtet, eine breitere Öffentlichkeit für die Sache der Soziologie zu dem Zwecke zu gewinnen, um politisch mitgestaltend wirken zu können. Der Konflikt um die Berliner Propagandavorträge, in dem die unterschiedlichen Meinungen einer wertenden und einer wertfreien Wissenschaft Ausdruck fanden, steht am Anfang des mehr und mehr eskalierenden Zerwürfnisses zwischen Goldscheid und Weber. Zwar leugnet dieser nicht, daß die Gründung der DGS der „Geschäftigkeit“ Goldscheids viel verdankt,17 aber die aus ebendiesem Grund auf dessen Seite nachweisbaren „Vaterempfindungen“18 hätten doch zur Folge, daß er in alles hineinrede. Zum Bruch Webers nicht nur mit Goldscheid und seinen Anhängern, sondern mit der DGS als ganzer kam es im Vorfeld und im Verlauf des ersten Soziologentages des Jahres 1910, als verschiedentlich heftige Kritik an dem von Weber konzipierten § 1 der Statuten geübt wurde, welcher die Zielsetzungen der Gesellschaft festgelegte: „Ihr Zweck ist die Förderung der soziologischen Erkenntnis durch Veranstaltung rein wissenschaftlicher Untersuchungen und Erhebungen, durch Veröffentlichung und Unterstützung rein wissenschaftlicher Arbeiten 13 Rudolf GOLDSCHEID: Staatssozialismus oder Kapitalismus. Ein finanzsoziologischer Beitrag zur Lösung des Staatsschulden-Problems, 4. und 5. Aufl., Wien 1917; Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankerott. Ein Sanierungsprogramm, Wien 1919. 14 Siehe dazu Gertraude MIKL-HORKE: Max Weber und Rudolf Goldscheid: Kontrahenten in der Wendezeit der Soziologie, in: Sociologia Internationalis 42 (2004), S. 265–285. 15 Siehe dazu Max WEBER: Briefe, in: Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 6, Tübingen 1994, S. 72. 16 Ebenda, S. 91. 17 Ebenda, S. 122. 18 Ebenda, S. 242.
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und durch Organisation von periodisch stattfindenden deutschen Soziologentagen. Sie gibt allen wissenschaftlichen Richtungen und Methoden der Soziologie gleichmäßig Raum und lehnt die Vertretung irgendwelcher praktischer (ethischer, religiöser, politischer, ästhetischer usw.) Ziele ab.“19 Mit Goldscheid, der sich dazu auf zum Teil sarkastische Weise äußerte und damit verschiedentlich auf Zuspruch stieß, verweigerte Weber von nun an jeden Kontakt: mit „so klebrigen Insekten wie Herrn Goldscheid“ nähmen seine „Nerven“, wie er in einem Brief bemerkte, „den Kampf auf die Dauer nicht auf.“20 1911 trat er zunächst aus dem Vorstand, 1912 schließlich auch aus dem Ausschuß der DGS aus. Auch in der Wiener „Soziologischen Gesellschaft“, aber vor allem schon im „Socialwissenschaftlichen Bildungsverein“ hat man sich wohl nicht durchgehend mit der von Goldscheid gelegentlich betriebenen Implementierung von praktisch-politischen Wertungen in wissenschaftliche Aussagensysteme angefreundet, wenn eine solche Auffassung auch dem parteilichen Denken bestimmter Mitglieder dieser Vereine entsprach, wie dies beispielsweise gewisse Erklärungen von Ludo Moriz Hartmann und Carl Grünberg vor dem „Verein für Socialpolitik“ im Jahr 1914 bezeugen.21
IV Betrachtet man die frühe österreichische Soziologie unter dem Gesichtspunkt von Statik und Dynamik, Idealismus und Realismus, so erscheint es zweckmäßig, kurz auf zwei bereits erwähnte Autoren aus ihrer Formationsperiode Bezug zu nehmen: auf Rudolf Eisler und Wilhelm Jerusalem. Der Philosoph Rudolf Eisler ist als Soziologe sowohl Struktur-, als auch Prozeßanalytiker des Sozialen. Bei seiner Soziologie (1903)22 handelt es sich, wie schon erwähnt, um das erste Lehrbuch dieser Disziplin im deutschen Sprachraum. Einerseits beschäftigen ihn darin sozialgenetische Betrachtungen, wobei er sich auch methodologisch mit Fragen der sozialen Kausalität befaßt, andererseits geht es ihm um eine formalsoziologische Strukturanalyse der Gesellschaft. Diese nimmt Eisler in zweierlei Hinsicht vor: das eine Mal bezogen auf das Soziale im weiteren Sinne, die „sozialen Gebilde“, das andere Mal in Bezug auf das Soziale im engeren Sinne, die sozialen Beziehungen oder „sozialen Verbände“. Die sozialen Gebilde entsprechen dem, was in der Nachfolge 19 20 21 22
Verhandlungen des 1. deutschen Soziologentages, Tübingen 1911, S. V. Siehe Max WEBER: Briefe, in: Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 7, Tübingen 1998, S. 733. Siehe MIKL-HORKE 2004 (Anmerkung 14), S. 276–280. Rudolf EISLER: Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Entwickelung der menschlichen Gesellschaft, Leipzig 1903.
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Hegels als „objektiver Geist“ bezeichnet wurde, umfassen also Sprache, Mythos, Religion, Recht, Sitte, Wissenschaft, Kunst etc., mithin die Objektivationen des Geistes; bei den sozialen Verbänden wiederum handelt es sich um informelle und formelle Organisationen vom Typus Familie, Horde, Gens, Stamm, Partei, Stand und Staat, also um Objektivationen sozialer Beziehungen. Ähnlichkeiten zur Formalen Soziologie Georg Simmels sind dabei nicht zu übersehen. Beide Arten von Objektivationen sind durch allgemeine Begriffsmerkmale (intensional) charakterisiert, die durch historisch veränderliche Inhalte und Besonderheiten ihrem Umfang nach (extensional) bestimmt werden. Wie es einerseits nationale Wirtschaftsgeschichten und andererseits eine allgemeine ökonomische Theorie gibt, und – dementsprechend – beispielsweise Kunst- und Rechtsgeschichte beziehungsweise Ästhetische Theorie und Rechtstheorie, so gilt auch für die Soziologie, daß der Sozialgeschichte die Sozialtheorie (als generalisierte Beschreibung und Erklärung sozialer Ereignisse, Strukturen und Prozesse) korrespondiert. Der von Ernst Mach geförderte Pädagoge, Philosoph und Soziologe Wilhelm Jerusalem wiederum, der sich 1891 an der Universität Wien habilitiert und unter anderem 1907 das philosophische Hauptwerk von William James, Pragmatism, ins Deutsche übersetzt hatte, wurde erst 1923, im Jahr seines Ablebens, zum ordentlichen Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Wien ernannt. Jerusalem, auf dessen wissenssoziologische Pionierrolle bereits hingewiesen wurde, ist als einer der frühesten Vertreter der genetischen Erkenntnislehre anzusehen, welche erst in der Nachfolge von Konrad Lorenz in ihrer Bedeutung erkannt wurde.23 Gleich wenig wie sich Eisler als Struktur- und Prozeßtheoretiker konkreten sozialgenetischen Betrachtungen versagte, ignorierte umgekehrt der Erkenntnisgenetiker Jerusalem beispielsweise die Erörterungen einer formalsoziologischen Gesellschaftstheorie. Sein Bestreben zielte allein darauf ab, gegenüber einem geschichtsüberhobenen Idealismus und der mit ihm verbundenen Behauptung von überzeitlich geltenden Normen deren Genese in den Blick zu rücken. So setzt Jerusalem der Auffassung von einer metaphysisch fundierten Geltung von Normen eine genetische, sowohl biologisch als vor allem auch soziologisch angeleitete Betrachtung entgegen und stellt im Rückblick auf seine langjährigen einschlägigen Bemühungen fest: „Die intensive Beschäftigung mit der Gesellschaftslehre hat mir […] tiefere Einblicke in den Entwicklungsgang des Menschengeistes erschlossen, die es möglich machen, das Wesen der Wissenschaft klarer und richtiger zu erfassen, sowie auch die Aufgabe der Philosophie deutlicher und genauer zu umgrenzen.“24 Jerusalem zeigte, daß 23 Vgl. in diesem Zusammenhang Wilhelm JERUSALEM: Einleitung in die Philosophie (1899), 9. und 10. Aufl., Wien-Leipzig 1923, v. a. §§ 29, 39 und 49. – In der deutschsprachigen Philosophie und Soziologie wird diese Disziplin auch derzeit nur höchst unzureichend wahrgenommen; eine Ausnahme bildet das Werk von Ernst TOPITSCH, insbesondere dessen Buch Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2., überarb. und erw. Auflage, Tübingen 1988.
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die menschliche Fähigkeit, theoretisch zu denken, gleichermaßen wie die für die Kulturentwicklung so überaus wichtige Individualisierung sich in langen Zeiträumen entwickelte, so daß sich der Glaube an eine logische Struktur der menschlichen Vernunft, welche zeitlos und unveränderlich sich selbst immer gleich bleibt, als irrig erweise. Daher fühle er sich „in dem strengen Empirismus, der bei der Betrachtung des Organischen und des Geistigen die Form des Evolutionismus annimmt, immer mehr bestärkt“.25 Namentlich unter dem Einfluß von Ernst Mach und Adolph Stöhr stehend, hat sich auch unter einzelnen Mitgliedern des „Socialwissenschaftlichen Bildungsvereins“ und der Wiener „Soziologischen Gesellschaft“ ein Interesse an methodologischen Fragen eingestellt. Nicht nur im Schrifttum von Jerusalem und Eisler, sondern auch bei prononcierten Vertretern des Austromarxismus läßt sich dies feststellen; vor allem gilt dies für Max Adler und sein Buch Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (1904). Dieses Werk ist – neben dem einschlägigen Schrifttum der klassischen Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie – als eine das (natur)wissenschaftstheoretische Hauptwerk Ernst Machs, Erkenntnis und Irrtum (1905), sowie Adolph Stöhrs Philosophie der unbelebten Materie (1907) komplementär ergänzende Methodologie der Gesellschaftswissenschaften anzusehen. Im wissenschaftstheoretischen Schrifttum dieser Zeit liegt eine der Wurzeln für den Logischen Positivismus der Zwischenkriegszeit, dem in seiner klassischen Ausprägung ein Rationalismus zugrunde lag, welcher dem Ausverkauf gesicherter Erkenntnis an die Geschichte, die Psychologie und die Gesellschaft, wie er im Namen von Historismus, Psychologismus und Soziologismus erfolgte, entgegenzuwirken suchte.
V Für die im Frühjahr 1908 in Graz entstandene „Soziologische Gesellschaft“26 bildete der gleichnamige Wiener Verein ausdrücklich das Vorbild. Gegründet wurde sie von dem damaligen stellvertretenden Chefredakteur der Grazer „Tagespost“ Friedrich (Fritz) Sueti, einem Freund von Ludwig Gumplowicz, und von dessen einzigem Koautor, dem damaligen Stadtrat und seit 1904 für Österreichische Verwaltungsgesetzkunde habilitierten Privatdozenten Rudolph Ferdinand Franz Bischoff.27 Der Grazer Verein, der for24 JERUSALEM 1923 (Anmerkung 23), S. 360. – Im Zitat kursiv Geschriebenes ist im Original gesperrt gedruckt. 25 Ebenda. 26 Zum Folgenden siehe v. a. MÜLLER 1989 (Anmerkung 8) sowie MÜLLER 1998 (Anmerkung 8). 27 Bei der Arbeit handelt es sich um Ludwig GUMPLOWICZ: Das Österreichische Staatsrecht (Verfassungsund Verwaltungsrecht). Ein Lehr- und Handbuch. Dritte, in Verbindung mit Rudolf BISCHOFF bearbeite-
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mal 27 Jahre lang existierte, aber seine Aktivitäten wohl spätestens 1923 einstellte, konnte weder hinsichtlich des breiten wissenschaftlichen Spektrums seiner Mitglieder noch in Bezug auf die Intensität des Vereinslebens mit den beiden Wiener sozialwissenschaftlichen Vereinigungen konkurrieren. Und doch ist Graz ein bedeutsamer Ort für die Geschichte der österreichischen Soziologie: – Hier lebte seit 1875 Ludwig Gumplowicz, der einzige österreichische Klassiker der Soziologie, und hier wirkte er zwischen 1876 und 1908 als Universitätslehrer;28 der in Graz wirkende Gumplowicz war der Erste im deutschen Sprachraum, der in seinem Grundriß der Sociologie (1885) die Disziplinenbezeichnung „Soziologie“ im Titel eines Buches verwendete; – Graz ist durch zwei Gelehrte zu einer Geburtsstätte der modernen Kriminalsoziologie geworden: hier hat sich im Jahre 1876 Franz von Liszt, ein Schüler des großen von 1868 bis 1872 in Wien lehrenden Rechtstheoretikers Rudolf von Jhering, für Strafrecht habilitiert, später dessen Gedanken vom „Zweck im Recht“ auf das Strafrecht übertragen und wertvollste Beiträge zur Sozialisation von Straftätern sowie zur Resozialisierung ehemaliger Strafgefangener geliefert; desgleichen hat hier bereits 1875, also ein Jahr vor Liszt, Julius Vargha die Venia legendi für Strafrecht erworben und ist in der Folge zu einem Pionier der Etikettierungstheorie („labeling theory“) in der Kriminologie geworden; – hier in Graz wurde erstmals in Österreich, und zwar regelmäßig ab dem Wintersemester 1908/09, von Alfred Gürtler eine für Studierende der Staatswissenschaften obligatorische Soziologie-Vorlesung an der juridischen Fakultät abgehalten;29 te, vermehrte und verbesserte Auflage, Wien 1907. – Biographisches zu Sueti, der unter anderem ein Pionier der deutschnationalen Bewegung in Tirol war, und zu Bischoff, dem als Privatdozent auch an der Grazer Technischen Hochschule Österreichisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht lehrenden zweiten Proponenten der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“, findet sich bei MÜLLER 1989 (Anmerkung 8), Seite 7f. 28 Siehe dazu Bernd WEILER: Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz: Materialien zur Habilitation und Ernennung zum Extraordinarius (1876–1882), in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter Nr. 21 (Jänner 2001), S. 3–19; Ders.: Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz: Analysen und Materialien aus der Zeit von der Ernennung zum Extraordinarius bis zur Emeritierung (1883–1908), in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter Nr. 25 (April 2004), S. 3–54. 29 Zuvor hielt außer Gumplowicz nur Johann Haring, Ordinarius für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Graz, Lehrveranstaltungen zur Gesellschaftslehre ab. Alfred Gürtler, damals ao. Prof. der Nationalökonomie, hat seit dem Wintersemester 1919/20 mehrmals gemeinsam mit Rudolph Bischoff ein Soziologisches Konversatorium an der Universität Graz abgehalten. Soziologische Lehrveranstaltungen wurden nach dem Ersten Weltkrieg außerdem noch von Otto (von) Dungern, einem o. Prof. des Allgemeinen und österreichischen Staatsrechts, der Verwaltungslehre und des österreichischen Verwaltungsrechts, angeboten, ferner von dem seit 1905 als o. Prof. der Philosophie an der Universität Graz tätigen Hugo Spitzer, der 1925 emeritierte, und nach dessen Emeritierung von dem Privatdozenten für Philosophie Konstantin Rada-
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– hier erschien – als Publikation der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“- die erste explizit soziologische Schriftenreihe Österreichs, die Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie; – und hier befand sich später die erste universitäre Einrichtung in Österreich, die bereits im Namen als soziologische ausgewiesen war, nämlich das im Jahre 1920 von Hugo Spitzer an der Philosophischen Fakultät gegründete „Seminar für philosophische Soziologie“.30 Anlaß für die Gründung der „Soziologischen Gesellschaft“ in Graz war der 70. Geburtstag von Ludwig Gumplowicz. Auf zwei ihrer Mitglieder konzentriert sich im Rückblick auf sie das sozialwissenschaftliche Interesse: auf Gumplowicz selbst sowie auf den seit 1911 in Graz als akademischer Lehrer tätigen Joseph Alois Schumpeter. Gumplowicz habilitierte sich im Dezember 1876 für Allgemeine Staatswissenschaften. Nach zwei Erweiterungen seiner Venia legendi wurde er am 21. Juli 1882 zum außerordentlichen Universitätsprofessor des Allgemeinen Staatsrechts und der Verwaltungslehre sowie am 9. März 1893 zum ordentlichen Universitätsprofessor der Verwaltungslehre und des Österreichischen Staatsrechts ernannt. Gumplowicz, der unter anderem Gründungsmitglied des Institut International de Philosophie in Paris im Jahre 1893 war, schied, an Krebs erkrankt, im Einverständnis mit seiner seit 1907 erblindeten Frau mit dieser im August 1909 durch Suizid aus dem Leben. Seine Reputation begründete bereits seine erste selbständige Publikation Raçe und Staat (1875) sowie das Buch Der Rassenkampf – Sociologische Untersuchungen (1883), seit deren Erscheinen der Name von Gumplowicz unmittelbar mit der Theorie des polygenetischen Ursprungs der Menschheit und des Ursprungs der Staaten aus der Eroberung und Überformung einer ethnischen Gruppe durch die andere verknüpft wurde. Von da an erschien aber der Verfasser dieses Buches vielen auch fälschlich als Rassist, Militarist und Sozialdarwinist – ein Umstand, der die angemessene Rezeption seines gewiß bedeutsameren Buches Grundriß der Sociologie nachteilig beeinflußte. Obschon er sich unter Fachkollegen, wie sein Briefwechsel mit dem amerikanischen Soziologen Lester Frank Ward bezeugt,31 vereinsamt fühlte und in numerischer Hinsicht keine bedeutenden Schüler um sich scharte, war Gumplowicz doch für einige unter ihnen, die sich später im Ausland einen Namen machen sollten, von großer Bedeutung: so für Otto von Zwiedineck-Südenhorst, der mit seiner Sozialpolitik (1911) kovic; dieser war nach dem Zweiten Weltkrieg Leiter der Abteilung für philosophische Soziologie des Instituts für Philosophie der Grazer Universität. 30 Siehe MÜLLER1998 (Anmerkung 8), S. 281. 31 Siehe Aleksander GELLA (Hg.): The Ward-Gumplowicz Correspondence: 1897–1909. Translated and with an Introduction by A. G., New York 1971.
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eines der ganz herausragenden Werke zu diesem Themenbereich im deutschen Sprachraum verfaßte; für den später bekannten italienischen Soziologen Franco Rodolfo Savorgnan, der sich in seinem Schrifttum unmittelbar auf Gumplowicz berief; für den später an der Universität Frankfurt als Professor der Statistik wirkenden Franz Žižek und für den in demselben Fach als akademischer Lehrer an der Universität Wien tätigen Hugo Forcher. Zu nennen ist hier aber vor allem auch der als Autodidakt die frühe deutschsprachige politische Soziologie mitkonstituierende Gustav Ratzenhofer, zu dem Gumplowicz enge persönliche und fachliche Beziehungen unterhielt. Ratzenhofer, von Beruf Feldmarschall-Leutnant und Präsident des Militärobergerichts, stand vor allem aufgrund seines dreibändigen Werkes Wesen und Zweck der Politik (1893) und des Buches Die sociologische Erkenntnis. Positive Philosophie des socialen Lebens (1898) vor dem Ersten Weltkrieg im Ausland, vor allem in den USA, in hohem Ansehen. – Gumplowicz hatte aber immerhin einen Grazer Universitätskollegen, der ihn aufrichtig bewunderte: Julius (Gyula) Vargha, der sich 1875 an der Universität Graz für Strafrecht habilitierte und in weiterer Folge als Professor des Strafrechts und Strafprozeßrechts, später auch für Rechtsphilosophie und Völkerrecht an dieser Universität tätig war. Vargha, ein international hochangesehener Gelehrter, hielt in Graz zwischen 1893/94 und 1897/98 Vorlesungen über „Criminal-Anthropologie und Sociologie“ und gilt heute verschiedentlich als ein Begründer der Theorie des Labeling approach, der Etikettierungstheorie.32 Als das neben Gumplowicz namhafteste Mitglied der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ gilt, wie schon erwähnt, der 1911 – bei nur zwei Befürwortern, und damit gegen den Widerstand der Fakultät – aufgrund „allerhöchster Entschließung seiner Apostolischen Majestät“ Kaiser Franz Josephs I. zum ordentlichen Universitätsprofessor der Politischen Ökonomie an die Universität Graz berufene Joseph Alois Schumpeter.33 Schumpeter kam von der Universität Czernowitz nach Graz, wo er nominell bis 1921 tätig, ab 1918 aber faktisch nicht mehr präsent war. Wie Gumplowicz, so fühlte sich auch Schumpeter in Graz nicht wohl, Grazer Studenten wiederum nicht mit Schumpeter. So versuchte im Oktober 1912 eine studentische Initiative, den wissenschaftlich als allzu anspruchsvoll geltenden Sozialökonomen durch den Rektor seines Postens entheben zu lassen – und dabei hatte dieser doch gerade zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in Graz eines seiner Meisterwerke, die Theorie der ökonomischen Entwicklung (1911), publiziert! So 32 Vgl. Karlheinz PROBST: Der Labeling-approach, eine österreichische kriminologische Theorie, in: Österreichische Richterzeitung (Wien), Jg. 55, Nr. 3 (März 1977), Seite 45–51. 33 Aus der umfangreichen Literatur zu Schumpeter siehe Thomas K. McCRAW: Prophet of Innovation – Joseph Schumpeter and Creative Destruction, Cambridge, Mass.-London, England 2007 (dt.: Joseph A. Schumpeter. Eine Biografie, Hamburg 2008); Robert Loring ALLEN: Opening Doors: The Life and Work of Joseph Schumpeter, 2 Bde., New Brunswick, N. J. 1991; Richard SWEDBERG: Schumpeter: A Biography, Princeton 1991; Karl ACHAM: Schumpeter – the sociologist, in: Christian SEIDL (Hg.), Lectures on Schumpeterian Economics, Berlin-Heidelberg u. a. 1984, S. 155–172.
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gut wie alle maßgeblichen Studien zum Typus des modernen Unternehmertums oder zur unternehmerischen Innovation verweisen auf diese in Fachkreisen geradezu als archetypisch angesehene Studie. Diesem Buch war zudem schon eine andere vielbeachtete wirtschaftstheoretische Monographie vorausgegangen, in welcher Schumpeter die von ihm so bezeichnete Denkweise des „methodologischen Individualismus“ darlegte.34 Dieser Denkweise war bereits früher – wie auch derjenigen des dazu konträren sozialen Holismus und Universalismus – Gumplowicz mit seinem „Gruppismus“ entgegengetreten.35 Schumpeter stand nicht nur im Gegensatz zu der in Graz zuvor kultivierten Tradition der historischen Nationalökonomie, sondern insbesondere auch zu einer mit Wissenschaftsanspruch auftretenden normativen Sozialpolitik. Dies veranlaßte ihn beispielsweise im Werturteilsstreit, der im Jahr 1909 in Wien im „Verein für Socialpolitik“36 ausgetragen wurde, die Partei von Max und Alfred Weber, Werner Sombart und Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld zu beziehen.37 Damit stand er nicht nur im Gegensatz zu den marxistischen Sozialwissenschaftlern Rudolf Goldscheid und Otto Neurath, sondern auch zu den berühmten Ökonomen Eugen von Philippovich und Friedrich von Wieser, zu Othmar Spann sowie zu dem von Gumplowicz beeinflußten und zu dieser Zeit als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Karlsruhe tätigen Otto von Zwiedineck-Südenhorst. Schumpeter scheint es dabei allerdings nicht um die Ausklammerung solcher normativen Positionen gegangen zu sein, die er selbst nicht vertrat, als vielmehr um den Ausschluß subjektiv wertender Stellungnahmen aus Aussagensystemen, die mit dem Anspruch auftreten, theoretische Erkenntnis zu sein. Anders kann man sich nicht erklären, wie er sich sonst dazu bereitfinden hätte können, einen seiner Gegner in der Werturteilsdiskussion des Jahres 1909, Otto Neurath, den marxistischen Sozialwissenschaftler und späteren Sozialisierungsminister der kommunistischen Münchner Räteregierung sowie Hauptvertreter des Physikalismus im Wiener Kreis, zu habilitieren, worüber er als damaliger Dekan der Jahre 1916/17 der Juridischen Fakultät berichtete.38
34 Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908. 35 Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten bezüglich der Ontologie des Sozialen schätzte Schumpeter bestimmte Ansichten von Gumplowicz über die in und zwischen sozialen Klassen bestehenden Konflikte. So ist auch sein 1927 erschienener Aufsatz „Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu“ ein Ausdruck der Wertschätzung, die Schumpeter Gumplowicz gegenüber empfand, dessen Einfluß auf die frühen Jahre seiner wissenschaftlichen Entwicklung er nicht in Abrede gestellt hat. 36 Siehe dazu MIKL-HORKE 2004 (Anmerkung 14), S. 277f. 37 Gottl-Ottlilienfeld, der Verfasser einiger international anerkannter Arbeiten zum Verhältnis von Wirtschaft und Technik sowie zur technischen Sozialökonomie, wirkte übrigens ebenfalls in Graz, allerdings erst in den Jahren 1940–45 als Direktor des „Forschungsinstituts für Deutsche Volkswirtschaftslehre“ in Mariatrost-Fölling. 38 Darüber geben die Akten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Aufschluß: Universitätsarchiv Graz Jur. Fak. Prot. 1916/17, Index H.
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Die Grazer „Soziologische Gesellschaft“ reicht weder bezüglich der Disziplinenvielfalt noch hinsichtlich der Zahl wissenschaftlich bedeutsamer Mitglieder an die erwähnten Wiener Vereinigungen heran. Zwar gehörten ihr neben Gumplowicz und Schumpeter mit Wilhelm Jerusalem, mit Ferdinand Tönnies als dem Doyen der deutschen Soziologie und mit Ervin Szabó, einem der namhaften Soziologen Ungarns, der auch Direktor der städtischen Bibliothek in Budapest war, sehr prominente Mitglieder an; zwar sind auch einige bekannte Fachvertreter der Soziologie als Referenten vor der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ aufgetreten, so etwa bereits in deren Gründungsjahr Wilhelm Jerusalem und der bekannte Vertreter der formalen Soziologie und Beziehungslehre Alfred Vierkandt, im Jahr danach der nachmals berühmte Vertreter der politischen Soziologie Robert Michels – und doch springen bezüglich der aktiven Vereinsmitglieder die Unterschiede zu den beiden Wiener Gesellschaften ins Auge. Auch in Graz wurden, wie in Wien, die Vereinsgeschäfte mehrheitlich von außeruniversitär tätigen Personen besorgt, doch im Gegensatz zu Wien brachte es in Graz – mit der Ausnahme von Ernst Décsey39 – niemand von den Vereinsfunktionären als Schöpfer künstlerisch oder wissenschaftlich bedeutsamer Werke zu überregionaler fachlicher Anerkennung. Dies ist, wenn man etwa an Rudolf Eisler, Wilhelm Jerusalem oder Rudolf Goldscheid denkt, doch ein krasser Unterschied zu Wien. Es ist daher Reinhard Müller zuzustimmen, wenn er bemerkt, die Grazer „Soziologische Gesellschaft“ sei „das geblieben, was sie wohl ursprünglich war: die Bemühung ,lokaler Größen‘ aus den Bereichen der Wissenschaft, Journalistik und Pädagogik, Interesse für die als Disziplin aufstrebende Soziologie zu bekunden und zu wecken“.40
VI In einer Hinsicht war der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ jedoch Erfolg beschieden: mit der Institutionalisierung der vereinseigenen Schriftenreihe Zeitfragen aus dem 39 Die Rede ist hier von Ern(e)st Décsey, der an der Universität Wien Jus und daneben – unter anderem bei Anton Bruckner – Klavier, Harmonielehre und Komposition studierte, dem als zu Kriegsende im Rang eines Hauptmanns stehendem Weltkriegsteilnehmer mehrfache Auszeichnungen zuteil wurden, und der – neben zahlreichen anderen selbständig erschienenen Publikationen – mehrere musikhistorische Monographien verfaßte; von diesen seien hier genannt: Hugo Wolf, 4 Bde., Berlin-Leipzig 1903–1906; Bruckner. Versuch eines Lebens, Berlin 1919; Hugo Wolf. Das Leben und das Lied, 3.–6. Aufl., Berlin 1919; Johann Strauß. Ein Wiener Buch, Stuttgart 1922; Franz Lehár, Wien-München 1924; Maria Jeritza, Wien 1931; Claude Debussy. Biographie, Graz 1936; Debussys Werke, Graz-Wien 1949. 40 MÜLLER 1998 (Anmerkung 8), S. 294. So auch schon das Urteil auf Seite 7 in MÜLLER 1989 (Anmerkung 8), in welcher Abhandlung sich danach auf den Seiten 7–11 für das geistige Profil der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ aufschlußreiche biographische Hinweise zu deren Vorstandsmitgliedern finden.
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Gebiete der Soziologie. Die Gründung dieser Schriftenreihe ist im wesentlichen der Initiative von Julius Bunzel zuzuschreiben, der seit 1918, dem Erscheinungsjahr der ersten Hefte dieser Schriftenreihe, Finanzrat und später Oberfinanzrat in Graz war; Mitte der 1920er Jahre übersiedelte er nach Wien, wo er in der Finanz-Prokuratur beschäftigt war und schließlich als Hofrat in Pension ging. Höchst eigenständig und unabhängig von den Mitgliedern des Vorstandes der Grazer „Soziologischen Gesellschaft“ gelang es Bunzel, den Ökonomen Joseph Schumpeter, den Philosophen Hugo Spitzer41 und den Soziologen Ferdinand Tönnies, damals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, als Mitherausgeber der Schriftenreihe zu gewinnen. Die Schriftenreihe ist in vier Reihen mit insgesamt 12 Heften im Zeitraum von 1918 bis 1931 erschienen. Zudem sind, was über die programmatische Orientierung der Herausgeber einiges (aber wohl auch vieles über deren geringe finanzielle Unterstützung in einer wirtschaftlich ungemein schwierigen Zeit) besagt, Arbeiten von rund 30 Autorinnen und Autoren, darunter 24 mit ausformulierten Titeln,42 in verschiedenen Werken der Reihe angekündigt, aber nie publiziert worden. Die Erste Reihe wurde von der 41 Hugo Spitzer war für die Entwicklung der Soziologie in Graz insofern von großer Bedeutung, als es ihm im Rahmen der Umstrukturierung der Universität nach dem Ersten Weltkrieg gelang, im Jahre 1920 das „Seminar für philosophische Soziologie“ an der Philosophischen Fakultät zu gründen. Er hatte ein Doktorat sowohl an der Philosophischen als auch an der Medizinischen Fakultät der Grazer Universität erworben, ehe er sich an dieser 1882 für Philosophie habilitierte; 1893 wurde er ao.Prof., 1905 o.Prof. und emeritierte im Jahr 1925. Er verfaßte eine Reihe von Monographien zur Philosophie der Naturwissenschaften, aber auch zur Kunstphilosophie und Literaturästhetik. Exemplarisch genannt seien hier von Hugo SPITZER folgende Monographien: Über Ursprung und Bedeutung des Hylozoismus. Eine philosophische Studie, Graz 1881; Ueber das Verhältniss der Philosophie zu den organischen Naturwissenschaften. Vortrag, Leipzig 1883; Beiträge zur Deszendenztheorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft, Leipzig 1886; Kritische Studien zur Aesthetik der Gegenwart, Wien 1897. 42 Unter den Autorinnen und Autoren dieser angekündigten Arbeiten finden sich interessante Persönlichkeiten: so beispielsweise der Staatsrechtslehrer Edmund Bernatzik; der Ökonom, Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftspolitiker Carl Grünberg (der sich im Jahr 1919 vorübergehend in Graz niedergelassen hat); Marianne Hainisch, die Mutter des Bundespräsidenten Michael Hainisch, die nach dem Ableben von Bertha von Suttner Leiterin des Bundes österreichischer Frauenvereine war; der Nationalökonom Emil Lederer, der in Heidelberg o.Prof. der Sozialpolitik und danach in Berlin o.Prof. der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft war – eine Stelle, welche übrigens auch der seit 1925 als o.Prof. der Finanzwissenschaft in Bonn tätige Joseph Schumpeter anstrebte; der Grazer Professor des Österreichischen Strafrechts und Strafprozeßrechts Adolph Lenz, welcher auch Vorstand des Kriminalistischen Instituts in Graz sowie Leiter der Kriminalbiologischen Station Wien war; Rosa Mayreder, die Gründerin des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins und nach dem Ersten Weltkrieg österreichische Vorsitzende der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit; der Neuzeithistoriker Hermann Oncken, welcher unter anderem in Giessen, Heidelberg und München tätig war; Nikolaus Rhodokanakis, der namhafte Grazer Professor der Semitischen Philologie; der o.Prof. der Moraltheologie, Minister, Obmann der Christlich-sozialen Partei, Bundeskanzler sowie Außenminister Ignaz Seipel; schließlich der seit 1919 als o.Prof. der Politischen Ökonomie und Gesellschaftslehre an der Universität Wien tätige Othmar Spann. Neben anderen waren auch von den beiden Mitherausgebern Hugo Spitzer und Ferdinand Tönnies noch Werke angekündigt.
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„Soziologischen Gesellschaft“ herausgegeben, in den Heften der Zweiten Reihe wird noch darauf hingewiesen, daß die Schriftenreihe durch diese Gesellschaft begründet wurde; nach dem danach erfolgten Wechsel vom Verlag Leuschner & Lubensky (Graz und Leipzig) zum Verlag C. L. Hirschfeld (Leipzig) unterblieb jedoch jede explizite Bezugnahme auf den Grazer Verein. Unverändert blieben aber durchgehend der Reihentitel und – ab Heft 4 der Ersten Reihe – die Art der Nennung der Herausgeber: „Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie. In Verbindung mit Joseph Schumpeter/Hugo Spitzer/Ferdinand Tönnies herausgegeben von Julius Bunzel.“ Im folgenden eine Auflistung der in den einzelnen Reihen erschienenen Titel: 1. Reihe (alle Werke sind bei Leuschner & Lubensky und, mit Ausnahme des letzten, in Graz und Leipzig erschienen): Ervin Szabó: Freihandel und Imperialismus, 1918; Ferdinand Tönnies: Menschheit und Volk, 1918; Karl Přibram: Die Grundgedanken der Wirtschaftspolitik der Zukunft, 1918; Joseph Alois Schumpeter: Die Krise des Steuerstaats, 1918; Maximilian Layer: Staatsformen unserer Zeit. Monarchien, Republiken, Bundesstaaten und Staatenbündnisse, 1919 (2., durchgesehene und ergänzte Aufl. 1923); Ernst Swoboda: Die Überwälzung der Hauserhaltungskosten auf die Mieter und der Mieterschutz. Darstellung und Kritik der bestehenden Vorschriften, Vorschläge für eine Reform und werktätige Hilfe, Graz 1921. 2. Reihe (bei Leuschner & Lubensky erschienen): Julius Bunzel: Der Zusammenbruch des Parlamentarismus u.[sic!] der Gedanke des ständischen Aufbaues, Graz-Leipzig 1923; Kurt Kaser: Der deutsche Ständestaat, GrazWien-Leipzig 1923; 3. Reihe (bei C. L. Hirschfeld in Leipzig erschienen): Oskar Kraus: Der Machtgedanke und die Friedensidee in der Philosophie der Engländer Bacon und Bentham, 1926; Ferdinand Tönnies: Wege zu dauerndem Frieden?, 1926; Karl Přibram: Die Probleme der internationalen Sozialpolitik, 1927; 4. Reihe (bei C. L. Hirschfeld in Leipzig erschienen): Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, 1931.43 Die Bandbreite der von den veröffentlichten Autoren vertretenen Fächer ist respektabel: sie reicht von der Philosophie und Kunsttheorie über rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen bis zur Geschichte. So war Oskar Kraus als ordentlicher Professor der Philosophie an der deutschen Universität in Prag tätig und war hier auch Leiter 43 Ein unveränderter Nachdruck dieser Ausgabe erschien mit einem Geleitwort von Alphons Silbermann im Jahr 1974 im Ferdinand Enke Verlag in Stuttgart.
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des Brentano-Archivs; Julius Bab war Schriftsteller sowie Theaterkritiker führender Berliner Zeitungen und wirkte als Dramaturg und Theaterdirektor in Königsberg bzw. Berlin, wo er auch als Dozent an der Schauspielschule des Deutschen Theaters unterrichtete; Ferdinand Tönnies nahm 1918, zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Abhandlung über Menschheit und Volk, aufgrund seines erstmals 1887 erschienenen Buches Gemeinschaft und Gesellschaft geradezu schon den Rang eines Klassikers der Soziologie ein und war auch der einzige unter den Autoren der Schriftenreihe, der während seiner universitären Tätigkeit explizit als Soziologe angesehen wurde; Maximilian Layer war als ordentlicher Professor an der Universität Graz als Staatsrechtslehrer und Verwaltungsjurist tätig, später an der Universität Wien, wo er 1933 aus politischen Gründen zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde; Ernst Swoboda, im Jahr 1919 in Graz für Allgemeines bürgerliches Recht habilitiert, hat unter anderem über Immanuel Kant sowie Franz Anton von Zeiller, den Schöpfer des ABGB, publiziert, ist 1924 an die Deutsche Universität Prag übersiedelt, wo er als Professor des Bürgerlichen Rechts wirkte; Joseph Schumpeter, obwohl formell als Professor für Politische Ökonomie bis 1921 in Diensten der Universität Graz, war bereits 1919 österreichischer Finanzminister, 1922 bis 1924 Präsident einer Privatbank in Wien, ehe er 1925 als ordentlicher Professor der Finanzwissenschaften an die Universität Bonn berufen wurde, von wo er 1932 einen Ruf an die Harvard University annahm; schließlich wirkte Kurt Kaser, 1899 an der Universität Wien für Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit habilitiert, nach Tätigkeiten in Graz und Czernowitz seit 1924 abermals in Graz an der Philosophischen Fakultät als Ordinarius für Allgemeine und Wirtschaftsgeschichte. Von besonderem Reiz ist die Tatsache, daß im Rahmen der Schriftenreihe Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie zwei der ganz großen Dogmenhistoriker der Volkswirtschaftslehre in Erscheinung traten: Joseph Schumpeter, dessen große History of Economic Analysis, ediert von seiner zweiten Frau Elizabeth Boody Schumpeter, im Jahr 1954 postum erschien, und Karl Přibram, dessen voluminöses Werk A History of Economic Reasoning – ebenfalls aus dem Nachlaß und leider unvollständig – von der Johns Hopkins University Press im Jahr 1983 herausgegeben wurde.44 Von Přibram ist bereits im Jahre 1912 das Buch Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie erschienen, ein Werk, das mit Schumpeters Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie aus dem Jahre 1908 die grundlegende Einstellung des „methodologischen Individualismus“ in der Sozial- und Wirtschaftsanalyse teilt.
44 In deutscher Übersetzung ist dieses Werk in zwei Bänden als Geschichte des ökonomischen Denkens erstmals 1992 und als Taschenbuchausgabe 1998 in Frankfurt a. M. erschienen.
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VII Die Gründung der drei soziologischen Vereinigungen in den deutschsprachigen Kernländern der Donaumonarchie, wovon hier die Rede war, fällt in eine Periode intensiv erfahrener geschichtlicher Veränderungen: einer Zeit neuer wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen, des Wandels der Arbeitsverhältnisse, der öffentlichen Bildung, der allgemeinen Moral, aber auch der demographischen Gegebenheiten – und letzteres sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszunahme, als auch jener Formen von Migration, die verschiedentlich zu Konflikten zwischen den sozial und kulturell heterogenen Bevölkerungsgruppen führten. Es handelte sich also um einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft insgesamt, der sich hier vollzog und für den aufgrund der geographischen Lage der deutsch-österreichischen Teile des alten Reiches auch besondere Merkmale kennzeichnend waren. Wien als ein Ort der Amalgamierung und Konfrontation unterschiedlicher Sprachen, Religionen und ethnisch-kultureller Gruppierungen war zweifellos in der alten Monarchie jener Ort, wo sich wie in einem Experimentallabor soziale Strukturen und Prozesse am besten veranschaulichen und analysieren ließen. In dieser Hinsicht konnte es keine Stadt oder Region mit der Reichshaupt- und Residenzstadt aufnehmen – gewiß nicht Graz, am ehesten wohl noch die Stadt mit der ältesten deutschen Universität, Prag. In Wien waren die verschiedenen sozialen Schichten der Aristokratie, des Bürgertums und der Arbeiterschaft – unter ihnen zahlreiche proletarisierte Bauern – gleichermaßen präsent wie die Angehörigen der zentralen bürokratischen Einrichtungen des Heeres, der Beamtenschaft und der Kirche. Entsprechend sichtbar waren auch die Institutionen und Exponenten der politischen Bewegungen der Zeit: die Hauptquartiere und die Führer der großen Parteien der Christlichsozialen, der Sozialdemokraten und der Liberalen in ihren verschiedenen Schattierungen. In gewissem Umfange scheint es im Unterschied zu den Wiener Verhältnissen die provinzielle Abgeschiedenheit von Graz – trotz all ihrer Nachteile für einen kontaktfreudigen Geist – gewesen zu sein, welche es Gumplowicz gestattete, gleichsam aus der Distanz die konfliktreichen Beziehungen der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen zu analysieren. Anders als viele Sozialwissenschaftler vor ihm, also ganz im Unterschied etwa zu Auguste Comte oder Karl Marx, hatte Gumplowicz keine Geschichtstheorie, welche ein bestimmtes Ziel oder einen definitiven Verlauf der Geschichte vorgezeichnet hätte. Er hatte sich im Laufe seines Lebens von seiner ihn ursprünglich leitenden Utopie der Realisierbarkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft losgesagt, war aber der Überzeugung, daß eine Kontrolle und Zähmung der Macht möglich sei – Regressionen aber leider auch. Und so teilte Gumplowicz die Ansicht antiker Autoren, daß sich in der Geschichte keine bestimmte Richtung ausmachen läßt, daß
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es sich bei all diesen Änderungen, von denen wir täglich erfahren und die wir erleben, nur um Variationen eines Immergleichen handelt. Der von ihm konstatierte Wandel hatte somit etwas eigentümlich Redundantes an sich, was ihm von Kritikern immer wieder als Geschichtspessimismus ausgelegt wurde. Seine Ansicht über die invarianten und immer wiederkehrenden Grundkonfigurationen allen Geschehens – Solidarität und Konflikt, Ordnung und Anarchie, Anpassung und Widerstand – war nur eine von mehreren Antworten auf jene Fragen, die sich den mit dem Problem des historischen Wandels Konfrontierten stellten. Aber war diese Antwort, die ja eher die eines Geschichtsphilosophen als die eines Soziologen war, hinreichend realitätshaltig? Im Rückblick auf das Schicksal der Donaumonarchie scheint sie aus heutiger Sicht eine sehr realistische gewesen zu sein: Um 1900 stand Europa auf dem Gipfel seiner Weltgeltung, und in der Donaumonarchie überstrahlten spätfeudale Repräsentation und künstlerisch-wissenschaftliche Glanzleistungen ihre ethnisch-kulturelle Heterogenität und die sozialen Probleme. Zwei Dezennien später war das Habsburgerreich zerschlagen, die Monarchie beseitigt und das amerikanische Jahrhundert hatte begonnen.
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Gerald Mozetič Ludwig Gumplowicz – ein Grazer Pionier der Soziologie I. Ein Krakauer Jurist habilitiert sich an der Universität Graz und macht Karriere – II. Kritik der Jurisprudenz und Hinwendung zur Soziologie – III. Die Soziologie – das Programm einer neuen Wissenschaft – IV. Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte – V. Literatur
I. Ein Krakauer Jurist habilitiert sich an der Universität Graz und macht Karriere Im September 1875 trafen sich die „deutschen Naturforscher und Ärzte“ in Graz zu ihrer 48. Versammlung. Einer der Vorträge, die dabei in der „Section für anthropologische und urgeschichtliche Forschung“ gehalten wurden, trug den Titel: „Über das Naturgesetz der Staatenbildung“, und der Redner war weder ein Arzt noch ein Naturforscher im engeren Sinne oder heutigen Verständnis, sondern ein 37jähriger Jurist, der aus Krakau stammte und erst kurz davor nach Graz übersiedelt war, um sich einer wissenschaftlichen Laufbahn zuzuwenden. Schon wenige Monate nach diesem Vortrag, im Februar 1876, reichte Ludwig Gumplowicz, von dem hier die Rede ist, ein Habilitationsgesuch für Rechts- und Staatsphilosophie an der k. k. Karl-Franzens-Universität Graz ein. Doch die Habilitationsschrift „Robert von Mohl als Rechts- und Staatsphilosoph“ wurde vom Gutachter, Prof. Franz Weiß, einem dezidierten Anhänger des Naturrechts, nicht günstig beurteilt, Gumplowicz’ Antrag vom Professorenkollegium der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät abgelehnt. (Das war für den angehenden Gelehrten keine neue Erfahrung: 1868 war er mit einem Habilitationsgesuch für allgemeine Rechtsgeschichte an der Universität Krakau gescheitert.) Davon offenbar schon vorzeitig in Kenntnis gesetzt, stellte Gumplowicz ein modifiziertes Ansuchen um eine venia legendi für „Allgemeines Staatsrecht“. Obwohl seine wissenschaftliche Qualifikation auch mit Bezug darauf nicht unbestritten blieb, wurde ihm nun (mit Stimmenmehrheit, also nicht einstimmig) die Lehrbefugnis erteilt, und im Dezember 1876 bestätigte das Ministerium für Cultus und Unterricht die Zulassung von Gumplowicz als Privatdozent für allgemeines Staatsrecht. 1878 wurde die venia auf „Österreichisches Staatsrecht“ erweitert, 1879 auf „Allgemeine und österreichische Statistik“. 1883 erreichte Gumplowicz die Position eines Extraordinarius, und als Krönung seiner akademischen Laufbahn erfolgte 1893 die Ernennung zum ordentlichen Professor der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechtes (als der er bis zu seiner Emeritierung 1908 wirkte).
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II. Kritik der Jurisprudenz und Hinwendung zur Soziologie Wer war nun dieser Ludwig Gumplowicz, und worin liegt seine wissenschaftliche Bedeutung? Die erwähnten Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere verweisen auf die Jurisprudenz. In der scientific community wurde Gumplowicz aber vor allem als Soziologe bekannt, der sich vehement für die Eigenständigkeit und akademische Anerkennung dieses neuen Faches Soziologie einsetzte und beanspruchte, dessen Wissenschaftsfähigkeit überzeugend nachgewiesen zu haben. Wie es für Wissenschaftspioniere nicht unüblich ist, entwarf Gumplowicz ein eigenes Programm, mit dem er eine singuläre Position bezog, weil er zwar (mit vielen anderen) die wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen des Positivismus teilte, nicht aber dessen Fortschrittsgläubigkeit. Die Soziologie ist von ihm als notwendige Überwindung der juristischen Staats- und Gesellschaftsauffassung propagiert worden, und das hat ihm in der Jurisprudenz viel Kritik und auch Spott eingetragen. Durch diese Konfliktsituation ist sein Verhältnis zur Grazer Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät permanent belastet gewesen. Betrachtet man Gumplowicz’ Krakauer Zeit,1 so deutet schon früh alles auf eine juristische Laufbahn hin. Gumplowicz – geboren 1838 und aufgewachsen im jüdischen Viertel Kazimierz – studierte ab 1857 in Krakau2 (und für einige Zeit auch in Wien) Rechtswissenschaften und schloß das Studium 1862 mit der Promotion zum Dr. jur. ab. Es folgen juristische Praxisjahre (Anwalt und Notariat). 1868 will sich Gumplowicz, wie bereits erwähnt, an der Universität Krakau für Allgemeine Rechtsgeschichte habilitieren, scheitert aber – seine Arbeiten werden als zu wenig wissenschaftlich betrachtet. Ein Rekurs gegen diese Entscheidung beim k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien bleibt erfolglos. 1870–73 tritt Gumplowicz als Redakteur und Verleger der in Krakau erscheinenden Tageszeitung Kraj (Das Land) öffentlich in Erscheinung, die sich als demokratische und liberale Stimme gegen den dominierenden klerikalen Konservatismus wendet, aber 1874 eingestellt werden muß.3 Er ist zu dieser Zeit auch als Anwalt tätig, und von 1873–1875 gehört er dem Gemeinderat von Krakau an. Daß er 1875 Krakau verläßt, ist auf die Enttäuschung zurückzuführen, sowohl mit seinen wissenschaftlichen als auch seinen politischen Ambitionen gescheitert zu sein. Daß er nach Graz kommt, um hier ein neues Leben zu beginnen, hängt mit biographischen Zufälligkeiten zusammen.4 1 Eine Zusammenfassung der Krakauer Zeit von Gumplowicz gibt PRAGŁOWSKI 1990. 2 Krakau war zur Zeit der Geburt von Ludwig Gumplowicz, 1838, formell eine „Freie Stadt“ und wurde nach dem Aufstand von1846 dem Kronland Galizien der Österreichisch-Ungarischen Monarchie einverleibt. Vgl. zur Stadtgeschichte unter österreichischer Herrschaft PURCHLA 1993. 3 Zum „Kraj“ vgl. KOZIŃSKA-WITT 1993, die insbesondere die Artikel der Zeitung zur Lage der Juden in Krakau ausgewertet hat.
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Da die Habilitation in Graz gelingt, stürzt sich der Privatdozent Gumplowicz auf sein neues Arbeitsfeld; er hält im Sommersemester 1877 seine erste Vorlesung (über „Allgemeines Staatsrecht“) und innerhalb weniger Jahre veröffentlicht er zahlreiche juristische Schriften, die im Wesentlichen dem Zweck dienen, seine Position innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zu verbessern: 1877 erscheint sein Philosophisches Staatsrecht, 1879 Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn, 1881 Rechtsstaat und Socialismus, 1882 die Verwaltungslehre mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Verwaltungsrechts. Als Privatdozent hat Gumplowicz keine beamtete Stelle an der Universität; daß seine finanzielle Situation über Jahre prekär ist, kann man aus seinen mehrfachen Ansuchen ableiten, ihm Subventionen zu gewähren, die er dringend nötig habe, um seine Familie (er hat mit seiner Frau drei Kinder) ernähren zu können.5 Erst mit der Ernennung zum Extraordinarius 1883 verfügt Gumplowicz, mittlerweile bereits 45 Jahre alt, über ein fixes Einkommen. Und nun publiziert er jene Schriften, durch die er zu einem der Wegbereiter der Soziologie wurde: 1883 erscheint Der Rassenkampf. Sociologische Untersuchungen,6 1885 Grundriß der Sociologie. Daß Gumplowicz in der Zeit danach ungeduldig auf eine institutionelle Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen wartet, kann aus einer äußerst ungewöhnlichen Aktion abgeleitet werden: Im Frühjahr 1889 richtet er an das zuständige Cultusministerium ein Schreiben, in dem er um die Beförderung zum Ordinarius ersucht.7 Aber erst 1893 wird Gumplowicz ad personam zum ordentlichen Professor der Verwaltungslehre und des österreichischen Verwaltungsrechts ernannt.8 4 Daß die Wahl auf Graz fällt, ist vermutlich auf seinen ehemaligen Krakauer Lehrer Gustav Demelius zurückzuführen, der über Prag nach Graz gekommen war, wo er 1875/76 als Rektor der Universität amtierte. 5 Detailliert ist das alles nachzulesen bei WEILER 2001. – Bernd Weiler hat als Hauptmitarbeiter meines Gumplowicz-Forschungsprojekts (1999–2000 vom Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung ermöglicht) und auch in den Jahren danach mit der ihm eigenen Genauigkeit und Sachkenntnis viele Quellen erschlossen und wissenssoziologisch aufgearbeitet. Mitten in den Vorbereitungen zu einem Gumplowicz-Materialienband, den wir gemeinsam herausgeben wollten, ist Bernd Weiler am 31. März 2006 plötzlich gestorben. Zumindest eine Andeutung seiner ungewöhnlichen Persönlichkeit hoffe ich in meinem Nachruf „In memoriam Bernd Weiler (1971–2006)“ gegeben zu haben, erschienen in: Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 35, 3 (2006), S. 379–381. 6 Aus heutiger Sicht irritiert ein derartiger Titel, und die Verwendung des Terminus „Rassenkampf“ hat auch wesentlich dazu beigetragen, daß Gumplowicz in vielen Darstellungen als Sozialdarwinist und Vertreter einer biologischen Rassenlehre charakterisiert wurde. Aber die Sachlage ist keineswegs so einfach. Vom Biologismus distanzierte sich der Grazer Soziologe explizit; er sprach allerdings häufig weiterhin von Rassen, wenn er soziale Gruppen meinte, die sich durch ein starkes Wir-Gefühl von anderen Gruppen abgrenzen. Vgl. dazu schon meine frühen Klarstellungen in MOZETIĆ 1985a, S. 199. 7 Dieses Schreiben ist nachzulesen in WEILER 2004, S. 11–13. – Der Brief ist von Bernd Weiler gefunden und zugänglich gemacht worden – was eines von vielen Indizien dafür ist, daß die Gumplowicz-Forschung der jüngeren Zeit Weiler die größten Erkenntnisfortschritte zu verdanken hat. 8 Die Unsicherheit der Stellung eines Privatdozenten teilte Gumplowicz mit vielen anderen, weil das damalige Wissenschaftssystem eine fixe Besoldung nur für Professoren vorsah. Ungewöhnlich war das relativ hohe Alter, in dem er sich auf diese Unsicherheit einließ – es war durchaus üblich, schon kurze Zeit nach der Promotion
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Sein juristisches Nominalfach legt es nahe, zur Erkundung seiner Positionierung in einem Standardwerk zur Geschichte des öffentlichen Rechts nachzuschlagen, und tatsächlich wird man im 2. Band von Michael Stolleis’ gleichnamiger Darstellung auch fündig, in dem die Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft von 1800–1914 behandelt wird. Doch wie Gumplowicz da rubriziert wird, ist schon bezeichnend und entspricht der Etikettierung innerhalb der juristischen Zunft seiner Zeit: als „Außenseiter“ (neben Gustav Ratzenhofer, Anton Menger und Franz Oppenheimer). Als Vertreter einer „realistischen Staatsauffassung“ kritisierte Gumplowicz die vorherrschende juristische Denkweise, denn – so drückte er sich einmal in einer für seinen polemischen Schreibstil überaus charakteristischen Wendung aus – den Staat juristisch zu „konstruieren“ sei „ungefähr dasselbe […], als wenn man eine Beethoven’sche Sonate mit Löffeln essen wollte“ (Gumplowicz 1907, S. 450). Gumplowicz gerät in einen so starken Gegensatz zu den juristischen Kollegen, weil sein Wissenschaftsverständnis völlig vom Positivismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts geprägt ist. „Es ist nun klar“, schreibt Gumplowicz (1877, S. 3), „daß es nur einen richtigen Begriff der Wissenschaft geben kann. Es ist nicht möglich, daß der Naturforscher einen andern Begriff von Wissenschaft habe und der Staatslehrer und Jurist einen andern. […] Entweder – oder! Entweder sind die ,geistigen‘, ,moralischen‘ Wissenschaften ebenso gut ,Wissenschaft‘ wie die ,exacten‘ oder ,realen‘ – oder sie sind keine Wissenschaft.“ Daß sie eine Wissenschaft sein können, weil soziale Gesetzmäßigkeiten in Gesellschaft und Geschichte nachweisbar sind, wird zur von Gumplowicz immer wieder verkündeten Grundbotschaft seines Werkes. Das impliziert nun aber: „Die Staatswissenschaft ist keine juristische Disziplin: sie ist eine reine Naturwissenschaft, die sich auf dem Gebiete der sozialen Erscheinungen bewegt. Denn der Staat ist ein Naturprozeß.“ (Gumplowicz 1910, S. 35) So kommt Gumplowicz zum Schluß, daß „die Lehre vom Staate ein integrierender Bestandteil der Sociologie ist“ (Gumplowicz 1892, S. 76). Mit dieser Zuspitzung, daß die Staatswissenschaft eine „reine Naturwissenschaft“ ist, ging er freilich weiter, als selbst der Soziologie nicht grundsätzlich abgeneigte Juristen damals zuzugestehen bereit waren. Ganz singulär ist seine Position dennoch nicht – zumindest eine Verbindung zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaften wurde in Österreich schon in den 1870er Jahren ernsthaft erwogen. So hatte etwa Friedrich Kleinwächter, der Czernowitzer Professor der Staatswissenschaften, 1876 in einer Bestandsaufnahme der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten in Österreich durchaus eingeräumt, die „Sociologie“ hätte „die Grundlage der sämmtlichen Staatswissenschaften, eventuell auch der Rechtswissenschaft zu bilden“, und dadurch würde sich der „sehr schwer in die die Habilitation anzustreben. Vgl. zur Stellung des Privatdozenten und zur akademischen Karriere in jener Zeit SCHMEISER 1994 (der sich mit den Verhältnissen in Deutschland befaßt; das Allermeiste davon ist auch auf Österreich übertragbar).
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Wagschale fallende Vortheil ergeben, daß die Juristen naturwissenschaftlich denken lernen würden“ (Kleinwächter 1876, S.50). Und: „In der Sociologie […] ist die Brücke gefunden, welche von den modernen Naturwissenschaften herüber zu den Rechts- und Staatswissenschaften führt.“ (Ebd., S.50f.) Kleinwächter übernimmt hier das damals gängige Verständnis von Soziologie als einer positivistisch-naturalistischen Wissenschaft. Um ein lebendiges Bild von den wissenschaftlichen Kämpfen zu vermitteln, die Gumplowicz mit seinen juristischen Zunftgenossen ausfocht, seien ein paar Zitate angeführt. In einer Rezension von Gumplowicz’ 1891 veröffentlichter Schrift „Das österreichische Staatsrecht“ kommt der bekannte Staatsrechtstheoretiker Edmund Bernatzik – kurze Zeit sein Kollege in Graz und einer seiner heftigsten Widersacher – zu folgendem Urteil: „Zu einer Darstellung des österreichischen Staatsrechts haben offenbar die Vorstudien des Verfassers nicht ausgereicht. Auch hätte er zu diesem Behufe wohl unausweichlich Jurist – werden müssen, und das ist allerdings gegenüber dem Verfasser, der nicht müde wird, uns seiner Verachtung der Jurisprudenz zu versichern, etwas viel verlangt.“ (Bernatzik 1892, S.781) 9 Wie wenig Gumplowicz von der Jurisprudenz seiner Zeit hielt, kann der folgenden Stelle entnommen werden: An den österreichischen (und wohl auch an den deutschen?) Universitäten besteht eine Rangordnung der Fakultäten, wonach die theologische den ersten Platz einnimmt, die juristische den zweiten, die medizinische den dritten und die philosophische den letzten. Ein philosophischer Witzbold erklärte einmal den Sinn dieser Rangordnung so, daß dieselbe eine Art photometrische Skala darstelle. Ganz oben nämlich, bei den Theologen herrsche vollkommene Finsterniss, bei den Juristen sei es noch sehr dunkel in den Köpfen, bei den Medizinern fange es an etwas heller zu werden, vollkommen hell würde es aber erst bei den Philosophen. Diese Erklärung entbehrt nicht der Wahrheit. Eines ist sicher: die Juristen stehen den Theologen noch sehr nahe; ihre Lehren beruhen vielfach noch auf Dogmen und halten einer wissenschaftlichen Kritik nicht Stand. (Gumplowicz 1896, S.16)
Fakultäten wie die, der er selbst angehörte, nannte er einmal die „rechts- und staatsunwissenschaftlichen Fakultäten“ (Gumplowicz 1903, S.337), und da diese untauglich für die Pflege der Staatswissenschaften seien, werde „wohl nichts anderes übrig bleiben, als besondere selbständige Fakultäten dafür zu errichten“ (Gumplowicz 1907, S.455). Eines dürfte nach diesen wenigen Hinweisen schon einleuchtend sein: als Jurist wollten oder konnten Gumplowicz viele seiner Kollegen gar nicht recht ernst nehmen, und seine juristischen Schriften sichern ihm keinen Podestplatz in der Wissenschaftsgeschichte. Angesichts der überaus negativen Urteile über sein juristisches Werk und sein 9 Die lange und heftige Kontroverse mit Bernatzik ist genauer beschrieben in WEILER 2004, S. 15–20.
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Staatsverständnis – die polemische Rezension von Bernatzik (1892, S. 769–772) gipfelt in der Unterstellung, Gumplowicz’ Auffassung vom Staat unterscheide sich nicht von der der Anarchisten – erscheint es sogar erstaunlich, daß seine akademische Karriere schließlich doch zu einem Ordinariat führte.10
III. Die Soziologie – das Programm einer neuen Wissenschaft Gumplowicz wurde zu einem der so genannten „Klassiker“ der Soziologie, genauer wäre es vielleicht, ihn als einen „Vorklassiker“ der Pionierphase des Faches zu bezeichnen. Diese Unterscheidung verweist auf die wirkungsgeschichtliche Bedeutung: Klassiker im engeren Sinne werden jene Soziologen genannt, die durch ihr Werk so nachhaltige, prägende und lang andauernde Wirkung zu entfalten vermochten, daß noch die heutige Soziologie ihnen wesentliche Einsichten, Denkmuster und Perspektiven verdankt.11 Demgegenüber ist Gumplowicz zu einer rein historischen Figur der Soziologiegeschichte geworden. Dies bedeutet, daß zwar einige allgemeine Aspekte seines soziologischen Programms auch heute noch nicht überholt erscheinen – etwa die Zentrierung der Analyse auf soziale Gruppenbeziehungen und Konfliktpotentiale –, doch dessen methodische Umsetzung enthält keine innovativen Komponenten, auf die zu rekurrieren immer noch Sinn macht oder gar unverzichtbar wäre. Gumplowicz begründete kein spezifisches Paradigma, sein Werk und dessen Entstehungsbedingungen zu studieren, ist vor allem aus wissens- und wissenschaftssoziologischer Perspektive lohnend. Die Entwicklung der Wissenschaften ist nicht auf die Genialität einzelner Personen und das Prinzip des Erkenntnisfortschritts zu reduzieren; der faktische Verlauf ist das Resultat unterschiedlichster Strömungen und Tendenzen, Widerstände und Zufälligkeiten, und die nur teilweise gelungenen Anläufe gehören ebenso dazu wie illusorische Vorstellungen und Fehlschläge. Wissenschaftsgeschichte als eine reine Erfolgsgeschichte schreiben zu wollen, verrät die Akzeptanz eines rationalistischen Vorurteils. Gumplowicz war in gewisser Hinsicht durchaus erfolgreich – was aber nichts daran ändert, daß sein Denkhorizont auch deutliche Limitationen aufweist. Einiges dazu wird hoffentlich durch die weiteren Ausführungen kenntlich gemacht werden können. 10 Auch mit Bezug auf diese Frage – die Position von Gumplowicz innerhalb der Jurisprudenz – kann wieder auf die genauen Analysen von WEILER 2004 verwiesen werden, die das von Gumplowicz gepflegte Selbstbild des Außenseiters relativieren. 11 Aus meiner Sicht wären dies Karl Marx, Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber. Aber natürlich könnte man jetzt zu diskutieren beginnen, – etwa daß Marx sich selbst nicht als Soziologe verstand, daß Simmels Analysen lange Zeit in der Soziologie nicht sehr intensiv rezipiert wurden und so weiter. Es ist hier nicht der Ort, das alles näher auszuführen – daher soll diese Anmerkung nur den Zweck erfüllen, nicht den Eindruck eines zu glatten Bildes aufkommen zu lassen.
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Bei der Darstellung der Soziologie von Gumplowicz den engen Zusammenhang mit oder, genauer gesagt, die Abwendung von der Jurisprudenz zu betonen, trägt einerseits den wissenschaftsgeschichtlichen Fakten Rechnung, soll andererseits aber auch daran erinnern, in welchem Ausdifferenzierungsprozeß die neue Wissenschaft der Soziologie im 19. Jahrhundert entstand. Eine neue, eine junge Wissenschaft kann nur erfolgreich sein, wenn sie eine überzeugende, plausible Demarkationslinie zu anderen Fächern zu ziehen vermag. Gumplowicz überträgt das naturwissenschaftliche Erkenntnismodell mit aller monistischen Radikalität auf die Analyse der Gesellschaft. Soziologie ist für ihn nicht die Fortsetzung sozial- und geschichtsphilosophischer Ideen, sondern eine empirische Wissenschaft, die induktiv vorgeht und nach Gesetzmäßigkeiten in ihrem Objektbereich sucht. „Ohne sociale Gesetze keine Socialwissenschaft“, formuliert er 1885 dieses Credo in seinem Grundriß der Sociologie (Gumplowicz 1885, S. 57) – in der 2. Auflage dieser Schrift, 1905, heißt es an dieser Stelle: „Ohne soziale Gesetze keine Soziologie.“ (Gumplowicz 1905, S. 103) Innerhalb des naturalistischen Monismus seiner Zeit nimmt er aber mit der Kritik eine Sonderstellung ein, das Soziale finde „auch in der modernsten Naturphilosophie [gemeint ist hier unter anderem Ernst Haeckel] kaum eine flüchtige Erwähnung, geschweige denn eine Erklärung“ (Gumplowicz 1910, S. 5). Das Soziale lasse sich weder auf Psychisches noch auf Organisches zurückführen oder gar reduzieren, es bilde eine irreduzible Ebene, zu deren Erforschung es einer eigenen Wissenschaft bedürfe, eben der Soziologie. Wenn man nun argumentiert, es ginge doch um die Erklärung menschlicher Handlungen, und damit um etwas Individuelles, das nur durch die Bezugnahme auf Psychisches erfaßbar sei, so verletzt man nach Gumplowicz damit ein grundlegendes Prinzip des Empirismus: Die Absichten und Motive, der „subjektive Sinn“, wie wir heute sagen würden, seien keiner Wissenschaft zugänglich, motivationale Zuschreibungen grundsätzlich nicht überprüfbar und damit keine empirischen Fakten. Außerdem, so Gumplowicz in der Begründung seiner Ablehnung des „methodologischen Individualismus“ (dieser Terminus stammt von Joseph Schumpeter, dem zweiten großen Sozialwissenschaftler, der in Graz wirkte), könne man bei der Analyse individueller Handlungen die Annahme der Willensfreiheit kaum vermeiden – und diese sei doch eine nicht akzeptable metaphysische Doktrin. Wenn es also mit der menschlichen Freiheit keine Naturgeschichte der Menschheit geben kann, wenn mit dem Individuum als unfreiem Wesen nicht operiert werden kann (sei es auch nur aus Unzulänglichkeit unserer geistigen Erkenntnismittel): gibt es dann noch, und welche sind feste Elemente in der Geschichte der Menschheit, auf die man rechnen kann; die stets und unfehlbar jenen „ewigen, ehernen Gesetzen“ folgen, unfehlbar und unabweichbar? (Gumplowicz 1926c, S. 36)
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Die Antwort darauf enthält die grundlegende ontologische Position der Soziologie von Gumplowicz: Auf diese Frage antworten wir mit einem entschiedenen Ja! Es gibt solche feste Elemente auf dem Gebiete der Geschichte der Menschheit, die genau berechenbar sind; die der Wissenschaft als Substrate und Subjekte objektiver und exakter Beobachtung und Forschung dienen können, und deren Entwicklung und Bewegung eben solchen festen Gesetzen unterliegt, wie der Lauf der Planeten oder die Entwicklung der Organismen. Diese Elemente sind die verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen, aus denen die Menschheit besteht. (Ebd.)
Die Gesetzmäßigkeiten, die die Wissenschaftlichkeit der Soziologie garantieren, beziehen sich daher auf soziale Gruppen, welche für Gumplowicz die grundlegenden Einheiten soziologischer Analyse darstellen. Weder das isolierte Individuum noch „die“ Gesellschaft, sondern die Gruppe steht im Zentrum der Soziologie. Zwar sehen wir in der sozialen Wirklichkeit überall handelnde Menschen, aber „das individuelle Handeln ist nur eine optische Täuschung; das Individuum ist nur ein Bestandteil der Gruppe“, es drückt stets „nur die Anschauungen, Gesinnungen und Tendenzen seiner Gruppe aus“ (Gumplowicz 1902, S. 205). In zugespitztester Form heißt es bei Gumplowicz einmal (1928, S. 192): „Auf dem Altar ihrer Erkenntnis opfert die Soziologie – den Menschen“, der Mensch „sinkt in der Soziologie zu einer bedeutungslosen Null herab.“ Daß Gumplowicz mit diesem Anti-Individualismus auf heftige Kritik stoßen mußte, dürfte nicht verwundern. Beispielsweise bestreitet er damit das zentrale juristische Axiom der Zurechnungsfähigkeit des Menschen, und er scheut denn auch nicht davor zurück, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: In einem Aufsatz aus dem Jahre 1897 schildert er in einer Zukunftsvision eine Gerichtsverhandlung im 25. Jahrhundert, in der die beigezogenen Gerichtssoziologen den Nachweis führen, daß die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat nichts anderes ist als das Resultat der Wirkung sozialer Bedingungen. Die praktischen Konsequenzen dieser wissenschaftlichen Einsicht in die naturgesetzliche Notwendigkeit von Handlungen sind gewaltig: Es „wird die große Umwerthung aller moralischen Werte beginnen, denn Schuld und Verdienst wird aus dem Konto des Individuums schwinden und wird auf das Konto der Gesellschaft gesetzt werden“ (Gumplowicz 1897, S. 107). Der Täter wird daher einem „Hilfsverein“ zur Überwachung überantwortet (Gumplowicz greift hier Vorstellungen auf, die sein Grazer Kollege Julius Vargha in der Schrift Die Abschaffung der Strafknechtschaft entwickelt hatte). Wichtiger noch im Sinne einer Prävention ist die andere Verfügung, die das Hohe Gericht trifft: Die zuständigen staatlichen Stellen müssen darauf aufmerksam gemacht werden, daß es zur Vermeidung weiterer gleichartiger krimineller Handlungen geboten erscheint, die diese auslösenden sozialen Umstände zu beseitigen.
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Optimistisch sein kann Gumplowicz freilich bestenfalls für die ferne Zukunft des 25. Jahrhunderts, denn allen zeitgenössischen Programmen des gesellschaftlichen Fortschritts und Reformismus (vom Sozialismus bis zum Pazifismus) erteilt er eine klare Absage – und so wurde er sogar vielfach als ein essentiell pessimistischer Denker bezeichnet. Doch gehen wir nun zur genaueren Beschreibung der sozialen Gruppe über und damit zum Kern der Soziologie von Ludwig Gumplowicz. Die Gruppe prägt das Individuum durch „sociale Suggestion“, die alle Lebensbereiche erfaßt: Gedanken und Gefühle, Ästhetik und Ethik, mithin alles, „was wir sind“, aber auch alles, „was wir thun“ (Gumplowicz 1902, S. 211). In entwickelten Gesellschaften ist jedes Individuum Mitglied mehrerer Gruppen (wie bei Georg Simmels Konzept der Kreuzung sozialer Kreise), die alle auf es einwirken. Gumplowicz nimmt übrigens keine Spezifikationen bezüglich der Gruppengröße vor, seine Annahmen beziehen sich auf Kleingruppen wie Familien ebenso wie auf so große wie Stände und soziale Klassen, ja sogar auf Völker und Nationen. (Dies ist besonders zu betonen, weil für uns Heutige die Rede von einer Gruppe „Staat“ befremdlich klingt.) Soziale Gruppen werden im Wesentlichen von drei sozialen Gesetzen beherrscht, vom Syngenismus, vom Selbsterhaltungstrieb und vom Streben nach Besserung der Lebenslage. Unter Syngenismus ist das Gruppen eigene solidarische Zusammengehörigkeitsgefühl, also das „Wir“-Gefühl zu verstehen. Historisch denkt Gumplowicz dabei zunächst an Gesellschaften ohne Staat, an Stämme, Horden oder „Rassen“. Seine Verwendung des „Rasse“-Begriffs hat zu viel Kritik und Mißverständnissen Anlaß gegeben. Aber nur in seinen frühesten Werken, im erwähnten Vortrag „Über das Naturgesetz der Staatenbildung“ und in der ebenfalls 1875 erschienenen Broschüre Raçe und Staat konzipiert Gumplowicz Rasse in einem anthropologisch-biologischen Sinne. Davon distanziert er sich bereits 1883 in seinem ersten großen Werk zur Soziologie, das freilich noch den Titel Der Rassenkampf trägt (und den Untertitel Sociologische Untersuchungen). Es sind „ethnisch heterogene Gruppen“, die er als Rassen bezeichnet, und ihre Heterogenität ist in der gesamten „historischen“ Zeit eine der sozialen Differenzierung. Dem Syngenismus im Inneren korrespondiert eine Gegnerschaft zu anderen sozialen Gruppen. Treffen zwei ethnisch heterogene Gruppen aufeinander, ist Kampf, Auseinandersetzung die unvermeidliche Folge. Für sich allein ist eine soziale Gruppe etwas Statisches, das Soziale ist also nicht so sehr in der Gruppe zu finden, als vielmehr im Verhältnis zwischen Gruppen. Gumplowicz rekonstruiert den geschichtlichen Ablauf als eine einzige Abfolge von Gruppenkonflikten, und er wird so auch zu einem der Begründer des konflikttheoretischen Ansatzes in der Soziologie (vgl. Acham 1995) und zum Begründer einer soziologischen Staatstheorie. Als Grundlage für eine wahrhaft wissenschaftliche Staatstheorie kommt natürlich nur der „Gruppismus“ in Betracht. Für den Ausgangspunkt der Entstehung des Staates
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verficht Gumplowicz die These des Polygenismus, das heißt daß eine Vielzahl von kleineren menschlichen Gruppen isoliert nebeneinander lebt. Die Frage nach dem Ursprung dieser Gruppen scheint ihm eine mit wissenschaftlichen Mitteln nicht beantwortbare zu sein, sicher ist er sich jedoch, daß erst das Aufeinandertreffen dieser Gruppen (Stämme, Horden) den historischen Prozeß in Gang setzt. Inter-Gruppen-Beziehungen sind immer konflikthafte, und in diesen kriegerischen Auseinandersetzungen kommt dann der Augenblick, wo nicht nur Tod des Gegners und Beutemachen das Ziel sind, sondern wo auch die unterlegene Gruppe versklavt wird und für die Sieger zu arbeiten hat. Indem sozial oder ethnisch heterogene Gruppen nach dem Kampfe eine neue Einheit in der Weise bilden, daß die siegreiche Gruppe die unterlegene beherrscht, ist nach Gumplowicz die erste Form eines rudimentären Staates entstanden. Und wie dieser erste Staat ist jeder andere Staat auch auf Beherrschung und Gewalt gebaut. „Jedes mächtigere ethnische oder soziale Element strebt darnach, das in seinem Machtbereich befindliche oder dahin gelangende schwächere Element seinen Zwecken dienstbar zu machen.“ (Gumplowicz 1926c, S. 154) Wie Gumplowicz meint, ist dieses soziale Naturgesetz der „Schlüssel zur Lösung des ganzen Rätsels des Naturprozesses der menschlichen Geschichte“, dem eine „vollkommene, fast mathematische Sicherheit und Allgemeinheit gar nicht abgesprochen werden kann“ (ebd.). Mit dieser frühen, ersten Entwicklung des Staates ist das Fundament für alle weiteren Entwicklungen gelegt, die hier nur mehr angedeutet werden können: Zu den aus dem Gruppenkampf hervorgegangenen zwei Hauptklassen innerhalb des Staates tritt eine dritte, die in den Kampf nicht verwickelt war, aber jetzt, da die Bedürfnisse der nun Herrschenden sich steigern, ein reiches Betätigungsfeld findet – Handwerker und Händler, die eine Mittelklasse bilden. Die Ordnung der Ungleichheit, die entstanden ist, führt zu immer ausgeprägterer Arbeitsteilung, und auf der Dienstbarmachung fremder Leistungen beruht die Möglichkeit kultureller Entfaltung und zivilisatorischen Fortschritts, welche zunächst allerdings nur den Herrschenden zugute kommen. Die Ordnung der Ungleichheit erhält aber auch ihre Legitimation: sie wird durch ein Recht zementiert, und so wie jeder Staat auf Gewalt beruht, so ist jedes Recht Ausdruck der Ungleichheit im Staate. Der Kampf der Gruppen ist damit allerdings nicht erloschen, sondern wird auf anderer Ebene fortgesetzt. Wir müssen uns den „Entwicklungsgang der Menschheit als einen ewigen Verschmelzungs- und Amalgamierungsprozeß ursprünglich heterogener Elemente“ vorstellen (Gumplowicz 1926c, S. 185); nach Gumplowicz zeigt die Geschichte keine Differenzierung des Homogenen, sondern eine Assimilierung des Heterogenen. Durch seinen weiten Staatsbegriff – unter den ja alle Verhältnisse fallen, in denen heterogene soziale Gruppen in hierarchisch-gegliederter Einheit leben – kann Gumplowicz (1902, S. 23) sagen, daß „der Staat der eigentliche Gegenstand der Geschichte“ ist und „die Lehre vom Staate ein integrierender Bestandteil der Soziologie“ (Gumplowicz 1928, S. 222).
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Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Gumplowicz für die Analyse der spezifischen Züge der modernen Gesellschaft wenig anzubieten hatte und das auch nicht für notwendig hielt. Er beanspruchte, allgemeine Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens gefunden zu haben, die auch für die Gegenwart Geltung besitzen. Am Ende seines Lebens sah er die Möglichkeiten der Soziologie als durchaus beschränkt an: sie darf die lebenden sozialen Produkte nicht antasten, sonst wird sie in Acht und Bann erklärt; sie darf ungestraft keine sozialen Vivisektionen vornehmen. Sie muß sich bescheiden, Kadaver zu sezieren, wie der Anatom. Nun wissen wir aber, daß auch dies zur Not genügt und daß die Wissenschaft auch aus solchen Sektionen beträchtlichen Nutzen ziehen kann. Und gar die Soziologie! Ihr bietet die Geschichte der Menschheit ein überreichliches Material zur Untersuchung. Unermeßlich weit dehnt sich das Trümmerfeld zugrunde gegangener Staaten, das Leichenfeld untergegangener Völker. Wir haben genug Material zum Studium und können den Lebenden Ruhe lassen. (Gumplowicz 1910, S. 22)
Aber genau das entspricht nicht dem nicht nur heute vorherrschenden Verständnis von Soziologie. Gumplowicz hatte keine Theorie der Moderne anzubieten, und dieser Unterschied zu Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel dürfte mitentscheidend dafür anzusehen sein, warum Gumplowicz nicht mit den genannten „Großklassikern“ der Soziologie in der ersten Reihe der Fachgeschichte steht, sondern dahinter Platz nimmt. Aber wir vermögen ihn auch dort zu sehen und seine Bedeutung zu würdigen.
IV. Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte Mit seiner Auffassung von der Staatsentstehung und -entwicklung durch Kampf und Eroberung, der so genannten „Überlagerungstheorie“, übte Gumplowicz großen Einfluß aus.12 Überhaupt stellt ihn die zeitgenössische Wahrnehmung und Wirksamkeit in die erste Reihe der Soziologen seiner Zeit. Übersetzungen seiner Schriften ins Englische, Französische, Italienische, Russische, Polnische, Spanische und Japanische – die alle noch zu seinen Lebzeiten erschienen – belegen die internationale Reputation dieses Grazer Gelehrten. Auf den ersten Kongressen des französischen „Institut International de Sociologie“ (seit 1893) ist Gumplowicz zwar nicht persönlich anwesend, aber mit schriftlichen, dort verlesenen Abhandlungen vertreten. Daß Gumplowicz am Beginn des konflikttheoretischen Paradigmas in der Soziologie steht, hat sicher entscheidend zum gro-
12 In der Staatstheorie von Franz Oppenheimer sind etwa deutliche Spuren des Einflusses von Gumplowicz zu erkennen. Vgl. dazu HASELBACH 1990, wo auch das Weiterwirken der Staatstheorie bis zu Alexander von Rüstow beschrieben wird.
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ßen Widerhall beigetragen, den sein Werk in den USA fand. Emile Durkheim, der Vorkämpfer der Soziologie in Frankreich, hat ihn früh zur Kenntnis genommen und gewürdigt,13 mit Lester Frank Ward (1903 zum Präsidenten der „American Sociological Society“ gewählt) verbindet ihn eine persönliche Bekanntschaft und Freundschaft.14 In einem der klassischen Werke der frühen amerikanischen Politikwissenschaft, Arthur F. Bentleys The Process of Government aus dem Jahre 1908 – mit dem bezeichnenden Untertitel A Study of Social Pressures –, ist der Einfluß von Gumplowicz unverkennbar. Dies alles bedenkend, versteht man vielleicht besser, wie der Soziologiehistoriker Heinz Maus (1956, S. 26) zu folgendem Urteil kommen konnte: „GUMPLOWICZ hat wie kaum ein anderer deutschsprachiger Soziologe der Jahrhundertwende auf die außerdeutsche Soziologie einzuwirken vermocht.“ Eine wissenschaftliche Schule hat Gumplowicz freilich nicht zu begründen vermocht. Dazu war weder seine institutionelle Position stark genug noch er aufgrund seiner Lebensumstände befähigt; sein Privatleben verdüstert sich seit den 1890er Jahren zunehmend.15 Gumplowicz ist als Positivist ein Denker des 19. Jahrhunderts; seine Wirksamkeit ist darin begründet und damit auch begrenzt. Unter seinen Zeitgenossen stand ihm wis13 Vgl. etwa die 1885 geschriebene Rezension des Grundriß der Sociologie von Durkheim, in der dieser Distanzierung und Anerkennung mischt: „Obwohl wir weder seine Prinzipien, noch seine Methode, noch die meisten seiner Schlüsse akzeptieren, zögern wir nicht, Wert und Bedeutung seines Buchs anzuerkennen.“ (DURKHEIM 1885/1995, S. 177) Um eine grundlegende, in der Weltauffassung wurzelnde Differenz anzudeuten: Durkheims Positivismus verband sich mit einer starken Fortschrittsüberzeugung, die der Positivist Gumplowicz keineswegs teilte. 14 Zum Briefwechsel zwischen Gumplowicz und Ward siehe STERN 1933 und GELLA 1971. Vgl. auch den Nachruf von WARD (1909), in dem es (S. 410, S. 413) heißt: „A great sociological light was extinguished when, on August 20 last, Ludwig Gumplowicz ceased to exist. […] Thus has passed from our midst a striking figure, which, whatever may be the fate of his theories and original ideas, will ever stand as a prominent landmark in the history of sociology.“ 15 Zunächst sind es seine Söhne, die ihm Sorgen bereiten. Mit seinem Sohn Ladislaus (1869–1942), der sich nach einem abgeschlossenen Medizinstudium immer stärker der Politik zuwendet, überwirft er sich nicht nur wegen ganz unterschiedlicher Einschätzungen des Anarchismus und Sozialismus – Ladislaus wird 1894 in Berlin, wo er in der Redaktion der anarchistischen Zeitung Der Sozialist tätig ist, wegen staatsfeindlicher Aktivitäten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Sein Sohn Maximilian (1864–1897) promoviert 1892 an der Universität Graz zum Dr. jur. und widmet sich sodann seinen Studien zur polnischen Geschichte; aus unglücklicher Liebe zur polnischen Lyrikerin Marja Konopnicka (1842–1910) begeht er im November 1897 Selbstmord. Der Vater, der in den Jahren davor Maximilians psychische Labilität immer wieder als große Gefährdung empfunden hatte, unterbricht seine eigene wissenschaftliche Arbeit für Jahre, um sich der Herausgabe der Studien seines Sohnes aus dem Nachlaß zu widmen. Aber Ludwig Gumplowicz hatte ohnehin das Gefühl, seinen Beitrag zur Entwicklung der Soziologie bereits geleistet zu haben; was er in seinen letzten Lebensjahren bis 1909 schrieb, war überwiegend Wiederholung, Bekräftigung und Abrundung der zentralen Ideen. Ludwig Gumplowicz und seine Frau Franziska scheiden im August 1909 durch Selbstmord gemeinsam aus dem Leben. Sie war schon länger kränklich gewesen und ab 1907 faktisch blind; er litt an Zungenkrebs.
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senschaftlich wohl Gustav Ratzenhofer am nächsten, der ebenfalls zu jenen Soziologen der Pionierzeit gehört, die zunächst von sich reden machen, im weiteren Verlauf der Fachgeschichte jedoch immer weniger Beachtung finden.16 Unter seinen Schülern ist Franco Savorgnan hervorzuheben, der dazu beitrug, Gumplowicz’ Werk in Italien bekannt zu machen.17 Die Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg zeigt zwar keine inhaltlichen Anknüpfungen an seine Ideen, wohl aber die klare Positionierung seines Werkes unter den bedeutenden Pionierleistungen der frühen Soziologie. In den 1920er Jahren erschienen ausgewählte Werke von Gumplowicz in vier Bänden (Gumplowicz 1926a, b, c, 1928). In einer 1926 veröffentlichten Sammlung Soziologische Lesestücke (Oppenheimer, Salomon 1926) ist Gumplowicz mit zwei Beiträgen vertreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Soziologie als akademisches Fach endgültig durchsetzte, geriet Ludwig Gumplowicz weitgehend in Vergessenheit; allenfalls assoziierte man mit seinem Namen einen längst überwundenen und für das Fach eher peinlichen Sozialdarwinismus mit rassistischen Elementen. Es waren vor allem zwei bedeutende Soziologen, die eine genauere Kenntnis seines Werkes vor diesem Vorurteil bewahrte und die die Erinnerung an sein Werk auch in systematischer Hinsicht wach hielten: René König in Deutschland und Irving Louis Horowitz in den USA. Letzterer sorgt auch für die englische Neuausgabe der Outlines of Sociology. An der langjährigen Wirkungsstätte von Gumplowicz, der Universität Graz, war es in den 1970er Jahren Karl Acham, der – zunächst in Lehrveranstaltungen – das Werk des streitbaren Gelehrten gleichsam wiederentdeckte. Emil Brix (1986) kommt das Verdienst zu, durch die Herausgabe eines Sammelbandes einige Schriften von Gumplowicz leichter zugänglich gemacht zu haben. Unter den Dissertationen über Gumplowicz ist aus jüngerer Zeit vor allem die sehr gründliche Untersuchung von Peter Bossdorf (2003) hervorzuheben. Diese paar Hinweise machen deutlich, daß Gumplowicz zwar keine zentrale Gestalt der Soziologiegeschichte ist, es aber doch eine gewisse Kontinuität der Beschäftigung mit ihm gibt. Auf die große Leistung Bernd Weilers für die neuere Gumplowicz-Forschung wurde bereits mehrfach hingewiesen; seine Arbeiten (Weiler 2001, 2002, 2004) und der von ihm mitgeplante und derzeit zur Publikation vorbereitete Materialienband zu Leben und Werk von Gumplowicz vermitteln den besten Eindruck, welche Erkenntnisgewinne auf diesem Gebiete möglich sind, wenn die einschlägigen Quellen systematisch erschlossen und aus einer wissens- und wissenschaftssoziologischen Perspektive ausgewertet werden. Dabei geht es – wohl ganz im Sinne von Gumplowicz – nicht um die 16 Vgl. die Studie von OBERHUBER 2002, die nicht nur den Forschungsstand zu Ratzenhofer sehr gut aufarbeitet, sondern erstmals eine umfassende und genaue Werkanalyse bietet. 17 Vgl. dazu WEILER 2002. – Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Gumplowicz und Savorgnan sollen im bereits erwähnten, von Bernd Weiler und mir konzipierten Materialienband zu Gumplowicz zugänglich gemacht werden.
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Überhöhung einer Forscherpersönlichkeit, sondern um ein besseres Verständnis wissenschaftlicher Entwicklungen und der Veränderungen dessen, was man unscharf den „Zeitgeist“ genannt hat.
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Savorgnan (1879–1963), in: Newsletter: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nr. 22, S. 26–50. DERS. (2004): Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz: Analysen und Materialien aus der Zeit von der Ernennung zum Extraordinarius bis zur Emeritierung (1883–1908), in: Newsletter: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nr. 25, S. 3–54. ZEBROWSKI, Bernhard (1926): Ludwig Gumplowicz. Eine Bio-Bibliographie (Bio-Bibliographische Beiträge zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften, Abteilung Staatswissenschaften, Band 7), Berlin: Prager.
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Manfred Prisching Joseph A. Schumpeter als Soziologe. Ein Rückblick auf Zeitdiagnosen und Zukunftserwartungen
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es etliche von ihnen, und noch heute nimmt man gerne – in Bewunderung und Kritik – Bezug auf ihre anregenden Schriften: Die Rede ist von den „breiten“ Denkern;1 den multidisziplinären Gelehrten; jenen Sozialwissenschaftlern, die sich nicht scheuten, das „Ganze“ zu denken, einen großen Entwurf vorzulegen, gestützt auf einen breiten Fundus von Bildung und Fachwissen. Mittlerweile sind die meisten Soziologen in der Kleinempirik versandet, die meisten Ökonomen mit lustvollen Modellbauarbeiten beschäftigt, und viele Philosophen haben sich in wissenschaftstheoretische Betrachtungen verloren. Auch die Wissenschaft ist von einer eng verstandenen Arbeitsteilung erfaßt; Karriereüberlegungen verlangen den begrenzten Horizont. Das bedeutet, daß niemand mehr über die Gesellschaft als solche nachzudenken wagt, insoweit er sich nicht als unprofessionell entlarven will. Soferne sich Sozialwissenschaftler leichtsinnigerweise einer verständlichen Sprache befleißigen, werden sie im deutschsprachigen Raum ohnehin der Hingabe an eine verächtliche Populärwissenschaft geziehen, ganz im Unterschied zu angelsächsischen Gepflogenheiten. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß erst neuerdings die Zeitdiagnostik wieder ein wenig Fuß zu fassen beginnt, und verschiedentlich erinnert man sich hierbei auch der „Klassiker“ wieder, die nicht nur zur sprachlichen Verständlichkeit ermutigen, sondern auch als Ideenspender dienen können; freilich – eingestandenermaßen – auch als Warnzeichen dafür, daß man das – notwendige – spekulative Moment in der Beurteilung zeitgenössischer Trends wohl bezähmen muß. Joseph Schumpeter ist einer von diesen multidisziplinären Gelehrten, auf die auch in aktuellen Diskussionen immer wieder Bezug genommen wird: ein Ökonom,2 ein Soziologe,3 ein Ideenhistoriker4 von
1 Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus sprachästhetischen Gründen wird hier und in der Folge jenen Gepflogenheiten Rechnung getragen, die dem männlichen Geschlecht in Formulierungen einen gewissen Vorrang einräumen. Natürlich sind hier „Denker und Denkerinnen“, „Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen“ und so weiter gemeint. 2 Joseph A. SCHUMPETER: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, München-Leipzig 1908; Ders.: Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952; Ders.: Das Wesen des Geldes, Göttingen 1985. 3 Joseph A. SCHUMPETER: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953. 4 Joseph A. SCHUMPETER: History of Economic Analysis, ed. from manuscript by Elizabeth B. Schumpeter. Deutsche Ausgabe: Geschichte der ökonomischen Analyse. Nach dem Manuskript herausgegeben von
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Joseph Alois Schumpeter Quelle: ÖNB/Wien, Bildarchiv
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Rang – einer, der Ausflüge in die Praxis und in die Politik unternahm; ein sprachgewaltiger Schreiber;5 eine schillernde, aber unübergehbare Figur der Wissenschaftsgeschichte.6 Und er ist wohl einer jener Klassiker, die – auch außerhalb der akademischen Debatten – am häufigsten zitiert werden, freilich ohne daß solch leichthändige Zitierung, die meist dem „Unternehmergeist“ oder der „kreativen Zerstörung“ gewidmet ist und mehr der Interessenlegitimierung als der geistigen Durchdringung eines sozialen Phänomens dient, auf originären Lese- und Denkerfahrungen der Propagandisten beruhen muß. Zuweilen wird er gar in den „Olymp“ gestellt: in den Kontext von Marx und Keynes, also unbezweifelbaren Heroen der Ideengeschichte;7 es wird suggeriert, wir lebten überhaupt im „age of Schumpeter“;8 oder Schumpeter wird – in der Business Week im Jahr 2000 – als „the hottest economist“ bezeichnet.9 Die Zeitschrift Forbes verkündet 1990:
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Elizabeth B. SCHUMPETER. Mit einem Vorwort von Fritz Karl MANN. Erster und zweiter Band, Göttingen 1965; Joseph A. SCHUMPETER: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, Tübingen 1954. Joseph A. SCHUMPETER: Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 1985. Zum Leben Schumpeters vergleiche Erich SCHNEIDER: Joseph A. Schumpeter. Leben und Werk eines großen Sozialökonomen, Tübingen 1970; Eduard MÄRZ: Joseph Alois Schumpeter – Forscher, Lehrer und Politiker, Wien 1983; Robert Loring ALLEN: Opening Doors. The Life and Work of Joseph Schumpeter, 2 vols., New Brunswick-London 1991; Richard SWEDBERG: Joseph A. Schumpeter. Eine Biographie, Stuttgart 1994; Paul A. SAMUELSON: Reflections on the Schumpeter I Knew Well, in: Journal of Evolutionary Economics 13 (2003), No. 5, S. 463 – 467. – Siehe auch die Würdigungen Schumpeters bei Seymour E. HARRIS (Hg.): Schumpeter, Social Scientist, Cambridge (Mass.) 1951; Christian SEIDL (Hg.): Lectures on Schumpeterian Economics. Schumpeter Centenary Memorial Lectures Graz 1983, Berlin-New York 1984; Herbert MATIS, Dieter STIEFEL (Hg.): Ist der Kapitalismus noch zu retten? 50 Jahre Joseph A. Schumpeter: „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, Wien 1993; Richard D. COE, Charles WILBER (Hg.): Capitalism and Democracy: Schumpeter Revisited, Notre Dame (Indiana) 1985; Jürgen BACKHAUS (Hg.): Joseph Alois Schumpeter: Entrepreneurship, Style, and Vision, Boston 2003; Wolfgang F. STOLPER: Joseph Alois Schumpeter. The Public Life of a Private Person, New York u.a. 1994; Thomas K. McCRAW: Prophet of Innovation. Joseph Schumpeter and Creative Destruction, Cambridge 2007; Joseph A. SCHUMPETER: Briefe, Tübingen 2000. – Als Übersicht über wesentliche Texte Schumpeters siehe die oben erwähnten Aufsatzsammlungen sowie: The Essence of J. A. Schumpeter. Die wesentlichen Texte, hg. von Kurt R. LEUBE, Wien 1996; Beiträge zur Sozialökonomik, hg. von Stephan BÖHM, Graz-Wien-Köln 1987; The Economics and Sociology of Capitalism, hg. von Richard SWEDBERG, Princeton, NJ 1991. Zur Würdigung auch Horst Claus RECKTENWALD: Schumpeters monumentales Werk – Wegweiser für eine dynamische Analyse, Düsseldorf 1988. Paul A. SAMUELSON: Marx, Keynes and Schumpeter, in: The Eastern Economic Journal 9 (1983), S. 166– 179; Suzanne W. HELBURN, David F. BRAMHALL (Hg.): Marx, Schumpeter and Keynes: A Centenary Celebration of Dissent, Armonk, New York 1986; Dieter BÖS, Hans-Dieter STOLPER (Hg.): Schumpeter oder Keynes? Zur Wirtschaftspolitik der neunziger Jahre, Berlin-New York 1984; John E. ELLIOTT: Marx and Schumpeter on Capitalism’s Creative Destruction: A Comparative Restatement, in: The Quarterly Journal of Economics 95 (1980), S. 45–68; John E. ELLIOTT: Schumpeter and Marx on Capitalist Transformation, in: The Quarterly Journal of Economics 98 (1983), S. 333–336; Hajo RIESE: Keynes, Schumpeter und die Krise, in: Konjunkturpolitik 32 (1986), S. 1–26. Herbert GIERSCH: The Age of Schumpeter, in: American Economic Review, Papers and Proceedings 74 (1984), S. 103–109. Charles J. WHALEN: Today’s Hottest Economist Died Fifty Years ago, in: Business Week, Issue 3711 (2000).
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„Schumpeter was right.“10 „Why Schumpeter was right“, erläutert das Journal of Economic History.11 Heilbroner hingegen zweifelt: „Was Schumpeter right“?12 Der New Leader ist kritischer: „Where Schumpeter went astray.“13 Wie auch immer – seine Ideen wirken nach, werden von Zeit zu Zeit „revisited“.14 Irgendwie, so scheint es, muß man sich an ihnen abarbeiten, in Zustimmung und Widerspruch. Wie könnte es in humanwissenschaftlichen Bereichen ein besseres Signal für Originalität geben als eine solche geistige Präsenz, eine fortwirkende Faszination? In dieser Studie sollen die soziologischen Arbeiten Schumpeters erörtert werden, die ihren Ausgangspunkt allerdings von einem grundlegenden ökonomischen Problem nahmen. In seinem Buch über Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie15 hat Schumpeter es bereits angesprochen: Die Modelle der Mainstream-Nationalökonomie befaßten sich – schon in seiner Zeit – allesamt mit den Optimierungsbedingungen in einer stationären Wirtschaft. Das ist zweifelsohne kein unwichtiges Problem, es verfehlt aber, wie in der Zwischenkriegszeit die österreichische Schule der Nationalökonomie zu zeigen sich bemühte, das Wesen der kapitalistischen Ordnung. Denn dieses liegt in der ungeheuerlichen Veränderungs- und Wachstumskraft dieses Wirtschaftssystems. Statische Effizienz ist gut, Dynamik ist besser. Statische Optimierung bleibt in ihrer Wirksamkeit weit hinter den wohlstandssteigernden Effekten von Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum zurück. Was bedeutet schon ein Effizienzgewinn von dreißig Prozent, wenn man durch eine ordentliche Wachstumsrate in einem halben Jahrhundert den Pro-Kopf-Output verdoppeln kann? Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die dynamische Kraft, welche diese Wirtschaftsordnung auszeichnet, hat zu weiteren wirtschaftstheoretischen, aber eben auch zu einer Reihe von sozioökonomischen16 und soziologischen17 Arbeiten geführt, die 10 Jason ZWEIG: Schumpeter was right, in: Forbes 145 (2000), No. 7, S. 182–183. 11 Tom NICHOLAS: Why Schumpeter was right: Innovation, Market Power, and Creative Destruction in 1920s America, in: Journal of Economic History 63 (2003), No. 4, S. 1023–1058. 12 Robert L. HEILBRONER: Was Schumpeter right?, in: Social Research 48 (1981), S. 456–471. 13 George P. BROCKWAY: Where Schumpeter went astray, in: New Leader 75 (1992), No. 5, S. 14–15. 14 Arnold HEERTJE (Hg.): Schumpeter’s Vision. Capitalism, Socialism and Democracy after 40 Years, New York 1981. 15 Joseph A. SCHUMPETER: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. Unveränderter Nachdruck der 1908 erschienenen ersten Auflage, Berlin 1970. 16 Manfred PRISCHING: Sozioökonomie in der Tradition Schumpeters, in: Karl S. ALTHALER, Egon MATZNER, Manfred PRISCHING, Brigitte UNGER (Hg.): Sozioökonomische Forschungsansätze. Historische Genese, Methoden, Anwendungsgebiete, Marburg 1995, S. 43–69; Jürgen OSTERHAMMEL: Spielarten der Sozialökonomik: Joseph A. Schumpeter und Max Weber, in: Wolfgang MOMMSEN, Wolfgang SCHWENTKER (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen-Zürich 1988, S. 147–195; Jürgen OSTERHAMMEL: Joseph A. Schumpeter und das Nicht-Ökonomische in der Ökonomie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1987), S. 40–58; Yuichi SHIONOYA: Schumpeter and the Idea of Social Science. A Metatheoretical Study, Cambridge u.a. 1997.
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Schumpeters Ruf begründeten (und in der Folge institutionalistische und evolutionistische Arbeiten18 anregten). In der Gestalt des Unternehmers hat Schumpeter die Innovationsquelle gefunden, welche die Gesellschaft in ihre Zukunft stößt; und diese Gestalt wieder verbindet sich mit etlichen anderen Beobachtungen gesellschaftlicher Besonderheiten: Schumpeter bettet sie ein in eine allgemeine Klassen- und Elitentheorie. Er verfolgt darüber hinaus das Geschick von Innovationsprozessen, die von diesen Unternehmern ausgelöst werden und entwickelt eine umfassende Theorie der sich in großen Zyklen und Wellen vollziehenden wirtschaftlichen Entwicklung.19 Er denkt Ansätze zu einer Finanzsoziologie weiter und tastet nach den Grenzen des Steuerstaates.20 Er schreibt über den Imperialismus. Und er fügt schließlich viele seiner Ideen in das große zeitdiagnostische Gemälde über die Besonderheiten und die zukünftigen Chancen von „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ ein21 – und bietet damit eine Analyse der Wirtschaftsordnung und ihrer Wandlungskräfte, eine neue, scharf akzentuierte Demokratietheorie und einen spekulativen Blick in die zukünftige Entwicklung, und das 17
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Hans KARRER: Schumpeters Beitrag zur Soziologie, in: Kyklos 5 (1951), S. 197–211; Karl ACHAM: Schumpeter – the Sociologist, in: Christian SEIDL (Hg.): Lectures on Schumpeterian Economics. Schumpeter Centenary Memorial Lectures Graz 1983, Berlin-New York 1984, S. 155–172; Herbert von BECKERATH: Joseph A. Schumpeter as a Sociologist, in: Weltwirtschaftliches Archiv 65 II (1950); wiederabgedruckt in: Seymour E. HARRIS (Hg.): Schumpeter – Social Scientist, Cambridge, MA 1951, S. 110–118; H. B. DAVIS: Schumpeter as Sociologist, in: Science and Society 24 (1960), S. 13–35; Gottfried EISERMANN: Schumpeter als Soziologe, in: Kyklos 17 (1965), S. 288–315. Jan FAGERBERG: Schumpeter and the Revival of Evolutionary Economics. An Appraisal of the Literature, in: Journal of Evolutionary Economics 13 (2003), No. 2, S. 125–159. Joseph A. SCHUMPETER: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 1. Auflage 1912, 5. Auflage, München-Leipzig 1952; Joseph A. SCHUMPETER: Business Cycles. A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process, New York-London 1939. Deutsch: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. Erster und zweiter Band, Göttingen 1961. Joseph SCHUMPETER: Die Krise des Steuerstaates, in: Zeitfragen auf dem Gebiet der Soziologie, Heft 4, 1918; wiederabgedruckt in: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 1–71; vgl. auch Rudolf HICKEL: Einleitung – Krisenprobleme des „verschuldeten Steuerstaats“, in: Rudolf GOLDSCHEID, Joseph SCHUMPETER: Die Finanzkrise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, Frankfurt a. M. 1976, S. 7–39; Rudolf GOLDSCHEID: Staatssozialismus oder Staatskapitalismus, in: ebd., S. 40–252; Ders.: Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankrott. Ein Sanierungsprogramm, Leipzig-Wien 1919. Joseph SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 4. Auflage, München 1975 (erstmals Bern 1946; engl. Capitalism, Socialism, and Democracy, 5th edition, London 1976, first edition 1942). Eine großartige Leistung können wir in diesem Rahmen nicht weiter verfolgen, nämlich Schumpeters umfassende Geschichte der ökonomischen Analyse, die (unvollständig) nach seinem Tode von seiner Frau herausgegeben wurde. Nach wie vor kann sie neben anderen ideengeschichtlichen Darstellungen bestehen, wie etwa Robert L. HEILBRONER: The Worldly Philosophers. The Lives, Times, and Ideas of the Great Economic Thinkers, New York 1953; Mark BLAUG: Economic Theory in Retrospect, Homewood 1962; Mark BLAUG: Economic Theory and the History of Economics, New York 1986; Alessandro RONCAGLIA: The Wealth of Ideas. A History of Economic Thought, Cambridge u.a. 2005.
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heißt: in unsere Gegenwart. Wir können also Schumpeter behandeln, wie Schumpeter Marx behandelte: versuchen, ihn wirklich zu verstehen, ohne ihn ins Archiv abzuschieben oder es mit ein paar Schlagworten genug sein zu lassen; ein paar große Linien herausarbeiten, die bleibenden Wert haben, und sie in unsere Gesellschaft verlängern oder neu interpretieren; und im Übrigen auch aus seinen Irrtümern lernen.
Entrepreneuriale Gestalten – zur Soziologie des Unternehmers „Der Kapitalismus“, so beobachtet Schumpeter, „ist […] von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung und ist nicht nur nie stationär, sondern kann es auch nie sein.“22 Statische Optimierung ist nicht das Wesen des Systems: Während Leon Walras zur Auffassung neigte, daß das wirtschaftliche Leben passiv sei und sich natürlichen und sozialen Einflüssen bloß anpasse, sucht Schumpeter innerhalb des Systems nach einer gleichgewichtszerstörenden, leistungserzeugenden, wachstumsträchtigen „Energiequelle“. Tatsächlich ist ja die ungeheuerliche Dynamik das besondere, universalisierende, auch in der Epoche der Globalisierung sich aufdrängende und in allen Teilen der Welt überzeugungsmächtige Kennzeichen der Marktgesellschaft.23 Es ist die Durchsetzung neuer Kombinationen von Produktionsmitteln, die den statischen Kreislauf durchbricht; das aber heißt: Herstellung eines neuen Gutes, Einsatz einer neuen Produktionsmethode, Erschließung eines neuen Arbeitsmarktes oder neuer Bezugsquellen für Rohstoffe und Vorprodukte oder organisatorische Verbesserungen.24 Diese Neuerungen, die zumeist nur im Kampf gegen eine feindliche soziale Umwelt durchzusetzen sind, werden von den Unternehmern realisiert: jenen „Führungsgestalten“, die derartige Kombinationen ins Leben zu rufen vermögen.25 Schumpeters Beschreibung der entrepreneurialen Gestalten wird allgemein als elitentheoretische Komponente in seinen Darlegungen betrachtet. Der „Führer“ habe eine besondere Art, Dinge zu sehen, so meint Schumpeter in einer enthusiastischen Beschreibung; er übe eine besondere Wirkung auf andere aus, die man als „Autorität“ oder als 22 Ebd., S. 136. 23 Masaaki HIROOKA: Nonlinear Dynamism of Innovation and Business Cycles, in: Journal of Evolutionary Economics 13 (2003), No. 5, S. 549–576; Marcus C. BECKER, Thorbjorn KNUDSEN: Schumpeter 1911 – Farsighted Visions on Economic Development, in: American Journal of Economics and Sociology 61 (2002), No. 2, S. 387– 403; Maria T. BROUWER: Weber, Schumpeter and Knight on Entrepreneurship and Economic Development, in: Journal of Evolutionary Economics 12 (2002), S. 1–2, S. 83 –105. 24 SCHUMPETER: Aufsätze zur ökonomischen Theorie (Anm. 2), S. 100. 25 Joseph A. SCHUMPETER: Art. Unternehmer, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 4. Auflage, Band 8, Jena 1928, S. 476 – 487 (Reprint in: SCHUMPETER: Beiträge zur Sozialökonomik, hg. von Stephan BÖHM, Graz-Wien-Köln 1987).
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„Gehorsamfinden“ bezeichnen könne. Ihm sei eine besondere Vereinigung von Schärfe und Enge des Gesichtskreises und der Fähigkeit zum Alleingehen eigen. Die Motive, die seinem Verhalten zugrunde liegen, seien: der Traum und der Wille, ein privates Reich zu gründen, ein Reich, das Raum gewährt und Machtgefühl; der Siegerwille, kämpfen und Erfolg haben wollen um des Erfolges als solchen willen; schließlich die Freude am Gestalten, der Kraftüberschuss, der diesen Typus zum Verändern treibt, um des Änderns und Wagens und der Schwierigkeiten willen.26 Unternehmer sind die treibenden Kräfte einer dynamischen kapitalistischen Entwicklung: Sie realisieren jene Innovationen, welche die Wirtschaft aus ihrem statischen Zustand reißen und ihnen selbst Pioniergewinne ermöglichen. Solche normalerweise kreditfinanzierten Verschiebungen von Produktionsfunktionen treten zumeist scharenweise auf und finden nach einiger Zeit Nachahmer, dadurch kommt es zu einem allgemeinen Aufschwung, zum Prozeß der „kreativen Zerstörung“, der, wenn die expansiven Impulse erschlaffen, das Erreichen eines neuen, allerdings höheren Gleichgewichtspunkts möglich macht. Zins, Kredit und Gewinn sind Kategorien dieses dynamischen Geschehens. Einen „gleichgewichtigen Wachstumspfad“, dem nahe zu kommen sich die Ökonomen in den sechziger Jahren gerühmt hatten, kann es deshalb in Schumpeters Sicht nicht geben: Entwicklung ist ungleichgewichtig. Gleichgewichtig sind immer die Reifephasen, die Perioden der Erlahmung, der Diffusion von Neuerungen – nicht die Phasen der Innovation, sondern jene der Implementation. Es sind plötzliche Schübe, Stöße und Impulse, welche die Wirtschaft vorantreiben und ins steigende Sozialprodukt jagen. Unternehmer sind es, die das Gleichgewicht jeweils stören und durchbrechen. Es ist offenkundig schwer zu beschreiben, worin denn die spezifischen Fähigkeiten, welche die besondere Führereignung solcher Personen ausmachen, bestehen. Denn diese Gestalten zeichnen sich keineswegs durch intellektuelle Kompetenz aus, ja nicht einmal durch eine sonderliche Kalkulationsfähigkeit. Das ist nicht nur in der belletristischen Literatur ausgiebig beschrieben worden, es macht auch jeder, der mit diesen Personen zu tun hat, entsprechende Erfahrungen. Es ist nicht Intellektualität, die sie befähigt; es ist nicht Rationalität, die ihre Entscheidungen bestimmt. Denn es sind weder besondere geistige Leistungen, im Sinne etwa einer höheren Analysefähigkeit, noch rationale Entscheidungen, im Sinne etwa einer Wahrnehmung von relativen Preisverschiebungen mit entsprechenden Nutzungsmöglichkeiten, die das Unternehmerische ausmachen.27 26 SCHUMPETER: Aufsätze zur ökonomischen Theorie (Anm. 2), S. 110–139; Dieter BÖS, Abram BERGSON, John R. MEYER (Hg.): Entrepreneurship. The Bonn-Harvard Schumpeter Centennial, in: Zeitschrift für Nationalökonomie, Supplementum 4, Wien-New York 1984; Leslie HANNAH: Entrepreneurs and the Social Sciences, in: Economica 51 (1984), S. 219–234; Joshua RONEN (Hg.): Entrepreneurship, Lexington 1983. 27 Gunther TICHY: Schumpeter’s Business Cycle Theory. Its Importance for Our Time, in: SEIDL (Hg.): Lectures (Anm. 6), S. 77f.; David GOSS: Schumpeter’s Legacy. Interaction and Emotions in the Sociology of
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Es handelt sich vielmehr um eine besondere Art des Irrationalismus; es gehören dazu Fingerspitzengefühl, Charisma, die richtige „Spürnase“, psychischer Elan, Durchsetzungsvermögen. Ein wenig Glück mag auch eine Rolle spielen; denn die nachträgliche Analyse hat jeweils nur die Erfolgreichen vor sich, nicht aber die vielen Erfolglosen, die möglicherweise durchaus ähnliche Dispositionen aufweisen. Das Problem zeigt sich bei allen Evolutionsprozessen: Was angepaßt oder leistungsfähig ist, zeigt sich am Überleben. Aber lassen wir das Tautologie-Problem beiseite. Während Werner Sombart in seinen Schriften, die Schumpeter wohl auch wesentlich inspiriert haben, das Gleichgewicht der beiden Komponenten unternehmerischer Haltungen: einerseits das rationalkalkulierende, buchhalterisch selbstdiziplinierte Element, andererseits das dynamischkreative, vorwärtsdrängende und abenteuernde Element, betont,28 verschiebt sich Schumpeters Beschreibung zu der letzteren Komponente. Die erste Komponente verlagert sich – wie bei Max Weber – in das „System“, und das zunehmend bürokratisiertrationalisierte System wird eher der Gegenspieler der autonomen Individuen, die an Nietzsches heroische Gestalten erinnern und nicht so sehr an biedere Kaufleute. Der Einzelne wider das „eiserne Gehäuse“, die Besorgnis über die hemmenden und einengenden Wirkungen einer durchorganisierten Maschinerie – das ist auch Schumpeters Gemälde. Es ist ein etwas anderer Akzent, der gesetzt wird, wenn wir damit Max Webers Puritanismus-Betrachtungen29 vergleichen, in denen das Element der rationalen Bilanzierung – auch in der Gnadenstandsberechnung mit Gott – und das Element des abwägenden Zeitmanagements – Fleiß und Rastlosigkeit, Pflichterfüllung und Selbstdisziplin – im Vordergrund stehen. Schumpeters Unternehmer sind nicht diszipliniert, ganz im Gegenteil; sie sind „Abweichler“. Schumpeter setzt den Akzent auf die irrationale Schaffenskraft, auf das Gespür, auf den richtigen „Riecher“, auf Durchsetzungsstärke. Und natürlich steht ihm vor allem der Einzel-Unternehmer, der Eigentümer-Unternehmer, der „Erfinder“ und „Gründer“, vor Augen, also der „Führer“ in kleinen und mittleren
Entrepreneurship, in: Entrepreneurship: Theory and Practice 29 (2005), S. 205 –218; David A. REISMAN: Schumpeter’s Market. Enterprise and Evolution, Cheltenham u.a. 2004. 28 Werner SOMBART: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Reinbek b. Hamburg 1988 (erstmals 1913); Ders.: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 3 Bände, München 1987. (Diesem Nachdruck liegt die 2. Auflage, München-Leipzig 1916–27, zugrunde.) 29 Max WEBER: Die protestantische Ethik, 2 Bände, Band I: Eine Aufsatzsammlung, 7. Auflage, Gütersloh 1984; Band II: Kritiken und Antikritiken, 4. Auflage, Gütersloh 1982; Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Neuausgabe, Tübingen 1988. 30 Hans WESTLUND, Roger BOLTON: Local Social Capital and Entrepreneurship, Small Business Economics 21 (2003), No. 2, S. 77–113; Ola OLSSON, Bruno S. FREY: Entrepreneurship as Recombinant Growth, in: Small Business Economics 19 (2002), No.2, S. 69–80.
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Betrieben.30 Das entspricht neueren Auffassungen, denen zufolge gerade die kleineren Unternehmen die innovativeren seien; doch dies ist nicht leicht zu vereinbaren mit Schumpeters ebenfalls prominenter These, daß die stärkere Innovationskraft bei den Großunternehmen liege, weil sie beispielsweise die Ressourcen für aufwendige grundlegende und angewandte Forschung aufbringen können31 – eine These, die gerne von deren Repräsentanten aufgegriffen wird, wenn gegen Konzerne wettbewerbspolitische Bedenken auftauchen. Jedenfalls ist die Koppelung von Unternehmertum (in einem weiten Sinne, in dem selbstverständlich Managertum inbegriffen ist) und marktwirtschaftlicher Dynamik auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nicht überholt. Manche Überlegungen sind im Bereich der Unternehmer-Theorie mittlerweile hinzugekommen, im theoretischen Bereich sind es etwa die Transaktionskostentheorie oder die Principal-Agent-Theorie – Modelle, deren Proponenten auf der rationalen Klaviatur spielen – oder eine Fülle von Managementtheorien, die mit populistischen Kalendersprüchen Orientierungsbedürfnisse verunsicherter Wirtschaftsführer zu befriedigen trachten. Die weltanschaulichen Schwankungen in der Unternehmerbeschreibung waren in den letzten Jahrzehnten noch stärker als die theoretischen Mäander: Wurden unternehmerische Gestalten im Gefolge der sechziger Jahre eher als „Ausbeuter“ und „Blutsauger“ betrachtet, so hat ihre Reputation im Zuge des Erstarkens der neoliberalen Epoche stark zugelegt. Alle wollen heute „Manager“ werden. Um die Wende zum 21. Jahrhundert hat das „Unternehmerische“ und „Manageriale“ einen so guten Klang, daß solche Kategorien zu Schlüsselelementen aller Lebensbereiche erhoben werden. Das Kreative wird auf das Unternehmerische abgebildet, der Effizienzbegriff wird allein im Management für gut aufgehoben erachtet. Solche modischen Aufschwünge finden nun freilich keine Rechtfertigung bei Schumpeter; sein Unternehmerbild kennt auch Grenzen: Grenzen, die heute weniger in Betracht gezogen werden. Denn Schumpeter wußte, daß beispielsweise die Welten des Geistes, der Intellektualität, der Bildung, der Analyse und der Wissenschaft, der Wahrheit und der Kunst nichts mit dem Unternehmerischen zu tun haben. Deswegen wäre es ihm bei aller Lobrede nie eingefallen, einschlägige Lebensbereiche Managern zur praktikablen Durchgestaltung anzuvertrauen. Dies blieb unzivilisierteren Zeitaltern vorbehalten.
31 Bruce A. McDANIEL: A Survey on Entrepreneurship and Innovation, in: Social Science Journal 37 (2000), No. 2, S. 277–284; J. Patrick RAINES, Charles G. LEATHERS: Behavioral Influences of Bureaucratic Organizations and the Schumpeterian Controversy, in: Journal of Socio-Economics 29 (2000), S. 375–388.
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Führungsgestalten – zur Soziologie sozialer Klassen Die elitäre Komponente, die der Beschreibung des Unternehmers innewohnt, wird im Aufsatz „Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu“ in eine umfassendere Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit eingebettet. „Die Ursache, auf der letzten Endes das Klassenphänomen beruht, sind die individuellen Eignungsdifferenzen. Aber nicht Differenzen von Eignungen schlechthin, sondern Differenzen von Eignungen für die Ausübung jener Funktion oder Funktionen, die die Umwelt jeweils ‚sozialnotwendig‘ – in unserem Sinn – macht, und für Führerschaft in der Form und Art, die jener Funktion oder jenen Funktionen entspricht; auch nicht an sich die Differenzen der Eignungen von physischen, sondern von Geschlechts- oder Familienindividuen.“32 Die Klassenstruktur, die sich daraus ergibt, ist die „Anordnung der Individuen nach ihrer gruppenmäßig verschiedenen sozialen Geltung, letztlich entsprechend diesen Eignungsdifferenzen; mehr der Tatsache des Festwerdens jeder solchen einmal errungenen sozialen Geltung“.33 Schumpeters „große Individuen“34 leben also in einer gerechtfertigt hierarchisierten Gesellschaft: weil sie die Besseren sind. Interessant ist freilich die Bemerkung, daß diese „besondere Leistungsfähigkeit“ von den jeweiligen funktionalen Erfordernissen der Gesellschaft abhängig ist. Jene Haudegen, die sich vor dem Beginn der Neuzeit mit hochrotem Kopf in die Schlacht stürzten und durch ihre Unbesonnenheit und ihre Wut erfolgreich waren, wurden in den neuzeitlichen Schlachten rasch ausgerottet; im Zeitalter neuer Techniken waren plötzlich kluge Strategen gefragt. Das gilt in allen sozialen Bereichen. Die besseren Opportunisten werden siegen, wenn ein Lebensbereich so organisiert ist, daß Opportunisten die besseren Chancen haben. Vielleicht sind wir in einer Phase, in der das wesentlichste politische Erfordernis die dramaturgische Inszenierungsfähigkeit darstellt und deshalb die besten Selbstdarsteller in die Elite aufrücken. Die funktionale Schichtungstheorie haben in der Folge auch andere Sozialwissenschaftler vertreten, etwa Talcott Parsons – und das hat natürlich einerseits zum Vorwurf beigetragen, daß Parsons ein allzu harmonisches Gesellschaftsbild zeichne, andererseits zu dem gewendeten Vorwurf, daß es schrecklich wäre, wenn die Gesellschaft tatsächlich nach diesem Modell aufgebaut wäre – denn dann müßte sich jeder mit seiner gesellschaftlichen Position zufrieden geben, könnte nicht Schicksal, Pech oder Ungerechtigkeit für sein Versagen verantwortlich machen, und diese Erkenntnis würde möglicherweise in der Aggression enden. 32 Joseph SCHUMPETER: Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57 (1927), S. 1ff., wiederabgedruckt in: Ders.: Aufsätze zur Soziologie (Anm. 3), S. 147–213, hier S. 204 f. 33 Ebd., S. 205. 34 Vergleiche auch Friedrich von WIESER: Art. Führung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band IV, 4. Auflage, Jena 1927, S. 530–533.
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Freilich kann man dem Vertrauen darauf, daß sich jeweils die funktional besten Leistungsträger nach oben arbeiten werden, eine gewisse Naivität vorwerfen, die auch durch den Umstand nur geringfügig gemindert wird, daß Schumpeter immerhin bestimmte „Verfestigungen“ einmal errungener Positionen zugesteht. Solche Verfestigungen hat etwa das Bürgertum, als es im 19. Jahrhundert seinen Aufstieg gegen ein aristokratischfeudales System der Vorrechte erkämpfen mußte, zu spüren bekommen; das Bürgertum setzte recht geschickt einen neuen Bildungsbegriff 35 als Rechtfertigung und eine neue Professionalität als Waffe ein, und die Aristokraten wurden, wie bis an das Ende des 20. Jahrhunderts spürbar ist, aus den zentralen politischen Gestaltungspositionen in das Heer und in die Diplomatie abgedrängt. Es gibt tatsächlich mehr Mobilität in den oberen Rängen der Gesellschaft, vor allem in turbulenten Zeiten; die Ungleichheitsforschung, vor allem auch die Unternehmersoziologie, hat mittlerweile allerdings nachgewiesen, in welch hohem Maße sich dennoch Schichtzugehörigkeiten (auch wenn diese immer mehr durch unterschiedliche Milieus segmentiert sind) reproduzieren – und in welchem Maße dabei auch nichtfunktionale Komponenten (wie symbolisches Kapital) eine Rolle spielen.36 Aber natürlich gibt es auch Prozesse des Zukaufs erforderlicher Qualifikationen und der Absorption entsprechender Personen; denn im Gefolge solcher Eingliederungsvorgänge darf wiederum nicht unterschätzt werden, wie rasch sich aufwärtsmobile Personen den Gepflogenheiten und dem Stil der führenden Klasse anpassen. Der „Marsch durch die Institutionen“ endet üblicherweise mit dem Sieg der Institutionen. Schumpeter hat als einen Faktor der Einschränkung der jeweiligen Funktionalität wohl auch zu wenig bedacht, daß sich Eliten aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Militär und Verbänden wechselseitig stützen und als „herrschende Klasse“37 absichern, auch durch wechselseitige Positions- und Ressourcenvergaben, bis hinein in den persönlichen Bereich.
Die friedlichen Händler – zur Soziologie des Imperialismus Immerhin sind es friedliche Eliten. Der moderne Pazifismus ist nach Schumpeters Ansicht ein Produkt des modernen Wirtschaftssystems. Noch mehr – Schumpeter meint sogar quantifizieren, eine Proportionalität feststellen zu können: „ [J]e vollkom35 Georg BOLLENBECK: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996; Manfred FUHRMANN: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2000; Joachim FEST: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Reinbek b. H. 2007. 36 Dietrich HERZOG: Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Elitenforschung, Darmstadt 1982. 37 Klaus von BEYME: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993.
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mener kapitalistisch die Struktur und Haltung einer Nation, […] umso pazifistischer ist [sie].“38 Schumpeter widerspricht damit der gängigen linken Tradition, den Analysen von Hobson, Lenin und Luxemburg – und er befindet sich in Einklang mit modernen wirtschaftshistorischen Studien. Die erste kritische Studie über den im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in England mit Stolz verwendeten Begriff des Imperialismus wurde von John A. Hobson 1902 verfaßt; dieser Arbeit haben marxistische Überlegungen (etwa jene Rosa Luxemburgs) und vor allem Lenins Theorie vom Imperialismus als dem höchsten Stadium des Kapitalismus viel zu verdanken.39 In diesen Theorien ist der Imperialismus eine Ausweichstrategie für den unter Druck geratenen Kapitalismus: Da seine heimischen Ausbeutungsressourcen erschöpft sind, muß er auf neue, unverbrauchte Länder ausgreifen, um die Profitrate aufrecht zu erhalten. In direktem Gegensatz zu Lenins Auffassung ist nach Schumpeter der Imperialismus „ein Atavismus der sozialen Struktur und ein Atavismus individualpsychischer Gefühlsgewohnheit“.40 Der Imperialismus „fällt in die große Gruppe von Ueberlebseln früherer Epochen, die in jedem konkreten sozialen Zustand eine so große Rolle spielen, zu jenen Elementen jedes konkreten sozialen Zustands, die nicht aus den Lebensbedingungen der jeweiligen Gegenwart, sondern aus den Lebensbedingungen der jeweiligen Vergangenheit zu erklären sind, vom Standpunkt der ökonomischen Geschichtsauffassung also jeweils aus den vergangnen, nicht aus den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen“.41 Eine umfangreiche Darstellung historischen Materials führt Schumpeter zu folgenden Schlußfolgerungen: daß objektlose Tendenzen zu gewaltsamer Expansion ohne bestimmte zweckgebundene Grenze – so Schumpeters Imperialismusdefinition –, also rein triebhafte Neigungen zu Krieg und zu Eroberung schon immer in der Geschichte eine große Rolle gespielt haben; daß die Ursache in den durch Lebensnotwendigkeiten erworbenen psychischen Dispositionen und sozialen Strukturen liegt, die sich erhalten und fortwirken, nachdem sie ihren Sinn bereits verloren haben; und daß es eine Reihe unterstützender Momente gibt, die das Überleben dieser Strukturen erleichtern.
38 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 210. 39 John A. HOBSON: Imperialism, London-New York 1902; Rosa LUXEMBURG: Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913; Vladimir I. LENIN: Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus (russ.), Petrograd 1917; Anthony BREWER: Marxist Theories of Imperialism. A Critical Survey, London u.a. 1980; Hans-Christoph SCHRÖDER: Sozialistische Imperialismusdeutung. Studien zu ihrer Geschichte, Göttingen 1973. 40 Joseph SCHUMPETER: Zur Soziologie der Imperialismen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 46 (1919), S. 1ff.; wiederabgedruckt in: Ders.: Aufsätze zur Soziologie (Anm. 3), S. 72–146, hier S. 119. 41 Ebd., S. 119.
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Dem umfassenden Rationalisierungsprozeß der modernen Welt jedoch, auf den Schumpeter wieder zurückgreift, sind sie nicht gewachsen. Ist die Rationalität unserer Gesellschaft schon allem lediglich Triebhaften nicht günstig, so sind auch keinerlei Kräfte für derartige kriegerische Unternehmen mehr frei. Die wirtschaftliche Tätigkeit absorbiert im Kapitalismus jeden Energieüberschuß, der sich als Kriegs- und Eroberungslust äußern könnte. Genau so wenig wie die kapitalistische Welt daher ein Nährboden für imperialistische Impulse ist, hat sie durchschlagende Interessen, die auf Expansion ausgerichtet sind. Die „innere Logik“ des Kapitalismus tendiert auf den Freihandel hin, bei dem für keine Klasse ein Interesse an gewaltsamer Expansion als solcher besteht. Partikuläre Schutzzollinteressen werden der inneren Logik des Kapitalismus nicht widerstehen. Denn Schutzzölle sind keineswegs Anzeichen einer politischen Aktion, die die objektive Interessenlage aller Beteiligten reflektiert. Die Freihandelsdoktrin entspricht der konventionellen Wirtschaftstheorie, sie ist verträglich mit Ricardos Theorie komparativer Kosten. Auch Adam Smith hat sich bereits in Bezug auf die amerikanischen Kolonien in ähnlicher Weise geäußert; sie seien ein schlechtes Geschäft, man wäre besser dran mit friedlichen Handelsbeziehungen. Aber Schumpeters Imperialismusbild ist ebenso wie jenes der Mainstream-Ökonomen auf eine sehr eingeschränkte Gestalt des Imperialismus verpflichtet: Schumpeter zeichnet das Bild einer kriegerischen, eher emotionellen Expansion zur Begründung eines Kolonialsystems, das, selbst wenn man Profitgier und Ausbeutungslust als rationale Komponenten einbezieht, für Kapitalisten kaum Gewinne abwerfen kann, da die Kriegslasten und Verluste im Ausland als Passivposten gegenüber den Vorteilen in einer seriösen volkswirtschaftlichen Bilanzierung überwiegen können.42 Durch diese Beschränkung auf militärische Eroberung werden aber andere Formen imperialistischer Kontrolle ausgeschlossen. Drei Hinweise zu aktuellen Phänomenen müssen genügen. Erstens: Johan Galtung und Dieter Senghaas haben vor langer Zeit schon auf Formen „struktureller Gewalt“ hingewiesen, die eine effiziente Ausbeutungsstruktur ohne unmittelbare imperiale Expansion ermöglichen; so erledigen in vielen Staaten der Dritten Welt einheimische Eliten das Geschäft jener Konzerne aus den entwickelten Ländern, die sich der unterentwickelten als Rohstoff- und Rohmaterialbasis bedienen.43 Ausbeutung erfolgt nicht durch Soldaten, sie ist rentabler, wenn heimische Machthaber den internationalen Konzernen günstige Produktions-, Handels- und Steuerbedingungen gewähren und im Gegenzug Seitenzahlungen auf internationale Konten oder ein Sponsoring ihrer militärischen Abenteuer erhalten.
42 Wolfgang MOMMSEN: Der europäische Imperialismus, Göttingen 1979. 43 Dieter SENGHAAS: Gewalt, Konflikt, Frieden. Essays zur Friedensforschung, Hamburg 1974; Johan GALTUNG: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek b. Hamburg 1975.
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Zweitens: Es gibt Formen eines asymmetrischen Freihandels, die mit unterschiedlichen Machtpotentialen von Staaten im Rahmen eines Weltsystems zu tun haben.44 Weniger entwickelte Länder werden – etwa durch transnationale Institutionen – gezwungen, ihre Märkte zu öffnen, insbesondere ihre Finanzmärkte zu liberalisieren. Das führt nicht nur zu jenen unterschiedlichen Folgen, die schon in frühkapitalistischer Zeit beobachtet wurden: daß nämlich vom Freihandel vor allem jene Länder profitieren, die auf dem Entwicklungspfad weiter vorne sind. Es führt darüber hinaus auch dazu, daß sich die mächtigen Länder bestimmte „Ausnahmen“ zugestehen, am eklatantesten etwa im landwirtschaftlichen Bereich, wo zum Schutz der Bauern in den entwikkelten Ländern sehr wohl ein breites Repertoire von Einfuhrhemmnissen bestehen bleibt – ausgerechnet bei jenen Produktionszweigen, in denen die wenig entwickelten Länder Chancen hätten. Drittens: Es gibt eine neue Diskussion über das „amerikanische Imperium“, das in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts als ungefährdete superiore Macht erscheint.45 Die USA sind die einzige Weltmacht, und um sie herum gruppieren sich in unterschiedlicher Nähe und Abhängigkeit Vasallen, abhängige Staaten, befreundete Mächte. Die imperialen Methoden sind natürlich längst nicht mehr jene, die Schumpeter vor Augen standen; diese sind in der Tat obsolet geworden, aber deshalb ist keine egalitäre Weltgesellschaft auf der Basis eines Freihandelssystems zustande gekommen. Ein Imperium auf der zweiten Etage ist die Europäische Union zu bauen bemüht; auch dieses Gebilde wird in den weniger entwickelten Ländern an der europäischen Peripherie zunächst die Wirkung haben, daß einheimische Betriebe durch Filialen internationaler Konzerne ersetzt werden.
Politische Gestalten – zur Soziologie der Demokratie Demokratie gilt vielen als pauschales Etikett für alles Gute, Wahre und Schöne. Schumpeters Demokratiemodell ist von solchen Ideen weit entfernt. Er verwirft die Vorstellung, die Demokratie sei mit der Verwirklichung von Freiheit, Gemeinwohl oder ande44 Kunibert RAFFER, H. W. SINGER: The Economic North-South Divide: Six Decades of Unequal Development, Cheltenham (UK)-Northampton (US) 2001; Paul R. KRUGMAN: Development, Geography, and Economic Theory, Cambridge u.a. 1995; Joseph E. STIGLITZ: Globalization and Its Discontents, New York 2002. 45 Egon MATZNER: Monopolare Weltordnung. Zur Sozioökonomie der US-Dominanz, Marburg 2000; Christian TOMUSCHAT: Der selbstverliebte Hegemon. Die USA und der Traum von einer unipolaren Welt, in: Internationale Politik 58 (2003), H. 5, S. 39– 47; Niall FERGUSON: Colossus. The Rise and Fall of the American Empire, New York 2005; Victoria de GRAZIA: Irresistible Empire. America’s Advance Through Twentieth Century Europe, Cambridge 2005; Geir LUNDESTAD: The United States and Western Europe since 1945. From “Empire” by Invitation to Transatlantic Drift, Oxford 2003.
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ren letzten Zwecken zu identifizieren, und er anerkennt, daß Eliten und Oligarchien auch in demokratischen Ordnungen existieren. Die Demokratie ist für ihn ein bloßes Mittel der Hervorbringung notwendiger Führungsschichten: „Die Demokratie ist eine politische Methode, das heißt: eine gewisse Art institutioneller Ordnung, um zu politischen – legislativen und administrativen – Entscheidungen zu gelangen, und daher unfähig, selbst ein Ziel zu sein, unabhängig davon, welche Entscheidungen sie unter gegebenen historischen Verhältnissen hervorbringt.“46 Formulierungen wie jene, daß in einer demokratischen Ordnung das Volk sich selbst beherrsche, also Identität von Herrschenden und Beherrschten gelte und dergestalt Herrschaft im eigentlichen Sinne beseitigt sei, hält Schumpeter für blanke Augenauswischerei: „Demokratie bedeutet nur, daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen.“47 Die Demokratie wird zu einer politischen Methode, die sich von jeglichen besonderen Idealen oder letztgültigen Werten losgesagt hat.48 Tatsächlich ist die Demokratie eine Methode zur widerrufbaren Herrschaftsauswahl. Der Prozeß, in dem dies geschieht, ist ein Wettbewerb um Wählerstimmen, der in einer Mediengesellschaft im Wesentlichen in der Arena der publizierten Meinungen ausgetragen wird. Angesichts der Erosion der weltanschaulichen Profilierung der politischen Parteien sind die Führer gezwungen, sorgsam auf Meinungsumfragen und Stimmungsschwankungen zu achten und zu reagieren. Die Ähnlichkeit mit Unternehmern ist tatsächlich auffallend: Auch für Unternehmer geht es nicht um die „richtigen“ Produkte, um Qualität, Ästhetik, Wahrheit, sondern darum, den Kunden zu liefern, was diese wollen, und seien es auch Schund und Unsinn. Demokratie reduziert sich gleichfalls auf institutionalisierten Opportunismus, der jedoch als solcher nicht sichtbar werden darf, um die Wähler nicht zu vergrämen. Das ist die Quintessenz von Schumpeters – berühmt gewordener – Definition, die demokratische Methode sei „diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben“.49 Schumpeter wurde mit dieser Konkurrenztheorie der Demokratie zum Ahnherrn einer heute lebenskräftigen Richtung politischer Theoriebildung,50 indem er 46 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 384. 47 Ebd., S. 452. 48 Deswegen äußert sich Bachrach kritisch über diese Vorgehensweise; vgl. Peter BACHRACH: Die Theorie demokratischer Elitenherrschaft. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M. 1970, S. 30. Siehe auch John MEDEARIS: Joseph Schumpeter’s Two Theories of Democracy, Cambridge 2001; David A. REISMAN: Democracy and Exchange. Schumpeter, Galbraith, T. H. Marshall, Titmuss and Adam Smith, Cheltenham 2005. 49 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 428. 50 Bruno FREY: Schumpeter, Political Economist, in: Helmut FRISCH (Hg.): Schumpeterian Economics, Eastbourne-New York 1981, S. 126 –142.
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aus seinem Modell konkurrierender Gruppen, die jeweils beim Bürger durch programmatische Offerte Anklang zu finden suchen, die logische Folgerung zog, daß sich Politiker nicht anders verhalten könnten als Unternehmer: daß sie mit den Stimmen der Wähler „handeln“ müßten wie die Geschäftsleute mit ihren Waren.51 Natürlich hat das Modell der Elitenkonkurrenz auch seine Begrenzungen. Wie demokratisch ist eine Ordnung, wenn bestimmte als relevant erkannte Fragen von allen konkurrierenden politischen Gruppen ausgespart werden? Wie leicht ist der Zutritt zum politischen Markt für neue Gruppierungen? Wie steht es mit den Manipulationschancen von Elitenkartellen? Welchen Zeitraum der Wirksamkeit politischer Maßnahmen können Eliten in ihrer Konkurrenzsituation berücksichtigen? Auch der „politische Markt“ ist – wie der Markt der Güter und Dienstleistungen – kein „vollkommener Markt“. Aber auch andere Einwände sind gewichtig: Wie weit kann man den „Formalismus“ – Demokratie als bloß formales Verfahren – treiben? Impliziert nicht allein das Erfordernis, daß der Wahlmechanismus als Konkurrenzmechanismus gut funktionieren muß, eine Reihe von inhaltlichen Bestimmungen der Demokratie, das heißt: Einschlägige Freiheiten sind erforderlich, damit sich Parteien bilden und um Stimmen werben können, und das wieder braucht eine ganze Reihe von menschen- und bürgerrechtlichen Voraussetzungen und eine Zähmung der Machthaber. Schumpeter bringt sein Modell ja auch drastisch auf den Punkt: Sein Konkurrenzmodell ist so weit von inhaltlicher Substanz befreit, daß seines Erachtens auf demokratischem Wege auch Hexenverbrennungen und Judenverfolgungen bewerkstelligt werden könnten. Das Argument ist richtig, soweit es den Kern des Modells illustriert; aber wenn die herrschenden Gruppierungen ideologische „Hexenjagden“ veranstalten, die es jedwedem politischen Gegner verunmöglichen, jemals die Regierung abzulösen (weil jeder Kritiker als „Hexe“ oder „Hexer“ verunglimpft oder gar physisch eliminiert wird), dann ist der zentrale Konkurrenzmechanismus beschädigt. In zahlreichen Ländern der Dritten Welt kommen Staatsführer auf demokratische Weise an die Macht, die sie sodann nutzen, um sich jeglicher Opposition zu entledigen – das sind höchst unvollkommene Demokratien. Das bedeutet: Eine funktionierende Demokratie braucht mehr als den Konkurrenzmechanismus, denn sonst funktioniert auch der Konkurrenzmechanismus bald nicht mehr. Demokratie ist kulturell voraussetzungsreich. Schumpeter ist sich darüber im Klaren: Demokratie beruht auf „demokratischer Selbst-
51 Natürlich ist die Rede von der „Neuen Politischen Ökonomie“, die auch unter verschiedenen anderen Bezeichnungen (Public Choice, Collective Choice, Varianten des Neoinstitutionalismus und so weiter) firmiert. Als klassische Werke sind anzusehen Anthony DOWNS: An Economic Theory of Democracy, New York 1957; Kenneth J. ARROW: Social Choice and Individual Values, New York 1951; Mancur OLSON: The Logic of Collective Action, Cambridge 1965. – Schumpeter kann aber auch in anderer Richtung weitergedacht werden, siehe etwa Michael WOHLGEMUTH: Evolutionary Approaches to Politics, in: Kyklos 55 (2002), H. 2, S. 223–246.
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kontrolle“.52 Die Wählerschaft und das Parlament dürfen nicht allen Schwindlern und Querulanten aufsitzen. Es dürfen keine Gesetze durchgehen, die Minoritätenrechte brutal verletzen. Ein gewisses Niveau der Konsistenz der Politik darf nicht unterschritten werden. Toleranz muß herrschen. Das Parlament darf die Regierung nicht dauernd stürzen. Wähler und Parteimitglieder dürfen ihre Führer nicht andauernd unter Druck setzen, sie müssen ihnen auch Fehler nachsehen. Man braucht „politische Tugenden“.53 Die Vertreter der „rationalen Demokratietheorie“, die sich von Schumpeter ableitet, haben ihn nur selektiv gelesen. Denn im Originaltext befaßt sich Schumpeter auch eingehend mit den irrationalen Komponenten des demokratischen Prozesses; ja auch mit dem diffizilen Problem des rationalen Umgangs mit irrationalen Komponenten, einem Geschäft, das den Alltag moderner Wahlmanager ausmacht.54 Verschiedentlich irritieren derlei Irrationalitäten ja sogar die Rational-choice-Theoretiker: etwa das Wählerparadoxon, demzufolge der rationale Wähler der Nichtwähler wäre, weil er wissen muß, daß seine einzelne Stimme das Wahlergebnis nicht beeinflussen würde; und sollte er sich dennoch für die Wahl entscheiden, so wäre es nur rational, würde er sich über die anstehenden Themen gar nicht informieren, denn auch die Qualität seiner Entscheidung wiegt wenig gegenüber dem Informationsaufwand.55 Bei Schumpeter finden wir nun allerdings keine vollständig informierten Individuen mit konsistenten, transitiven und stabilen Präferenzen; diese sind vielmehr widersprüchlich, lexikographisch, bestehen aus mehreren Schichten und sind Schwankungen unterworfen. Schumpeter setzt auch keine Markttransparenz voraus; seine überforderten Bürger müssen sich mit Informationsbruchstücken zurechtfinden, bestenfalls verfügen sie über bounded rationality und satificing behavior.56 Sie folgen simplifizierenden Daumenregeln.57 Einen gewissen Grad an Kompetenz billigt Schumpeter dem Einzelnen noch für den Bereich seiner unmittelbaren Lebensinteressen zu,58 aber tendenziell wird er unvernünftigerweise die Gegenwart vor der Zukunft bevorzugen. Lange vor der Diskussion über Ökologie und Nach-
52 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 467 ff. 53 Peter GRAF KIELMANSEGG: Nachdenken über die Demokratie. Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt, Stuttgart 1980; Vittorio HÖSLE: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997. 54 Manfred PRISCHING: The Limited Rationality of Democracy. Schumpeter as the Founder of lrrational Choice Theory, in: Critical Review 9 (1995), S. 301–324. 55 Leif LEWIN: Self-Interest and Public Interest in Western Politics, Oxford 1991. 56 James G. MARCH: Bounded Rationality, Ambiguity, and the Engineering of Choice, in: Bell Journal of Economics 9 (1978), S. 587– 608 (repr. in Jon ELSTER [Hg.]: Rational Choice, Oxford 1986, S. 142–170); Herbert A. SIMON: Rationality as a Process and Product of Thought, in: American Economic Review 68 (1978), Papers and Proceedings, S. 1–16; Ders.: Reason in Human Affairs, Oxford 1983. 57 Amitai ETZIONI: On Thoughtless Rationality (Rules of Thumb), in: Kyklos 40 (1987), S. 496–514. 58 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 409ff.
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haltigkeit hat Schumpeter festgehalten: Die Allokation über die Zeit ist in einer demokratischen Ordnung ineffizient. Weiters sind Identitäten und Präferenzsysteme der Wähler insgesamt problematische Konstrukte.59 Während die neoklassische Analyse meint: de gustibus non est disputandum,60 besteht in Wahrheit doch ein beträchtlicher Teil des politischen Lebens gerade in der Auseinandersetzung über Wertungen, Dispositionen, Attitüden, Ideologien oder Modelle der Wirklichkeit. Selbst Betrug und Hinterlist gehören zum politischen Geschäft.61 Wähler können Regierungsprogramme kaum einschätzen. Sie sind nicht kühle Verwalter ihrer Interessen, sie sind in ihren politischen Handlungen von Emotionen geprägt. Der typische Bürger fällt, wie Schumpeter drastisch meint, „auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. […] Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig.“62 Dabei mag es zu gleich üblen Ergebnissen führen, ob er nun dunklen Impulsen oder edler Entrüstung nachgibt.63 Und nicht zu vergessen: Auch Politiker sind in Wahrheit „politische Unternehmer“, was bedeutet, daß der politische Markt sich nicht durch Tauschgleichgewichte im Sinne eines klassischen Marktes auszeichnet; auch er ist ein „Entdeckungsverfahren“64 und charakterisiert durch eine „dynamische Rationalität“.
Die Totengräber – zur Soziologie des kapitalistischen Untergangs Ein rasch geschriebenes, ein populäres und tiefgründiges, ein kraftvolles und subtiles Buch – das ist die kenntnisreiche Darstellung vom Wachsen und vom Sterben der reichen Gesellschaft: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Die sterbende Kultur Wiens um die Jahrhundertwende mag sich darin widerspiegeln, die großen Kriege und die Bedrohung des alten Kontinents mögen die pessimistische Grundstimmung verstärkt haben. Auf die zentrale Frage: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“ gibt Schumpeter gleich zu Beginn eine bündige Antwort: „Nein, meines Erachtens nicht.“65 Diese Prognose wird nun unter Einsatz des gesamten Instrumentariums der gesellschaftsbezogenen Wissenschaften untermauert: Elemente von Philosophie, Geschichte, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft sind hier kunstvoll in einer Darstellung der sozi59 60 61 62 63 64
Jon ELSTER (Hg.): The Multiple Self, Cambridge 1985. Gary S. BECKER: The Economic Approach to Human Behavior, Chicago 1976. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 431. Ebd., S. 416f. Ebd., S. 417. Friedrich A. HAYEK: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969, S. 249–265. 65 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 105.
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alen Kräfte der neueren geschichtlichen Entwicklung verbunden.66 Wer aber nach dem apodiktischen Entree erwartet, ein Szenarium von tendenzieller Widersprüchlichkeit, ökonomischer Insuffizienz oder gar wirtschaftlichem Zusammenbruch des Systems vorgeführt zu bekommen, wird enttäuscht. Dies wäre ja durchaus nahe gelegen, nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und angesichts der in den vierziger Jahren verbreiteten Befürchtungen einer unvermeidbaren Stagnation in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Doch Schumpeter räumt energisch die Illusionen all jener beiseite, die in der ökonomischen Struktur des Kapitalismus Gründe für ein vermeintlich drohendes Absterben jener Gesellschaftsformation zu erkennen vermeinen: Das marktwirtschaftliche System ist seines Erachtens in ökonomischer Perspektive ungemein erfolgreich, ja die Erfolge seiner Struktur treten im Laufe der Zeit immer deutlicher hervor. Dennoch wird es untergehen. Schumpeter hält nichts von der Marxschen Prognose, derzufolge eine fallende Profitrate, die Verelendung der Arbeiterschaft und ihre steigende Ausbeutung ein krisengeschütteltes Industriesystem voraussehen lassen; er hält auch nichts von Stagnationstheorien in der „bürgerlichen“ Tradition, wie etwa von jener Alvin Hansens, der eine Lähmung der Investitionsdynamik aufgrund mangelnden kapitalintensiven technischen Fortschritts, mangelnder Bevölkerungszunahme und mangelnder neu zu erschließender Territorien voraussagt;67 er hält schließlich auch nichts von den düsteren Prophezeiungen liberaler Marktverteidiger, welche die zunehmende Vermachtung der Märkte, die Kartellierung und Oligopolisierung mit Sorge betrachten – gerade marktbeherrschende Unternehmen können es sich leisten, in Forschung und Entwicklung zu investieren und damit „große“ Innovationen hervorzubringen. Das ökonomische System ist seines Erachtens rundum erfolgreich, da es eine historisch einmalige Wachstumsrate der Gütererzeugung und eine progressive Erhöhung des Lebensstandards der Massen zu sichern imstande war. Diese Feststellungen haben sich als richtig erwiesen: Sättigungstheorien68 und Nullwachstumstheorien,69 die zeitweise prominent waren, können mittlerweile als charakteristische Elemente bestimmter Phasen der Bewußtseinsbildung in den Industriegesellschaften gelten; aber die von Schumpeter widerlegten Gründe für ein Erlahmen des Systems werden offenbar in der Tat nicht wirksam. Schumpeters Theorie des strukturellen Ineinandergreifens verschiedener Gesellschaftsformationen verweist auf die im Wesentlichen außerkapitalistischen Faktoren,
66 Vgl. Herbert von BECKERATH: Joseph A. Schumpeter as a Sociologist, in: Weltwirtschaftliches Archiv 65 (1950), wieder abgedruckt in HARRIS: Schumpeter (Anm. 16), S. 112. 67 Alvin HANSEN: Full Recovery or Stagnation?, New York 1938. 68 Josef FALKINGER: Sättigung. Moralische und psychologische Grenzen des Wachstums, Tübingen 1986. 69 Lester C. THUROW: Die Null-Summen-Gesellschaft. Einkommensverteilung und Möglichkeiten wirtschaftlichen Wandels, München 1981 (The Zero-Sum Society. Distribution and the Possibilities for Economic Change, New York 1980).
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denen der Kapitalismus seine Funktionsfähigkeit und seinen Erfolg verdankt. Institutionen und Verhaltensmuster, die dem Kapitalismus seine Existenz garantieren, stammen aus der feudalen Gesellschaft. Auf diese „Restbestände“ ist das Wirtschaftssystem angewiesen, doch genau diese feudalen Strukturen muß es im Laufe seiner Entfaltung zwangsläufig vernichten. Trotz seines ökonomischen Erfolgs entzieht es sich auf diese Weise evolutiv selbst die Grundlagen seiner Existenz. Für Weber wie für Schumpeter ist mit dem Modernisierungs- und Rationalisierungsprozeß ein umfassender Bürokratisierungsprozeß verbunden. Die ethischen und sinnvermittelnden Wurzeln sterben ab, die rein formelle Rationalität tritt hervor, der Kapitalismus beginnt über eine allgemeine Durchstaatlichung, Verbeamtung, Durchkartellierung seine eigenen Voraussetzungen – wie etwa die Freiheit der Märkte – zu zerstören. Die Moderne kommt ohne die Vormoderne nicht aus. Es war eine gemeinsame Grundüberzeugung der Sozialwissenschaftler der Zwischenkriegszeit, daß das System im Zuge seiner durchgreifenden Technisierung und Rationalisierung erstarren würde.70 Sechs Aspekte sind in diesem Szenarium der Selbstdestruktion eines erfolgreichen Systems bedeutsam. (1) Die Bürokratisierung des Entrepreneurs. Die Unternehmerfunktion, die der Motor des Fortschritts und die Grundlage der Systemdynamik war, verliert im Prozeß der Rationalisierung an Bedeutung; der wissenschaftlich-technische Fortschritt – in bürokratischen Stäben „erzeugt“ – verdrängt die geniale Erleuchtung zugunsten rationaler Planungstechniken. Die Umwelt hat sich an wirtschaftliche Neuerungen gewöhnt und leistet ihnen keinen Widerstand mehr – Persönlichkeit und Willenskraft zählen viel weniger. Der initiative Führer wird ersetzt durch Büroarbeiter; die soziale Stellung des kapitalistischen Unternehmers, aber auch der gesamten Bourgeoisie als Klasse, die personell und finanziell von diesen Einkommen abhängig ist, wird unterhöhlt. Die Revolution der Manager, die auch James Burnham71 beschrieben hat, verdrängt die Eigentümer-Unternehmer; die charismatischen Persönlichkeiten werden – so würde Max Weber formulieren – von den „Ordnungsmenschen“ ersetzt, die ihr Handeln nur an den bestehenden Verhältnissen ausrichten.72 70 Max WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen 1972. 71 James BURNHAM: Das Regime der Manager, Stuttgart 1948. 72 Es sei zum Verzweifeln, so hat Max Weber in einem Diskussionsbeitrag gesagt: „als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die ‚Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden. Daß die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt – in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen, und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale.“ Max WEBER: Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1909 (zu den Verhandlungen über „Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden“), S. 46.
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Diese gemeinsame Erwartung der Sozialwissenschaftler der Zwischenkriegszeit und der frühen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war aus heutiger Sicht zu eng gefaßt: technokratisch-bürokratische Strukturen auf der einen Seite, kraftvoll-unternehmerische Gestalten auf der anderen – die erstere Welt zehrt die letztere auf. In Wahrheit ist das Unternehmertum – auch in Gestalt des modernen Managertums – seiner Dynamik nicht beraubt worden. Legenden werden erzählt von den Konzernen, die einst in einer Garage begonnen haben (und bei manchen Computerkonzernen kann man ein Bild der Garage auf ihrer Homepage besichtigen); die Wunder der New Economy haben die Heldengeschichten bereichert – und wenig später Möglichkeiten zur Schadenfreude geboten. Die „Dynamiker“ haben es dennoch verstanden, mit ihren wissenschaftlichen, technischen und administrativen Stäben fertig zu werden, das heißt: sich von ihnen nicht „einfangen“ und „lähmen“ zu lassen; und sie haben dies auf eine eher pragmatische und vielgestaltige Weise geschafft, die sich nicht allein von den widersprüchlichen und oft inhaltslosen Managementtheorien ableiten läßt. Die steigende Komplexität verflochtener Systeme läßt sich durch eine elektronische Vernetzung kompensieren, welche die innovative Kraft der Organisation nicht notwendig beschränken muß, und wuchernde Verwaltungsgebilde sind durch organisatorische Neuerungen bewältigt worden, vom Outsourcing über Profit Centers bis zu Netzwerkkonzernen. Neue Konzerne bleiben in einer neuen Welt durch neue Organisationsformen innovativ – ob immer zum Nutzen des Publikums, steht dahin. Aber vor einer Lähmung hat an der gegenwärtigen Jahrhundertwende keiner mehr Angst. Neuerdings wird die erlahmende innovative Kraft der Konzerne dadurch wieder belebt, daß akademische Forschungseinrichtungen weltweit, besonders aber im visionsarmen Europa, als Zulieferinstitutionen für industrielle Neuerungen verstärkt hergerichtet werden: im Sinne einer öffentlichen Unterstützung für Konzerne, denen in der Wissensgesellschaft die eigenständige Erzeugung von Produktionsvoraussetzungen zu teuer ist. Die Abwälzung der Kosten auf die Allgemeinheit erweist sich als praktikabler Weg, der von einer intensiven ideologischen Propagierung begleitet wird. Der Prozeß der Rationalisierung erweist sich somit als verträglich mit einem fortgesetzten Prozeß der Innovation. (2) Der Verlust unternehmerischer Legitimität. In den geschilderten Prozessen werden nach Meinung Schumpeters die wirtschaftlichen Grundlagen der kleinen Produzenten und Kaufleute untergraben. Mit den kleinen und mittelgroßen Firmen verschwinden die lebenskräftigsten und ausdrucksstärksten Gestalten aus dem Gesichtskreis des Volkes, auf das sie den wesentlichsten Einfluß hatten. Wenn dieser stabilisierende Einfluß wegfällt – und in einem Großbetrieb wird dies rasch der Fall sein –, wird eine Institution wie das private Eigentum obsolet. Im Herzen des kapitalistischen Systems, in den großen Konzernen und Aktiengesellschaften, erwachsen daher sozialistische Tendenzen, die auch schon von Karl Marx, Werner Sombart und Rudolf Hilferding für charakteri-
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stisch erachtet wurden;73 die Marktwirtschaft wandelt sich zum „organisierten Kapitalismus“,74 die unternehmerische Leistung verliert an Wertschätzung. Das Argument ist an das unmittelbare Erscheinungsbild persönlicher Unternehmer gebunden, an einen „Familienbetrieb“, auch wenn er zu einer „Fabrik“ gediehen ist, und es beschwört den Patriarchen, der ein Herz für seine Mitarbeiter hat: der des Vormittags durch die Montagehalle schlendert und den einen Arbeiter fragt, wie er mit seinem Hausbau vorangekommen ist, und den anderen, wie es seiner Frau mit dem Rheuma geht. Diese Epoche ist freilich zu Ende gegangen. Aber die Menschen haben sich generell auch mit jenen anonymen Gebilden abgefunden, die ihnen ordentliche Güter- und Dienstleistungen erbringen: mit den Supermärkten anstelle der nachbarschaftlichen Gemischtwarenhändler, mit den Shopping Malls anstelle der kleinen Betriebe, mit den „Ketten“, die ihre zugehörigen Läden über das ganze Land verteilen. Niemand hat – wie Schumpeter suggeriert – das Gefühl, Siemens müßte dringend verstaatlicht werden, weil man den Generaldirektor nicht mehr kennt oder ihm face-to-face begegnen kann, oder Daimler Chrysler entbehre einer grundlegenden Legitimität, solange dieses Unternehmen qualitativ ordentliche Autos liefert. Unternehmer und Manager haben ganz im Gegenteil nach den sechziger und siebziger Jahren an Reputation gewonnen, sodaß die jüngere Generation Ausbildungsgänge, die mit „Management“ zu tun haben – egal welcher Art – außerordentlich attraktiv findet. Das Kapital wiederum findet sich zunehmend in Fonds wieder, auf deren Erträgen die Pensionen breiter Bevölkerungsschichten beruhen, sodaß die Einrichtung einer Aktiengesellschaft nicht von vornherein illegitim anmutet. Pensionisten sind neuerdings an Börsekursen interessiert. Der Umbau des Wohlfahrtsstaates – weg von staatlichen Transfers, hin zur Eigenvorsorge mittels Pensionskassen – mutet, wenn man zu Verschwörungstheorien neigt, beinahe als bewußte Legitimierungsstrategie an: Die steigende Macht von Konzernen muß kompensiert werden durch das Eigeninteresse der „kleinen Leute“ an ihrem Ertrag. Wenn die Menschen zur Investition in Konzerne gezwungen sind, an deren Wohlergehen ihnen in der Folge – zur Sicherung ihres eigenen Lebensunterhalts im Alter – viel gelegen sein muß, kann es keine besseren Verteidiger des Kapitals geben. (3) Die Erschütterung kapitalistischer Institutionen. Wenn die Rechtfertigung nicht mehr im Bewußtsein des Volkes verankert ist, werden nach Schumpeters Ansicht die Fundamente des Privateigentums und des freien Vertragsrechts erschüttert. In den Großunternehmen liegt weder bei den bezahlten Exekutivorganen noch bei den Aktionären ein spezifisches Eigentumsinteresse vor. Das freie Vertragsrecht wird ersetzt durch einen
73 Werner SOMBART: Der moderne Kapitalismus, 2 Bände, München 1987 (erstmals 1902ff.); Rudolf HILFERDING: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910. 74 Heinrich A. WINKLER (Hg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974.
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stereotypen, unpersönlichen und bürokratischen Vertrag, den man nicht gestalten, sondern nur annehmen oder ablehnen kann. „So schiebt der kapitalistische Prozeß alle jene Institutionen, namentlich die Institutionen des Eigentums und des freien Vertragsrechts, die einst die Bedürfnisse und die Formen der wahrhaft ‚privaten‘ Wirtschaftstätigkeit ausgedrückt hatten, in den Hintergrund.“ Aber ein „Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treuepflicht, wie es die lebenskräftige Form des Eigentums einst tat. Zuletzt bleibt niemand mehr übrig, der sich wirklich dafür einsetzen will – niemand innerhalb und niemand außerhalb der Bezirke der großen Konzerne.“75 Gerade der vorhin erwähnte Bedeutungsgewinn der Managerklasse hat dazu geführt, daß die Exponenten sich zunehmend in eine Situation manövrieren, in der sie auf selbstdestruktive Weise an der Erosion ihrer Legitimität arbeiten: weil sie große Konzerne immer stärker als Selbstbedienungsläden für ein exzessiv luxuriöses Leben benutzen, weil sie – von keinem Anstand gebremst – sich selbst in Situationen, in denen von der Belegschaft Verzicht eingefordert wird, aus den betrieblichen Kassen Gehälter, Prämien und Sonderzahlungen genehmigen, die in keinem Verhältnis zu irgendwelchen Leistungen stehen, und weil sie letztlich – oft im Dienste eigener Zahlungsströme – dem Betrug zuneigen, um wirtschaftliche Indikatoren zu manipulieren.76 Auch in diesem Falle zeigt sich, was man beinahe als soziale Gesetzmäßigkeit ansehen kann: daß ungebremste Macht zum Mißbrauch neigt. Tatsächlich gilt die Schumpetersche These, daß ein anonymes Eigentum keine moralische Treuepflicht mehr hervorbringt, vor allem einmal für das Verhältnis von Managern und Eigentümern. Wenn der Aktienbesitz verstreut ist, wenn er von Banken gehalten wird, die sich selbst wieder als anonyme Großorganisationen darstellen, wenn sich als Aktionäre vor allem Fonds finden, die selbst keinerlei Interesse am Unternehmen haben, sondern allein die Geldanlage sehen, – dann sind Vertrauensverhältnisse ebenso eliminiert wie offenbar auch Skrupel vor einer ungenierten persönlichen Bereicherung. Die Hybris der Managerklasse am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts könnte allerdings rasch tatsächlich in jenen rapiden Delegitimierungsprozeß umschlagen, den Schumpeter beschrieben hat. Als „herrschende Klasse“ würde sie in Kurzsichtigkeit und Borniertheit die Grundlagen des Wirtschaftssystems aushöhlen. (4) Die politische Destabilisierung. Der Rationalisierungsprozeß wirkt aber nicht nur auf das ökonomische System und gefährdet lebenswichtige Institutionen, sondern übt auch krisengenerierende Einflüsse auf das politische System aus, indem er die kooperative Arbeitsteilung zwischen Bürgertum und Aristokratie, die sich aus der feudalen Gesell75 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 230. 76 Reinhard BLOMERT: Die Habgierigen. Firmenpiraten, Börsenmanipulation: Kapitalismus außer Kontrolle, München 2003.
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schaftsordnung stabilisierend in den Kapitalismus fortgesetzt hatte, zerbricht. In einem Brief aus Bonn 1919 hat sich Schumpeter über die „Mißwirtschaft“ in der Republik beklagt, eine Mißwirtschaft, „die systematisch alles ruiniert und durch Unfähigkeit noch mehr sündigt als durch die Grundsatzlosigkeit, durch Unfähigkeit, wie sie keine Aristokratie überbieten könnte“.77 Nun kann man sich über die Unfähigkeit politischer Systeme sicherlich des Langen und Breiten auslassen; gleichwohl ist fraglich, ob die Staaten gegenwärtig tatsächlich so viel schlechter geführt werden als in früheren Zeiten. Ganz sicher sind neue Dynamiken, nicht immer zum Besseren, in das politische System geraten, indem die beschleunigende und verschärfende Wirkung der elektronischen Medien das Geschäft der Politik grundlegend verändert hat. Politische Maßnahmen, die nicht den Filter populistischer Zustimmung passieren, können praktisch nicht mehr umgesetzt werden. Politiker, die nicht einem vordergründigen Starprinzip entsprechen, werden nicht wirksam. Insofern ist Schumpeters Klage über den Verzicht auf die Führungsleistungen der Aristokratie obsolet. Nicht einmal ein „bürgerlicher Habitus“ reicht für einen beeindruckenden Fernsehauftritt aus, ja er könnte sich sogar als schädlich erweisen. In den Anfangsphasen der Demokratie war das Bestreben vorhanden, die Besten zu wählen; mittlerweile erträgt es der aufbegehrende und selbstbewußte Durchschnittsbürger nicht mehr, daß es einen Besseren geben kann, und er hält diesen für einen „Angeber“, er findet seine Äußerungen unverständlich, er findet ihn widerlich – und er wählt lieber seinesgleichen. Nicht die politischen Gestaltungsleistungen sind relevant, sondern das politische Showgeschäft ist jenes Terrain, auf dem Entscheidungen fallen. Aber eine andere Neuerung ist vermutlich noch wichtiger: der angesichts der internationalen Verflechtungen eintretende Bedeutungsverlust der Politik überhaupt. Die Zeit, als man Politik, Wirtschaft und Kultur zur Deckung bringen konnte, ist vorüber: Die Souveränität der Nationalstaaten befindet sich in Auflösung; die „Volkswirtschaft“, die man wirtschaftspolitisch „steuern“ konnte, existiert nicht mehr; und die geschlossenen Volkskulturen weichen äußerst gemischten Verhältnissen. Politik kann kaum mehr machen als die nähere Umgebung als adretten „Standort“ für Wirtschaftsbetriebe aufbereiten. Deshalb gerät die Politik in einen Spagat: sie muß einerseits ihre eigene Relevanz betonen, ihre Leistungsfähigkeit für die Wünsche des Wählers; aber sie hat de facto keine Relevanz mehr. Politik spielt Politik vor. (5) Die Motivationskrise. Schließlich ergibt sich aus den skizzierten Entwicklungen – aus dem Prozeß der alles durchdringenden Rationalität und den dadurch hervorgerufenen Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen – eine generelle Abschwächung der dynamischen Motivation. Die Kraftquelle im Inneren der Menschen, aus der die 77 Zitiert bei MÄRZ: Schumpeter (Anm.6), S. 180, Anm. 6.
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bürgerliche Gesellschaft ihre Dynamik geschöpft hatte, wird in einer Motivationskrise erstickt, wie sie Jahrzehnte nach Schumpeter auch von Claus Offe und Jürgen Habermas beschrieben wurde.78 Das Wertsystem und die Pflichtauffassung der wirtschaftenden Menschen machen im Zuge der Verflüchtigung der Eigentumssubstanz eine entscheidende Veränderung durch. Durch das Übergreifen der Rationalisierung auf die private Lebenssphäre löst sich die bürgerliche Familie auf. Die Notwendigkeit der Akkumulation von „Konsumentenkapital“ – etwa in Form einer ausgedehnten Haushaltung –, und damit die Wünschbarkeit von Einkommen über einem bestimmten Niveau nehmen nach Schumpeters Auffassung ab. Denn die Familie und ihr Haus waren die hauptsächliche Triebfeder und die typisch bürgerliche Art des Gewinnmotivs; daher geht nun die Bourgeoisie zunehmend „der kapitalistischen Ethik verlustig, welche für die Zukunft zu arbeiten einschärft, unabhängig davon, ob man die Ernte selbst einbringen wird oder nicht“.79 Aus dieser anderen Einstellung zu den Werten und Maßstäben der kapitalistischen Ordnung heraus, die um sich greift, und aufgrund der Tatsache, daß die bürgerliche Ordnung für die Bourgeoisie selbst keinen Sinn mehr hat, formiert das Bürgertum keine entschlossene Abwehrfront gegen die feindseligen Angriffe auf den Kapitalismus, sondern agiert mit ungewöhnlicher Sanftmut, mit Kompromißbereitschaft und mit defensivem Verhalten. Das Argument, daß die Triebkraft für Leistungen in Familie und Haus zu suchen sei, könnte insofern als wichtig betrachtet werden, als diese Kristallisationspunkte des privaten und halböffentlichen Lebens tatsächlich dahinschwinden. Sie bilden nicht mehr die Motive des Schaffens. Doch der Luxuskonsum hat sich längst neue Spielwiesen gefunden. Die Reichen können in Flugzeuge und Jachten investieren, die weniger Reichen immer noch in Helicopter-Skiing und in Reitpferde, und selbst der Mittelstand gönnt sich Weltreisen, Golfurlaube und Autos der gehobenen Klasse. Man kann sich architektonische Meisterleistungen bauen lassen, auch wenn man selten dort wohnt. Man kann in Kunst investieren – oder sein Geld gar in wissenschaftliche Stiftungen fließen lassen. Vieles davon gehört durchaus zu einem „demonstrativen Konsum“, der Familie und Haus zu ersetzen in der Lage ist. Sättigungsgefühle, also Gefühle, daß man sich nicht um noch mehr Einkommen zu bemühen braucht, weil man es nicht sinnvoll ausgeben kann, sind Angelegenheit einer verschwindenden Minderheit. Es geht auch längst nicht mehr darum, für die Zukunft zu arbeiten, wie dies Schumpeter glaubte; es wird nur noch für die Gegenwart gearbeitet, aber diese allein erscheint als Faß ohne Boden. Der sich vor einer Unterkonsumption ängstigende Kapitalismus hat es geschafft, Höchstleistung und Höchstkonsum zu vereinen: Disziplin und Spaß, Intensität der Arbeit und Intensität des 78 Claus OFFE: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a. M. 1972; Jürgen HABERMAS: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973. 79 SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 259.
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Konsums. Er hat es geschafft, den Menschen beizubringen, daß sie sich in beiden Dimensionen mit höchster Anstrengung geschwinde zu verbrauchen haben. Diese Hinweise beziehen sich nun freilich auf die „besseren“ Einkommensverhältnisse. Im Zusammenhang mit den bereits jahrzehntelang anhaltenden Diskussionen über die Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates haben jene Argumente, die auch von Jürgen Habermas vorgetragen werden, immer eine wichtige Rolle gespielt: Vermutungen, die angesichts einer wohletablierten Sozialstaatlichkeit darauf zielen, daß die „Härte“ der Realität von allen Seiten fürsorglich eingehegt wird, sodaß ein „Verwöhnungseffekt“ (mit Mißbrauchsfolgen) eintritt. Präziser formuliert: Warum soll man sich bemühen, wenn ohnehin eigene Leistungen weitgehend durch Sozialtransfers ersetzt werden können? Das meritokratische Bewußtsein wird durch ein wohlfahrtsstaatliches ersetzt. An die Stelle von Marktanstrengung tritt das Bemühen um ein sozialgesetzlich anerkanntes Arrangement eigener Lebensumstände, welches zum anstrengungsfreien Bezug von Transfers aus öffentlichen Kassen berechtigt. Freilich scheint der Höhepunkt der Wohlfahrtsstaatlichkeit überschritten zu sein: Leistungen werden gekürzt, Berechtigungen genauer kontrolliert, Bezugskriterien verschärft. Das Diktat der leeren Kassen leitet einen gewissen Backlash ein, der seine Wirkungen auch auf das Bewußtsein potentieller Sozialstaatskunden entfaltet. Damit mildert man die Finanzkrise und verschärft die Legitimationskrise. (6) Die Feindseligkeit der Intellektuellen. Der fortgeschrittene Rationalismus, dessen Entwicklung so reiche Erfolge beschert hat, frißt schließlich seine Kinder: Er wendet sich zur Masse der kollektiven Ideen zurück und fragt etwa, warum es Könige, Päpste, Zehnten und Eigentum gibt.80 Die Mauern der bürgerlichen Festung bröckeln, es kommt eine aggressive soziale Atmosphäre auf, ein Groll gegen die kapitalistische Struktur. Insbesondere wird dieser Groll genährt von der Gruppe der Intellektuellen, deren Tätigkeit – wie Schumpeter ironisch schreibt – vorwiegend darin besteht, „sich gegenseitig zu bekämpfen und Lanzen zu brechen für Klasseninteressen, die nicht ihre eigenen sind“.81 Die kapitalistische Zivilisation müsse den Erziehungs- und Bildungsapparat ausdehnen, wodurch ein intellektuelles Proletariat entstehen könne, das seine aus der peripheren sozialen Stellung erwachsene Feindseligkeit gegen die kapitalistische Ordnung in die Arbeiterbewegung, in Stäbe, Parteien und Bürokratien hineintrage.82 Den Regierungen sei es noch nie gelungen, sich die Gefolgschaft der Intellektuellen zu sichern,83 disziplinierende Maßnahmen seien nicht möglich: In der kapitalistischen Wirtschaft müsse jeder Angriff auf die Intellektuellen auch gegen die bürgerliche Wirt80 81 82 83
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schaft vorgehen, deren Institutionen ihnen Schutz bieten. Denn jene Freiheiten, die die bürgerliche Schicht mißbilligt, können nicht vernichtet werden, ohne daß nicht auch Freiheiten, die sie billigt, beseitigt werden. Die kapitalistische Ordnung könne somit ihren intellektuellen Sektor nicht erfolgreich kontrollieren. Kritische Intellektuelle gibt es wohl noch immer; aber nach ihrem großen kapitalismusfeindlichen Auftritt in den sechziger und frühen siebziger Jahren sind sie ruhiger geworden oder haben die Seite gewechselt. Selbst die Quasirevolutionäre der damaligen Zeit haben ihren „Marsch durch die Institutionen“ angetreten, mit dem entsprechenden Erfolg der Institutionen, und die nachfolgenden Generationen haben den Zeitgeistwechsel mitvollzogen. Abgesehen von wenigen älteren linken Ideologen, die aus nostalgischen Gründen gehätschelt werden (wobei auch die meisten von ihnen ihre Lebensgeschichte längst uminterpretiert haben), ist die Intelligenz nicht nur im biederen Lager der „sozialen Marktwirtschaft“ gelandet, sondern über die Mitte hinaus weit in das neoliberale Feld vorgestoßen. Nicht den Regierungen, sondern der Wirtschaft ist es gelungen, sich weitgehend die Gefolgschaft der Intellektuellen zu sichern. Es müssen nicht Freiheiten beseitigt werden, wenn man sich die Gefolgschaft kaufen kann. Und wer sich nicht direkt kaufen läßt, der läßt sich durch vielfältiges Amüsement ablenken.
Die Erben – zur Soziologie des Sozialismus Die Schumpetersche Dramaturgie führt vom Untergang des Kapitalismus, der an seinen Erfolgen zugrunde geht, zu einem ganz unmerklich entstehenden sozialistischen System. Schumpeter stellt Marx – in einem weiteren nachhegelianischen Schritt – gleichsam wieder auf den Kopf. Der Kapitalismus, um eine Metapher Leontiefs84 zu verwenden, geht nicht an einem bösartigen Krebsgeschwür, nicht an seinem ökonomischen Versagen zugrunde, sondern an einer psychosomatischen Krankheit, an einer Neurose in den Köpfen. Schumpeter hat seine Vision eines der Erosion anheimgegebenen Kapitalismus wenige Tage vor seinem Tod in einem Vortrag vor der American Economic Association unter dem Titel „The March into Socialism“85 wiederholt. Ein wenig spielte bei solchen Prognosen freilich das „épater le bourgeois“ mit, das Schumpeter immer gereizt hat; aber natürlich war Schumpeter ebenso wenig ein „bürgerlicher Marxist“86 wie Max Weber. In seinem 84 Dies berichtet Paul A. SAMUELSON: Schumpeter’s Capitalism, Socialism and Democracy, in: HEERTJE (Hg.): Vision (Anm. 14), S. 1–21, hier S. 8. 85 Joseph A. SCHUMPETER: The March into Socialism, in: American Economic Review 401 (1950), S. 446– 456. 86 George CATEPHORES: The Imperious Austrian: Schumpeter as Bourgeois Marxist, in: New Left Review May/June 1994, 205, S. 3 –29.
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Buch hat er die Frage: „Kann der Sozialismus funktionieren?“ dennoch mit einem klaren „Selbstverständlich kann er es“ beantwortet.87 Darüber sei kein Zweifel möglich, wenn die erforderliche Stufe der industriellen Entwicklung erreicht sei und Übergangsprobleme bewältigt werden könnten. In vielem schrieb er einer sozialistischen Ordnung sogar eine höhere Rationalität zu im Vergleich mit einer kapitalistischen Struktur: sie werde die konjunkturellen Schwankungen beseitigen, die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen und beste Möglichkeiten zur Einführung wissenschaftlich-technischer Neuerungen bieten.88 Die „sozialistische Leitung“, so Schumpeter, „wird sich vermutlich dem Kapitalismus der Großunternehmung ebenso überlegen erweisen, wie der Kapitalismus der Großunternehmung sich jener Art von Konkurrenzkapitalismus überlegen gezeigt hat, dessen Prototyp die englische Industrie vor gut hundert Jahren war.“89 Man kann nicht umhin, das als Fehlprognose zu bezeichnen. 1992 konnte Francis Fukuyama90 die These aufstellen, daß die Logik der modernen Welt einer allgemeinen Entwicklung in Richtung eines kapitalistischen Systems folge. Die Schumpetersche Argumentation läßt sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Für eine früh- und hochkapitalistische Gesellschaft mag auch eine planwirtschaftliche Ordnung ausreichen, obwohl es auch hiefür genug sowjetische Anekdoten über die Ernteerträge auf den Kartoffeläckern und die Produktion tonnenschwerer Schrauben zur Erfüllung von Planzielen gibt; aber die Planwirtschaft scheitert jedenfalls an der Komplexität einer spätkapitalistischen Wirtschaft oder einer Wissensgesellschaft. Das war der Irrtum der klassischen Denker. Wenn die Sache komplexer wird, braucht man Planung nicht mehr; je komplexer die Sache wird, desto eher braucht man Selbstorganisationsmechanismen. Nun knüpfen Schumpeters Überlegungen an die theoretischen Probleme der Sozialisierungsdebatte an, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg geführt wurde. Auch wenn Schumpeter die Bedenken bezüglich der Funktionsfähigkeit einer sozialistischen Ordnung nicht für schlüssig hält, so äußert er sich gleichfalls unmißverständlich über die Freiheitlichkeit dieser Ordnung: sie werde kein gesteigertes Maß an Freiheit – oder auch an Wirtschaftsdemokratie – bedeuten. Im sozialistischen Staat werden die herrschenden Gruppen unbekümmert in der Lage sein, ihre autoritäre Disziplin durchzusetzen; der Staat werde fest sein in der Führung der Jugend und disziplinierend gegenüber den Arbeitern; ein „Streik wäre eine Meuterei“;91 es herrscht keine Diktatur durch, sondern über das Proletariat.92 „Praktische Notwendigkeit mag dazu führen, daß sich die sozia87 88 89 90 91 92
SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 267. Ebd., S. 310ff. Ebd., S. 313. Francis FUKUYAMA: The End of History and the Last Man, New York 1992. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 334ff., S. 228ff. Ebd., S. 480.
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listische Demokratie letzten Endes als größerer Trug erweist, als es die kapitalistische Demokratie je gewesen ist.“93 Die langfristige Vision Schumpeters ist somit unleugbar eine pessimistische. Sein heraufdämmernder Sozialismus quasitotalitärer, zumindest autoritärer Prägung kündet nicht die Morgenröte der Befreiung, sondern das Erstehen jenes eisernen bürokratischrationalen Gehäuses der Hörigkeit, das auch Max Weber fürchtete. Freilich sind jene totalitären Systeme, die den realen Sozialismus begründen und als das leistungsfähigere System erweisen wollten, mittlerweile zerbrochen. Der Kapitalismus gilt als „Sieger“ im Systemwettstreit, und die ehemals planwirtschaftlichen Länder, die, statt Güterfülle zu gewähren, das Wohlstandsniveau eines Entwicklungslandes kaum überschritten haben, drängen sich darum, Marktmechanismen zu installieren, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu erwerben und dem westlichen Verteidigungsbündnis beizutreten. Die Prognose einer allmählichen Transformierung des kapitalistischen Systems in ein sozialistisches war falsch; nur die Behauptung, daß ein sozialistisches System notwendig weniger Freiheit gewähren würde, war richtig. Insofern ist Schumpeter in seiner langfristigen Vision dem Zeitgeist der Zwischenkriegszeit erlegen: Denn Skepsis über die dauerhafte Existenz dieses Wirtschaftssystems lag in der Luft, ebenso wie die Skepsis am Überleben der abendländischen Zivilisation generell. Freilich darf man daraus nicht schließen, daß die Menschen mit dem kapitalistischen System heutzutage zufrieden sind. Die meisten von ihnen, die nicht an den bevorzugten Ecken des Systems zu Hause sind, lieben so etwas wie den Prozeß der „kreativen Zerstörung“ ganz und gar nicht. Auf der einen Seite geben sie sich gerade angesichts des kapitalistischen Erfolges ungeniert der „Revolution steigender Erwartungen“ hin; auf der anderen Seite sind sie wegen der Erschütterungen und Brüche, der Umwälzungen und der Unsicherheit beunruhigt. Während in den USA eine andersgeartete geistige Grundlage besteht, ist diese Unzufriedenheit in den europäischen Staaten durch die Sozialpolitik aufgefangen worden. Es war ein gemäßigter, domestizierter Kapitalismus, der sich in Europa etablierte, kein sozialistisches System, aber auch kein „Turbokapitalismus“. Doch die meisten würden heute eingestehen, daß die staatliche Obsorge nicht zuletzt durch die ordnungspolitische Konkurrenzsituation – durch das Beispiel des sozialistischen Imperiums – gefördert wurde. Man mußte die Menschen bei der Stange halten. Mittlerweile ist das östliche Imperium – durch seine planwirtschaftlichen Schwächen – zusammengebrochen. Daß in denselben Jahren eine globale Machtverschiebung zugunsten des Kapitals und zu Lasten der Arbeiter und Angestellten stattgefunden hat (operationalisierbar durch entsprechende Steuerbelastungen, Einkommensentwicklungen und Vermögensverhältnisse), mag vielleicht mehr als ein Zufall sein. Die Grundidee 93 Ebd.
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Schumpeters, daß sich der Kapitalismus durch die Logik seines Wirkens fatalerweise selbst die Grundlagen seiner Existenz entzieht, ist somit keineswegs bereits in die ideengeschichtlichen Archive zu verfrachten. Robert Heilbroner verweist nach wie vor auf die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus,94 und Jacques Attali meint ganz im schumpeterianischen Sinne, daß der kapitalistische Erfolg seinen eigenen Untergang vorbereite.95 Vieles spricht dafür, daß trotz des kapitalistischen „Endsiegs“ die Schumpetersche Konstellation vorliegt: Der technisch-wirtschaftliche Erfolg ist unleugbar; aber der Kapitalismus zehrt von kulturellen Voraussetzungen, die zu regenerieren er selbst nicht in der Lage ist. Dieses Kapitel ist noch nicht zu Ende geschrieben, auch nicht in der Phase des Triumphes der Marktgesellschaft.
Schlußbemerkung Wir sind mit diesen großen Szenarien weit auf spekulatives Terrain vorgestoßen. Prognosen, so betont Schumpeter mehrmals, bedeuten nicht die Wünschbarkeit des vorausgesagten Verlaufs der Dinge: „Wenn ein Arzt voraussagt, daß sein Patient nächstens sterben wird, bedeutet das nicht, daß er es wünscht.“96 Schumpeter war kein Prophet.97 Gegen die Zuschreibung einer kulturpessimistischen Haltung aber hätte Schumpeter nichts einzuwenden gehabt; schreibt er doch in einem Nachwort 1946 den lapidaren Satz: „[H]eute ist eine jener Situationen, in denen Optimismus nichts ist als eine Form der Pflichtvergessenheit.“98 Überdenkt man den Lauf der geschichtlichen Entwicklung, so ließe sich dieser Satz auch in den nächsten Jahrzehnten – bis in unsere Tage – des öfteren wiederholen.
94 95 96 97 98
Robert HEILBRONER: The Triumph of Capitalism, in: New Perspectives Quarterly 6 (1989), S. 4–10. Jacques ATTALI: Millenium: Winners and Losers in the Coming World Order, New York 1991. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 106. Robert J. SAMUELSON: Schumpeter – The Prophet, in: Newsweek 120 (1992), No. 19, S. 61. SCHUMPETER: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Anm. 21), S. 492.
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Peter Gasser-Steiner Fritz Heider (1896–1988) – der philosophische Analytiker und „naive“ Erforscher sozialer Beziehungen I. Einleitung – II. Biographische Hinweise – III. „Ding und Medium“ – IV. Die „Gründungstexte“ der Balancetheorie und Attributionstheorie – V. The Psychology of Interpersonal Relations – VI. Literaturverzeichnis
I. Einleitung Fritz Heider kann für sich beanspruchen, der Initiator dreier Hauptrichtungen der Psychologie zu sein: der Balancetheorie, der Attributionstheorie und der Psychologie der naiven Verhaltenstheorie. Heiders Balancetheorie ist die Vorläuferin einer Reihe sozialpsychologischer Ansätze, die heute als „Konsistenztheorien“ zusammengefaßt werden: Unter verschiedenen Leitbegriffen (wie Balance, Kohärenz, Konsonanz, Dissonanz, Kongruenz, usf.) geht es um die allgemeine Bewußtseinstendenz, kognitive Elemente miteinander in Einklang zu bringen. Das betrifft Denkprozesse, Einstellungen, Wahrnehmungen und Attributionen – also einen sehr weit gespannten Bereich.1 Die Attributionstheorie befaßt sich mit den Ursachenzuschreibungen, die im Alltag gegenüber Ereignissen in unserer Umwelt, insbesondere aber gegenüber dem Verhalten von Personen vorgenommen werden. Warum hat sich jemand (oder die eigene Person) in dieser Weise verhalten? Von der Beantwortung dieser Frage hängen weitgehend die Konsequenzen ab, die im Erleben eintreten bzw. im Verhalten gezogen werden, und die von den sogenannten „attributionalen Theorien“ behandelt werden.2 Der Ansatz der sog. „naiven Psychologie“ oder „Common-sense-Psychologie“, wie Heider sie genannt hat, betrifft die laienhaften psychologischen Konzepte, die im Alltag angewendet werden, um fremdes und eigenes Verhalten zu erklären und vorherzusagen.3 Heiders Haltung gegenüber der Alltagssprache wird oft durch ein Zitat apostrophiert, 1 Zur Einführung in Heiders Balancetheorie s. FILLENBAUM 1968; eine kritische Diskussion der frühen Entwicklungen s. ABELSON 1983; eine aktuelle Zusammenfassung und Darlegung der systematischen Beziehungen zwischen Balancetheorie und Attributionstheorie s. CRANDALL et al. 2007. 2 Darstellungen von Heiders Attributionstheorie finden sich bei WEARY & RICH 1980; CRANDALL et al. 2007; ein Meilenstein in der Entwicklung der Attributionstheorie war der Sammelband von HARVEY et al. 1978; einen Überblick über den Bereich der Attributionstheorien bieten MEYER 1993; WEINER 2008; RUDOLPH & REISENZEIN 2008. 3 Exemplarische Darstellungen und Weiterentwicklungen des Ansatzes der Naiven Psychologie: BURTON 1986; HARVEY & TURNQUIST 1986/87; FLICK 1992; ABELE & GENDOLLA 2002; SMEDSLUND 2008.
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– daß nämlich „die wissenschaftliche Psychologie viel von der common-sense-Psychologie zu lernen“ hätte.4 Da die drei eingangs genannten Richtungen im main stream der westlichen Sozialpsychologie des 20.Jahrhunderts liegen, wird Fritz Heider immer wieder als einer der einflußreichsten Psychologen seiner Zeit bezeichnet.5 Die Zitierung seines Namens in der Exposition eines sozialpsychologischen Artikels gehört gewissermaßen zum Kanon sozialpsychologischer Theoriearbeit.6 Schon ein flüchtiger Blick auf sein Werk läßt die Außergewöhnlichkeit dieser Wirkung erkennen – Heider war hinsichtlich der Anzahl seiner Publikationen sehr sparsam. Neben der Monographie The Psychology of Interpersonal Relations aus dem Jahr 1958,7 an der er nachweislich 15 Jahre gearbeitet hat, ist der einflußreiche Artikel „Ding und Medium“8 aus dem Jahr 1926 zu erwähnen, den er als 30-Jähriger in einer Berliner philosophischen Zeitschrift veröffentlicht hat und der im wesentlichen als Weiterführung seiner 1920 abgeschlossenen Dissertation zu sehen ist. Die „Gründungstexte“ der BalanceTheorie und der Attributionstheorie wurden in den 40er Jahren verfaßt und bestehen aus der Abfolge dreier Aufsätze, die ausgehend von einem Wahrnehmungsexperiment9 über eine theoretische Reflexion dieser Ergebnisse10 zu einem Formalisierungsvorschlag für balancierte Einstellungssysteme11 führen. Das induktive Schema der Theoriebildung – vom Experiment über die Begriffsbildung bis zur Formalisierung – scheint erfüllt zu sein. Die Psychologie der interpersonalen Beziehungen gilt als sein Hauptwerk, wobei jedoch von verschiedenen Heider-Interpreten eingewendet wurde, daß die zentralen Absichten dieses Werkes in der zeitgenössischen Rezeption nie richtig gewürdigt und teilweise sogar mißverstanden wurden.12 In der Folge soll der Lebensweg des Fritz Heider kurz dargestellt, die Entwicklungslinie seines Denkens nachgezeichnet und indirekt auch versucht werden, dem „Rätsel“ seiner außerordentlichen Wirkung auf die Spur zu kommen. 4 HEIDER 1958/1977, S. 15. 5 Siehe z. B. als Urteil eines prominenten Psychologen: KELLEY 1983. 6 REISENZEIN & RUDOLPH 2008 haben die Zitierungen von Heiders Hauptwerk The Psychology of Interpersonal Relations in der Zeitreihe untersucht und festgestellt, daß diese seit dem Jahr 1973 auf konstant hohem Niveau liegen (140 bis 180 Zitierungen pro Jahr) und 2006 sogar ihren Höhepunkt erreicht haben. Das ergibt insgesamt eine Zahl von über 6.000 Zitierungen in den einbezogenen Zeitschriften. Und der Begriff der Attribution, der Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts kaum verwendet wurde, bis ihn Heider als Schlüsselbegriff der sozialen Wahrnehmung vorschlug, erfuhr seither eine enorme Steigerung seiner Verwendung. Die Anzahl der Veröffentlichungen, die „Attribution“ im Titel oder Abstract enthalten, hat 2006 die Anzahl von 800 pro Jahr überschritten. 7 HEIDER 1958/1977. 8 HEIDER 1926/2005. 9 HEIDER & SIMMEL 1944. 10 HEIDER 1944. 11 HEIDER 1946. 12 Vgl. MALLE & ICKES 2000; MALLE 2008.
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II. Biographische Hinweise Heiders Lebensweg läßt sich in einprägsamer Weise in seiner Autobiographie13 nachlesen, in der neben den äußeren Lebensumständen auch die verschiedenen intellektuellen Milieus dargestellt werden, die zur Entwicklung seiner Gedanken beigetragen haben. Heider wurde am 19. Feber 1896 in eine Wiener Beamten- und Gelehrtenfamilie hineingeboren. Sein Vater Moriz (1863–1930) war als beamteter Architekt und Oberbaurat in der Steiermärkischen Landesverwaltung beschäftigt, weshalb der Lebensmittelpunkt der Familie in die Steiermark verlegt wurde. Seine Mutter Eugenie von Halaczy (gest. 1918) war eine Wienerin ungarischer Herkunft. Fritz Heider wuchs in Graz auf, der familiäre Mittelpunkt jedoch war Schloss Thinnfeld in Deutschfeistritz,14 ein repräsentatives Hammerherrenhaus im Rokokostil, das über die Großmutter in der Vaterlinie, Fanny von Thinnfeld (1821–1903), in die Familie gekommen ist und bis nach dem Zweiten Weltkrieg im Familienbesitz verblieb. Dort versammelte sich regelmäßig die weitverzweigte Familie, in der es vielfache Begabungen gab, die für die Ausbildung der Talente des jungen Fritz Heider bedeutsam waren. In erster Linie ist die Neigung zum Malen und Zeichnen zu nennen, die sowohl auf der väterlichen als auch der mütterlichen Seite anzutreffen ist. Fanny von Thinnfeld war Schülerin des steirischen Nazareners Joseph Ernst Tunner (1792–1877) und hinterließ qualitätsvolle Zeichnungen; Heiders Vater war neben der Berufstätigkeit als Architekt auch naturwissenschaftlicher Zeichner von hohem Rang; der Onkel Karl Heider (1856–1935), Ordinarius für Zoologie in Innsbruck und Berlin, war ein begabter Landschaftsmaler. Das Zeichnen nach der Natur muß in dieser Familie eine Selbstverständlichkeit gewesen sein – einer Familie, „deren Mitglieder“, wie Heider in seiner Autobiographie vermerkte, „generationenlang Skizzenbücher bei sich getragen und Aquarelle und Ölbilder gemalt haben“.15 Das lebenslange Interesse für Wahrnehmungsprobleme erscheint vor diesem Hintergrund als eine konsequente Fortsetzung und intellektuelle Verarbeitung einer familiären Lebenspraxis. Weiters finden sich bei vielen Familienmitgliedern ausgeprägte naturwissenschaftliche Interessen und ein Hang zur privaten Gelehrsamkeit, dem man oft über den Brotberuf hinaus nachging. Der Vater erforschte die Umgebung des Schlosses Thinnfeld in archäologischer Hinsicht und schrieb ein Buch über die steirischen Kieselalgen; der Großvater Moriz Heider (1816–1866) war einer der Begründer der wissenschaftlichen Zahnheilkunde in Österreich und Hofzahnarzt; der Großvater in der Mutterlinie,
13 HEIDER 1983/2004. 14 Eine Marktgemeinde ca. 15 km nördlich von Graz. 15 HEIDER 1983/2004, S. 167.
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Eugen von Halaczy, war Arzt, begeisterter Hobby-Botaniker und verfaßte ein Buch über die Flora Griechenlands. Ein weiterer Onkel, Adolf Heider (1858–1893), begleitete die von Karl Graf Lanckoronski-Brzezie geleitete österreichische archäologische Expedition in die Türkei, und der bereits erwähnte Onkel Karl Heider war ein bedeutender Vertreter der Vergleichenden Evolutionsforschung – das sind nur einige herausgegriffene Beispiele.16 Das Privatgelehrtentum in der Familie war für Fritz Heider auch insofern von großer lebenspraktischer Bedeutung, als die offenkundige Sympathie für versponnene Existenzen dem jungen Fritz Heider einen jahrelangen Spielraum für seine Identitätsfindung einräumte und seine „ziellose Lebensweise“17 tolerierte, wobei ihn die Familie zudem noch finanziell unterstützte. Der behütete, geradezu abgeschirmte Bildungsweg des jungen Heider förderte wohl die Ausbildung eines innengeleiteten, autonomen wissenschaftlichen Interesses, obwohl die Ausbildung dieser Identität ein langer Weg war. Er genoß vorerst Privatunterricht, ein kurzer Versuch in einer öffentlichen Schule wurde abgebrochen. Im Alter von neun Jahren erlitt Fritz Heider infolge einer Explosion beim Spiel mit dem Zündkapselrevolver eine Netzhautverletzung, die nach einer längeren Komplikation schließlich zum Verlust eines Auges führte. Dies dürfte die sozialen Rückzugstendenzen des Kindes gesteigert haben, sodaß er sich rückblickend im Alter von 14 Jahren als „sehr schweigsam, introvertiert und überaus schüchtern“18 beschrieb. Die Matura absolvierte er 1914 auf eigenen Wunsch an einer staatlichen Anstalt. An der Universität konnte sich Heider vorerst für kein Studium entscheiden. Er studierte zuerst Architektur, dann Jus und erhielt schließlich von seinem Vater die Erlaubnis, vier Jahre lang seinen eigenen Interessen nachzugehen. Er suchte sich aus dem Angebot der Universitäten jene Gebiete und Lehrenden aus, die ihn zu fesseln vermochten: Zoologie bei Karl Heider in Innsbruck, Psychologie bei Karl und Charlotte Bühler in München, in Graz den Gestaltpsychologen Vittorio Benussi und vor allem die Philosophen Alexius von Meinong19 und Hugo Spitzer. Der 1920 verstorbene Meinong akzeptiert ihn dann auch als (letzten) Disser-
16 Im Falle des Zoologen Karl Heider könnte man sogar an eine direkte Beeinflussung denken, da der vergleichende Evolutionsbiologe in den Debatten der Jahrhundertwende über den Stellenwert der experimentellen Methode in der Keimzellenforschung als Vertreter des Experiments eine exponierte Position einnahm, die danach durch die Drosophila-Forschung bestätigt wurde. Somit wurde Fritz Heider schon in der Herkunftsfamilie auf methodologische Debatten über den Wert und Unwert von Experimenten vorbereitet. Er selbst war seit den Berliner Jahren dem Experiment in der Psychologie gegenüber eher skeptisch eingestellt (vgl. KÜHN 1935). 17 HEIDER 1983/2004, S. 80. 18 Ebenda, S. 16. 19 Alexius von Meinong (1853–1920), Professor für Philosophie an der Universität Graz (1882–1920), ein Schüler des Franz Brentano, gilt gemeinsam mit Christian von Ehrenfels als Gründer der sogenannten „Zwei-
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tanten.20 Der erste Teil der Dissertation ist Meinongs Theorie der Sinnesqualitäten gewidmet, der zweite (von Meinong weniger geschätzte) Teil enthält die Skizze einer eigenständigen, naturwissenschaftlich geprägten Theorie der Wahrnehmung, die später zu „Ding und Medium“ (1926) umgearbeitet wurde. An dieser Stelle soll noch kurz auf einen weiteren Aspekt der Genese von Heiders intellektuellen Konstanten eingegangen werden, auf sein Interesse für die systematische Beschreibung sozialer Beziehungen. Man kann wohl sagen, daß darin sein Lebensziel als psychologischer Forscher lag. In seiner Autobiographie gibt er einige Hinweise auf den Ursprung dieser Orientierung: Selbstbeobachtung21 und die Beobachtung des sozialen Umfeldes waren ausgeprägte Neigungen des introvertierten Kindes. In den Hungertagen zu Ende des Ersten Weltkrieges kam es in seiner erweiterten Familie zu schwierigen Situationen und Konflikten; Heider begann über diese „Ärger-Situationen“22 systematische Aufzeichnungen zu führen und er versuchte, „allgemeine kausale Verbindungen“ zu finden. Spät im Leben entdeckte er die Nähe dieser Bemühungen zu seinem Hauptwerk. Nach dem Tod seiner Mutter, die 1918 der Spanischen Grippe zum Opfer fiel, dem Abschluß des Philosophiestudiums und dem Tod seines Lehrers Meinong im November 1920 entschloß sich Fritz Heider im November 1921, zu seinem Onkel Karl Heider nach Berlin zu ziehen, obwohl seine finanziellen Verhältnisse sehr unsicher waren. Die folgenden Jahre verbrachte Heider mit unterschiedlichen Aktivitäten, die teils dem Broterwerb dienten, teils eine Fortsetzung seiner Studien waren. In Berlin hörte er die führenden Gestaltpsychologen (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler), befreundete sich mit Kurt Lewin, arbeitete aber auch als Hilfselektriker und in einem Waisenhaus als Haustechniker. 1924 kehrte er vorübergehend nach Graz zurück und fühlte sich als „alternder, erfolgloser Student“. Die Zusage einer regelmäßigen finanziellen Zuwendung ten Österreichischen Schule der Werttheorie“, weiters als Begründer der „Grazer Schule der Gestaltpsychologie“ und lieferte neben seinen vornehmlich philosophischen Werken auch einige wichtige Beiträge zur Emotionstheorie und zur Wahrnehmung. 1894 richtete Meinong an der Universität Graz ein experimentalpsychologisches Labor ein – das erste in Österreich –, an dem seine Mitarbeiter Vittorio Benussi (1878 –1927) und Stephan Witasek (1870 –1915) Experimente v.a. über optische Täuschungen durchführten, die grundlegend für eine psychologische Theorie der Gestaltwahrnehmung sein sollten. 20 HEIDER 1920. 21 Der systematische Ernst dieser Selbstbeobachtung schon in der Jugend soll an zwei Beispielen gezeigt werden, die Fritz Heider in seiner Autobiographie berichtet: dem „existentiellen Spaziergang“ und dem „Reizentzugsexperiment“ (HEIDER 1983/2004, S. 31). Der „existentielle Spaziergang“ war als Test der Willensfreiheitshypothese angelegt, indem Heider versuchte, sich ganz seinen spontanen Entscheidungen zu überlassen, die ihn „frei“ zu einem nicht prognostizierbaren Ziel bringen. Nach einer Zugsfahrt mit Abbrüchen und Weiterfahrten kehrte er erschöpft nach Hause zurück. Im Reizentzugsexperiment verbrachte Heider zwölf Stunden in einer Höhle bei Deutschfeistritz im Dunklen und beobachtete danach an sich eine gesteigerte Wahrnehmungsintensität von Licht und Farbe. 22 HEIDER 1983/2004, S. 34.
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– ohne Bedingungen – von Seiten eines Cousins zweiten Grades empfand er als Rettung und entschloß sich für eine Universitätslaufbahn als Psychologe. Die Veröffentlichung des zweiten Teils seiner Dissertation (Ding und Medium, 1926) wurde von verschiedenen Psychologen sehr positiv aufgenommen. Egon Brunswick bezeichnete sie später als „ökologischen Standpunkt“ in der Wahrnehmungstheorie. Durch seine Berliner Kontakte war Heider offenbar so bekannt geworden, daß er 1927 von William Stern an das Hamburger Psychologische Institut geholt wurde. In den folgenden drei Hamburger Jahren knüpfte Heider durch Tagungsteilnahmen und eigene organisatorische Aktivitäten zahlreiche Kontakte zu den führenden deutschsprachigen Psychologen und Vertretern anderer Disziplinen, wie zum Beispiel zu Ernst Cassirer, der nach Meinong sein zweiter philosophischer Mentor wurde. Als er 1930 durch eine Empfehlung Sterns von Kurt Koffka das Angebot bekam, am Smith College in Northampton (Massachusetts) zu unterrichten und an der benachbarten Clark School für Gehörlose zu forschen, sagte er spontan zu – in der Absicht, ein Jahr zu bleiben. Es wurden 17 Jahre daraus, nicht zuletzt aufgrund der raschen Verehelichung mit Grace Moore, die am selben College unterrichtete. Die Folgejahre waren geprägt durch den als anstrengend empfundenen Erwerb der englischen Sprache23 und die angewandte psychologische Forschung im Bereich der kindlichen Gehörlosigkeit. Heider erlebte diese Jahre als Stagnation und begann sich unter anderem zur geistigen Erfrischung mit Statistik zu beschäftigen. Eine Europareise 1932 brachte die Erneuerung der alten Kontakte, führte ihm aber auch die Gewitterzeichen des bevorstehenden politischen Umbruchs in Deutschland vor Augen. Ab 1943 arbeitete Heider an seinem lang geplanten Hauptwerk, einem Begriffsnetz zur Beschreibung interpersoneller Beziehungen. Er sah sich jedoch angesichts der Lehrbelastung24 am Smith College dazu kaum in der Lage. Die 1947 erfolgte Einladung von Roger Barker, an das Department of Psychology der Universität von Kansas in Lawrence zu kommen, und ein gleichzeitig zustande gekommenes Guggenheim-Stipendium brachten die erhoffte Entlastung. Ab 1948 zirkulierten in den Netzwerken der amerikanischen Psychologen die ersten Kapitel des geplanten Buches über interpersonale Beziehungen. Erst 1958 konnte sich Heider entschließen, das lange gereifte Werk zu veröffentlichen. In den Jahren nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes erhielt Heider zahlreiche Einladungen zu Vorträgen in Europa und verbrachte ein Jahr in Oslo mit einem Fulbright-Stipendium. 1977 unternahm er seine letzte Reise nach Österreich, wo er Ver23 Gemeinsam mit seiner Frau Grace übersetzte Fritz Heider 1934 die Grundzüge der topologischen Psychologie von Kurt Lewin, die 1936 zuerst in englischer Sprache erscheinen sollten (Principles of Topological Psychology), bevor sie erst nach dem Krieg ins Deutsche rückübersetzt wurden. 24 Jüngst veröffentlichte persönliche Erinnerungen an den akademischen Lehrer Fritz Heider s. SCHÖNPFLUG 2008.
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wandte traf, und 1981 erhielt er – kurz nach seinem 85. Geburtstag – durch die österreichische Botschaft in Washington das Ehrendoktorat der Universität Graz verliehen. Für eine persönliche Entgegennahme war es wohl zu spät. Fritz Heider verstarb am 2. Jänner 1988 im 92. Lebensjahr, seine Frau Grace Moore Heider 1995 im Alter von 91 Jahren; sie hinterließen drei Söhne (Karl, John und Stephen).
III. „Ding und Medium“ Der erste wirkungsgeschichtlich bedeutsame Beitrag Heiders besteht in einem längeren Artikel, der unter dem Titel „Ding und Medium“ 1926 in einer Berliner philosophischen Zeitschrift erschienen ist25 und der eine Umarbeitung des zweiten Teils seiner 1920 bei Meinong26 in Graz abgefaßten Dissertation darstellt. In diesem Artikel wird ein Problem aufgegriffen, das der Wahrnehmungspsychologie und der sensualistischen Philosophie gemeinsam ist: wie sich nämlich aus den chaotischen Sinneseindrücken konstante Objekte der Wahrnehmung ergeben. Der Ausgangspunkt liegt somit im Meinongschen Argument, daß eine einfache Kausaltheorie der Wahrnehmung27 die Konstitution eines Objekts nicht hinreichend erklären kann, da aus der unendlichen Kette der Kausalwirkungen jeweils bestimmte Elemente herausgenommen werden müssen, die der Position des Objektes entsprechen. Das Wahrnehmungsobjekt entsteht erst durch die Selektivität der Wahrnehmung in der Kausalkette. Heider eröffnet seine Problembehandlung in konventioneller Weise, indem er zwischen dem Subjekt und dem Wahrnehmungsobjekt eine Vermittlungsinstanz einschaltet, die er als „Medium“ bezeichnet. Das Medium Luft, das die Schallwellen vom Sender zum Empfänger leitet, wird in der Wahrnehmung ausgeblendet. Das Wahrnehmungsobjekt wird als unbeeinflußbar gesehen („Innenbedingtheit“), das Medium hingegen ist von äußeren Bedingungen abhängig („Außenbedingtheit“). Diese Diffe-
25 Dieser Artikel wurde von Dirk Baecker 2005 neu herausgegeben und ausführlich gewürdigt. Die verschlungene Wirkungsgeschichte reicht von der Organisationspsychologie eines Karl E. Weick über die literaturwissenschaftliche Medientheorie bis hin zu Niklas Luhmann, der sein eigenes Medienkonzept (Geld, Macht, Liebe, Wahrheit, Glauben, Recht) bei Heider anschlußfähig findet. 26 Den Einflüssen, die Meinongs Emotionstheorie und Werttheorie auf Heider ausgeübt haben, gehen Rainer REISENZEIN und Irina MCHITAJAN nach (2008). Es scheint so zu sein, daß sich Heider zum Zeitpunkt der Abfassung seines Hauptwerkes vieler Bezüge zu den Auffassungen seines Doktorvaters nicht mehr bewußt war, wenngleich er sich summarisch des öfteren auf ihn bezog. 27 Eine Kausaltheorie der Wahrnehmung nimmt an, daß diese das Ergebnis einer Kette von Kausalvorgängen ist, die vom wahrgenommenen Objekt bis zum Wahrnehmungsorgan reicht. Der kritische Punkt dieser Auffassung liegt in der Frage, ob das letzte Glied dieser Kette, der Übergang vom (letzten) physikalischen Ereignis zur psychischen Repräsentation im Bewußtsein, auch als kausaler Vorgang aufgefaßt werden kann.
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renzierungen lassen sich gut an alltäglichen Wahrnehmungen wie Licht und Schall, die von einer fernen Quelle auf das Wahrnehmungssubjekt einwirken, plausibilisieren. Die Lösung des Problems jedoch, wie die Zuordnungsleistung der durch das Medium vermittelten Schwingungen zum kompakten Wahrnehmungsobjekt möglich ist, geht Heider von einer überraschenden Seite an: Er sucht die Lösung nicht (nur) beim Subjekt im Sinne der Syntheseleistungen des Wahrnehmenden in der „Gestaltproduktion“, sondern in den Eigenschaften des Mediums. „In diesem Sinne ist also die Synthese durch die äußere Welt bedingt. Wir werden vermuten, daß auch ihre spezielleren Gesetze nicht gänzlich aus dem Psychischen abzuleiten sind.“28 Welches sind nun die Eigenschaften eines Mediums im Unterschied zu den wahrgenommenen Dingen? Während die Dinge Einheiten bilden, die durch Ganzheitseigenschaften charakterisiert sind („Eigenschwingung“), besteht das Medium aus vielen kleinen Teilen, die voneinander unabhängig sind und daher eine „aufgezwungene Schwingung“ aufnehmen können. Diese „aufgezwungenen Schwingungen“ lassen im Medium „falsche Einheiten“ entstehen – gewissermaßen für das Medium irrelevante Bündelungen von Sinnesdaten, die unverständlich sind, wenn man sie nicht auf eine einheitliche Ursache zurückführt. Die essentielle Medieneigenschaft liegt somit in der von außen beeinflußbaren Beweglichkeit seiner Teile: Je beweglicher die Teile sind, desto besser, desto „ungestörter“ kann das Medium die Schwingungen des Objekts vermitteln. Sobald ein Medium Eigengesetzlichkeiten aufweist – wie zum Beispiel physikalische Anzeigeinstrumente –, ist es kein vollkommenes Medium mehr. Heider geht in seiner Erörterung der Medieneigenschaften von den natürlichen Wellenübertragungen aus (Schall, Licht), stellt aber auch Gedankenexperimente an: Ein Medium funktioniert wie ein Apparat, der aus verschiebbaren Stangen besteht, die zwischen einem Ding und dem wahrnehmenden Subjekt Botschaften vermitteln. Sind die Stäbe voneinander unabhängig verschiebbar, ist der Apparat als Medium gut geeignet; sind die Stäbe verbunden, ist der Apparat als Medium ungeeignet. Der mechanische Stoß im Apparat oder die Schallwelle in der Luft sind nur Beispiele. Der Begriff des Mediums wird so weit verallgemeinert, daß er seine ontologische Bindung an physikalische Gegenstände verliert. Heider konzipiert den Übergang vom letzten kausalen Glied in das psychische Phänomen der Wahrnehmung als Bedeutungsübertragung: „Die Lichtstrahlen, die mein Auge treffen, sind nur Boten vom Ding, sind Zeichen für das Ding.“29 Dieser gleitende Übergang von der Kausalanalytik in die Kommunikation ist für Heider charakteristisch, und so kann er auch die Buchstaben 28 HEIDER 1926/2005, S. 97. 29 Ebenda, S. 45.
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des Alphabets, die voneinander unabhängig und daher vielfältig kombinierbar sind, unter dem Aspekt eines idealen Mediums sehen. Eine weitere Übertragung der Begrifflichkeit von „Ding und Medium“ wird in diesem frühen Artikel schon vorgenommen und verweist auf den Kernbereich von Heiders späterem Interesse, auf die soziale Wahrnehmung. Wie von einem leuchtenden Gegenstand unendlich viele Lichtstrahlen ausgehen, die dann vom Medium weitergeleitet beim Subjekt zu einer Dingwahrnehmung führen, so sind die vielen kleinen Handlungen des Menschen Zeichen seiner Persönlichkeit, die durch das Medium der Kommunikation zu einer Wahrnehmung der Person führen. In „Ding und Medium“ unternimmt Heider den Versuch, die verschiedenen Bildungstraditionen seiner Universitätsjahre miteinander zu verbinden. Die Theorie der Empfindungen eines Ernst Mach („Elemente“) wird durch das Konzept des Mediums neu interpretiert: Die „atomistische Struktur“30 der Sinnesdaten verliert ihren rätselhaften Charakter, wenn man erkennt, daß sie auf den Eigenschaften von Medien beruht, welche die Vermittlung der Eigenschwingungen der Dinge an das wahrnehmende Subjekt ermöglichen. Zwei weitere ideengeschichtliche Prämissen erfahren durch „Ding und Medium“ eine Re-Interpretation: Meinongs Kritik an der Kausaltheorie der Wahrnehmung31 wie auch die Gestaltgesetze der psychologischen Gestalttheorie (Wolfgang Köhler). Beide Konzepte widmen sich dem Problem, wie es zur „richtigen“ Bündelung von Empfindungen kommt – zur Trennung von Figur und Hintergrund. Heider versucht mit seiner Medientheorie einen kreativen Ausweg, indem er die Lösung im Übergang vom Medium zum Subjekt zu finden bestrebt ist. Die „falschen Einheiten“,32 die im Medium durch die Wirkungen der Dinge entstanden sind, erfahren eine Synthese und werden dadurch wieder „richtige Einheiten“. Die Vorstellungen Heiders von der Art dieser Synthese, die er in verschiedenen Anläufen zu charakterisieren sucht, bleiben jedoch eigentümlich unscharf und unentschieden. Verschiedene Lösungswege werden angeschnitten – aber nicht ausgeführt. Die Synthese müsse in „sinnvoller Weise“ zustande kommen, womit Heider auf eine Bedeutungskohärenz anspielt, die nur als psychische Tendenz denkbar ist. Heider will die synthetische Leistung aber nicht gänzlich als psychische Leistung – im Sinne der Gestalt30 Ebenda, S. 96. 31 „Warum sehe ich denn gerade den Bleistift und nicht etwas hier knapp vor meinem Auge oder die Lampe? Vom Sinnesorgan geht zeitlich nach rückwärts eine ununterbrochene Kausalkette; […] Unser Wahrnehmen trifft aber ein ganz bestimmtes Glied der Kette. In Bezug auf die Kausierung sind also alle Glieder der Kette gleichberechtigt; in Bezug auf die Wahrnehmung nicht, sondern da gibt es ein ausgezeichnetes Glied und zwar unser Wahrnehmungsobjekt.“ (HEIDER 1926/2005, S. 30) 32 Die Einheiten im Medium werden als „falsch“ bezeichnet, da sie die fremdbedingten Ausläufer der Dinge sind: „Durch die Sinnesapparate werden diese falschen Einheiten wieder zu echten Einheiten“ (HEIDER 1926/2005, S. 94).
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gesetze – sehen. Die Synthese sei auch „durch die äußere Welt bedingt“ bzw. enthielte „Hinweise auf die Struktur der Welt“.33 Und schließlich spielt Heider mit dem Gedanken, daß die „Gesetzlichkeiten der Träger dieser Geschehen in ihrer Struktur übereinstimmen mit den Gesetzen der Bedeutungsschichte“,34 was aus heutiger Sicht wohl in die Richtung einer evolutionären Erkenntnistheorie weist, die von einer (evolutionär entwickelten) Entsprechung von Realität und Wahrnehmungsorgan ausgeht.35 Im letzten Absatz des Artikels taucht zum ersten Mal der Begriff der „Konstruktion“ für die synthetische Leistung des Wahrnehmungsapparates auf, der das Tor für eine völlig neue Denklinie aufstößt: „Aufgabe des Wahrnehmungsapparates ist es nun, aus der Vielheit der einwirkenden Ausläufer ein Abbild des Kerngeschehens zu konstruieren.“36 Ohne einem Mythos genialer Vorahnungen zu huldigen, wird man feststellen können, daß wesentliche Züge von Heiders Hauptwerk bereits im frühen Artikel „Ding und Medium“ anzutreffen sind: Die Sprachanalyse als Ausgangspunkt psychologischer Theoriebildung, die Verschränkung von kausalem und intentionalistischem Denken, und schließlich die Auffassung von Wahrnehmung als konstruktivem Prozeß, die weit voraus in die Richtung einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie weist. Insofern kann man eine durchgehende Linie in Heiders Denken feststellen.
IV. Die „Gründungstexte“ der Balancetheorie und der Attributionstheorie 1944 trat Heider durch die Veröffentlichung zweier Aufsätze hervor, die wieder als Problemexposition für das zukünftige Werk gelten können. In der experimentellen Studie,37 die er gemeinsam mit Marianne Simmel durchführte, geht es auf den ersten Blick um ein konventionelles Wahrnehmungsexperiment. Den Probanden werden bewegte geometrische Figuren im Film vorgeführt und danach werden sie befragt, wie sie das Gesehene interpretieren. Es zeigte sich, daß die Befragten den hintergründig angelegten Sinn der Experimentalanordnung durchaus verstanden hatten, indem sie die Punktbewegungen als Handlungen von Akteuren auffaßten – von Punktmännchen in verschiedenen sozialen Rollen. Heider hatte eben schon in der Planung des Films an ein Freundespaar gedacht, das durch einen Störenfried belästigt und verfolgt wird, mit einer Zimmertür, die sich öff-
33 HEIDER 1926/2005, S. 45. 34 Ebenda, S. 102. 35 Dirk Baecker sieht in seinem Vorwort zur Neuauflage von „Ding und Medium“ (2005) in diesem Artikel den Grundlagentext einer möglichen Handlungstheorie und einen Beitrag, der „aus keiner system- und medientheoretischen Begriffsarbeit mehr wegzudenken“ ist (BAECKER 2005, S. 11). 36 HEIDER 1926/2005, S. 120. 37 HEIDER 1944.
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net und schließt, und dadurch der Szene einen vielfältigen Sinn gibt. In der Analyse der Antworten ergab sich eine Unterscheidung, die sich als fundamental für die spätere Attributionstheorie erwies: Die Zuschreibung (Attribution) der Handlungsursachen erfolgte entweder personenbezogen im Sinne einer Motiverklärung oder bezogen auf die Situation, der die Akteure unterworfen sind (zum Beispiel „eingesperrt“ zu sein). Die spätere Attributionstheorie wird diese beiden Richtungen als internale (personenspezifische) und externale (umweltspezifische) Attribution von Handlungsursachen kennzeichnen.38 Die Tendenz der Beobachter, Handlungen bevorzugt aus der Persönlichkeit der Beobachteten zu erklären und den Einfluß situativer Umstände zu unterschätzen („fundamentaler Attributionsfehler“), wurde von Heider schon in diesen ersten Experimenten erkannt.39 Der hintergründige Sinn dieser Experimente liegt im Übergang der Themen von der visuellen Wahrnehmung zur sozialen Urteilsbildung, die Heider schon in „Ding und Medium“ im Auge hatte. Kritiker der Versuchsanordnung hatten bemerkt, daß der Handlungssinn der bewegten Punkte schon vorausgedacht war – in die Versuchsanordnung eingebettet, sodaß die Probanden darin dem Experimentator folgen konnten. Der im selben Jahr erschienene Aufsatz über soziale Wahrnehmung40 führte eine theoretische „Brücke“ ein, die den Übergang von der kausal orientierten Wahrnehmungstheorie (physikalischer Objekte) zur sozialen Wahrnehmung ermöglichte: Es sind die „einheitsbildenden Faktoren“ Wertheimers, die Gestalttendenzen (Prägnanz, Nähe, Ähnlichkeit), welche die Richtung der sozialen Attribution bestimmen. Heider beschreibt diesen Wendepunkt in seiner intellektuellen Entwicklung in einem 1977 geführten persönlichen Gespräch41 mit William Ickes und John H. Harvey: Nach einer langen und qualvollen Suche sei ihm plötzlich klar geworden, daß soziale Einstellungen (wie Liebe, Zuneigung, Haß) gleich zu behandeln sind wie die Einheiten der Wahrnehmung in der Gestaltpsychologie, die den Gestaltgesetzen unterliegen. Die Trennung der Ebenen Sozialpsychologie und Wahrnehmungspsychologie war eine Denkhemmung, die den eigentlich naheliegenden Gedanken versperrte.42
38 Der Umstand, daß diese Unterscheidung eigentlich zwei verschiedene Typen von Handlungserklärungen betrifft, nämlich die intentionalistische Erklärung aus Gründen und die kausale Handlungserklärung aus Ursachen, wurde im Rahmen der sozialpsychologischen Attributionstheorie kaum thematisiert. Dies hätte eine Verlagerung der Problematik von der Gegenstandsebene auf die Ebene methodologischer Positionen zur Folge, wie sie etwa Georg H. von Wright mit seiner Analyse der Galileischen (kausalen) und der Aristotelischen (finalen) Tradition im Sinne hat (VON WRIGHT 1971/1974). 39 Einen gerafften Überblick über die sogenannten Attributionsfehler findet man bei GÜTTLER 2000, S. 50–52. 40 HEIDER 1944. 41 ICKES & HARVEY 1978. 42 Zu Heiders persönlichen Reflexionen über seinen intellektuellen Werdegang siehe auch sein Gespräch mit Edward E. Jones in HARVEY et al. 1978, S. 371–387.
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Der dritte Aufsatz dieser intensiven Schaffensperiode, eines der Gründungsdokumente der Balancetheorie, führte die einmal gewonnene Einsicht konsequent weiter:43 Wenn soziale Einstellungen – also Einstellungen Personen gegenüber – formalen Formierungsprinzipien unterliegen (wie Wertheimers Einheiten der Wahrnehmung den Gestaltgesetzen unterliegen), dann lassen sich die Relationen zwischen verschiedenen Einstellungen auch formal beschreiben und deren Gestalttendenzen angeben. Die oberste Gestalttendenz ist das Prinzip der Balance. Heider beschränkt sich in der Untersuchung möglicher Relationen auf zwei- und dreigliedrige Modelle. (Ein triadisches Modell wäre: die wahrnehmende Person, ein Einstellungsobjekt und eine andere Person.) Die Formalisierung erzeugt eine einfache und überzeugende Lösung der Definition von „Balance“: Eine Triade ist dann balanciert, wenn das Produkt der (positiven oder negativen) Valenzen positiv ist; eine Triade ist unbalanciert, wenn das Produkt der Valenzen negativ ist. An einem lebensnahen Beispiel demonstriert ist eine Triade balanciert, wenn zwei Freunde geteilter Meinung sind (in der Zustimmung oder in der Ablehnung); aber auch, wenn zwei Gegner unterschiedliche Auffassungen haben. Eine unbalancierte Triade entsteht, wenn zwei Freunde unterschiedliche Einstellungen zu einem Objekt haben – oder wenn zwei Gegner einem Einstellungsobjekt gegenüber gleich denken (positiv oder negativ).44 Die Idee zu dieser Gleichgewichtshypothese kam Heider bei der Lektüre von Spinozas Ethik, dessen Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungsphänomene er überzeugend fand – aber unsystematisch. Die Übertragung der gestalttheoretischen Prinzipien lieferte den systematischen Schlüssel.45
V. The Psychology of Interpersonal Relations Nach einer langen Phase des Suchens und der Ausarbeitung einzelner Kapitel veröffentlichte Heider 1958 sein Hauptwerk, The Psychology of Interpersonal Relations, das von der zeitgenössischen Kritik wohlwollend bis hymnisch aufgenommen wurde.46 Das Pro43 HEIDER 1946. 44 Eine ausführliche Darstellung der Balancetheorie von F. Heider findet sich bei FILLENBAUM 1968 und CRANDALL et al. 2007. 45 „Während all dieser Jahre versuchte ich auf verschiedene Weise, diese Propositionen [Spinozas] darzustellen, und zwar in einer Form, die sie alle als Fälle einer einzigen allgemeinen Gesetzmäßigkeit zeigt. Als ich auf den Gedanken kam, die vertrauten einheitbildenden Faktoren [Wertheimers] anzuwenden, wie ich das in meiner Arbeit im Jahr 1944 getan hatte, war mein Problem mehr oder weniger gelöst. Ich nahm eine allgemeine Tendenz an, der zufolge geordnete und konsistente Anordnungen von Einstellungen und einheitenähnlichen Verbindungen solchen vorgezogen werden, die weniger geordnet sind und nicht so leicht als Einheiten wahrgenommen werden können.“ (HEIDER 1983/2004, S. 138) 46 NEWCOMB 1958; HARMON 1959; HOLLANDER 1959.
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gramm dieses Werks ist leichter darzustellen als sein Inhalt, da es verschiedene Ansätze und zahlreiche Einzelanalysen interpersoneller Phänomene enthält. Im Gegensatz zur vorherrschenden experimentellen Orientierung in der Sozialpsychologie seiner Zeit ist Heider in seinen methodologischen Orientierungen zwar nicht grundsätzlich gegen das Experiment als empirische Prüfungsinstanz eingestellt, aber er reklamiert prioritär die Entwicklung der begrifflichen Grundlagen. Schon in der Hamburger Zeit hat er dies sehr klar in einem Bewerbungsschreiben formuliert: „Immer, wenn ich über ein bestimmtes Experiment nachdenke, das ich unternehmen könnte, stellen sich theoretische Probleme, deren Lösung keine Experimente erfordern, sondern auf der Basis der gewöhnlichen Erfahrungen und Erlebnisse des täglichen Lebens durchdacht werden können. Ehe ich diese grundlegenden Konzepte nicht geklärt habe, scheinen mir Experimente nicht angezeigt.“47 Eng damit zusammen hängt die Bedeutung, die Heider der Alltagssprache über soziale Beziehungen für die psychologische Theoriebildung zumißt. Die Theoriesprache der Psychologie kann nicht abstrahierend über die Alltagssprache hinweggehen, sondern muß systematisch gewissermaßen durch sie hindurch. Heider nennt diese Quelle der Alltagssprache und der Alltagserfahrung die „common-sense-Psychologie“ oder „naive Psychologie“, die in die „naive Handlungsanalyse“ einmündet. Heiders Gewohnheit, Alltagsbeobachtungen sozialer Beziehungen in Notizbüchern aufzuzeichnen (seit den „Ärger-Notizen“ des 20-Jährigen), lieferte das Material für sein lebenslanges Nachdenken über die Natur sozialer Beziehungen.48 Wesentliche Kapitel seines Hauptwerks widmete Heider der systematischen Untersuchung bestimmter Beziehungsqualitäten: Verlangen und Freude, Sympathie und Antipathie, Vertrautheit und Spannung, Macht und Sollen, Bitte und Befehl, Neid und Mitgefühl. In der Analyse werden die jeweiligen Phänomene immer unter ihrem Doppelaspekt betrachtet – als Beziehungsphänomene und als Attributionen. In seiner Praxis der systematischen Untersuchung von Alltagssituationen empfand Heider eine nahe Verwandtschaft zu Gilbert Ryle, dem Oxforder Sprachphilosophen, dessen Buch The Concept of Mind 49 viele ähnliche Analysen enthält. Beide Autoren analysieren zum Beispiel Gefühle, die innerhalb sozialer Beziehungen entstehen können, in der Absicht, ihren Stellenwert in der Erklärung menschlichen Handelns zu bestimmen. Zur Veranschaulichung dieser Geistesverwandtschaft seien beispielhaft die Analysen zusammengefaßt, die Ryle und Heider zu den Gefühlen des Verlangens und der Freude 47 HEIDER 1983/2004, S. 82. 48 Die Notizbücher aus Heiders Nachlaß, der in der Kenneth Spencer Research Library der University of Kansas archiviert ist, wurden 1987 bis 1989 in 6 Bänden von Marijana BENESH-WEINER herausgegeben. 49 RYLE 1949/1969. 50 Ebenda, S. 140–144; HEIDER 1958/1977, S. 151–193.
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anstellen.50 Ryle will in erster Linie zeigen, daß Gefühle keine Handlungsursachen sein können, weil sie nicht der logischen Kategorie der Ursachen angehören: Wenn jemand etwas aus Neigung oder Verlangen tut, dann tut er dies nicht aufgrund eines inneren Ereignisses, das sein Handeln verursacht. Die Freude oder Befriedigung ist vielmehr das Ergebnis seines Handelns. Auch Heider befindet, daß es eine apriori-Verbindung von Verlangen und Freude gibt (Motiv und Affekt), die somit nicht durch Erfahrung widerlegt werden kann. Denn Wunscherfüllung führt immer zu Freude, die beiden Phänomene sind logisch verbunden und können daher nicht in einem kontingenten Ursache-Wirkungsverhältnis stehen.51 Das Hauptinteresse bei Heider gilt aber der Attribution von Verlangen und Freude. Diese kann in Richtung des Objekts erfolgen, wenn wir eine bestimmte Sache als Quelle einer Freude identifizieren – „wir beurteilen das Buch als gut, das Essen als ausgezeichnet, das Kind als lieb, die Landschaft als schön“.52 Oder wir attribuieren in die Richtung dispositionaler Eigenschaften des Subjekts – dann ist dies mit ganz anderen Erwartungen verbunden: Wir meinen dann, daß eine Person „leicht zufriedenzustellen ist, eine merkwürdige Person ist, einen anspruchsvollen Geschmack hat, genauso ist wie ich usw.“53 Die stärkste Wirkung seines Hauptwerkes ist wahrscheinlich von der „naiven Handlungsanalyse“54 ausgegangen, in der Heider ein Kausalmodell des menschlichen Handelns vorstellt. Damit erfüllt Heider die selbst gestellten Anforderungen an eine psychologische Theorie, daß sie nämlich auf den naiven Wahrnehmungsformen des Alltags beruht und diese verallgemeinert. Der Ausgangspunkt liegt in den beiden Attributionsrichtungen (internale und externale), die zur Unterscheidung zweier Klassen von Ursachefaktoren führen: der „wirksamen personalen Kräfte“ und der „wirksamen Umweltkräfte“. In der sich aus diesen Prämissen ergebenden Systematik der Kausalfaktoren unterscheidet Heider vier Handlungsursachen: die Motivation, die sich aus der Absicht und Intensität der Anstrengung zusammensetzt; die Fähigkeit, die als Eigenschaft der Person gedacht ist; die Schwierigkeit der Aufgabe; schließlich den Zufall, der sich aus der zeitlichen Instabilität der verschiedenen Faktoren ergibt. In der formalen Verknüpfung der Kausalfaktoren postuliert Heider folgende Zusammenhänge: Handlungsergebnis H = f [(Anstrengung x Fähigkeit) + (Schwierigkeit + Zufall)]. Die multiplikative Verknüpfung von Anstrengung und Fähigkeit ergibt ein Wegfallen der personalen Kräfte, wenn einer der beiden Faktoren Null ist; dann wird die Handlung kausal auf die Umweltfaktoren attribuiert (Situationsattribution). Die additive Verknüpfung von personalen Kräften und Umweltkräften hat 51 In der Philosophischen Handlungstheorie wird dieser Aspekt als „Argument der logischen Verknüpfung“ diskutiert, das einen wichtigen Einwand gegen die kausale Auffassung von Intentionen in Handlungserklärungen liefert; vgl. VON WRIGHT 1971/1974, S. 83–121; GROEBEN 1986, S. 263–282; GREVE 2001. 52 HEIDER 1958/1977, S. 184. 53 Ebenda, S. 176. 54 Ebenda, S. 99–151.
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zur Folge, daß das Handlungsergebnis auf die Person zurückgeführt wird, wenn die Umwelt weder förderlich noch hinderlich ist (Personenattribution). Die naive Handlungsanalyse dient somit in erster Linie zur Erklärung und Prognose der Kausalattribution von Handlungen durch Beobachter – was im Alltag oft mit der Klärung der Verantwortlichkeit eines Handelnden einhergeht. Dementsprechend wurde Heiders Attributionstheorie auch experimentell, zum Beispiel an der Beurteilung von Straftaten, geprüft. Die „naive Handlungsanalyse“ liefert natürlich auch ein Kausalmodell zur Erklärung und Prognose menschlichen Handeln. Insofern ist sie ein Vorläufer von elaborierten Modellen des überlegten und geplanten Handelns, wie sie mittlerweile von Martin Fishbein und Icek Ajzen ausgearbeitet worden sind.55 Die von Heiders Werk ausgehende Wirkung ist von enormer Reichweite und über verschiedene Bereiche der Psychologie gestreut. Hier soll abschließend noch darauf hingewiesen werden, welche Aspekte seines Werkes nicht ausreichend oder sogar mißverständlich rezipiert worden sind.56 Die doppelte Zielrichtung seiner theoretischen Bemühungen: in Richtung einer Theorie der sozialen Wahrnehmung und in Richtung einer grundlegenden Theorie des sozialen Verhaltens, schafft gewisse Irritationen. Die notwendige Verknüpfung beider Ebenen ist eine apriori-Annahme Heiders, die auf einer Meta-Ebene liegt – jenseits der empirischen Prüfbarkeit. Die stärkste Diskrepanz von Werk und Rezeption liegt wahrscheinlich in dem intentionalistischen Handlungsverständnis von Heider, der unter den persönlich wirksamen Kräften Motive, Absichten und Zwecksetzungen anführt, während seine (behavioristisch geschulten) Rezipienten darunter eher Persönlichkeitsdispositionen verstanden haben.57 Heider leistete diesem Mißverständnis vielleicht dadurch Vorschub, daß er die Unterscheidung von Handlungsgründen und Handlungsursachen nicht in Betracht zog und daher in der Kausalanalyse Motive wie Kräfte behandeln konnte. Die geisteswissenschaftliche verstehende Psychologie eines Eduard Spranger oder Alexander Pfänder, wie sie 1928 am VIII. International Congress of Psychology in Groningen noch stark aufgetreten ist, war für Fritz Heider offenbar keine Alternative.58 Auch der Vermittler Karl Bühler oder die Psychoanalytiker, mit denen er während der Hamburger Jahre in Kontakt kam, blieben ohne tieferen Einfluß auf ihn. Heider blieb ein Intentionalist in kausalem Gewand. * 55 FISHBEIN & AJZEN 1981, AJZEN 1985, AJZEN & MADDEN 1986, AJZEN 1991; Übersichtsdarstellungen: FREY 1993; JONAS & DOLL 1996. 56 Vgl. MALLE & ICKES 2000, S. 206f. 57 Dem Mißverstehen von Heiders Auffassung mentaler Zustände als „traits“ im Sinne von Dispositionen widmen sich ausführlich: MALLE 2008 und MALLE & ICKES 2000. 58 Zur Kontroverse zwischen erklärender und verstehender Psychologie s. SCHMIDT 1995.
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Der rote Faden dieser kurzen Darstellung liegt in der Absicht, eine Erklärung dafür zu finden, warum dieser Außenseiter der universitären Psychologie, der sich weder an die Standardmethoden seiner Zeit hielt, noch deren methodologische Prämissen teilte, zu einer so außerordentlichen Wirkung kommen konnte. Der innovative Charakter seines Lebenswerkes steht außer Zweifel, hätte aber auch zu einem stillen Außenseitertum führen können. Dem wirkten gewisse menschliche Qualitäten und Kompetenzen entgegen: Heiders Bemühen, den Austausch unter den Fachkollegen aufrecht zu erhalten, aber auch seine Beteiligung an unzähligen Meetings und Konferenzen, die er zum Teil selbst organisierte. Das verschaffte ihm eine große Bekanntheit längst vor der Publikation seines opus magnum. Auch die Fähigkeit, menschliche Bindungen zu sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten einzugehen, deren intellektuellen Beitrag er für sich nutzen konnte, dürfte eine Rolle gespielt haben (wie zum Beispiel zu Kurt Lewin, Kurt Koffka, Max Wertheimer). Die Überzeugungskraft, die von seinem Werk ausgeht, verdankt sich jedoch der außerordentlichen Geschlossenheit, Tiefe und Kohärenz seines Denkens, die durch die Hingabe und Beharrlichkeit entstanden ist, mit der er seine früh festgelegten Forschungsinteressen verfolgt hat. Günstige familiäre Einflüsse, eine lange Schonzeit, die ihm Gelegenheit gab, seiner intellektuellen Neugier nachzugehen, glückliche Begegnungen, die er mehr aktiv suchte als dem Zufall verdankte – das alles formte eine Persönlichkeit, die der Aufgabe gewachsen war, die sie sich gestellt hatte. Im Jahr 2008, zum 50. Jahrestag des Erscheinens von The Psychology of Interpersonal Relations, widmete die Zeitschrift für Sozialpsychologie (seit 2008 unter dem Namen „Social Psychology“ geführt) ein Sonderheft der Attributionsforschung und der Wirkungsgeschichte von Fritz Heider.59 Darin wird eine neue „back to Heider“-Bewegung ausgerufen, die nach einer sehr selektiven und teilweise mißverständlichen Rezeption seine zentralen Ideen besser aufzunehmen beabsichtigt.
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Joseph Alois Schumpeter Quelle: SCHNEIDER 1970
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Heinz D. Kurz Two Masters – One Mind. Schumpeter zwischen Walras und Marx* I. Einleitung – II. Biographisches – III. Auf der Suche nach einer „sozialen Universalwissenschaft“: Wichtige Werke Schumpeters im Überblick – IV. Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte – V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung Schumpeter war ein großer Sozialwissenschaftler und ist es immer noch in dem Sinn, daß seine Persönlichkeit und seine Arbeiten weiter wirken – über seine Schüler, von denen sich mehrere in die erste Garde neuzeitlicher Ökonomen einzureihen vermocht haben, und über seine Bücher und Aufsätze, die als Referenzwerke und als Quellen von Ideen nicht an Anziehungskraft verloren haben. Seinen Namen führen mehrere Gesellschaften in ihrer Bezeichnung, darunter die International Joseph A. Schumpeter Society und die Grazer Schumpeter Gesellschaft. Sein Konterfei hat zwar anders als dasjenige seines Lehrers Eugen von Böhm-Bawerk niemals auf einem Geldschein geprangt, aber Ehrungen dieser Art sind vergänglich. Noch vor einiger Zeit traf zu, daß man „an der Universität Graz […] vergeblich nach einem Zeichen der Reminiszenz an einen ihrer größten Gelehrten suchen [wird]“. (Seidl 1982, S. 52) Dies hat sich seither geändert, und selbst in der Stadt Graz stößt der aufmerksame Spaziergänger seit kurzem auf eine Gedenktafel in der Parkstraße 17, wo Schumpeter ehedem gewohnt hat. Dem Thema der Reihe „Spitzenforschung aus Graz“ entsprechend werde ich mich vor allem auf jene Arbeiten Schumpeters konzentrieren, an denen er während seiner Zeit in Graz gearbeitet hat und die in der fraglichen Periode oder kurz danach erschienen sind. Darüber hinaus werde ich kursorisch auf einige seiner sonstigen, damit in engem Zusammenhang stehenden Schriften eingehen. Diese Beschränkung liegt nahe, denn zum einen ist Schumpeters Gesamtwerk derart umfänglich, daß es in einer kurzen
* Vortrag gehalten am 27. Oktober 2003 im Meerscheinschlößl, Graz, im Rahmen der Reihe Masterminds anläßlich von Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas. Ich danke den Teilnehmern an der Diskussion, insbesondere Karl Acham, für zahlreiche wertvolle Kommentare und Anregungen. Ich danke des weiteren Stephan Böhm, Christian Gehrke und Christian Seidl für nützliche Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Texts. Ulrich Hedtke hat mich im biographischen Teil dankenswerterweise vor mehreren in der Literatur verbreiteten Fehlmeinungen bewahrt. Besonderen Dank schulde ich Heinz Rieter, der mir in einem ausführlichen Kommentar sein reiches Wissen und seine Urteilskraft selbstlos zur Verfügung gestellt hat. Ginge es gerecht zu auf dieser Welt, so käme ihm die Koautorenschaft bezüglich der gelungenen Teile dieses Textes zu.
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Arbeit wie dieser nicht ernsthaft abgehandelt werden kann; zum anderen trifft wenigstens auf Schumpeter selbst zu, was dieser über die dritte Dekade eines Forscherlebens gesagt hat: Es sei „the decade of sacred fertility“. Ein Wort zur Wahl des Titels: „Two Masters – One Mind. Schumpeter zwischen Walras und Marx“. Mit den Namen von Léon Walras und Karl Marx sind die Antipoden bezeichnet, zwischen denen sich Schumpeters Denken und Schreiben bewegt. Natürlich ist Schumpeter zahlreichen weiteren Einflüssen ausgesetzt, darunter denen seiner von ihm geschätzten österreichischen Lehrer. (Die Wertschätzung war, wie wir sehen werden, nicht immer reziprok.) Aber die beiden Namen erscheinen mir als besonders geeignet, das Spannungsfeld zentripetaler, auf ein ökonomisches Gleichgewicht drängender, und zentrifugaler, das Gleichgewicht störender und von ihm wegführender Kräfte, zu bezeichnen, die Schumpeter zufolge das Bild kapitalistischer Ökonomien prägen. Schumpeter, so könnte man überspitzt sagen, beginnt als undisziplinierter Walrasianer und endet als disziplinierter Marxianer. Er beginnt als einer, der die Walrassche Theorie des allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts über alles schätzt, der aber erkennt, daß diese die dynamischen Triebkräfte und anarchischen Tendenzen des Systems nicht abzubilden vermag. Er endet als einer, der das Heraufkommen des Sozialismus prophezeit, aber nicht in der von Marx vermuteten Weise eines revolutionären Umsturzes, sondern eher friedlich, als Resultat eines langwierigen Prozesses der graduellen sozio-ökonomischen Transformation. Das zweckorientierte Handeln der Akteure zeitigt Resultate, die diese weder geplant noch vorhergesehen haben: „History is the result of human action, but not the execution of any human design.“ (Ferguson 1793, p. 205)1 Schumpeters Werk verdient Beachtung, und die beste Form ist die kritische Auseinandersetzung damit. Schumpeter wollte in Bezug auf fast alles, was er im Leben tat, der Beste sein. Sein Ehrgeiz war schier unstillbar. Ich werde daher nicht umhin kommen, seine hohen Ansprüche mit seinen Leistungen und den Leistungen anderer, an denen er sich maß, zu vergleichen. Ich beginne mit einem Überblick über das Leben Schumpeters, seine akademische Karriere und die schweren privaten, politischen und wirtschaftlichen Schläge, die er hat einstecken müssen, und die dem früh Erfolgreichen – dem Wunderkind – arg zugesetzt haben (Abschnitt 2). Anschließend wende ich mich einigen seiner bedeutenden Werke zu, die in seinem frühen Lebensabschnitt, der mit der Aufgabe seiner Lehrkanzel in Graz 1 Die in der Literatur gelegentlich anzutreffende Meinung, Schumpeter sei Sozialist oder Marxist gewesen, läßt sich nicht halten. Er hat, wie wir noch sehen werden, von Marx, dem Sozialtheoretiker, in vielfacher Hinsicht profitiert, aber seine konservativ-aristokratische und zuletzt kulturpessimistische Grundhaltung war mit der sozialrevolutionären eines Marx nicht verträglich. Was für Marx der Hoffnungsschimmer eines neuen Zeitalters war, war für Schumpeter ein Zeichen des Untergangs eines besseren alten.
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endet, entstanden sind, sowie seiner weiteren intellektuellen Entwicklung, in der die Anfänge deutlich nachhallen (Abschnitt 3). Was seine grundlegenden Ideen anbelangt, so ist Schumpeters Werk durch eine erstaunliche Kontinuität gekennzeichnet. Das Hauptaugenmerk gilt von Anfang an dem Problem der „wirtschaftlichen Entwicklung“ – der Frage, „wie das wirtschaftliche System die Kraft erzeugt, die es unaufhörlich verwandelt“ (Schumpeter 1964, S. XXII). In der Einleitung zur bereits 1911 erschienenen ersten Auflage der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung lesen wir, „daß es immer einund derselbe Grundgedanke war, mit dem ich mich beschäftigte, und daß dieser Grundgedanke einerseits das ganze Gebiet der Theorie betrifft und andererseits die Marksteine theoretischer Erkenntnis nach der Richtung des Phänomens der wirtschaftlichen Entwicklung hin weiter hinauszuschieben gestattet“ (Schumpeter 1912, S. VI). Was Schumpeter hier bezüglich seines Frühwerks sagt, gilt für sein gesamtes Œuvre. Im abschließenden Abschnitt 4 gehe ich kurz auf die Wirkungsgeschichte des Schumpeterschen Werkes ein.
II. Biographisches 2 1. Kindheit und Jugend Joseph Aloisius Julius Schumpeter wird am 8. Februar 1883 in Triesch in Mähren, damals Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, dem heutigen Třešt (Tschechien), als Kind des Tuchfabrikanten Josef Schumpeter und dessen Frau Johanna, geb. Grüner, geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters zieht der junge Joseph Alois 1888 mit seiner erst 27-jährigen Mutter nach Graz und gerät so unter die Fittiche von deren späterem Ehemann, dem pensionierten Feldmarschalleutnant Sigismund von Kéler. In Graz besucht Schumpeter die Volksschule. 1893 zieht die Familie nach Wien, wo die soziale Stellung seines adeligen Stiefvaters Schumpeter den Eintritt in das „Theresianum“ – die Eliteschule der Aristokratie, das „Eton“ Österreich-Ungarns (Swedberg 1991, S. 11) – ermöglicht. Der Zögling erlernt unter anderem mehrere Sprachen, das Fechten und Reiten sowie „his agreeable, sometimes quaintly overpolite old-world man-
2 Die folgenden Ausführungen geben einen gerafften Überblick über Leben und Karriere des Mastermind. Sie basieren im Wesentlichen auf HABERLER (1950), HARRIS (1951), SCHNEIDER (1970), STOLPER (1979, 1994), MÄRZ (1983, 1989), SEIDL (1984), SWEDBERG (1991) und ALLEN (1991). Neuerdings hat sich Ulrich Hedtke gründlich mit Schumpeters Biographie und Werk auseinandergesetzt und vielfältiges, bislang unbekanntes Material ans Licht gebracht, das zahlreiche überlieferte Aussagen über Schumpeter revidiert beziehungsweise in Frage stellt; siehe: www.schumpeter.info. Nach Verfassen dieser Arbeit ist Thomas McCraws umfängliche Würdigung erschienen; vgl. McCRAW 2007.
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ner“ (Haberler 1950, S. 335). Die acht Jahre Theresianum färben merklich auf den Jüngling ab: Überheblichkeit, Arroganz, mangelnde Ernsthaftigkeit und Opportunismus werden ihm nachgesagt. Sein Freund Felix Somary bescheinigt ihm, „niemals irgendetwas im Leben ernst zu nehmen“. Im Jahr 1901 schließt er das Theresianum brillant ab und schreibt sich noch im gleichen Jahr an der Universität Wien ein. Sein Entschluß steht fest, Ökonomik zu studieren. Dies ist zu jener Zeit indes nur im Rahmen des Studiums der Rechte möglich. Er belegt darüber hinaus Vorlesungen in Mathematik und Statistik. Sein Hauptinteresse gilt der Wirtschaftstheorie. Diese hatte in Österreich mit Carl Menger und dessen Schülern Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser einen beachtlichen Aufschwung genommen, und ihre Vertreter haben sich im Methodenstreit mit Gustav Schmoller und der jüngeren deutschen Historischen Schule wacker geschlagen und erfolgreich eine Lanze für die reine Theorie gebrochen. Mengers Lehrstuhl, den dieser formell 1903 räumte, war auf Wieser übergegangen. Schumpeter studiert vor allem bei letzterem sowie bei Eugen von Philippovich, Autor des führenden Lehrbuchs seiner Zeit, sowie ab 1904 bei Böhm-Bawerk. Er schreibt Seminararbeiten, die in überarbeiteter Form Eingang in seine 1914 veröffentlichte erste größere theoriegeschichtliche Studie finden (Schumpeter 1914a).3 Er hat Kontakt mit Ultraliberalen, Sozialisten und Marxisten – darunter Ludwig von Mises, Emil Lederer, Felix Somary, Otto Bauer und Rudolf Hilferding. Gegenstand der Diskussion sind insbesondere die Marxsche Wert- und Verteilungstheorie, die Böhm-Bawerk 1893 nach dem Erscheinen des dritten (posthumen) Bandes von Das Kapital frontal angegriffen hatte, und die Hilferding in einem Aufsatz von 1904 verteidigen sollte, sowie die sozialistische Alternative zum Kapitalismus. Diese Diskussionen sollten in Schumpeters Schriften einen weithin hörbaren Nachhall finden.
2. Czernowitz und Graz Im Sommer 1905 legt Schumpeter das juristische und Anfang 1906 das rechtshistorische und staatswirtschaftliche Rigorosum ab und promoviert im Februar zum Doktor der Rechte. Anschließend geht er auf Reisen – zunächst nach Deutschland, wo er in Berlin Gustav Schmollers Seminar besucht, gefolgt von Frankreich und England. Er läßt sich für ein Jahr in London nieder und geht seinen Studien als Research Student an der London School of Economics nach. Ende 1907 heiratet er die ältere Gladys Ricarde
3 Im gleichen Jahr, dem Todesjahr Böhm-Bawerks, erscheint Schumpeters umfänglicher Nachruf auf Person und Werk; siehe SCHUMPETER (1914b).
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Seaver. 1907 geht er nach Kairo und praktiziert am dortigen Internationalen Gerichtshof. In dieser Zeit vollendet er Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. Von Kairo aus schickt er das Manuskript an seinen Verleger, der es 1908 herausbringt (Schumpeter 1908). Zurück in Wien legt er sein Buch im Oktober des gleichen Jahres der Staatswissenschaftlichen Fakultät als Habilitationsschrift vor und wird im März 1909 zum Privatdozenten ernannt. Im darauf folgenden Herbst nimmt er die Stelle eines außerordentlichen Professors an der Universität von Czernowitz an, in jener Zeit Hauptstadt des Herzogtums Bukowina und Teil von Österreich-Ungarn. Dort verfaßt Schumpeter die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, nach Auffassung zahlreicher Kommentatoren sein opus magnum. Das Werk erscheint 1911 (weist allerdings als Erscheinungsjahr 1912 auf ) – in jenem Jahr, in dem Schumpeter nach Graz zurückkehrt, diesmal als Ordinarius für Politische Ökonomie. Wesentliche Überlegungen darin werden in dem ein Jahr davor erscheinenden Essay „Über das Wesen der Wirtschaftskrisen“ vorweggenommen (Schumpeter 1910). Schumpeter begreift darin die Krise nicht länger als plötzliche Stokkung des Geschäftsgangs, als Unterbrechung der Kontinuität der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern als notwendige Phase im Verlauf des Konjunkturzyklus.4 Gesucht ist eine Erklärung dafür, warum es periodisch zu wirtschaftlichen Aufschwüngen kommt, wie sich die entstehenden Impulse fortpflanzen, weshalb sich der Aufschwung nicht unbegrenzt fortsetzt, sondern es zu einem oberen Wendepunkt – zur Krise – kommt, welches Verlaufsmuster der Abschwung nimmt, weshalb der Absturz nicht bodenlos ist, sondern früher oder später ein unterer Wendepunkt erreicht wird, von dem aus die Entwicklung umschlägt und es zu einem neuen Aufschwung kommt, und so weiter. In dieser Sicht ist die Krise nicht länger eine Art Betriebsunfall des Systems, sondern ein nicht wegzudefinierendes oder wegzudekretierendes Moment im normalen Verlauf der Entwicklung kapitalistischer Ökonomien.5 Bereits im Wesen und Hauptinhalt hatte Schumpeter zwischen „statischer“ und „dynamischer“ Betrachtungsweise unterschieden und insistiert, daß die Krise beziehungsweise der Zyklus nur letzterer zugänglich sei. Im Essay und dann in der Theorie wiederholt er diese Auffassung und setzt sich damit von der angeblich durch und durch statischen Betrachtungsweise eines Walras ab.6 4 Schumpeter war mit dieser Sicht der Dinge nicht der erste. Der modernen Fassung des Konjunkturverständnisses haben unter anderem Canard, Overstone und insbesondere Juglar den Weg geebnet; siehe hierzu BORCHARDT 1985. 5 Im Vorwort zu den 1939 veröffentlichten Business Cycles wird Schumpeter gleich eingangs schreiben: “Cycles are not, like tonsils, separable things that might be treated by themselves, but are, like the beat of the heart, of the essence of the organism that displays them.” Ausdrücklich fügt er hinzu: “my analysis lends no support to any general principle of laisser faire” (SCHUMPETER 1939, S. V f.). 6 Schumpeters zahlreiche Beiträge zur Soziologie können in diesem Aufsatz nicht gewürdigt werden. Vgl. deshalb insbesondere ACHAM 1984 sowie SCHUMPETER 1953. Es braucht kaum betont zu werden, daß
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Schumpeters Berufung nach Graz erfolgt gegen den erbitterten Widerstand von Richard Hildebrand (dem Sohn des weit bekannteren Bruno Hildebrand), der in Graz die Fahne – oder ist es ein Wimpel? – des Historismus schwenkt und sich mit Ingrimm auf alles stürzt, was nach ökonomischer Theorie aussieht. Als Vorsitzender der Berufungskommission versteigt er sich zur Behauptung, Schumpeters Wesen und Hauptinhalt enthalte nichts als „leere Allgemeinheiten“ und „Trivialitäten“; Hildebrands Suada mündet in das Urteil: „Etwas, das man auch nur im Entferntesten als eine wissenschaftliche Leistung bezeichnen könnte, hat er bis jetzt nicht aufzuweisen.“ (Seidl 1984, S. 194, Fn. 47) Entgegen der Empfehlung Hildebrands und von größeren Teilen der überwiegend deutschnationalen Professorenschaft wird Schumpeter mit „Allerhöchster Entschließung“ vom 30. Oktober 1911 zum ordentlichen Professor der „Politischen Ökonomie“ in Graz ernannt.7 Aber der Anfang in Graz wird Schumpeter nicht leicht gemacht. Die Studenten boykottieren seine Veranstaltungen, unter anderem weil er angeblich zu viel verlange.8 Ab Herbst 1912 lehrt er in Graz, und die Lage um ihn herum beruhigt sich zunächst. Er ist ein vorzüglicher Lehrer und bewältigt ein enormes Lehrpensum an der Universität und schließlich auch an der Technischen Hochschule. Bereits zwei Jahre nach seiner Berufung geht Schumpeter für mehrere Monate als Austauschprofessor an die Columbia University nach New York. Auch dort lehrt er mit Erfolg und tritt mit führenden amerikanischen Ökonomen wie Irving Fisher, Frank W. Taussig und Wesley Clair Mitchell in Kontakt. Einige darunter sollten für den Fortgang seiner Karriere noch von Bedeutung werden. Zurück in Graz – seine Frau weigert sich, ihm dorthin zu folgen, und kehrt nach England zurück; für Schumpeter ist die Ehe damit faktisch beendet – wird Schumpeter im Studienjahr 1916 –17 zum Dekan der Juristischen Fakultät gewählt. Allerdings ist er politisch isoliert. Sein Wirken in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, anfangs in der reichsdeutschen „Sozialisierungskommission“, dann als Finanzminister, verschärft die Konflikte mit seinen Grazer Kollegen. 1918 setzt er sich für die Berufung Arthur Spiethoffs auf die mittlerweile eingerichtete zweite Lehrkanzel ein, aber dazu kommt es in den Wirren der untergehenden Monarchie nicht mehr. Beginnend mit dem Jahr 1916 unternimmt Schumpeter verschiedene friedenspolitische Initiativen und trägt seinen Rat Kaiser Karl I. in Wien an. Er tut dies unter ande-
Schumpeters soziologische Studien in seine ökonomischen hineinstrahlen, und umgekehrt. Hedtke hat in privater Korrespondenz mit mir insbesondere Friedrich von Wiesers soziologische Führertheorie als Bezugspunkt der Schumpeterschen Sicht des „Unternehmers“ für die wirtschaftliche Entwicklung betont. 7 Nicht auszudenken, es wäre anders gekommen! Ausgeschlossen werden kann jedoch, daß wir dann anstatt der jährlichen „Graz Schumpeter Lectures“ die „Graz Hildebrand Lectures“ hätten. 8 Schumpeter trifft jedenfalls keine Schuld, wenn es später um die Reputation der Staatswissenschaften in Graz zeitweise schlecht bestellt sein wird und das geflügelte Wort vom „Dr. Graz“ die Runde macht.
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rem mittels mehrerer informeller Memoranden (vgl. Schumpeter 1985; siehe auch Seidl 1982; Swedberg 1991, Kap. 3, Abschnitt I, und vor allem Hedtke 2004).9 Anscheinend ist Schumpeter unter anderem von Spiethoff, damals Professor in Prag, auf den geheimen Anhang zu einer diplomatischen Note vom November 1915 an die Regierung in Wien aufmerksam gemacht worden, in der ein Zollbündnis zwischen den beiden Mächten vorgeschlagen wird. Schumpeter ist entschiedener Gegner dieses Vorschlags und argumentiert, daß Österreich Gefahr liefe, zu einer deutschen Kolonie zu werden.10 In einem späteren Memorandum befaßt er sich mit den Möglichkeiten der Wiederherstellung von Österreichs multinationalem Charakter als Bollwerk gegen den aufkeimenden Nationalismus im Anschluß an Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg sowie mit der Gründung einer aristokratisch-bürgerlichen Partei, mit der eine neue konservative Epoche eingeleitet werden soll.11 Im Winter 1918/19 wird Schumpeter auf Vorschlag zweier marxistischer Bekannter, Rudolf Hilferding und Emil Lederer, in die von der neuen sozialdemokratisch geführten Regierung Deutschlands eingerichtete Sozialisierungskommission berufen. Unter dem Vorsitz von Karl Kautsky berät sie die Frage, ob die deutsche Kohlenindustrie als erste in einer längeren Reihe von Industrien sozialisiert werden soll. Im Februar 1919 wird dem Auftraggeber ein vorläufiger Ergebnisbericht übermittelt. Der Bericht trägt bemerkenswerterweise auch Schumpeters Unterschrift. Nach Zeugnissen von Mitgliedern der Kommission bejaht auch dieser die fragliche Sozialisierung, sehr zum Erstaunen eines Rudolf Hilferding. 1918 veröffentlicht Schumpeter seine Studie „Die Krise des Steuerstaates“, in der er sich mit dem Problem der Finanzierung von Kriegen und der Sanierung der Staatsfinanzen im Anschluß daran beschäftigt (Schumpeter 1918). Darin warnt Schumpeter eindringlich davor, die aktuellen Probleme Österreichs mittels einer Sozialisierung lösen zu wollen. Im Frühjahr 1919 geht ein seit einiger Zeit gehegter Wunsch Schumpeters in Erfüllung: Er wird als „Staatssekretär der Finanzen“ (Finanzminister) ins Kabinett 9 Schumpeters Rolle als Politiker wird in den gängigen Biographien häufig nur am Rande behandelt. Siehe deshalb den von C. SEIDL und W. STOLPER herausgegebenen Band Politische Reden (SCHUMPETER 1992) sowie die von U. HEDTKE und R. SWEDBERG herausgebrachten Briefe/Letters (SCHUMPETER 2000); vgl. auch die von Hedtke betriebene Web Site. 10 Zu möglichen Gründen für Schumpeters „Antipathie gegen das Deutsche Reich und insbesondere gegen Preußen“ vgl. die Bemerkungen von SEIDL und STOLPER in SCHUMPETER 1992, S. 360. 11 Laut Hedtke war Schumpeter im Unterschied beispielsweise zu Max Weber und Werner Sombart einer der wenigen bedeutenden deutschsprachigen Sozialwissenschaftler der Zeit, die sich entschieden gegen den Ersten Weltkrieg und das Aufleben des Nationalismus in Europa infolge der Auflösung der österreichischen Doppelmonarchie einsetzten. Schumpeter war bestrebt, den Widerstand gegen die von ihm für fatal erachtete Entwicklung politisch in Gestalt eines Friedenskabinetts unter Heinrich Lammasch, seinem Freund und Mentor, zu organisieren. Ab Ende Oktober 1918 fungierte Lammasch als Ministerpräsident des sogenannten „Abwicklungskabinetts“.
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Karl Renner I berufen (vgl. März 1979, S. 73–76). Allerdings schlägt ihm eine Welle des Mißtrauens entgegen. Die Presse mokiert sich über seine Wankelmütigkeit; Karl Kraus verhöhnt ihn in der Fackel in Anspielung auf seine Gastdozentur an der Columbia University als „Austauschprofessor seiner Überzeugungen“. Dieser zunächst außerhalb des Kabinetts geäußerte Vorwurf wird jedoch schon bald auch innerhalb desselben hörbar. Schumpeter ist parteipolitisch ungebunden und gerät schnell in Konflikt mit führenden Vertretern der beiden Koalitionsparteien, Sozialdemokraten und Christlichsoziale, insbesondere aber mit seinem früheren Studienkollegen Otto Bauer, jetzt Staatssekretär des Äußeren. Der Konflikt entzündet sich an Schumpeters hartnäckiger Gegnerschaft gegenüber einer Politik des Anschlusses, wie sie von der Regierung betrieben wird. Er greift Bauer diesbezüglich öffentlich an und trägt obendrein einen seinen Kabinettskollegen gegenüber zunächst geheim gehaltenen Wirtschaftplan einem britischen Finanzexperten vor. Überdies wird gegen ihn von seinen Gegnern der Vorwurf der Begünstigung beim Verkauf der Aktienmehrheit der Alpine-Montan AG, des größten österreichischen Unternehmens der Schwerindustrie, im Juni/Juli 1919 an die italienische Fiat-Gruppe erhoben. Auf diese Weise hintertreibe er eine Sozialisierung der Firma beziehungsweise Industrie, denn Italien als Siegermacht würde einer solchen nicht zustimmen. Schumpeter gerät zunehmend unter Druck vor allem seiner sozialdemokratischen Kabinettskollegen. Der von ihm ausgearbeitete Sanierungsplan der Staatsfinanzen erscheint ironischerweise an jenem Tag im Druck (17. Oktober 1919), an dem der Minister nach gerade sieben Monaten im Amt abtreten muß. Der Plan wird nicht umgesetzt.
3. Wien Auf Grund seiner politischen Ämter vernachlässigt Schumpeter seinen Lehrstuhl. Ein ums andere Mal sucht er um die Supplierung seiner Lehrveranstaltungen an und erregt auf diese Weise den Mißmut sowohl von Kollegen als auch von Studierenden. Erst im Sommersemester 1920 lehrt er wieder in Graz. Ab Mai 1921 gewährt ihm die Universität unbezahlten Urlaub. Im Oktober 1921 beantragt er schließlich seine Enthebung vom Lehramt. Nach seiner wenig erfolgreichen Tätigkeit in der Politik sucht er sein Glück in der Privatwirtschaft und wird im Juli 1921 Präsident der Biedermann & Co. Bankaktiengesellschaft.12 Schumpeters Ausflug in die Politik kam ihn teuer zu stehen und sein flamboyanter Lebensstil ist aufwendig. Er nimmt bei der Bank Geld auf und
12 Zu den zahlreichen Facetten dieser Episode vgl. insbesondere Schumpeters Briefwechsel (SCHUMPETER 2000).
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investiert es in verschiedene Firmen. Das Geschäft geht zunächst gut und Schumpeter streicht erhebliche Gewinne ein. Er lebt auf großem Fuß und gibt der Wiener Gesellschaft deutliche Hinweise auf seine Mannesstärke. Gerne zeigt er sich in Begleitung rasch wechselnder Prostituierter. Die anhaltende Wirtschaftskrise in Österreich bereitet dem Treiben 1924 ein jähes Ende. In wenigen Wochen verliert Schumpeter sein gesamtes Vermögen. Unter anderem finanziell hereingelegt von einem anderen Theresianer, wird er von der ins Trudeln geratenen Bank fallen gelassen. Schwer verschuldet verliert er am 11. September 1924 seinen Präsidentenposten. Er muß das zweite Fiasko innerhalb von wenigen Jahren verkraften. Und er hat keine Lehrkanzel mehr, auf die er sich zurückziehen könnte, um seine Wunden zu lecken und neue Kraft zu sammeln. Es sieht gar nicht gut aus für unseren Mastermind! Die folgenden Jahre wird er unter anderem als Lohnschreiber und -redner zubringen, um seine Schulden zu tilgen.
4. Bonn Wie gut, daß Schumpeter noch Freunde und Gönner hat. Ein solcher ist Arthur Spiethoff. Mittlerweile Professor in Bonn, gelingt es diesem, Schumpeter im Oktober 1925 auf den dortigen Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaft zu holen. Schumpeter wird deutscher Staatsbürger. Spiethoff, Schüler von Schmoller, aber aufgeklärter Historist, ersucht Schumpeter, alles zu lehren, was dieser wolle, nur nicht Theorie. Schumpeter hält sich anfangs an die Vorgabe. Er hat großen Erfolg bei den Studierenden, die von nah und fern nach Bonn strömen. Wie kaum ein anderer zieht er die Hörer in seinen Bann. Einem seiner Schüler, Erich Schneider, zufolge sei es alleine Schumpeter zu verdanken, daß sich Bonn in wenigen Jahren zu einem „Mekka“ der Volkswirtschaftslehre entwickelt habe. Schumpeter schöpft neuen Mut und veröffentlicht binnen kurzer Zeit mehrere einflußreiche Aufsätze.13 Er wagt sich auch an ein neues großes Thema heran: eine Theorie des Geldes. Ein weiteres Ereignis frischt seine Sinne auf und gibt ihm neuen Mut. Am 5. November 1925 heiratet er die um zwanzig Jahre jüngere Anna Josefina Reisinger. Sie ist die Tochter des Hausmeisters im Haus seiner Mutter, und er kennt sie bereits seit Jahren. Er nimmt sie mit nach Bonn und erlebt mit ihr eine glückliche Zeit. Kurz nach der Heirat sieht Schumpeter erstmals Vaterfreuden entgegen. Aber schon nahen neue Schicksalsschläge. Am 22. Juni 1926 stirbt seine geliebte Mutter. Seine erste Frau Gla-
13 In Schumpeters Bonner Zeit fällt auch seine umfängliche und weithin beachtete publizistische Tätigkeit, darunter im von seinem Freund Gustav STOLPER herausgegebenen Der deutsche Volkswirt; vgl. hierzu RIETER 1998, S. 112 f. und S. 142–144.
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dys, die mittlerweile von seiner zweiten Ehe erfahren hat, droht ihm mit einer Klage wegen Bigamie. Und das allergrößte Unheil: Am 3. August stirbt seine junge Frau im Kindbett und wenige Stunden darauf der ihm geborene Sohn. Von diesen Schlägen wird sich Schumpeter nicht mehr erholen. Über Jahre hinweg läßt er das Zimmer seiner Frau unangetastet. Er entwickelt einen persönlichen Totenkult, hält täglich Zwiesprache mit Mutter und Frau. Er versucht Schmerz und Trauer in Arbeit zu ersticken. 1926 erscheint eine zweite, gründlich überarbeitete Fassung der Theorie. Einige der dort anzutreffenden Revisionen seiner bisherigen Position reflektieren sich auch in seinem zwei Jahre danach im Economic Journal veröffentlichten Aufsatz „The Instability of Capitalism“ (Schumpeter 1928). In ihm beschreibt er die dem Kapitalismus seiner Ansicht nach innewohnenden selbstzerstörerischen und diesen letztlich transzendierenden Kräfte und nimmt damit eine Hauptidee seines knapp anderthalb Jahrzehnte später veröffentlichten Buches Capitalism, Socialism and Democracy (1942) vorweg. Schumpeter trägt in seinem Aufsatz dem Umstand Rechnung, daß es die von ihm verherrlichte Gestalt des „Unternehmers“ immer seltener gibt. An die Stelle des Wettbewerbs-Kapitalismus sei der in Trusts vermachtete Kapitalismus getreten. Dieser ist gekennzeichnet durch eine Trennung von Eigentum und Kontrolle sowie die wachsende Bedeutung der neu entstehenden Kaste der Manager. Die alten Verhältnisse und Strukturen werden grundlegend umgewälzt, Taylorisierung, Routinisierung und Bürokratisierung ebnen, ohne daß dies von den Betreibern beabsichtigt wäre, den „March into Socialism“.14 Die Vollendung des geplanten Werks zur Geldtheorie will Schumpeter nicht mehr gelingen. Als 1930 die Treatise on Money von John Maynard Keynes erscheint, sieht er seinem eigenen Werk die Grundlage entzogen und trägt sich mit dem Gedanken, das Manuskript zu vernichten.15 Vom Herbst 1927 bis zum Frühjahr 1928 und dann neuerlich gegen Ende 1930 weilt Schumpeter als Gastprofessor am Department of Economics der Harvard University. Er wird zusammen unter anderem mit Ragnar Frisch einer der Mitbegründer der „Econometric Society“, deren Vorstand er mehrere Jahre hindurch angehört (1940–41 sogar als Präsident). Seine Rückreise nach Deutschland führt ihn Anfang 1931 über Japan, wo er zahlreiche Vorträge hält, die auf große Resonanz sto-
14 So der Titel von Schumpeters „Presidential Address“ anläßlich der Tagung der American Economic Association 1949 (vgl. SCHUMPETER 1950). 15 Ein erstes Manuskriptfragment wird schließlich 1970 von F. K. Mann aus Schumpeters Nachlaß ediert (SCHUMPETER 1970). Seither haben L. BERTI und M. MESSORI (1996) weitere Kapitel des geplanten Werks im Nachlaß gefunden und in italienischer Sprache herausgebracht. Eine Ausgabe der gefundenen Kapitel in deutscher Sprache (in der sie von Schumpeter verfaßt worden sind) wird von H. HAGEMANN und H. RIETER als Band 25 der Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie im Metropolis-Verlag erscheinen. Zur verwickelten Editionsgeschichte vgl. MESSORI 1997.
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ßen.16 Zurück in Bonn zeigt er sich an einem Lehrstuhl in Berlin (Nachfolge Sombart beziehungsweise Herkner) interessiert, aber er wird übergangen. Schumpeter trifft die Zurücksetzung tief. Wie nur kann er es seinen deutschen Kollegen zeigen, daß sie sich in einem großen Irrtum befinden? Seine amerikanischen Freunde in Harvard läßt er wissen, daß er einem (zunächst temporären) Wechsel dorthin nicht mehr abgeneigt ist. Im Mai 1932 gibt er bekannt, daß er sich entschlossen habe, einen Ruf nach Harvard anzunehmen.
5. Harvard Im Herbst 1932 zieht Schumpeter nach Cambridge, Massachusetts. Einen Großteil seines Habes läßt er vorerst noch in Europa zurück. Er wohnt im Haus seines akademischen Gönners und väterlichen Freunds Frank W. Taussig, bis er im Sommer 1937 Elizabeth Boody Firuski heiratet. In den Berufungsverhandlungen gelingt es ihm, ein gutes Gehalt zu vereinbaren, das es ihm erlaubt, seine Schulden bis 1935 abzuzahlen. 1939 wird er Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Als Lehrer ist Schumpeter ein weiteres Mal äußerst erfolgreich. Einige der brillantesten Köpfe werden von seinen Vorlesungen und Seminaren angezogen und lassen sich von ihm inspirieren, darunter Paul A. Samuelson, der Schumpeter „a great showman“ nennt, James Tobin, Richard Musgrave, Abram Bergson, Richard Goodwin, Paul Sweezy und Kenneth Galbraith. Schumpeter regt eine Vorlesung in Mathematischer Wirtschaftstheorie an und hält diese zunächst selbst, bevor er sie an Wassily Leontief abtritt, der zwischenzeitlich über Berlin, Kiel und China nach Harvard gekommen ist. Die Kollegen beeindruckt Schumpeter mit seinen mathematischen Kenntnissen nicht, aber seine Initiative nehmen sie wohlwollend auf. Keynes ist mittlerweile zum Verdruß Schumpeters längst zu Weltruhm gelangt, und sein jüngstes Buch, The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), wird auch in Harvard von zahlreichen Professoren und Studenten begeistert aufgenommen. Nur wenige stehen abseits, darunter Schumpeter. Er tut sich schwer mit dem Erfolg des Briten, umso mehr als Galbraith, Alvin Hansen und schließlich auch Samuelson zu Keynesianern mutieren und die neue Botschaft in Lehrbüchern weiterverbreiten und ihr weltweit zum Durchbruch verhelfen. Schumpeter trägt seinen Unmut offen zur Schau und publiziert eine Rezension, die an Mißgunst kaum zu überbieten ist (Schumpeter 1936). Er wirft Keynes vor, das „Ricardosche Laster“ zu teilen, aus trivialen Modellen 16 Bis auf den heutigen Tag hält sich unter japanischen Kollegen ein ausgeprägtes Interesse am Leben und Werk Schumpeters; vgl. in jüngerer Zeit insbesondere SHIONOYA 1997.
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weitreichende wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen zu ziehen, zeiht ihn zahlreicher nicht näher benannter Fehler, heißt dessen monetäre Zinstheorie gut, weil sie „als erste meiner eigenen nachfolgt“, und schließt mit den Worten: „Je weniger über das Buch gesagt wird, um so besser.“ (Schumpeter 1987 [1936], S. 84)17 Ein weiteres Mal ist ihm Keynes zuvorgekommen. Schumpeter ergeht es wie dem Hasen im Märchen mit dem Igel. Verzweifelt versucht er zu kontern. Er arbeitet ohne Rücksicht auf seine Gesundheit und legt 1939 die zweibändigen, mehr als eintausend Seiten umfassenden Business Cycles vor (Schumpeter 1939). Darin breitet er seine Sicht der Dynamik der kapitalistischen Ökonomie aus, präzisiert seine Auffassung vom Kernprozeß der Entwicklung und den wirksamen Verstärkungsmechanismen, erörtert das Zusammenspiel der seiner Ansicht nach einander überlagernden Zyklen unterschiedlicher Dauer und Amplitude und versucht seine Deutung durch reichhaltiges empirisches Material abzustützen. Aber das Werk kommt zur Unzeit und der Erfolg bleibt aus. Simon Kuznets (1940) veröffentlicht im American Economic Review eine harsche Kritik des Werks. Schumpeter spürt, wie seine Schüler und Studenten von ihm abrücken. Sein Traum, der größte Ökonom der Welt zu werden, ist ausgeträumt. Wenige Jahre davor, 1934, erscheint eine englische Ausgabe der neuerlich überarbeiteten Theorie (Schumpeter 1934), in der Schumpeter einige der in den Business Cycles zum Tragen kommenden Korrekturen an seiner früheren Auffassung vorwegnimmt. Während Schumpeter in der ersten deutschen Ausgabe die Länge der Zyklen in Anlehnung an den Konjunkturforscher Juglar mit etwa 9 bis 10 Jahren angegeben hatte, führt er in der Theory of Economic Development und dann in den Business Cycles zusätzlich das Konzept der langen Welle ein, die um die 50 Jahre umfasse. Er tut dies insbesondere in Anlehnung an den russischen Forscher Nikolai Kondratieff und an Spiethoff. Bis zum Ersten Weltkrieg macht er drei lange Wellen aus, die jeweils durch fundamentale technologische Durchbrüche (sogenannte „Basisinnovationen“) ausgelöst worden seien: der sogenannte „erste Kondratieff“ von der Dampfmaschine (1787–1842), der zweite von der Eisenbahn (1843–1897), der dritte von der Elektrifizierung (1897– ca. 1940). Neben den ganz langen und mittleren Zyklen – den „Kondratieffs“ und „Juglars“ – gebe es, so Schumpeter in den Business Cycles, schließlich auch noch lange, circa 20 Jahre, und kurze, nur circa 40 Monate umspannende (Lager-)Zyklen. In seiner Besprechung erkennt Kuznets zwar die gewaltige Leistung an, die die Business Cycles darstellen, stößt sich aber an mehreren Thesen Schumpeters, darunter insbe17 Zum Verhältnis der Theorien von Keynes und Schumpeter siehe die Beiträge in BÖS, STOLPER 1984 sowie in WAGENER, DRUKKER 1986; speziell zum Problem der Erwartungen vgl. RIETER 1985; BÖHM 1987, S. 24–28, vergleicht Schumpeters Sicht der Rolle des Unternehmers mit Keynes’ Konzept der „entrepreneur economy“ und sieht beide Autoren in der Tradition der klassischen, nicht der neoklassischen Ökonomen.
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sondere den beiden folgenden: (a) Innovationen kommen ruckartig und in Bündeln, und (b) es gibt mehrere Arten von Zyklen, die einander überlagern. Kuznets hegt vor allem Zweifel an der Existenz der Kondratieffs. Die von Schumpeter verwendeten statistischen Verfahren seien viel zu primitiv, um seine Thesen zu untermauern. Am schlimmsten muß Schumpeter der Vorwurf treffen, letztlich sei es ihm nicht gelungen, einen überzeugenden Grund für die Endogenität der Zyklen zu liefern. Wie Kuznets ironisch anmerkt, laufe alles auf die Behauptung hinaus, die heroischen Unternehmerpersönlichkeiten würden alle fünfzig Jahre müde. Schumpeter trägt sich mit dem Gedanken, Harvard zu verlassen, und streckt seine Fühler aus. Die Yale University unterbreitet ihm ein attraktives Angebot, aber zu seiner Überraschung ersuchen ihn sowohl Kollegen als auch Studierende, zu bleiben. Von der ihm entgegengebrachten Sympathie überwältigt, schlägt er das Angebot aus. Er arbeitet zu dieser Zeit an Capitalism, Socialism and Democracy (Schumpeter 1942). Kern der Arbeit ist eine Theorie der Demokratie und die Verwendung ökonomischer Denkmuster in der Analyse des politischen Prozesses. Der Begriff von politischen Parteien als stimmenmaximierenden Institutionen begründet einen neuen Zweig der Sozialwissenschaften: die sogenannte „Neue Politische Ökonomie“ oder „Ökonomische Theorie der Politik“, mit Anthony Downs als einem der frühen führenden Vertreter. Das Buch ist darüber hinaus gedacht als Ergänzung der Business Cycles und soll die Analyse des Gesamtprozesses der kapitalistischen Entwicklung – eines nahtlosen Ganzen – um dessen politische und institutionelle Aspekte ergänzen. Das Buch wird zu seinem größtem Erfolg, obgleich es sofort nach seiner Publikation aus verschiedenen Richtungen angegriffen wird. Es ist das Buch eines Konservativen oder, wie Samuelson meint, eines „Reaktionärs“. Das Buch wird in 16 Sprachen übersetzt und gehört bis auf den heutigen Tag zum Pflichtkanon mehrerer Disziplinen. Die Frage: „Kann der Kapitalismus weiterleben?“ bejaht Schumpeter, rein ökonomisch gesehen – nicht zuletzt mit der Behauptung, daß im „trustified capitalism“ sogar mit einer höheren Innovationsrate zu rechnen sei als unter Konkurrenzbedingungen. Die monopolistischen Praktiken großer Firmen, insbesondere die Institutionalisierung von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, sprechen seiner Ansicht nach nicht gegen eine Verringerung der Rate des technischen Wandels. Der Kapitalismus zerbreche nicht am Fall der Profitrate, wie Marx gemeint hatte. Gefahr drohe von ganz anderer Seite: von der verschwindenden Unternehmerfunktion, von der Erosion der den Kapitalismus schützenden Gesellschaftsschichten, von der antikapitalistischen Haltung der Intellektuellen sowie von der allmählichen Zerstörung des institutionellen Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft. Der Gang in den Sozialismus sei aus diesen Gründen unabwendbar (vgl. auch Schumpeter 1950, S. 456, sowie Acham 1984).
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Während der Kriegsjahre verschlechtert sich Schumpeters Zustand zusehends. Er leidet unter den Berichten über das Völkergemetzel in Europa und die Bombardements der Alliierten. Sein ritueller Umgang mit seiner verstorbenen zweiten Frau und seiner Mutter nehmen immer bizarrere Züge an. In seinen Tagebüchern und auch in der Öffentlichkeit läßt er sich wiederholt zu rassistischen Äußerungen hinreißen. Ein ums andere Mal wird er gegen Keynes und dessen Ökonomik ausfällig. Seine dritte Frau schlüpft immer mehr in die Rolle seiner Pflegerin. Schumpeters Arbeitswut jedoch ist noch ungebrochen und sein Ansehen groß. 1948 wird er Präsident der American Economic Association. Ein letztes großes Werk, dessen Beendigung ihm jedoch nicht mehr vergönnt ist, nimmt all seine Kraft in Anspruch: die monumentale History of Economic Analysis.18 Schumpeter stirbt am 8. Januar 1950 an einer Gehirnblutung. Der Text, beinahe 1300 Seiten, wird von seiner Frau herausgebracht (Schumpeter 1954a). Er erweist sich für alle Theoriegeschichtler von unschätzbarem Wert und dürfte als Referenzwerk von bleibender Bedeutung sein. Wir wenden uns jetzt einigen ausgewählten Werken Schumpeters näher zu. Die Gesamtschau seines Oeuvres ergibt das Bild eines Forschers, der auf der Suche nach einer „sozialen Universalwissenschaft“ war. So bezeichnet er das Werk Adam Smiths, aber es gibt Grund zur Annahme, daß ihm selbst an der Entwicklung einer modernen Fassung hiervon gelegen war.
III. Auf der Suche nach einer „sozialen Universalwissenschaft“: Wichtige Werke Schumpeters im Überblick 1. Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie Schumpeter betritt die Szene in weithin sichtbarer Weise mit seinem mehr als 650 Seiten umfassenden Opus Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie (Schumpeter 1908). Das Werk trägt ihm schnell den Ruf eines aufsteigenden Sterns am Firmament der deutschsprachigen Ökonomik ein. Einige der darin enthaltenen Bekennt18 Ein Motto Schumpeters lautet: „Der erste Wert im Leben heißt Sieg, der zweite Rache.“ In der History nimmt er Rache an Richard Hildebrand, indem er ihn „unsterblich“ macht. Was Hildebrand auf Grund eigener Leistungen nicht gelang, das besorgt sein früherer Grazer Kollege. In der History erwähnt er Hildebrand in einer Fußnote (SCHUMPETER 1954a, S. 1086, Fn. 1). Der Leser erfährt, daß es sich beim Genannten um den Sohn des „viel bedeutenderen Bruno“ Hildebrand handelt. Zu den bemerkenswerten Geistesfrüchten des Sohnes zähle die Auffassung, beim Geld handele es sich „um das genaue Gegenteil einer Ware“ – eine Meinung, die keinem „ernsthaften Arbeiter“ von irgendeinem Nutzen sei und den Laien nur verwirre. (Die Richard Hildebrands gibt es natürlich immer noch – in Graz und andernorts. Wie RIETER 2002, S. 19– 21, indes zeigt, schießt Schumpeter in der Sache über das Ziel hinaus.)
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nisse des gerade 25-Jährigen finden sich bereits im zwei Jahre davor erschienenen Aufsatz „Über die mathematische Methode der theoretischen Ökonomie“ (Schumpeter 1906). Schumpeter plädiert darin in Anlehnung insbesondere an Jevons und Walras für ein sich an den sogenannten exakten Wissenschaften orientierendes Profil der Nationalökonomie und bricht eine Lanze für den Gebrauch der Mathematik bei der Untersuchung und Darstellung allseitiger ökonomischer Interdependenz: Da die Begriffe der politischen Ökonomie „quantitativ“ seien, „so ist unsere Disziplin eine mathematische. Ihre Urteile haben den Charakter von Gleichungen.“ (Schumpeter 1952 [1906], S. 534) Bemerkenswerterweise hält er sich in Wesen und Hauptinhalt nicht an seine eigene Vorgabe, was nicht unerheblich zum beachtlichen Umfang des Werkes beiträgt. Das Vorwort beschließt der Frühreife in der Pose des Meisters, der – im Besitz umfänglichen Wissens und untrüglichen Urteilsvermögens – abgeklärt dem weiteren Verlauf der Dinge entgegensieht. „Mit Ruhe“, läßt er den Leser wissen, „blicke […] ich in den neuen wissenschaftlichen Tag, der, wenn ich nicht irre, zu grauen beginnt.“ (1908, S.XXII) Er selbst will der noch jungen Wissenschaft den Weg weisen. Bereits in jungen Jahren entwirft das Mastermind die Idee zu einem Masterplan, der nichts weniger zum Ziel hat, als das Fach zu revolutionieren. Aber dazu muß er zunächst die Schwächen der überlieferten Theorie in grelles Licht tauchen. Erst dann kann er als Neuerer tätig werden. Schumpeter will der größte Ökonom seiner Zeit werden. Schon während seiner Studienzeit in Wien beginnt er sich für mathematische Wirtschaftstheorie zu interessieren und ist zunächst unter dem Eindruck der Theory of Political Economy von Jevons der Auffassung, daß die Wirtschaftstheorie mittels der Verwendung der Mathematik zu einer exakten Wissenschaft werden könne, ähnlich wie es die Physik und Chemie seien. Dieser Botschaft ist Das Wesen gewidmet. Das Werk richtet sich vor allem an das deutsche Publikum (1908, S.XXI), dem durch die Vorherrschaft der jüngeren historischen Schule, angeführt vom einflußreichen Gustav Schmoller, ein Verständnis für die Leistungskraft der „reinen“ Theorie abhanden gekommen sei. Schumpeter reagiert damit auf seine Weise auf den sogenannten Methodenstreit, wie er in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zwischen Carl Menger und Schmoller getobt hatte. Noch prononcierter als Menger, der sich gegen die Einseitigkeit des Historismus verwahrt hatte, vertritt Schumpeter eine Position des Sowohl-als-Auch: Reine Theorie sei unverzichtbar, ebenso aber auch die Anwendung der historischen Methode – jede auf dem ihr gebührenden Feld. Eine Pluralität der Methoden sei in einem Fach wie der Nationalökonomie unerläßlich. Was jedoch die reine Theorie anbelangt, so sei der Standpunkt des „methodologischen Individualismus“, eine der vielen erfolgreichen Wortschöpfungen Schumpeters, der einzig angemessene (vgl. 1908, I. Teil, VI. Kapitel).19 19 Das Konzept ist, wenn schon nicht dem Namen, so doch der Sache nach, von Heinrich Dietzel in seinen Beiträgen zum Methodenstreit in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vertreten worden; auch die instru-
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Unter Rückgriff auf die Entscheidungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte ließen sich eine Reihe von Einsichten in deduktiver Weise gewinnen, die als allgemeine Gesetze Gültigkeit hätten. In einer die instrumentalistische Position eines Milton Friedman vorwegnehmenden Passage betont er: „Nicht darauf kommt es uns an, wie sich diese Dinge wirklich verhalten, sondern wie wir sie schematisieren oder stylisieren müssen, um unsere Zwecke möglichst zu fördern, das heißt also, welche Auffassung die vom Standpunkte der Resultate der reinen Ökonomie praktischste sei.“ (1908, S. 93–94; ähnlich bereits 1906, S. 531f.) „Für den Nationalökonomen“, fügt er hinzu, ist „das Wesen der Volkswirtschaft gleichgültig. […] Wir haben auf das zu blicken, was wir erreichen wollen – das ist in diesem Falle die Preiserscheinung – und nur das anzuführen, was zur Erreichung unseres Zieles unbedingt nötig ist.“ (S. 94, Hervorh. im Original) Die Auffassung, die Annahmen der Theorie müssen nichts mit der Welt, die es zu erklären gilt, zu tun haben, ist wiederholt und zu Recht kritisiert worden (siehe zum Beispiel Rieter 1985, S. 43, und Schneider 2001, S. 448). Auch das Schumpeter zufolge mit der Theorie angestrebte Ziel ist als Wegzeiger unbrauchbar. Entgegen Schumpeters Annahme ist es keine ausgemachte Sache, daß die Walrassche Theorie besonders sparsam im Hinblick auf die vorgegebenen Daten oder unabhängigen Variablen ist. Sollte die Bestimmung der einem gegebenen System zugehörigen relativen Preise und Verteilungssätze das gesetzte Ziel sein, dann bedarf es nicht der Information über alle das System bevölkernden Individuen und deren Präferenzen – eine Information, die dem empirisch arbeitenden Forscher sowieso nie zur Verfügung stehen wird. Vielmehr genügen für diesen Zweck Angaben über die Gesamtproduktionsniveaus, die technischen Alternativen und die gezahlten Löhne, wie von den klassischen Ökonomen unterstellt (vgl. Kurz 2006). Schumpeters Vorstellung, das Ganze sei gleich der Summe seiner Teile, ist schwerlich zu halten in einer Welt, in der das Phänomen der Externalitäten zweckgerichteten Tuns – zentrales Thema des Schumpeterschen Entwurfs – allgegenwärtig ist. Schumpeter selbst wird, wie wir gleich sehen werden, an seiner Vorstellung auch dann noch festhalten, wenn er sich der Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung zuwendet. Schumpeter vertritt im Wesen eine „Art von Monroedoktrin“ (1908, S. 536): Die Wirtschaftstheorie habe nichts mit Metaphysik zu tun und sei strikt von anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch von der Philosophie zu scheiden. Insbesondere sei sie völlig unabhängig von Psychologie und Biologie. Beim Ruf nach einer psychologischen Fundierung des Nutzenbegriffs handele es sich um ein gravierendes Mißverständnis. Das Konzept des „Nutzens“ sei eine Setzung seitens des Theoretikers, eine bloße Annahme: „Die wirtschaftlichen Tatsachen, nicht die psychologischen vermentalistische Sicht findet sich bei ihm antizipiert; vgl. hierzu KASPRZOK 2005, Kap. III. Vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Dieter SCHNEIDER (2001, S. 447– 449) zu Schumpeters Fassung des Konzepts.
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anlassen uns zu [seiner] Aufstellung.“ (S. 542) Schumpeter insistiert, „daß zwischen Ökonomie und Psychologie kein Zusammenhang, weder ein methodologischer noch ein materieller, von der Art besteht, daß wir, um zu unseren Resultaten zu gelangen, Anleihen bei der letzteren machen müßten“ (S. 544). Andere sozialwissenschaftliche Disziplinen, beharrt der 25-Jährige forsch, „haben uns nur wenig zu geben – oder nichts. Im Interesse der Klarheit ist es geboten, ihre Nichtigkeit zu betonen und diesen Ballast über Bord zu werfen.“ (S. 553) Die Wirtschaftstheorie wird von Schumpeter explizit in die Nähe der Natur- und weg von den Geisteswissenschaften gerückt: „Ihrem methodologischen und erkenntnistheoretischen Wesen nach wäre die reine Ökonomie eine ,Naturwissenschaft‘ und ihre Theoreme ,Naturgesetze‘.“ (S. 536) Schumpeters apodiktische Sätze müssen auf zahlreiche seiner Zeitgenossen altklug und provokativ gewirkt haben. Aber was noch nicht war, sollte im Lauf der Entwicklung des Fachs werden, jedenfalls bezüglich der (neoklassischen) Mainstream Economics – und zwar ziemlich genau so, wie es Schumpeter 1908 mit jugendlicher Unbekümmertheit, aber großer seherischer Kraft vorhersagt. Trotz ihrer Abkoppelung von anderen Disziplinen und ihrer rein instrumentalistischen Ausrichtung, so Schumpeter weiter, erlaube die auf Walras basierende Wirtschaftstheorie bedeutende Einblicke in das menschliche Verhalten – ja, es handele sich bei ihr um die erste wirkliche Wissenschaft vom menschlichen (ökonomischen) Verhalten. Schumpeter vertritt die instrumentell gewendete Theorie des allgemeinen Gleichgewichts in offensiver, ja geradezu aggressiver Weise: Das „höchste Interesse der reinen Ökonomie“ liege darin, „daß sie eine Erweiterung des Gebietes des exakten Denkens darstellt“ (S. 563). Dies folge aus der „weitreichenden Allgemeinheit“ und „eindeutigen Bestimmtheit [sic] unseres Gleichgewichtssystems“ sowie dessen engem Zusammenhang mit einer „überaus große[n] Menge von Fakten“ (S. 564). Aufgabe der ökonomischen Theorie sei es, das Zusammenspiel der je eigene Ziele auf eigene Rechnung verfolgenden Akteure zu analysieren, die Interdependenzen der „wirtschaftlichen Quantitäten“ zu untersuchen und mittels der Methode der komparativen Statik – oder „Variationsmethode“, wie Schumpeter sie nennt – zu zeigen, wie die Änderung eines der „Daten“ oder Parameter des Modells ein neues „Gleichgewicht“ ins Leben setzt, begriffen als konjekturaler Gravitationspunkt der von der Datenänderung ausgelösten (aber nicht im einzelnen untersuchten) Anpassungen im gesamten ökonomischen System. Die Theorie von Léon Walras gestatte die Analyse allgemeiner Interdependenz und sei von unverzichtbarem Wert für ein Verständnis ökonomischer Zusammenhänge. Schumpeter betont, daß es ihm vor allem darum gehe, das Werk des „großen Meisters der exakten Theorie“, eine Art „Magna Carta“ der Volkswirtschaftslehre, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen (S. 261; vgl. auch Kurz 1989). Darüber hinaus werden die Auffassungen Mengers, Böhm-Bawerks, Wiesers, Pantaleonis,
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Irving Fishers und anderer zeitgenössischer Autoren erwähnt. Schumpeter synthetisiert deren Auffassungen in einem breit angelegten System, welches sich nicht um störende Details und offene Fragen kümmert, sondern allein der Konturierung der groben Linie, der generellen Stoßrichtung der Theorie gewidmet ist. Die genauen Bedingungen für die Existenz, Eindeutigkeit und Stabilität des Gleichgewichts werden ebensowenig erörtert wie die Frage, ob die sich ergebenden Lösungen ökonomisch sinnvoll sind (im Sinne nichtnegativer Preise und Mengen et cetera). Unterstellt werden langfristige Gleichgewichte der Ökonomie, aber welche spezielle Fassung des Datensatzes die Langfristorientierung verlangt, und ob überhaupt eine kohärente Formulierung der Theorie möglich ist, steht nicht wirklich zur Debatte.20 Interessanterweise vertritt Schumpeter bereits in seinem Frühwerk die Auffassung, daß die statische Methode der Walrasschen Theorie untauglich sei, das alles überragende dynamische Moment – die „wirtschaftliche Neuerung“ – zu erfassen. Die Theorie unterstelle einen Akteur, den große Anpassungsleistungen an je gegebene Verhältnisse auszeichneten, einen „langweiligen Gleichgewichtsmenschen“ (Schumpeter 1908, S. 568), während sie jenen Akteur, der die gegebenen Verhältnisse revolutioniert, den „Unternehmer“, erst gar nicht ins Visier nehme.21 „Welche Jammergestalt“, lesen wir, „ist doch unser das Gleichgewicht ängstlich suchendes Wirtschaftssubjekt, ohne Ehrgeiz, ohne Unternehmungsgeist, kurz ohne Kraft und Leben! Und wo sind alle die Wollungen und Handlungen, welche auch den Alltag aus dem Staube erheben?“ (S. 567) Schumpeter insistiert: „Nur die Statik ist bisher einigermaßen befriedigend bearbeitet worden und nur mit ihr beschäftigen wir uns im wesentlichen in diesem Buch. Die Dynamik steht noch in ihren Anfängen, ist ein ,Land der Zukunft‘.“ (S. 183) Eine Kartographierung dieses Landes behält er sich für sein nächstes großes Werk vor. Er schließt das Buch mit der Bemerkung: Trotz ihrer unübersehbaren Beschränkungen habe die Walrassche Theorie eine „kleine Gruppe von gesicherten Wahrheiten“ zu Tage gefördert; sie sei eine „Leuchte inmitten eines Meeres von Finsternis“ (S. 626). Schumpeters Lehrern sowie deren Mentor Menger muß die überschwengliche Belobigung der Leistung Walras’ übel aufgestoßen sein. Sie werden gewiß auch keine 20 Dies ist bemerkenswert, denn als „undisziplinierter Walrasianer“ spricht er andernorts den Fall an, in dem ein Unternehmer „bei einer Lohnsteigerung es vorteilhafter findet, auf Mengen anderer Produktionsfaktoren in größerem Maße zu verzichten und seine Nachfrage nach Arbeit zu erhöhen“ (SCHUMPETER 1916–17, S. 85f., Fn. 95). Wenn jedoch die Arbeitsnachfrage mit steigendem Lohnsatz zunimmt, dann erhält man bei konventionellem Verlauf der Arbeitsangebotsfunktion ein instabiles Gleichgewicht, und der Erklärungswert der Theorie steht in Frage (vgl. KURZ 1989, S. 59–61). 21 Boshafte Kommentatoren haben angemerkt, daß Marshall, Schumpeter und andere Ökonomen den Unternehmer just zu einer Zeit entdecken, wo er abhanden zu kommen droht – ersetzt vom bloßen Kapitaleigner auf der einen Seite und vom Manager auf der anderen. Die Trennung von Eigentum und Kontrolle war in führenden Industriestaaten bereits weit voran geschritten und wird von Autoren wie T. Veblen und J. M. Clark zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts thematisiert.
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Freude an der Botschaft gehabt haben, wonach die Zukunft des Faches in dessen Mathematisierung liege. Sowohl Menger als auch von Böhm-Bawerk hatten sich wiederholt kritisch zum Projekt der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie eines Walras geäußert und standen dem Einsatz der Mathematik skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Verwendung simultaner Gleichungen stand angeblich im Widerspruch zur „Kausal-Genetik“ der Österreicher; für von Böhm-Bawerk handelte es sich bei ihr schlicht um eine „Todsünde gegen alle wissenschaftliche Logik“. Bevor ich fortfahre, ist eine Anmerkung zur Existenz und den Eigenschaften einer Lösung des Walrasschen Systems angebracht. Walras hat sich bekanntlich im wesentlichen mit dem Abzählen der Zahl der Unbekannten einerseits und derjenigen der Zahl der Gleichungen andererseits zufrieden gegeben und war im Fall der Gleichheit der beiden der Überzeugung, daß das entwickelte Modell damit automatisch eine ökonomisch sinnvolle Lösung besitze. Diese bilde die Verhältnisse einer realen Ökonomie in abstrakter Form ab. Die Abzählmethode kann indes keinen Existenzbeweis ersetzen, und selbst wenn eine Lösung existieren sollte, ist diese nicht per se ökonomisch sinnvoll. Schumpeter sieht insbesondere nicht, daß das Gleichgewicht nur mit Hilfe von Ungleichungen formuliert werden kann, da es keinen Grund zur Annahme gibt, daß für beliebige Anfangsausstattungen mit produktiven Faktoren alle Märkte für produktive Leistungen geräumt werden. Ihm entgeht auch, daß für eine beliebig gegebene Ausstattung mit konkreten Kapitalgütern im allgemeinen kein einheitlicher Ertragssatz auf das Kapital bestimmt werden kann. Walras hatte diese Auffassung in den ersten drei Auflagen der Éléments vertreten und war erst in der vierten von ihr abgerückt (siehe hierzu Kurz und Salvadori 1997, Kap. 1 und 14). Seine Theorie erwies sich demnach nicht, wie von ihm ursprünglich gedacht, methodisch als Theorie der langen, sondern als eine der kurzen Frist. 2. Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung 1911 erscheint die beinahe 600 Seiten umfassende Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine merklich revidierte zweite Auflage folgt 1926; Übersetzungen ins Italienische (1932), Englische (1934), Französische (1935), Japanische (1937) und Spanische (1944) schließen sich an. Das Buch „soll den größeren Teil dessen erfüllen, was ich [im Wesen und Hauptinhalt] gelegentlich vorwiegend kritischer Erörterungen versprochen habe“ (1912, S. VII).22 Schumpeter ist gerade 28 Jahre alt. Die seinen Arbeiten von Beginn an zugrunde liegende Vision nimmt immer deutlichere Gestalt an. Der Durchdringung und Erklärung des Phänomens der wirtschaftlichen Entwicklung sollte er den Großteil 22 Zur Entstehungsgeschichte des Buches vgl. insbesondere MÄRZ 1965.
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seiner Lebensarbeitskraft widmen. Aber als besonders fleißig will er nicht gelten, als besonders originell hingegen schon. Tagsüber und in Gesellschaft webt er beharrlich am Bild eines von den Musen Geküßten, eines Genies, dem die Dinge in den Schoß fallen. Des Nachts bereitet er zäh und unermüdlich den nächsten Musenkuß vor. Sein Ehrgeiz spornt ihn über die Maßen an und läßt ihn innerhalb weniger Jahre ein Werk von beachtlicher Größe schaffen. Schumpeter beginnt die Theorie mit einer Untersuchung des „Kreislaufs der Wirtschaft“. Genauer: Er unterstellt eine stationäre Ökonomie, in der tagein-tagaus die gleichen Produktions- und Konsumtionprozesse ablaufen. Das Verhalten der einzelnen Akteure basiert auf eingeübten Routinen, die ihrerseits auf Erfahrungen beruhen. Der Ökonomie sei ein „Wertsystem“ zugeordnet, „gleichsam die Geologie dieses Berges von Erfahrung“. Dieses Wertsystem könne mit Hilfe der statischen Gleichgewichtstheorie analysiert werden. Schumpeter stutzt auf diese Weise den Geltungsbereich der Theorie Walras’ auf den Fall stationärer Wirtschaften zusammen.23 In letzteren, so Schumpeter, gebe es keinen Gewinn, sondern nur Löhne beziehungsweise Gehälter und Grundrenten für knappe Böden. Er ist sich darüber im klaren, daß er sich mit dieser Behauptung gegen alle überlieferte Theorie stellt – egal ob klassisch, marxisch, marginalistisch oder österreichisch. Er konzediert, daß seine Auffassung „kraß den Tatsachen zu widersprechen scheint“ (1912, S. 48), gleichwohl sei sie die einzig richtige. Das Modell einer stationären Ökonomie findet sich bereits im Tableau économique von François Quesnay, in den „Schemata der einfachen Reproduktion“ von Marx und in Marshalls Principles – alles Werke, die Schumpeter kennt. Auch die Vorstellung, in der stationären Ökonomie würden nur Löhne und Grundrenten gezahlt, hat ihre Vorbilder: Quesnay zum Beispiel oder das Marxsche Konzept der „einfachen Warenproduktion“. Aber Stationarität ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Profit und Zins, wie Schumpeter meint. Nicht nur die klassische, auch die marginalistische Theorie kommt zum Ergebnis, daß die Profitrate in einer stationären Ökonomie im allgemeinen positiv ist. Nur in einer mit Kapital gesättigten Ökonomie tendiere sie gegen Null. Hierzu komme es indes nur, wenn die gesellschaftliche Zeitpräferenzrate gleich Null ist (vgl. hierzu Samuelson 1943, 1982). Wer sich derart mit der gesamten Zunft anlegt, der will hoch hinaus. Und so sieht sich Schumpeter dazu veranlaßt, einige der überlieferten Gewinnerklärungen durchzumustern, um ihnen Unhaltbarkeit zu bescheinigen. Interessant ist insbesondere seine Zurückweisung des Böhm-Bawerkschen Versuchs, den Zins unter anderem auf eine
23 Wie Walras’ Theorie der „capitalisation“ zeigt, war dem Lausanner Ökonomen entgegen Schumpeters Deutung jedoch sehr an der Analyse einer Kapital akkumulierenden und wachsenden Ökonomie gelegen; vgl. hierzu MORISHIMA 1977.
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dem Menschen angeblich eignende „Höherschätzung der Gegenwartsbedürfnisse gegenüber den Zukunftsbedürfnissen“ zurückzuführen. In Anlehnung an Wieser betont Schumpeter, daß es im stationären Kreislauf keine „systematische Unterschätzung der Produktionsmittel gegenüber den Produkten“ geben könne (1912, S. 52). Eine positive Zeitpräferenz sei vielmehr die Folge eines positiven Zinssatzes und nicht deren Ursache.24 Schumpeter geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, in der betrachteten Ökonomie gebe es nicht einmal Geldzins, weil kein Kapital akkumuliert und daher kein Kredit benötigt werde. Alle Einkommen werden ausnahmslos „unter dem Titel von Lohn oder Grundrente verzehrt“ (S. 67). Es gebe weder „Unternehmer“ noch „Kapitalisten“, sondern nur „statische Betriebsleiter“, die ein Arbeitseinkommen beziehen. „Für den Zins“, pocht Schumpeter, „fehlt […] schlechthin jede Grundlage“ (S. 91). Er übersieht anscheinend, daß selbst wenn der Produzentenkredit im stationären System eine zu vernachlässigende Rolle spielen sollte, es gewiß Konsumentenkredite zwischen Jung und Alt, zwischen in Not befindlichen Gesellschaftsmitgliedern und anderen, und so weiter gibt. Die betrachtete Wirtschaft, heißt es weiter, sei „ruhend, passiv, von den Umständen bedingt, stationär, statisch“ (Schumpeter 1912, S. 91). Nichts deute auf die „Möglichkeit einer Entwicklung aus sich selbst heraus“ hin (ibid.; Hervorhebung hinzugefügt). In ihr gebe es auch keine „Krisen“ (S. 91). Als Hauptvertreter der statischen Sichtweise identifiziert Schumpeter Walras, aber auch die Österreicher, fährt er fort, „schildern natürlich nichts anderes als den Kreislauf der Wirtschaft“ (S. 100) – eine Einschätzung, die seine Lehrer nicht erfreut hat. Kurzum: Alle bisher vorgelegte Theorie sei statisch, vonnöten sei eine dynamische Theorie. Der ökonomischen Klassik konzediert er tastende Versuche in dieser Richtung, der „einzige größere Versuch nach dem Entwicklungsprobleme hin“ stamme indes von Karl Marx: Allein Marx […] hat es versucht die Entwicklung des Wirtschaftslebens selbst mit den Mitteln der ökonomischen Theorie zu behandeln. Seine Akkumulations-, seine Verelendungs-, seine Zusammenbruchstheorie ergeben sich wirklich aus rein ökonomischen Gedankengängen und stets ist sein Blick auf das Ziel gerichtet, die Entfaltung des Wirtschaftslebens als solche und nicht bloß seinen Kreislauf in einem bestimmten Zeitpunkt gedanklich zu durchdringen. Aber die Basen seiner Theorie sind dennoch durchaus statischer Natur – sind es doch die Basen der Klassiker. (S. 98)
Schumpeter beläßt es bei diesem Hinweis. Worin genau die Verdienste von Marx bestehen, erfährt der Leser an dieser Stelle ebensowenig wie ihm gesagt wird, wodurch
24 Es kann daher nicht verwundern, daß BÖHM-BAWERK (1913) Schumpeter scharf angreifen und SCHUMPETER (1913) ähnlich scharf kontern sollte.
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Schumpeter zufolge sich sein eigener Ansatz vom Marxschen unterscheidet. Bei Marx ist es bekanntlich das „Zwangsgesetz der Konkurrenz“, das die permanente Revolutionierung der Produktionsverhältnisse erzwingt: Produzenten müssen ständig neue Produktionsmethoden und Produkte entwickeln und einführen, um sich in existierenden Märkten zu behaupten oder der Konkurrenz auf neuen Märkten zu entkommen. Konkurrenz bedeutet Rivalität, und in ihr besteht nur, wer erfolgreich innoviert.25 Die Innovation ist nicht das Ergebnis der besonderen Neigung einer durch außergewöhnliche Fähigkeiten gekennzeichneten Gruppe von Menschen, sondern das Ergebnis des vom Markt erzwungenen Verhaltens der Kapitaleigner und ihrer Vertreter. Außergewöhnliche Fähigkeiten sind gewöhnlich von Vorteil, um im Markt zu bestehen, aber sie sind nicht das Treibrad der Entwicklung, sondern ihr Medium. Der Impuls geht von der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft aus und übersetzt sich in das Verhalten der Akteure: In der Auseinandersetzung mit ihren „feindlichen Brüdern“ – ihren Konkurrenten – sind Kapitalisten bei Strafe des Untergangs zur Innovation verdammt. Schumpeters Sicht unterscheidet sich grundlegend hiervon. Während bei Marx das Ganze das Verhalten seiner Teile formt, versucht Schumpeter im wesentlichen an der Position des methodologischen Individualismus festzuhalten, wonach die Teile das Ganze bestimmen. Welche Teile? Auch Schumpeter geht es um jene Entwicklung, „die die Wirtschaft aus sich heraus zeugt“. Diese endogene Entwicklung, beharrt er, sei ein bis „in sein innerstes Wesen wirtschaftlich zu erklärendes Phänomen“ (1912, S. 103). Aber anders als bei Marx ist nicht ein systemischer Grund Ausgangspunkt der Erklärung, sondern ein „zweiter Typus wirtschaftlichen Handelns“: das „schöpferische Gestalten“ auf dem Gebiete der Wirtschaft. Das „neue Agens“ (S. 105), so Schumpeter, sei der Drehund Angelpunkt der gesuchten Erklärung. Nicht jedermann sei fähig zu schöpferischem Gestalten, nicht jedermann besitze die Willenskraft, gewohnte Bahnen zu verlassen und Neues zu wagen. Neben dem „rationalistischen“ Typus gebe es „eine besondere reale Menschengruppe“, Menschen mit Führungsfähigkeiten, eine „Elite“. Der erste Typus sei „statisch“ und „hedonisch“, der andere „dynamisch“ und „energisch“. Der eine versuche, es sich möglichst gut in gegebenen Verhältnissen einzurichten, der andere, sich die Verhältnisse selbst zu richten. Die beiden Typen seien, sowohl was die Motivation ihrer Handlungen als auch die eingesetzte Energie anbelangt, völlig verschieden. Der zweite Typus setze den bisherigen Daten „gleichsam etwas hinzu“, „ändert die Wirtschaftsweise“, „nötigt seine Produkte dem Markte auf“, weckt erst „künstlich“ Bedürfnisse und Nachfrage. Ihm sei der Genuß, den allein der Hedoniker im Visier habe, geradezu „gleichgültig“. „Halb patho-
25 Eine knappe Zusammenfassung der Marxschen Sicht, wie sie von Paul Sweezy und Shigeto Tsuru gegen Schumpeter vorgebracht worden ist, gibt BÖHM 1987, S. 20f.
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logische Momente“ seien in der Erklärung seines Verhaltens heranzuziehen. Der dynamische Typus sei „ein ganzer Kerl“, keine „Jammergestalt“, die sich fortwährend ängstlich frage, ob jede Anstrengung auch einen ausreichenden Genußüberschuß verspricht (S. 137). In einem Wort: Solche Männer schaffen, weil sie nicht anders können. Ihr Tun ist das großartigste, glänzendste Moment, das das wirtschaftliche Leben dem Beobachter bietet, und geradezu kläglich nimmt sich daneben eine statisch-hedonische Erklärung aus. (S. 138)
Der Dynamiker erfreut sich an „sozialer Machtstellung“ und an seiner eigenen Tätigkeit. Der Weg ist das Ziel. Er hat „Freude am Erfolghaben“, am „Siegen über andre“. Für ihn gibt es kein „Gleichgewicht“, sondern nur die rastlose Suche nach neuen Betätigungsfeldern. Er will Firmenimperien gründen und wirtschaftliche Dynastien, er will anderen seinen Willen aufzwingen, sie untertan machen, er will als Gestalter, als Mächtiger in die Geschichte eingehen, wie ehedem große Feldherren und bedeutende Könige.26 Bevor wir fortfahren, sei kritisch angemerkt, daß es unklar ist, wie es – angesichts der Postulierung eines „dynamischen“ Menschentypus, dessen Sinnen und Trachten dem Umsturz der gegebenen Verhältnisse gilt, und dem dies auch immer wieder gelingt – jemals zu einer Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung aus sich heraus kommen kann. Wenn man die Ursache der Dynamik exogen vorgibt, ist allenfalls die Bahn, die das angestoßene System nimmt, endogen. Auf diesen Widerspruch haben zahlreiche Autoren aufmerksam gemacht, darunter Kuznets (1940) und Rieter (1985). Der stationäre Kreislauf werde ein ums andere Mal von „Unternehmern“ durchbrochen, die „neue Kombinationen“ (S. 170) durchsetzen.27 Beim Unternehmer handele es sich um „einen auf das wirtschaftliche Gebiet spezialisierten Häuptling“ (S. 173). Unter neuen Kombinationen versteht Schumpeter (1) Produktinnovationen, (2) Ver-
26 Adam Smith hatte in seiner merkliche materialistische Elemente aufweisenden Geschichtsdeutung argumentiert, daß im Zuge des Zivilisationsprozesses und des damit einhergehenden Bedeutungszuwachses von Industrie und Handwerk es für die Sprößlinge der oberen Schichten immer attraktiver werde, sich wirtschaftlich zu betätigen. Während in der Vergangenheit Ehre und gesellschaftliche Anerkennung fast ausschließlich durch heldenhaftes Verhalten auf dem Schlachtfeld zu erzielen waren – in den Lectures on Jurisprudence heißt es hierzu: “In a rude society nothing is honourable but war.” (SMITH 1978, S. 300) – und der Dienst an der Waffe daher zu den vornehmsten Pflichten der gesellschaftlichen Elite gehörte, ergab sich zunehmend eine Alternative hierzu in Gestalt einer finanziell reizvollen Tätigkeit als Geschäftsmann. Vgl. hierzu KURZ 1991. 27 Zu Schumpeters Innovationstheorie vgl. unter anderem STOLPER 1982 und TICHY 1985. Zur Frage nach den Beschäftigungswirkungen unterschiedlicher Formen des technischen Fortschritts bei Ricardo, Marx und Schumpeter vgl. KALMBACH, KURZ 1986.
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fahrensinnovationen, (3) die Erschließung neuer Absatzmärkte, (4) die Erschließung beziehungsweise Eroberung neuer Bezugsquellen von Rohstoffen und Halbfabrikaten und (5) die „Durchführung einer Neuorganisation, wie Schaffung einer Monopolstellung […] oder Durchbrechen eines Monopols“. Innovationen seien „die überragende Tatsache in der Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft“. Technologischer und organisatorischer Wandel revolutioniere unaufhörlich das gesamte ökonomische System. Er rufe neue Güter und Berufe ins Leben und mustere altbekannte aus. Er erzwinge tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Dieser Prozeß bedeute „creative destruction“, wie Schumpeter später schreiben wird, denn es wäre naiv anzunehmen, daß es dabei nur Gewinner und keine Verlierer gebe. Verlierer seien zunächst die unmittelbaren Konkurrenten der Neuerer sowie die von diesen beschäftigten Arbeitskräfte, dann die Vorlieferanten und so weiter. Die Durchsetzung neuer Kombinationen verlange, daß Ressourcen alten Kombinationen entzogen und neuen zugeführt werden. Dies geschehe mittels der Kreditschöpfung. Wer innoviere, bedürfe der Kaufkraft. Als Neuerer könne der Unternehmer im allgemeinen nicht auf in der Vergangenheit erzielte und gesparte Gewinne zurückgreifen (S. 192). Dem Bankensystem komme die bedeutende Aufgabe zu, sein Kreditbedürfnis zu decken: „Man könnte ohne große Sünde sagen, daß der Bankier Geld schaffe.“ (S. 197) Schumpeter fügt hinzu: „Wie der Unternehmer der König, so ist der Bankier der Ephor des Marktes.“ (S. 198) Und: Der Unternehmer „kann nur Unternehmer werden, indem er vorher Schuldner wird.“ (S. 208) Alle wirtschaftliche Entwicklung – so Schumpeter – bedürfe „prinzipiell des Kredits“ (S. 212). Diese Kaufkraft trete neben die bereits vorhandene. Unter der Annahme, daß die Ressourcen im stationären Kreislauf vollbeschäftigt sind, führe die höhere monetäre Nachfrage zu Preissteigerungen und damit zu einem „Güterentzug“ zugunsten der Neuerer: Die kreditinduzierte Inflation wirke wie eine Steuer auf die „statischen Wirte“ und führe zu einer Umverteilung der produktiven Ressourcen. Obzwar der Zins zunächst ein monetäres Phänomen sei, so beruhe er in letzter Instanz doch auf einem realwirtschaftlichen Faktor: der produktivitätssteigernden Wirkung von Innovationen. Schumpeters Idee von den „neuen“ Kombinationen ist so neu nicht. Sie findet sich lange vorher im Schrifttum, zumal im deutschsprachigen (vgl. hierzu Streissler 1994). Besonders erwähnenswert sind Arbeiten Albert Schäffles. Dieser hatte 1868 eine Professur an der Universität Wien angetreten und während der wenigen Jahre, die er dort vor seiner Rückkehr nach Deutschland weilte, zahlreiche österreichische Ökonomen inspiriert (vgl. hierzu Hennings 1997). Sein Einfluß erstreckte sich auch auf Schumpeter (vgl. Borchardt 1961, und neuerdings Balabkins 2003). Schäffle antizipierte jedoch nicht nur die von Schumpeter erwähnten technischen, organisatorischen und kommerziellen Innovationen, er wies auch – wie andere deutsche Autoren vor ihm – der Figur des „Unternehmers“ die Schlüsselrolle im Prozeß der Entwicklung zu. Er hatte
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darüber hinaus eine Vorstellung vom scharenweisen Auftreten von Imitatoren, die bei Schumpeter eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit der Frage nach der Propagierung eines innovativen Impulses spielen sollten.28 Ein Vergleich mit der klassischen Unterscheidung zwischen Profit und „Extraprofit“ drängt sich auf. Unter Konkurrenzbedingungen, so die klassischen Ökonomen, tendiert das ökonomische System zu einem Zustand, wo auf den Wert des vorgeschossenen Kapitals eine einheitliche Profitrate erzielt wird. Innovationen geben diesem Prozeß der Gravitation ein ums andere Mal eine neue Richtung – ein neues „Gravitationszentrum“ – vor. Der erfolgreiche Innovator erzielt über eine mehr oder weniger lange Zeitspanne hinweg neben der Normalverzinsung Extragewinne, Ricardos „surplus profits“. Bei Schumpeter geht es um nichts anderes als um die innovationsbedingten Extraprofite der ökonomischen Klassik und deren allmähliche Elimination infolge der Diffusion und Verallgemeinerung der Innovation im ökonomischen System über das imitierende Verhalten der Konkurrenten. Schumpeter hätte das Herzstück seiner Geschichte ganz unter Rückgriff auf den analytischen Apparat der Klassik erzählen können. Und er hätte keinen Grund zur Annahme gehabt, in der neuen sich ergebenden langfristigen Position des ökonomischen Systems – dem neuen „circular flow“ – sei die Profitrate gleich Null. Entstehung und Erosion der Extraprofite erklärt Schumpeter wie folgt. Die wirtschaftliche Entwicklung verlaufe typischerweise nicht stetig, weil Innovationen „scharenweise“ und „gebündelt“ auftreten. Industrielle Veränderung sei niemals „harmonisches Fortschreiten“, sondern bedeute „ruckweise Störung des Gleichgewichtszustandes“, in deren Folge es zur Vernichtung einiger der existierenden Firmen und Produktionslinien komme. Wer grundlegende Innovationen durchführt, erleichtere beziehungsweise erzwinge das Auftreten anderer Unternehmer: solcher, die Verbesserungsinnovationen anschließen, und solcher, die nur imitieren, um nicht aus dem Markt geworfen zu werden. Bei der Resorption der Störungen handele es sich um einen „Prozeß der Einpassung des Neuen und der Anpassung der Volkswirtschaft an das Neue“. Sobald sich die Kraft des innovativen Impulses erschöpft, komme es zur Krise. Dieser Prozeß führe notwendig in die Depression, die Schumpeter „als das Ringen der Volkswirtschaft um einen neuen Gleichgewichtszustand“ definiert. Der Aufschwung, so Schumpeter, trage den Keim zu seinem eigenen Ende in sich und münde letztlich in einen neuen stationären Kreislauf. Über den Ursprung der Schumpeterschen These von der Abwesenheit von Profit und Zins im stationären Kreislauf finden sich in der Literatur verschiedene Hypothesen. Meines Erachtens hat er sie von Walras übernommen. Dieser kommt in den Élé-
28 Bislang noch kaum beachtet worden ist der Einfluß Michail Tugan-Baranowskys auf das Schumpetersche Bild vom Unternehmer; vgl. hierzu BECKMANN 2008, Abschnitt 6.
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ments nach der Behandlung des Problems des isolierten Tausches auf den Fall einer stationären Ökonomie zu sprechen, in dem Konsumgüter produziert werden, aber angeblich keine neuen Kapitalgüter. In diesem Fall, so Walras (1954 [1874], S. 269), gebe es daher auch keine Preise für letztere, sondern nur Preise für die Leistungen der schon existierenden Exemplare dieser Güter. Da die „Rate des Nettoeinkommens“, Walras’ Ausdruck für den Zinssatz, jedoch das Verhältnis zwischen dem Nettopreis der Leistung eines Kapitalgutes und dem Preis des neuwertigen Kapitalgutes selber ist, könne es in der stationären Ökonomie keinen Zins geben. Erst in der „fortschreitenden“ Wirtschaft, in der Kapitalgüter erzeugt würden, gebe es Zins – Gegenstand von Teil V der Éléments, der bezeichnenderweise von „Kapitalbildung und Kredit“ handelt. Der Trugschluß Walras’ liegt auf der Hand: Daß in einer stationären Ökonomie netto kein Kapital akkumuliert wird, bedeutet nicht, daß keine dauerhaften Kapitalgüter erzeugt werden. Walras selbst unterstellt, daß letztere nutzungsbedingtem Verschleiß unterliegen und reproduziert werden müssen. Überdies läßt sich der Nettopreis für die Leistungen der Kapitalgüter nur bestimmen, wenn man von deren Bruttopreis die Abschreibung abzieht. Letztere ist Walras zufolge jedoch proportional dem Preis des Kapitalgutes. Dies wiederum bedeutet, daß man den Leistungspreis nicht ohne den Kapitalgutspreis kennen kann, und umgekehrt. Schumpeter, so scheint es, ist Walras’ Fehler aufgesessen. So vertritt er unter anderem die an Walras gemahnende Meinung, daß Stationarität der Wirtschaft auf die Anwesenheit von nur zirkulierenden Kapitalgütern hinauslaufe (vgl. Schumpeter 1912, S. 64, 67 und 69). Gegen Schumpeters Theorie der langen Wellen wendet Simon Kuznets (1940) ein, daß keine einzige Innovation imstande sei, derartig große Fluktuationen im Investitionsverhalten auszulösen. Um lange Wellen zu erzeugen, bedürfe es, wie Christopher Freeman (1982) betont, der Diffusion von ganzen Clustern von miteinander zusammenhängenden Innovationen – von sogenannten „new technological systems“. Innovationen, so Nathan Rosenberg (2000), seien weit weniger diskontinuierlich, als von Schumpeter angenommen. Schließlich: Schumpeter sei zwar in der Lage, einen Investitionsboom über die Ausbreitung neuer Technologien und Band-wagon-Effekte zu erklären, er besitze indes keine befriedigende Erklärung der Depression. Tatsächlich nennt er tiefe Depressionen „pathologisch“.
3. Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte Max Webers Einladung an den gerade 30-Jährigen, zum im Jahr 1914 erscheinenden Grundriss der Sozialökonomik einen Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomik beizusteuern, war Ausdruck der beträchtlichen Hochachtung, die der Neugrazer sich in
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wenigen Jahren in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Zunft erworben hatte. Schließlich handelte es sich beim Grundriss um nichts mehr und nichts weniger als um eine Bestimmung des aktuellen Stands der Forschung auf den verschiedenen Feldern der Disziplin.29 Schumpeters „Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte“, ein Essay von etwas mehr als einhundert Seiten, ist die Keimzelle zu seiner späteren History of Economic Analysis (Schumpeter 1954a) und setzt eine rühmenswerte österreichische Tradition fort: die Bewahrung des Interesses an der Geschichte und Entwicklung des Faches. Aber wie kann ein gerade 30-Jähriger je die Fülle des zu ordnenden und kommentierenden Materials beherrschen? Er kann es natürlich nicht wirklich, doch gibt es vermutlich niemanden in Schumpeters Altersklasse, der es besser gekonnt hätte als er, und nur wenige Ältere, die sich mit ihm hätten messen können. Das von Schumpeter vorgelegte Werk ist beeindruckend, selbst eingedenk des Umstands, daß es sehr von zwei Quellen – Böhm-Bawerks Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien und den von Karl Kautsky herausgegebenen Marxschen Theorien über den Mehrwert – gespeist wird. Schumpeter beginnt mit einer Erörterung der „Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft“. Der Bogen spannt sich von der Antike über das scholastische bis hin zum merkantilistischen Schrifttum. Dann wendet er sich der „Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs“ zu. Hier steht Schumpeter ganz unter dem Einfluß von Marx. Über William Petty z.B. schreibt er, dieser habe „das Material [in einer Weise] theoretisch zu durchdringen und zu interpretieren gesucht […], wie das kaum jemals wieder so zielbewußt geschehen ist“ (1914a, S. 32 f.). Marx hatte bekanntlich Petty als eigentlichen Begründer der poltitischen Ökonomie bezeichnet. Ohne Hinweis auf Marx wendet Schumpeter dessen Begriff der „Vulgarökonomie“ auf einige Merkantilautoren an (S. 35). Ähnlich Marx bezeichnet er François Quesnay als einen „der größten und originellsten Denker auf unserem Felde“ (S. 40) und liefert eine Begründung, die selbst in der Wortwahl wiederum an Marx gemahnt: Mit der Entwicklung des wirtschaftlichen Kreislaufs im Tableau économique sei es Quesnay und den Physiokraten gelungen, den gesamten wirtschaftlichen „Lebensprozeß“ zu erfassen und „einen Blick in das Innere des sozialen Güterstroms und den Vorgang seiner steten Selbsterneuerung“ zu werfen. Überraschenderweise handelt Schumpeter im fraglichen Abschnitt neben Turgot auch Adam Smith ab, über den er schreibt: „Er war ein Mann zusammenfassender Arbeit und ausgeglichener Darstellung, nicht großer neuer Ideen. […] Auf betretenen Pfaden und mit vorhandenem Material schuf dieser sonnenklare Geist ein großartiges Lebenswerk.“ (S. 51) Und wenige Zeilen später heißt es: „Heute können wir uns über 29 Zu Schumpeters Leistung als Theoriegeschichtler siehe unter anderem PERLMAN 1982 sowie den Beitrag von Lutz BEINSEN in SEIDL 1984.
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die geistigen Dimensionen Smiths keiner Täuschung hingeben, zu deutlich unterscheiden wir Sockel und Gestalt.“ (S. 52) Also, keine Marmorbüste für den Schotten – von Schumpeter! Wie erfreulich, daß Smith eine solche bereits im fernen Edinburgh gestiftet worden war. Schumpeters Urteil von der mangelnden Originalität Smiths findet da und dort auch heute noch Vertreter. Aber es läßt sich nicht halten, wie die einschlägige Forschung mittlerweile gezeigt hat. Schumpeter hat Recht, daß Smith ein formidabler Jäger und Sammler war, unermüdlich auf der Suche nach Brauchbarem – gerade so, wie er, Schumpeter, auch. Zugleich war Smith ein Synthetisierer und Systembildner von Rang und hat auf zahlreichen Gebieten mit neuen Ideen und Einsichten aufgewartet. Danach befaßt sich Schumpeter mit dem „klassischen System und seinen Ausläufern“. Es ist der längste der vier Teile und beansprucht beinahe die Hälfte des gesamten Textes. Auch in ihm ist der Einfluß der Marxschen Theorien über den Mehrwert beinahe auf jeder Seite geradezu mit den Händen greifbar. Anders als die im Angelsächsischen gängige Deutung Alfred Marshalls, wonach es sich bei den Klassikern um mehr oder weniger krude Vorläufer der (marginalistischen) Theorie des Angebots und der Nachfrage gehandelt habe, insistiert Schumpeter, daß ihr Ansatz eigenständig gewesen sei und nicht subsumierbar unter die spätere Theorie: Die klassische Theorie und jene Alfred Marshalls verbinde „nur mehr ein loses Band“ (S. 55). „Kulminationspunkt“ der Klassik seien David Ricardos Principles – Ricardo der „bedeutendste Nachfolger“ Smiths (S. 53 f.) und verglichen mit diesem wegen dessen „relativer Oberflächlichkeit“ (S. 58, Fn. 2) der bedeutendere Ökonom. Bei Marx lesen wir Ähnliches. Schumpeter nutzt neuerlich die Gelegenheit, um gegen Smith auszuholen, wenn er schreibt: „Es gibt einen sehr achtenswerten Gelehrtentypus, der jenem Feldherrntypus gleicht, dessen einzige Sorge und höchster Ruhm es war, nie geschlagen zu werden. Aber die besten gehören nicht dazu.“ (Ibid.) Noch ahnt unser Mastermind nichts von Keynes und den ihm von diesem zugefügten Kränkungen. Schumpeter wirft Ricardo analytische Enge vor und lobt demgegenüber Marx, „der das Leben und Wachstum des sozialen Körpers überhaupt erfassen wollte“ und ähnlich wie Smith an der Entwicklung einer „sozialen Universalwissenschaft“ (S. 60) arbeitete. Überhaupt ist er von der Marxschen Theorie fasziniert. In einer zweieinhalb Seiten langen Fußnote preist er Marxens Werk als „einzigartig“; unter der polemischen Form liege „gründliche wissenschaftliche Arbeit“ (S. 81, Fn.). Marx „hatte nicht nur Originalität, sondern auch sonst wissenschaftliches Talent von höchster Ordnung. […] Zur Zeit, wo sein erster Band [gemeint ist Das Kapital, 1867] erschien, gab es da niemand, der sich mit ihm hätte messen können, weder in Kraft noch in theoretischem Wissen“, und so sei Marx „zum Lehrer auch vieler Nichtsozialisten geworden“. Er nimmt Marx auch gegen die Deutung in Schutz, bei der Arbeitswerttheorie handele es sich um eine ethische Norm. Ohne ihn zu nennen, weist Schumpeter Böhm-Bawerks Attacke auf Marx
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nach der von Engels besorgten posthumen Veröffentlichung des dritten Bandes von Das Kapital zurück. Den von Böhm-Bawerk behaupteten „Widerspruch“ zwischen den beiden Bänden – zwischen der Arbeitswerttheorie im ersten und der Produktionspreistheorie im zweiten – gebe es „weder subjektiv [?] noch objektiv“ (S. 82). Abschließend befaßt sich Schumpeter mit der historischen Schule und der Grenznutzentheorie. Wie auch schon im Wesen ist Schumpeters Urteil über den Historizismus abgewogen. Er hält ihm zugute, mit Blick auf das Tatsachenmaterial nolens volens den Begriff der Evolution in die Ökonomik eingeführt und auf das dynamische Element des Wirtschaftens aufmerksam gemacht zu haben. Der ehedem hoch gelobten „mathematischen Oekonomie“ (marginalistischer Prägung) widmet er erstaunlich wenig Raum. Im Wesen noch über die Maßen als Hoffnungsträger gepriesen, legt Schumpeter jetzt eine bemerkenswerte Zurückhaltung an den Tag. Ihr Anwendungsgebiet sei „ein beschränktes und ihre Leistungen gehen nur in einzelnen Punkten über eine korrektere und schärfere Darstellung […] hinaus, so daß man wohl die Zweckmäßigkeitsfrage diskutieren kann […], ob sich gegenwärtig für einen Nationalökonomen, dem es sich vor allem um die Kenntnisnahme der Resultate der Theorie handelt, die Erlernung eines besondern Apparats lohnt.“ (S. 110)30 Der Leser reibt sich verwundert die Augen. Wie, glaubt Schumpeter, kann man die „Resultate“ einer Theorie zur Kenntnis nehmen, ohne sich auch der Richtigkeit ihres Zustandekommens zu versichern? Und kann man die Resultate überhaupt verstehen, ohne ihre Ableitung, die zu Grunde liegenden Annahmen sowie deren Zusammenwirken verstanden zu haben? Welche Resultate der Theorie waren im Jahr 1914 wissenschaftlich gesichert? Und wie verhielt sich die fragliche Theorie zur klassischen, der Schumpeter einen eigenständigen Charakter zugesprochen hatte? Auf den abschließenden Seiten behauptet Schumpeter unter anderem erstaunlicherweise, Alfred Marshall habe „besonders Walras’ ganze Lehre übernommen“ (S. 116). Den Unterschied zwischen Klassik und Grenznutzenlehre sieht er wie folgt. Während sich die Klassik mit den „großen objektiven Tatsachen und Tendenzen“ beschäftige, untersuche die Grenznutzenlehre die Details der „Grundtatsachen des Wirtschaftens“ (S. 117). Der zweite wesentliche Unterschied sei „der Verzicht auf das Moment der Arbeitsmenge als Regulators und Maßstabs der Güterwerte […] und das Voranstellen und Durchführen des Gesichtspunkts des Gebrauchswerts“ (S. 118) in der Grenznutzentheorie. Angesichts dieser Charakterisierung ist jedoch folgendes nur scheinbare Paradoxon in Erinnerung zu rufen. Es wird oftmals, und so auch von Schumpeter, übersehen, daß führende Grenznutzentheoretiker – von Jevons bis Böhm-Bawerk und von J. B. Clark bis P. H. Wicksteed – der Auffassung waren, im Gleichgewicht seien die rela-
30 Zu Schumpeters Auffassungswandel im Verlauf der Zeit vgl. KESTING 1997, S. 19f., demzufolge unser Mastermind sich im Fortgang seines Schaffens „zunehmend dem Historismus“ angenähert habe.
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tiven Preise der Waren gleich den relativen, in ihrer Erzeugung aufgewandten Arbeitsmengen. Eine derartige Auffassung hatte Ricardo (und Marx) bekanntlich nur in wenig interessanten Spezialfällen gelten lassen. Während dem stock jobber Ricardo das Phänomen des Zinseszinses sowie dessen werttheoretische Implikationen wohlbekannt waren, zogen es Vertreter des frühen Marginalismus vor, den Zinseszins zu ignorieren – mit fatalen Folgen für ihre Kapitaltheorie.
IV. Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte Bereits im Vorangehenden bin ich verschiedentlich auf die Rezeption der einen oder anderen Arbeit Schumpeters eingegangen. In diesem abschließenden Teil sollen in aller Kürze einige weitere Momente der Wirkungsgeschichte des Schumpeterschen Werkes erwähnt werden. Vollständigkeit kann nicht das verfolgte Ziel sein.
1. Hayeks Konjunkturtheorie Das Interesse an der Erklärung konjunktureller Zyklen teilen andere österreichische Ökonomen mit Schumpeter. Zu erwähnen sind insbesondere Ludwig von Mises und der auf diesen aufbauende Friedrich August von Hayek (vgl. Kurz 2000a, 2000b). Methodisch bewegt sich Hayek (1931) ganz in Schumpeters Bahnen. Auch seine Analyse nimmt ihren Ausgang von einer sich in der Ruhelage eines allgemeinen stationären Gleichgewichts befindlichen Ökonomie und begreift den Zyklus als den durch eine Störung ausgelösten Übergang zu einem neuen stationären Gleichgewicht. Substantiell wendet er sich jedoch ganz von Schumpeter ab. Dies betrifft zunächst die Frage nach dem Charakter der diskutierten Störung. Hayek erörtert nur zwei Typen von Ursachen. Die erste betrifft eine autonome Veränderung der Präferenzen der Akteure – eine Erhöhung oder Senkung der Rate der Zeitpräferenz – und damit eine Senkung oder Erhöhung der Bruttoersparnis. Die Änderung der „freiwilligen Ersparnis“, so Hayek, bewirke eine mehr oder weniger reibungslose Transition zu einem neuen langfristigen Gleichgewicht. Der zweite Typus betrifft eine durch die Geldpolitik induzierte Änderung der Technikwahl kostenminimierender Produzenten: Setzt das Bankensystem den Geldzinssatz unterhalb des (grenzproduktivitätstheoretisch konzipierten) Gleichgewichtszinssatzes fest, dann bedeutet dies einen Anreiz für die Produzenten, längere „Produktionsumwege“ einzuschlagen. Es kommt zu einer Ausweitung der Produzentenkredite und, wie bei Schumpeter, zu einer Steigerung der Preise produktiver Faktoren, die auf diese Weise auf konsumfernere Stufen der zeitlich gestaffelten Produktion gelockt werden. Sofern sich an den Präferenzen der
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Akteure nichts geändert hat, führt die Verringerung des Konsumgüteroutputs – eine „erzwungene Ersparnis“ – jedoch über kurz oder lang zu einer Steigerung der Konsumgüterpreise und damit zu einer Erhöhung der Profitabilität in den konsumnahen Bereichen. Dies weist den ursprünglich beschrittenen Weg der Verlängerung der Produktionsumwege jedoch als Irrweg aus, der mit einer Fehlallokation von Ressourcen verbunden ist. Hayeks Erklärungsversuch gilt dem normalen Konjunkturzyklus, nicht der langen Welle. Während Schumpeter dem Bankensystem eine zentrale Rolle bei der Beförderung innovativer Impulse zuspricht, sieht Hayek in ihm die Ursache allen Übels: Dessen diskretionäre zinspolitische Entscheidungen erzeugten künstlich kostspielige Aufs und Abs, zu denen es in einer Naturaltauschwirtschaft angeblich nicht kommen könne. Schumpeter hat von Hayeks Theorie nichts gehalten und dies in privater Korrespondenz deren schärfsten Kritiker, Piero Sraffa, wissen lassen.
2. Lange Wellen in Theorie und Empirie Obzwar die Idee der Existenz langer Wellen wirtschaftlicher Aktivität bereits vor Schumpeter geäußert worden ist, nimmt die neuzeitliche Beschäftigung damit ihren Ausgang vor allem von ihm. Die Existenz langer Wellen ist mittels spektralanalytischer Verfahren nachzuweisen versucht worden, und die weltweite Stagnations- und Stagflationsphase der frühen siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat Deutungen genährt, man durchlebe das Endstadium des vierten Kondtratieffs. Die mikroelektronische Revolution ist wiederholt als die den fünften Kondratieff tragende Schlüsseltechnologie begriffen worden. Statt von konjunkturellen Zyklen wird gelegentlich von Wachstumszyklen gesprochen. Die Literatur zum Thema ist umfänglich. Zu erwähnen sind insbesondere Freeman (1982, 1983) und van Duijn (1983).
3. Evolutorische Ökonomik Unter Rückgriff unter anderem auf Schumpeter hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Forschungsrichtung entwickelt, die als „Evolutorische Ökonomik“ firmiert. Diese Richtung hat im Lauf der Zeit beachtlich an Bedeutung gewonnen und ist mittlerweile in Gestalt von wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachzeitschriften institutionalisiert und etabliert. Es sei dahingestellt, ob die Berufung auf Schumpeter immer zu Recht erfolgt. Der evolutionstheoretische Ansatz in der Ökonomik ist besonders durch die Veröffentlichung des Buches von R. Nelson und S. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, beflügelt worden (Nelson und Winter 1982). Im Rahmen seiner Graz
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Schumpeter Lectures 1995 modelliert Stanley Metcalfe den Prozeß der schöpferischen Zerstörung als evolutorischen Prozeß (Metcalfe 1998). Er tut dies unter Rückgriff auf die Übergangsgesetze von Populationen, wie sie R. A. Fisher in seinem 1930 veröffentlichten Buch The Genetical Theory of Natural Selection vorgestellt hat.
4. Schumpetersche Modelle des endogenen Wachstums Schließlich ist auf einen bedeutenden Zweig der sogenannten „neuen“ oder „endogenen“ Wachstumstheorie hinzuweisen. Während in den ersten Beiträgen hierzu in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zunächst nur positive externe Effekte der Kapitalakkumulation – speziell derjenigen von Human- und Wissenskapital – erörtert worden sind, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken, ist es Anfang der neunziger Jahre zur Formulierung auch von negativen Externalitäten im Rahmen sogenannter „Schumpeterscher Modelle“ gekommen; zu erwähnen ist insbesondere Aghion und Howitt (1998). In diesen Modellen ist Schumpeters „heroische Unternehmerpersönlichkeit“ nur eine Randfigur. Das Augenmerk konzentriert sich vor allem auf das in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmungen Geleistete und dessen Umsetzung in marktgängige neue Instrumente der Produktion und neue Produkte. Gewinnern im Prozeß der Innovation stehen Verlierer gegenüber, und es stellt sich die Frage nach der optimalen sozialen Innovationsrate. Die Anziehungskraft der Ideen unseres Masterminds, so können wir schließen, hat sich nicht erschöpft.
V. Literaturverzeichnis ACHAM, K. (1984): „Schumpeter – The Sociologist“, in: SEIDL 1984, S. 155–172. ACHAM, K. (1997): „Schumpeter’s Conception of History“, in: Geschichte und Gegenwart 16, S. 195–210. AGHION, Ph., P. HOWITT (1998): Endogenous Growth Theory, Cambridge, MA: MIT. ALLEN, R. L. (1991): Opening Doors. The Life and Work of Joseph Schumpeter, 2 Bände, mit einem Vorwort von Walt W. ROSTOW, New Brunswick-London: Transaction Publishers. BALABKINS, N. (2003): „Adaptation without Attribution? The Genesis of Schumpeter’s Innovator“, in: J. BACKHAUS (Hg.): Joseph Alois Schumpeter. Entrepreneurship, Style and Vision, Berlin: Springer. BECKMANN, U. (2008): „Der Einfluß von Michail Tugan-Baranowsky auf die deutsche Konjunkturforschung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: H. RIETER, L. D. SIROKORAD, J. ZWEYNERT (Hg.): Deutsche und russische Ökonomen im Dialog. Wissenstransfer in historischer Perspektive, Marburg: Metropolis. BERTI, L., M. MESSORI (1996): Joseph Alois Schumpeter: Trattato della moneta: capitoli inediti. Con altri scritti sulla moneta, Neapel.
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Richard Sturn Wilhelm Röpke (1899–1966)
Wilhelm Röpke ist neben Walter Eucken und Alexander Rüstow einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Ordoliberalismus. Röpke sah sich selbst als Protagonist eines „Dritten Wegs“ zwischen totalitär-kollektivistischer Kommandowirtschaft einerseits und den „Irrwegen“ historisch bedeutsamer Liberalismusvarianten andererseits. Er kritisiert jenen Liberalismus, welcher „als echtes Kind des Rationalismus souverän die vitalen und anthropologischen Gegebenheiten ignoriert“1 und zudem oft blind ist gegenüber den kapitalistischen Vermachtungs-, Konzentrations- und Vermassungstendenzen sowie den verderblichen Effekten eines ungezügelten Egoismus und Hedonismus. Röpkes Einfluß auf das wirtschaftspolitische Paradigma der Sozialen Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland dürfte durch seine publizistische Breitenwirkung – insbesondere seine zeitdiagnostisch-programmatischen Bücher erlebten jeweils viele Auflagen – ebenso wie durch seinen intensiven Kontakt zu Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard erheblich gewesen sein. Als Mitbegründer und zeitweiliger Präsident der Mont Pèlerin Society (1960 – 62) ist er überdies einer der Protagonisten des Neoliberalismus von internationalem Format, wobei gerade die intellektuellen Konfliktlinien vis-à-vis den in jener Gesellschaft vertretenen Ausprägungen des ökonomischen Liberalismus (Jüngere ChicagoSchule, Mises, Hayek) Anhaltspunkte für die Originalität seiner eigenen LiberalismusKonzeption bieten und zur theoretischen Basis seines Denkens führen. Röpke ist in der Verortung seiner eigenen Positionen ein Denker der intellektuellen Mittellage, deren Ausarbeitung in wichtigen Fragen auf der Postulierung eines alternativen Koordinatensystems beruht, auf dessen Basis bestimmte diskursprägende Polarisierungen zurückgewiesen werden. Dies trifft nicht nur auf den Dritten Weg zwischen Kommandowirtschaft und Kapitalismus zu. Im Hinblick auf seine Einschätzung von Aufklärung und bürgerlicher Revolution schreibt er: „Wir weigern uns mit aller Entschiedenheit, zwischen diesen beiden Extremen der doktrinären Radikalen und der ebenso doktrinären Reaktionäre zu wählen, und indem wir einen dritten Standpunkt suchen, fragen wir vor allem, was denn eigentlich jene politische Revolution weltgeschichtlich zu bedeuten hatte.“2 Reaktionäre wie de Maistre (den auch Hayek rezipiert hat) und Bonald findet Röpke wegen ihrer Kritik am aufklärerischen Rationalismus und Konstruktivismus interessant und lehrreich. Gleichwohl sind die Umbrüche im Zeichen
1 RÖPKE 1942, S. 89; Kursivierung im Original. 2 Ebenda, S. 67.
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Wilhelm Röpke Quelle: wissenmedia GmbH, Gütersloh
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der Aufklärung für Röpke „der umfassendste, gewaltigste, durchdachteste, und nachhaltigste Versuch, den die Menschen bisher unternommen haben, um die Erbsünde der Gewalt und Unterdrückung in all ihren gesellschaftlichen, politischen, geistigen und ökonomischen Formen zu tilgen“. Die Probleme dieser Umbrüche – die in die „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ münden – können daher nicht vom Standpunkt eines „idyllischen Partriarchalismus“3 angemessen erörtert werden. Die wesentlichen Linien von Röpkes Denken treten schon früh zutage und werden mit bewunderungswürdiger Konsequenz und Ernsthaftigkeit weitergeführt. Der 1918 in der blutigen Durchbruchsschlacht von Cambrai-Arras verwundete und mit dem EK II dekorierte Unteroffizier findet sich als Marburger Jura- und Ökonomiestudent in einem Studentenzirkel, dem auch der spätere deutsche Bundespräsident Heinemann angehört und dessen Mitglieder der liberal-republikanischen Deutschen Demokratischen Partei zuneigen, nachdem Röpke anfänglich mit der Sozialdemokratie sympathisiert hatte. Träumereien von der „konservativen Revolution“ sind Röpkes Sache nicht. Die literarische Apotheose der Stahlgewitter des Weltkriegs, wie sie sein Regimentskamerad Ernst Jünger gestaltete, hält er für dekadent.4 Röpkes konsequenter Anti-Nazismus, der ihn nach Professuren in Jena (1924 –27), Graz (1928/29) und Marburg (1929 –33) in die Emigration führte,5 ist gewiß auch dem ihm eigenen Sinn für Proportionen sowie für die Fragilität zivilisatorischer Errungenschaften angesichts der drohenden Rückkehr in die Gewaltförmigkeit „der Urwälder Teutoniens“, aber auch seiner Aversion gegen effekthascherische Übertreibungen geschuldet. Er lehrt 1934 –37 in Istanbul und ist 1937– 66 Professor am Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf, das auch Mises und Kelsen Zuflucht bot. Röpke ist ein prononciert moderater Konservativ-Liberaler, dessen solides, aber nicht dogmatisiertes intellektuelles Koordinatensystem – bei aller Prägnanz in der Formulierung von Positionen – einer pragmatischen Problemorientierung förderlich ist. Dieses Koordinatensystem besteht aus seiner Bildung als Ökonom (auf die zurückzukommen sein wird) einerseits und einem christlichen Humanismus andererseits, den er als selbstverständliches abendländisches Erbe betrachtet und der im übrigen Thomas von Aquin näher ist als dem Lutheranertum6 seiner hannoverschen Heimat. Letztere prägte den Sohn eines Landarztes gleichwohl in seinen sozialtheoretischen Zugängen Zeit seines Lebens, waren doch seine Vorstellungen vom menschengerechten Leben von den erlebten Vorzügen bäuerlich-handwerklicher Lebensformen bestimmt, für die ihm später auch die Kleinstädte und Dörfer der alpinen und voralpinen Schweiz anheimelndes Anschau3 Ebenda, S. 69. 4 Vgl. HENNECKE 2005, S. 20. 5 Röpke war als einer der nicht so zahlreichen bürgerlichen Nichtjuden vom Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums betroffen. 6 Vgl. dazu zum Beispiel RÖPKE 1944, S. 192ff.
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ungsmaterial bieten. Er propagiert diese Lebensformen auch als Remedium gegen die Übel der Moderne – Übel, die letztlich die unvermeidlichen Begleiterscheinungen großflächig ausgreifender Vergesellschaftungsformen und speziell entfesselter ubiquitärer Marktförmigkeit sind. Diese Übel manifestieren sich in Wurzellosigkeit, Proletarisierung, Vermassung, Geschwindigkeitswahn, aber auch in Unsicherheit, Krisenhaftigkeit, Arbeitslosigkeit. Wie Marx sieht er, daß kollektivistisch vermachtete Institutionen sich schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln. Vom kommunistischen und faschistischen Kollektivismus würden diese aber auf die Spitze getrieben. Diese Übel können nur durch jene kleinräumigen Refugien außerhalb des Marktes im Zaume gehalten werden, wie sie etwa die im Eigenheim und auf der eigenen Gartenparzelle sich entfaltende familiäre Haushaltsproduktion bietet. Diese Refugien sind nicht nur als kompensatorische Sicherheitsanker angesichts der Risken marktförmiger Vergesellschaftung, sondern auch wegen ihrer Affinität zu menschengerechten Lebensformen als jene sozialen Orte zu betrachten, wo Moral reproduziert wird. Denn das Marktsystem ist ein Moralzehrer. Marktförmige Konkurrenz kann die Grundlagen eines menschengerechten Lebens nicht allein bereitstellen – dazu gehören auch die Fundamente des Marktsystems selbst. Es ist vielmehr auf institutionelle und sittliche Einbettungen bzw. „Widerlager“ angewiesen, die weit über einen abstrakten Ordnungsrahmen hinausgehen. Eine fortdauernd segensreiche Wirkung entfaltet das Marktsystem dann und nur dann, wenn die vielfältig überschießenden Tendenzen der Konkurrenz durch „Widerlager“ im Sinne von Maß und Mitte (1950) gezähmt werden. In einigen populären und einflußreichen Büchern, wie vor allem in seiner Gesellschaftskrisis der Gegenwart (1942), welches Buch auch einem Denker wie Benedetto Croce Respekt abnötigte, ferner in Civitas Humana (1944) und Jenseits von Angebot und Nachfrage (1958), verdichtet Wilhelm Röpke dies alles in eingängigen Neologismen und rhetorischen Furiosa, die durch seinen pragmatischen Sinn für Probleme und Proportionen gleichwohl Bodenhaftung behalten. Als Vertreter der angewandten Ökonomik tritt er in den 1920er Jahren als Experte in Reparationsfragen in Erscheinung, während der Weltwirtschaftskrise vor allem aber als Angehöriger der Brauns-Kommission zur Krisenbekämpfung, wobei er „vergeblich versucht [hat], den unglücklich halsstarrigen Reichskanzler Brüning zu einer Expansion zu bewegen, die wahrscheinlich ihn und Deutschland gerettet hätte, nun aber von den Nazis im Vierspännergalopp durchgeführt worden ist“, wie er 1942 in einem Brief rückblickend schreibt.7 Diese konjunkturpolitische Position bezieht er, obwohl sein ökonomisches Weltbild wenig Platz für kreislauftheoretische Erwägungen bietet (er spricht abschätzig von „Kreislaufingenieuren“) und er im Prinzip an die reinigende Funktion von Wirtschaftskrisen und die Selbstheilungskräfte des Marktes glaubt. 7 RÖPKE 1976, S. 57.
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Röpke ist ein Ökonom, der zumal in jüngeren Jahren rasch und umsichtig neuere Theorieentwicklungen aufnimmt. Diese versteht er Zeit seines Lebens für die Formulierung eigener Positionen fruchtbar zu machen. Allerdings macht sich je länger je mehr – insbesondere im Hinblick auf konkrete institutionelle Gestaltungsfragen der sozialen Marktwirtschaft – doch bemerkbar, daß Röpkes ökonomisch-theoretisches Basismodell angesichts der behandelten ordnungspolitischen Grundlagenfragen relativ eng ist: es ist knappheitstheoretisch, partialanalytisch und statisch. Ökonomie wird als Lehre von den knappen Ressourcen mit alternativen, rivalisierenden Verwendungszwecken definiert. Knappheit wird als vorinstitutioneller Grundtatbestand aufgefaßt, der „das Wesen der Wirtschaft“ ausmacht. Die Lehre von der Wirtschaft (1937/1994), in der dies alles prägnant dargelegt wird, datiert fast gleichzeitig mit Robbins (1935). Dieses für die Entwicklung der modernen Neoklassik forschungsprogrammatisch bedeutsame Traktat rezipiert er – wie auch die konjunkturtheoretischen Werke Hayeks und Keynes’ – zeitnah nach seinem Erscheinen. In seiner ökonomischen Krisentheorie geht Röpke allerdings bezüglich einer wirtschaftspolitisch entscheidenden Frage über rein knappheitstheoretische reduzierte Modellierungen ökonomischer Zusammenhänge hinaus. Knappheitstheoretische Modellierungen bereiten stets die Szene für Knappheitspreise als ideale Medien der Koordination individueller Entscheidungen.8 In konjunkturtheoretischer Perspektive ist dies vor allem der Zinssatz als intertemporaler Knappheitspreis für Investitionskapital. Der knappheitspreistheoretische Blick auf den Zinssatz bedingt, daß für andere Koordinationsverfahren, also etwa die politisch initiierte Stützung der Koordination von Investitions- und Sparentscheidungen in wirtschaftlichen Depressionsphasen, angesichts der in knappheitstheoretischen Modellen typischerweise vorausgesetzten Substitutionselastizitäten kein Platz ist. Röpke (1932) geht in aller Vorsicht, welche in dem größer angelegten krisentheoretischen Werk (1936) angesichts von Keynes’ wachsendem Einfluß noch schärfer akzentuiert wird, über dieses Modell hinaus, indem er unterscheidet zwischen normalen Krisen („primäre Depression“), in welchen auf die reinigende Kraft der Krise vertraut werden kann und soll (um die im Boom aus dem Gleichgewicht geratenen knappheitstheoretisch korrekten Proportionen zu adjustieren), und Krisen von der Art der Weltwirtschaftskrise, in welcher eine „sekundäre Depression“ die Selbstheilungskräfte des Marktes versagen läßt und staatliche Konjunkturpolitik (politisch gesteuerte Kredit- und Investitionsexpansion als „Initialzündung“) zu befürworten9 ist.
8 Der Zusammenhang zwischen den Rationalitäts- und Knappheitsannahmen der Mikroökonomik und Knappheitspreisen tritt prägnant in Mises’ Apriorismus zutage (MISES 1940). 9 Für diese Auffassung wurde er als Mitglied der Brauns-Kommission von Hayek in einem Gegenartikel kritisiert, dessen Publikation Hayek allerdings Röpkes politischem Urteil darüber anheimstellte, ob von einer Fort-
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Resümiert man die von Röpke erörterten Ursachen der Krisen zweiten Typs, so beruhen sie letztlich auf der Möglichkeit von überschießenden Prozessen kumulativer Verursachung ohne Tendenz zum Gleichgewicht – also einem nicht knappheitstheoretisch reduzierbaren Zusammenhang. Auch in einem weiteren für die Tätigkeit des öffentlichen Sektors wichtigen Zusammenhang rezipiert Röpke Konzepte, die in neoklassischem Kontext über knappheitstheoretisch-partialanalytische Marktmodellierungen hinausführen. In seinem konzisen Lehrbuch Finanzwissenschaft (dessen Vorwort eine Reminiszenz an seine eher kurze Grazer Zeit zum Ausdruck bringt) behandelt Röpke in §11 – betitelt „Rechtfertigung der (öffentlichen) Finanzwirtschaft“ – die Nichtrivalitätseigenschaften öffentlicher Güter auf bemerkenswert luzide Weise und unter Heranziehung trefflichst ausgewählter Autoren (Gustav Cassel, Margit Cassel, Knut Wicksell, Hans Ritschl). Man beachte, daß es die Nichtrivalitätseigenschaften öffentlicher Güter sind, welche preisförmige Allokationsmechanismen ineffizient machen und damit die primäre Basis der Vorzugswürdigkeit nicht-preisförmiger Allokationsverfahren im öffentlichen Sektor sind. Röpkes Diskussionen zur wünschenswerten Reichweite des öffentlichen Sektors sind in der Folge oft von einer durchaus ansprechenden ökonomisch-theoretischen Tiefenschärfe. In dieses Rubrum fällt seine Unterscheidung verschiedener Typen von Interventionen (Erhaltungs- versus Anpassungsinterventionen),10 eine Unterscheidung, die sich im ordnungspolitischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland zum Kriterium der Marktkonformität verdichtete. Weniger stark ist die ökonomische Fundierung seiner sozialpolitischen Ideen, die in hohem Maß von seiner Auffassung des „der Natur des Menschen Angemessenen“ getragen ist. Auf den Punkt gebracht wird dies etwa in seiner Zurückweisung der Positionen des Beveridge-Reports.11 Im Zentrum steht dabei folgendes Axiom: Die dem Menschen angemessenen Kooperationsgemeinschaften für Produktion, Einkommens- und Risikoteilung sind relativ klein. Röpke gibt sich viel Mühe zu zeigen, daß entgegen dem Anschein ubiquitärer Größenvorteile diese Auffassung auch unter modernen Bedingungen haltbar ist. Gerade in seinen konjunkturtheoretischen Schriften und in dem zu wenig beachteten Lehrbuch der Finanzwissenschaft tritt Röpke als beachtliche wirtschaftstheoretische Begabung in Erscheinung. Folgerichtig gehört er in den späten 1920er Jahren zu den „Ricardianern“, einer ansonsten heterogenen Gruppe von Volkswirten im „Verein für dauer der Massenarbeitslosigkeit dermaßen große politische Gefahren ausgingen, daß politische Klugheitsgründe einen Markteingriff motivieren könnten (vgl. HENNECKE 2005, S. 83f.). 10 Hayek kritisierte diese Distinktionen, legte aber erst in der Verfassung der Freiheit (1960) mit der rule of lawKonformität einen eigenen Ansatz zur Abgrenzung vor, den er in seinem Spätwerk im Sinne einer restriktiveren Eingrenzung zulässiger Eingriffe korrigierte. Vgl. auch CALDWELL 2004, S. 312ff. 11 RÖPKE 1944, S. 251ff.
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Socialpolitik“, welche für eine stärkere Theoriefundierung eintraten, als dies innerhalb der Historischen Schule und in deren Nachfolge der Fall war. Sein ausgeprägtes Interesse und Sensorium für politische, institutionelle und kulturelle Bedingungen von Ökonomie ließen es jedoch nicht zu, daß Röpke ein reiner Theoretiker wurde. Zudem stand er der damals im Aufschwung befindlichen Mathematisierung der theoretischen Ökonomie skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sein profundes und ernsthaftes Interesse an den kulturellen und zivilisatorischen Bedingungen des Marktsystems verhinderte auch, daß Röpke Ansätze zu einem reduktionistischen Ökonomismus in der Sozialtheorie entwickelte. Ein solcher Ökonomismus entstand im Anschluß an Robbins (1935) in verschiedenen Unterströmungen der Neoklassik aus der Beobachtung heraus, daß Knappheit ein ubiquitäres, alle Lebensbereiche betreffendes Phänomen ist. Dies ist selbstverständlich auch Röpke klar, nur folgt daraus für ihn (im Gegensatz zu der Tendenz des sogenannten Ökonomischen Imperialismus) nicht, daß der Knappheit der theoriestrategische Primat für den gesamten Gegenstandsbereich der Sozialtheorie zukommt. Ganz im Gegenteil. Röpke praktiziert eine Doppelstrategie: (1) Ökonomische Zusammenhänge analysiert er (mit den genannten Ausnahmen im Bereich der Konjunkturtheorie und der öffentlichen Güter) im wesentlichen auf der Basis eines sehr einfachen knappheitstheoretisch-statischen Denkmodells. So entbehrt sogar seine ausführlich entfaltete Konzeption von Arbeitsteilung12 jener dynamischen beziehungsweise prozeßbezogenen Perspektive, die bei Adam Smith, Babbage, Marx, Young und Kaldor entwickelt wird. Dies ist insofern interessant, als für den Krisentheoretiker Röpke die (zu) weit ausgedehnte Arbeitsteilung letztlich einer der tieferen Gründe für die Krisenhaftigkeit moderner Gesellschaften ist. (2) Der pessimistische Individualist Röpke versteht den pathologischen Krisenfall einer „sekundären Depression“, aber nicht den Prozeß moderner Arbeitsteilung insgesamt als Dynamik kumulativer Verursachung, in der durch Arbeitsteilung endogen pathologische Formen von Arbeitsteilung, technischem Fortschritt und institutioneller Ausdifferenzierung hervorgebracht werden. Faszinierend ist die Art und Weise, in der Röpke13 ökonomische Krisenphänomene mit den tiefer gelagerten Spannungs- und Bruchzonen der Tektonik moderner Gesellschaften in Verbindung bringt. Die Ökonomie selbst bleibt insgesamt gleichwohl im wesentlichen eine Ökonomie der Knappheitspreise. Jene stützenden, rahmenden, ausgleichenden und sinngebenden Institutionen, derer die Marktwirtschaft bedarf, um ihre Vorzüge zu entfalten und ihre potentiellen Nachteile in Grenzen zu halten, befinden sich epistemologisch auf einer anderen Ebene: Für Röpke läßt sich ein relativ dichtes Ensemble solcher Institutionen 12 RÖPKE 1937, S. 38–78. 13 Zum Beispiel in RÖPKE 1942.
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aus der Natur des Menschen ableiten. Einfachheit und Differenziertheit treten so gleichermaßen in Erscheinung. Das Wesen der Wirtschaft läßt sich aus der vorinstitutionellen Grundtatsache der Knappheit äußerst sparsam charakterisieren, wohingegen „unser Sinn für das dem Menschen Angemessene“14 ein reich gegliedertes Ensemble von Normen, Institutionen, Hierarchien und Wertbeziehungen „jenseits von Angebot und Nachfrage“ als Ausgangspunkt für sozialtheoretische Betrachtungen zu erschließen vermag: Privateigentum, bestimmte Familienstrukturen und soziale Gliederungen, bäuerlich-handwerkliche Lebensformen. Die Schweizer Kleinstadt mit 3000 Einwohnern erscheint als Polis des 20. Jahrhunderts im Horizont des Kulturkritikers, gleichsam als dezentrales Gegenmodell zu dem „geistig-moralischen Reservenverzehr“15, einem Reservenverzehr, der sich manifestiert in „Überbewertung und Kultus der Jugend“, „Dekadenz der positivistischen Wissenschaft“, „Unnatürlichkeit“, „Vermassung“,16 Machtballungen, Proletarisierung, Überdehnung der Arbeitsteilung und Übervölkerung. Nicht nur in Anbetracht seiner Sympathie für „das Paradigma der Schweiz“, welche er als regulative Idee für eine die Spannungen der Moderne versöhnende Lebensform ins Spiel bringt,17 ist es nicht angebracht, Röpkes Lehre pauschal als „Gartenzwergkapitalismus“18 zu ironisieren. Mag auch manches an ihr forciert sein, so buchstabiert er doch die intermediären Strukturen seines Gesellschaftsmodells auf eine Weise aus, die den sozialtheoretischen Boden für eine gehaltvolle Auseinandersetzung damit bereitet. Beispielsweise fällt die Deutlichkeit auf, mit der die gedankliche Verankerung von Röpkes Privateigentumskonzept im einfachen Haus- und Grundeigentum hervortritt. Probleme der Eigentums- und Entscheidungsrechte in Bezug auf Produktivkapital, das auf wissenschaftsgestützter Technik beruht und firmenförmige Kooperationsbeziehungen benötigt, werden nur sehr partiell wahrgenommen und analysiert (ein Defizit, das Röpke mit vielen Neoliberalen teilt). Ähnliches gilt für Märkte mit asymmetrischer Information und unvollständigen Kontrakten. Dies betrifft Fragen der Arbeitsbeziehungen und der Versicherungsmärkte (woraus eine inadäquate Einschätzung von politischen Arrangements der sozialen Sicherung folgt19) ebenso wie Fragen intellektueller Eigentumsrechte. Aus seinem antimonopolistischen Instinkt und wohl auch aus seinem Verständnis von 14 15 16 17 18 19
Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 18. ORTEGA Y GASSETs Aufstand der Massen (1933/1947) beeindruckte Röpke stark. RÖPKE 1942, S. 60. Vgl. PEUKERT 2000, S. 3. Vgl. zum Beispiel RÖPKE 1944, S. 257ff. Wie immer man auch die Fragen der Realisierbarkeit in der ganz langen Frist beurteilen mag – mittelfristig ist nicht die kleinagrarische Eigenproduktion, sondern die Veranlagung in Finanzaktiva jenes alternative Sicherungs-Arrangement, vor dessen Hintergrund die Fehler und Vorzüge kollektiver Sicherungsarrangements zu prüfen sind. Zu welchem Schluß Röpke bei so einem Vergleich kommen würde, muß offen bleiben.
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öffentlichen Gütern heraus entwickelt er zwar eine deutliche Skepsis gegenüber dem Patentwesen als potentieller Grundlage eines Industriefeudalismus, eine Position, die derzeit unter Ökonomen wieder – im Lichte der Analyse der Fehlentwicklungen eines vor allem in den U.S.A. jahrzehntelang einseitig forcierten Patentrechts – an Zustimmung gewinnt. Allerdings ist Röpke weit entfernt davon, systematisch Anhaltspunkte für einen ordnungspolitischen Rahmen für das zu entwickeln, was heute als Wissensökonomie bezeichnet wird. Röpke vertritt insofern einen pessimistischen Individualismus, als er das destruktive Potential des Egoismus und der individualistischen Konkurrenz reflektiert – womit er sich von Hayek und mehr noch von jenen Wirtschaftsliberalen (etwa im Umfeld der jüngeren Chicago-Schule) abhebt, die sich letztlich doch an dem Bild einer spannungsfreien Moderne orientieren. Als konservativ-liberaler Denker gegen den Strom einer rationalistischen Moderne ist Röpke konsequenter als Hayek, dem die Abgrenzung von intelligenteren Versionen des Utilitarismus mitunter schwer fällt. Röpke teilt Isaiah Berlins ideengeschichtliche Vorliebe für Denker „gegen den Strom“ wie auch deren axiologische Fundierung, welche auf einem mehrdimensionalen Wertekosmos beruht. Hayeks evolutionstheoretischer Hintergrund im Hinblick auf ordnungspolitisch relevante Institutionen fehlt bei Röpke weitgehend. Jedoch arbeitet er die aus dieser Auffassung resultierende Position eines „wahren“, um seine historisch-evolutorische Bedingtheit wissenden Individualismus deutlicher und konsequenter aus, indem er die Bedeutung eines Geflechts von Institutionen der Meso-Ebene nicht nur betont, sondern auch konkretisiert. Röpkes Anti-Konstruktivismus und Anti-Kollektivismus machen ihn zu einem Denker der reflektiven Moderne avant le lettre, dessen Prosa gleichwohl durch einen kulturkritischen Grundton bestimmt ist. Gerade in seinen späteren Jahren radikalisiert sich Röpkes Konservatismus und AntiKonstruktivismus. Bezüglich der Entwicklungen in den U.S.A. verwandelt sich, zumindest seit Beginn der 1960er Jahre, seine kritisch-interessierte Distanz in eine ausgesprochen skeptische Haltung gegenüber der amerikanischen Version von aufklärererischem Rationalismus. In Fragen der Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gerät er in Meinungsverschiedenheiten mit Protagonisten Europas wie Konrad Adenauer, dessen Politik der Westintegration er vorbehaltlos unterstützt hatte. Obwohl polit-ökonomische Machtkritik dabei immer ein starkes Motiv bleibt, erinnert man sich bei der einen oder anderen furios anti-konstruktivistischen Passage des späten Röpke an Autoren wie de Maistre,20 der in einer virtuosen anti-konstruktivistischen Polemik das Scheitern des Planes vorhersagte, Washington als künstliche Hauptstadt der U.S.A. zu errichten. Gerade Röpkes21 frühere kritische Würdigung von de Maistre und anderen bleibt 20 MAISTRE 1796/1991, S. 69f. 21 RÖPKE 1942, S. 65ff.
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aber ein Meisterstück reflektiv-aufgeklärten Hausverstands, welches an Substanz das in gewisser Weise analoge Postskript Hayeks22 wohl übertrifft. Jedenfalls ist Röpke ein Denker, den gerade jene Ökonomen wie Nicht-Ökonomen mit Gewinn und – aufgrund seiner sprachlich-stilistischen Vorzüge – mit Genuß lesen können, denen manche aktuellen Vertreter des Wirtschaftsliberalismus ideologisch und platitüdenhaft erscheinen.
Literaturverzeichnis CALDWELL, Bruce: Hayek’s Challenge, Chicago-London: University of Chicago Press 2004. HAYEK, Friedrich August: The Constitution of Liberty, London: Routledge 1960. HENNECKE, Hans Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag 2005. MAISTRE, Joseph de: Considérations sur la France (1796). Dt. Übers. von Friedrich von OPPELN-BRONIKOWSKI als: Betrachtungen über Frankreich, Wien-Leipzig: Karolinger 1991. MISES, Ludwig: Nationalökonomie: Theorie des Handelns und des Wirtschaftens, Genf: Editions Union 1940. ORTEGA Y GASSET, José: Der Aufstand der Massen, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1933/1947. PEUKERT, Helge: In memoriam Wilhelm Röpke: Zum 100. Geburtstag des streitbaren Ordoliberalen, Graz 2000 (= Research Memorandum No. 2002 des Instituts für Volkswirtschaftslehre, Karl-FranzensUniversität Graz). ROBBINS, Lionel: On the Nature and Significance of Economic Science, 2., veränderte Auflage, London: Macmillan 1935.
Auswahlbibliographie RÖPKE, Wilhelm: Finanzwissenschaft, Berlin-Wien: Industrieverlag Spaeth & Linde 1929. RÖPKE, Wilhelm: Krise und Konjunktur, Leipzig: Verlag von Quelle & Meyer 1932. RÖPKE, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, Wien: Verlag von Julius Springer 1937. RÖPKE, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, 13. Aufl., Bern-Stuttgart-Wien: Verlag Paul Haupt 1994 (= UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher 1736) (1. Aufl. 1937). RÖPKE, Wilhelm: Crises and Cycles, London: W. Hodge & Co 1936. RÖPKE, Wilhelm: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 5. (durchgesehene) Aufl., Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag 1948 (1. Aufl. 1942). RÖPKE, Wilhelm: Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Bern-Stuttgart: Verlag Paul Haupt 1944. RÖPKE, Wilhelm: Maß und Mitte, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag 1950. RÖPKE, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch Verlag 1958. RÖPKE, Eva (Hg.): Briefe 1934 –1966, Zürich: Eugen Rentsch Verlag 1976.
22 HAYEK 1960, S. 397ff.:
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Peter Swoboda † Karl Lechner (1927–1982)*
Am 30. Oktober 1982, wenige Tage vor Vollendung des 55. Lebensjahres, starb Karl Lechner. Mit bewundernswerter Geduld hat er eine lange schmerzhafte Krankheit ertragen und bis zuletzt, vom Krankenbett aus, nicht nur sein Institut geleitet, sondern sich für wissenschaftliche und organisatorische Probleme in voller geistiger Klarheit und mit der ihn charakterisierenden Entschlossenheit engagiert. Hätte man um seine außergewöhnliche Ausstrahlung auf Kollegen, Schüler und das wirtschaftliche Leben in Österreich nicht schon zuvor gewußt, sie wäre beim Begräbnis offenkundig geworden: Mehr als 1000 Personen nahmen am Bergfriedhof in Gloggnitz von ihm Abschied. Karl Lechner wurde am 3. November 1927 in Aue bei Schottwien geboren. Bedingt durch die schwierigen Verhältnisse in der Kriegszeit – Lechner diente als aktiver Soldat noch im letzten Kriegsjahr und konnte sich mit Glück der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entziehen –, konnte er erst 1946 mit dem Besuch der Handelsakademie beginnen. Nach der 1950 abgelegten Reifeprüfung nahm er das Studium der Handelswissenschaften an der Hochschule für Welthandel auf, an der er 1953 den akademischen Grad eines Diplomkaufmanns und 1954 das Doktorat der Handelswissenschaften erwarb. Während der Studienzeit war er teils als Assistent in einer Wirtschaftsprüferkanzlei, teils als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Hochschule für Welthandel tätig. Am 1. Jänner 1955 trat er als Assistent von Prof. Illetschko in den Hochschuldienst ein. Einer mehr personell bedingten als der fachlichen Notwendigkeit entspringenden Besonderheit war es zu verdanken, daß Illetschko so unterschiedliche Fächer wie die Transportbetriebswirtschaftslehre und das Treuhand- und Rechnungswesen betreute. Diese zweifache Ausrichtung des Instituts, an dem er groß wurde, determinierte auch das wissenschaftliche Werk von Karl Lechner. Bis in die siebziger Jahre hielten sich transportwirtschaftliche Arbeiten mit Publikationen aus dem Treuhand- und Rechnungswesen die Waage. 1960 habilitierte sich Karl Lechner für das Fach Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit der Arbeit Betriebswirtschaftslehre und Verkehrswissenschaft (Versuch einer Abgrenzung). Spätestens seit der Arbeit an der Habilitationsschrift rührt sein Interesse an methodologischen Problemen des Faches, die ihn bis zuletzt nicht losgelassen haben. * Dieser Artikel über die für die Institutionalisierung der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien an der Grazer Karl-Franzens-Universität maßgebliche Persönlichkeit erschien als Nachruf im Almanach für das Jahr 1983 (133. Jahrgang) der ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, Wien 1984, S. 373–379. (Der Herausgeber)
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Dies zeigt sich unter anderem darin, daß er in das von ihm konzipierte und herausgegebene umfassende Sammelwerk Treuhandwesen nicht weniger als vier Beiträge aufgenommen hat, die der wissenschaftstheoretischen Grundlagendiskussion zuzurechnen sind. Und immer wieder endeten Diskussionen mit Karl Lechner bei Problemen der Methodologie. Im Sommer 1962 wurde Karl Lechner mit der Vertretung des eben neugeschaffenen Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz betraut und noch im selben Jahr als Extraordinarius berufen. 1964 wurde er zum Ordinarius ernannt. Mit außergewöhnlichem Arbeitseinsatz widmete er sich der Einführung der betriebs- und volkswirtschaftlichen Studienrichtungen an seiner Fakultät und der Gewinnung bzw. Besetzung der dazu notwendigen Lehrstühle. In wenigen Jahren wurde die Anzahl der betriebswirtschaftlichen Ordinariate auf fünf erhöht. Aber auch die ausgezeichnete Besetzung der übrigen Lehrstühle, vor allem die der Volkswirtschaftslehre, ist letztlich Karl Lechner zu verdanken: Als nach dem Tode von Dobretsberger eine Grundsatzentscheidung notwendig wurde, welche Ausrichtung den wieder zu besetzenden volkswirtschaftlichen Lehrstühlen zu geben wäre, folgte die Mehrheit der Fakultätsmitglieder aus dem Bereich der Rechtswissenschaften nicht dem Votum des einzigen noch verbliebenen Volkswirts, sondern der Auffassung der Betriebswirte unter der Führung von Karl Lechner. So sehr ist es ihm gelungen, in wenigen Jahren das Vertrauen der juristischen Fakultätskollegen zu gewinnen. Dies zeigt sich auch darin, daß er 1966/67 zum Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und bereits 1969/70 – in einer zudem relativ turbulenten Zeit – zum Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz gewählt wurde. Er blieb der Universität Graz stets verbunden. Berufungen an die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien (1967) sowie an die Hochschule für Welthandel in Wien (1968) lehnte er ab, obwohl viele Aspekte für die Annahme sprachen. Zu sehr fühlte er sich verantwortlich für den Aufbau der wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtungen in Graz. Der Studienreform diente Lechner aber nicht nur durch die Einführung der neu konzipierten wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge in Graz. Durch seine Mitgliedschaft im Rat für Hochschulfragen in den Jahren 1965–1968 trug er wesentlich zur Neugestaltung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Studien in Österreich bei. 1970 wurde er zum korrespondierenden und 1973 – als zweiter Betriebswirt überhaupt – zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Die Akademie der Wissenschaften hat mit Sicherheit die richtige Entscheidung getroffen. Übereinstimmend wird die Güte seiner fachlichen Beiträge, seines Rates in betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten und sein gewichtiger Arbeitseinsatz für die Akademie betont. Dies resultierte auch in der Verleihung der Medaille bene merito der Österrei-
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chischen Akademie der Wissenschaften. Auch sonst erfuhr Karl Lechner zahlreiche Ehrungen. 1971 wurde ihm das Ehrenzeichen in Gold am Bande des Verbandes der Österreichischen Wirtschaftsakademiker verliehen – durch Jahre hindurch widmete sich Lechner dem weiteren Aufbau dieser Absolventenvereinigung der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge. 1972 verlieh ihm seine Heimatstadt Gloggnitz den goldenen Ehrenring. 1981 schließlich erhielt er das Österreichische Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft I. Klasse. Es wurde schon oben festgestellt, daß sich Karl Lechner – bedingt durch historische „Zufälligkeiten“ in der Entwicklung der Lehrstuhlbesetzungen an der Hochschule für Welthandel – gleichrangig mit Problemen der Transportwirtschaft sowie des Treuhandund Rechnungswesens beschäftigte. Der Betriebswirtschaftslehre des Transports ist die Habilitationsschrift (Betriebswirtschaftslehre und Verkehrswissenschaft), das Lehrbuch Verkehrsbetriebslehre (1963), und ein erheblicher Teil seiner 92 Aufsätze zuzuordnen. Durch lange Zeit war er der einzige Betriebswirt Österreichs, der sich mit verkehrswissenschaftlichen Fragen beschäftigte. Eine Reihe von Gutachten über transportwirtschaftliche Fragen, eine langjährige Tätigkeit als Schriftleiter der Mitteilungen der Österreichischen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft und die Wahl zum Vizepräsidenten (1969) und Präsidenten (1971) dieser Gesellschaft waren eine Folge der intensiven Beschäftigung mit transportbetrieblichen Problemen. Im letzten Lebensjahrzehnt traten Probleme des Treuhand- und Rechnungswesens jedoch immer mehr in den Vordergrund. Es ist ein besonderes Verdienst von Karl Lechner, den Sammelband Treuhandwesen initiiert, konzipiert und unter Mitarbeit bestausgewiesener Fachvertreter aus Theorie und Praxis realisiert zu haben (1978). Das Buch ist eine noch immer nicht übertroffene, hervorragende Zusammenfassung des gegenwärtigen Wissens zum Treuhandwesen mit besonderer Betonung der für Österreich relevanten Aspekte. Im Rahmen des Treuhand- und Rechnungswesens hat sich Karl Lechner zwei Fragenkreisen mit besonderer Intensität gewidmet: der Bilanzbewertung bzw. Gewinnermittlung einerseits und der Unternehmensbewertung andererseits. Hinsichtlich der Bilanzbewertung bzw. Gewinnermittlung stand er zunächst stark in der Tradition der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre, die die Unternehmung und nicht so sehr die Interessen der hinter der Unternehmung stehenden Kapitaleigner, Arbeitnehmer usw. in den Vordergrund rückt. Daraus ist auch seine Abneigung gegen starre Bewertungsvorschriften und seine Hinwendung zur dynamischen Bilanzauffassung Schmalenbachs (die seiner Meinung nach von vielen mißinterpretiert wurde) zu verstehen; starre Bewertungsvorschriften würden jenen rechnerischen Ergebnisausgleich über mehrere Perioden hinweg verhindern, der für den Weiterbestand von Unternehmungen von ausschlaggebender Bedeutung sein kann (vgl. dazu insbesondere: „Neuere bilanztheoretische Analysen“, in: Die Betriebswirtschaft 1979, S. 155ff., bes. S. 161). Auch
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seine mehrfachen Äußerungen zur Scheingewinnproblematik sind auf diesen Standpunkt zurückzuführen. In den letzten Arbeiten hat Lechner sein Interesse allerdings auch den „Koalitionsteilnehmern“ zugewendet, ohne daß ihn dies zu einer Revision seiner wesentlichen Schlußfolgerungen veranlaßt hätte. Eine der hervorragendsten Arbeiten Lechners ist der Beitrag: „Die Unternehmenswertermittlung für Zwecke der Bestimmung von Auseinandersetzunsguthaben (Abschichtungsguthaben, Abfindungsguthaben)“, in: Unternehmensbewertung – Betriebswirtschaftliche und juristische Beiträge, Wien 1981. Aufbauend auf einer selbst durchgeführten empirischen Untersuchung über die von Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern angewandten Verfahren der Unternehmensbewertung wird in profunder Weise den Ursachen für die Divergenz zwischen der ziemlich einheitlichen Auffassung der Theorie, daß der Ertragswert der „richtige“ Unternehmungswert sei, und den äußerst verschiedenen in der Praxis angewandten Verfahren nachgespürt. Daran schließt sich eine sehr facettenreiche Analyse diffiziler Probleme der Ermittlung von Ertragswerten, Zeitwerten (in verschiedenster Ausprägung) und Zerschlagungswerten. Es ist bezeichnend für eine so integrierende Persönlichkeit wie diejenige Karl Lechners, daß es ihm nicht genügte, in Teildisziplinen wie dem Transport- bzw. Treuhandund Rechnungswesen fundierte Beiträge zu liefern, sondern daß er stets das gesamte Fachgebiet im Blickwinkel hatte. Beredtes Zeugnis dafür sind sein bereits hervorgehobenes Interesse für methodologische Probleme – insbesondere auch Abgrenzungsfragen zu Nachbardisziplinen – und vor allem seine Betriebswirtschaftslehre, für viele tausende Studenten und Praktiker der erste Zugang zum Fach. Bis zur 6. Auflage wurde sie von Karl Lechner allein verfaßt, für die 7. und letzte Auflage hat er zwei Kollegen als Mitautoren gewonnen. Wenige Tage vor seinem Tod erreichte ihn das Angebot eines deutschen Verlages, das Buch auch in der BRD – unter entsprechender Änderung der rechtlichen „Rahmenbedingungen“ – herauszugeben, ein Angebot, über das er sich noch außerordentlich gefreut hat. – Auf einem der allgemeinen Betriebswirtschaftslehre zumeist zugerechneten Gebiet, der Unternehmensfinanzierung, wurde der Argumentationskraft von Karl Lechner ein auch „äußerer“ Erfolg – in Form eines Urteils des Verfassungsgerichtshofes – zuteil: Aufgrund einer überaus klaren Charakterisierung der Kapitalstrukturproblematik der Unternehmungen hat er die Kapitalverkehrssteuerpflicht von Gesellschafterdarlehen in Österreich zu Fall gebracht (vgl.: „Die Bestimmbarkeit des Begriffes der ,gebotenen Kapitalzuführung‘ […]“, in: Österreichische Steuer-Zeitung 1969, S. 158ff.). Vehement nahm er auch zum Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 1979 Stellung, betreffend die Qualifizierung von Fremdkapitalzinsen als verdeckte Gewinnausschüttung. Sein engagiertes Votum dürfte viel dazu beigetragen haben, Fehldeutungen wirtschaftlicher Sachverhalte seitens des Fiskus zu beseitigen.
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Karl Lechner war aber nicht nur ein vielseitig begabter Forscher, er war vor allem auch ein begnadeter Lehrer. Seine pädagogische Begabung, seine ansteckende Begeisterung für die Fachprobleme brachten ihm volle Hörsäle und eine kaum zu bewältigende Flut von Einladungen zu außeruniversitären Vorträgen. An der Weiterbildung der Wirtschaftstreuhänder (vor allem in Kursen in Hintermoos, aber auch an der alljährlichen Betriebswirtschaftlichen Woche) nahm er regen Anteil. Universitäre Ausbildung war für ihn aber nicht nur reine Wissensvermittlung, er kümmerte sich wie kein anderer um die persönlichen Probleme von Studenten und Kollegen. Abertausende die Zahl derer, denen er in großen und kleinen Problemen half. Sein phänomenales Namens- und Personengedächtnis kam ihm dabei sehr zu Hilfe. Jugendeindrücke aus dem unmenschlichen Dogmatismus des Dritten Reiches nie verdrängend, war er ein beharrlicher Warner vor jeglicher Form von Extremismus. Damit rundet sich das Bild von Karl Lechner, wie es uns in Erinnerung bleiben wird: Er hat stets Zeit gehabt für andere; er hat sich stets vehement für das als richtig Anerkannte eingesetzt, ohne deshalb andere Auffassungen gering zu achten; er hat sich nie zeit- und energieraubenden akademischen Funktionen entzogen und diese unter größtem Einsatz ausgefüllt; er hat die Lehrtätigkeit sehr ernst genommen und eine Vielzahl von Studenten nicht nur begeistert, sondern auch für das Fach langfristig motiviert – und er hat dennoch in einem kurzen Leben ein nachhaltig wirkendes wissenschaftliches Werk vollbracht.
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Adolf Stepan Peter Swoboda (1937–2006)
Geboren wurde Peter Swoboda am 13. April 1937 in Bad Deutsch-Altenburg an der Donau (Niederösterreich) als ältestes von fünf Kindern. Die Mutter war Mittelschulprofessorin und der Vater Landarzt. Swoboda war zweimal verheiratet; aus der ersten Ehe gingen drei Kinder hervor, aus der zweiten ein Kind. Am 2. Mai 2006 verstarb Peter Swoboda in Graz an einem akuten Nierenversagen nach einer Transplantation. Nach dem Besuch des Gymnasiums und nach der Matura in Wien studierte Peter Swoboda an der Hochschule für Welthandel, der heutigen Wirtschaftsuniversität, in Wien und legte 1958 mit nur 21 Jahren die Prüfung zum Diplomkaufmann ab. Bereits 1959 erfolgte die Promotion zum Doktor der Handelswissenschaften mit der Arbeit Die Elastizität der Finanzplanung und die Aufnahme der Tätigkeit als Hochschulassistent bei Leopold Illetschko am Lehrstuhl für Transportwirtschaft an der Hochschule für Welthandel. Dort erfolgte auch 1964 die Habilitation mit der Arbeit Die betriebliche Anpassung als Problem des Rechnungswesens und die Erteilung der venia legendi für das Fach Betriebswirtschaftslehre. Die steile akademische Karriere Swobodas ist durch folgende Stationen gekennzeichnet: 1959 – 1964 Hochschulassistent an der Hochschule für Welthandel (Lehrstuhl für Transportwirtschaft, L. L. Illetschko), 1964 – 1965 Professur (Lehrstuhlvertretung) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, 1965– 1966 Visiting Associate Professor an der University of Illinois at Champain/ Urbana, 1966– 1970 Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, insbesonders betriebswirtschaftliche Steuerlehre, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, 1970– 1997 Ruf an die Technische Universität Graz und Annahme eines Rufes als ordentlicher Universitätsprofessor an die Universität Graz für Industriebetriebslehre, 1975 Gründungsdekan der Sozial- und wirtschaftswissenschaften Fakultät der Universität Graz, 1980– 1981 Präsident der European Finance Association, 1981 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Peter Swoboda (1937–2006) S 553
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Peter Swoboda Quelle: Archiv Karl Acham
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wirkliches Mitglied ebd., 1993 Austritt aus der ÖAW auf eigenen Wunsch, Antrag auf Pensionierung auf eigenen Wunsch, dem auch stattgegeben wurde.
Als Wissenschaftler war Peter Swoboda mit Buchpublikationen bereits sehr früh äußerst erfolgreich. Zu nennen sind hier: Kostenrechnung und Preispolitik, 1. Auflage 1962, 22. Auflage, Wien: Linde Verlag 2004; Betriebswirtschaftslehre für Ingenieure, Wien-Heidelberg-New York: Springer 1965 (mit L. L. Illetschko); Die betriebliche Anpassung als Problem des betrieblichen Rechnungswesens, Wiesbaden: Gabler 1965; Investition und Finanzierung, 1. Auflage 1971, 5. Auflage, Stuttgart: UTB Taschenbücher 1996; Finanzierungstheorie 1973, nunmehr Betriebliche Finanzierung, 3. Auflage, Heidelberg: Physica Verlag 1994. Peter Swoboda war Mitherausgeber des Journal of Banking and Finance und des Journal für Betriebswirtschaft, herausgegeben von seiner Alma Mater, der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine in verschiedenen Journalen veröffentlichten Rezensionen sind zahlreich und bedeutend. Sie umfassen Kostenrechnung, betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Produktionswirtschaft, Investitionstheorie, Finanzierungs- und Kapitalmarkttheorie sowie Preisbildung und Preispolitik. Darüber hinaus hat Swoboda zahlreiche Buchbeiträge, Beiträge für Handwörterbücher und immer wieder Studien und Gutachten verfaßt, die richtungsweisend für Industrie und Wirtschaftspolitik waren. Besonders hervorgehoben sei die für die damalige Zeit ungewöhnliche Studie über „Verschuldungsgrad und Verschuldungsstruktur der Österreichischen Industrie“, die mit Mitteln des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank durchgeführt wurde (Abschlußbericht 1976). Die Untersuchung, die unter dem Eindruck der Hypothese von der Irrelevanz der Kapitalstruktur geplant worden war, hat bedeutende Einsichten über die Irrelevanz von konservativen Finanzierungsregeln – die damals noch einen breiten Raum in der Lehre einnahmen – auf die Kreditvergabe zutage gefördert und interessante Wechselwirkungen zwischen Verschuldungsgrad und Struktur der Fremdfinanzierung aufgezeigt. Diese Studie war gewissermaßen der Startschuß für die Hinwendung des ganzen Instituts für Industrielle Betriebswirtschaft zur Finanzierungs- und Kapitalmarkttheorie. Sie stellte den zweiten zentralen Bereich von Swobodas wissenschaftlicher Tätigkeit dar, den ersten bildete die Produktion, und damit die Investition. Das Buch Investition und Finanzierung, das beide Hauptforschungsbereiche Swobodas umfaßt, repräsentiert wie keine andere seiner Arbeiten sein wissenschaftliches Credo. Mit diesem Werk ist er in Graz als Forscher angetreten, und in ihm hat Swobodas theoretisches Denken ein für ihn charakteristisches empirisches Relief erhalten.
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Als wissenschaftliche Hilfskraft und später als Hochschulassistent bei Illetschko am Lehrstuhl für Revisions- und Treuhandwesen war Swoboda zunächst mit der traditionellen Betriebswirtschaftslehre der Vorkriegszeit befaßt, die vom Rechnungswesen als Dokumentations- und Berichtsinstrument dominiert wurde. Plankostenrechnungen, Sollkostenverläufe und Kostenkontrollen waren in der Nachkriegsproduktion essentielle Steuerungsinstrumente einer stark wachsenden Aufbauwirtschaft, auf deren ungesättigten Märkten Anbieter Güter an Konsumenten zunächst quasi wie an Bittsteller verteilen konnten und Wettbewerb auf gesättigten Märkten noch nicht das beherrschende Thema war. Die junge wissenschaftliche Hilfskraft hatte sich jedoch bereits mit diesem Thema befaßt. Wichtige marktwirtschaftliche Impulse, das Rechnungswesen als entscheidungsorientierte Disziplin auszubauen, haben sich in einem Auftragswerk für die Steuer- und Wirtschaftskartei (Linde Verlag) niedergeschlagen. Jede Woche mußten drei Seiten zum Thema Entscheidungsorientierte Kostenrechnung abgeliefert werden, und später erschien diese Fortsetzung als kleiner, sehr konziser Band 14 der Schriftenreihe der Steuer- und Wirtschaftskartei, den Swoboda bis zur 20. Auflage im Jahr 1997 noch selbst betreute. In diesem komprimierten Werk hat er vor allem die Möglichkeiten der Dekkungsbeitragsrechnung und Engpaßbewertung, und damit der Opportunitätskosten, für die Preispolitik aufgezeigt, was damals keine Selbstverständlichkeit in der auf Vollkostenrechnung geprägten industriellen Preisbildungspraxis war. Peter Swoboda hat die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften im Nachkriegsösterreich miterlebt und entscheidend mitgestaltet. Er war einer der Ersten, die sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv um das Schließen jener Lücke im eigenen Forschungsbereich bemühten, welche die Emigration so vieler österreichischer Wirtschaftswissenschaftler gerissen hatte und die wegen der verschiedentlich nicht vorhandenen Bereitschaft, den Emigranten wieder eine Heimat in Österreich zu bieten, länger spürbar war als mitunter notwendig. Er war auch einer der ersten Betriebswirte im deutschsprachigen Raum, die aktiv und konsequent die Kooperation mit ausländischen Universitäten, vor allem in Nordamerika suchten. Seine Aufenthalte an der University of British Columbia in Vancouver/Kanada und die dort erlebte Forschungsdynamik haben Swoboda geprägt, und es war nur natürlich, daß er als Konsequenz daraus seinen Lehrstuhl in Graz, und damit auch seine Assistenten, schon früh mit der internationalen Forschungsgemeinschaft vernetzt hat. Typisch für das Wirken Peter Swobodas war, daß er von quantitativen Methoden fasziniert war. Insbesondere die Lineare Programmierung und später die Dynamische Programmierung bis hin zur Kontrolltheorie nahmen ihn gefangen. Den erstmaligen Ausdruck fand diese Orientierung wohl in dem gemeinsam mit Leopold Illetschko verfaßten Buch Betriebswirtschaftslehre für Ingenieure, in das der junge Hochschuldozent Lineare Programmierung, entscheidungsorientierte Kostenrechnung und dynamische
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Investitionsrechnung einbrachte. Im Hinblick auf diesen essentiellen Beitrag meinte Illetschko im Vorwort: „Diese Mitautorenschaft, die im Titel nicht zum Ausdruck kommt, muß hier besonders hervorgehoben werden.“ Mag sein, daß diese Versetzung der Mitautorenschaft in das Vorwort seinen Stil Mitarbeitern gegenüber geprägt hat – Swoboda selbst praktizierte stets die großzügige Anerkennung einer Mitautorenschaft und die strikte Reihung der Autoren nach dem Alphabet. Nach seiner Gastprofessur an der University of Illinois at Champain/Urbana hat Swoboda sich nicht nur verstärkt den quantitativen Methoden zugewandt, sondern während und nach Forschungsaufenthalten in den USA und vor allem an der University of British Columbia auch der modernen Finanzierungs- und der Kapitalmarkttheorie. In diese sehr fruchtbare Zeit fällt die Gründung der EFA (European Finance Association) im Jahr 1974, deren Grazer Kongreß 1980, den Peter Swoboda organisierte, und schließlich seine Präsidentschaft – die erste eines Österreichers – für die Periode 1980/81. Auch die meisten seiner Bücher und der größte Teil seiner wissenschaftlichen Publikationen sind dieser Zeit zuzuordnen. Früh erkannte Swoboda, daß auf Europa und auch auf Österreich etwas zukam, was wir heute je nach Stimmung und Lage Liberalisierung der Wirtschaft oder Turbokapitalismus nennen. Ausfluß der Liberalisierung der Wirtschaft war und ist nicht nur die Privatisierung der verstaatlichten Industrie Österreichs, sondern auch ein Wandel in der Regulierung von Märkten. Hier hat Swoboda in besonderer Weise dadurch mitgewirkt, daß er die Preisregulierung der Energiewirtschaft mit seinen Gutachten zuerst für die Paritätische Preisunterkommission, sodann für die Regulierungsbehörde und für die EWirtschaft maßgeblich beeinflußte. Bis zuletzt war er auf dem Gebiet der Regulierung in der E-Wirtschaft der führende Gutachter. Swoboda erneuerte die traditionelle Betriebswirtschaftslehre, indem er die quantitativen Methoden in Lehre und Forschung forcierte, die Grenzen zwischen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre in Frage stellte und – ausgehend von einer intensiven Beschäftigung mit Investitionskalkülen – wie selbstverständlich die moderne Kapitalmarkttheorie in Lehre und Forschung höchst erfolgreich einführte und verbreitete. Modellierungen mittels linearer Programmierung, dynamischer Programmierung und Kontrolltheorie waren in den frühen 70er Jahren keine Selbstverständlichkeit, genauso wenig wie Kapitalmarkttheorie, Risiko- und Portefeuilleanalysen. Swoboda war einer der ersten in Europa, die Entscheidungen einzelner Unternehmungen, wie zum Beispiel das Timing von Investitionen oder die Entscheidung über die Kapitalstruktur, im Rahmen von allgemeinen Gleichgewichtsmodellen untersuchten. Sehr früh hat er auch das Potential der modernen Regulierungstheorie erkannt und sich intensiv in praktischen Studien, vor allem für die E-Wirtschaft, damit auseinandergesetzt. Nicht der Theorie allein, sondern immer auch der Wechselwirkung von Theorie und Praxis galt seine Aufmerksamkeit, und
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dies machte ihn zum gesuchten Gutachter und Schiedsrichter in heiklen Fällen der Wirtschaftspraxis. Trotz der meist theoretischen Fragestellungen und der Verwendung quantitativer Methoden hat Peter Swoboda bei vielen seiner Studierenden und wohl bei allen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Begeisterung und Enthusiasmus für die Lehr- und Forschungsinhalte und für die verwendeten Analysemethoden hervorgerufen. In einem aufklärerischen Geist hat er in seinen Arbeiten nicht nur logisch konsistente Analysen dargestellt, sondern auch in Vorlesungen und Seminaren oft vor den staunenden Studentinnen und Studenten ad hoc erarbeitet. Es verwundert nicht, daß die Persönlichkeit Swobodas eine starke Anziehung auf ambitionierte Studenten und junge Wissenschaftler ausübte. Swoboda war nie der distanzierte Lehrer oder Chef, sondern immer der interessierte, für andere Meinungen offene Wissenschaftler, dem akademische Rangordnungen wenig und gute Argumente alles bedeuteten. Viel zu seiner Beliebtheit bei Studierenden und Mitarbeitern haben auch die egalitär geführten Dissertantenseminare beigetragen, die Swoboda im ländlichen Raum organisierte. Diese Eigenschaften und Gepflogenheiten waren der Nährboden für die wissenschaftliche Entwicklung seiner Mitarbeiter; insgesamt neun davon wurden habilitiert. Sie alle haben von seinem Vorbild profitiert, seinem methodisch und logisch sauberen Forschungsansatz, seiner Forschungsorganisation, und – last but not least – von seiner Unbestechlichkeit und Korrektheit. Peter Swoboda war ein konsequent und diszipliniert arbeitender Lehrer und Wissenschaftler. Er stand ungern im Rampenlicht, präferierte das stille Wirken und stellte sein beträchtliches akademisches Netzwerk uneigennützig seinen Mitarbeitern zur Verfügung. Swoboda wirkte im deutschsprachigen Raum zweifellos auch schulebildend: Acht von seinen neun habilitierten Schülern machten ebenfalls als Universitätsprofessoren eine akademische Karriere im In- und Ausland, einer wurde ein erfolgreicher Unternehmensberater mit engstem Kontakt zur Forschung. Die Zahl der Habilitierten ist nahezu gleichmäßig auf die Fächer Finanzierung sowie Produktions- und Kostentheorie verteilt, mit einem Überhang in Finanzierungstheorie. Dies beweist, daß Peter Swoboda in der höchst spezialisierten akademischen Welt stets den Gesamtzusammenhang der Wirtschaftswissenschaften berücksichtigte, wie ja auch sein Verhältnis zu den außerhalb der Wirtschaftswissenschaften gelegenen Disziplinen und Forschungsansätzen bis zum Schluß von einer für den Vertreter des Faches Betriebswirtschaftslehre untypischen generalistischen Breite war. Auf der Jahrestagung 2007 der European Finance Association (EFA) in Ljubljana, Slovenien, wurde Peter Swoboda posthum die „Plaque for outstanding contributions to EFA“ verliehen.
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Vorbemerkung Jenseits von Dogmatismus und Beliebigkeit – zu bestimmten Tendenzen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft Im abschließenden fünften Kapitel des vorliegenden Sammelbandes geht es im ersten der beiden Beiträge um die methodologische, aber auch wissenschaftspolitisch interessante Frage nach dem Sinn und der Fruchtbarkeit eines pluralistischen Ansatzes in den Geistes- und Sozialwissenschaften, im zweiten um eine weltanschauungsanalytische Erörterung des Verhältnisses von Totalitarismus, Pluralismus und Wissenschaft. Beide Themen sind sowohl für Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler als auch für Rechtswissenschaftler bedeutsam, und ihre Erörterung hat in Graz seit Ende des 19. Jahrhunderts Tradition. Fragen und Probleme einer allgemeinen oder einer fachspezifischen (speziellen) Wissenschaftstheorie wurden an der Grazer Universität vor allem von folgenden Wissenschaftlern und Gelehrten erörtert: von den Physikern Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, den Erkenntnis- und Werttheoretikern Alois Riehl und Alexius Meinong, den Wirtschaftstheoretikern Joseph Alois Schumpeter, Alfred Amonn, Josef Dobretsberger und Heinz D. Kurz, dem Logiker Ernst Mally, den Weltanschauungsanalytikern und Systematologen Franz Kröner und Ernst Topitsch,1 den Vertretern des Römischen Rechts bzw. des Zivilrechts Artur Steinwenter und Franz Bydlinski, sowie den Rechtsphilosophen Ota Weinberger und Peter Koller.2 Ihre Überlegungen schärften den Sinn für rationale Argumentation, unter anderem auch den für das jeweilige disziplinäre Selbstverständnis. „In der Forschung wie auch auf anderen Gebieten“, so bemerkte Schumpeter einmal, „beginnen wir zunächst mit dem Tun, um später darüber nachzudenken. Erst wenn eine Disziplin sich zu einer selbständigen Wissenschaft entwickelt hat, beginnen ihre
1 Zu ihnen würde sich auch der Herausgeber mit einem Teil seines Schrifttums zählen. 2 Zu Mach und Boltzmann siehe die Beiträge von Udo WID und W. Gerhard POHL bzw. von Heinrich MITTER in ACHAM (Hg.) 2007. – In ACHAM (Hg.) 2009 finden sich Beiträge zu Riehl von Wolfgang RÖD, zu Meinong von Maria REICHER und zu Topitsch von Kurt SALAMUN. – Zu Mally siehe Gert-Jan LOKHORST: Art. “Mally’s Deontic Logic”, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2008 Edition), hg. von Edward N. ZALTA; im Internet unter: http://plato.stanford.edu/archives/win2008/entries/mally-deontic/. – Zu Kröner siehe ACHAM 2001a. – Zu Weinberger siehe den Beitrag von Peter KOLLER im vorliegenden Sammelband, zu Ernst Topitsch die stark biographisch orientierte Abhandlung von Heinrich KLEINER ebenda.
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Anhänger sich – nicht ohne Besorgnis – für Probleme des Wirkungsbereiches, der Methode sowie der logischen Grundlagen im allgemeinen zu interessieren. Dies ist völlig natürlich, kann aber, wenn die Tätigkeit dieser Art zu weit geführt wird, zu einem pathologischen Symptom werden – es gibt eine Art methodologischer Hypochondrie.“3 So kann die methodologische Nabelschau manche so selbstbezogen und kontaktscheu machen, daß ihnen beispielsweise die von Edward O. Wilson erhobene Forderung nach einer Kooperation von Umweltpolitik, Biologie, Sozialwissenschaften und Ethik4 geradezu unausweichlich auf eine konturlose Vermischung heterogener Bereiche hinauszulaufen scheint. Dann behandeln sie, wie bisher auch, jede der etablierten Disziplinen für sich: „mit eigenen Experten, einer eigenen Sprache, eigenen analytischen Methoden und Validierungsstandards“.5 Dennoch sollte die Reaktion auf Formen eines überzogenen Separatismus nicht wiederum auf eine Einebnung des Unterschieds hinauslaufen, der zwischen der Erforschung von Ursachen und Funktionen auf der einen, derjenigen von Gründen und Handlungszielen auf der anderen Seite besteht. Dieser Unterschied bleibt aufrecht, auch wenn gilt, daß beispielsweise die Rechtsprechung nicht nur aus dem nach rechtlichen Regeln verlaufenden gerichtlichen Dialog und der Aufweisungsanalyse intentionaler Akte besteht, sondern in oft erheblichem Umfang zugleich aus Expertenurteilen im Sinne von kausal-genetischen Verhaltens- oder Sachverhaltsrekonstruktionen, welche das Urteil etwa durch Angabe des Entscheidungsspielraums sowie der Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten zu sichern helfen.6 Im selben Sinne wird auch in den Sozialwissenschaften etwa bei der Analyse des Gruppen- oder Massenverhaltens von Ursachenforschung und funktionalen Erklärungen Gebrauch gemacht. Gewiß kann man sich angesichts der Tatsache, daß menschliches Handeln auf physiologischen und physikalischen Kausalzusammenhängen aufruht, fragen, warum die Geistes- und Sozialwissenschaftler gegenüber einer Kooperation mit den Naturwissenschaften verschiedentlich noch immer Vorbehalte haben. Der polemische Hinweis auf deren Minderwertigkeitsgefühle ist in diesem Zusammenhang oft deplaziert. Denn 3 4 5 6
SCHUMPETER 1965, Erster Teilband, S. 653. Siehe WILSON 1998, Kapitel 2. Ebenda, S. 17. Hier erscheint es geboten, darauf hinzuweisen, daß die Erkundung, Deutung und Erklärung von rechtlich belangvollen Handlungen und von Rechtsverhältnissen nicht einfach im Sinne einer empirischen Disziplin wie der Physik, der Ökonometrie oder der Sozialstatistik zu verstehen ist. Fragen der Jurisprudenz sind auch nicht einfach mit solchen der „Rechtswissenschaft“ im engeren Sinne zu identifizieren oder gar durch sie zu ersetzen. Ihr Thema sind die praktischen Erfahrungen und die mit ihnen verknüpften Entscheidungen einer „juris-prudentia“ im Unterschied zu dem theoretischen oder Erklärungswissen einer „juris-scientia“. (So die glückliche Formulierung bei GRÖSCHNER 1982, S. 3.) – Siehe dazu bereits die Ausführungen in der Einleitung zu diesem Sammelband.
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Kooperation kann ja sehr Verschiedenartiges besagen, und vor allem sind es ganz einfach nicht die gleichen Fragen, die Kultur- und Naturwissenschaftler beantworten wollen, auch wenn sie gleich klingen – ihr Sinn ist ein verschiedener. Die defensive Einstellung der Geistes- und Sozialwissenschaftler hat sich allerdings in den letzten Dekaden dadurch ein wenig geändert, daß – im Sinne der alten Unterscheidung von „Natur“ und „Kultur“ – heute nicht mehr die Physik als Paradigma der Naturwissenschaften den Kulturwissenschaften gegenübersteht, sondern die Biologie. So hat sich die wechselseitige Distanznahme abgeschwächt, was vor allem mit dem Wandel des Begriffs der Genese zu tun hat, der ja auch in den mit Entwicklungsprozessen verschiedener Art befaßten Kulturwissenschaften von zentraler Bedeutung ist. Er wird ja nun nicht mehr im Sinne des kausalen, sondern des evolutionären Schemas verstanden, also nicht als Ursache-Wirkungs-Konnex, sondern als Zusammenspiel von Mutation und Selektion.7 In einer Welt, deren Entwicklungen als Evolution verstanden und an die Begriffe Variation, Mutation und Selektion gebunden werden,8 fühlen sich auch Kulturwissenschaftler eher akzeptiert, da ja hier dem Pluralismus – auch dem wissenschaftlicher Disziplinen – eine für alle Lebensvorgänge eufunktionale, also förderliche Bedeutung zukommt: Es bedarf der Variationen und Mutationen, damit Selektionen einsetzen können – und damit wohl auch der Variation wissenschaftlicher Disziplinen, und nicht eines Monismus in der Forschungslandschaft. Nun fragt sich allerdings, wie es um die Selektion innerhalb der großen Wissenschaftsbereiche selber bestellt ist, wenn schon zwischen ihnen Pluralität als regulatives Prinzip akzeptiert wird. Wie gestaltet sich im konkreten Fall die Beziehung der Geistes- zu den Sozialwissenschaften, der Geschichte zur Soziologie? Gewiß, bei der Selektion muß keineswegs nur eine Variante erhalten bleiben, wie man weiß. Aber in den Gesellschaftswissenschaften herrscht doch verschiedentlich die Tendenz, die vormals bestehende Diversifikation von Disziplinen und Disziplinengruppen im Namen der Einheit der Gesellschaftswissenschaften aufzuheben. Irgendwie entspricht dies auch der verbreiteten Ablehnung der postmodernen Beliebigkeit sowie der Anarchie eines methodologischen „anything goes“ und dem Bestreben nach Komplexitätsreduktion. Und so wird beispielsweise der Unterschied zwischen Erzählung und Theorie, zwischen intentionaler und struktureller Erklärung, zwischen Geschichte und Soziologie durch Einführung von Disziplinen wie der „historischen Sozialwissenschaft“ zu überbrücken versucht9 und dabei 7 Siehe dazu POSER 1988. 8 Es ist in diesem Zusammenhang kaum übertrieben zu sagen, daß uns das biologische Weltbild – genauer: das Evolutionsschema – eine Strukturierung verschiedenartiger langfristiger geschichtlicher Entwicklungen erlaubte, die auch unser Geschichtsbewußtsein und damit unser Selbstverständnis geformt hat. 9 Allerdings ist nicht zu übersehen, daß sowohl die großen Historiker wie Thukydides, Montesquieu und Mommsen, als auch die Soziologen von Simmel und Weber bis zu Ernest Gellner und Michael Mann in
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die Historie nicht nur in ihrer herkömmlichen Form, sondern auch in ihrer spezifischen Erkenntnisorientierung abgelöst. Es läßt sich zeigen, daß unter dem derzeit unsere Bildungsanstalten beherrschenden Druck, tunlichst anwendungsfähiges Wissen zu produzieren, derartige Fusionsbestrebungen im Regelfall auf Kosten der Historie gehen. Den Beschwörungen einer Amalgamierung von Historie und Soziologie, die unter anderem Gegenstand der Betrachtungen im ersten der beiden folgenden Beiträge sind, ist daher oft ein eher zweifelhafter Charme eigen. Auch in dem zweiten, von Ernst Topitsch stammenden Beitrag geht es um Fragen der Pluralität, aber nun nicht in methodologischem, sondern in weltanschauungsanalytischem Sinn. Im Zentrum der Betrachtungen steht dabei das prekäre Verhältnis von Einheit und Vielfalt in der Politik, dargelegt vor allem am Beispiel der beiden Großideologien des 20. Jahrhunderts. Vom Einheitsstreben des religiösen und politischen Dogmatismus war und ist auch die Wissenschaft auf oft fatale Weise betroffen. Die Suche nach Einheit in der Wissenschaft entspringt bekanntlich nicht immer dem Streben nach intersubjektiver Erkenntnissicherung, oft war und ist sie auch religiös oder politisch erzwungen. Die Übereinstimmung einer Mehrheit von unabhängig voneinander gewonnenen Erkenntnissen über denselben Gegenstand ist ein wichtiges, wenn auch nicht untrügliches Kriterium der Wahrheit. Die der Formulierung dieses Kriteriums zugrunde liegende Überzeugung von der Mehrseitigkeit wissenschaftlicher Erfahrung und von der heuristischen Fruchtbarkeit des theoretischen Pluralismus beruht dabei auf der vorwissenschaftlichen Annahme, daß objektive Wahrheit möglich ist: diese hat – trotz des subjektiven Momentes in jeder Erkenntnis – in der gemeinsamen Bezugnahme verschiedener Personen auf denselben Gegenstand ihren Grund. Das heißt: Diese Personen haben teil an der Wahrheitserkenntnis, was zugleich besagt, daß sie selbst im besten Fall immer nur einen Teil des Wahren erfassen können.10 Topitsch, der sich in seinem Schrifttum stets auf die alte, exemplarisch von David Hume vertretene Dichotomie von Sein und Sollen stützt, ist davon überzeugt, daß dort, wo etwa Fragen der Individualmoral oder der gerechten Gesellschaftsordnung zur ihrem Werk beiden Aspekten Aufmerksamkeit geschenkt haben. So war es etwa Mommsens Absicht, uns die römische Welt im Spiegel des römischen Rechts zu zeigen, das Recht wiederum in den Bedingungszusammenhang von Staat und Volk einzubetten. Die heutige Arbeitsteilung in den Kulturwissenschaften hat die scheinbar neue interdisziplinäre Orientierung ins Spiel gebracht, die dann oft – zum Nachteil einer der Disziplinen – zur Vereinseitigung führt. Und so kann der Versuch, einer als fatal empfundenen zentrifugalen Beliebigkeit entgegenzuarbeiten, in neuen Formen einer zentripetalen Monotonie enden. 10 Daß wir imstande sind, Irrtümer als solche zu erkennen, ist ein Indiz für diese Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis. Und es gibt auch so etwas wie konstruktive Irrtümer, die sich als eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Aufdecken der Wahrheit insofern erweisen, als man sich ohne deren Formulierung (und anschließende Widerlegung) nicht oder nur auf Umwegen einer Wahrheitserkenntnis angenähert hätte.
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Debatte stehen, niemand mit einer auf strenge Beweisbarkeit gegründeten Wahrheitsgewißheit aufwarten kann. Wer dennoch vorgibt, er verfüge über eine solche, ist in der Regel intolerant gegenüber denen, die seinen Ordnungsvorstellungen nicht folgen können. Frei von dieser Einstellung sind oft gerade auch jene nicht, die vom Prinzip der „Verallgemeinerungsfähigkeit“ oder „Universalisierbarkeit“ von Interessen ausgehen. Eine solche Universalität läßt sich zwar immer dann vertreten, wenn die Betroffenen mit der Möglichkeit eines Rollenwechsels rechnen (müssen) und wenn die Berücksichtigung des Prinzips der Reziprozität in ihrem eigenen Interesse liegt. Aber eine realistische Einschätzung langfristig bestehender Kräfteverhältnisse in der Geschichte legt eine nicht gerade optimistische Sicht bezüglich des Konsenses darüber nahe, was alles an Interessen überhaupt als verallgemeinerungsfähig angesehen werden kann. Unser Handeln richtet sich bekanntlich eher nach den Annahmen bezüglich der Wahrscheinlichkeit fremden Handelns und der erwarteten Durchsetzungsfähigkeit eigener Absichten als nach dem Prinzip der Reziprozität. Jedenfalls dann nicht, wenn die Möglichkeit, mit seinen Wertauffassungen und Interessen in die Rolle der jetzigen Minderheit zu geraten, nahezu unwahrscheinlich ist. Das Eigeninteresse an reziprokem Handeln schwindet also unter bestimmten Bedingungen. Eindringlich läßt sich die Grenze der Wirksamkeit des utilitaristisch gestützten Prinzips der Verallgemeinerbarkeit, wie Martin Kriele zeigt, an der Tendenz zum Totalitarismus verdeutlichen: „Diese wird hervorgebracht vom mächtigsten aller Triebe, dem Machttrieb, und sie wird genährt von der menschlichen Schwäche: der Feigheit, dem Mitläufertum und der aus den Tiefen des Unterbewußtseins gesteuerten Anpassung des rechtfertigenden Räsonnements. […] Dieses zwiefältige totalitäre Interesse an Machtausübung und Machtunterwerfung ist aber schlechterdings unvereinbar mit dem Freiheitsbedürfnis aller anderen. Einen gemeinsamen Nenner, auf den die Interessen […] des Totalitären und des Freiheitsliebenden zu bringen wären, gibt es nicht.“11 Deshalb ist aber auch der gleiche Anspruch eines jeden Menschen auf Freiheit und Würde nicht Ergebnis des rationalen Diskurses über menschliche Anliegen und Interessen, sondern Prämisse eines jeden solchen. Erfahrungsgemäß besagt ein Konsens über die Regeln der Austragung eines Diskurses über Interessen noch nichts über die Möglichkeit, auch bezüglich dieser Gegenstände des Diskurses einen Konsens zu erreichen. Daher verlagert sich das Problem von der diskursiven Herstellung eines Interessenkonsenses in all jenen Fällen, in denen ein gemeinsamer Nenner der widerstreitenden Interessen nicht auszumachen ist, auf die Institutionalisierung abwägender Entscheidungsinstanzen. Mit anderen Worten: Die Frage richtet sich nun auf die Herstellung eines Konsenses bezüglich der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Abwägung von nicht verallgemeinerungsfähigen 11 KRIELE 1979, S. 56f.
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Interessen als unparteiisch gelten kann.12 Daß ein solcher Diskurs überhaupt stattfinden und im politischen Raum praktisch werden kann, war selbst ein Resultat von Interessenkonflikten in der europäischen Geschichte; hingewiesen sei allein auf die Überwindung des feudalen Fehdesystems und auf den konfessionellen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert. Stellte vorher (wie oft auch noch später) die Abweichung von religiösen oder moralischpolitischen Ordnungsvorstellungen einen nicht zu tolerierenden Verstoß gegen die „Wahrheit“ dar, die es doch mit allen Mitteln gegen die „Unwahrheit“ zu verteidigen gelte, und endete damit die Toleranz an der als Intoleranz gedeuteten Devianz, so endet sie heutzutage allein an der freiheitsgefährdenden Intoleranz. Ernst Topitsch, der einen maßgeblichen Beitrag zur intellektuellen Repatriierung Hans Kelsens – unter anderem durch die Edition von dessen Aufsätzen zur Ideologiekritik (1964) – geleistet hat, war mit diesem großen Rechtsgelehrten zutiefst davon überzeugt, daß zwischen Demokratie und Wissenschaft ein enger Zusammenhang dahingehend besteht, daß keine andere Staatsform der Wissenschaft so günstig ist wie jene. „Keine Lehre“, so befand Kelsen, „kann im Namen der Wissenschaft unterdrückt werden; denn die Seele der Wissenschaft ist Toleranz.“ „Aber“, so fragt er bereits kurz zuvor, „kann Demokratie tolerant bleiben, wenn sie sich gegen anti-demokratische Umtriebe verteidigen muß?“ Seine Antwort ist klar und entspricht auch der Überzeugung von Topitsch, der sich bezüglich des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft immer als ein Schüler Hans Kelsens verstanden hat und mit Kelsens Antwort auch seine in Kapitel V gedruckte Abhandlung beschließt. Kelsen spricht dabei vom Erfordernis demokratischer Systeme, das Prinzip der Toleranz durch eine klare Grenzziehung zwischen der Verbreitung gewisser Ideen und der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes zu ziehen. In Fortsetzung des in der Abhandlung von Ernst Topitsch am Schluß Zitierten fügt Kelsen die in den Ohren gewisser Vertreter des zeitgenössischen juste milieu geradezu ungeheuerlich klingenden Worte hinzu: „Es mag […] sein, daß solche Grenzziehung eine gewisse Gefahr in sich schließt. Aber es ist das Wesen und die Ehre der Demokratie, diese Gefahr auf sich zu nehmen; und wenn Demokratie diese Gefahr nicht bestehen kann, dann ist sie nicht wert, verteidigt zu werden.“13
12 Siehe ebenda, S. 57–65. 13 KELSEN 1953, S. 42f.
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Karl Acham Geschichtswissenschaft und Soziologie Zum gemeinsamen Gegenstand und zu spezifischen Aussageintentionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung Einleitung – I. Die Ausgangslage – II. Ähnlichkeiten und Komplementaritäten zwischen Geschichte und Soziologie – 1. Ereignisse, Strukturen, Prozesse – 2. Besonderes und Allgemeines, Nähe und Distanz – III. Besonderheiten des Forschungsgegenstandes und der Methode von Soziologie und Historie – 1. Zur soziologischen Darstellung – Ein Beispiel: Suizid – 2. Zur historischen Darstellung – Ein Beispiel: Bauernkrieg – IV. Anthropologische Konzepte der Soziologie – 1. Der entfremdete Mensch – 2. Der Durchschnittsmensch – 3. Das Rollensubjekt – V. Historie und literarische Form – VI. Zu Tendenzen einer Vereinseitigung innerhalb der Kulturwissenschaften heute – Schlußbemerkungen
Einleitung Durch zwei aktuelle Tendenzen sind die folgenden Ausführungen veranlaßt: erstens durch die zunehmenden Bestrebungen der nationalen Unterrichts- und Forschungspolitik in den europäischen Ländern, die Personal- und Sachmittelunterstützung für die Kulturwissenschaften, also die historisch und philologisch orientierten und mit Wertfragen befaßten Geistes- und Sozialwissenschaften, zu kürzen und in Richtung der naturwissenschaftlichen, technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer umzuleiten;1 zweitens durch das sich in der nationenübergreifenden, also gesamteuropäischen Forschungspolitik geltend machende Bemühen um eine Transformation des spezifischen Erkenntnisinteresses der Geisteswissenschaften in die Richtung einer auf sozialtechnische Nutzbarkeit ausgerichteten Orientierung. Eine bestimmte Art von „anwendungsorientierter“ Soziologie und Betriebswirtschaftslehre wird dabei als vermeintlich besserer Ersatz für die kulturwissenschaftlichen Fächer ins Auge gefaßt. Nun soll es gewiß nicht darum gehen, im Sinne von Wystan Hugh Auden am Ende zu verkünden: “Thou shalt not sit with statisticians, nor commit a Social Science.”2 Wohl jedoch soll gezeigt werden, daß hinter dem oft auch mit methodologischen Argumenten geführten Streit um die Modernisierung der historischen Disziplinen – einschließlich der
1 Siehe z. B. den auf die britische Situation des Jahres 2010 bezogenen Artikel von Anushka ASTHANA, Rachel WILLIAMS: Growing outcry at threat of cuts in humanities at universities, in: The Observer, 28. Februar 2010; im Internet unter: http://www.guardian.co.uk/education/2010/feb/28/outcry-threat-cuts-humanitiesuniversities 2 So in dem Gedicht „Under Which Lyre“.
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nach der Art von Max Weber betriebenen „verstehenden Soziologie“ – zumeist ein noch grundsätzlicherer Kampf um den Sinn der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis als solcher zu liegen kommt, der nicht wiederum mit den Mitteln der Wissenschaft entschieden werden kann, und der daher wohl von der Politik auf diese oder jene Weise entschieden werden wird. Im folgenden geht es um ein Plädoyer für die Historie im besonderen und die Geisteswissenschaften im allgemeinen, nicht aber um eines gegen die Soziologie bzw. die Sozialwissenschaften. Denn letztlich können so gut wie alle Humanwissenschaften weder auf „Theorie“ noch auf „Geschichte“ verzichten – es sei denn, um den Preis einer kognitiven und forschungspragmatischen Selbstbeschränkung.
I. Die Ausgangslage Zunächst ist hier die Tatsache zu nennen, daß an den europäischen Universitäten historischen Erörterungen – im Namen der Bewältigung von Zukunftsproblemen – eine ziemlich untergeordnete Bedeutung beigemessen wird, was beispielsweise an den Sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten des deutschen Sprachraums derzeit oft in der Marginalisierung, wenn nicht gar Auslagerung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und in der Abwertung der ökonomischen Dogmengeschichte Ausdruck findet. Ähnliches vollzieht sich an den juridischen Fakultäten schon seit geraumer Zeit: Hier kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer fortschreitenden Enthistorisierung des Studiums. Dann springt aber noch eine zweite Tendenz ins Auge, nämlich die in den nationalen und übernationalen Institutionen der Wissenschafts- und Forschungspolitik im Europa der EU nachweisbare Tendenz, die im Deutschen oft nur mehr verschämt so bezeichneten historischen Geisteswissenschaften im Namen von deren Modernisierung in den Verbund der theoretischen Sozialwissenschaften zu integrieren und im Namen ihrer Relevanzsteigerung einer zukunftsorientierten Anwendung zuzuführen. Im folgenden soll hier der Frage nachgegangen werden, welcher Erkenntnis- und Funktionsverlust mit einem solchen Vorgehen verbunden ist. Die Hoffnungen des für die Geisteswissenschaften im EU-Forschungsraum maßgeblichen Gremiums, des „Standing Committee for the Humanities“ der „European Science Foundation“, richten sich auf das, was als „foresight activities“, bezeichnet wird, „which will lead towards the production of new knowledge and improved understanding“. Die neuen Forschungsfelder betreffen unter anderem Probleme der Nachhaltigkeit („sustainability“), aber auch Kognitionsforschung („cognitive science“) und technologische Innovationen („technological innovation“).3 Selbstverständlich ist man dabei 3 Siehe Internet, URL: http://www.esf.org/research-areas/humanities.html
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bestrebt, die „dichotomies between the natural and human sciences“ zu transzendieren, aber gleichzeitig läßt sich in den „Review panels“ der aktuellen geisteswissenschaftlichen EU-Großforschung ein auffallender Mangel an Philosophen und Philologen feststellen4 – vor allem den Vertretern der Ideengeschichte sind dabei im Vorfeld des Wettstreits um EU-Forschungsmittel die Zeitläufte offensichtlich nicht gewogen. Mit Blick sowohl auf die Matrix der Kulturwissenschaften, als auch auf die kanonisierten Bestände unseres europäischen geistigen Erbes kommt man zum Befund, daß dies nur halbe Sachen sind. Doch wie sagte Heimito von Doderer: „Ganze Sachen sind immer einfach, wie die Wahrheit selbst. Nur die halben Sachen sind kompliziert.“5 Diesem komplizierten Verhältnis sollen die folgenden Ausführungen gelten. Während die nationale Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik auf Zukunft, auf „foresight activities“ hin ausgerichtet ist – in Österreich hieß das Wissenschaftsministerium zu Beginn des 21. Jahrhunderts für einige Jahre „Das Zukunftsministerium“ –, steht die sogenannte Öffentlichkeit der Vergangenheit, der Geschichte, interessiert und daher auch der Historie (als dem Bericht darüber) ungemein wohlwollend gegenüber. Man denke nur an die nun schon seit Jahrzehnten hervorragend besuchten großen historischen Ausstellungen, aber auch an einschlägige Publikationen, welche periodisch Spitzenplätze auf den Bestseller-Listen erklimmen. Diese Einstellung wird aber offensichtlich in politisch maßgeblichen Kreisen der Freizeitgestaltung und dem Tourismusressort zugeordnet, nicht aber echter wissenschaftlicher Gesinnung. In deren Augen scheint nämlich mehr und mehr die einzig angemessene Einstellung eine instrumentell auf die Lösung von aktuellen Gegenwartsproblemen bezogene zu sein. Vertreter einer solchen Zukunftsorientierung waren bereits die Vertreter des Positivismus im frühen 19. Jahrhundert. Diese führten ihren Kampf gegen die historisch-philologischen Disziplinen mit der Begründung, daß alle Erkenntnis der Wirklichkeit nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften erfolgen solle. Das aber besage, Gesetzund Regelmäßigkeiten zu ermitteln, um das Geschehen in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt vorhersehen und lenken zu können. Daher sollten auch Historiographie und Geschichtswissenschaft, kurz: die Historie, anstatt weiter nutzlose Gelehrsamkeit zu produzieren, endlich die Kulturerscheinungen als naturhafte Gesetzlichkeiten erfassen und sich selber dem Prinzip der Einheitswissenschaft unterstellen. Die sozialtechnische Transformation der Naturgesetze des Sozialgeschehens sollte dann vor allem durch die auf die „Gegenwart“ und die „Zukunft“ bezogenen Disziplinen der Soziologie und der Ökono4 Einen Mangel anderer, aber ebenfalls sehr erheblicher Art bildete bezüglich des „2009 HERA JRP Call“ die Abstinenz so bedeutender Kulturnationen wie Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland von der Teilnahme an diesem EU-Großwettbewerb. 5 Heimito von DODERER: Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen. München 1996, S. 91.
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mik in die Wege geleitet werden. Nicht bloß die bisherigen Philosophen, sondern auch die Historiker hätten, wie man fand, die Vergangenheit nur verschieden interpretiert, nun jedoch komme es darauf an, mit den Mitteln der Soziologie (aber auch anderer Sozialund Wirtschaftswissenschaften) die Gegenwart in Richtung der erwünschten Zukunft zu verändern. Was nun aber die gegenüber den historischen Fächern erhobenen Integrationsforderungen im Sinne der Einheitswissenschaft betrifft, so ähneln diese damals wie heute entsprechenden Forderungen im Bereich der Politik: Durch die Integration von Regionen, Ländern und Staaten in einen einheitlichen, übernationalen Staatenbund geht mitunter – wie durch die Integration von wissenschaftlichen Teilbereichen in ein einheitliches Wissenschaftssystem – ein großer Teil der ursprünglich vorhandenen Eigenständigkeit verloren. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß in vielen Fällen der Fachegoismus Grenzen dort zieht, wo Kooperation geboten wäre. „Die Tendenz, die Funktion von Unterscheidungen und Klassifizierungen zu vergessen und sie für Kennzeichen der Dinge selbst zu halten“, so befand John Dewey, „ist der verbreitete Trugschluß des wissenschaftlichen Spezialistentums. […] Diese Einstellung, die früher in der Physik ihre Blüten trieb, beherrscht heute die Theorien zur Natur des Menschen.“ 6 Seit langem wird nun aber gerade auch unter Historikern ein ressortegoistisches, naturwissenschaftsabstinentes Denken kritisiert – diese kritische Tradition überspannt einen Zeitraum, der von Montesquieu bis Fernand Braudel reicht. Montesquieu hat bekanntlich bereits im Geist der Gesetze gezeigt, wie dieser Geist an materielle Voraussetzungen, an den Boden und das Klima gebunden ist, und ähnliches gilt für Braudels Universalgeschichte des Mittelmeerraums zur Zeit Philipps II. von Spanien, das Werk La Méditerranée aus dem Jahr 1949. Aber weder Montesquieu noch Braudel hören deshalb auf, Historiker zu sein, nur weil der Natur in ihrem Werk große Bedeutung zukommt. Sie unterscheiden sich von Naturwissenschaftlern nicht nur durch eine anders konzipierte Natur und durch bestimmte Methoden oder Forschungstechniken, sie unterscheiden sich vor allem durch die Art der Nutzanwendung ihrer Erkenntnisse, also hinsichtlich des Verwertungsinteresses oder der pragmatischen Orientierung, welche sie mit ihren Erkenntnissen verbinden. Analoges gilt für das Verhältnis der Historie zur Soziologie. Auch hier betreffen die zwischen diesen Disziplinen bestehenden Unterschiede – nicht immer, aber häufig – die Ontologie (den spezifischen Gegenstandsbezug oder die Hinsicht, unter der etwas sachlich relevant wird), aber vor allem die Forschungsmethode und die Art der Nutzanwendung der Erkenntnisse. Exemplarisch sei auf einen Unterschied im Gegenstandsbezug
6 John DEWEY: Human Nature and Conduct, New York 1922, Teil II, S. 131; zit. nach Ernst CASSIRER: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Aus d. Engl. v. Reinhard KAISER, Frankfurt a. M. 1990, S. 109.
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hingewiesen. Sowohl Historiker als auch Soziologen beschäftigen sich mit Institutionen. In der Soziologie geht es bei der Beschäftigung mit den Institutionen – wie zum Beispiel dem Recht, der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, der Religion und der Wissenschaft – vorrangig um die Erörterung der Funktion dieser Institutionen innerhalb der Gesamtgesellschaft. In der Historie wiederum dominiert die Darstellung und Analyse des für die Institutionen bestimmenden Regelsystems, seiner Entstehung und seiner Kulturbedeutung. Die Frage, was Recht „ist“, was Politik „ist“, was Wirtschaft „ist“, läßt sich nicht auf deren Beitrag für das Gesellschaftssystem oder Teile desselben reduzieren. Steht in der soziologischen Analyse die funktionale Bedeutung der Institutionen im Vordergrund, so geht es in der historischen Analyse primär um deren intrinsische Bedeutung. Das Wesen der funktionalen Analyse besteht in der Festlegung des in Betracht stehenden Individuums, Sachverhaltes oder Ereignisses auf etwas, das außerhalb seiner selbst liegt. Hier haben die drei großen Entzauberer der Moderne ihren Ort: Marx, Darwin und Freud. Im wesentlichen machen sie darauf aufmerksam, daß die gewohnheitsmäßig mit den in Betracht stehenden Individuen, Sachverhalten oder Ereignissen verbundene Bedeutung nur Scheincharakter gegenüber einer als essentiell angesehenen Bedeutungsschicht hat. So sind nach Marx die herrschenden Ideen bekanntlich eine Funktion der Produktionsverhältnisse, deren legitimierender Rechtfertigung sie dienen, so bezieht Darwin den Sinn des menschlichen Verhaltens auf dessen Funktion für das biologische Überleben, Freud hingegen auf seine Funktion für die Befriedigung ursprünglicher oder verdrängter Libido. Wie Niklas Luhmann gezeigt hat, wird durch solche Erklärungen der ursprünglich gemeinte Sinn zu einer vordergründigen „Rationalisierung“ der eigentlichen Motive.7 Außer auf den Unterschied zwischen der funktionalistischen Betrachtung von Handlungen, Ereignissen und Strukturen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt durch Soziologen und einer mehr auf den „Eigensinn“ der Phänomene bedachten, vor allem auch erzählenden Darstellung durch Historiker wird im folgenden noch auf andere Verschiedenheiten zwischen den in Betracht stehenden Wissenschaftsdisziplinen Bezug genommen werden. Diese Unterschiede zwischen der Geschichte und der Soziologie lassen sich jedoch wohl am besten darlegen nach der vorgängig erfolgten Klärung der Frage, worin sie übereinstimmen und wodurch sie einander wechselseitig ergänzen.
7 Vgl. dazu Niklas LUHMANN: Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion (1962), in: Hans-Joachim LIEBER (Hg.): Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung, Band CCCXLII), S. 35–54, hier v. a. S. 37–41. – „Ein Denken“, so bemerkt Luhmann in diesem Zusammenhang vielleicht etwas allzu lakonisch, „ist […] ideologisch, wenn es in seiner Funktion, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen, ersetzbar ist.“ (Ebenda, S. 40)
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II. Ähnlichkeiten und Komplementaritäten zwischen Geschichte und Soziologie 1. Ereignisse, Strukturen, Prozesse Der im Jahr 1918, also vor fast 100 Jahren erfolgte Zusammenbruch der Österreichischungarischen Monarchie hatte, wie im Falle unzähliger seiner damaligen Zeitgenossen auch, tiefe Spuren im Gefühlsleben und im Denken Friedrich von Wiesers, eines der namhaftesten Mitglieder der sogenannten Österreichischen Schule der Nationalökonomie hinterlassen. Über diesem Ereignis und den Versuchen seiner Deutung und Erklärung ist er zum Soziologen geworden, wie insbesondere sein 1926 erschienenes Buch Das Gesetz der Macht bezeugt.8 Vorausgegangen ist diesem Buch ein anderes, für unseren Zusammenhang bedeutsames, mit dem Titel Österreichs Ende (1919).9 Das Schicksal der Monarchie sei, wie er gleich zu Beginn bemerkt, durch die „Weltereignisse“ entschieden worden – sie gelte es „bis auf ihren Grund“ zu erkennen. Um aber über die Weltkräfte Aufschluß geben zu können, so erklärt er im voraus, werde er „über den Anteil, welchen die führenden Personen genommen haben, nichts berichten“: „Meine Darstellung wird daher des Interesses entbehren, das eine Geschichtserzählung durch die glänzenden Taten und Worte oder auch durch die schuldvollen Irrtümer der großen Männer erhält, welche die Völker in Krieg und Frieden leiten. Es ist eine namenlose Geschichte, die ich zu schreiben vorhabe, indem ich die Folge der Massenerscheinungen darstelle, wie sie in dieser ereignisreichen Zeit sich vor unseren Augen abgespielt haben.“10 Wieser folgt hierin Auguste Comte, der seinerseits bestrebt war, eine „Geschichte ohne Namen“ (histoire sans noms), also ohne die Namen von Individuen, ja sogar ohne die Namen der Völker zu schreiben. Eine solche sah er für das Studium dessen als unverzichtbar an, was er selbst als erster mit dem Namen „Soziologie“ bezeichnete.11 Man kann sich kaum einen schärferen Gegensatz zu dieser Art von Darstellung der gesellschaftlichgeschichtlichen Welt vorstellen als die dem Denken, Fühlen und Wollen individueller historischer Akteure zugewandten Biographien in der klassischen historiographischen Tradition. Allerdings wäre es falsch, wie dies lange Zeit hindurch geschehen ist, nun der Soziologie das Allgemeine und Ganzheitliche zuzuordnen, der Historie hingegen das Besondere und Partikulare. Überhaupt ist die Zuordnung von Makroskopie sowie Holismus zur Soziologie und von Mikroskopie sowie Individualismus zur Geschichte längst so obsolet geworden wie die – im übrigen Wilhelm Windelband, den Schöpfer der 8 9 10 11
Friedrich WIESER: Das Gesetz der Macht, Wien 1926. Friedrich WIESER: Österreichs Ende, Berlin 1919. Ebenda, S. 11 (eigene Kursivierung, K. A.) Vgl. Auguste COMTE: Cours de Philosophie Positive, Bd. 5, Paris 1864; deutsch: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, 2. Aufl., Stuttgart 1974.
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Unterscheidung von Nomothetik und Idiographie gründlich mißdeutende – Ansicht, wonach es die Naturwissenschaften nur mit dem Allgemeinen, die Geisteswissenschaften dagegen nur mit dem Besonderen zu tun hätten.12 Für den Historiographen wie für den Geschichtswissenschaftler, für den Soziographen wie für den Soziologen ist die Wahl der Makro-, Meso- oder Mikroperspektive abhängig von der jeweiligen Fragestellung, und die Forschungsgegenstände werden dann gewissermaßen aus großer Höhe oder aus naher Entfernung dargestellt: als Prozesse, Strukturen oder Ereignisse. Ereignisse sind durch ihre Wechselhaftigkeit von Beschleunigung und Verzögerung, Dramatik und Entspannung des Geschehens gekennzeichnet. Bestimmend sind in Ereignisgeschichten das Überraschungsmoment und der Umstand, daß Ereignisse innerhalb eines größeren Geschehenszusammenhanges den Charakter von Wendepunkten annehmen. In bevorzugter Weise sind Personen und ihre Handlungen, Erlebnisse, Absichten und Handlungsziele, Motive und Handlungsgründe, Erfolge und Mißerfolge Gegenstand der Ereignisgeschichte. Anders Strukturen, welche sich auf die das individuelle und kollektive Handeln limitierenden Institutionen beziehen, beispielsweise politisch-rechtliche, ökonomische, sozialstrukturelle, religiöse oder wissenschaftliche. Nicht mehr sind es kurzfristig sich vollziehenden Ereignisse – etwa der Wechsel von Schlachten, Verträgen und Regierungen –, sondern die Stabilität mittel- oder langfristiger Konstellationen, die im Zentrum der strukturanalytischen Betrachtungen stehen. Solche sind in der Historie wie in den Sozialwissenschaften von großem Belang. Prozesse schließlich erstrecken sich über einen langen Zeitraum. Im Unterschied zur „sozialen Statik“ als der Aufweisungsanalyse von Koexistenzgesetzen sah Auguste Comte in der Analyse der historischen Prozesse das verwirklicht, was er „soziale Dynamik“ nannte. Der historische Prozeß ist das Ergebnis einer Vielzahl von individuellen oder kol-
12 Exemplarisch sei hier auf zwei Bücher hingewiesen, für deren Autoren diese alte Dichotomie einer Kooperation von „Idiographen“ und „Nomothetikern“ Platz gemacht hat: Winfried SCHULZE: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Einführung in die Probleme der Kooperation beider Wissenschaften, München 1974 (= Kritische Information, 8); Peter BURKE: Soziologie und Geschichte. Aus dem Engl. v. Johanna FRIEDMAN, Hamburg 1989 (= Sammlung Junius, 10). – Was den Vorwurf anlangt, in den Naturwissenschaften führe die Dominanz des auf das Allgemeine gerichteten Interesses notwendig zur Leugnung des Individuellen, so trifft er insbesondere auf bestimmte jüngere Entwicklungen in der Molekularbiologie überhaupt nicht mehr zu. Wie Forscher bei der genaueren Analyse der DNS entdeckten, unterscheidet sich nämlich das Erbgut des Menschen von Person zu Person nicht nur bezüglich zahlreicher einzelner Bausteine, sondern auch darin, in welcher Häufigkeit bestimmte Genomabschnitte vorkommen. Die Anzahl der Exemplare eines DNSAbschnittes ist offensichtlich für das Maß der Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen – beispielsweise bezüglich der Krankheitsanfälligkeit oder der Krankheitsresistenz – bestimmend.
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lektiven Handlungen im Rahmen unterschiedlicher Strukturen, wobei deren Resultat sich im allgemeinen nicht mit der ursprünglichen Intention der Akteure deckt – Hegel nannte dies die „List der Vernunft“, der Psychologe Wilhelm Wundt die „Heterogonie der Zwecke“. In diesen Zusammenhang gehören etwa Max Webers Theorie der fortschreitenden Rationalisierung in der okzidentalen Geschichte, die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, verschiedene Säkularisierungstheorien in der Religionsgeschichte, die Modernisierungstheorien von Wirtschafts- und Sozialhistorikern, und in jüngster Zeit insbesondere die Theorien der ökonomischen, der politischen und der kulturellen Globalisierung. Die Übernahme des soziologischen Blicks, also der Primat einer „Geschichte ohne Namen“ im Schaffen gewisser zeitgenössischer deutscher Historiker, veranlaßte Golo Mann in den 1970er Jahren zur Feststellung, daß diese Spielart der „neuesten Historie […] sich viel zu wenig um wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut kümmert, daß sie zu wenig Sympathien für Menschen hat oder gar keine, daß sie also Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark spielt.“13
2. Besonderes und Allgemeines, Nähe und Distanz Selbstverständlich setzt jede Beschreibung singulärer Sachverhalte durch Historiker die Verwendung allgemeiner Begriffe voraus, und auch für die historische Erklärung gilt, daß sie nicht ohne Rückgriff auf gewisse Generalisierungen erfolgt. Wenn mit der erwähnten Kurzformel, die Soziologie widme sich dem Allgemeinen, die Geschichte jedoch dem Besonderen, überhaupt ein Sinn verbunden werden kann, so besteht er allein darin, daß für die Sozialwissenschaften das Auffinden von generellen Aussagen – induktiven Generalisierungen der an Einzeltatsachen gemachten Beobachtungen oder theoretischen Gesetzen – ein Ziel sein kann, während in der Geschichtswissenschaft solchen Generalisierungen nur eine Hilfsfunktion im Rahmen von Erklärungen zukommt. Hier zeigt sich, daß Geschichte und Soziologie – wie etwa auch Geschichte und Wirtschaftswissenschaften – in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Dies aber besagt wiederum keineswegs, daß es nötig sei, die Geschichte und die theoretischen Sozialwissenschaften, Besonderes und Allgemeines so zu amalgamieren, daß sie voneinander nicht mehr unterscheidbar sind. „Obwohl das Allgemeine“, so bemerkte einmal Friedrich von Hayek, „nur deswegen interessant ist, weil es das Besondere erklärt, und das Besondere nur durch All13 Golo MANN: Plädoyer für die historische Erzählung, in: Jürgen KOCKA, Thomas NIPPERDEY (Hg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte (= Beiträge zur Historik, 3), München 1979, S. 40–56, hier S. 52.
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gemeines erklärt werden kann, so kann doch das Besondere nie das Allgemeine und das Allgemeine nie das Besondere werden.“14 Auch die Frage danach, wie der Mensch über den Gang der Geschichte sachgerechter belehrt werde: durch den Verstand oder das Gefühl, hängt mit der Frage nach dem Allgemeinen und dem Besonderen zusammen. Gemeint ist hier das eine Mal ein SichErheben zu nüchterner Beschreibung genetisch-kausaler Wirkungszusammenhänge von hoher Warte aus, das andere Mal der Versuch, aus der Nähe das Besondere der aus großer Distanz nicht ermittelbaren emotionalen Bedeutung, welche der Wirklichkeit für die in ihr Handelnden oder an ihr Leidenden zukommt, aber vor allem auch deren Handlungsgründe und Absichten durch Erzählen nacherlebbar zu machen. In der soziologischen „Weltsystemanalyse“ eines Immanuel Wallerstein etwa haben Gefühle, aber auch Motive und Handlungsgründe keinen Platz. Dies hat durchaus insofern seine Ordnung, als sich dieser Art von Soziologie – im Unterschied etwa zu Max Webers „verstehender Soziologie“ – schon aufgrund der Größenordnung ihres Forschungsgegenstandes Fragen nach der „Sinnadäquatheit“ menschlichen Handelns im Lichte intentionaler oder motivationaler Deutungen gar nicht stellen. Ganz anders die Historie. Selbst Thukydides, dem, wie keinem anderen Historiker zuvor und selten einem danach, eine derart nüchterne Betrachtung von Wirkungszusammenhängen genetischer und kausaler Art aus größerer Distanz attestiert wird, hat doch nie die anthropologische und psychologische Bodenhaftung verloren. Als die wesentlichen Komponenten des geschichtlichen Geschehens legt er eine bleibende menschliche Triebstruktur (anthropeía physis) – das Streben nach Macht, Besitz und Ansehen, aber auch den Neid – unter geschichtlich variablen Rahmenbedingungen seinen Deutungen und Erklärungen zugrunde. Zudem versteht er es, durch meisterhafte lakonische Schilderungen – exemplarisch etwa in dem berühmten Melier-Dialog – den Leser emotional in höherem Maße in seinen Bann zu schlagen, als dies bestimmte literarische Melodramatiker älterer oder auch jüngerer Zeit zu tun vermögen. Nicht kam es ihm darauf an, Gefühl zu zeigen, sondern durch scheinbar Gefühlloses, durch die in aller Klarheit geschilderte Härte, mit der ein oft tragisches Verhängnis, öfter jedoch ein vermeidbares Schicksal Menschen traf, Gefühl zu wecken. Prozeßanalyse allein wäre nach Thukydides wohl nicht Historiographie gewesen. Historie setzt voraus, daß auch von den handelnden, leidenden, erlebenden Menschen einer Epoche die Rede ist. Das Erlittene und dessen Betrachtung können, wie Thukydides weiß, auch ungerecht machen – den ehemals Leidenden gleichermaßen wie den das Leid Schildernden. Es bewirkt so etwa, daß man sich der Anerkennung der Ähnlichkeit
14 Friedrich August von HAYEK: Mißbrauch und Verfall der Vernunft, 2. erw. Aufl., Salzburg 1979 (The Counter-Revolution of Science, 1952, dt.), S. 99.
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von Leidenserfahrungen anderer widersetzt. Dann sieht man nur mehr das besondere Eigene, nicht mehr eine auch andere betreffende, prinzipiell allgemeinmenschliche Befindlichkeit. So neigen manche zu einer geradezu autoritären Singularisierung des persönlich Erlittenen. Letztlich betreibt man hiermit eine Art von Empathieverweigerung. Aber dieses Exklusionsbestreben unter Hinweis auf die Inkommensurabilität eigenen Erlebens wäre Thema einer gesonderten Studie.
III. Besonderheiten des Forschungsgegenstandes und der Methode von Soziologie und Historie Im Folgenden soll es darum gehen, zunächst die soziologische, dann die historische Betrachtungsweise an exemplarischen Beispielen darzustellen und zu erläutern. Nun könnte man gegen ein solches Vorgehen einwenden, daß doch jeder Versuch einer Idealtypisierung von „Historie“ und „Soziologie“ fruchtlos sei, solange sich, was nachweislich nicht selten der Fall ist, Historiker in der Rolle von Soziologen, und Soziologen in der Rolle von Historikern gefallen. So seien doch beispielsweise die (soziologischen) Ethnomethodologen vom Schlage Harold Garfinkels, wie dies nur höchst selten für Historiker gelte, geradezu leidenschaftlich an der „Indexikalität“, also an den singulären Merkmalen nicht generalisierungsfähiger Handlungssituationen interessiert; umgekehrt hätten Historiker wie Arnold Toynbee oder der frühe John McNeill gegen die unter Historikern verbreitete Vorliebe für Individualbiographien Stellung bezogen, deren Kleinteiligkeit ihnen die Sicht auf die relevanten Züge der Geschichte verstellte. Aber der Befund, daß sehr vieles höchst Disparate unter dem Namen der „Historie“ sowie der „Soziologie“ aufgetreten ist und die Regale der Bibliotheken füllt, heißt noch nicht, daß Klassifikationen und begriffliche Ordnungen obsolet sind und daß sich Begriffe nur als deskriptive, und nicht auch als Ordnungsbegriffe verwenden lassen.15
1. Zur soziologischen Darstellung Man kann davon ausgehen, daß die Einheitlichkeit der Soziologie bei aller Vielfalt ihrer Autoren und Themen auf der Annahme beruht, daß die Handelnden in Interaktionssysteme integriert sind, deren Struktur ihre Handlungen über die Mittel des Besitzes, der 15 Es geht ja im folgenden zudem nicht um nominaldefinitorische Rechthaberei, sondern neben dem Bestreben um eine Idealtypisierung auch um belegbare Häufigkeitsverteilungen von wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen und den mit ihnen verbundenen Ergebnissen.
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Macht, des Wissens und des Ansehens kanalisiert. Das soziale Leben sei nicht aufgrund der individuellen Komplexität der menschlichen Akteure so schwierig zu erklären, sondern aufgrund der komplexen Ordnung und Organisation, die sich zwischen den auf verschiedenen Märkten agierenden Individuen – also beispielsweise auf dem ökonomischen, politischen oder Informationsmarkt – herausbildet. Es seien also die Interaktionsmuster und die „Figurationen“ (Norbert Elias), welche in der Soziologie letztlich zählen, und nicht die Eigenart der Individuen.16 Soziologen, so kann man im Blick auf die Geschichte und die Gegenwart ihrer Disziplin sagen, – sind vor allem interessiert an Gruppen, Kollektiven und Gesamtgesellschaften sowie an den in und zwischen ihnen sich bildenden Schichten und Gemeinschaften; – bevorzugen als Darstellungsmethode die Statistik, als Darstellungsform die protokollierende Beschreibung (im Unterschied zur Erzählung); – gelangen von der Korrelierung des kollektiven oder Gruppen-Verhaltens mit Variablen der (sozialen) Umwelt zur Formulierung von probabilistischen Hypothesen, die sich potentiell in sozialtechnische Handlungsanweisungen transformieren lassen; – gehen von dem Verhalten, dem Habitus und der Mentalität von Gruppen (Schichten) als elementaren Analyseeinheiten aus; – messen der Analyse des Zusammenhangs von Teil und Ganzem im Rahmen von funktionalen Erklärungen besondere Bedeutung bei und stellen hier die Relevanz des jeweiligen Systemganzen für die Systemelemente in den Vordergrund der Betrachtung. Ein Beispiel: Suizid Ein vorzügliches Beispiel für die unterschiedliche Zugangsweise zu einer sowohl höchst individuellen, als auch sehr sozialen Tatsache stellen einerseits die philosophischen und historischen, andererseits die soziologischen Darstellungen und Analysen von Selbsttötungen dar. „Manche Philosophen“, so schreibt Robert Burton in seiner 1621 erschie-
16 Vgl. in diesem Zusammenhang Mark BUCHANAN: Warum die Reichen immer reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie. Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik. Aus dem Engl. v. Birgit SCHÖBITZ, Frankfurt-New York 2008, v. a. Kap. 1. – Exemplarisch sei hier vor allem auf die Forschungen von Thomas C. Schelling zur Sozialtheorie und zu den Grundlagen des Wirtschaftshandelns hingewiesen, denen die Überzeugung zugrunde liegt, daß das menschliche Verhalten besser verständlich sei, wenn man die übliche Fixierung auf die Individualpsychologie aufgibt und stattdessen einen anderen Ansatz verfolgt: Wir müßten Menschen als Entitäten betrachten, deren Verhalten durch Normen reguliert wird, wobei es darum gehe, die Muster zu erkennen, die sich aus der Wirksamkeit dieser Normen ergeben. Scheinbar komplizierte soziale Phänomene haben Schelling zufolge oft simple Ursachen, die erkannt werden könnten, sobald wir die Gesetzmäßigkeiten erfassen, die der Ausbildung dieser Muster des zwischenmenschlichen Verhaltens zugrunde liegen. – Vgl. Thomas C. SCHELLING: Micromotives and Macrobehavior, London-New York 1978.
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nenen Anatomie der Melancholie, „zweifeln daran, ob es rechtens ist, daß ein Mensch in seinem bittersten Schmerz und Kummer Selbstmord begeht, und fragen sich, wie ein derartiges Verhalten zu bewerten sei. Die Platoniker billigen es, wenn diese oder andere zwingende Gründe vorliegen, und erklären es für rechtmäßig. Plotin und Sokrates selbst verteidigen die Tat, und bei Platon heißt es: Wenn jemand an einer unheilbaren Krankheit leidet, darf er sich zu seinem eigenen Besten das Leben nehmen. Epikur und seine Anhänger, die Zyniker und die Stoiker, sie alle verurteilen den Selbstmord nicht, und Epiktet und Seneca erklären sogar alles für erlaubt, was zur Freiheit führt: Danken wir Gott, dass niemand gegen seinen Willen zum Leben gezwungen ist […].“17 Burton verweist in der Folge auf eine Vielzahl berühmter griechischer und römischer Politiker, Philosophen und Wissenschaftler, die Suizid begingen: auf Lykurg, Aristoteles, Zenon, Chrysippos, Empedokles, aber auch Cato, Dido, Lucretia, Cleopatra, Hannibal, Junius Brutus und andere. Im Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit steht die Frage, ob der Suizid Ausdruck der sittlichen Autonomie des Menschen ist, oder ob dieser nicht vielmehr heteronom vor seinem Schöpfergott existiert. Recht verschieden von der Zugangsweise der Philosophen zum Problem des Suizids ist die der Historiker. Zunächst sei hier auf einen von ihnen Bezug genommen, der in seiner Methodenwahl stark von den frühen Soziologen des 19. Jahrhunderts beeinflußt ist, und für den der Suizid nur dem Anschein nach ein Akt der Willensfreiheit ist. Die Rede ist von Henry Thomas Buckle, der in seiner History of Civilization in England ausführte, „daß der Selbstmord lediglich das Erzeugnis des allgemeinen Zustandes der Gesellschaft ist und daß der einzelne Frevler nur das verwirklicht, was eine notwendige Folge vorhergehender Umstände ist. In einem bestimmten Zustand der Gesellschaft muß eine gewisse Anzahl von Menschen ihrem Leben selbst ein Ende machen.“18 Buckles soziologischer Determinismus ist für Historiker atypisch. Will man nämlich bezüglich eines bestimmten Aktes der Selbsttötung Aufschluß über die besondere Motivlage und Handlungssituation erhalten, dann ist von den statistischen Methoden, auf welche sich Buckle beruft, keinerlei Hilfe zu erwarten. Dem Historiker geht es nicht um Häufigkeitsverteilungen, sondern um die Absicht, mit welcher etwa Seneca aus dem Leben schied, und um die Kulturbedeutung, die dem Suizid in der römischen Antike zukam. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang das im Jahr 2007 erschienene Buch Death in Ancient Rome der britischen Althistorikerin Catharine Edwards.19 Warum, so fragt sich die Autorin in der Einleitung zu ihrem Buch, hat die Darstellung des Suizids 17 Robert BURTON: Anatomie der Melancholie (1621). Übers. u. hg. v. Ulrich HORSTMANN, Zürich-München 1988, S. 328. 18 Henry Thomas BUCKLE: History of Civilization in England, 2 Bände (1857–1861); deutsch: Geschichte der Civilisation in England. Übers. v. Arnold RUGE, Leipzig-Heidelberg 1868, Bd. 1, S. 17. 19 Catharine EDWARD: Death in Ancient Rome, New Haven 2007.
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des jüngeren Cato eine so weitreichende Nachwirkung in Literatur, Politik und Philosophie? Läßt sich aus der Bearbeitung dieser Frage Grundsätzliches über die Einstellung zu Suizid und Tod in der römischen Antike gewinnen? Wie die Autorin unter anderem zeigt, war der Vorbildcharakter des eigenen Todes tief im stoischen Gedankengut verwurzelt, weshalb man bestrebt war, den typisch stoischen Verhaltensweisen wie einem Drehbuch zu folgen – bis der „letzte Vorhang“ fiel.20 Geradezu als Idealbesetzung für Dramen oder Tragödien dieser Art erscheint Cato,21 dessen Tod, wie schon Tacitus ausführte, auch Seneca bei dessen eigener Selbsttötung ein Vorbild war. Ganz anders als die historischen sind die soziologischen Analysen des Suizids geartet. Tomáš Garrigue Masaryk mit seinem 1881 erschienenen Buch Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung und insbesondere Émile Durkheim mit seiner bahnbrechenden Studie Le Suicide aus dem Jahre 1897 sind hier als klassische Autoren zu nennen. Im Jahr 2008 ist ein Buch des Grazer Soziologen und Sozialhistorikers Carlos Watzka mit dem Titel Sozialstruktur und Suizid in Österreich erschienen,22 in welchem anhand von Analysen fallbezogener sowie aggregierter quantitativer Daten aufgezeigt wird, daß soziale Faktoren – vor allem Erwerbstätigkeit, Einkommen und Bildung – gemeinsam mit psychischen und somatischen Faktoren, nämlich Erkrankungen, einen wesentlichen Einfluß auf das Suizid-Risiko haben. Dies gilt, wie Watzka zeigt, sowohl für einzelne Personen als auch für ganze ganze Gruppen in bestimmten Regionen. In seiner Makro-Analyse gelangt der Autor zu einem Acht-Faktoren-Modell, anhand dessen gezeigt wird, daß das kollektive Bildungsniveau, das ökonomische Niveau, die demographische Entwicklung, die Erwerbsstruktur, die ethnisch-kulturelle Diversität, die Wohnstruktur, die psychotherapeutische Versorgung und die landschaftlich-topographische Struktur einen signifikanten Einfluß auf die Suizidanfälligkeit haben. – Die Mikro-Analyse wiederum, welche auf Analysen der Polizeiberichte und der Sozialversicherungsanstalten sowie auf der Todesursachenstatistik beruht, weist als wichtigstes Analyseinstrumentarium zehn Cluster als Suizid-Idealtypen auf, deren Kenntnis einen wichtigen Schritt in der zukünftigen Suizidprävention bedeutet. Daraus wird unter anderem die erhöhte Suizidhäufigkeit von älteren Menschen – vor allem von zu Depressionen neigenden Männern über 80 Jahren, die nach dem Tod des Partners in höchstem Maße als Risikogruppe gelten –, aber auch die erhöhte gruppenspezifische Suizidanfälligkeit von meist verheirateten Männern mittleren Alters mit problematischen Partnerbeziehungen deutlich. Als Berufsgruppe dominieren unter den Suizidenten die Land- und Forstwirte. Erhöht erscheint die Suizidbereitschaft beim Verlust der gewohnten Um20 Vgl. ebenda, S. 147–152. 21 Vgl. ebenda, S. 154–159. 22 Carlos WATZKA: Sozialstruktur und Suizid in Österreich. Ergebnisse einer epidemiologischen Studie für das Land Steiermark, Wiesbaden 2008.
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gebung, aber vor allem auch bei Auftreten chronischer Krankheiten und erhöhter Morbidität. Das mit dieser Studie verbundene pragmatische Erkenntnisinteresse besteht darin, durch entsprechende Typenbildungen und Generalisierungen Möglichkeiten der Suizidprävention zu ermitteln. In Watzkas Studie werden auch einschlägige Empfehlungen unterbreitet. Unter anderem könnte nach Auffassung des Autors eine verbesserte psychosoziale Grundversorgung die vergleichsweise hohe Suizidrate in bestimmten Regionen deutlich senken. Zweifellos gibt es zwischen der soziologischen und der historischen Herangehensweise eine gewisse Konvergenz vor allem in jenen Fällen, in denen sich Soziologen bei ihren exemplarischen Fallanalysen – oft im Anschluß an qualitative Interviews – narrativer Darstellungsformen bedienen.23 „Zwischen den nackten Ziffern der offiziellen Statistik und den allen Zufällen ausgesetzten Eindrücken der sozialen Reportage“ klaffe, wie Paul Lazarsfeld in der Einleitung zu der gemeinsam mit Marie Jahoda und Hans Zeisel verfaßten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal schreibt, „eine Lücke, die auszufüllen der Sinn unseres Versuches ist.“24 Der oft behauptete „Widerspruch zwischen ,Statistik‘ und phänomenologischer Reichhaltigkeit“ sei von Anbeginn dieser Studie an deshalb überwunden worden, „weil gerade die Synthese der beiden Ansatzpunkte“ den Autoren dieser Studie „als die eigentliche Aufgabe“ erschien.25 Einige Seiten später weist Lazarsfeld allerdings explizit auf die Voraussetzung dieser Synthese hin, die in dem Willen ihren Grund habe, das subjektive Moment, das jeder Beschreibung sozialer Tatbestände anhaftet, auf ein Minimum zu reduzieren, und das heißt: „alle Impressionen“ zu verwerfen, für die „keine zahlenmäßigen Belege“ gefunden werden können.26 Damit wird die Quantifizierbarkeit soziologischer Erhebungen zur Grundvoraussetzung der vorhin proklamierten Synthese und als notwendige Bedingung einer kontrollierbaren empirischen Sozialforschung angesehen.
23 Watzka sah im vorliegenden Fall von qualitativen Interviews ab, da er solche Interviews von Soziologen mit Personen, die einen Suizidversuch unternahmen, als deplaziert und deren Situation unter Umständen verzerrend ansieht. Denn Menschen, die einen solchen Versuch machten – sei es, daß sie dabei das ursprünglich gesetzte Ziel der Selbsttötung nicht erreichten, sei es, daß sie es gar nicht erreichen wollten, da ihre Handlung eher als Warn- oder Hilferuf gedacht war –, haben in der Regel kein Interesse, sich in Belangen, die Allerprivatestes betreffen, einem Soziologen mitzuteilen. 24 Marie JAHODA, Paul F. LAZARSFELD, Hans ZEISEL: Die Arbeitslosen von Marienthal (1933), Frankfurt a. M. 1975, S. 24. 25 Ebenda, S. 14. 26 Ebenda, S. 25.
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2. Zur historischen Darstellung Kant erklärte in der Nachfolge des Rationalismus, daß „eigentliche Wissenschaft nur diejenige genannt werden kann, deren Gewißheit apodiktisch ist“.27 Für die Historie ist eine derartige Forderung illusorisch. Denn sie ist weder eine aprioristische Disziplin, noch ist eine Metrisierung im Sinne der strengen Kliometrie in Anbetracht der historischen Datenlage und des Quellenbestandes realisierbar. Als eine Form menschlicher Selbstbesinnung findet sie in einer Rekonstruktion vergangenen Lebens Ausdruck, deren Sache weder die mathematische Sprache, noch auch die sogenannte Gramm-ZentimeterSekunden-Sprache des radikalen Empirismus ist. Historiker setzen andere Schwerpunkte in der Darstellung und Analyse der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt als Soziologen. Zwar sind auch sie, wie man weiß, an Gesamtgesellschaften und Nationen – ja sogar an Weltgesellschaften – interessiert, und selbstverständlich an Massen- und Gruppenphänomenen, aber – ihr bevorzugter Darstellungsbereich sind Ereignisse und die für sie zentralen Handlungen von Individuen und Gruppen in ihrer Wechselbeziehung mit Strukturen wie Recht, Politik, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft; – ihre Domäne ist die Biographie einer Person, einer Stadt, einer Region oder Nation; – ihre bevorzugte Darstellungsform ist die Erzählung, in der nicht das Erwartbare dominiert, sondern das Unwahrscheinliche, dessen mögliches Eintreten, wie schon Aristoteles bemerkte, essentiell mit der Idee des Wahrscheinlichen verbunden ist; – ihr elementarer Ansatz in Erklärungen erfolgt beim Denken, Fühlen und Wollen der historischen Akteure und ihre bevorzugte Art der Rekonstruktion von Handlungen ist die intentionale und motivationale Erklärung, die auf Handlungsziele bzw. Handlungsgründe Bezug nimmt; – sie messen, wie die Soziologen, der Analyse der funktionalen Beziehung von Teil und Ganzem eine besondere Bedeutung bei, stellen hier allerdings die Relevanz der Systemelemente für das Systemganze in den Vordergrund der Betrachtung. Ein Beispiel: Bauernkrieg Zur Veranschaulichung grundlegender Charakteristika der Historiographie und Geschichtswissenschaft soll nun auf die Ereignisse des Oberösterreichischen Bauernkriegs Bezug genommen werden, als welcher ein für die Bauern vorübergehend sehr erfolgreicher Aufstand im Jahr 1626 bezeichnet wird.
27 Immanuel KANT: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Werke, hg. von Wilhelm WEISCHEDEL, Bd. V, Wiesbaden 1957, S. 12.
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„Am Sonntag, dem 15. November 1626“, so schreibt der an der Grazer Universität tätig gewesene Historiker Karl Eder, einer der namhaftesten Erforscher der Reformationsgeschichte Oberösterreichs, „wurde zwischen Gmunden und Pinsdorf eine wütende Schlacht geschlagen, die den großen oberösterreichischen Bauernkrieg entschied. Der Sieg stand auf des Messers Schneide. Der rechte Flügel der kaiserlichen Truppen unter Oberst Löbel wich dem grimmigen Angriff der Bauern und flüchtete, verfolgt von den Bauernscharen, in die befestigte Stadt. Dagegen hielt der linke Flügel, Bayern und Kroaten unter Pappenheim, stand. Lange wogte der Kampf unentschieden hin und her. Pappenheim selbst berichtete, er habe ,nie ein hartnäckigeres, mehr disputierteres, grausameres Fechten gesehen‘. Siebenmal nacheinander erfolgten Angriffe und Gegenangriffe. Erst das Feuer einiger hundert Musketiere in die Flanke und in den Rücken der Bauern gab den Ausschlag und besiegelte ihre Niederlage. Pappenheim hing seinen Pallasch der Georgsstatue in der Pfarrkirche in Gmunden um, in der heute noch eine Marmortafel mit lateinischer Inschrift von dem Anlaß zu diesem Votivgeschenk kündet. Auf der Straße nach Pinsdorf kommt man, am Pappenheimstöckel vorbei, zum Bauernhügel der ein schlichtes Denkmal trägt, und in der Pfarrkirche zu Altmünster ruft das prächtige Denkmal des Grafen Adam von Herberstorff die Erinnerung an den Statthalter während der bayrischen Pfandherrschaft Oberösterreichs wach. Das »Ländlein ob der Enns« stand damals trotz des Dreißigjährigen Krieges im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Europas und unzählige Flugblätter und Neue Zeitungen trugen die Kunde von der großen Bauernrebellion in alle Winde.“28 Aus der subjektüberhobenen Sicht des historischen Soziologen hat der Aufstand und dessen Niederwerfung im Jahre 1626 spezifische Voraussetzungen in einem längerfristigen Prozeß, dessen Element er ist, und auch dem Ausgang dieses Geschehens kommt eine bestimmte funktionale Bedeutung für längerfristige politisch-soziale Prozesse zu. So mag ein Vertreter der historischen Soziologie mit diesem Ereignis beispielsweise auf den Wandel des Staates, den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, oder aber auf die Anfänge der Moderne in Reformation und Humanismus Bezug nehmen. Wenn nun aber der Historiker die Bilddimension und den Fokus seiner eigenen Betrachtung dadurch ändert, daß er die Vogelperspektive des historischen Soziologen wie auch die seines universalhistorisch tätigen Kollegen gewissermaßen auf das menschliche Maß herunterzoomt, dann gewinnt die in den Geschehnissen waltende historische Kau28 Karl EDER: Staat, Recht, Wirtschaft, in: Ders., Deutsche Geisteswende zwischen Mittelalter und Neuzeit (= Bücherreihe der Salzburger Hochschulwochen, VIII), Salzburg-Leipzig 1937, S. 92–105, hier S. 92. – Diese Abhandlung beruht auf dem zweibändigen Werk von Karl EDER: Studien zur Reformationsgeschichte Oberösterreichs, Erster Band: das Land ob der Enns vor der Glaubensspaltung. Die kirchlichen, religiösen und politischen Verhältnisse in Österreich ob der Enns 1490–1525, Linz 1932; Zweiter Band: Glaubensspaltung und Landstände in Österreich ob der Enns 1525–1602, Linz 1936.
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salität eine andere Feinstruktur als in der abgehobenen funktionalen Deutung. Zunächst einmal zeigt sich nämlich an dem hier gewählten Beispiel sofort, daß Bauernkrieg nicht gleich Bauernkrieg ist. Denn im Gegensatz zu den Bauernaufständen des Jahres 1525 und dem sogenannten Zweiten oberösterreichischen Bauernkrieg zwischen 1595 und 1597 hatte der Aufstand von 1626 nicht sozialrevolutionäre Gründe, sondern er richtete sich in erster Linie gegen die gewaltsame Rekatholisierung des Landes sowie gegen die bayrische Besatzung. Nachdem ihm die Stände im August 1620 notgedrungen als ihrem neuen Herrscher gehuldigt hatten, verpfändete Kaiser Ferdinand II. das damalige mehrheitlich protestantische Land Oberösterreich an seinen Jugendfreund und Vetter, den Herzog Maximilian von Bayern, als Gegenleistung für dessen Waffenhilfe. Der Statthalter des Kaisers, Adam Graf Herberstorff sowie der Kaiser selbst drängten Maximilian auf die Durchführung der Gegenreformation, dieser setzte aber erst 1624 einen ersten Schritt in diese Richtung. Im Zusammenhang mit der Einsetzung katholischer Geistlicher kam es 1625 zu verschiedenen Widerstandshandlungen, die anfangs von Herberstorff sehr milde geahndet wurden. Als im Mai 1625 in Frankenburg der protestantische Pfarrer vertrieben und ein katholischer Priester eingesetzt werden sollte, kam es zu einem Aufstand der Bauern und Bürger. Das Schloß wurde belagert und der neue Pfarrer verjagt. Herberstorff, dessen Sanftmut bei den anfänglichen Protesten vom Kaiser und vom bayrischen Herzog gerügt worden war, die ihm in Fällen protestantischen Widerstandes strenge Sanktionen, wie Aufhängen an der Straße, nahelegten, ging nun gegen die Aufrührer hart vor. Für den 15. Mai 1625 lud er sie zur großen Linde am Haushamerfeld nächst Vöcklamarkt vor und versprach ihnen bei Erscheinen Straffreiheit. Circa 5000 Bauern folgten der Aufforderung. Aufgrund eines Patents, welches Herberstorff in der kritischen Situation des März 1626 erlassen hatte, waren Bauern und Bürger entwaffnet worden; dies mit der Begründung, daß als eine Folge dessen die Anzahl der bayrischen Besatzungssoldaten in Oberösterreich verringert und damit auch die finanziellen Lasten der Bevölkerung reduziert werden könnten. Die Bauern ließ Herberstorff von einer Heerschar umstellen, und danach mußten die 36 mutmaßlichen Rädelsführer der Frankenburger Erhebung vortreten. Von bayrischen Soldaten abgeschirmt bekamen sie zunächst von Herberstorff ihre Verurteilung zum Tode mitgeteilt, danach begnadigte er jedoch die Hälfte von ihnen. Die Gnadenwahl sollte jedoch auf diese Weise erfolgen, daß die 36 Betroffenen paarweise um ihr Leben würfeln mußten. Wer die höhere Augenzahl hatte, sollte am Leben bleiben, die geringere Augenzahl kam einem Todesurteil gleich. 17 Bauern wurden sofort gehenkt, einer auf Bitten des Pflegers freigesprochen. Diese rechtswidrige Tat, das auch heute noch so bezeichnete „Frankenburger Würfelspiel“, bewirkte, daß von da an alle Sympathien für Herberstorff und auch jedes Vertrauen der Bauern geschwunden waren. Diese richteten ihr gesamtes Sinnen gegen die bayrischen Besatzer und die auch vom Kaiser befür-
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worteten Rekatholisierungsbestrebungen des Landes durch Herzog Maximilian. Vor allem waren sie jedoch bestrebt, die gehenkten Frankenburger Bauern und den schmählichen Wortbruch des Statthalters zu rächen. So ging man an die Vorbereitung des größten und blutigsten Bauernkriegs in Oberösterreich.29 Beim Versuch der Beantwortung der Frage nach den längerfristig wirksamen Ursachen der Ereignisse des Jahres 1626, als deren Auslöser das „Frankenburger Würfelspiel“ gilt, sieht sich der Historiker veranlaßt, die Fragen über den Staat, das Recht, die Wirtschaft und die Religion – also die grundlegenden Fragen zur Strukturgeschichte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit – aufzurollen, die, da sie die Grundlagen der materiellen Verfassung und der Mentalität der ländlichen Bevölkerung betreffen, nicht übergangen werden dürfen. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Aspekt der Analyse; er betrifft die Bauernkriege und die Bauern selbst in ihrer Rolle des Subjekts oder Objekts der Geschichte bzw. der historischen Darstellung. Wie verhält es sich etwa mit den charismatischen Organisatoren und Anführern des großen oberösterreichischen Bauernkriegs und ihrer Gefolgschaft? Historiker verstehen sie im Regelfall als die Akteure, wie immer auch ihr Handeln durch die strukturellen Bedingungen ihrer Zeit kanalisiert gewesen sein mag. Soziologen hingegen legen den Akzent auf das Geschehnishafte in den Ereignissen, also darauf, inwiefern auch die Helden als vermeintliche Akteure der Geschichte deren Objekte waren. Allerdings: Welcher herausragende Historiker seit Herodot hat diese Dialektik von Subjekt und Objekt, das Wesen aller tragischen Beziehungen, nicht in der Geschichte am Werk gesehen? In unserem Beispiel läßt sich diese Ambivalenz an Stefan Fadinger (alte Schreibweise: Steffan Fattinger) exemplifizieren. Fadinger plante mit seinem Schwager Christoph Zeller sorgfältig einen landesweiten Aufstand. Die Rebellion nahm am 17. Mai ihren Anfang. 40.000 Bauern des Landes ob der Enns folgten dem Aufruf ihres charismatischen Anführers Fadinger, der von ihnen am 22. Mai zum Oberhauptmann des Traun- und Hausruckviertels gewählt wurde. Bereits am 18. Mai war es den Bauern gelungen, in verschiedenen Schlössern die Rüstkammern auszuräumen und auch jene Waffen wieder zu bekommen, die sie aufgrund eines Edikts des Statthalters Herberstorff im März 1626 abgeliefert hatten. In rascher Folge eroberten sie Wels, Steyr, Kremsmünster und Freistadt und belagerten Linz. Fadinger verfügte in einer entscheidenden Situation nicht über den nötigen Weitblick, es durch rasches Handeln Herberstorff zu verunmöglichen, Linz zu befestigen. Bei der Belagerung dieser Stadt wurde er am 28. Juni 1626 auf einem Erkundungsritt an der Stadtmauer, wo er eine
29 Vgl. dazu vor allem Felix STIEVE: Der oberösterreichische Bauernaufstand des Jahres 1626, 2 Bände, Linz 1904 und 1905; Georg HEILINGSETZER: Der oberösterreichische Bauernkrieg 1626, Wien 1976; Der oberösterreichische Bauernkrieg 1626, Ausstellungskatalog, Linz-Scharnstein 1976.
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günstige Angriffsstelle auszukundschaften suchte, von Schützen, die auf dem Dach des Landhauses postiert waren, angeschossen. Schwer verwundet flüchtete er zu Fuß bis nach Ebelsberg in sein Hauptquartier, wo er am 5. Juli infolge seiner unzureichend behandelten Schußverletzung an Wundbrand verstarb. Bereits am 18. Juli wird Christoph Zeller, der Oberhauptmann der Donau-Bauern, vor Linz tödlich getroffen. Zwar erfolgt am 21. und 22. Juli die Erstürmung der Stadt Linz durch die Bauern, jedoch schon zwei Tage danach nähern sich von Osten her kaiserliche Truppen unter dem Befehl von Hans Christian Löbel und Weikhard von Auersperg. Löbel stößt mit seiner Reiterei bis nach Linz vor, desgleichen starke bayrische Verbände von Nordwesten. In der Folge fällt Stadt um Stadt in die Hände der kaiserlichen Truppen. In mehreren Schlachten werden die Bauern geschlagen bis sie sich am 15. November zu jener Entscheidungsschlacht formieren, von der zu Beginn die Rede war. Fünf Tage nach dieser entscheidenden Niederlage der Bauern bei Pinsdorf ist der große oberösterreichische Bauernkrieg zu Ende. Von dem Bauernheer von etwa 40.000 Mann waren ca. 12.000 gefallen. Es folgten Verhöre und Hinrichtungen, die sich nicht nur auf die Anführer der militärischen Verbände der Bauern erstreckten, sondern auch – die Bauernführer selber waren Analphabeten – auf jene Teile der städtischen Intelligenz, welche ihnen als Glaubensgenossen zu Hilfe kamen, um für sie vor allem Beschwerdebriefe zu verfassen und die entsprechenden Kanzleiarbeiten zu führen. Die sterblichen Überreste Fadingers ließ Herberstorff am Eferdinger Friedhof exhumieren, enthaupten und mit dem Leichnam Christoph Zellers im Seebacher Moos bei Eferding verscharren. Über deren Grab wurde ein Galgen „zu ihrem ewigen schändlichen Nachgedenken“ errichtet, Fadingers Hof wurde niedergebrannt, seine Familie „auf ewig“ des Landes verwiesen. – Stefan Fadinger, die zentrale Erscheinung des großen oberösterreichischen Bauernkriegs, wurde zu einer legendenumwobenen Gestalt. Der Tod, den er für seine Überzeugung erlitt, und der Haß der Sieger über sein Ende hinaus mögen Gründe dafür sein, daß er zu einer geradezu mythischen Figur geworden ist.30 Für den Soziologen sind Fragen von der Art müßig, wie Fadinger glauben konnte, den radikalen Gegenreformator Ferdinand II. von der Loyalität der protestantischen Bauern überzeugen zu können; oder auch Fragen nach den moralischen Motiven, welche die nach der Niederlage der Bauern hingerichteten Stadtschreiber von Steyregg und den Richter von Lasberg veranlaßten, sich den Aufständischen anzuschließen und ihre Fähig30 Die Erinnerung an die blutigen Jahre 1625 und 1626 lebt fort in mundartlicher Dichtung, in Romanen, aber auch in dem Schauspiel Das Frankenburger Würfelspiel, das seit 1925 alle zwei Jahre mit ungefähr vierhundert Darstellern – darunter zahlreiche Nachfahren der damals verurteilten Bauern – am ehemaligen Originalschauplatz zur Aufführung gelangt. Bis zum Ende der habsburgischen Herrschaft, blieb die Erinnerung an diese düstere Zeit zwar beständig im Gedächtnis des Volkes erhalten, wurde jedoch nur mit größter Scheu offen zur Sprache gebracht und verschiedentlich nur ungern gehört.
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keiten in deren Dienst zu stellen. Und doch interessieren gerade Fragen dieser Art den Historiker, der sich einen Sinn für Irrglauben, Mut und vergebliches Leiden erhalten hat und nicht nur für die Faktizität oder „Vernünftigkeit“ des in der Geschichte wirklich Gewordenen. Seine Nahsicht und Bezogenheit auf individuelle Verhaltensweisen, Handlungsgründe und Motive gestatten es ihm, ein schärferes Bewußtsein von der Kontingenz und Zufälligkeit des Geschehens in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt zu entwikkeln als dies dem Soziologen im allgemeinen möglich ist. In diesem sehr anthropologischen Sinne wird Historie wohl immer „Individualwissenschaft“ bleiben, wenn sie dies auch niemals mehr als ihre einzige und dabei die generalisierenden Aspekte etwa der Soziologie und Volkswirtschaftslehre vernachlässigende Aufgabe ansehen wird. Anders die Soziologie. Wichtigen ihrer Vertreter zufolge zeitigen, wie schon erwähnt, gleiche menschliche Eigenschaften nur durch die unterschiedlichen Interaktionsstrukturen, in denen sich Menschen befinden, unterschiedliche Effekte. In diesem Sinne erklärt etwa Mark Buchanan, der Soziologie gehe es – metaphorisch gesprochen – darum, „herauszufinden, wie Atome miteinander reagieren und all die uns bekannten Substanzen erzeugen – klebrige oder klitschige, leitfähige oder isolierende. Diamanten funkeln nicht, weil ihre Atome das tun würden, sondern weil sich diese einzelnen Teilchen nach einem ganz bestimmten Muster anordnen – und das gilt ebenso für den Menschen und seine soziale Welt.“31
IV. Anthropologische Konzepte der Soziologie Drei anthropologische Konzepte der Soziologie sind es, von denen im folgenden ausgegangen wird, um so das für historische Darstellungen charakteristische Menschenbild deutlicher davon unterscheiden zu können: der entfremdete Mensch, der Durchschnittsmensch und das Rollensubjekt.
1. Der entfremdete Mensch Die frühe, noch eng mit Fragen der Ethik und Geschichtsphilosophie verbundene Soziologie wollte dazu beitragen, dem einzelnen Menschen zur Einsicht in jene Bedingungen zu verhelfen, unter denen es ihm möglich sein kann, selbstgewählte Ziele zu verwirklichen. Sowohl in Gegenstellung zu illusionären Voluntaristen als auch zu Apologeten des Unverfügbaren, welche zu einer apathischen oder schicksalsergebenen Haltung durch
31 BUCHANAN 2008 (Anmerkung 16), S. 33.
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einen Glauben an die Prädetermination aller Handlungen und Geschehnisse gelangten, eröffneten die Hauptvertreter der frühen Soziologie eine neue Sicht auf die gesellschaftlich-geschichtliche Welt. Die schottischen Aufklärer in der Tradition von David Hume – allen voran Smith, Ferguson, Sinclair und Millar – trugen dazu bei, die „unsichtbare Hand“ in ihrer Wirksamkeit zu erkennen, auch wenn sich deren Bewegungen nicht exakt vorhersagen lassen. Saint-Simon und Comte wiederum waren bestrebt, durch Einsicht in die Struktur- und Entwicklungsgesetze der Geschichte dem Einzelnen seinen Platz im historischen Prozeß zuzuweisen, ihn aber damit zugleich vor schädlichen voluntaristischen Allmachtsphantasien zu bewahren.32 Und schließlich war es die linkshegelianische Tradition in Deutschland, die sich mit Erfolg Hegels Auffassung, wonach die Voraussetzung für freies Handeln die Einsicht in die „Notwendigkeit“ der jegliches Handeln ermöglichenden Bedingungen sei, für die Analyse politischer, ökonomischer, sozialstruktureller und kultureller Verhältnisse zu eigen machte. Für die Vertreter aller drei Hauptströmungen der frühen Soziologie war das Bestreben charakteristisch, undurchschaute Prozesse begreiflich machen zu wollen. Daß der Soziologie diese Orientierung verschiedentlich abhanden gekommen ist und nicht wenige ihrer Vertreter später eher die Anerkennung der sogenannten sozialen „Faktizitäten“ und die Anpassung an diese favorisierten, als deren Genese und Wirkung zu studieren, mindert nicht den Wert und die heuristische Fruchtbarkeit der ursprünglichen Forschungsansätze. Mit ihnen verbindet sich das Bemühen, die zwar dem menschlichen Handeln entspringenden, sich ihm aber zunehmend entfremdenden, weil undurchschaubar gewordenen Verhältnisse wieder begreifbar, dadurch aber potentiell veränderbar zu machen.
2. Der Durchschnittsmensch Wie bereits Robert Musil erkannte, kommt es in einer Zeit, in der die Erhebung von Durchschnittswerten sich schon aus sozialtechnischen Gründen als unverzichtbar erweist, zunehmend weniger „auf unsere persönliche, einzelne Bewegung“ an. Und daher radikalisiert auch der „Mann ohne Eigenschaften“ den Sachverhalt moderner Lebensverhältnisse folgendermaßen: „Wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und 32 Friedrich H. Tenbruck machte in diesem Zusammenhang eine wertvolle Beobachtung: „Die Soziologie verdankte sich nicht, wie es oft heißt, einer gesellschaftlichen Krise; solche hatte es immer gegeben; sie verdankte sich auch nicht, wie Comte meinte, dem fortgerückten Wissensstand. Sie verdankte sich vielmehr der Entdekkung einer grundsätzlich unberechenbaren sozialen Wirklichkeit. Ihr fiel somit die seltsame Aufgabe zu, eine Gesellschaft, die auf die Dauerregelung ihrer Ordnung verzichtet hatte, berechenbar zu machen.“ – Friedrich TENBRUCK: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 195.
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handeln, neu oder alt, unberechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns.“33 Auch Adolphe Quételet war es auf diesen angekommen. In einer Reihe von Abhandlungen aus den frühen 1830er Jahren formte dieser ehemalige belgische Hofastronom und danach wohl berühmteste sozialwissenschaftliche Forschungstechniker des 19. Jahrhunderts, den Durchschnittsmenschen, den homme moyen. In seiner Physique sociale, einer im Jahr 1869 publizierten Neufassung des Buches Sur l’homme aus dem Jahr 1835 erscheint eine moralische Tatsache als normal für einen bestimmten sozialen Typus, wenn sie im Durchschnitt jener Gattung beobachtet wird, welche der Typus repräsentiert; sie ist hingegen pathologisch, wenn sie vom Durchschnitt abweicht. Der Wissenschaftler im Sinne Quételets dekretiert nicht Normen, er ermittelt Verhalten und gewinnt so seine normativen Überzeugungen aus induktiven Generalisierungen des Seienden: Statistische Seins-Normen werden zu Sollens-Normen. Dieser „demokratischen“ Methode kam zur Zeit Quételets hohe moralische Bedeutung zu, und auch heute ist mit ihr ein politischer Nutzungswert verbunden: er besteht in der aus demoskopischen Umfragewerten abgeleiteten Politik. Derartiges ist, wie Friedrich H. Tenbruck einmal nicht ohne Grimm bemerkte, „auf geistig unselbständige Menschen zugeschnitten, die mit der Aussicht auf die Befriedigung ubiquitärer Wünsche zufrieden sind, ohne einen Maßstab zu entbehren, der diesen Velleitäten erst Halt und der Einrichtung der Verhältnisse erst Sinn verleihen könnte.“34
3. Das Rollensubjekt Nicht einhellig fallen unter Soziologen die Antworten auf die Frage aus, ob Individuen, die ja Inhaber mehrerer, oft recht unterschiedlicher sozialer Positionen sind – Vater, Parteimitglied, Verkäufer, Angehöriger eines Fußballclubs etc. –, durch ihre Rollen definiert und bestimmt sind, oder ob das Individuum zwar ein Ensemble aller durch es repräsentierten Rollen, aber darüber hinaus noch etwas ist. Erving Goffman neigt beispielsweise der ersten Annahme zu, Georg Simmel und Ralf Dahrendorf der zweiten. Nach Dahrendorf werden, wie er in seiner berühmten Studie Homo Sociologicus darlegt, Exkulpationsstrategien in der judiziellen Praxis zu einem Problem, die den Delinquenten nur als Resultierende der aus seinem sozialen Umfeld auf ihn einwirkenden normativen Erwartungen begreifen: „Schon finden unsere Gerichte es in zunehmendem 33 Robert MUSIL: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. I, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 491. 34 Friedrich H. TENBRUCK: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz-Wien-Köln 1984 (= Herkunft und Zukunft, II), S. 195.
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Maße schwierig, hinter dem erklärenden Gutachten sozialwissenschaftlicher Experten noch eine Schuld des Angeklagten zu ermitteln. Jede, auch die unmenschlichste Bewegung wird für den soziologisch geschulten Journalisten und seine Leser zu einer ,notwendigen‘ Konsequenz angebbarer Ursachen und Konstellationen. Der Punkt ist nicht fern, an dem der aller Individualität und aller moralischen Verantwortung bare homo sociologicus in der Perzeption der Menschen und damit für ihr Handeln den freien, integren Einzelnen, der der Herr seines Tuns ist, ganz ersetzt hat.“35 Wie Quételet aus dem Durchschnitt ein normatives Prinzip ableitete, das Normale sogar mit jenem identifizierte, so erfolgt im eben erwähnten Fall eine Bestimmung der Persönlichkeitsmerkmale durch die auf den Menschen einwirkenden sozialen Kräfte oder Vektoren.36 Wenn man den Menschen lediglich als Resultierende seiner sozialen Herkunft und seiner sozialen Rolle (also der auf ihn bezogenen normativen Erwartungen anderer) begreift, dann werden nicht bloß Einschränkungen der individuellen Autonomie sichtbar, sondern diese erscheint insgesamt nur mehr als illusionärer Freiheitsschimmer einer über den Einzelnen verhängten Notwendigkeit. Der „Mensch als Person verschwindet“ jedoch, wie Friedrich Tenbruck ausführt, „wenn Handeln zur Ausführung von Rollen, Erziehung zur Sozialisation, Sozialisation zur Einübung von Verhaltensmustern, Verbindlichkeiten zu sozialen Normen, Gewissen und Verantwortung zu gesellschaftlichen Verkehrsregeln, Verfehlungen zu abweichendem Verhalten herabsinken. Denn nun fehlt das, wodurch der Mensch solchen gesellschaftlichen Zusammenhängen immer voraus ist: sein eigenes Wollen.“37 Während sich ein Soziologe mit den „objektiven“ Korrelationen zwischen Umständen und äußeren Verhaltensweisen begnügen kann, muß der Historiker außer den natürlichen und sozialen Umständen auch die „subjektive“ Befindlichkeit von Gruppen oder Individuen in Betracht ziehen. In der Handlungssituation ist noch vieles möglich, was im Rückblick oft als notwendig erscheint. Ähnlich wie der kanadische Philosoph William H. Dray den Unterschied von Analysen herausarbeitete, deren Autoren das eine Mal danach fragen, warum ein Ereignis der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt notwendigerweise so und nicht anders eintrat, während andere zu wissen wünschen, wie jenes Ereignis möglich wurde,38 unterscheidet auch Golo Mann in der Logik der historischen Erklärung zwei grundlegend verschiedene Betrachtungsweisen: „Es ist, rein logisch, und Logik hat 35 Ralf DAHRENDORF: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 15. Aufl., Opladen 1977, S. 90. 36 Im Sinne Georg Simmels war hingegen der homo sociologicus nur als ein typisiertes Konstrukt aufzufassen, an dem uns reale Menschen – Verwandte, Freunde, Kollegen – verständlich werden sollten, und dies vor allem auch dann, wenn sie von der Typisierung abweichen. 37 TENBRUCK 1984 (Anmerkung 34), S. 233f. 38 Vgl. William DRAY: “Explaning What” in History, in: Patrick GARDINER (Hg.): Theories of History, Glencoe 1959, S. 403–408; Ders.: Philosophy of History, Englewood Cliffs, N. J., 1964, v. a. S. 18–20.
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hier Bedeutung, ein Unterschied zwischen ,unvermeidlich hervorbringen‘ oder ,zur Verursachung beitragen‘ auf der einen Seite, und, ,nicht verhindern‘, ,nicht unmöglich machen‘ auf der anderen Seite.“39 Mann, der sich als Anwalt des historischen Möglichkeitssinnes versteht, moniert an bestimmten Sozial- und Geschichtstheoretikern, die den Wirklichkeitssinn zu einem Determinationsglauben denaturieren und im nachhinein alles im voraus gewußt haben wollen, daß sie den Eintritt von Ereignissen als notwendig behaupten, obschon sich bloß zeigen lasse, daß diese nicht verhindert wurden – und zwar oft deshalb, weil man sie für unmöglich hielt.40 Vielleicht ist es der große Erfolg der Naturwissenschaften, welcher bereits bestimmte Vertreter des geschichtsphilosophischen und materialistischen Determinismus im 18. und 19. Jahrhundert nachhaltig beeindruckte, der dazu führt, daß auch heute vereinzelt noch Sozialisationstheoretiker dem Sozialdeterminismus anhängen, wobei sie die Befassung mit Handlungsgründen und Motiven durch die Erforschung von Ursachen ersetzen. Und doch nehmen zahlreiche Naturwissenschaftler dem Determinismus gegenüber eine von ihren unkritischen Anhängern aus der sozialwissenschaftlichen Zunft abweichende Haltung ein. Denn aus der Geschichte der Naturwissenschaften läßt sich lernen, daß der Begriff „Determinismus“ in einer Zeit geprägt wurde, als die „Notwendigkeit“ als Manifestation der über alles Geschehen herrschenden „deterministischen“ Naturgesetze41 angenommen wurde. Nach der „probabilistischen Revolution“, welche im 19. Jahrhundert in der statistischen Mechanik ihren deutlichsten Ausdruck fand und entsprechenden Entwicklungen in der Quantenphysik und der Evolutionsbiologie den Weg bahnte, würde kaum einem Naturwissenschaftler die Verwendung des Begriffs „Determinismus“ im Zusammenhang mit so hochkomplexen, hochvernetzten, nichtlinearen Systemen wie Gehirnen oder menschlichen Gesellschaften in den Sinn kommen.42 Sozialwissenschaftler sollten daher den Begriff des Determinismus nicht im Zusammenhang mit 39 MANN 1979 (Anmerkung 13), S. 52. 40 So führt Golo Mann an der vorhin zitierten Stelle aus: „Hitlers Abenteuer war beinahe unmöglich und wurde Wirklichkeit, gerade weil es den Zeitgenossen unmöglich schien: den alten deutschen Mächten, den konservativen oder reaktionären zuerst, den Engländern und Franzosen dann. Hätten sie es für möglich oder wahrscheinlich gehalten, dann hätten sie anders gehandelt und hätten es unmöglich gemacht.“ 41 Da in vielen Fällen diese Gesetze wiederum als Manifestationen des göttlichen Willens angesehen wurden, konnte die Doppelfunktion des Ausdrucks „Gesetz“ – als normative Setzung und als deskriptive Generalisierung von typisierten Zuständen und Ereignissen – für Jahrhunderte die Köpfe verwirren. 42 Zwar herrschen Gesetze auch in der menschlichen Gesellschaft und in der Geschichte, aber ein Gesetz der Gesellschaft oder der Geschichte zu behaupten, welches die individuellen und kollektiven Handlungen bestimmt, ist widersinnig. Bestimmt werden komplexe Prozesse nämlich von Anfangs- und Randbedingungen, die zu den verschiedenen Gesetzen, wie sie im Sozialgeschehen wirksam sind, hinzutreten müssen. Solche Randbedingungen, die bekanntlich in hohem Maße von Menschen selbst hergestellt oder durch sie modifiziert werden können, müssen zu den im Sozialgeschehen wirksamen Gesetzen hinzutreten, um einen Prozeß zu „determinieren“, können aber aus den Gesetzen niemals abgeleitet werden.
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komplexen Vorgängen verwenden, wie umgekehrt Naturwissenschaftler nicht in der Raum-Zeit-Sprache die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und Lassen zu erörtern berufen sind. Man darf vermuten, daß auch diesen leidigen Praktiken häufig die Konfundierung der Begriffspaare „Indeterminismus – Determinismus“ und „Freiheit – Zwang“ zugrunde liegt.
V. Historie und literarische Form Golo Mann erntete – auch von Historikern – einige Kritik, als er einmal erklärte, für ihn sei die „Historie […] eine Kunst, die auf Kenntnissen beruht“.43 Mit dieser Auffassung war er nicht allein. Der 1970 verstorbene amerikanische Historiker Richard Hofstadter hat in einem ehemals vielbeachteten Aufsatz über das Verhältnis von Geschichte und Sozialwissenschaften gemeint, daß die nächste Generation möglicherweise die Entwicklung einer neuen historischen Gattung, nämlich „eine Mischung aus traditioneller Geschichte und Sozialwissenschaft“ erleben werde. Diese neue Art von Historie werde primär analytisch ausgerichtet sein, werde sich aber zugleich deutlicher als „literarische Form“ bestimmen lassen.44 Was die Erschließung individueller und kollektiver mentaler Befindlichkeiten anlangt, so erfaßten immer wieder Dichter und Schriftsteller die menschliche Wirklichkeit anschaulicher und oft zutreffender als die Mehrheit der mit Geschichte und Gesellschaft befaßten Wissenschaftler. Von Shakespeare, über Balzac und Tolstoi, bis Doderer, Vonnegut und Solschenizyn reicht der große Bogen solcher Autoren. In manchen Fällen allerdings kommt Historikern selbst literarische Meisterschaft zu. In besonderem Maße gilt dies etwa für Theodor Mommsen, der 1902 für seine Römische Geschichte den Nobelpreis für Literatur erhielt und von dem Adolf Harnack 1903 in der Grabrede sagen konnte, daß in seinem Werk alles, was in ihm selber lebte, beteiligt gewesen sei: „der Philologe, der Jurist, der Politiker und nicht zum mindesten der Poet. Hier hatte ein Künstler einen großen Stoff erfaßt und ihm Maß und Ordnung, Schwungkraft und Schönheit verliehen.“45 Die Kunst der historischen Darstellung bezieht zeitlich verschieden gelagerte Ereignisse aufeinander: einmal so, daß das frühere im Lichte des späteren erscheint (Retrospektivität), dann aber auch so, daß das spätere Ereignis als eine unter mehreren mög43 MANN 1979 (Anmerkung 13), S. 53. 44 Vgl. Richard HOFSTADTER: Geschichte und Sozialwissenschaften, in: Fritz STERN (Hg.): Geschichte und Geschichtsschreibung. Möglichkeiten – Aufgaben – Methoden. Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 1966, S. 369–381, hier S. 373. 45 Zitiert nach dem Deckblatt des dritten Bandes der Römischen Geschichte von Theodor MOMMSEN, München 1976.
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lichen Optionen begriffen wird, die letztlich Wirklichkeit wurde (Prospektivität). Abwechselnd wird der Historiker dabei auch die Perspektive nicht nur hinsichtlich der Zeitrichtung, sondern auch hinsichtlich der Beobachtungshöhe ändern. Die jeweilige gegenstandsadäquate Distanz macht auch den Unterschied in der sprachlichen Form: Die Vogelschau von Strukturen und Prozessen bedient sich der Beschreibung, die Nahsicht kommt nicht ohne Erzählung aus. Und in ihr begegnen einander Historie und Dichtung. Angesichts der stets unvollständigen Quellenlage, aber auch wegen des unverzichtbaren kompositorischen Erfordernisses ist die Historie in hohem Maße ein Akt der produktiven Phantasie. „Was ich historisch aufbaue“, so erklärte Jacob Burckhardt einmal, „ist nicht Resultat der Kritik und Spekulation, sondern der Phantasie, welche die Lücken der Anschauung ausfüllen will. Die Geschichte ist mir noch immer großenteils Poesie; sie ist mir eine Reihe der schönsten malerischen Kompositionen.“46 Ähnliches meinte wohl auch Theodor Mommsen mit seiner Bemerkung in seiner Rektoratsrede aus dem Jahre 1874, der Geschichtsschreiber gehöre „vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten“.47 Dies ist natürlich nicht als ein Plädoyer für freilaufende Rhetorik zu verstehen. Mag eine solche in der Historie auch manche Vorzüge haben – sie kann den Leser emotional bewegen, erschrecken und verzücken –, so verfehlt sie doch das eigentliche Ziel, wenn sie uns nur zu emotionalisierter Schau, nicht aber zu anschaulicher Erkenntnis und freier Beurteilung von Ereignissen und Sachverhalten verhilft. Erst diese Qualität hebt sie heraus aus der Masse des propagandistischen, aber auch des rein fiktionalen Schrifttums. So ist zwar nach aller Quellensammlung, Quellenauswahl und Quellenkritik der für den Historiker letzte und entscheidende Schritt stets ein Akt der produktiven Phantasie, aber dennoch unterscheidet sich die Historie von der literarischen Kunst, wie Ernst Cassirer bemerkte, in einer wesentlichen Hinsicht: „Das Leben bleibt im Lichte der Geschichtsschreibung ein großes realistisches Drama mit all seinen Spannungen und Konflikten, seiner Größe und seinem Jammer, seinen Hoffnungen und Illusionen und all den Kräften und Leidenschaften, die dabei zutage treten. Dieses Drama wird jedoch nicht nur empfunden, sondern in der Anschauung erkannt.“48 Diesen Sachverhalt hat Jacob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen in die bekannten Worte gekleidet, daß dem Historiker das, was „einst Jubel und Jammer war, […] nun Erkenntnis werden“ muß.49 Von Erwägungen dieser Art sind Soziologen im allgemeinen frei und unbelastet, und sie können es auch ohne schlechtes Gewissen bleiben.
46 47 48 49
Zit. nach Karl JOËL: Jacob Burckhardt als Geschichtsphilosoph, Basel 1918, S. 73. Theodor MOMMSEN: Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 11. CASSIRER 1990 (Anmerkung 6), S. 313. Vgl. Jacob BURCKHARDT: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Rudolf MARX, Stuttgart 1978, S. 10f.
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VI. Zu Tendenzen einer Vereinseitigung innerhalb der Kulturwissenschaften heute Geschichtsbewußtsein ist immer ein auf zukünftige Optionen gerichtetes Gegenwartsbewußtsein in historischer Perspektive. Seinen zweifachen Zeitbezug – von der Vergangenheit zu unseren gegenwärtigen Zukunftsentwürfen, und umgekehrt von einer bestimmten Zukunftsoption in die Richtung des uns an der Vergangenheit interessant Erscheinenden – bringt das bekannte Wort von Wilhelm Dilthey aus dem Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck: „Was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung der Vergangenheit.“50 So diktiert die Gegenwart die Fragen im Blick auf das, was uns in der Vergangenheit als bedeutsam erscheint, wie umgekehrt das von uns in der Vergangenheit als bedeutsam Anerkannte das Spektrum unserer Zukunftsoptionen und die Wahl ihrer Inhalte mitbedingt. Nun wird allerdings den Geisteswissenschaften, vornehmlich ihren historischen Disziplinen, wie bereits einleitend festgestellt wurde, derzeit von Seiten der maßgeblichen europäischen Forschungsorganisation, der „European Science Foundation“, angesonnen, sich so in „zukunftsgerichtete Aktivitäten“ integrieren zu lassen, daß es „zur Produktion neuen Wissens und verbesserten Verstehens“ kommt.51 Heißt das, daß Diltheys „Bestimmung der Bedeutung der Vergangenheit“ nun nur mehr sub specie futuri erfolgen soll? Was andererseits die von europäischen Großforschungsgremien befürwortete Kooperation innerhalb der Kulturwissenschaften – also von Geistes- und Sozialwissenschaften im allgemeinen und von Historie und Soziologie im besonderen – betrifft, so ist eine solche, ganz im Sinne der bisherigen Ausführungen, durchaus zu befürworten. Aber Kooperation darf nicht auf eine Assimilation oder Absorption der Geistes- durch die Sozialwissenschaften beziehungsweise der Historie durch die Soziologie hinauslaufen. (Bekanntlich ist ja schon bei vielen Kooperationen einer der Partner vom anderen über den Tisch gezogen worden.) Man veranschauliche sich die Beziehung zwischen beiden durch zwei interferierende Kreise, die im Laufe der Zeit mehr und mehr zusammengerückt sind und ein fast elliptisches Erscheinungsbild ergeben. Die beiden Brennpunkte der Ellipse sind aber nach wie vor deutlich voneinander getrennt – und sie mögen dies aus einer ganzen Reihe von Gründen auch bleiben. Wo kämen denn gerade die zukunftsorientierten Anwälte der neuen Wissenschaftspolitik hin, wenn sie sich auf die Herstellung kongruenter Kreise verlegten! Sie entsprächen damit einer wirklich alten, nämlich pythagoräischen Auffassung von der Idealität der Kreisform bzw. der Kugelgestalt, die noch dazu, wie uns das Beispiel der Astronomie bis zu Kepler zeigt, viele Jahrhunderte lang irrige Konklusionen zur Folge hatte. 50 Wilhelm DILTHEY: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Hg. von Manfred RIEDEL, Frankfurt a. M. 1979, S. 288f. 51 Siehe dazu bereits oben S. 568.
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Vielleicht klingen für einige die in der publizistischen Öffentlichkeit gelegentlich vernehmbaren alarmistischen Töne von Vertretern verschiedener historischer Disziplinen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften übertrieben, und vielleicht gerade in solchen Ländern, wo man es – etwa im Unterschied zu Frankreich – nicht gewöhnt ist, daß die namhaftesten Intellektuellen außeruniversitär tätig sind und für sie daher das Verlagswesen wichtiger als das Universitätswesen ist.52 Und doch ist das schwindende Geschichtsbewußtsein inmitten des permanenten Wandels nicht belanglos. Die Historie scheint in einer intensiv mit Gegenwarts- oder Zukunftsproblemen befaßten Welt an den Hohen Schulen ihre traditionelle Stellung zu verlieren. Zwar wird von ihr noch erwartet, in einem ganz bestimmten Sinn – nämlich in dem des Vermeidungslernens – magistra vitae, also Lehrmeisterin für das Leben, sein zu können: sie soll sich vor allem der Darstellung von Ereignissen zuwenden, mit welchen man in Zukunft nicht mehr zu tun haben möchte, wie mit Sklavenarbeit, Hexenprozessen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc. Gleichzeitig damit wird jedoch unter dem Diktat von „Kreativität“ und „Innovation“ anderen geistigen und geschichtlichen Beständen im Gedächtnis unserer Kultur immer weniger Aufmerksamkeit zuteil. Man achte nur einmal darauf, wie es in Deutschland oder in Österreich beispielsweise um Lehrstühle für Ideen- oder Geistesgeschichte, für Wissenschaftsgeschichte, aber auch für Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bestellt ist! Wie zu vermuten ist, geht es daher auch bei den Direktiven sowohl der nationalen als auch der EU-Forschungspolitik nur vordergründig um methodologische Fragen; allzu deutlich sind die von Seiten der Wissenschaftspolitik kommenden Hinweise auf den fehlenden Anwendungsbezug der Geisteswissenschaften, also die fehlende „Finalisierung“. Die einschlägigen vor einigen Jahrzehnten von links vorgetragenen Anregungen wirken heute kaum noch nach, wurden aber jetzt von Seiten der staatlichen Wirtschaftspolitik in umgepolter Form revitalisiert: Die Pflege von Musik, bildender Kunst und Literatur gilt nicht mehr als intrinsischer Wert, sondern wird lediglich in ihrer funktionalen Bedeutung „als entspannendes Durchatmen zur Leistungssteigerung“53 aufgefaßt, die philosophische Selbstbesinnung wird transformiert zur Psychohygiene, und die Historie entwe52 Vielleicht sind die zum Ausdruck gebrachten Besorgnisse aber auch übertrieben, weil man noch unzureichend wahrgenommen hat, welche Möglichkeiten der öffentlichen Wirksamkeit Historikern zur Verfügung stehen. So könnte beispielsweise das mit der Stillung des öffentlichen Bedürfnisses nach Schau berufsmäßig befaßte Fernsehen in höherem Maße als bisher Historiker als Kommentatoren seiner visualisierten Botschaften benötigen. Das wäre unter Umständen sogar der Volkspädagogik zuträglich, zumal doch die Maxime der medialen Wirklichkeitserfahrung lautet: „nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in televisione“. Vielleicht ist der Historiker dann dafür zuständig, jener doppelten Suche nach der vergangenen Zeit und der künftigen Geschichte nachzugehen, welche dem immer wiederkehrenden öffentlichen Bedürfnis einerseits nach Nostalgie, andererseits nach utopischem Denken Rechnung trägt. 53 Vgl. Rolf STÜRNER: Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie, München 2007, S. 129.
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der zum stimulierenden Kuriositätenkabinett oder zur Quelle eines psalmodierenden „Nie wieder!“ Aber natürlich soll Historie, solcherart verstanden als moralische Anstalt, auch wieder nicht dazu führen, daß der zukunftsorientierte Zeitgenosse sich durch Jeremiaden von dem durch Wettbewerb und Spaß54 bestimmten Heilsweg unserer Wohlstandsgesellschaft abbringen läßt.
Schlußbemerkungen Erst vor kurzem hat der Jurist Rolf Stürner auf einige krisenhafte Entwicklungen Bezug genommen, die mit der gesellschaftlich betriebenen Förderung eines Menschentyps einhergehen, dem der Wert jeglicher Bildung nur über deren Preis zugänglich ist, und Stürner führt dazu aus: „Wo die Gesellschaft […] den Schwerpunkt ihrer Grundverfassung allein auf die Organisation gewinnorientierten Wettbewerbs legt, fördert sie die Zerstörung ihres eigenen Menschenbilds. Seine Pflege bedarf einer materiellen Basis staatlich organisierter Solidarität. Sie darf nicht dem Zufall kapitalkräftiger Privatinitiative überlassen bleiben. Dies aber bedeutet Verantwortung dafür, dass z. B. Philosophie, Literatur, Kunst oder Geschichte an Hochschulen noch ausreichende Pflege erfahren und dass ethischer und musischer Unterricht an Schulen – wiewohl von Pisa nicht abgeprüft – noch mit dem nötigen Gewicht stattfindet […].“55 Derartiges hätte man früher nicht nur von Geisteswissenschaftlern erfahren können. Für den historisch gebildeten Ökonomen Joseph Schumpeter beispielsweise hätte Stürners Befund als eine Selbstverständlichkeit gegolten. Zudem hat er bereits 1942 in seinem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie unter anderem die Frage erwogen, ob es nicht gerade der Erfolg einer bestimmten Variante des Kapitalismus ist, der jene kulturellen Voraussetzungen erodiert, auf denen dieser Erfolg beruht. Schumpeter, der in der Breite seiner Interessen Max Weber verwandt war und der Tradition altösterreichischer humanistischer Bildung lebenslang verbunden blieb, wäre es heute wohl ein Bedürfnis, nicht ohne Sarkasmus darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung menschlicher Zivilisation nicht nur geprägt ist von vermarktungsfähigen natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch von den großen Leistungen der Vergangenheit und ihrer durch die Historie erfolgenden Vergegenwärtigung. Ein solches Praktischwerden von Kenntnissen und Erkenntnissen liefe allerdings nicht immer nur auf Sozialtechnik im Sinn von Applied Sciences 54 Kaum jemals in der jüngeren Geschichte war es so leicht wie heute, in großer Zahl Vertretern jenes Menschentyps zu begegnen, den Max Weber einmal als „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ charakterisierte. – Vgl. Max WEBER: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 6. Aufl., Tübingen 1972, S. 204. 55 STÜRNER 2007 (Anmerkung 53), S. 305.
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hinaus, sondern vor allem auf die Umwandlung von Fachwissen in Bedeutungswissen, welches dann, wie Friedrich Tenbruck einmal bemerkte, „ein gebildetes Publikum erreicht, nicht um ,verwertet‘, sondern um ,beherzigt‘ zu werden.“56 Drei wichtige Aufgaben sind es, welche die Historie in diesem Zusammenhang erfüllen kann: – Sie liefert zunächst den Nachweis dessen, was der Mensch im Guten wie im Bösen zu leisten vermag, aber auch dessen, was seine Kräfte übersteigt. – Indem sie uns dabei die Vielheit menschlichen Daseins zugänglich macht, befreit sie uns sodann von den Vorurteilen des Augenblicks und lehrt uns zugleich sehen, inwiefern wir dem uns zeitlich fern Erscheinenden verwandt sind. – Schließlich aber ist die Historie die wichtigste kritische Instanz in der Sicherung des Anspruchs auf Fairness gegenüber vergangenen Zeiten inmitten der herrschenden Selbstgefälligkeit der eigenen Zeit. Kaum jemals wurde dieser Intention auf schönere Weise Ausdruck verliehen als durch Leopold von Ranke in seiner Abhandlung „Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahr 1618“: „[…] zur Vertheidigung derjenigen, die sich nicht mehr vertheidigen können, die Wahrheit an’s Licht zu bringen, werde ich immer für eine der wichtigsten Pflichten der Historie halten.“57 Aus Gründen der Moralität, wenn nötig, der moralischen Rechthaberei der eigenen Zeit entgegenzutreten – dieses Geschäft wird dem Historiker weder vom Soziologen noch von irgendeinem anderen Sozialwissenschaftler so leicht abgenommen werden können.
56 TENBRUCK 1989 (Anmerkung 32), Seite 182. 57 Leopold von RANKE: Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahr 1618, Berlin 1831, S. 44.
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Ernst Topitsch † Pluralismus und Toleranz*
Wenn wir uns heute in der westlichen Welt und besonders in der Bundesrepublik zu Pluralismus und Toleranz bekennen, so geschieht dies vor allem in bewußter Distanzierung von den totalitären Systemen, wo es nur eine einzige, für alle verbindliche Ideologie gibt und abweichende Meinungen oft mit der größten Rücksichtslosigkeit unterdrückt werden. Die Älteren unter uns erinnern sich noch mit Beklommenheit an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und wir alle sind nach wie vor [1983, d. Hrsg.] durch den totalitären Marxismus bedroht. Doch wenn wir noch weiter in die Zwischenkriegszeit zurückblicken, so gab es damals zwar noch keinen etablierten Totalitarismus, aber nicht sehr viel Toleranz. Im Deutschland der Weimarer Ära, aber auch in vielen anderen europäischen Staaten existierte eine Mehrzahl von Weltanschauungsparteien, ja regelrechten Parteikirchen, die eine fast religiöse Unfehlbarkeit in Anspruch nahmen und diese Ansprüche mit Hilfe von paramilitärischen Verbänden durchzusetzen suchten. Da waren nicht nur SA und SS und ihr kommunistischer Widerpart, sondern auch der Stahlhelm und das Reichsbanner, in Österreich der Schutzbund, die Heimwehr und die Ostmärkischen Sturmscharen, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Atmosphäre eines latenten, aber immer wieder auch in offene Gewalttätigkeit ausbrechenden Bürgerkrieges war eine Folge der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges und der wirtschaftlichen Depression. Nach einer kurzen Erholungsphase in den späten zwanziger Jahren brachte die große Wirtschaftskrise eine erneute Verschärfung der Lage, die 1933 in Deutschland und 1938 nach dem Zwischenspiel des christlich-autoritären (klerikofaschistischen) Ständestaates auch in Österreich zur nationalsozialistischen Machtergreifung führte. Die Erfahrung des nationalsozialistischen Schreckensregimes und – wenigstens in den ersten Jahren – die Vormundschaft der westlichen Siegermächte bestimmten bei uns dann das geistige und politische Klima der Nachkriegsjahre. Viele, die einander in der vorfaschistischen Ära erbittert bekämpft hatten, waren dann gemeinsam in den Konzentrationslagern gewesen und dieses Schicksal führte zu gegenseitigem Verständnis. Aber auch die drängenden Probleme des Wiederaufbaus waren nur in gemeinsamer Anstrengung zu bewältigen und die über das Kriegsende hinaus fortwirkende militärische Disziplin brachte die Bereitschaft und Fähigkeit zu konzentrierter Leistung als wei-
* Ursprünglich erschienen in: Pluralismus und Toleranz. Alternative Ideen von Gesellschaft, Köln 1983 (= Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, 21), S. 9–28.
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teren Beitrag zur Bewältigung der gewaltigen Aufgaben. So ergab sich aus dem gemeinsamen generationsprägenden Erlebnis des Totalitarismus und der eindeutigen Vorgabe der wesentlichen Ziele in der damaligen Situation ein Grundkonsens, der etwa für die beiden Jahrzehnte von 1945 bis 1965 maßgebend blieb. Demokratie, Pluralismus und Toleranz waren ebenso unangefochten wie die Einsicht, daß wirtschaftlicher Wohlstand nur durch Leistung erworben und gesichert werden kann. Damit soll die damalige Zeit nicht einfach nostalgisch verklärt werden. Der nachwirkende Schock der Gewaltherrschaft, die Konzentration auf die unmittelbaren Aufgaben des Wiederaufbaus und nicht zuletzt der Verlust zahlreicher geistig bedeutender Persönlichkeiten, die in die Emigration gezwungen worden waren, hatten zu einem fühlbaren Mangel an frischen intellektuellen Impulsen geführt, zu einer restaurativen Stagnation, die mancherorts geradezu erstickende Formen annahm. Doch mit der Zeit verblaßte die Erinnerung an die totalitäre Unterdrückung, der ökonomische Aufschwung hatte in dem heute schon wieder mythisch gewordenen „Wirtschaftswunder“ eindrucksvolle und mitunter auch problematische Formen angenommen und den aus dem Kriege noch einmal Davongekommenen folgten die Kinder des Wohlstandes, die durch völlig entgegengesetzte generationsprägende Erfahrungen bestimmt waren. So kam es zu einer Erosion der Grundüberzeugungen, auf denen die Ära des Wiederaufbaus beruht hatte. Die Geborgenheit in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und die Früchte von zwei Jahrzehnten härtester Arbeit wurden von jenen, die Krieg, Not und Diktatur nur mehr vom Hörensagen kannten, zugleich als Selbstverständlichkeiten hingenommen und einer Kritik unterzogen, die von mäkelndem Naserümpfen bis zu geifernder Wut reichte. Im Zeichen von Marx, Mao und Marcuse lief man auf einmal gegen eine Gesellschaftsordnung Sturm, die den Deutschen mehr Freiheit, soziale Sicherheit und Wohlstand gebracht hatte als irgendeine andere in ihrer ganzen Geschichte. Von Jugendarbeitslosigkeit war zu dieser Zeit noch nicht die Rede, ja die Personalbearbeiter suchten an den Hochschulen nach guten Absolventen, denen Anfangsbedingungen geboten wurden, von welchen wir Älteren seinerzeit kaum zu träumen gewagt hätten. Doch sollte man auch berücksichtigen, daß diese Generation keine Vergleichsmöglichkeiten mehr hatte und daß das Anspruchs- und Bequemlichkeitsdenken von den Maßgebenden gefördert wurde. Parteien und Gewerkschaften wetteiferten darin, den Menschen vorzugaukeln, man könne dauernd für immer weniger Leistung immer mehr Vergütung verlangen, und es gab Politiker, die lieber ihre Großmutter dem Teufel verkauft hätten als einen einzigen Jungwähler zu vergrämen. Dazu kamen aber auch Ermüdungs- und Fäulniserscheinungen unter den Älteren, wie Korruption und Filzokratie. Die Demoralisierung, über die wir heute klagen, beruht leider auch auf dem schlechten Beispiel von oben. So wurden die Grundlagen untergraben, auf denen sich der Auf-
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stieg Deutschlands aus Schutt und Asche zur führenden Wirtschaftsmacht Europas vollzogen hatte: die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung, die nach den Apokalypsen des Krieges und der Gewaltherrschaft das Unterpfand einer besseren Zukunft bilden sollte und in erheblichem Maße auch wirklich gebildet hat, und der unpathetische Leistungswille der desillusionierten, auf die harten Tatsachen zurückgeworfenen Generation der Überlebenden. Damit erscheint auch die Frage nach Pluralismus und Toleranz heute in einem anderen Licht als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. War es damals noch die selbstverständliche Bewegungsfreiheit in einem weit gesteckten, aber allgemein anerkannten Rahmen, so wird nun dieser Rahmen selbst in Zweifel gezogen, ja unter dem Schlagwort „Systemüberwindung“ bekämpft. Hatten seinerzeit jene Grundsätze eine im wesentlichen integrierende Funktion, so drohen sie heute in gewisser Hinsicht zum desintegrierenden Faktor zu werden. So ist es deutlicher geworden, daß diese Grundsätze nicht isoliert, sondern jeweils nur innerhalb eines bestimmten geschichtlich-gesellschaftlichen Rahmens betrachtet und beurteilt werden müssen. Das gilt auch und vor allem auf religiösem Gebiet, wo schon im alten Mesopotamien oft eine erstaunliche Toleranz herrschte, die freilich nicht so sehr auf moralischen oder humanitären wie auf politischen Motiven beruhte. Gefördert wurde diese Einstellung auch durch die Tatsache, daß der Vielgötterglaube in dieser Hinsicht von vorneherein wesentlich elastischer war als der Monotheismus mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch des einen und einzigen Gottes. So konnten sich die jeweils dominierenden Völker und Staaten darauf beschränken, ihren eigenen Göttern den Vorrang vor denjenigen der Unterworfenen oder in Abhängigkeit Gebrachten zuzuschreiben, und sahen sich daher kaum veranlaßt, fremde Religionen in ihrem Machtbereich auszurotten. Ja, man war nicht selten bestrebt, die fremden Priesterschaften durch Zusage der Schonung und durch Bestätigung ihrer Privilegien zu gewinnen, um mit ihrer Hilfe die in Abhängigkeit gebrachten Völker besser beherrschen zu können. Eine solche Politik wurde beispielsweise auch vom Perserreich gegen die Griechen betrieben, und zwar anfangs mit einem gewissen Erfolg: Die delphische Orakelpriesterschaft neigte deutlich dazu, sich mit der Großmacht zu arrangieren, in der sie schon den voraussichtlichen Sieger erblickte. Erst die unerwarteten militärischen Abwehrerfolge der Griechen ließen auch das Orakel von Delphi wieder auf deren Seite einschwenken. In ähnlicher Weise hat später Alexander der Große die religiösen Überzeugungen und Institutionen der eroberten Länder nicht zu unterdrücken oder zu zerstören, sondern für seine Zwecke auszunützen gesucht. Beispielsweise hat er sich durch das ägyptische Ammon-Orakel als Sohn des Gottes huldigen lassen oder in Babylon dem Stadtgott Marduk geopfert. Auf einer ähnlichen Linie lag die Religionspolitik des römischen Imperiums. Zwar waren die Römer als Eroberer und Herren alles eher als zimperlich,
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doch auf dem Gebiete der Religion zeigten sie eine erstaunliche Weitherzigkeit. Wenngleich einflußreiche Kreise das Eindringen fremder, besonders orientalischer Religionen in die Hauptstadt mißbilligten und bekämpften, so war man doch in der Regel bereit, die lokalen und nationalen Gottheiten in den Provinzen anzuerkennen und ihre Verehrung zu dulden – wenigstens sofern die Oberhoheit des Kaisergottes nicht in Frage gestellt wurde. Nur wer die Herrscheranbetung und damit die Anerkennung der Staatsreligion verweigerte, wurde bestraft. Doch diese Herrscheranbetung war eher eine Bekundung politischer Loyalität als ein Ausdruck religiösen Glaubens oder ein Mittel religiöser Heilssuche. Wer diesen weder kostspieligen noch beschwerlichen Akt vollzog, konnte im übrigen unangefochten den Göttern seiner Heimat oder einem der zahlreichen orientalischen Kulte huldigen. Gewiß wurde diese Toleranz besonders in der Zeit der Pax Romana auch durch die damals verbreitete humanitäre Zeitstimmung gefördert, im wesentlichen aber bildete sie ein Mittel der Integration der vielen Völkerschaften in das Reich. Damit soll das vorchristliche Altertum nicht als Paradies der Toleranz verklärt werden. Religiöse Verfolgungen hat es auch damals immer wieder gegeben, aber sie richteten sich meist gegen Leute, die sich nicht in die politische Ordnung fügen wollten. Sogar in der ziemlich weitherzigen Demokratie Athens hat man mißliebige Persönlichkeiten nicht selten wegen Asebie, wegen Gottlosigkeit, angeklagt. Im Sinne der Toleranz wirkten oft auch wirtschaftliche Gegebenheiten, besonders der Fernhandel. In den großen Handelszentren kamen Menschen verschiedenster nationaler Herkunft und religiösen Glaubens zusammen, um ihre Geschäfte abzuwickeln. So lernten sie einander kennen und respektieren, durch die Handelsreisen weitete sich der Gesichtskreis und wuchs das Verständnis für fremde Art, zumindest aber konnte man es sich nicht leisten, die Geschäftspartner in ihren religiösen oder sonstigen Gefühlen zu verletzen. Damit gewann die Wirtschaft eine Mittlerfunktion zwischen den Völkern und den Glaubensüberzeugungen, deren Bedeutung man keineswegs als gering einschätzen sollte. Andererseits darf auch die Kehrseite nicht übersehen werden: Nicht selten hat der ökonomische Konkurrenzkampf auch nationale oder religiöse Gegensätze erheblich verschärft. Doch unser Thema ist in der europäischen Geschichte unlösbar mit dem Christentum verbunden, denn die Klagen über die Intoleranz und der Ruf nach Toleranz sind in unserem Erdteil vor allem aus den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen. Diese blutigen Auseinandersetzungen waren aber nicht etwa erst späte Entartungserscheinungen, sondern im Grunde bereits durch den christlichen Anspruch auf Ausschließlichkeit und Universalität von Anfang an vorgegeben. Gewiß hatte schon Jahwe im Alten Testament gefordert: Du sollst keine Götter neben mir haben, aber der jüdische Glaube war auf das jüdische Volk beschränkt, es fehlte ihm die missionierende Dynamik des paulinischen Christentums. Doch die neue Religion, die mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch aus der Enge einer jüdischen Sekte in die Weite des Imperium
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Romanum hinaustrat, bildete als solche eine herausfordernde Neuheit, die sich nicht in die traditionelle römische Religionspolitik integrieren ließ. So stand auch der römische Staat dem neuen Phänomen mit einer Verlegenheit gegenüber, die bald zur Duldung, bald zur Verfolgung neigte. Im Laufe der Zeit wurde aber offenkundig, daß der sich immer weiter ausbreitende Glaube nicht mehr mit Gewalt zu unterdrücken war, und aus dieser Erkenntnis zog Kaiser KONSTANTIN mit dem Toleranzedikt von Mailand im Jahre 313 die Konsequenz. Wie sehr aber auch dieser Akt politisch gedacht war, zeigt am deutlichsten die Tatsache, daß der Herrscher auch eine entscheidende Stellung in der Kirche anstrebte: Auf dem ersten ökumenischen Konzil von Nicaea führte er – obwohl noch Heide – den Vorsitz. Zu Ende des Jahrhunderts war aber nicht das Christentum in das Reich integriert, sondern es hatte das Reich erobert. 392 wurden die heidnischen Opfer verboten und die olympischen Spiele zum letztenmal gefeiert, und 529 setzte Kaiser Justinian den Schlußpunkt: Nach rund 900 Jahren ihres Bestehens wurde die platonische Akademie in Athen als letztes Zentrum der vorchristlichen antiken Kultur durch kaiserlichen Befehl aufgelöst. Sicherlich wäre es abwegig, dem kirchlichen Christentum die Schuld an aller Intoleranz in Europa zuzurechnen, aber daß es die Toleranz gefördert hätte, wäre eine ebenso kühne Behauptung. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen, sondern auch und vor allem für die innerchristlichen Kämpfe von den ersten Streitigkeiten über das Gottmenschentum Jesu Christi und die Deutung der Dreifaltigkeit bis zu dem Ringen zwischen Reformation und Gegenreformation, von dem ja Deutschland in besonderem Maße betroffen war. Freilich muß man sich auch hier vor einer einseitigen Betrachtungsweise hüten. In ihrer Auseinandersetzung mit der griechischen bzw. hellenistisch-römischen Kultur hatten die christlichen Theologen und Philosophen viel von dieser aufgenommen und in ihr Weltbild integriert, ja die Geisteswelt des christlichen Mittelalters hat vielleicht mehr vom antiken Erbe bewahrt als den Menschen damals bewußt war. Aber auch auf niedrigerem Niveau hat es die Kirche verstanden, älteres Gedankengut zu integrieren, etwa durch die Umdeutung alter lokaler und regionaler Gottheiten in Lokalheilige oder Landespatrone, darüber hinaus aber durch die Duldung eines Volksglaubens, der vorchristliches Gedankengut unter einem oft nur sehr dünnen christlichen Firnis bewahrte. Doch alle diese positiven Aspekte, die durchaus noch vermehrt werden könnten, ändern nichts daran, daß die Idee der Toleranz in Europa aus den Kämpfen der christlichen Konfessionen, den Bluthochzeiten der Religionskriege und dem Widerstand gegen dogmatischen Geistes- und Gewissenszwang hervorgegangen ist. Nun spielen konfessionelle Gegensätze heute bei uns – in Irland ist es beispielsweise noch anders – kaum mehr eine wesentliche Rolle. Aber in den totalitären Bewegungen und Systemen unseres Jahrhunderts wirken die alten Absolutheitsansprüche mit anderen Vorzeichen,
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aber in mitunter sogar verschärfter Form weiter. Man sollte nicht vergessen, was der angesehene evangelische Theologe Emil Brunner dazu im Jahre 1943 schrieb: „Die Kirche, die sich heute über ihre Vergewaltigung durch den totalen Staat mit Recht beklagt, sollte nie vergessen, daß sie zuerst es war, die dem Staat das schlechte Beispiel der Gewissensvergewaltigung gab, indem sie mit staatlicher Macht das sicherstellen wollte, was nur freier Entscheidung entspringen kann. Die Kirche sollte sich zu ihrer Beschämung stets daran erinnern lassen, daß sie fast in allen Stücken die erste Lehrmeisterin des totalen Staates war.“1 Diese Beobachtung wird übrigens von maßgebender katholischer Seite bestätigt. In seinem mit kirchlicher Druckerlaubnis erschienenen großen Werk Der dialektische Materialismus (1952) stellt der Jesuitenpater Gustav A. Wetter bedeutsame Strukturähnlichkeiten zwischen dem Katholizismus und dem Sowjetsystem fest. „Man hat oft auf den ,religiösen‘ Charakter des Bolschewismus hingewiesen und auf die mitunter auffallende Ähnlichkeit zwischen seinen Lehren und Institutionen und gewissen Lehren und Einrichtungen des Christentums, vor allem wiederum der Katholischen Kirche. Viel mehr noch als wissenschaftliche Lehre ist der Bolschewismus tatsächlich pseudoreligiöser Glaube, ja atheistische Erlösungslehre. Ihr Ausgangspunkt ist die gefühlsbetonte Erkenntnis einer Welt, die ,im Argen liegt‘ und die es zu ,erlösen‘ gilt. Den Weg zu dieser ,Erlösung‘ hat Marx gefunden, und seine Entdeckung erhält geradezu den Charakter einer regelrechten ,Offenbarung‘: sie ist nicht zufällige Denkleistung eines genialen Menschen, die an sich auch jemand anderer zu anderer Zeit hätte machen können; sie ist vielmehr das notwendige Produkt eines objektiv vor sich gehenden sozialen Entwicklungsprozesses, eine Entdeckung, die nur in dem einen bestimmten Entwicklungsstadium erfolgen konnte, als die ,Fülle der Zeit‘ eingetreten war. Dementsprechend ist auch das subjektive Verhalten zu diesem ,Offenbarungsgut‘ durchaus dem Bereich des Religiösen entlehnt. Niedergelegt in vier ,kanonischen‘ Texten, Marx-Engels-LeninStalin, ist es einem ,unfehlbaren Lehramt‘ anvertraut in Gestalt des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei und ,persönlich des Genossen Stalin‘. Aufgabe des einzelnen Sowjetphilosophen ist es nicht etwa, dieses Lehrgut zu bereichern und zu vermehren, sondern lediglich die Menschen seine Anwendung auf alle Lebensbereiche zu lehren und durch ,Entlarvung‘ von ,Häresien‘ für seine Reinhaltung zu sorgen. Dabei unterstützt ihn das authentische Lehramt fallweise durch öffentliche Verdammung von Irrlehren. Hat das Lehramt gesprochen, so ist es die Pflicht des überführten Häretikers, sich zu ,unterwerfen‘ und seiner Irrlehre abzuschwören; versäumt er diese Pflicht, so wird er ,exkommuniziert‘. Dem bolschewistischen ,Offenbarungsglauben‘ wohnt überdies noch ein echter missionarischer Dynamismus inne: als einzig wahre und alleinseligmachende
1 E. BRUNNER: Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung, Zürich 1943, S. 68 f.
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,Religion‘ strebt er naturnotwendig danach, sich über die ganze Welt auszubreiten, um die ,im Schatten der Finsternis‘ und im ,Unglauben‘ Schmachtenden zu ,erleuchten‘. In alle Welt entsendet die bolschewistische ,Propagandakongregation‘ ihre ,Missionare‘, die Sowjetemissäre. Neben dieser ,Glaubenslehre‘ fehlt aber dem Bolschewismus auch nicht sein ,Kult‘: man braucht nur etwa an die Aufmärsche und Paraden an den großen ,Feiertagen‘ zu denken, an den Stalinkult, der geradezu die Formen religiöser Gottesverehrung annimmt, an das Leninmausoleum, zu dem ,Wallfahrten‘ unternommen werden und das der Schauplatz einer regelrechten ,Reliquienverehrung‘ ist, u. dgl. mehr.“ Der italienische Autor Guido Manacorda, den Wetter bald darauf zustimmend zitiert, hat sogar die Formel geprägt, der Bolschewismus sei „ein Christentum, ja mehr noch, ein Katholizismus, aber umgestülpt wie ein Handschuh“.2 Seither hat sich in der Sowjetwelt zwar manches geändert, aber der Ausschließlichkeitsanspruch der Staatsideologie wird nach wie vor aufrechterhalten. Die strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Nationalsozialismus sind nicht so offenkundig, vor allem auch deshalb, weil dieser keine Zeit hatte, sich in vergleichbarer Weise dogmatisch zu verfestigen, und seine Ideologie eher ein Sammelsurium recht verschiedenartiger Gedankenfetzen darstellte, aus dem kaum etwas wie ein geschlossenes System zu fabrizieren war. Im übrigen sprechen auch manche Indizien dafür, daß sich Hitler in ideologischer Hinsicht nicht zu sehr festlegen wollte, um seine Handlungsfreiheit nicht einzuschränken. Doch hat der „Führer“ trotz seines antichristlichen Affektes die organisatorischen Leistungen der Kirche als vorbildlich betrachtet. Das hat er auch, wie Hermann Rauschning berichtet, im engeren Kreis offen ausgesprochen: „Die katholische Kirche ist schon etwas Großes. Herr Gott ihr Leut’, das ist eine Institution und es ist schon was, an die zweitausend Jahre auszudauern. Davon müssen wir lernen.“3 So hat denn auch der Nationalsozialismus einiges von dieser Seite übernommen oder kopiert, etwa die Heranziehung des Führernachwuchses der Partei und ihrer Gliederungen auf sogenannten Ordensburgen. Doch viel wichtiger ist das, was Hitler vom Bolschewismus übernommen hat. Davon aber später mehr. Dieser historische Rückblick zeigt deutlich, daß Pluralismus und Toleranz nur dort Aussicht auf Bestand haben, wo alle oder doch die wichtigsten Beteiligten damit einverstanden sind. Es handelt sich hier eben grundsätzlich um ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, bei welchem die gemeinsamen Interessen stärker sind als die kontroversen. So bestand in den erwähnten alten Großreichen oft – nicht immer – ein zumindest stillschweigender Konsens zwischen der Herrschermacht und den lokalen oder regionalen
2 G. A. WETTER: Der dialektische Materialismus, Wien 1952, S. 577 ff. 3 H. RAUSCHNING: Gespräche mit Hitler, Wien-Zürich-New York o. J., S. 53.
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Priesterschaften, denen Toleranz als Gegenleistung für Loyalität geboten wurde. Dementsprechend war auch in den Handelsstädten das beiderseitige Interesse an vorteilhaften Geschäften wichtiger als die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen. Ohne eine solche gemeinsame Basis der Gegenseitigkeit ergibt sich ein oft verhängnisvolles Ungleichgewicht. Wenn die eine Seite entschlossen ist, ihren Standpunkt oder ihre Interessen unter allen Bedingungen durchzusetzen, dann bleibt der anderen nur die Wahl, Widerstand zu leisten oder sich zu unterwerfen. Diese Tatsache ist für das Verhältnis zwischen freiheitlich-demokratischer und totalitärer Politik von grundlegender Wichtigkeit, und wenn sie unterschätzt oder vernachlässigt wird, so kann das sehr leicht das Ende jeder liberalen Demokratie bedeuten. Daher kann die Toleranz nie eine absolute sein, ohne zur schweren Gefährdung und sogar zum Untergang jener zu führen, die sie üben. Das haben schon die klassischen Autoren gewußt, die sich für sie einsetzten, etwa der englische Philosoph John Locke in seinem Essay on toleration von 1667 und seiner Epistola de tolerantia von 1685. Bei aller Weitherzigkeit sollen eine Reihe von Meinungen nicht toleriert werden, die nach Auffassung des Autors die Staatsordnung untergraben oder das menschliche Zusammenleben unmöglich machen würden. Fernerhin sind religiöse Gemeinschaften nicht zu dulden, die solche Meinungen zwar nicht als allgemeingültig behaupten, für sich selbst aber das Vorrecht beanspruchen, in gewissen Fällen von den notwendigen Gesetzen der Gesellschaft entbunden zu sein, etwa indem sie lehren, man sei Ketzern gegenüber nicht an die Grundsätze von Treu und Glauben gebunden oder das Eigentumsrecht sei den von Gott Begnadeten vorbehalten. Von der Toleranz ausgenommen ist auch die katholische Kirche. Sie kann im Staate nicht geduldet werden, da ihre Angehörigen durch ihren Glauben gleichzeitig einem auswärtigen Souverän – dem Papst – verpflichtet sind. Schließlich haben auch die Atheisten keinen Anspruch auf Toleranz, da die Leugnung des Daseins Gottes mit der Leugnung aller menschlichen Verpflichtung gleichbedeutend ist. Es ist im gegebenen Zusammenhang weder möglich noch notwendig, näher auf die politische und geistesgeschichtliche Situation einzugehen, aus der damals Lockes Schriften hervorgegangen sind. Nur die Grundlinien seiner Argumentation sollen noch kurz skizziert werden. Sie stützt sich im wesentlichen darauf, daß die religiöse Toleranz zum Schutze eines übergeordneten gemeinsamen Gutes erforderlich ist. „So ist der Schutz des Lebens der Menschen und der Dinge, die zu diesem Leben gehören, die Aufgabe des Gemeinwesens, und die Sicherung des Eigentums an diesen Dingen ist die Pflicht der Obrigkeit. Daher kann die Obrigkeit diese weltlichen Dinge nicht diesen Menschen oder dieser Partei nehmen und sie jenen geben, noch eine Änderung des Eigentums unter Mituntertanen (nicht einmal durch ein Gesetz) bewirken, wenn der Grund, nämlich ihre Religion, keine Beziehung auf den Zweck des bürgerlichen Lebens hat. Denn ob diese bei den einen wahr oder falsch ist, das tut den weltlichen Belangen von deren Mitunter-
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tanen, die allein unter die Obhut des Gemeinwesens gehören, keinen Abbruch.“4 Fernerhin ist Locke bestrebt, die Differenzen zwischen den einzelnen religiösen Gruppen – mit der schon erwähnten Ausnahme des Katholizismus – als nicht sehr groß und für das praktische Leben nicht sehr wichtig erscheinen zu lassen. Schließlich gilt sein Interesse vor allem dem Verhalten der Staatsmacht zu den verschiedenen Religionen, nicht aber so sehr den Beziehungen dieser Religionen zueinander. So berührt der Philosoph auch kaum den wichtigen Sachverhalt, daß die verschiedenen Glaubensvereinigungen zwar stets bereit sind, Toleranz jeweils für sich selbst zu verlangen, aber nur wenig geneigt, ihren Konkurrenten denselben Rechtstitel zuzuerkennen. Gerade hier aber liegt eine der wesentlichsten Schwierigkeiten, die erst Friedrich Nietzsche mit der notwendigen Folgerichtigkeit herausgearbeitet hat. Bei Locke war die Toleranz noch durchaus im Sinne der politischen Integration verstanden worden: Indem die Staatsmacht die religiösen Überzeugungen ihrer Untertanen respektiert, gewinnt sie deren Loyalität. „Wenn nun diejenige Kirche, die in ihrer Religion mit dem Fürsten übereinstimmt, als die Hauptstütze einer jeden Staatsgewalt erachtet wird, […] wieviel größer wird die Sicherheit der Regierung sein, wo alle gutwilligen Untertanen, zu welcher Kirche sie auch gehören, ohne Unterschied der Religion dieselbe Gunst des Fürsten und dieselbe Wohltat der Gesetze genießen und ihre gemeinsame Stütze und Wache werden, und wo niemand einen Anlaß haben wird, die Strenge der Gesetze zu fürchten außer denen, die ihren Nächsten Unrecht tun und gegen den bürgerlichen Frieden verstoßen.“5 Doch eine solche Harmonie ist nur dort denkbar, wo die Staatsmacht den einzelnen Religionsverbänden mit souveräner Überlegenheit gegenübersteht und keiner dieser Verbände den Willen und die Möglichkeit hat, sich ihrer zu bemächtigen, um dann die übrigen religiösen Gruppen zu unterdrücken. Eine Fülle von Beispielen für ein solches Vorgehen konnte übrigens bereits Locke der Geschichte und der eigenen Gegenwart entnehmen. Vielleicht nicht als erster, aber mit einer kaum mehr zu übertreffenden Klarheit hat dann Friedrich Nietzsche die Strategie jener bloßgelegt und bloßgestellt, welche für sich selbst die Toleranz beanspruchen, so lange sie nicht an der Macht sind, aber dann, wenn sie die Macht ergriffen haben, allen anderen die Toleranz verweigern. In einem solchen Zusammenhang sind dann die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit (wenigstens der Möglichkeit nach) „maskierte Arten des Willens zur Macht“ auf seinem Weg nach oben. „Christentum, Revolution […], gleiche Rechte […], Friedensliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit: alle diese großen Worte haben nur Wert im Kampf, als Standarte: nicht als Realität, sondern als Prunkworte, für etwas ganz anderes, (ja Gegen4 J. LOCKE: Ein Brief über Toleranz, hg. v. J. EBBINGHAUS, Hamburg 1957, S. 89. 5 Ebd., S. 103.
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sätzliches!).“ In der „Metamorphose des ,Willens zur Macht‘ seitens derer, denen sie fehlt“, sind vier Stufen zu unterscheiden. „Auf der ersten verlangt man ,Gerechtigkeit‘ von seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man ,Freiheit‘, das heißt, man will ,loskommen‘ von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man ,gleiche Rechte‘, das heißt, man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen. Auf der vierten Stufe will und hat man schließlich ,die Macht allein‘.“ 6 Diese Beobachtungen Nietzsches rechtfertigen nun gewiß keine allgemeine Ablehnung der Grundsätze von Freiheit und Toleranz, doch sie sind eine massive Warnung vor dem, was sich unter Umstanden dahinter verbergen kann, besonders vor jedem revolutionären Utopismus, mag dieser auch hinter einem noch so dichten Schleier humanistischer und emanzipatorischer Phrasen daherkommen. Dabei ist die machtpolitische Zielsetzung solcher Bestrebungen in der Regel nicht so gut getarnt, daß sie dem kritischen Betrachter unerkennbar wäre, mitunter liegt sie sogar ganz offen zutage. Die meisten Revolutionäre und Utopisten haben nämlich in ihren Zukunftsvisionen für sich selbst eine, ja oftmals d i e schlechthin dominierende Rolle reserviert und nur die wenigstens hatten die geistige Selbstdisziplin, in der künftigen Gesellschaft bloß eine bescheidene Stellung für sich zu beanspruchen. Oft sahen sie sich als künftige Herrscher oder Mentoren. Der Frühsozialist Cabet betrachtete sich als Gesetzgeber seiner „Icaria“ und Marxens Rivale Wilhelm Weitling als schwertbewehrten Messias einer weltweiten Communia. Und der deutsche Utopist Johann Valentin Andreae erklärt schon auf den ersten Seiten seiner Christianopolis (1619), er habe sich diese Stadt ersonnen, um dort die Diktatur ausüben zu können.7 Ähnliches gilt für Karl Marx, dessen Lehren von Anfang an durch ein untergründiges, aber dominierendes Streben nach totaler Macht bestimmt sind. Der Ausschließlichkeitsanspruch des Kommunismus ist nicht etwa erst das Ergebnis einer späteren Entartung, sondern die kirchenartige Institutionalisierung in der sowjetischen Staatsscholastik ist bloß die folgerichtige Fortentwicklung von Ansätzen, die bis in die Frühschriften des Meisters zurückreichen. Das hat nicht etwa erst die französische „Philosophie nouvelle“ der letzten Jahre erkannt. Vielmehr berichten schon seine Zeitgenossen in geradezu monotoner Übereinstimmung von dem schroff autoritären, absolut intoleranten und keinen Widerspruch duldenden Auftreten des Revolutionärs aus Trier, und manche von ihnen haben auch bereits erkannt, daß auch dessen Geschichts- und Gesellschaftstheorie in letzter Linie auf die Befriedigung seiner totalen Machtansprüche abzielt. So schrieb etwa Michael Bakunin: „Die Ausdrücke wissenschaftlicher Sozialist
6 F. NIETZSCHE: Der Wille zur Macht, Musarion-Ausgabe, Bd. XIX, S. 190, Bd. XVIII, S. 64, 66, 158. 7 Melvin J. LASKI: Utopia and Revolution, London 1976, S. 11f.
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und wissenschaftlicher Sozialismus, die unaufhörlich in den Schriften der Marxisten wiederkehren, beweisen durch sich selbst, daß der sogenannte Volksstaat nichts anderes sein wird als die despotische Regierung der proletarischen Massen durch eine neue und sehr beschränkte Autokratie von wahren und vorgeblichen Wissenschaftlern.“8 Es liegt auf der Hand und hat sich auch immer wieder gezeigt, daß es unmöglich ist, solche Kräfte in eine pluralistische Gesellschaftsordnung zu integrieren. Wenn derartige Bewegungen mitunter bereit erscheinen, sich in diese Ordnung einzufügen, so kann das nicht mehr sein als ein zeitweiliges taktisches Manöver, das dem langfristigen Ziel der totalen Machtergreifung völlig untergeordnet bleibt. Ein Pluralismus, der das übersieht, unterschreibt damit leicht sein eigenes Todesurteil. Wie sehr ein extremer Pluralismus besonders in Krisensituationen zur Selbstzerstörung führen kann, zeigt das Schicksal der Weimarer Republik mit aller Deutlichkeit. Deren schließlicher Untergang wurde noch zusätzlich durch die Tatsache gefördert, daß es in Deutschland nur relativ schwache demokratische Traditionen gab und die schwere Wirtschaftskrise der beginnenden dreißiger Jahre auch zu einer radikalen Legitimitätskrise führte, da das damalige Parteiensystem nicht mehr in der Lage schien, mit den ökonomischen Schwierigkeiten fertig zu werden. Diese Situation kam den totalitären Kräften der Rechten wie der Linken zugute, die übrigens in einigen Fällen zum Sturz der Demokratie zusammenarbeiteten. Sieger blieb schließlich Hitler, der es besser verstand, die Sorgen und Ängste weiter Bevölkerungskreise für seine Zwecke auszunützen und – im Gegensatz zu den kommunistischen Klassenkampfparolen – die Überwindung der politischen Zerrissenheit und des sterilen Parteienhaders in einer harmonischen Volksgemeinschaft versprach. Dabei bediente sich dieser Meister der Demagogie vielfach einer Technik des Machtkampfes und der Machtbehauptung, die er vom revolutionären Marxismus übernommen und zum Teil sogar weiterentwickelt hatte. Die weitschichtige theoretische Literatur der Marxisten hat er allerdings kaum gekannt und wenig geschätzt – das alles war für ihn bloß „jüdisch-talmudische Dogmatik“. Sehr wohl aber hat er mit seiner – wie dies der seinerzeitige Generalstabschef Franz Halder formuliert hat9 – fast tierisch feinen Witterung für Machtverhältnisse den machtpolitischen Kern der marxistischen Theorien klar erfaßt und die praktischen Methoden der militanten Linken genau studiert. Das hat der „Führer“ – wie Rauschning berichtet – im vertrauten Kreise auch offen ausgesprochen: „Ich habe von den Bolschewiken gelernt. Ich scheue mich nicht, es zu sagen. Man lernt immer am meisten von seinen Feinden.“ So konnte er auch vom Marxismus sagen: „Der ganze Nationalsozialismus steckt da drin. Sehen Sie nur genauer zu. Arbeiterturnvereine, Betriebszellen, Massenaufmärsche, Propagandaschriften 8 M. BAKUNIN: Staatlichkeit und Anarchie, Berlin 1972, S. 234. 9 F. HALDER: Hitler als Feldherr, München 1949, S. 22.
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eigens für das Verständnis der Masse verfaßt; alle diese neuen Mittel des politischen Kampfes gehen ja im wesentlichen auf die Marxisten zurück. Ich brauchte nur diese Mittel zu übernehmen und zu entwickeln, und hatte im wesentlichen, was uns nottat.“10 So sollten die Menschen von der Wiege bis zum Grabe in einen lückenlosen Apparat der Unselbständigkeit und Bevormundung – der euphemistische Ausdruck dafür hieß „Betreuung“ – eingespannt, vor jeder Berührung mit einer fremden Ideologie, ja überhaupt mit anderem Gedankengut abgeschirmt und so geistig und organisatorisch völlig von der Partei abhängig gemacht werden. Dieses dem Kommunismus nachgebildete System übte auch seine Anziehungskraft auf denselben Menschentyp aus. Hitler war sich dessen wohl bewußt und ordnete daher trotz der Gefahr einer Unterwanderung an, ehemalige Kommunisten ohne viele Umstände in die nationalsozialistische Partei aufzunehmen. „Aus den kleinbürgerlichen Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbonzen wird nie ein Nationalsozialist, aus Kommunisten immer.“11 Man muß auf diese Zusammenhänge näher eingehen, um einer sehr beliebten Strategie der radikalen Linken zu begegnen. Diese Kräfte suchen eine angeblich unmittelbar drohende faschistische Gefahr an die Wand zu malen, um sich selbst als die einzig wahren und kompromißlosen Antifaschisten darzustellen. Auf diese Weise sollen gutgläubige Demokraten veranlaßt werden, sich mit ihnen zu solidarisieren. Demgegenüber ist nicht nur auf die schon erwähnte Verwandtschaft hinzuweisen, sondern auch auf die Tatsache, daß es den Kommunisten nichts ausmacht, je nach Opportunität von einem scheinbar kompromißlosen Antifaschismus auf ein Bündnis mit faschistischen Mächten umzuschalten – und zurück. Das klassische Beispiel dafür ist der Pakt zwischen Hitler und Stalin vom 23. August 1939, der recht eigentlich die Tür zum Zweiten Weltkrieg geöffnet hat. Man hat mitunter behauptet, es habe sich dabei um ein Abkommen gehandelt, das die Sowjetunion als Staat unter Ausklammerung aller Ideologie mit dem Deutschen Reich geschlossen hat. Doch die Ideologie wurde keineswegs ausgeklammert. Vielmehr erhielt die Kommunistische Internationale die Weisung, die Kriegsanstrengungen Englands und Frankreichs durch Propaganda, Subversion und Sabotage zu konterkarieren und auch in den neutralen Staaten gegen jede Unterstützung der Westmächte Stimmung zu machen. Dabei ist es sogar zur Zusammenarbeit der Kommunisten mit dem deutschen Geheimdienst gekommen.12 Nach dem 22. Juni 1941 wurde dann wieder auf die antifaschistische Solidarität aller Demokraten umgeschaltet.
10 RAUSCHNING (Anm. 3), S. 174. 11 Ebd., S. 124. 12 Dazu das wichtige und wenig bekannte Buch von A. ROSSI (Pseudonym für Angelo TASCA): Les communistes français pendant la drôle de guerre, Paris 1951, bes. S. 204 ff. – Von deutscher Seite bestätigt durch P. LEVERKUEHN: Der geheime Nachrichtendienst der deutschen Wehrmacht im Kriege, Frankfurt/M. 1957, S. 81 ff.
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Daß der Totalitarismus der Rechten – genau wie jener der Linken – mit jeder pluralistischen und toleranten Demokratie unvereinbar ist, hat sich ja deutlich genug gezeigt. So sind auch die Versuche völlig fehlgeschlagen, ihn in ein parlamentarisches oder sogar ein konservativ-autoritäres System zu integrieren. Das deutschnationale Bürgertum, welches für kurze Zeit gehofft hatte, die nationalsozialistische Massenbewegung noch irgendwie unter Kontrolle halten zu können, ist an deren totalem Machtanspruch kläglich gescheitert, und vollends die Liberalen waren für Hitler nur Feiglinge und Dummköpfe, die nichts als Hohn und Verachtung verdienten. Überhaupt bildet das Verhalten der Nationalsozialisten vor ihrer Machtergreifung ein Paradebeispiel dafür, wie totalitäre Kräfte die Toleranz einer pluralistischen Demokratie zu deren Zerstörung benützen. Sie verfolgten die Doppelstrategie, sich einerseits zur Legalität zu bekennen und deren Vorteile zu genießen, andererseits aber gleichzeitig die Beseitigung des demokratischen Rechtsstaates vorzubereiten. Immerhin machte aber die heute gern als Inbegriff der Schwäche betrachtete Weimarer Republik ernstliche Anstrengungen, den „Systemgegnern“ und deren Sympathisanten die Unterwanderung der Verwaltung und der bewaffneten Macht zu verwehren. So kam es auch im Herbst 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig zu einem Prozeß gegen Offiziere der Ulmer Garnison, die verbotenerweise Kontakt zur NSDAP aufgenommen und für diese in der Reichswehr geworben hatten. In diesem Prozeß trat auch Hitler als Zeuge auf und beteuerte kühn die Legalität seiner Bewegung: „Ich stehe hier unter Eid vor Gott dem Allmächtigen. Ich sage Ihnen, daß, wenn ich legal zur Macht gekommen sein werde, dann will ich in legaler Regierung Staatsgerichte einsetzen, die die Verantwortlichen an dem Unglück unseres Volkes gesetzmäßig aburteilen sollen. Dann werden möglicherweise legal einige Köpfe rollen.“13 Anschließend erklärte er, er fühle sich nur während des Kampfes um die Macht an die Verfassung gebunden, als Inhaber der verfassungsmäßigen Rechte werde er sie jedoch abschaffen oder ersetzen. Hier zeigt sich mit kaum mehr zu übertreffender Klarheit die Doppelstrategie des nationalsozialistischen Angriffs auf die verfassungsmäßige Demokratie: Während Hitler in düsteren Drohungen seine tatsächlichen Ziele kaum mehr verschleierte, versicherte er doch im gleichen Atemzuge, er stehe „granithart auf dem Boden der Legalität“, um dem an das Gesetz gebundenen Gericht jede juristische Handhabe zu entziehen. Wenige Jahre später hatte der „Führer“ sein Ziel erreicht. Der demokratische Rechtsstaat war beseitigt und viele seiner ehemaligen Repräsentanten befanden sich in den Konzentrationslagern oder an anderen ungastlichen Orten, während die Sieger sie mit Spott und Hohn übergossen. Das tat etwa Joseph Goebbels in seiner Schrift Wesen und Gestalt des Nationalsozialismus, die bald nach der Machtergreifung erschien: „Wir Natio13 J. FEST: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1973, S. 407.
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nalsozialisten haben niemals behauptet, daß wir Vertreter eines demokratischen Standpunktes seien, sondern wir haben offen erklärt, daß wir uns der demokratischen Mittel nur bedienten, um die Macht zu gewinnen, und daß wir nach der Machteroberung unseren Gegnern rücksichtslos alle die Mittel versagen würden, die man uns in Zeiten der Opposition zugebilligt hatte. […] Die Gegenseite war im Besitz der Macht, des Heeres, des Beamtenapparates, des Geldes, der Parteien und der Parlamentsmehrheit. […] Wäre die Gegenseite klüger gewesen, sie hätte bei einer derartig ungleichen Verteilung der Erfolgsmittel Wege und Möglichkeiten finden müssen, uns an ihrer Depossedierung zu hindern.“14 So wurden die einstigen Vertreter einer pluralistischen und toleranten Demokratie schließlich auch noch als Dummköpfe verhöhnt. Dieser Zynismus des damaligen Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda mag uns noch heute tief empören. Doch immerhin haben die Nationalsozialisten ihre Ziele offen deklariert und nicht mit zum Himmel erhobenen Augen beteuert, ihre Machtergreifung diene nur der Freiheit, dem Frieden und dem Glück des Menschengeschlechtes. Diese und zahlreiche ähnliche Beispiele weisen deutlich auf die Voraussetzungen und die Grenzen der Möglichkeit von Pluralismus und Toleranz hin. Die Grundvoraussetzung bildet ein Überwiegen der gemeinsamen über die kontroversen Ziele, Interessen und Überzeugungen und die daraus resultierende Bereitschaft zur Ausklammerung der Konflikte oder doch zur Ritualisierung der Formen, in denen diese ausgetragen werden. Bei den Tieren ist eine solche Ritualisierung im übergeordneten Interesse der Arterhaltung vielfach durch die Instinkte festgelegt, durch die geregelten Kommentkämpfe mit Tötungshemmung gegenüber den Artgenossen. Beim Menschen liegen die Dinge insofern anders, als hier jene instinktiven Schutzmechanismen weitgehend abgebaut sind. Manche Verhaltensforscher meinen zwar, es gebe auch noch bei uns etwas wie eine Tötungshemmung, die erst durch die modernen Fernwaffen unterlaufen worden sei, doch die Erfahrung der Geschichte spricht eher gegen als für diese These. Zwar existiert zweifellos ein uraltes Bluttabu und vielfach galt auch die Tötung eines Feindes als kultisch verunreinigend, aber solche Erscheinungen sind wohl eher auf ein archaisches Grauen vor dem Leichnam als solchem zurückzuführen.15 Davon zu unterscheiden ist die Ritualisierung des Kampfes zumal in adeligen Kriegerschichten, der Kodex der ritterlichen Kriegführung im östlichen wie im abendländischen Feudalismus. Hier wirkt wohl in erster Linie das übergeordnete Interesse der Standessolidarität und der auf Gegenseitigkeit beruhenden Verminderung des Berufsrisikos. Bei Auseinandersetzungen mit Standesfremden war dagegen meist wenig von
14 J. GOEBBELS: Wesen und Gestalt des Nationalsozialismus, Berlin 1935, S. 13f. 15 Dazu und zum Folgenden vgl. E. TOPITSCH: Machtkampf und Humanität, in ders.: Gottwerdung und Revolution, Pullach b. München 1973, S. 135ff.
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ritterlichem Ethos zu bemerken. Von der religiösen Toleranz in den alten polytheistischen Großreichen und den Handelsstädten sowie von den dafür maßgebenden politischen und ökonomischen Gesichtspunkten war bereits die Rede. Fernerhin beruht die Toleranz auch häufig darauf, daß die Kontrahenten zu der Überzeugung gelangen, die zur gegenseitigen Bekämpfung erforderlichen Mittel könnten anderweitig nutzbringender investiert werden. Dies ist besonders dort der Fall, wo man nicht damit rechnet, den Gegner ein für allemal unschädlich machen zu können, und daher die Vergeltung fürchten muß. Dies gilt für den zwischenstaatlichen wie für den innerstaatlichen Bereich. Als institutionalisierte Form einer solchen Hegung und Ritualisierung der Konflikte auf der Basis eines Grundkonsensus kann auch die parlamentarische Demokratie gelten, die es der jeweiligen Mehrheit ermöglicht, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, der Minderheit aber das Recht garantiert, nicht nur weiterzuexistieren, sondern auch weiterhin politisch zu wirken und auf eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse hinzuarbeiten. Ja, eine kluge Mehrheit wird nach Möglichkeit darauf bedacht sein, für wichtige Beschlüsse die Zustimmung der Minderheit zu erlangen, und nicht selten sind in den Verfassungen Sperrminoritäten vorgesehen. Eine solche Ordnung ermöglicht auch eine weitgehende Integrierung der Staatsangehörigen und eine erhebliche Beschränkung des Risikos im Bereich der Politik – drastisch ausgedrückt: als Unterlegener wandert man nicht in den Kerker oder auf das Schafott, sondern wird erst fünf Jahre später Ministerialrat. Allerdings ist auch die pluralistische Demokratie nicht so problemlos, wie dies zeitweilig den Anschein gehabt hatte. Vor allem beruht ihr Funktionieren auf der Aufrechterhaltung des Grundkonsenses, und dieser wiederum kann von verschiedenen Faktoren abhängen. Hierher zählen etwa die Stärke der Traditionen und die Festigkeit der Institutionen, aber auch – wie schon erwähnt – generationsprägende Erfahrungen und durch die Verhältnisse vorgegebene, allgemein akzeptierte Zielsetzungen, etwa in der letzten Nachkriegszeit das Erlebnis der totalitären Gewaltherrschaft und die Aufgaben des Wiederaufbaus. Wichtig ist fernerhin auch das Fehlen tiefgreifender, zumal ökonomischer Interessenkonflikte. Wo diese Faktoren nicht zureichen oder fehlen, kann es leicht zu Krisenerscheinungen kommen. Dafür bietet das Schicksal der Weimarer Republik ein warnendes Beispiel. Solche Krisensituationen, in denen der Grundkonsens einer Erosion unterliegt oder von mehr oder minder starken Gruppen nicht mehr geteilt oder angegriffen wird, stellen die Politik einer pluralistischen Demokratie vor schwierige Probleme. Zwar gibt es mehrere mögliche Gegenstrategien, von denen aber keine den Erfolg garantiert. Man kann versuchen, die betreffenden Gruppen doch noch in die pluralistische Ordnung zu integrieren – ein, wie die hier behandelten Beispiele zeigen, oft sehr riskantes Unter-
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nehmen. Die Größe des Risikos ist allerdings oft nur schwer im voraus zu kalkulieren. Das wirkliche Ausmaß der Gefahr zeigt sich häufig erst, wenn es zu spät ist. Vielleicht erfolgversprechender ist der Versuch, solche Kräfte elastisch abzufangen oder ins Leere stoßen zu lassen, sie dabei aber auf jeden Fall von den wichtigen Positionen fernzuhalten. Solange dabei die Institutionen intakt bleiben, bleibt es auch möglich, daß sich der Angriff schließlich totläuft. Auf diese Weise wurden etwa Bewegungen abgefangen wie der „Uomo qualunque“ im Italien und der Poujadismus im Frankreich der fünfziger Jahre oder vor kurzem die Glistrup-Partei in Dänemark. Es wäre auch angezeigt gewesen, diese Methode in Deutschland gegenüber der Jugendrevolte folgerichtiger anzuwenden als es tatsächlich geschehen ist und so dem „langen Marsch durch die Institutionen“ wirkungsvoller vorzubeugen. Leider ist dies vielerorts nicht geschehen, und die damaligen kopflosen Konzessionen haben teilweise zu irreparablen Schäden geführt. Schließlich muß auch die pluralistische Demokratie den Mut aufbringen, illegaler, krimineller Gewalt mit legaler Gewalt zu begegnen. Sie entlarvt sich dadurch nicht als faschistisch oder faschistoid, wie das mitunter behauptet wird. Als Kronzeugen dafür darf ich meinen Lehrer Hans Kelsen anführen, der seinerzeit wie kaum ein anderer mit einer trotz allen Engagements kühlen geistigen Souveränität die freiheitliche Demokratie gegen den zur Macht drängenden Totalitarismus „rechter“ wie „linker“ Observanz verteidigt hat und darum besonders von den nationalsozialistischen „Rechtstheoretikern“ mit fanatischer Gehässigkeit angegriffen wurde. Er hat seine diesbezüglichen Einsichten in seiner Abschiedsvorlesung an der University of California folgendermaßen zusammengefaßt: „Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, daß sie sich selbst aufgibt. Aber es ist das Recht jeder, auch einer demokratischen Regierung, Versuche, sie mit Gewalt zu stürzen, mit Gewalt zu unterdrücken und durch geeignete Mittel zu verhindern. Die Ausübung dieses Rechts ist weder mit dem Prinzip der Demokratie noch mit dem der Toleranz in Widerspruch. Es mag mitunter schwierig sein, eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen der Verbreitung gewisser Ideen und der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes. Aber von der Möglichkeit, eine solche Grenzlinie zu finden, hängt die Möglichkeit ab, Demokratie aufrecht zu erhalten.“16
16 H. KELSEN: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 42.
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Schlußbemerkungen
Schon auf das ausgehende 19. Jahrhundert, nämlich auf das Jahr 1894, geht eine von Wilhelm Windelband getroffene Unterscheidung zurück, womit dieser zwei unterschiedliche Forschungsintentionen kennzeichnen wollte: die von „nomothetischen“ und „idiographischen“ Wissenschaften. In der Diktion von Max Weber wurden daraus die um das Auffinden von theoretischen und empirischen Generalisierungen bemühten „Gesetzeswissenschaften“ beziehungsweise die um Deutung und „verstehendes Erklären“ konkreter sozialer Zustände und Ereignisse bemühten „Wirklichkeitswissenschaften“. Max Weber verstand sich selbst als Wirklichkeitswissenschaftler,1 wobei er die Verwendung von Generalisierungen in seiner Forschung natürlich keineswegs ausschloß, sondern allein deren Suche und Formulierung nicht als sein Forschungsziel ansah. In der Zeit um 1900 sahen allerdings nicht wenige Fachvertreter der Soziologie (vor allem im Anschluß an Auguste Comte und Herbert Spencer) und nicht wenige Vertreter der Wirtschaftswissenschaften (vor allem in der Nachfolge von David Ricardo, Hermann Heinrich Gossen, Léon Walras und der sogenannten neoklassischen Ökonomik) ihre Disziplinen als „Gesetzeswissenschaften“ an. Auch die Rechtswissenschaften hatten es mit Gesetzen zu tun, aber nicht mit nomologischen Hypothesen von der Art, wie sie in den erwähnten Gesetzeswissenschaften eine Rolle spielen, sondern mit Gesetzen als von Menschen gesetztem Recht. In Österreich waren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die juridischen Fakultäten in besonderem Maße wissenschaftsintegrativ: sie umfaßten sowohl idiographische und nomothetische, als auch verstehende und erklärende Disziplinen. Dies war vor allem seit der Neuordnung des juristischen Studiums durch Leo von Thun-Hohenstein im Oktober 1855 der Fall.2 Das Studium umfaßte, wie bereits verschiedentlich erwähnt, neben dem Öffentlichen Recht, dem Privatrecht und dem Strafrecht sowie der rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Grundierung dieser Teilbereiche eine Reihe von heute nicht mehr an der juridischen Fakultät angesiedelten Disziplinen, so etwa Volkswirtschaftslehre, Politische Wissenschaften, Statistik und Österreichische 1 „Die Sozialwissenschaft die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“– Max WEBER: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S. 170f. 2 Dazu siehe LENTZE 1962.
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Geschichte. Auch für Professoren wie Gustav Hanausek war diese umfassende Orientierung geradezu eine Verpflichtung und ein Anlaß zu weiterführenden programmatischen Überlegungen zum Rechtsstudium, welche etwa explizit die Psychologie und die Soziologie einschlossen.3 Der sich ständig ereignende Prozeß der Ausdifferenzierung und Autonomisierung von Disziplinen – eine Entwicklung, die heute immer wieder kompensatorisch vom Ruf nach „Interdisziplinarität“ begleitet wird – betraf in besonderem Maße die juridischen Fakultäten. Gleichzeitig mit der Aufteilung der alten Philosophischen Fakultät in eine Naturwissenschaftliche und eine Geisteswissenschaftliche Fakultät wurden mit dem Universitätsorganisationsgesetz 1975 die volkswirtschaftlichen und die betriebswirtschaftlichen Fächer sowie die Soziologie aus der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät herausgelöst und, wie bereits erwähnt, in der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zusammengefaßt. Dieser Prozeß der Trennung bewirkte eine strukturelle Änderung an den neuen Rechtswissenschaftlichen Fakultäten: Von den historischen Lehrveranstaltungen wurden die nicht unmittelbar rechtsgeschichtlichen, welche früher anrechenbar waren – etwa zur österreichischen Geschichte oder zur allgemeinen Geschichte der Neuzeit – fortan zur Gänze den Geisteswissenschaftlichen Fakultäten überlassen, auch allgemeine wirtschaftswissenschaftliche Lehrinhalte wurden ausgesiebt oder sollten in den Fächern Handels- und Wertpapierrecht sowie Finanzrecht aufgehen. Desgleichen wurden, was angesichts ihrer vormals häufig bestehenden Hypertrophie nicht unverständlich ist, die rechtshistorischen Fächer eingeschränkt. Auch die (in Graz rechtssoziologisch angereicherte) Rechtsphilosophie wurde nach und nach in ihrem kurrikularen Stellenwert dezimiert. Wie ist andererseits die Lage an den österreichischen Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten? Auch hier war und ist noch immer einiges im Umbruch. Auf eine Erörterung von Fragen der Österreichischen, der Europäischen und der Internationalen Geschichte wird gänzlich verzichtet. Selbst die Soziologen sind in diesem Sinne geschichtsfern. So sucht man in den Studienplänen der Grazer SoWi-Fakultät (wie ja an der juridischen auch) vergeblich allgemeinhistorische Vorlesungen oder Kurse, wie sie beispielsweise an wirklich guten US-amerikanischen Universitäten oft unter dem Titel „Western Civilisation“ in der Studieneingangsphase für alle Studierenden angeboten werden und zum festen Bestand des Studiums gehören.4 Selbst die noch an der Fakultät
3 Siehe in diesem Zusammenhang exemplarisch Gustav HANAUSEK: Was kann geschehen, um bei der Ausbildung (vor oder nach Abschluß des Universitätsstudiums) das Verständnis der Juristen für psychologische, wirtschaftliche und soziologische Fragen in erhöhtem Maße zu fördern?, Berlin 1913 (= Sonderabdruck aus: Verhandlungen des XXXI. Deutschen Juristentags, III). 4 Interessant ist in diesem Zusammenhang das für einschlägige Kurse benutzte umfangreiche, vorzüglich illustrierte und didaktisch bestens aufbereitete Buch Western Civilisation von Thomas F. X. NOBLE, Barry STRAUSS u. a., 4. Aufl., Boston-New York 2005.
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angebotenen Lehrinhalte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gelten zunehmend als Fremdkörper an der auf ihre Zukunftsorientierung stolzen Institution. Solche Ansichten werden nicht schon dadurch besser, daß sie nicht nur in Graz, sondern beispielsweise auch in München vertreten werden. Dieser Prozeß der Enthistorisierung entfaltet eine eigentümliche Dynamik und macht sich nahezu allgemein innerhalb der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten des deutschen Sprachraums vor allem dadurch bemerkbar, daß in jüngster Zeit sogar die Geschichte der ökonomischen Analyse, die sogenannte ökonomische Dogmengeschichte, als von nur marginalem Nutzen angesehen wird.5 Einschlägige Lehrstühle werden häufig umgewidmet, da sie, wie man meint, für echte Wissenschaft nur mehr von peripherem Interesse sind. Und doch scheinen sich nun – jedenfalls bereits in Deutschland – Änderungen anzubahnen, die durch die jüngste Krise auf den Finanzmärkten ausgelöst wurden. Wie man im gewöhnlichen Leben oft Ideen entwickelt, nachdem man sich an der Härte des Realen eine Beule geholt hat, so scheint auch die erwähnte Krise Auswirkungen auf Diskussionen innerhalb der ökonomischen Zunft zu haben. Ein Wandel in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung institutioneller Gegebenheiten bei der Modellierung ökonomischer Abläufe erscheint plötzlich immerhin erwägenswert. * An der vor allem den Finanznöten der Universität geschuldeten Aufblähung von neuen Universitätslehrgängen mit (universitärem) Abschlußzertifikat, von denen man sich einiges zur Verbesserung der Finanzlage der Universität erwartet, zeigt sich eine eigentümliche Widersprüchlichkeit: Die Fakultäten werden immer mehr zu einem akademischen Viktualienmarkt, obwohl sie dem Anspruch nach zumeist eine „unique selling proposition“, also ein klares und unverwechselbares Forschungs- und Lehrprofil im Sinn eines Alleinstellungsmerkmals zu entwickeln bemüht sind. Als eine Folge dieser und damit verwandter Entwicklungen steht zu befürchten, daß qualitativ hochstehende Forschung und Lehre wohl nur mehr punktuell an den herkömmlichen Universitäten finanzierbar sein und zunehmend in Privatuniversitäten oder aber in jenen außeruniversitären Bereichen erfolgen wird, die kaum mehr der Grundlagenforschung, sondern nahezu ausschließlich einer hochentwickelten anwendungsorientierten Wissenschaft zugewandt sind. Die vormals politisch beeinflußte Stellung der Universität scheint zunehmend deren wirtschaftlicher Abhängigkeit Platz zu machen, wobei man sich nur darüber wundern kann, zu wieviel Selbstdomestikation sich Universitätslehrer, auch die der Sozial- und 5 Zur Kritik daran siehe exemplarisch KURZ 2010.
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Wirtschaftswissenschaften, bereit finden. Praktisch läuft dieses Verhalten darauf hinaus, daß man sich die Erörterung von Grundsatzfragen sowie von längerfristigen Perspektivierungen erspart und durch die Befassung mit dem „Konkreten“ und „Wirklichen“ ersetzt, der man jede Erörterung des Möglichen opfert. Wer seinen Möglichkeitssinn nicht schärft, der sieht keine Alternativen; wer aber diese nicht zu sehen und den Sinn dafür in der Lehre nicht zu wecken imstande ist, gehört eigentlich nicht an eine Universität. Warum schweigen die bezüglich ihres Nominalfaches zuständigen Wirtschaftswissenschaftler, auch die meisten in Graz, so beharrlich zu aktuellen Finanz- und Wirtschaftsproblemen, die sie doch auch dann analysieren sollten, wenn sie davon nicht unmittelbar persönlich betroffen sind? Früher war in Graz – man denke nur an Schumpeters Einlassungen zu aktuellen Wirtschaftsfragen,6 aber auch noch an gewisse öffentliche Erklärungen der Wirtschaftspolitiker Dieter Bös und Gunther Tichy – durchaus die Bereitschaft lebendig, sich notfalls durch politisch inopportune Lageberichte und Analysen von ökonomischen Problemen unbeliebt zu machen, wenn dies dem Aufweis von nicht bekannten oder einfach ignorierten unangenehmen Wahrheiten diente. Die zwischenzeitig geschwundene Bereitschaft, Probleme dieser Art innerhalb der akademischen Zunft, aber auch als „öffentlicher Intellektueller“ zum Gegenstand der Erörterung zu machen, führt dazu, daß die landläufige mediale Diskussion einschlägiger Sachfragen unnötigerweise dem Affekt sowie dem Vorurteil derer überlassen wird, die es oft nicht besser wissen können.7 Versuchen wir also statt der schweigsamen Fachleute – gewissermaßen kompensatorisch und, weil eher dilettierend, ohne Anspruch auf Gewißheit – einen kurzen Blick auf das zu werfen, was oft pauschal gegen Markt- und Staatsversagen bzw. zugunsten von Staat und Markt vorgebracht wird und Gegenstand ausführlicherer Analysen sein sollte.8 Die für viele ärgerliche Tatsache: daß zahlreiche Menschen in den USA und Europa zusehends unter Arbeitslosigkeit und schwindender Kaufkraft litten, während eine kleine Schar von Privilegierten unglaubliche, ja geradezu obszöne Gehälter und Gewinnbe-
6 Siehe dazu Joseph A. SCHUMPETER: Aufsätze zur Tagespolitik. Hg. und kommentiert von Christian SEIDL und Wolfgang F. STOLPER, Tübingen 1993. 7 Zudem nährt das Schweigen der universitären Intelligenz zu diesen wie auch zu anderen Sachfragen verschiedentlich den Verdacht, daß die Wissenschaftler nicht nur – aus welchen Gründen auch immer – nichts sagen wollen, sondern daß sie auch mangels Einsicht nichts sagen können. – Man könnte in diesem Zusammenhang auch auf Unterlassungen jener Soziologen zu sprechen kommen, die sich zwar als Sachwalter der Sozialpolitik verstehen, denen aber beispielsweise besorgniserregende Entwicklungen bezüglich der Finanzierbarkeit unseres Pensions- und Pflegeversicherungswesens, damit aber unter anderem auch mögliche ernste Probleme der nachwachsenden Generationen, keine eingehenderen demographisch gestützten Analysen wert zu sein scheinen. 8 Ich schließe mich dabei unter anderem Ansichten von Josef JOFFE an, die er in verschiedenen Artikeln der Wochenzeitung Die Zeit in den Jahren 2008 und 2009 entwickelt hat. Siehe in diesem Zusammenhang auch TICHY 2010.
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teiligungen kassierte, kann man unter Hinweis auf Gier, wie in populären Talkshows üblich, nicht erklären. Gier als exzessives Gewinnstreben ist bekanntlich ein alter Sachverhalt der Menschheitsgeschichte, so daß sich mit ihr allein das Entstehen der aktuellen Finanzkrise nicht erklären läßt. Gleich wenig läßt sich im konkreten Fall das Marktversagen ohne Bezugnahme auf die Aktivitäten – oder auch Inaktivitäten – des Staates erklären. Wie der Rückblick auf die einschlägigen Vorkommnisse der jüngsten Zeitgeschichte zeigt, waren hier Personen und Organisationen sowie der Staat, also der Mikro-, Mesound Makrobereich, auf komplexe Weise miteinander verwoben. Gewiß gilt zunächst: Gier war bei Anlegern am Werk, die sich Aktien liehen und auf fallende Kurse spekulierten oder aus Währungsverlusten ihre Vorteile zu ziehen suchten und dabei gelegentlich sogar dadurch Profit erzielten, daß sie Unternehmen zerstörten und die Unternehmensteile danach mit hohen Gewinnen veräußerten. Gier war auch am Werk, als die Vertreter bestimmter Zweckgesellschaften dubiose Kreditforderungen gebündelt, verbrieft, zerstückelt und unter neuem Namen weiterverkauft haben, ohne daß die Käufer, ja selbst die Verkäufer den realen Wert dieser Papiere bestimmen hätten können. Sind also doch Gier und Marktversagen, allzu viel „Privat“ und allzu wenig „Staat“ die relevanten Ursachen der Krise? Oder hat hier auch der Staat versagt, einfach weil er den freien Markt nicht entsprechend kontrolliert und so seine Sorgfaltspflicht für das Gemeinwohl vernachlässigt hat? So eindeutig Belege für schamlose Gier zu erbringen sind, so eindeutig fällt auch der Nachweis der Tatsache aus, daß zumindest einer der Schrittmacher der Krise dort, wo sie begonnen hat, nämlich in den USA, der Staat gewesen ist. Dessen Finanzmarktaufsicht ist im übrigen keineswegs schwach entwickelt, wie gelegentlich vermutet wird, wenn von der Übermacht der Privatwirtschaft die Rede ist, schwach war eher das Konzept des staatlichen Kontrollauftrags, an das jene gebunden war. Und was den Erklärungsversuch anlangt, wonach der Staat in der rabiaten Marktwirtschaft den Armen im Lande gegenüber gefühllos geworden sei und der „sozialen Kälte“ Platz gemacht habe, so ist dieser einfach falsch. Am Anfang der Tragödie für eine Vielzahl von mittlerweile völlig Verarmten, aber schon zuvor sozialökonomisch Schwachen stand die staatlich verordnete Förderung der Nachfrage nach Wohneigentum im Namen der Devise „A nation of homeowners!“, also dessen, was man bei uns „soziale Gerechtigkeit“ nennt. Und so wurden von den Geschäftsbanken mehr Darlehen denn je für Risikoschuldner zur Verfügung gestellt. Dazu kam, daß der Staat seit 1992 die öffentlich abgesicherten Hypothekenbanken Freddie Mac und Fannie Mae dazu ermunterte, immer mehr Hypotheken für die Ärmeren zu finanzieren. Die Quote stieg bis 2005 auf über 50 Prozent, und bis dahin hatte sich der Durchschnittspreis eines Hauses seit 1997 mehr als verdoppelt. Komplettiert wurden die staatlichen Maßnahmen dadurch, daß billiges Geld zur Verfügung gestellt wurde:
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2002 senkte die Federal Reserve die (Interbank-)Zinsen, die sogenannte Federal Funds Rate, auf 2, und 2003 sogar auf 1,25 Prozent. Als Folge dieser Entwicklung stiegen die Häuserpreise, die Pleite-Gefahr sank, und so schossen die Hypotheken von Risiko-Kunden weiter in die Höhe. Dies ermöglichte es verschiedenen Bankinstituten – von Lehman Brothers bis zu einer ganzen Reihe von europäischen Instituten, darunter mehrere quasi-staatliche deutsche Landesbanken –, satte Gewinne zu lukrieren. Erleichtert wurde dies in den USA zusätzlich durch die Aufhebung der Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken, was zum Einstieg von bis dahin zur Eigenkapitalvorsorge verpflichteten Geschäftsbanken ins Versicherungsgeschäft und in den Wertpapierhandel führte.9 Durch derartige von staatlicher Seite erfolgte Deregulierungen wurde erst jene Entfesselung der Finanzmärkte möglich, die in den aktuellen Credit Default Swaps und in den unkontrollierten Aktivitäten verschiedener Hedge-Fonds ihren signifikanten Ausdruck findet. So war es weder die Gier, noch der freie Markt allein, der die erste große Finanzkrise des 21. Jahrhunderts, und überhaupt die größte seit den Ereignissen von 1929 und den Jahren danach verursacht hat. Denn in entscheidendem Maße waren daran ursächlich auch der Staat und seine zum Teil durchaus sozial motivierte Finanzpolitik beteiligt, welche in Amerika die Wohnungseigentumsquote schließlich auf 70 Prozent hochtrieb. Nicht immer ist aber gutgemeinte staatliche Sozialpolitik auch schon kluge Wirtschaftspolitik – und letztlich auch nicht einmal immer sozial. Und nicht automatisch verbürgt eine dichte staatliche Kontrolle des Finanzmarktes als solche bereits den Effekt, den sich die zahlreichen Kritiker der Deregulierung davon erwarten: In den USA überwachen neben Agenturen der einzelnen Staaten nicht weniger als acht Bundesagenturen die Finanzmärkte. Dies stellt eine im Vergleich zu Europa hohe Regulierungsdichte dar. Doch nicht sosehr auf diese scheint es eben anzukommen, vielmehr auf die Vorgaben und Regeln für die regulierenden Kontrollbehörden. So könnten fürs erste Staaten und ganze Staatengemeinschaften schon einmal durch gesetzliche Verfügungen vereiteln, daß auch in Hinkunft manche Banken Gewinne erzielen, fast ohne Eigenkapital zu haben und mit diesem zu haften. Die Analyse der europäischen Malaise des Jahres 2010, welche unmittelbar mit der Verschuldung einzelner Staaten, mittelbar aber mit der Gefährdung der Stabilität des Euro und der gesamten europäischen Wirtschaftsunion zu tun hat, zeigt ebenfalls eine 9 Die Deregulierung der Finanzinstitutionen ist – entgegen einer weitverbreiteten, auch in Europa immer wieder vertretenen Ansicht – keine Erfindung der als „neoliberal“ kritisierten Administration von Präsident George W. Bush. Das Gesetz, welches den Geschäftsbanken den Einstieg ins Versicherungsgeschäft und in den Wertpapierhandel erlaubte, wurde bereits 1999 vom demokratischen Präsidenten Clinton unterzeichnet. Und es waren maßgeblich nicht die „neoliberalen“ Republikaner, sondern die Demokraten im Kongreß, die aus vermeintlich „sozialen“ Gründen verhinderten, daß die Regierung Bush die Immobilienfinanzierer Freddie Mac und Fannie May schärfer an die Kandare nahm.
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mangelnde Sorgfaltspflicht hinsichtlich bestimmter Kontrollerfordernisse auf. Hier geht es um Kontrollen, welche durch die Brüsseler Kommission schon früher vorgenommen hätten werden sollen. Eine Stärkung der Kontrollorgane der EU-Kommission mithilfe eines gut besetzten Personalapparats, eine Intensivierung der „Ecofin“-Kontrollen, ferner die Ermöglichung einer authentischen Einsichtnahme in die Budgeterstellung der EUMitgliedstaaten durch die mit höheren Kompetenzen ausgestattete „Eurostat“-Agentur wären beispielsweise erfolgversprechende Möglichkeiten gewesen, der griechischen fiskalpolitischen Krise präventiv zu begegnen.10 * Es ist schon erstaunlich, wie wenig an wirtschaftspolitischen und wirtschaftsgeschichtlichen Kenntnissen man auch unter Studierenden der Wirtschaftswissenschaften antrifft. Verschiedentlich wurde dafür bei den in der deutschen Presse darüber geführten Diskussionen ein übersteigerter Einsatz der Mathematik verantwortlich gemacht, dem andere Kompetenzen im Studium der Wirtschaftswissenschaften geopfert würden. Die gegen die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften gerichtete, mitunter recht polemische Kritik ist jedoch zumeist nicht von substantieller Bedeutung. Es geht vielmehr, so scheint es, um das Erfordernis einer neuen Gewichtung der historisch-gesellschaftlichen Dimension in der Ökonomik: um mehr Wissen über die Formen, die Inhalte und den Wandel von Institutionen, und um mehr Kenntnisse bezüglich der Leistungen und Grenzen der Steuerbarkeit wirtschaftlicher Prozesse, also bezüglich der Wirtschaftspolitik. An dem Mangel daran leiden jedoch weite Teile der zeitgenössischen Universitäts-Ökonomik. Unerläßlich ist die Befähigung zum formal-mathematischen Nachweis der abstrakten Leistungsfähigkeit des marktlichen Preismechanismus, aber als gleich unverzichtbar erweist sich die Beschäftigung damit, wie reale Märkte unter konkret gegebenen Rahmenbedingungen tatsächlich funktionieren. Erst unter dieser Voraussetzung wird Studierenden die Einsicht vermittelbar, daß die Funktionsweise real existierender Marktwirtschaften entscheidend von der Qualität und der wirksamen Durchsetzung von „Spielregeln“ abhängt, daß diese aber nicht durch den Preismechanismus erfolgen kann, sondern in der ursprünglichen Verantwortung des Staates liegt. Dieser ist der Setzer von Regeln und der Kontrolleur ihrer Durchsetzung. Im Unterschied zur Majorität der heutigen Wirtschaftswissenschaftler zeichnete die vorübergehend auch in Graz wirkenden Ökonomen Joseph Schumpeter und Wilhelm
10 Gewiß wird man darüberhinaus auch abzuwarten haben, was sich die maßgeblichen politischen Organe der EU in Anbetracht der Übermacht US-amerikanischer Rating-Agenturen und ihres Einflusses auf die europäische Währungssituation an institutionellen Maßnahmen einfallen lassen.
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Röpke neben der Kompetenz in wirtschaftstheoretischen Belangen auch ein reges Interesse an der Interdependenz von Wirtschaft, Recht und Gesellschaft aus. Im besonderen dachten sie auch intensiv über die außerökonomischen, nämlich die sozialen und kulturellen Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft nach. Es wäre ihnen daher auch nicht in den Sinn gekommen, die Wirtschaftsgeschichte sowie die Dogmengeschichte ihrer eigenen Disziplin zu vernachlässigen, wie dies heute nicht selten geschieht. Als Folge des Verlustes von Geschichtsbewußtsein innerhalb der Zunft gehen ältere Theorien und Erfahrungen verloren, und es verwundert daher auch nicht, wenn nicht wenige der sich heute besonders zeitgemäß und modern dünkenden Wirtschaftswissenschaftler von der aktuellen Wirtschaftskrise und ihren Folgen überrascht wurden. Peter Bernholz hat im Zusammenhang damit, daß an den deutschsprachigen Universitäten in den letzten Jahrzehnten der Wirtschafts- wie auch der Dogmengeschichte immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, auf die negativen Auswirkungen des Fehlens von einschlägigem Wissen angesichts der gegenwärtigen Krise hingewiesen. Unter Bezugnahme auf Charles Kindlebergers Maniacs, Panics, and Crashes (1978), Gottfried Haberlers Prosperity and Depression (1937) und andere klassische Texte der jüngeren historisch orientierten Wirtschaftsanalyse vertritt er die Ansicht, daß Probleme mit längerfristigem Verlauf, in denen institutionelle Ordnungen und deren Wandel eine Rolle spielen, nur durch Regelmäßigkeiten erklärbar seien, welche allein durch umfassende historische Analysen zu entdecken sind. Daher meint er auch, daß die Verantwortlichen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik nicht von der Wucht der Rezession in jüngster Zeit so überrascht worden wären, hätten sie sich wenigstens in Grundzügen mit dem einschlägigen Schrifttum vertraut gemacht.11 Die Wahrscheinlichkeit, von gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungen überrascht zu werden wächst mit dem Ausmaß des Unwissens über sie. Auf Universitätsebene trägt zu ihm in gewissem Umfang auch die Auseinanderentwicklung der Bereiche Recht, Wirtschaft und Gesellschaft beziehungsweise Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bei, wie sie sich bis zu einem gewissen Grad auch in dem neu konzipierten juridischen Studium sowie in den Studienplänen der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtungen an der Karl-Franzens-Universität Graz spiegelt.12 Zwar 11 Peter BERNHOLZ: Wirtschaftsgeschichte statt Krisenpalaver, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. August 2009, S. 10. 12 So haben derzeit die Studierenden im bestehenden Rechtswissenschaftlichen Diplomstudium – infolge der Eliminierung der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer aus dem Grundstudium – nur noch im dritten Studienabschnitt in zwei (von insgesamt fünf zur Wahl stehenden) Schwerpunktfächergruppen jeweils ein sozial- oder wirtschaftswissenschaftliches Pflichtfach im Ausmaß von zwei Semesterstunden zu absolvieren: in der Fächergruppe „Politik und Gesellschaft“ das Fach „Soziologie“, in der Fächergruppe „Wirtschaft/ Wirtschaftsrecht“ das Fach „Betriebswirtschaft (BWL)“. – In dem aktuellen Bachelor-Studienplan des Faches Betriebswirtschaft von 2009 wiederum sind vier Rechts-Vorlesungen zu jeweils 2 Stunden für alle Studieren-
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wurden hier große Anstrengungen unternommen, die wechselseitige Entfremdung der vormals kooperierenden Bereiche einzudämmen, doch verwundert in Anbetracht der ständig von Lehrplankommissionen hörbaren Aktualitätsbekundungen immerhin die Tatsache, daß in der Phase der intensivierten Globalisierung gewisse historisch-systematische Fächer wie Internationale Geschichte,13 Global Studies, Demographie (Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsverteilung) und dergleichen so gut wie unberücksichtigt bleiben. Gerade für Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten sind derartige Lehrinhalte als ein echtes Desiderat anzusehen. An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät sind vormals für wichtig erachtete Lehrveranstaltungen wenn nicht überhaupt abgeschafft, so doch in ihrer Bedeutung deutlich herabgestuft worden: so die Analyse politischer Strukturen und Prozesse (Politikwissenschaft), die Wirtschaftspolitik, Veranstaltungen allgemeinhistorischer Art sowie die Geschichte sozialer und politischer Ideen. Allein den ambitionierten Autodidakten erschließt sich die Bedeutsamkeit dieser Fächer, nicht aber offensichtlich den für die Gestaltung der Studienpläne Verantwortlichen. Es wäre an der Zeit, daß sich diese einmal über die einschlägigen Gegebenheiten an wirklich guten Universitäten der westlichen und der fernöstlichen Welt kundig machen. An der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wiegt die ahistorische Zurückdrängung der institutionellen Inhalte des ökonomischen Verhaltens, namentlich solcher der Wirtschaftspolitik, schon aus sozialtechnisch-pragmatischen Gründen besonders schwer. Allerdings gibt es gewisse Anzeichen für ein Umdenken in der Ökonomik: Einerseits konstatiert man heute ein wachsendes Interesse an einer experimentellen Wirtschaftswissenschaft, die Modellierungen auf der Grundlage der klassischen Annahmen des „Homo oeconomicus“ unter realen Bedingungen auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen; andererseits wächst das Interesse an gewissen älteren Ansätzen, beispielsweise solchen der Ordnungsökonomik, die den Anschluß an jene jüngeren Formen der Institutionsökonomik gefunden haben, wie sie vor allem von Ronald Coase und Douglass North entwickelt den verpflichtend: Rechtsgrundlagen und Vertragsrecht, Arbeits- und Sozialrecht, Unternehmensrecht, Finanzrecht. Im selben Sinne bilden diese Fächer für die Studierenden der Volkswirtschaftslehre in der Bachelor-Phase das sogenannte gebundene Wahlfach „Recht“. – Große Möglichkeiten, sowohl die Rechtsfächer als auch die Vertiefung wirtschaftswissenschaftlicher Fächer zu umgehen, bietet dagegen der Studienplan der Soziologie, da er sowohl in der Bachelor- als auch in der Master-Phase nur eines aus einer ganzen Reihe von Fächern als Wahlpflichtfach vorschreibt. Die Auswahl, die vom Studierenden frei zu treffen ist, umfaßt in der einen Phase die sechs Fächer Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaft, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Recht und Politikwissenschaft, Geschlechterforschung und Gender Studies, sowie Fremdsprache; in der anderen, der zweiten Phase insgesamt acht Fächer, nämlich die ersten fünf der soeben genannten sechs Fächer, sodann noch weitere drei, nämlich Rechts- und Sozialphilosophie, Sozialpsychologie, und Kulturwissenschaften. Dieser Umstand mag vielleicht der Stärkung des soziologischen Selbstbewußtseins dienlich sein, ist aber der Sachkompetenz und den Berufschancen der Studierenden dieser Studienrichtung kaum förderlich. 13 Siehe dazu exemplarisch LOTH, OSTERHAMMEL (Hg.) 2000 sowie OSTERHAMMEL, PETERSSON 2007.
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wurden. Ungeachtet aller methodologischen Unterschiede zwischen den älteren und den neueren Ansätzen geht es in beiden Fällen darum, den Einfluß zu untersuchen, den institutionelle Rahmenbedingungen auf das wirtschaftliche Verhalten und dessen Ergebnisse haben. Dadurch wird in besonderem Maße den Spielregeln Aufmerksamkeit geschenkt, die innerhalb wirtschaftlicher Institutionen am Werke sind, aber auch jenen umfassenderen Bedingungen, unter denen Institutionen auch dadurch bestehen bleiben können, daß sie sich wandeln. Von besonderer Bedeutung ist die Einsicht in die Wirksamkeit von Institutionen und das Wissen von den innerhalb und zwischen ihnen herrschenden Regeln in sozialpolitischer Hinsicht. Die Institution des Sozialstaats europäischer Prägung steht in einer Zeit der globalisierten Absatzmärkte vor einer ungewissen Zukunft. Die mit der einfachen Extrapolation bestehender Entwicklungsverläufe verknüpften Daten lassen markante Änderungen des Sozialstaats als unverzichtbar erscheinen, denn schon aus demographischen Gründen gilt: „Der Sozialstaat ist dabei, den Ast abzusägen, auf dem er wirtschaftlich sitzt.“14 Dazu kommt, daß er in seiner überkommenen Form die komparativen Vorteile nicht nutzt, um das Gut „Gerechtigkeit“ bei der Armutsbekämpfung herzustellen, da er sich eher auf die politisch ertragreiche Umverteilung in der Mittelklasse beschränkt: von den nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen.15 * Auch im Bereich der Rechtswissenschaften trifft man mitunter auf eine Situation, die der in den Wirtschaftswissenschaften ähnlich ist. Wie in diesen viele Modelle des Wirtschaftshandelns nur noch winzige Ausschnitte und Teilaspekte desselben, aber nicht mehr die institutionellen Zusammenhänge des Wirtschaftsgeschehens erfassen, da Systemfragen nicht mehr gestellt werden, so besteht auch im Rechtsdenken die Gefahr einer abstrakten Modellierung von Normen. Eine solche erfolgt dann in drei möglichen Richtungen: Entweder wird die Geltung einer Rechtsnorm aufgrund einer Prognose über das zukünftige Verhalten des Rechtsstabs gedeutet, wie von manchen Rechtsrealisten; oder als ein von empirischen Sachverhalten unbeeinträchtigtes ideales Bestehen auf Wertüberzeugungen, wie dies der reine Normativismus behauptet; oder schließlich als Ermittlung des Durchschnittsverhaltens der Adressaten von Rechtsnormen, und zwar nach einer vorgängig erfolgten Beschreibung des Verhaltens der einer Rechtsordnung Unterworfenen im Sinne des Rechtsbehaviorismus. In allen drei Fällen handelt es sich um Abstrak14 BERTHOLD 1997, S. 9. 15 Siehe in diesem Zusammenhang Bernhard KÜLP: Umverteilung zugunsten der nicht ganz Armen und zu Lasten der nicht ganz Reichen?, in: E. DÜRR u. a. (Hg.): Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Berlin 1975, S. 227–241.
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tionen. Die Geltung der Rechtsnorm beruht jedoch auf der wesenhaften Verquickung von Norm und Realität in den Institutionen, welche als ein Bindeglied zwischen Individuum und Gemeinschaft anzusehen sind.16 Entgegen gewissen behavioristischen Ansichten, die häufig mit Erwartungen im Sinne eines demokratischen Utilitarismus verbunden werden, kann keine noch so vollständige Beschreibung des Verhaltens der einer Rechtsordnung Unterworfenen das Wesen dieser Rechtsordnung bestimmen, gleich wenig wie eine noch so vollständige Beschreibung des Verhaltens von Schachspielern – ohne Verständnis der Regeln dieses Spiels – das Wesen dieses Spiels erfaßt. Andererseits ist durch die strategischen Regeln im Sinne des normativen Regulativs (einer Rechtsordnung oder eines Spiels) allein noch nicht bestimmt, wie man sich im Rahmen der Rechtsordnung beziehungsweise des Spiels zweckmäßig verhält, denn dies ist Sache anderer, der sogenannten taktischen Regeln. Diese sind abhängig von der Invention des Handelnden (auch des Spielers) sowie von den Interessen, die dem Handeln zugrunde liegen. Institutionen, die einerseits ihre Basis in einer „idée directrice“ (Maurice Hauriou) oder Leitidee haben, andererseits aus jenen taktischen Regeln bestehen, die instrumentell auf sie bezogen sind, haben eine Tendenz zur Stabilisierung; und diese Tendenz gilt ebenso für die Organisationen, in denen Institutionen gewissermaßen ihr materielles Substrat haben. Häufig bleiben die Leitideen längerfristig bestehen, und nur die Verwirklichungstaktiken ändern sich. Dies gilt beispielsweise auch für demokratische Institutionen. Zweifellos gehört es zum Wesen effektiver, der geänderten Umwelt eines Rechtssystems Rechnung tragender und insofern lernfähiger demokratischer Institutionen, daß sie den eigenen Wandel als einen zum Teil endogen, zum Teil jedoch exogen – also durch die Umwelt des Systems – verursachten Prozeß zu erkennen und zu realisieren in der Lage sind. Daß von diesem Wandel die taktischen Regeln betroffen sind, steht außer Zweifel; in welchem Umfang dies beispielsweise auch für die Leitidee der Demokratie gilt, bleibt eine historisch kontingente Angelegenheit. Gegenstand sowohl rechtsphilosophischer Analysen als auch empirisch-sozialwissenschaftlicher Untersuchungen sollten jedenfalls sowohl stabile wie instabile Institutionen sein, und zwar gerade dann, wenn die Frage der Versteinerung oder aber der Unverbindlichkeit von Rechtsnormen zum Problem wird. Der ganze politische Kampf um das Recht war und ist eine mit den Mitteln der Politik geführte Auseinandersetzung um eine Leitidee, die sich aus der Anerkennung von Fundamentalitätsverhältnissen zwischen den in einer Gesellschaft auftretenden Interessen und ihrer Befriedigung ergibt. Die immer weiter vorangetriebene Beantwortung der
16 Deren Eigenleben zeigt sich unter anderem darin, daß durch Institutionen etablierte Verhaltensweisen oft beibehalten werden, auch wenn sie ihre Funktion verloren haben. – Vgl. dazu und zum Folgenden WEINBERGER 1985.
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Frage danach, welche Interessenbefriedigung die Grundlage und Voraussetzung für welche weitere Interessenbefriedigung ist, bezieht sich auf die immer wieder gefährdeten Grundlagen des menschlichen Wohlergehens: „in erster Linie auf die Erhaltung des Lebens – davon hängt alles ab –, in zweiter Linie auf Gesundheit, auf Freiheit von Not und Furcht, in dritter Linie aber auch auf selbstbestimmte Tätigkeit usw.“17 Wie die Subsumtionsbeziehungen der Interessen jeweils innerhalb dieser Grundkategorien geartet sind, ist eine historisch kontingente Sache. Da sie aber nicht von vornherein im Sinne einer bestimmten Interessenvertretung durchgesetzt, sondern gewichtet werden müssen, bedarf es abwägender Entscheidungsinstanzen und deren sittlicher Bindung an das Prinzip der Unparteilichkeit. Diese sittliche Forderung an alle Amtsinhaber ist als ein normatives Regulativ ihres Handelns anzusehen. Gewiß ist dieses nur eine „Idee“ – adressiert nicht allein an die Beamten und Richter, sondern auch an den Gesetzgeber –, aber diese Idee ist gleichwohl die historische Wurzel des demokratischen Verfassungsstaates. Das spezifische Ethos der Demokratie ist nämlich eng verbunden mit dem Streben nach einem Konsens der unparteiischen Abwägung von Partialinteressen im Hinblick auf das Gemeinwohl – dessen Bedeutungsgehalt sich allerdings selbst nur im Widerstreit der Interessen herausbildet.18 Erfahrungswidrig wäre es in diesem Zusammenhang anzunehmen, daß sich der Konsens im Prozeduralen (also im Formalen) letztlich immer auch auf die Vorstellungen vom richtigen menschlichen Zusammenleben und die mit ihnen verbundenen Interessen und Werte (also auf Inhaltliches oder Materiales) übertragen lasse.19 So wissen wir beispielsweise darum Bescheid, daß die Interessen von freiheitsliebenden Individuen und solchen, die für alles Erkennen und Handeln einen absoluten Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch dekretieren zu können glauben, nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Der ethische Kognitivismus eines „Vernunftmenschen“, der sich angeblich zwanglos dem Zwang des besseren Arguments unterwirft, und der davon überzeugt ist, daß dieser zwanglose Zwang auf den Zustand der Herrschaftslosigkeit verweist und diesen in einem aufgeklärten Zeitalter zugleich auch mit sich bringt, war bereits für Ludwig Gumplowicz nur Ausdruck einer empiriefernen und geschichtsvergessenen Einstellung. „Denn Herrschaft“, so führte er in seinem Buch Die soziologische Staatsidee aus, „entsteht ja nur aus der Nothwendigkeit, in das Leben und Treiben einer Menschenvielheit Ordnung zu bringen; diese Nothwendigkeit einer Oberleitung fühlen auch Majoritäten, und es begegnet 17 KRIELE 1979, S. 58. 18 Daß in diese Auseinandersetzungen nicht nur prinzipiell aushandelbare Überlegungen der Zweckrationalität unter wechselnden Bedingungen Eingang finden, sondern auch solche der kognitiv – vor allem konsequentialistisch – nicht entscheidbaren Wertrationalität, erschwert die Bedeutungsbestimmung in besonderem Maße. 19 Dies würde ja jeden Prozeß des Abwägens überflüssig machen.
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daher das Herrschaftsstreben der Minoritäten immer auch einer ihre Herrschaft begünstigenden Disposition der Majoritäten. Darüber kann niemand zweifeln, der die Natur der Menschen und ihrer Gruppen kennt. Daher sollte von einer Möglichkeit der Abschaffung jeder Herrschaft gerade unter ,Vernunftmenschen‘ gar nicht die Rede sein. Wohl aber kann die Modalität ,wie geherrscht wird‘ allerdings noch lange, lange Gegenstand der Discussion bleiben. Das ,wie‘ der Herrschaft hat eine jahrhundertelange Entwicklung durchgemacht, welche noch keineswegs am Ziele angelangt ist.“20 Nun ist Geschichtsvergessenheit nicht allein eine Gefahr für Philosophen und Soziologen, namentlich solche, welche der Idee von der Fügsamkeit der Wirklichkeit gegenüber der normativen Kraft von (angeblich nur „rational“ begründeten) Ideen anhängen. Auch Juristen sind davor nicht gefeit. Zwar ist trotz der langfristig erfolgten Abkehr von den umfassenden Ansprüchen des juristischen Studienkonzepts des Grafen Thun-Hohenstein das Denken in institutionellen Kategorien auch an den zeitgenössischen Rechtswissenschaftlichen Fakultäten noch immer vergleichsweise gut vertreten. Eine immer weiter gehende Kürzung rechtshistorischer Lehrinhalte wäre allerdings verderblich. Denn dies geschähe nicht zuletzt auch zum Schaden einer Rechtsvergleichung, die gerade angesichts der schleichenden Amerikanisierung – oder vielleicht auch einmal Islamisierung – traditioneller europäischer Rechtsgewohnheiten deren Inhalte nötigenfalls als Gegenbilder vor Augen führen könnte. Hier ist eine Rückbesinnung angezeigt, welche im Abstand von mehr als einem Jahrhundert durch ein Wort des Privatrechtsdogmatikers Emil Strohal gerechtfertigt erscheint: „Die historische Rechtswissenschaft ist nicht die Magd der Dogmatik des geltenden Rechtes, sondern auf höherer Warte stehend und den grossen Zug der Entwickelung überschauend, lehrt sie uns das Recht der Gegenwart verstehen, indem sie uns das der Vergangenheit kündet und wird um so mehr selbst zum Motor der Entwickelung, je weniger sie von jenem abhängig ist.“21 * In vielen Fällen ist der Prozeß der Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Disziplinen mehr dem Ressortehrgeiz, also dem Ringen um Eigenständigkeit und gesonderte Mittelzuwendung entsprungen als der mit dem Erkenntnisfortschritt verbundenen Wissen20 GUMPLOWICZ 1902, S. 46f. – Sätze wie diese aus der Feder des ehemals pazifistischen Anarchisten Gumplowicz sollten natürlich auch Sozialphilosophen zu denken geben, die Gefahr laufen, die Möglichkeiten des Guten zu verfehlen, nur weil sie um die Idee des Besseren oder gar Besten Bescheid zu wissen glauben, ohne sie verwirklichen zu können. 21 Emil STROHAL: Nachruf auf Gustav Demelius, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 15 (1884), S. 25f.
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schaftsdynamik. Jede Ausdifferenzierung bedeutet Exklusion, weil Distanznahme zu Nachbarfächern, mitunter bedeutet sie sogar Selbstexklusion. Gerechtfertigt wird ein solches Bestreben in der Regel mit dem Wissenszuwachs und dem Spezialisierungserfordernis. Und wer wollte leugnen, daß dies nicht auch richtig ist. Aber eben nur auch! Denn genauso richtig sind die Warnungen vor der Beschränktheit des Spezialistentums. Aber einer gewissen Art von Exklusion und Beschränkung, nämlich der Abstraktion und Komplexitätsreduktion sei abschließend doch noch kurz das Wort geredet. Denn in der Wissenschaft – wie auch in der Kunst – erweist sich Kompetenz nicht zuletzt im richtigen Weglassen-Können. Keine Auswahl ist davor gefeit, daß das durch sie bewirkte Weglassen zur Karikierung dessen führt, was Inhalt des Wissens werden sollte. Die richtige Auslese, die richtige Gewichtung und Akzentuierung hat auch in der Wissenschaft etwas der Kunst Verwandtes an sich. Denn die Auswahl soll zur Sichtbarmachung des Nichtsofort-Sichtbaren führen. Auch in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften soll nicht nur das durch deskriptive Befunde ohnehin Offenkundige reproduziert, sondern in gewissem Umfang auch das Verborgene, das Unsichtbare bewußt gemacht werden. Es geht um die Aufweisungsanalyse dessen, was sich hinter und zwischen den handelnden oder reagierenden Personen und ihren Ereignissen abspielt. Das aber sind die sich stets wiederholenden oder nur langsam sich verändernden Bedingungen aller rechtlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Ereignisse. Was durch kluge Studienpläne sichergestellt werden sollte, ist gerade eine Weckung des Vermögens, Wiederholungsstrukturen zu erkennen. Denn Ereignisse und Personen wiederholen sich nie, sie sind und bleiben einmalig – und der Sinn für diese Einmaligkeit soll auch in idiographischen Darstellungen exemplarisch vermittelt werden. Wohl aber wiederholen sich die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen Personen leben und handeln und unter deren Vorgaben Ereignisse stattfinden, deren Interferenzen wiederum Prozeßabläufe zur Folge haben. Diese Voraussetzungen von sich in Recht, Wirtschaft und Gesellschaft ereignender Geschichte aufzuzeigen ist freilich ein schwieriges Geschäft, denn sie sind in keiner Zeitung oder sonstigen Quelle zu finden. Aber sie zu erhellen ist das Geschäft der Wissenschaft. Diese ist eben nicht nur eine Sammlungsaktivität, sondern auch ein theoretisches Unternehmen, das die Eigenart des Besonderen im Lichte des Allgemeinen, den Wandel vor der Folie des Dauernden sichtbar machen kann. – Dies sollten auch jene in den Studienplanungsagenturen Tätigen zur Kenntnis nehmen, die, wie es scheint, oft nur bestrebt sind, die Akkumulation sogenannten aktuellen Wissensmaterials zu fördern, anstatt zu einer Aufweisungsanalyse dessen mit zu verhelfen, was eigentlich der Fall ist.
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Auswahlbibliographie Die folgenden Titel bilden eine Ergänzung zu den Bibliographien der in dem vorliegenden Sammelband enthaltenen Beiträge, einschließlich der nicht namentlich gezeichneten Texte des Herausgebers (Einleitung, Vorbemerkungen, Schlußbemerkungen).
ABLEITINGER, Alfred, Dieter A. BINDER (Hg.): Steiermark. Die Überwindung der Peripherie, WienKöln-Weimar 2002 ACHAM, Karl: Vernunft und Engagement. Sozialphilosophische Untersuchungen, Wien 1972 ACHAM, Karl: Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einführung, Freiburg i.Br.-München 1974 ACHAM, Karl: Philosophie der Sozialwissenschaften, Freiburg i.Br.-München 1983 ACHAM, Karl: Vernunftanspruch und Erwartungsdruck. Studien zu einer philosophischen Soziologie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989 ACHAM, Karl: Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen, Freiburg i.Br.-München 1995 ACHAM, Karl: Zur österreichischen Soziologie im 20. Jahrhundert – von den zwanziger zu den sechziger Jahren (Karl-Lamprecht-Vortrag 1996), Leipzig 1997 ACHAM, Karl: Schumpeter’s Conception of History, in: Geschichte und Gegenwart 16 (1997), S. 195– 210 ACHAM, Karl: Historische Umbrüche in dem halben Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg. Über einige ihrer Folgen für den Geist der Sozialwissenschaften, in: ACHAM, NÖRR, SCHEFOLD (Hg.) 1998, S. 535–566 ACHAM, Karl: Franz Kröners Systematologie. Zum Versuch einer Topologie philosophischer Systeme, in: Thomas BINDER, Reinhard FABIAN, Ulf HÖFER, Jutta VALENT (Hg.): Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz, Amsterdam-New York 2001 (= Studien zur österreichischen Philosophie, 23), S. 373–410 ACHAM, Karl (Hg.): Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften (= Wege der Forschung, CCCCXXXV), Darmstadt 1978 ACHAM, Karl (Hg.): Gesellschaftliche Prozesse. Beiträge zur historischen Soziologie und Gesellschaftsanalyse, Graz 1983 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 13) ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999 ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 3.2: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Wirtschaft, Politik und Recht, Wien 2000 ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 2: Lebensraum und Organismus des Menschen, Wien 2001 [zitiert als ACHAM (Hg.) 2001a] ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 3.1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, Wien 2001 [zitiert als ACHAM (Hg.) 2001b] ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002
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ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 5: Sprache, Literatur und Kunst, Wien 2003 ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6.1: Philosophie und Religion: Erleben, Wissen, Erkennen, Wien 2004 ACHAM, Karl (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6.2: Philosophie und Religion: Gott, Sein und Sollen, Wien 2006 ACHAM, Karl (Hg.): Zeitdiagnosen. Studien zur Geschichts- und Gesellschaftsanalyse, 7 Bde., Wien 2002–2005 ACHAM, Karl (Hg.): Naturwissenschaft, Medizin und Technik aus Graz. Entdeckungen und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten: vom „Mysterium cosmographicum“ bis zur direkten Hirn-ComputerKommunikation, Wien-Köln-Weimar 2007 (= Kunst und Wissenschaft aus Graz, 1) ACHAM, Karl (Hg.): Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz. Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter: vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, Wien-Köln-Weimar 2009 (= Kunst und Wissenschaft aus Graz, 2) ACHAM, Karl, Winfried SCHULZE (Hg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990 (= Beiträge zur Historik, 6) ACHAM, Karl, Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD (Hg.): Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998 ACHAM, Karl, Katharina SCHERKE (Hg.): Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen in Zentraleuropa um 1900 und um 2000, Wien 2003 (= Studien zur Moderne, 18) ACHAM, Karl, Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD (Hg.): Der Gestaltungsanspruch der Wissenschaft. Aufbruch und Ernüchterung in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf dem Weg von den 1960er zu den 1980er Jahren, Stuttgart 2006 ACHATZ, Markus (Hg.): Steuerrecht, Verfassungsrecht, Europarecht. Festschrift für Hans Georg Ruppe, Wien 2007 ADAMOVICH, Ludwig: Die Prüfung d. Gesetze u. Verordnungen durch den österr. Verfassungsgerichtshof, Leipzig-Wien 1923 (= Wiener Staatswissenschaftl. Studien, NF. 5) ADAMOVICH, Ludwig: Österreichisches Verfassungsrecht, Wien 1923 (= Juristische Taschenbücher für technische und verwandte Hochschulen, 1) ADAMOVICH, Ludwig: Österreichisches Verwaltungsrecht, Wien-Leipzig 1924 (= Juristische Taschenbücher f. technische u. verwandte Hochschulen, 2) ADAMOVICH, Ludwig: Die österreichischen Verfassungsgesetze des Bundes und der Länder, Wien 1925 ADAMOVICH, Ludwig: Die Reform der österreichischen Bundesverfassung, Wien 1926 ADAMOVICH, Ludwig: Österreichisches Verwaltungsverfahren, Wien-Leipzig 1926 (= Juristische Taschenbücher f. technische u. verwandte Hochschulen, 15) ADAMOVICH, Ludwig: Grundriss des österreichischen Staatsrechtes (Verfassungs- u. Verwaltungsrechtes), Wien 1927 ADAMOVICH, Ludwig: Grundriss des tschechoslovakischen Staatsrechtes (Verfassungs- u. Verwaltungsrechtes), Wien 1929 ADAMOVICH, Ludwig: Die österreichischen Verfassungsgesetze des Bundes samt Ausführungs- u. Nebengesetzen. Mit erl. Bemerkungen, 3. Aufl. nach d. Stande vom 31. Aug. 1931, Wien 1931 ADAMOVICH, Ludwig: Grundriß des österreichischen Verfassungsrechtes, Wien 1947
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ADAMOVICH Ludwig, Alfred VERDROSS-DROSSBERG, Karl WOLFF (Hg.): Rechts- und Staatswissenschaften, Wien 1946 ADAMOVICH, Ludwig [Karl]: Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien 1971 ADAMOVICH, Ludwig: Was kann man von einer Verfassung erwarten? Vortrag, gehalten vor der Vollversammlung der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft in St. Pölten am 19.11.1997, Wien 1998 (= Schriftenreihe d. Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft, 76) ADAMOVICH, Ludwig: Das Menschenbild der Demokratie und der Grundrechte. Vortrag mit Diskussion, gehalten in Salzburg am 7. November 2000, Köln u. a. 2001 ADAMOVICH, Ludwig: Eine neue Republik? Gedanken zur Verfassungsreform, Wien 2004 ADAMOVICH, Ludwig: Verfassungsreform. Ein gewaltiges Vorhaben. Vortrag gehalten vor der Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft in St. Pölten am 17. November 2004, Wien 2005 (= Schriftenreihe d. Niederösterreichischen Juristischen Gesellschaft, 93) ADAMOVICH, Ludwig: Der Weg zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht, Wien 2008 ADAMOVICH, Ludwig K., Bernd-Christian FUNK: Österreichisches Verfassungsrecht. Verfassungsrechtslehre unter Berücks. v. Staatslehre u. Politikwissenschaft, 3. Aufl., Wien-New York 1985 ADAMOVICH, Ludwig K., Bernd-Christian FUNK: Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Wien-New York 1987 ADAMOVICH, Ludwig K., Bernd-Christian FUNK, Gerhart HOLZINGER: Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1: Grundlagen, Wien-New York 1997 ADAMOVICH, Ludwig K., Bernd-Christian FUNK, Gerhart HOLZINGER, Stefan L. FRANK: Österreichisches Staatsrecht, Bd. 2: Staatliche Organisation, Wien-New York 1998; Bd. 3: Grundrechte, Wien-New York 2003; Bd. 4: Allgemeine Lehren des Verwaltungsrechts, Wien-New York 2009 AHRENS, Heinrich: Juristische Encyclopaedie oder organische Darstellung der Rechts- und Staatswissenschaft auf der Grundlage einer ethischen Rechtsphilosophie, Wien 1855; Neudruck Aalen 1970 AHRENS, Heinrich: Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates. Auf dem Grunde des ethischen Zusammenhanges von Recht und Cultur, 2 Bde., 6. Aufl., Wien 1870–1871 AICHER, Josef: Das Eigentum als subjektives Recht. Zugleich ein Beitrag zur Theorie des subjektiven Rechts, Berlin 1975 (= Schriften zur Rechtstheorie, 38) AICHER, Josef: Grundfragen der Staatshaftung bei rechtmäßigen hoheitlichen Eigentumsbeeinträchtigungen, Berlin 1978 AICHER, Josef: Wettbewerbsrechtliche und wettbewerbspolitische Aspekte der Vergabe öffentlicher Aufträge, Wien 1981 AICHER, Josef: Entsprechen die Bestimmungen über die Enteignung, insbesondere nach dem Bundesstraßengesetz, und ihre Praxis dem Grundrechtsschutz?, Wien 1985 (= Verhandlungen des […] Österreichischen Juristentages Wien 1985; 9, 1, 1) AICHER, Josef: Aspekte der Fusionskontrolle in der EG – Konsequenzen für Österreich, Wien 1992 (= Vorträge und Aufsätze des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen der Universität Wien, 16) AICHER, Josef, Florian SCHUHMACHER: Wertpapierrecht, Wien 2006 AICHER, Josef (gemeinsam mit Heinz KREJCI): Unternehmensrecht, 4., neu bearb. und erw. Aufl. des Kurzlehrbuchs „Handelsrecht“, Wien 2008 (= Manzsche Kurzlehrbuch-Reihe, 19) AICHER, Josef (Hg.): Das Recht der Werbung, Wien 1984 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 9) AICHER, Josef (Hg.): Rechtsfragen der öffentlichen Energieversorgung, Wien 1987 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 12)
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AICHER, Josef (Hg.): Die Haftung für staatliche Fehlleistungen im Wirtschaftsleben, Wien 1988 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 16) AICHER, Josef (Hg.): Grundfragen des neuen Börserechts, Wien 1998 AICHER, Josef (Hg.): Das Recht der Medienunternehmen, Wien 1998 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 34) AICHER, Josef (Hg.): Gemeinschaftsrecht und Wirtschaftsrecht – zentrale Probleme der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das österreichische Wirtschaftsrecht, Wien 2000 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 35) AICHER, Josef (Hg.): Der Schutz von Verbraucherinteressen. Ausgestaltung im öffentlichen Recht und im Privatrecht, Wien 2000 (= Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, 36) AICHER, Josef, Karl KORINEK u. a. (Hg.): Schriften zum gesamten Recht der Wirtschaft, Bd. 1, Wien 1979 AICHER, Josef, Peter FISCHER, Gerhard HAFNER (Hg.): Europarecht. Texte und Fälle, Wien 1989 AICHER, Josef, Bernd-Christian FUNK (Hg.): Der Sachverständige im Wirtschaftsleben, Wien 1990 AICHER, Josef, Hans-Georg KOPPENSTEINER (Hg.): Beiträge zum Zivil- und Handelsrecht. Festschrift f. Rolf Ostheim zum 65. Geburtstag. Gesamtred.: Willibald POSCH, Wien 1990 AICHER, Josef, Karl KORINEK (Hg.): Handbuch des österreichischen Subventionsrechts, 2 Bde., Wien 1993 AICHER, Josef, Karl KORINEK (Hg.): Bundesvergabegesetz – (BVergG), mit den Gesetzesmaterialien, Wien u. a. 1993 ALBERT, Dietrich (Hg.): Knowledge structures. With 30 tables, Berlin u. a. 1994 ALBERT, Dietrich (Hg.): Gedächtnis, Göttingen 1996 (= Enzyklopädie der Psychologie, 4) ALBERT, Dietrich (Hg.): Apparative Psychologie. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung, Lengerich u. a. 1997 ALBERT, Dietrich (Hg.): Knowledge spaces. Theories, empirical research, and applications, Mahwah, NJ u. a. 1999 ALBERT, Hans: Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied-Berlin 1967 ALBERT, Hans: Individuelles Handeln und soziale Steuerung – Die ökonomische Tradition und ihr Erkenntnisprogramm, in: Hans LENK (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär IV, München 1977, S. 177–225 ALBERT, Hans: Zur Rolle der Phantasie in der Forschung. Eine methodologische Untersuchung im Anschluss an Max Weber, in: Steffen SIGMUND, Gert ALBERT, Agathe BIENFAIT, Mateusz STACHURA (Hg.): Soziale Konstellation und historische Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 427– 444 ALLEN, Robert Loring: Opening Doors. The Life and Work of Joseph Schumpeter, 2 Bde., New Brunswick-London 1991 AMONN, Alfred: Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie, Wien 1911; Neudruck der 2. Aufl., Wien-Leipzig 1927, mit einer Einleitung von Terence W. HUTCHISON, Wien-KölnWeimar 1996 (= Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 6) AMONN, Alfred: Nationalgefühl und Staatsgefühl, München 1915 AMONN, Alfred: Die Hauptprobleme der Sozialisierung, Leipzig 1920 AMONN, Alfred: Sozialismus und Sozialisierung, Prag 1922 AMONN, Alfred: Ricardo als Begründer der theoretischen Nationalökonomie, Jena 1924
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AMONN, Alfred: Grundzüge der Volkswohlstandslehre, Jena 1925 AMONN, Alfred: Beiträge zur Wirtschaftstheorie, Teil 1: Volkseinkommen und Volksvermögen, München-Leipzig 1926 AMONN, Alfred: Das Lohnproblem, Berlin 1930 AMONN, Alfred: Volkswirtschaftliche Grundbegriffe und Grundprobleme, Jena 1938; 2. Aufl. Bern 1944 AMONN, Alfred: Grundsätze der Finanzwissenschaft. Erster (allgemeiner) Teil, Bern 1947 AMONN, Alfred: Grundzüge der theoretischen Nationalökonomie, Bern 1948 AMONN, Alfred: Die klassische und die modernde Nationalökonomie, Bern 1949 AMONN, Alfred: Vollbeschäftigung, Inflation und Planwirtschaft, Erlenbach bei Zürich 1951 AMONN, Alfred: Nationalökonomie und Philosophie, Berlin 1961 ANDERS, Joseph von: Beiträge zur Lehre vom literarischen und artistischen Urheberrechte, Innsbruck 1881 ANDERS, Joseph von: Das Recht der Unehelichen in Österreich, Wien 1882 ANDERS, Joseph von: Das Familienrecht, systematisch dargestellt, Berlin 1887 ANDERS, Joseph von: Grundriß des Erbrechts, Leipzig 1899; 2. Aufl. Leipzig 1910 ANDERS, Joseph von: Grundriß des Familienrechts, Leipzig 1899; 2. Aufl. Leipzig 1911 ANDREAE, Wilhelm: Kapitalismus, Faschismus, Bolschewismus, Jena 1933 ANDREAE, Wilhelm: Geld und Geldschöpfung, Stuttgart 1953 (= Sammlung Die Universität, 36) ANDREAE, Wilhelm: Vom Geist der Ordnung in Gesellschaft und Wirtschaft. Ausgewählte Aufsätze und Abhandlungen. Als Festschrift zum 70. Geburtstage hg. von Walter HEINRICH, Hans RIEHL, Anton TAUTSCHER, Stuttgart 1959 ANDROSCH, Hannes, Helmut H. HASCHEK (Hg.): Österreich – Geschichte und Gegenwart, Wien 1987 ANTONELLI, Mauro: Die experimentelle Analyse des Bewußtseins bei Vittorio Benussi, Amsterdam 1994 ARNSWALD, Ulrich (Hg.): Die Zukunft der Geisteswissenschaften, Heidelberg 2005 BACHHIESL, GARTLER, NESSMANN, TREMER [jeweils ohne Angabe der Vornamen] (Hg.): Räuber, Mörder, Sittenstrolche. 37 Fälle aus dem Kriminalmuseum der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2003 BALTL, Hermann: Rechtsarchäologie des Landes Steiermark, Graz-Köln 1957 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 1) BALTL, Hermann: Probleme der Neutralität betrachtet am österreichischen Beispiel, Graz 1962 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 8) BALTL, Hermann: Österreichische Rechtsgeschichte. Unter Einschluß sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Grundzüge. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 9. Aufl., Graz 1997 BALTL, Hermann (Hg.): Festschrift Artur Steinwenter. Zum 70. Geburtstag, Graz-Wien-Köln 1958 BALTL, Hermann (gemeinsam mit N. GRASS und H. C. FAUSSNER): Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit, Sigmaringen 1990 BALTL, Hermann (gemeinsam mit Gernot KOCHER): Österreichische Rechtsgeschichte unter Einschluss sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Grundzüge. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 10. Aufl., Graz 2004 BALTL, Hermann (gemeinsam mit Fritz LOCHNER von HÜTTENBACH): Die Steiermark im Frühmittelalter – Frühmittelalterliche Namen in der Steiermark, Graz 2004 BECK-MANNAGETTA, Leo R. von, Carl von KELLE: Die österreichischen Universitätsgesetze, Wien 1906
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BELL, Daniel: Die Sozialwissenschaften seit 1945. Aus dem Amerikanischen von Udo RENNERT, Frankfurt a. M. 1986 (= Reihe Campus, 1010) BENEDEK, Wolfgang (Hg.): Development and Developing International and European Law. Essays in honour of Konrad Ginther on the occasion of his 65th birthday, Frankfurt a. M. [u.a.] 1999 BENETKA, Gerhard, Giselher GUTTMANN: Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick, in: ACHAM (Hg.) 2001b, S. 83–167 BENUSSI, Vittorio: Psychologie der Zeitauffassung, Heidelberg 1913 BERNATZIK, Edmund: Die juristische Persönlichkeit der Behörden. Zugleich ein Beitrag zur Theorie der juristischen Personen, Freiburg i.Br. 1890 BERTHOLD, Norbert: der Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung, Tübingen 1997 (= Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, 135) BIDERMANN, Hermann Ignaz: Die technische Bildung im Kaiserthume Österreich. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrie und des Handels, Wien 1854 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Das Eisenhütten-Gewerbe in Ungarn und dessen frühere Annexen einschließlich der Militärgrenze. Ein Beitrag zur Statistik und Geschichte der volkswirthschaftlichen Verhältnisse dieser Länder, Pest-Graz 1857 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Geschichte der landesfürstlichen Behörden in und für Tirol von 1490 bis 1749, in: Archiv für Geschichte und Altertumskunde Tirols 3 (1866), S. 323 –352 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Geschichte der österreichischen Gesammt-Staats-Idee: 1526 –1804, Innsbruck 1867–1889 [Fotomechan. Nachdr., Wien 1972] BIDERMANN, Hermann Ignaz: Über den Merkantilismus. Vortrag gehalten bei Veröffentlichung der Preisaufgaben für 1869/70 an der K.K. Universität zu Innsbruck, Innsbruck 1870 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Carl von Riccabona zu Reichenfels, geboren 1806, gestorben 1871. Eine Lebensskizze, Innsbruck 1872 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Die Verkehrsbeziehungen der Stadt Leoben zu den westlichen Alpenländern. Vom 16. bis zum 19. Jahrhunderte. Festschrift aus Anlaß der ersten Wanderversammlung des historischen Vereines für Steiermark, Graz 1873 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Die Italiäner im tirolischen Provinzial-Verbande, Innsbruck 1874 BIDERMANN, Hermann Ignaz: Die rechtliche Natur der österreichisch-ungarischen Monarchie. Vortrag […] in der Sitzung der Wiener juristischen Gesellschaft vom 24. April 1871, Wien 1877 [Sonderabdruck aus den Juristischen Blättern] BIDERMANN, Hermann Ignaz: Die Romanen und ihre Verbreitung in Österreich. Ein Beitrag zur Nationalitäten-Statistik, mit einleitenden Bemerkungen über deren Verhältniss zu den Rechts- und Staatswissenschaften. Festschrift der K.K. Universität Graz aus Anlaß der Jahresfeier am 15. November 1876, Graz 1877 [BIDERMANN, Hermann Ignaz, Carl Freiherr von HOCK:] HOCK, Carl Freiherr von, Hermann Ignaz BIDERMANN: Der österreichische Staatsrath 1760–1848. Eine geschichtliche Studie vorbereitet und begonnen von Carl Freiherr von Hock, aus dessen literarischem Nachlasse fortgesetzt und vollendet von Herm[ann] Ign[az] Bidermann, Wien 1872 (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1879). BIDLINGMAIER, Johannes: Marketing 1, Reinbek 1976 (= rororo-studium, 32) BINDER, Dieter A.: Karl Maria Stepan, Josef Dobretsberger. Verlorene Positionen des christlichen Lagers, Wien 1992 BINDER, Dieter A.: Heimatsuchen. Versuche zur Kulturgeschichte eines Bundeslandes, in: ABLEITINGER, BINDER (Hg.) 2002, S. 551–634
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und 61 Lieferungen mit derzeit mehr als 16.000 Biographien erschienen. Das ÖBL schließt sich an das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich an, welches den Zeitraum von 1750 bis 1850 behandelt.] OSTERHAMMEL, Jürgen: Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: LOTH, OSTERHAMMEL (Hg.) 2000, S. 287–308 OSTERHAMMEL, Jürgen, Niels P. PETERSSON: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, 4. Aufl., München 2007 (= Beck’sche Reihe Wissen, 2320) PAULSON, Stanley L., Michael STOLLEIS (Hg.): Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005 (= Grundlagen der Rechtswissenschaft, 3) PAWLIK, Kurt: „Gibt es psychologische Entdeckungen?“ Vom Nutzen der psychologischen Wissenschaft, in: FESTAKT 1995, S. 42–69 PETROVIC, Otto, Bernd SCHILCHER, Reinhard POSCH (Hg.): Internet und Internationales Privatrecht, Wien-New York 2001 PEUKERT, Helge: Das sozialökonomische Werk Wilhelm Röpkes, 2 Bde., Bern u. a. 1992 PFAFF, Ivo: Über den rechtlichen Schutz des wirtschaftlich Schwächeren in der römischen Kaisergesetzgebung, Weimar 1897 PFAFF, Ivo: Zur Frage nach der Einheit des römischen Reiches, Wien 1907 (Sonderabdruck aus der Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Schottengymnasiums) PFEISINGER, Gerhard: Die Revolution von 1848 in Graz, Wien 1986 (= Materialien zur Arbeiterbewegung, 42) PFERSCHE, Emil: Die Irrthumslehre des österreichischen Privatrechts, Graz 1891 PFERSCHE, Emil: Österreichisches Sachenrecht, Bd. I, Wien 1893 PFERSCHE, Emil: Grundriß der allgemeinen Lehren des bürgerlichen Rechts, Leipzig 1907 PFERSCHE, Emil: Grundriß des Sachenrechts, 2. Aufl., Leipzig 1911 PIRCHEGGER, Hans: Geschichte der Steiermark 1282–1740, Graz-Wien-Leipzig 1931 (2. Aufl. 1942) PIRCHEGGER, Hans: Geschichte der Steiermark 1740–1919 und die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte 1500–1919, Graz-Wien-Leipzig 1934 (= Geschichte der Steiermark, 3) PIRCHEGGER, Hans: Die Grazer Universität 1586 bis 1936, in: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestandes der Karl-Franzens-Universität zu Graz. Hg. vom Akademischen Senat, Graz 1936, S. 5ff. PIRCHEGGER, Hans: Geschichte der Steiermark. Mit besonderer Rücksicht auf das Kulturleben [Fotomechanische Wiedergabe der im Jahre 1949 im Selbstverlag des Verfassers erschienenen Originalausgabe], Graz 1976 [Die der Originalausgabe beigegebenen 32 Bildtafeln wurden aus drucktechnischen Gründen weggelassen. Die Bibliographie über die wichtigste geschichtliche und landeskundliche Literatur wurde für die Jahre 1949 bis 1976 von Helga SCHULLER fortgesetzt.] – Reprint der Ausgabe von 1976: Graz 1996 [Diese Reprint-Ausgabe enthält nicht mehr die Bibliographie von Helga Schuller, stattdessen jedoch „Ausgewählte Fakten zur Steirischen Geschichte“, bezogen auf die Jahre 1945 bis 1996, von Anton L. SCHULLER.] PIRCHER, Wolfgang: Krieg und Management. Zur Geschichte des Operations Research, in: Diskurs und Praxis. Der Symbolgebrauch in den Wissenschaften (= Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 57. Jg., 2002), S. 26–31 POPELKA, Fritz: Geschichte der Stadt Graz, I. Band, mit dem Häuser- und Gassenbuch der inneren Stadt Graz von Arnold LUSCHIN-EBENGREUTH, Graz 1928; unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. 1959, Graz 1984
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POPELKA, Fritz: Geschichte der Stadt Graz, II. Band, mit dem Häuser- und Gassenbuch der Vorstädte am rechten Murufer von Hans PIRCHEGGER, Graz 1935; unveränd. Nachdruck der 2. Aufl. 1960, Graz 1984 POPELKA, Fritz: Geschichte der Stadt Graz. In 2 Bänden (Band I mit dem Häuser- und Gassenbuch der inneren Stadt Graz von A. LUSCHIN-EBENGREUTH; Band II mit dem Häuser- und Gassenbuch der Vorstädte am rechten Murufer von H. PIRCHEGGER), 3. Aufl. in 4 Bänden samt CDROM mit Booklet. Hg. von Walter BRUNNER im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Graz, Graz 2003 POSCH, Fritz: Josef (v.) Zahn und die Gründung des Steiermärkischen Landesarchivs, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 18 (1968), S. 25–83 POSCH, Willibald: Produzentenhaftung in Österreich. De lege lata et de lege ferenda. Gutachten, Wien 1982 POSCH, Willibald: Rechtsprobleme der medizinischen assistierten Fortpflanzung und Gentechnologie. Gutachten, Wien 1988 (= Verhandlungen des Zehnten Österr. Juristentages, Wien 1988, 1, 5) POSCH, Willibald: Grundzüge fremder Privatrechtssysteme. Ein Studienbuch, Wien u. a. 1995 (= Studien zu Politik und Verwaltung, 52) POSCH, Willibald (gemeinsam mit Franz MÄNHARDT): Internationales Privatrecht, Privatrechtsvergleichung, Einheitsprivatrecht. Eine Einführung in die internationalen Dimensionen des Privatrechts, 2. Aufl., Wien u. a. 1999 POSCH, Willibald, Bernd SCHILCHER (Hg.): Rechtsentwicklung in der Produkthaftung. Mit Beitr. v. Uwe DIEDERICHSEN u. a., Wien 1981 (= Schriften zum gesamten Recht d. Wirtschaft, 3) POSCH, Willibald, Peter APATHY (Hg.): Internationales Privatrecht. Bürgerliches Recht, 4. Aufl., Wien u. a. 2008 POSCH, Willibald, Wolfgang SCHLEIFER (Hg.): Rechtsfragen der Migration und Integration. 6. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, 30. Mai 2008, Graz 2008 POSER, Hans: Gibt es noch eine Einheit der Wissenschaften? Zum Wissenschaftsverständnis der Gegenwart, in: Walther Ch. ZIMMERLI (Hg.): Technologisches Zeitalter oder Postmoderne, München 1988, S. 111–126 PRIBRAM, Karl: Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie, Leipzig 1912 PRIBRAM, Karl: Geschichte des ökonomischen Denkens (A History of Economic Reasoning, 1983, dt.), Frankfurt a. M. 1992 PRISCHING, Manfred: Krisen. Eine soziologische Untersuchung, Wien-Köln-Graz 1986 PRISCHING, Manfred: Soziologie: Themen, Theorien, Perspektiven, 3. Aufl., Wien-Köln-Graz 1995 PRISCHING, Manfred: Bilder des Wohlfahrtsstaates. Sozioökonomische Studien, Marburg 1996 PRISCHING, Manfred: Die zweidimensionale Gesellschaft. Ein Essay zur neokonsumistischen Geisteshaltung, Wiesbaden 2006 PRISCHING, Manfred: Das Selbst. Die Maske. Der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person, Wien 2009 PROBST, Karlheinz: Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Teil 3: Strafrecht – Strafprozessrecht – Kriminologie, Graz 1987 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 9/3) PSCHOLKA, Gustav: Die Rechtslehrer der steirischen Landschaft in Graz, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 9 (1911), S. 29ff. PUZA, Richard: Kirchenrechtslehrer an der juridischen Fakultät der Universität Graz aus zwei Jahrhun-
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derten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 100. Kanonistische Abteilung 70 (1984), S. 237ff. Rabels Zeitschrift = Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von E. RABEL RADAKOVIC, Konstantin: Vitalismus und Mechanismus, Graz 1922 RADAKOVIC, Konstantin: Die letzten Fundamente der Hume’schen Erkenntnistheorie, Graz 1925 RADAKOVIC, Konstantin: Grundzüge einer deskriptiven Soziologie, Graz 1927 RADAKOVIC, Konstantin: Die Stellung des Skeptizismus zu Wissenschaft und Weltanschauung, Graz 1928 RADAKOVIC, Konstantin: Grundzüge einer genetischen Soziologie, Graz 1929 RADAKOVIC, Konstantin: Individuum und Gesellschaft, Graz 1931 RAUCH, Wolf: Bildung für das 21. Jahrhundert, in: Wirtschaft und Gesellschaft – Festschrift für Gerald Schöpfer zum 60. Geburtstag. Hg. von Stefan KARNER, Graz 2004, S. 229–238 RAUCH, Wolf: Die Universitätsreform 2002, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2003. Hg. von Andreas KHOL, Günther OFNER, Günther BURKERT-DOTTOLO, Stefan KARNER, Wien 2004, S. 139–152 REICHER, Maria: Alexius Meinong, in: ACHAM (Hg.) 2009, S. 645–664 REINHARD, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2002 REINHARD, Wolfgang: Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007 (= Beck’sche Reihe Wissen, 2423) ROEDER, Hermann: Willensfreiheit und Strafrecht. Versuch einer gesellschaftsphilosophischen Grundlegung, Wien 1932 RÖDER, Werner, Herbert A. STRAUSS (Hg.): Bibliographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben; Bd. 2 (Teil 1 und 2): The Arts, Sciences, and Literature; Bd. 3: Gesamtregister, München 1980–1983 RÖPKE, Wilhelm: Finanzwissenschaft, Berlin 1929 RÖPKE, Wilhelm: Krise und Konjunktur, Leipzig 1932 RÖPKE, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, Bern 1937 RÖPKE, Wilhelm: Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach bei Zürich 1942 RÖPKE, Wilhelm: Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Zürich 1944 RÖPKE, Wilhelm: Die Krise des Kollektivismus, München 1947 RÖPKE, Wilhelm: Mass und Mitte, Erlenbach bei Zürich 1950 RÖPKE, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach bei Zürich-Stuttgart 1958; 5. Aufl., Bern 1979 RÖPKE, Wilhelm: Gegen die Brandung, Erlenbach-Zürich 1959 ROSENMAYR, Leopold, Sigurd HÖLLINGER (Hg.): Soziologie – Forschung in Österreich. Methoden, theoretische Konzepte, praktische Verwertung, Wien-Köln-Graz 1969 ROTTLEUTHNER, Hubert: Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973 RUPPE, Hans Georg: Das Genossenschaftswesen in Österreich, Frankfurt a. M. 1970 RUPPE, Hans Georg: Die Ausnahmebestimmungen des Einkommensteuergesetzes. Probleme der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung bei den „Steuerbegünstigungen“ der österreichischen Einkommensteuer, Wien 1971 (= Schriften zum österr. Abgabenrecht, 6)
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SCHEY-KOROMLA, Joseph von: Die Obligationsverhältnisse des österreichischen allgemeinen Privatrechtes, Hefte 1–3, Wien 1890–1907 SCHEY-KOROMLA, Joseph von: Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für das Kaisertum Österreich samt den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen und einer Übersicht über die zivilrechtliche Spruchpraxis, 22. Aufl., Wien 1927 [Ab der 14. Auflage (1892) hatte Schey die Bearbeitung der „Großen Ausgabe“ des ABGB zur Gänze übernommen.] SCHICK, Peter (gemeinsam mit Heinz KREJCI, Hans Georg RUPPE): Unerlaubte Provisionen, Zuwendungen und Vorteile im Straf-, Privat- und Steuerrecht, Wien 1982 SCHICK, Peter (gemeinsam mit Heinz KREJCI, Walter HAUPTMANN): Ärztemuster auf Kassenkosten? Ärzte u. Apotheker am Rande der Legalität, Wien 1985 SCHICK, Peter J., Bernd-Christian FUNK, Willibald POSCH: Demonstrationsschäden. Abwehr und Ausgleich aus rechtlicher Sicht, Wien 1989 SCHICK, Peter (gemeinsam mit Marianne Johanna HILF): Strafrecht. Casebook, Fälle und Lösungsmuster zum materiellen Strafrecht, 5. Aufl., Wien 2008 SCHICK, Peter J. (Koordination): Die Haftung des Arztes in zivil- und strafrechtlicher Sicht unter Einschluß des Arzneimittelrechts. Mit Beiträgen v. Richard DIRNHOFER [u. a.], Graz 1983 SCHICK, Peter J. (Hg.): Kartellstrafrecht. Das Spiel vom Fragen (P. Handke), Wien 2007 SCHICK, Peter (Hg., gemeinsam mit Maximilian HOTTER, Harald LUNZER, Richard SOYER): Unternehmensstrafrecht – eine Praxisanleitung, Wien-Graz 2010 (= Schriftenreihe der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen, 12) SCHILCHER, Bernd: Theorie der sozialen Schadensverteilung, Berlin 1977 (= Schriften zum bürgerlichen Recht, 42) SCHILCHER, Bernd: Gesetzgebungstheorie und Privatrecht, in: WINKLER, SCHILCHER (Hg.) 1981, S. 35ff. SCHILCHER, Bernd (gemeinsam mit Heinz KREJCI, Viktor STEININGER): Konsumentenschutzgesetz, ABGB und Verfahrensrecht, Wien 1978 SCHILCHER, Bernd (Hg.): Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000 (= Juristische Schriftenreihe, 125) SCHILCHER, Bernd, Rudolf BRETSCHNEIDER (Hg.): Konsumentenschutz im öffentlichen Recht, Wien 1984 SCHILCHER, Bernd, Peter KOLLER, Bernd-Christian FUNK (Hg.): Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000 (= Juristische Schriftenreihe, 125) SCHLOSSAR, Anton: Erzherzog Johann von Österreich und sein Einfluß auf das Culturleben der Steiermark. Originalbriefe des Erzherzogs aus den Jahren 1810–1825, Wien 1878 SCHLOSSAR, Anton: Deutsche Literatur und Theater in Steiermark, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Steiermark, Wien 1890; Nachdruck 1990, S. 273–289 SCHLOSSAR, Anton: Erzherzog Johann von Österreich. Sein edles Leben und segenreiches Wirken. Mit Benutzung des handschriftlichen und künstlerischen Nachlasses des Erzherzogs, 2. Aufl., Graz-Wien 1908 SCHLOSSAR, Anton (Hg.): Josef Eustach König: Skitze von Grätz. Getreuer Abdruck der Originalausgabe von 1792, Graz 1922 SCHLOSSER, Hans: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, 9. Aufl., Heidelberg 2001 SCHMALENBACH, Kirsten: Die Haftung Internationaler Organisationen im Rahmen von friedenssichernden Maßnahmen und Territorialverwaltungen, Frankfurt a. M. 2004
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SCHUMPETER, Joseph A.: Zur Soziologie der Imperialismen, Tübingen 1919 SCHUMPETER, Joseph A.: Business Cycles. A Theoretical, Historical, and Statistical Analysis of the Capitalist Process, Bd. I, New York 1939 SCHUMPETER, Joseph A.: Capitalism, Socialism, Democracy, New York 1942; deutsch: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950; 7. Aufl., Tübingen-Basel 1993 SCHUMPETER, Joseph A.: Essays. On Entrepreneurs, Innovations, Business Cycles, and the Evolution of Capitalism. Ed. by Richard V. CLEMENCE, Cambridge, Mass. 1951; Nachdruck, mit einer neuen Einleitung von Richard SWEDBERG, New Brunswick, Oxford 1989 SCHUMPETER, Joseph A.: Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953 SCHUMPETER, Joseph A.: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, Tübingen 1954 SCHUMPETER, Joseph A.: History of Economic Analysis. Ed. from manuscript by Elisabeth B. SCHUMPETER, New York 1954; deutsch: Geschichte der ökonomischen Analyse. Hg. von Elisabeth B. SCHUMPETER, übers. v. G. FRENZEL, 2 Bde., Göttingen 1965 SCHUMPETER, Joseph A.: Beiträge zur Sozialökonomik. Mit einem Vorw. v. Gottfried HABERLER. Hg., übers. u. mit einer Einleitung v. Stephan BÖHM, Wien-Graz-Köln 1988 (= Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 4) SCHUMPETER, Joseph A.: Politische Reden, hg. und kommentiert von Christian SEIDL und Wolfgang F. STOLPER, Tübingen 1992 SCHUMPETER, Joseph A.: Aufsätze zur Tagespolitik, hg. und kommentiert von Christian SEIDL und Wolfgang F. STOLPER mit einem Beitrag von Hans-Jürgen WAGENER, Tübingen 1993 SCHWIND, Ernst von, Alphons DOPSCH (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande im Mittelalter, Innsbruck 1895; Neudruck Aalen 1968. SEIDL, Christian: Normative Theorien der Steuerdisziplin der Selbständigen. Eine Analyse des Zensitenverhaltens, Wien 1974 (= Veröffentlichungen d. Kommission f. Sozial- u. Wirtschaftswissenschaften, 2; Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte, 294, 2) SEIDL, Christian: Stand und Grundprobleme der Kollektiventscheidungstheorie, Wien 1991 SEIDL, Christian: Schumpeter Joseph Alois, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL), Bd. 11, Wien 1999, S. 369–371 SEIDL, Christian (Hg.): Lectures on Schumpeterian Economics. Schumpeter Centenary Memorial Lectures Graz 1983, Berlin u. a. 1984 SEIDL, Christian (Hg., gem. mit Wolfgang F. STOLPER): Joseph A. Schumpeter: Politische Reden. Tübingen 1992 SEIDL, Christian (Hg., gem. mit Wolfgang F. STOLPER): Joseph A. Schumpeter: Aufsätze zur Tagespolitik. Tübingen 1993 [SELTEN, Reinhard:] Ehrenpromotion des Herrn Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Selten der Universität Bonn zum Doktor der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Graz 1996 (= Grazer Universitätsreden, 60) SIEBER, Hugo: Alfred Amonn (†), in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 99 (1963), S. 1ff. SONNENFELS, Joseph von: Grundsätze der Polizey-, Handlungs- und Finanzwissenschaft, 3 Teile, 7. Aufl., Wien 1967 SONNENFELS, Joseph von: Aufklärung als Sozialpolitik. Ausgewählte Schriften aus den Jahren 1764– 1798. Hg. u. eingel. v. Hildegard KREMERS, m. e. Nachwort v. Karl ACHAM, Wien-Köln-Weimar 1994 (= Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 10)
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WEINBERGER, Ota: Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1998 [WEINBERGER, Ota:] Aus intellektuellem Gewissen. Aufsätze von Ota Weinberger über Grundlagenprobleme der Rechtswissenschaft und Demokratietheorie, hg. von M. FISCHER, P. KOLLER, W. KRAWIETZ, Berlin 2000 WEINBERGER, Ota: Wahrer Glaube, Agnostizismus und theologische Argumentation, Berlin 2004 WEINBERGER, Ota (gem. mit Johann MOKRE): Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, Wien-New York 1976 WEINBERGER, Ota (gem. mit D. N. MacCORMICK): Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985 WEINBERGER, Ota, Christiane WEINBERGER: Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1987 WEINBERGER, Ota (gem. mit W. KRAWIETZ): Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien-New York 1988 WEINHANDL, Ferdinand: Gestaltanalyse, Erfurt 1927 WEINHANDL, Ferdinand (Hg.): Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt 1960 WELAN, Manfried, Karl KORINEK, Karl KROESCHELL: Aktuelle Probleme des Agrarrechtes, Wien 1971 (= Schriftenreihe f. Agrarsoziologie u. Agrarrecht, 9) WELLSPACHER, Moriz: Das Vertrauen auf äußere Tatbestände im bürgerlichen Rechte, Wien 1906 WELLSPACHER, Moriz: Das Naturrecht und das ABGB, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Bd. I, Wien 1911, S. 173ff. WELLSPACHER, Moriz: Emil Strohal. Ein Nachruf, Wien 1915 (= Separat-Abdruck aus Grünhuts Zeitschrift 41, 1915, S. 1ff.) WENGER, Karl, Christian BRÜNNER, Peter OBERNDORFER (Hg.): Grundriß der Verwaltungslehre, Wien-Köln 1983 WENGER, Leopold: Rechtshistorische Papyrusstudien, Graz 1902 WENGER, Leopold: Römische und antike Rechtsgeschichte, Graz 1905 WENGER, Leopold: Emil Strohal. Ein Nachruf, Berlin 1914 WENGER, Leopold: Das Deutschtum in Kärnten, München 1922 (= Das Grenz- und Auslandsdeutschtum, 2) WENGER, Leopold: Institutionen des römischen Zivilprozesses, München 1925 WENGER, Leopold: Von der Staatskunst der Römer, München 1925 (= Münchner Universitätsreden, 1) WENGER, Leopold: Zum Zivilrecht Sowjetrußlands, Berlin-Grunewald 1926 (Aus: Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie, 20, 1) WENGER, Leopold: Die heutige Sicht der römischen Rechtswissenschaft. Erreichtes und Erstrebtes. Erw. Abdruck d. beim Antritt des Wiener Lehramtes am 3. Nov. 1926 geh. Rede, München 1927 (= Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte, 11) WENGER, Leopold: Canon in den römischen Rechtsquellen und in den Papyri. Eine Wortstudie, Wien u. a. 1942 (= Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse, 220, 2) WENGER, Leopold: Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften der Gesamtakademie, 2) WESENBERG, Gerhard, Gunter WESENER: Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 4. Aufl., Wien-Köln-Graz 1985 WESENER, Gunter: Geschichte des Erbrechtes in Österreich seit der Rezeption, Graz-Köln 1957 (= Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte, 4)
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WESENER, Gunter: Offensive Selbsthilfe im klassischen römischen Recht, in: Festschrift Artur Steinwenter. Zum 70. Geburtstag, Graz-Köln 1958, S. 100–120 WESENER, Gunter: 200 Jahre Studium juris an der Universität Graz, in: Die Universität Graz. Jubiläumsband 1827–1977. Ein Fünfjahr-Buch, Graz 1977, S. 33ff. WESENER, Gunter: Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, Teil 1: Römisches Recht und Naturrecht, Graz 1978 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 9/1) WESENER, Gunter: Franz Aloys Tiller. 1742–1797, in: Juristen in Österreich 1200–1980, hg. von Wilhelm BRAUNEDER, Wien 1987, S. 55ff. und S. 362 WESENER, Gunter: Joseph Balthasar Winckler. 1710–1785, in: Juristen in Österreich 1200–1980, hg. von Wilhelm BRAUNEDER, Wien 1987, S. 53ff. und S. 371f. WESENER, Gunter: Anfänge einer österreichischen „gerichtlichen Rechtsgelehrsamkeit“. Zur Prozeßrechtslehre und -wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Recht und Geschichte. Festschrift H. Baltl zum 70. Geburtstag, Graz 1988, S. 619ff. WESENER, Gunter: Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert), Wien u. a. 1989 (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, 27) WESENER, Gunter: Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Teil 4: Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz, Graz 2002 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 9/4) WESENER, Gunter: Emil Strohal (1844 –1914) – über die Pandektistik zum neuen bürgerlichen Recht, in: Iurisprudentia Universalis. Festschrift Th. Mayer-Maly zum 70. Geburtstag, Köln-WeimarWien 2002, S. 853ff. WESENER, Gunter, Herwig STIEGLER u. a. (Hg.): Festschrift für Arnold Kränzlein. Beiträge zur antiken Rechtsgeschichte, Graz 1986 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 43) WIEACKER, Franz: Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, Göttingen 1959 WIEACKER, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967 WIELAND, Wolfgang: Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (1998), S. 1–22 WIELAND, Wolfgang: Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001 WIELINGER, Gerhart: Das Verordnungsrecht der Gemeinden, Graz 1974 WIELINGER, Gerhart: Bedingungen der Vollziehbarkeit von Gesetzen, in: Theo ÖHLINGER (Hg.): Methodik der Gesetzgebung 1982, S. 154 ff. WIELINGER, Gerhart: Politische Konventionen als Bedingungen einer funktionierenden Demokratie, in: KRAWIETZ, SCHELSKY, WINKLER, SCHRAMM (Hg.) 1984, S. 211ff. WIELINGER, Gerhart: Parlamentarische Kontrolle versus Rechtsstaatsprinzip?, in: Clemens JABLONER, Otto LUCIUS, Alfred SCHRAMM (Hg.): Theorie und Praxis des Wirtschaftsrechts, Festschrift für Hans René Laurer, Wien-New York 2009, S. 119 ff. WIELINGER, Gerhart, Gunther GRUBER: Einführung in das österreichische Verwaltungsverfahrensrecht, Graz 1984; 11. Aufl., Graz 2008 WIESER, Bernd (Hg.): Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Symposium aus Anlaß des 60. Geburtstages von O. Univ.-Prof. Dr. Richard Novak, Wien 2000 (= Juristische Schriftenreihe, 152)
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WIESFLECKER, Hermann: Die Universität Graz in Vergangenheit und Gegenwart, in: Die Steiermark – Land, Leute, Leistung, 2. Aufl., Graz 1971, S. 751ff. WIESFLECKER, Hermann: 150 Jahre wiedererrichtete Universität – eine historische und zeitgemäße Betrachtung, in: 150. Jahrestag der Wiedererrichtung der Universität, Graz 1977 (= Grazer Universitätsreden, 15), S. 16–33 WILBURG, Max: Zur Lehre vom Unrecht. Eine civilrechtliche Untersuchung, in: Zentralblatt für die juristische Praxis 46 (1928), S. 874ff. WILBURG, Walter: Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung nach österreichischem und deutschem Recht. Kritik und Aufbau, Graz 1934 (= Festschrift der Universität Graz 1933/34) WILBURG, Walter: Die Elemente des Schadensrechtes, Marburg a. d. Lahn 1941 WILBURG, Walter: Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Graz 1950 WILBURG, Walter: Zusammenspiel der Kräfte im Ausbau des Schuldrechts, in: Archiv für die civilistische Praxis 163 (1964), S. 346ff. WILBURG, Walter: Zum Problem des gutgläubigen Erwerbes, in: Kurt EBERT (Hg.): Festschrift Hermann Baltl, Innsbruck 1978 (= Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte, 11), S. 557ff. WILSON, Edward O.: Die Einheit des Wissens. Aus dem Amerikanischen von Yvonne BADAL, München 2000 WINCKLER, Balthasar: Jus civile universum, seu in 50 libros digestorum commentarius, usui hodierno et praxi in nostris terris receptae pro viribus accomodatus, et in utilitatem studiosae legum juventutis editus, 2 Bde., Graz 1768 WINKLER, Günther, Bernd SCHILCHER (Hg.): Gesetzgebung. Kritische Überlegungen zur Gesetzgebungslehre und zur Gesetzgebungstechnik, Wien-New York 1981 (= Forschungen aus Staat und Recht, 50) WITASEK, Stephan: Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 25 (1901), S. 1–49 WITASEK, Stephan: Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Leipzig 1904 WITASEK, Stephan: Psychologisches zur ethischen Erziehung, in: Beiträge zur Kinderforschung (= Beihefte zur Zeitschrift für Kinderforschung), Heft 44, Langensalza 1907, S. 1–13 WITASEK, Stephan: Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908 WLASSAK, Moriz: Edict und Klageform. Eine romanistische Studie, Jena 1882 WLASSAK, Moriz: Kritische Studien zur Theorie der Rechtsquellen im Zeitalter der klassischen Juristen, Graz 1884 WOLF, Eric: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963 WOLF, Werner: „I must go back a little to explain [her] motives […]“. Erklärung und Erklärbarkeit menschlichen Verhaltens, Handelns und Wesens in englischen Romanen des Realismus: Hard Times und Adam Bede, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 48 (1998), S. 435–478 WOLFRAM, Herwig (Hg.): Österreichische Geschichte, 15 Bde., Wien 1994–2006 WÜNSCH, Horst: Schiedsgerichtsbarkeit in Handelssachen, Graz 1968 (= Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 20) WÜNSCH, Horst: Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, in: Die Universität Graz. Jubiläumsband 1827–1977. Ein Fünfjahr-Buch, Graz 1977, S. 61ff. WÜNSCH, Horst (gemeinsam mit Hermann HÄMMERLE): Handelsrecht, 3 Bde., 3. Aufl., Graz-WienKöln 1976–79 WÜNSCH, Horst (Hg.): Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, Teil 5: Professoren erinnern sich, Graz 2008 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 9/5)
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WURZBACH, Constant von: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, 60 Bde., Wien 1856– 1891; 1 Register-Bd., Wien 1923 ZAHN, Josef von: Die deutschen Burgen in Friaul. Skizzen in Wort und Bild, Graz 1883 ZAHN, Josef von: Das Steiermärkische Landesarchiv in Graz: zum fünfundzwanzigsten Jahre seines Bestehens, Graz 1893 ZAHN, Joseph von: Ortsnamenbuch der Steiermark im Mittelalter, Wien 1893 ZAHN, Joseph von: Styriaca. Gedrucktes und Ungedrucktes zur steierm. Geschichte und Culturgeschichte, Graz 1894 [ZAHN, Joseph von:] Steiermark im Kartenbilde der Zeiten: vom 2. Jahrhunderte bis 1600, hg. durch das Steiermärkische Landesarchiv von Jos. v. Zahn, Graz 1895 [ZAHN, Joseph von:] Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark, hg. vom Historischen Vereine für Steiermark, bearb. von J. v. Zahn, 3 Bde., Graz 1875–1903 (= Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark, 33) [ZAHN, Joseph (Hg.):] Das Familienbuch Sigmunds von Herberstein. Nach dem Originale, hg. von J. Zahn, Wien 1868 (Archiv für österreichische Geschichte, 39/2) ZECHNER, Josef: Der Einfluß von Steuern auf die optimale Kapitalstruktur von Unternehmungen, Wien 1989 ZEILLER, Franz [Anton Felix] von: Das natürliche Privat-Recht, Wien 1802; 3., verb. Aufl., 1819 ZEILLER, Franz von: Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten, 4 Bde., Wien 1806 –1809 [ZEILLER, Franz von:] Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Wien 1811 ZEILLER, Franz von: Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der österr. Monarchie, 4 Bde., Wien-Triest 1811–1813 ZEILLER, Franz von: Abhandlung über die Principien des allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Wien 1816 –1820. [Nachdruck dieser Ausgabe] Hg. von Wilhelm BRAUNEDER, Wien 1986 ZEILLER, Franz von: Ius naturae privatum, Wien 1819 ZEILLER, Franz von: Grundsätze der Gesetzgebung (1806 –1809), 1. Aufl. 1944 (= Deutsches Rechtsdenken, 14); 2. unveränd. Aufl., Frankfurt a. M. 1948 (= Deutsches Rechtsdenken, 6) ZEMLJIC, Andrea: Leben und Werk von Stephan Witasek, in: Reinhard FABIAN, Rudolf HALLER, Norbert HENRICHS (Hg.): Internationale Bibliographie zur Österreichischen Philosophie, Bd. 6 (1976 –1979), Amsterdam 1993, S. 1–122 ZIEGENFUSZ, Werner, Gertrud JUNG: Philosophenlexikon, 2 Bde., Berlin 1949 –1950 ZITZENBACHER, Walter (Hg.): Landeschronik Steiermark, Wien 1988 ZIZEK, Franz: Die statistischen Mittelwerte. Eine methodische Untersuchung, Leipzig 1908 ZIZEK, Franz: Soziologie und Statistik, München-Leipzig 1912 ZIZEK, Franz: Fünf Hauptprobleme der statistischen Methodenlehre, München 1922 ZIZEK, Franz: Grundriß der Statistik, 2. Aufl., München-Leipzig 1923 ZÖLLNER, Erich: Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 1990 ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Lohnpolitik und Lohntheorie mit besonderer Berücksichtigung des Minimallohnes, Leipzig 1900 ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Beiträge zur Lehre von den Lohnformen, Tübingen 1904
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ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Sozialpolitik, Leipzig-Berlin 1911 ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Macht oder ökonomisches Gesetz, München 1925 (= Münchener Juristische Vorträge, 8) ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Berlin 1932 (= Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften, 33) ZWIEDINECK-SÜDENHORST, Otto von: Von der älteren zur neueren Theorie der politischen Ökonomie, München 1952
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Die Autorin und die Autoren MICHAEL BOCK (geb. 1950), Dr. rer. soc., Dr. iur., o. Prof. für Kriminologie und Strafrecht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz; Studium der Evangelischen Theologie und der Rechts- und Staatswissenschaften, 1975 I. Ev.-theologische Dienstprüfung (Diplom), 1978 Promotion in Staatswissenschaften und 1983 in Rechtswissenschaften; 1985 Habilitation für das Fach Soziologie, seit 1995 Professor für Kriminologie und Strafrecht in Mainz. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Kriminologie, Rechtssoziologie und Wissenschaftsgeschichte. Publikationen in Auswahl: Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses, Stuttgart 1980; Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft, Berlin 1984; Recht ohne Maß, Berlin 1988; Kriminologie, 3. Aufl., München 2007; (Neubearbeitung, gemeinsam mit A. BÖHM) Hans Göppinger: Kriminologie, 6. Aufl., München 2008. FRANZ BYDLINSKI (geb. 1931), Dr. iur., Dr. iur. h.c. (Salzburg, München, Katowice, Trnava), em. o. Univ.-Prof. für Zivilrecht und Juristische Methodenlehre an der Universität Wien; Studium der Rechtswissenschaft in Graz, 1954 Promotion, Assistent bei Walter Wilburg, Gerichtsjahr; 1957 Habilitation für Österr. Privatrecht und 1960 ao. Prof. in Graz, 1963–67 o. Prof. in Bonn, 1967–2000 (Emeritierung) in Wien. Wirkl. Mitglied der Österr. und korr. Mitglied der Bayerischen, der Göttinger sowie der Krakauer Akademie der Wissenschaften. Vorstandsmitglied diverser rechtswissenschaftlicher Gesellschaften, Mitarbeit bei verschiedenen Gesetzgebungskommissionen in Wien, langjähriger Schriftleiter bzw. Mitherausgeber der Juristischen Blätter. Theodor Körner-Förderungspreis 1955 und 1956, Kardinal Innitzer-Würdigungspreis 1976, Kardinal Innitzer-Preis 2007, Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse 2007. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Allgemeines Zivilrecht, Arbeitsrecht und Juristische Methodenlehre. Publikationen in Auswahl: 20 Bücher, darunter Der Gleichheitsgrundsatz im österreichischen Privatrecht (1961); Privatautonomie und objektive Grundlagen des Rechtsgeschäfts (1967); Beiträge zum Klang-Kommentar (2. Aufl., 1971–76); Juristische Methode und Rechtsbegriff (2. Aufl., 1991); System und Prinzipien des Privatrechts (1996). Ferner über 180 Abhandlungen. HEINZ FASSMANN (geb. 1955), Dr. phil., o. Univ.-Prof. für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung an der Universität Wien; Studium der Geographie und Geschichte in Wien, postgraduales Studium (Soziologie) am Institut für Höhere Studien, 1980–92 wissenschaftlicher Angestellter an der Österr. Akademie der Wissenschaften, hier 1992–96 geschäftsführender Direktor des Instituts für Stadt- und Regionalforschung; 1996 Ernennung zum o. Prof. (C4) für Angewandte Geographie und Geoinformatik an der Technischen Universität München, seit 2000 Professor an der Universität Wien, 2006 – 08 Dekan der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie an der Universität Wien; seit 2004 Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung und 2006– 09 Direktor des Instituts für Stadt-
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und Regionalforschung der Österr. Akademie der Wissenschaften. Wirkl. Mitglied der Academia Europaea und wirkl. Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften. – Mehrere Preise und Auszeichnungen, darunter der Hans-Bobek-Preis der Österr. Geographischen Gesellschaft, der Preis der Schader-Stiftung Gesellschaftswissenschaften im Praxisbezug 1995 und der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch im Jahr 2000. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeographie, Demographie (besonders im Bereich Migration), Transformation im östlichen Europa, Raumordnung in Österreich. Autor und Herausgeber von zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, davon mehr als 50 allein oder gemeinsam mit anderen verfaßten Monographien zu den genannten Sachbereichen. PETER GASSER-STEINER (geb. 1948), Dr. phil., ao. Univ.-Prof. am Institut für Soziologie der KarlFranzens-Universität Graz, 1987 Promotion im Fach Psychologie, Psychotherapeut (Individualpsychologischer Analytiker); berufliche Tätigkeiten u. a. als Klinischer Psychologe sowie beim Wohnungsamt der Stadt Graz; 1998 Habilitation für Soziologie an der Universität Graz mit der Schrift „Jugendlicher Drogenkonsum und Drogenaffinität. Epidemiologische Befunde und sozialwissenschaftliche Modelle“ (unpubl.). Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Angewandte Soziologie (Medizin, Stadtsoziologie), Methoden der empirischen Sozialforschung. Publikationen in Auswahl: Kann man sich vom Menschen ein Bild machen? Ein Beitrag zum Konzept des Menschenbildes, in: Chr. POSCH, S. SCHUIERER, A. J. SCHUIERER (Hg.): Menschenbilder und ihre Wirkungen, Thaur-Wien-München 2001 (= Leib & Seele, Forum interdisziplinär, 2), S. 87–99; Die Korrespondenzanalyse. Ein Verfahren zur explorativen Analyse verketteter Kreuztabellen, in: H. STIGLER, H. REICHER: Praxisbuch: Empirische Sozialforschung in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Innsbruck 2005, S. 273–286; Die Gruppe – ein Gegenstand im Schnittpunkt der Disziplinen. Versuch einer Synopsis, in: Gemeindenahe Psychiatrie 28 (2007), H. 1, S. 7–19. HEINRICH KLEINER (geb.1930), Dr. phil., Prof. i. R. für Philosophie/Philosophische Anthropologie an der Freien Universität Berlin (FUB); Studium der Philosophie, Psychologie und Biologie, 1959 Promotion in Philosophie, 1962–68 wiss. Assistent am I. Philos. Institut der Univ. Wien, 1961–63 auch Dozent der Wiener Ost-Akademie, 1963– 65 Stipendiat der Alexander v. Humboldt-Stiftung an der Univ. Münster; 1968–71 wiss. Assistent, danach Ass.-Prof. an der FUB, 1978 Habilitation ebenda, Vertretungs- und Gastprofessuren in Berlin bzw. Wien, 1981 C3-Professor an der FUB; seit 1985 Leiter des Forschungsinstituts für Philosophische Anthropologie Wien/FUB. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Philosophische Anthropologie, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Kritische Gesellschaftstheorie, Genese und Struktur der modernen Gesellschaft. Publikationen in Auswahl.: Beiträge für Kindlers Enzyklopädie – Der Mensch, München 1980–84: in Bd. IV: „Die Selbsterkenntnis des Menschen“; in Bd. V: „Zivilisation als Utopie“; in Bd. VIII: „Die politische Natur des Menschen“; in Bd. IX: „Der Friede nach dem Ende der Klassen“; Die moderne philosophische Anthropologie als Gesamtwissenschaft vom Menschen, in: Exzerpt und Prophetie. Gedenkschrift für Michael Landmann, Würzburg 2001, S. 141–220.
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PETER KOLLER (geb. 1947), Dr. iur., Dr. phil., o. Univ.-Prof. für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium der Rechtswissenschaften (Abschluß 1971) sowie der Philosophie mit Nebenfach Soziologie (Abschluß 1981), ab 1972 Assistent am Institut für Rechtsphilosophie an der Universität Graz (bei Ota Weinberger), 1985 Habilitation für die Fächer Rechtsund Sozialphilosophie sowie Rechtssoziologie; seit 1991 Professor für die oben genannten Fächer an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Gastprofessuren unter anderem an der University of Minnesota, der Rutgers University in New Jersey und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mitglied des Beirats der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD) und Mitglied des Beirats der Zeitschrift für philosophische Forschung. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Rechtstheorie, politische Philosophie, systematische und angewandte Ethik. Publikationen in Auswahl: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987; Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. Aufl., Wien 1997; (Hg.) Current Issues in Political Philosophy: Justice in Society and World Order, Wien 1997; (Hg.) Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, Wien 2001; Die globale Frage. Empirische Befunde und ethische Herausforderungen, Wien 2006. HILDEGARD KREMERS (1925–2007), Dr. phil., Historikerin; Studium der Latinistik und Romanistik in Freiburg i.Br., Basel und Aix en Provence, später Studium der Geschichte an der Universität Graz, hier 1983 Promotion mit der Dissertation Quellenkritische Analyse des ökonomischen Denkens von Joseph von Sonnenfels. Vermittlung und Anpassung; Forschungsaufenthalte mit zahlreichen Vorträgen in Frankreich. Trägerin des Goldenen Ehrenzeichens des Landes Steiermark. Hauptarbeitsgebiete: Geschichte Österreichs und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Publikationen in Auswahl: „Im Schatten der Guillotine“ – Die Französische Revolution: Daten, Schauplätze, Personen, in: Geschichte und Gegenwart 8 (1989); (Hg.) Joseph von Sonnenfels. Aufklärung als Sozialpolitik. Ausgewählte Schriften aus den Jahren 1764–1798, Wien-Köln-Weimar 1994 (= Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung, 10 ); (Hg.) Marie Caroline Herzogin von Berry: Neapel, Paris, Graz. Lebenswege einer Prinzessin der Romantik, Wien-Köln-Weimar 2002. HEINZ D. KURZ (geb. 1946), Dr. rer. soc. oec., o. Univ.-Prof. für Volkswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium der Volkswirtschaftslehre und Politischen Wissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität München, 1971 Diplomexamen, anschließend wiss. Assistent am Institut für Theoretische Volkswirtschaftslehre der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 1975 Promotion; 1977–78 Visiting Fellow am Wolfson College, Cambridge (UK), 1979 C4-Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen, 1988 Professor in Graz, Leiter des „Graz Schumpeter Centre“; seit 1990 Gast- und Forschungsprofessuren sowie Gastvortragsreihen u. a. an der New School for Social Research in New York, in Bogotá, Brasília, Leicester, Manchester, Nizza, Paris, Pisa, Rom, Seoul, Tokyo, Osaka und Xi’an. Managing Editor der Zeitschriften Metroeconomica und des European Journal of the History of Economic Thought
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und Mitglied zahlreicher Editorial Boards. Mehrere Forschungspreise, darunter von der Universität Kiel, dem Land Steiermark und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wilhelm Hartel-Preis). Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Theorie der Produktion, des Werts und der Verteilung; Wachstumstheorie und Theorie des technischen Fortschritts; Theorie der erneuerbaren und erschöpfbaren Ressourcen; Theoriegeschichte. Publikationen u. a. in den Zeitschriften Journal of Political Economy, Journal of Economic Behavior and Organization, Oxford Economic Papers, Cambridge Journal of Economics, History of Political Economy. Mehrere Bücher erschienen in englischen Verlagen (Cambridge University Press, Routlegde, Polity Press, Edward Elgar), Übersetzungen von Büchern und Aufsätzen erfolgten u. a. ins Russische, Japanische, Spanische, Galizische, Serbische und Chinesische. Die jüngste selbständige Publikation: (Hg.) Klassiker des ökonomischen Denkens, 2 Bde., München 2008 und 2009 (= Becksche Reihe, 1858 und 1859). MAXIMILIAN LIEBMANN (geb. 1934), Dr. theol., em. o. Univ.-Prof. für Kirchengeschichte an der KarlFranzens-Universität Graz; 1961 Promotion, 1977 Habilitation, 1982 Leiter der Abteilung für Theologiegeschichte und kirchliche Zeitgeschichte, seit 1989 o. Univ.-Prof. an der Karl-Franzens-Universität Graz; 1991–99 Dekan der Theologischen Fakultät, 1995–2003 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der österreichischen Kirchenhistoriker, 2002 emeritiert. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Spätmittelalter, Reformationsgeschichte, Theologiegeschichte, neuere bzw. neueste Kirchengeschichte. Publikationen in Auswahl: (Hg.) Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und Kirchlichen Zeitgeschichte; Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation, Münster 1980; Theodor Innitzer und der Anschluß. Österreichs Kirche 1938, Graz-Wien-Köln 1988; Kirche in Österreich 1938–1988, Graz 1990; Christentum und Kirche in der Steiermark, Heft 1–4, Kehl am Rhein 1996–1999; (Hg.) War die Ehe immer unauflöslich?, Limburg-Kevelaer 2002; „Heil Hitler“ – Pastoral bedingt. Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus, Wien-Köln-Weimar 2009. GERALD MOZETIČ (geb. 1951), Dr. phil., ao. Univ.-Prof. am Institut für Soziologie der Karl-FranzensUniversität Graz, Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Soziologie an der Universität Graz, 1978 Promotion mit der Dissertation Erkenntnistheorie und Soziologie. Untersuchungen zum Werk des Austromarxisten Max Adler, 1986 Habilitation für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung ihrer Theorie und Geschichte; 1994/95 Gastprofessor an der Universität Linz, 2004/05 Visiting Professor an der University of Minnesota, USA. 1997–2001 Vorstandsmitglied der „Österreichischen Gesellschaft für Soziologie“, seit 2006 Leiter des Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Geschichte der Soziologie, soziologische Theorie und Methodologie, Literatursoziologie. Publikationen in Auswahl: Die Gesellschaftstheorie des Austromarxismus, Darmstadt 1987; (Hg.) Edgar Zilsel: Wissenschaft und Weltanschauung. Aufsätze 1929–1933, Wien-Köln-Weimar 1992; (gem. mit Helmut KUZMICS) Literatur als Soziologie, Konstanz 2003; (Hg., gem. mit Andreas BALOG) Soziologie in und aus Wien, Frankfurt/M. u. a. 2004.
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FLORIAN OBERHUBER (geb. 1975), Dr. phil., Universitätslektor, selbständiger Journalist, Sozial- und Kulturwissenschaftler; Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Salzburg, Bowling Green (Ohio) und Wien; Sponsion zum Mag. rer. soc. oec. und 2003 Promotion in Soziologie; Forschungsaufenthalte an der Université Libre de Bruxelles (ULB), am Wissenschaftskolleg zu Berlin und an der Yale Law School, seit 2002 Mitarbeiter am Forschungszentrum Diskurs, Politik, Identität (Lancaster/Wien), 2006/07 Jean Monnet Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit 2008 Österreich-Koordinator von MyParl.eu. Mitherausgeber von sinnhaft. Journal für Kulturstudien. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Politische Theorie und Soziologie, Sprache und Politik, Europaforschung und qualitative Methoden. Publikationen in Auswahl: Die Erfindung des Obdachlosen: Eine Geschichte der Macht zwischen Fürsorge und Verführung, Wien 1999; (Hg., mit M. GUGGENHEIM, B. KRÄFTNER, J. KRÖLL, A. MARTOS) Die Wahr/Falsch Inc. Eine Wissenschaftsausstellung in der Stadt, Wien 2006; (gemeinsam mit M. KRZYZANOWSKI) (Un)Doing Europe: Discourses and Practices in the Negotiation of a European Constitution, Brüssel u. a. 2007; „Dissemination and Implementation of Political Concepts“, in: Handbook of Applied Linguistics 4, Berlin-New York 2008. MANFRED PRISCHING (geb. 1950), Mag. rer. soc. oec., Dr. iur., ao. Univ.-Prof. für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaftslehre, danach Universitätsassistent am Inst. für Rechtsphilosophie, am Inst. für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik, sowie am Inst. für Soziologie der Universität Graz. 1985 Habilitation für Soziologie, 1994 tit. ao. Univ.-Prof.; 1987/88 Forschungsaufenthalt an der Rijksuniversiteit Limburg (Maastricht, NL), 1995/96 Schumpeter-Forschungsprofessur an der Harvard University; Gastprofessor an den Universitäten Salzburg, Innsbruck, Linz und Klagenfurt; 2005/06 Visiting Scholar an den Universitäten von New Orleans, Little Rock und Las Vegas. 1997–2001 wissenschaftlicher Direktor der Technikum Joanneum GmbH (steirische Fachhochschulen). Korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Kardinal Innitzer-Preis (1985), Josef-Krainer-Forschungspreis (1994), Wilfried-Haslauer-Forschungspreis für Zeitgeschichte (1996); Träger des Großen Ehrenzeichens des Landes Steiermark. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Wirtschaftssoziologie, Politiksoziologie, Kultursoziologie, Wissenschaftssoziologie, sozialwissenschaftliche Theorie und Ideengeschichte, Zeitdiagnostik. Publikationen in Auswahl: Krisen. Eine soziologische Analyse, Wien-Köln-Graz 1986; Arbeitslosenprotest und Resignation in der Wirtschaftskrise, Frankfurt a. M.-New York 1988; Soziologie. Themen, Theorien, Perspektiven, 3. Aufl., Wien-Köln-Graz 1995; Die Sozialpartnerschaft, Wien 1996; Bilder des Wohlfahrtsstaates, Marburg 1996; Die McGesellschaft, Graz 1998; Good Bye New Orleans, Graz 2006; Die zweidimensionale Gesellschaft, Wiesbaden 2006; Bildungsideologien, Wiesbaden 2008. BERND SCHILCHER, (geb. 1940), Dr. iur., em. o. Univ.-Prof. für Zivilrecht, ausländisches und internationales Privatrecht an der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium der Rechtswissenschaften in Graz, 1964 Promotion, 1975 Habilitation aus Zivilrecht, seit 1978 o. Prof. in Graz, seit 2003 emeritiert. Mit-
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glied des Präsidiums des Steirischen Herbst, Mitglied des Aufsichtsrats der Forschungsgesellschaft Joanneum. Träger des Großen goldenen Ehrenzeichens des Landes Steiermark. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Privatrechtstheorie, Methodenlehre, Schadenersatz, Konsumentenschutz, Eigentumsrecht, Zusammenspiel von öffentlichem und privatem Recht, Schul- und Bildungsrecht. Publikationen in Auswahl: Theorie der sozialen Schadensverteilung, Berlin 1977; (Hg., gemeinsam mit Günther WINKLER) Gesetzgebung, Wien-New York 1981 (= Forschungen aus Staat und Recht, 50); (Hg., gem. mit Rudolf BRETSCHNEIDER) Konsumentenschutz im öffentlichen Recht, Wien 1984; (gem. mit Wolfgang KLEEWEIN) Landesbericht Österreich, in: Deliktsrecht in Europa, hg. von Christian von BAR, Köln u. a. 1993; (gem. mit Peter KOLLER, Bernd-Christian FUNK) Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, Wien 2000. ADOLF STEPAN (geb. 1942), Dipl.-Ing., Dr. techn., o. Univ.-Prof. für Industrielle Betriebswirtschaftslehre an der Technischen Universität (TU) Wien; Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der TU Graz als Werkstudent, ab 1971 Mitarbeiter am Institut für Industrielle Betriebswirtschaftslehre (Prof. Peter Swoboda), 1974 Promotion an der TU Graz, 1980 Habilitation für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz, 1981 Berufung an die TU Wien, hier auch Vorstand des Instituts für Managementwissenschaften; diverse akademische Funktionen, Gastprofessuren an der Universität Bielefeld und der Wirtschaftsuniversität Bratislava. 1987–98 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates und des Aufsichtsrates der Joanneum Research GmbH in Graz; simultaner Aufbau der österreichweit ersten MBAStudien an der Donau Universität Krems und der TU Wien. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Produktions- und Kostentheorie, Innovationstheorie, Gesundheitsökonomie. Publikationen in Auswahl: Produktionsfaktor Maschine, Würzburg-Wien 1981; (gemeinsam mit Edwin O. FISCHER) Betriebswirtschaftliche Optimierung, 7. Aufl., München-Wien 2001; Finanzierungssysteme im Gesundheitswesen. Ein internationaler Vergleich, Wien 1997; Corporate Entrepreneurship, Cluster und Innovationsmanagement, in: Hermann FRANK (Hg.): Corporate Entrepreneurship, Wien 2006, S. 210– 230; (gem. mit Margit SOMMERSGUTER-REICHMANN) Monitoring political decision-making and its impact in Austria, in: Health Economics 14 (2005), S. 107–125. Richard STURN (geb. 1956), Dr. rer. soc. oec., ao. Univ.-Prof. am Institut für Finanzwissenschaft der KarlFranzens-Universität Graz; Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, hier 1988 Promotion, 1995 Gastprofessur an der University of Minnesota, USA, 1996 Habilitation an der KFU Graz, seit 1997 hier ao. Prof. am Institut für Finanzwissenschaft, 2004–07 Forschungsdekan der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der KFU Graz, derzeit Vorstand des Instituts für Finanzwissenschaft. Mitglied in diversen wissenschaftlichen Vereinigungen, u. a. der Ausschüsse „Wirtschaftswissenschaften und Ethik“ sowie „Dogmengeschichte“ des Vereins für Sozialpolitik/Gesellschaft für Wirtschaftswissenschaften. Mitglied des Editorial Board des European Journal of the History of Economic Thought, Mitherausgeber des Jahrbuchs für normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik.
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Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Steuer- und Transfersysteme, Politische Ökonomie sozialer Sicherung, Ökonomie der Normen und Rechte, öffentliche Güter, Ideengeschichte. Publikationen in Auswahl: (gem. mit Gerhard WOHLFAHRT) Der gebührenfreie Hochschulzugang und seine Alternativen, Wien 1999; Individualismus und Ökonomik. Modelle, Grenzen, ideengeschichtliche Rückblenden, Marburg/Lahn 1997. – Zahlreiche Beiträge zur Politischen Ökonomie sowie zur Geschichte der ökonomischen Analyse in Zeitschriften, Sammelbänden, Lexika und Handbüchern. PETER SWOBODA (1937–2006), Dr. rer. soc. oec., zuletzt o. Univ.-Prof. i. R. nach seiner Tätigkeit als Vorstand des Instituts für Industrie und Fertigungswirtschaft der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium an der Hochschule für Welthandel (heute: Wirtschaftsuniversität) in Wien, anschließend Assistent bei Leopold Illetschko am Institut für Transportwirtschaft, 1964 Habilitation mit der Arbeit Die betriebliche Anpassung als Problem des betrieblichen Rechnungswesens, anschließend Vertretungsprofessur an der Universität Frankfurt, danach Visiting Professor an der University auf Illinois; 1966 o. Prof. für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre in Frankfurt am Main, 1970-97 Professor in Graz. 1980/81 erster Präsident der European Finance Association. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Industriebetriebslehre, Finanzierung. Publikationen in Auswahl: Analyse von Rechenmodellen der betrieblichen Anpassung, Wien 1963; Die betriebliche Anpassung als Problem des betrieblichen Rechnungswesens, Wiesbaden 1964; (gem. mit Leopold ILLETSCHKO) Betriebswirtschaftslehre für Ingenieure, Wien-New York 1965; Investition und Finanzierung, Göppingen 1971; Finanzierungstheorie, Würzburg-Wien 1973; Betriebliche Finanzierung, Würzburg-Berlin 1981; (gem. mit Adolf STEPAN und Josef ZECHNER) Kostenrechnung und Preispolitik, 21. Aufl., Wien 2001. ERNST TOPITSCH (1919–2003), Dr. phil., zuletzt em. o. Univ.-Prof. für Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz; ab 1937 Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Geschichte an der Universität Wien, von 1939–45 Wehrdienst und amerikanische Kriegsgefangenschaft, 1946 Promotion „sub auspiciis praesidentis rei publicae“ zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Mensch und Geschichte bei Thukydides, 1947/48 Lehramtsprüfung für Höhere Schulen: Latein, Griechisch, Philosophie; 1951 Habilitation für „Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Geschichts- und Sozialphilosophie“ mit einer Arbeit über „Das Problem der Wertbegründung“; 1953/54 Forschungsaufenthalt an der Harvard University, 1955 Gastprofessur an der Universität Hamburg; 1956 tit. ao. Prof. in Wien, 1962 o. Prof. für Soziologie in Heidelberg, 1968 für Philosophie in Graz, 1989 emeritiert. Seit 1960 Mitglied des „Institut International de Philosophie“ (Paris), seit 1974 korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Träger der Goldenen Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien und des Großen Goldenen Ehrenzeichens mit Stern des Landes Steiermark. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Philosophiegeschichte, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Sozialphilosophie, Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik. Publikationen in Auswahl (öfters nur mit Angabe des Erscheinungsjahres der Erstauflage): Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958; (Hg.) Probleme der
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Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, Wien 1960; Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied-Berlin 1961; (Hg.) Logik der Sozialwissenschaften, Köln-Berlin 1965; Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, Neuwied-Berlin 1967; Mythos – Philosophie – Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg i.Br. 1969; Gottwerdung und Revolution. Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik, Pullach bei München 1973; Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung (1979), 2., überarb. u. erw. Aufl., Tübingen 1988; Studien zur Weltanschauungsanalyse. Hg. Von Wilhelm BAUM, Wien 1996; Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2003; (Hg., gem. mit Hans ALBERT) Werturteilsstreit, Darmstadt 1971. GUNTER WESENER (geb. 1932), Dr. iur., em. o. Univ.-Prof. der Karl-Franzens-Universität Graz; Studium der Rechtswissenschaften in Graz, 1954 Promotion, 1957 Habilitation für Römisches Recht und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit an der Univ. Graz, 1958 Gastdozent in Heidelberg, 1959 ao. Prof. für Römisches Recht in Graz, 1963 o. Prof. (Nachfolger von Artur Steinwenter); 1965/66 und 1979/81 Dekan, 1981-91 Präses der Rechtshistorischen Staatsprüfungskommission zu Graz, Mitglied der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österr. Akademie der Wissenschaften. Träger des Großen Goldenen Ehrenzeichens des Landes Steiermark; 2005 Wilhelm Hartel-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Römisches Privatrecht, Neuere Privatrechtsgeschichte. Publikationen in Auswahl: Geschichte des Erbrechtes in Österreich seit der Rezeption, Graz-Köln 1957; Das inneröstereichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert, Graz 1963; (Neubearbeitung seit der 2. Aufl. 1969) G. Wesenberg: Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte, 4. Aufl., Wien-Köln 1985 (spanisch 1998, italienisch 1999); Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern, Wien-Köln 1989.
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Der Herausgeber: KARL ACHAM (geb. 1939), em. o. Univ-Prof. für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz, Ehrendoktor (Doctor of Letters) der University of Waterloo, Ontario (Kanada); Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik an der Universität Graz, hier 1964 Promotion und 1971 Habilitation im Fach Philosophie (über „Grundlagenprobleme der Gesellschaftswissenschaften“), 1972–74 Vertretungs- und Gastprofessuren in Hamburg bzw. Bern, zwei erste Plätze auf Listen für ord. Professuren an ausländischen Universitäten (Bern 1974, Bochum 1977), 1974–2008 o. Prof. an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, 1983–85 Dekan. Seither Gastprofessuren in Waterloo, Ontario 1987 und 1991, Wuhan 1991, São Paulo 1992, Nara 1995, Peking 1997 (Tsinghua Universität) und 2005 (Chinesische Akademie der Wissenschaften), Kyoto 2004; zahlreiche Auslandsvorträge, ausgedehnte Vortragsreisen in Brasilien, China und Indien. Herausgeber- und Mitherausgeberschaften von ideengeschichtlichen und soziologischen Buchreihen, wie z. B. den Klassische[n] Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung und den Schriften zur Kultursoziologie, sowie von historisch-sozialwissenschaftlichen Zeitschriften, wie z. B. Geschichte und Gegenwart und Archiv für Kulturgeschichte. – Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Träger mehrerer Preise und Auszeichnungen, unter anderem des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst. Wissenschaftliche Hauptarbeitsgebiete: Geschichts- und Sozialphilosophie; Wissenschaftsgeschichte, Kultur- und Wissenssoziologie; Theorie und Ideengeschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften. Publikationen in Auswahl: Vernunft und Engagement. Sozialphilosophische Untersuchungen, Wien 1972; Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einführung, Freiburg i.Br.-München 1974; Philosophie der Sozialwissenschaften, Freiburg i.Br.-München 1983; Vernunftanspruch und Erwartungsdruck. Studien zu einer philosophischen Soziologie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989; Geschichte und Sozialtheorie. Zur Komplementarität kulturwissenschaftlicher Erkenntnisorientierungen, Freiburg i.Br.-München 1995; (Hg.) Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978 (= Wege der Forschung, CCCCXXXV); (Hg.) Gesellschaftliche Prozesse. Beiträge zur historischen Soziologie und Gesellschaftsanalyse, Graz 1983 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, 13); (Hg.) Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bände (in 8 Bucheinheiten), Wien 1999–2005; (Hg.) Zeitdiagnosen, 7 Bände, Wien 2002–2005; (Hg.) Ernst Topitsch: Überprüfbarkeit und Beliebigkeit. Die beiden letzten Abhandlungen des Autors. Mit einer wissenschaftlichen Würdigung und einem Nachruf […], Wien-Köln-Weimar 2005; (Hg.) Kunst und Wissenschaften aus Graz , Bd. 1: Naturwissenschaft, Medizin und Technik aus Graz, Wien 2007; Bd. 2: Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz, Wien 2009. – (Hg., gem. mit Winfried SCHULZE) Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990 (= Theorie der Geschichte, 6); (Hg., gem. mit Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD) Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, Stuttgart 1998; (Hg., gem. mit Katharina SCHERKE) Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen in Zentraleuropa um 1900 und um 2000, Wien 2003 (= Studien zur Moderne, 18); (Hg., gem. mit Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD) Der Gestaltungsanspruch der Wissenschaft. Aufbruch und Ernüchterung in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf dem Weg von den 1960er zu den 1980er Jahren, Stuttgart 2006. – Ferner über 200 Abhandlungen und Artikel. Der Herausgeber S 687
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Themenübersicht über die Bände 1 und 2 des Sammelwerks:
KUNST UND WISSENSCHAFT AUS GRAZ BAND 1: NATURWISSENSCHAFT, MEDIZIN UND TECHNIK AUS GRAZ Entdeckungen und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten: vom „Mysterium cosmographicum“ bis zur Hirn-Computer-Kommunikation I. II. III. IV. V. VI.
Geophysik und kosmische Physik Theoretische Physik und Experimentalphysik Angewandte Physik: Elektrotechnik, Maschinenbau, Elektronik und Stahlerzeugung Mineralogie, Chemie, Pharmakologie Biologische Verhaltensforschung, naturwissenschaftliche Psychologie und Psychopathologie Medizin, Biochemie, Biotechnologie
BAND 2: KUNST UND GEISTESWISSENSCHAFTEN AUS GRAZ Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter: vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende I. II. III. IV.
Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz vom 15. bis zum 19. Jahrhundert Kunst in Graz seit dem 19. Jahrhundert Geisteswissenschaften in Graz seit dem 19. Jahrhundert Zur allgemeinen Lage der Geisteswissenschaften heute
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Abb. S. 690–691: Luftaufnahme der Grazer Innenstadt um 2000 Quelle: Graz Tourismus
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