Nachdenken über Geschichte: Hegel, Droysen, Troeltsch, Löwith, Strauss [1 ed.] 9783428539994, 9783428139996

Andreas Heuer untersucht in der vorliegenden Studie das moderne Geschichtsdenken in Deutschland bzw. im deutschen Sprach

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German Pages 226 Year 2013

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Nachdenken über Geschichte: Hegel, Droysen, Troeltsch, Löwith, Strauss [1 ed.]
 9783428539994, 9783428139996

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 73

ANDREAS HEUER

Nachdenken über Geschichte Hegel, Droysen, Troeltsch, Löwith, Strauss

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS HEUER

Nachdenken über Geschichte

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 73

Nachdenken über Geschichte Hegel, Droysen, Troeltsch, Löwith, Strauss Von

Andreas Heuer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13999-6 (Print) ISBN 978-3-428-53999-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83999-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Mutter

Vorwort „Was heißt denn Universalismus? Dass man die eigene Existenzform an den legitimen Ansprüchen anderer Lebensformen relativiert, dass man dem Fremden und den Anderen mit allen ihren Idiosynkrasien und Unverständlichkeiten die gleichen Rechte zugesteht, dass man sich nicht auf die Verallgemeinerung der eigenen Identität versteift, dass man gerade nicht das davon Abweichende ausgrenzt, dass die Toleranzbereiche unendlich viel größer werden müssen, als sie es heute sind – alles das heißt moralischer Universalismus.“ (Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, S.153)

Die vorliegende Studie untersucht das moderne Geschichtsdenken besonders in Deutschland bzw. im deutschen Sprachraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand von fünf Protagonisten (Hegel, Droysen, Troeltsch, Löwith, Leo Strauss), an denen sich dieses Denken und eine Kritik an diesem Denken gut nachvollziehen lassen. Am Ende stehen Überlegungen über die Bedeutung dieser Entwicklung für das gegenwärtige Geschichtsdenken in Deutschland. Die Beschränkung soll deutlich machen, dass es andere Formen des Geschichtsdenkens im selben Zeitraum auch außerhalb Europas gegeben hat, die hier nicht zur Sprache kommen. 1 Die Untersuchung behandelt grundlegende Fragen des historischen Denkens in Deutschland für den oben genannten Zeitraum, aber auch darüber hinaus. Von Hegels Weltgeschichtskonzeption über Droysens methodische Fundierung der Geschichte als Wissenschaft, Troeltschs öffnendem Blick für die Herausforderungen dieses Denkens, Löwiths immanenter Kri1

Iggers (2008).

8

Vorwort

tik bis zu Strauss systematischer Auseinandersetzung mit diesem Denken wird auf der einen Seite die Geschichte des modernen historischen Denkens in Deutschland in ihren Grundzügen rekonstruiert, und auf der anderen Seite in der Kritik durch Löwith und Strauss an diesem Denken nach den zentralen Grundannahmen dieses Denkens gefragt. Die Bedeutung für die Gegenwart liegt auf zwei Ebenen: erstens in der Annahme, dass gegenwärtiges Geschichtsdenken in Deutschland nach wie vor stark geprägt ist durch die Traditionen, aus denen es entstanden ist, und zweitens in der Offenlegung dieses Denkens anhand wichtiger Protagonisten, die uns diese Tradition bewusst machen. Georg G. Iggers hat sich im Laufe der Jahre in seinen Arbeiten über die Geschichte der Geschichtswissenschaft(en) mit den unterschiedlichen Traditionen und Entwicklungen der Geschichtswissenschaften in verschiedenen Ländern auseinandergesetzt. Er erkennt den Einfluss westlicher Traditionen der modernen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert auf außereuropäische Kulturen an, schränkt ihn aber ein, indem er zunehmend die dort bereits vorhandenen Entwicklungen eines Geschichtsdenkens und eines Geschichtsbewusstseins in den Blick nimmt. 2 Wenn in der vorliegenden Studie an fünf Denkern das moderne Geschichtsdenken in Deutschland näher betrachtet wird, so unter der Voraussetzung, dass dieses besondere moderne Geschichtsdenken die Tradition über Geschichtsdenken in Deutschland bis heute beeinflusst. Hier macht sich eine Besonderheit bemerkbar, die in Frankreich und England durch die koloniale Vergangenheit, in den USA durch die weltpolitische Stellung des Landes und in vielen außereuropäischen Ländern wie China, Südkorea, Japan, Indien oder Brasilien durch die Herausforderungen des Westens im 19. Jahrhundert so nicht zu finden ist: die noch stärkere Fokussierung historischen Denkens auf die eigene Nation. Die Rückbesinnung auf die eigenen historischen Traditionen des Geschichtsdenkens in 2

Iggers (2008).

Vorwort

9

Deutschland ist deshalb auch eine Aufklärung über die versteckten Annahmen und Bilder, die dieses Geschichtsdenken bestimmen. Dieses Geschichtsdenken ist nicht linear verlaufen. Es gab wichtige Anstöße, die die gängigen Traditionen in Frage gestellt haben. Diese werden in der vorliegenden Studie angesprochen. Aber die Hauptströmung des Geschichtsdenkens wurde dadurch nicht nachhaltig beeinflusst. Dies vollzog sich erst seit den 1960er Jahren durch das Aufkommen der Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Doch auch hier blieb eine wichtige Tradition bestehen: der Fokus lag weiterhin auf der Nationalgeschichte bzw. der westliche Geschichte. Diese Entwicklung ist bis in die Gegenwart ein Kennzeichen des Geschichtsdenkens in Deutschland. Georg G. Iggers stellt fest: „Trotz des Trends zur Europäisierung und zur globalen Geschichte bleibt ein Großteil der historischen Forschung in Europa auf die europäische Erfahrung oder, vor allem in Osteuropa, auf die nationale Erfahrung beschränkt. In Deutschland etwa sind einer kürzlich durchgeführten Studie zufolge nur rund fünf Prozent der Historiker Experten für transnationale und außereuropäische Geschichte.“ 3

Nach wie vor spielt das Geschichtsdenken aus nationaler bzw. westlicher Perspektive eine dominierende Rolle. Dies gilt neben den Universitäten besonders für das organisierte historische Lernen in Deutschland: die Schulen. Die Ausbildung an Universitäten und in Studienseminaren, in denen Geschichtsdidaktiker und Fachleiter in der Regel keine historische Ausbildung unter globaler Geschichtsperspektive haben, wird wenig dazu beitragen, dass sich an diesem Zustand in naher Zukunft etwas Grundsätzliches ändern wird. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen des Geschichtsdenkens ist bzw. wäre ein erster Schritt, sich der Wurzeln des eigenen Geschichtsdenkens bewusst zu werden.

3

Iggers (2007), 137.

10

Vorwort

Ich hatte während meiner Studienzeit an der Universität Hamburg das Glück, Georg G. Iggers persönlich kennenzulernen. Seine Offenheit und Neugierde gegenüber unterschiedlichen Denktraditionen des modernen Geschichtsdenkens haben mich schon damals tief beeindruckt. Meine Forschungsaufenthalte in Westafrika während meiner Studienzeit und meine langen Aufenthalte in Südkorea und China haben mich darin bestärkt, dass die versteckten Annahmen eines westlichen Weltgeschichtsdenkens einen Irrweg darstellen, die das Verstehen der – gegenwärtigen – Welt verhindern. Die Rückbesinnung auf die eigenen historischen Denktraditionen ist deshalb ein Wegweiser, der in der Offenlegung des eigenen Nachdenkens über Geschichte zeigen soll, inwieweit dieses Nachdenken selber bereits Ausfluss einer besonderen Denktradition ist, die es zu überwinden gilt, um den Blick frei zu machen für eine Welt, die schon lange keine westliche mehr ist und es wahrscheinlich auch niemals so war, wie es westliches Geschichtsdenken seit Beginn des 19. Jahrhunderts dargestellt hat und noch allzu oft darstellt. Mein Dank gilt Wolfgang Dippel, der mich als erster in ein Nachdenken über Geschichte eingeführt hat. Sein Unterricht in der Schule würde auch heute noch Maßstäbe setzen, an denen sich ein offener und kritischer Geschichtsunterricht zu orientieren hätte. Andreas Huber von der Deutschen Schule Peking hat mich in vielen Gesprächen mit seinem Wissen und seiner Offenheit gegenüber anderen Geschichten immer wieder beeindruckt. Sangki Kim, Liya Yu und Ulrich Steinvorth haben meinen Blick für ein kritisches Nachdenken über Geschichte geschärft. Waltraud Mann hat mich mit ihrem Enthusiasmus für die jüdische Kultur und deren Kosmopolitismus immer wieder angesteckt. Meine Kinder Madeleine und Mareike sind die Wegweiser, die mir zeigen, wie sich die Welt in den letzten 20 Jahren verändert hat. Ihre Verortung in der deutschen und der koreanischen Kultur zeigen mir, dass Integration etwas anderes bedeutet als einseitige Verortungen. Ihnen allen gilt mein besonderer Dank. Erneut gilt mein Dank dem Verlag Duncker&Humblot,

Vorwort

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der die Veröffentlichung dieser Schrift ermöglichte. Ich danke Heike Frank für die unkomplizierte und gute Zusammenarbeit bei der Fertigstellung des Manuskripts. Ich danke auch Birgit Müller, die die Kommunikation mit dem Verlag bei der Fertigstellung des Manuskriptes zuverlässig durchgeführt hat. Kassel, im November 2012

Andreas Heuer

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. G. W. F. Hegel: Die philosophische Konzeption der Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. II. III. IV.

Die Behandlungsarten der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Natur des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die philosophische Weltgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 34 39 45

C. Johann Gustav Droysen: Geschichte als Wissenschaft . . . . . .

55

I. Methodik und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Historik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 D. Ernst Troeltsch: Siegeszug und Krise des Historismus . . . . . . 86 I. Die historische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Die Ambivalenzen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Kritik am historischen Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 E. Karl Löwith: Die theologischen Voraussetzungen des modernen historischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 I. Welt und Menschenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 II. Das östliche Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 F.

Leo Strauss: Die philosophische Kritik am Historismus . . . . . 176 I. Das Wesen der politischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . 178 II. Die Kritik an Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III. Das grundsätzliche Problem des Historismus . . . . . . . . . 192

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Inhaltsverzeichnis

G. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

A. Einleitung Das Denken in und über Geschichte scheint uns heute eine Selbstverständlichkeit. Wir sprechen von einem historischen Ereignis, einem historischen Tag, einem historischen Treffen oder davon, dass dieser Tag, dieses Treffen, dieser Vertragsabschluss in die Geschichte eingehen wird. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass Geschichte eine grundlegende Weise des Nachdenkens über Mensch und Welt ist. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dies ein neuzeitliches Phänomen ist. Zwar haben Menschen in allen Kulturen über Vergangenheit nachgedacht, aber erst in der – europäischen – Neuzeit tritt die Vorstellung auf, dass man mit der Geschichte kritisch umgehen muss (Kritik und Überprüfung der historischen Quellen), dass Geschichte ein umfassender Prozess ist, der unter dem Begriff des Fortschritts zusammengefasst werden kann und dass die Gegenwart unter der Perspektive ihrer Geschichtlichkeit zu deuten ist. 1 Es entsteht das moderne historische Bewusstsein, das die aus seiner Sicht abstrakte Vernunftvorstellung der Aufklärung durch ein historisches Verständnis von Mensch und Welt ersetzt. Das philosophische Denken bestimmt nicht mehr, 1 Auch außerhalb Europas gab es Entwicklungen, die die kritische Überprüfung von Quellen zunehmend berücksichtigten und in das Zentrum historischen Forschens stellten. In China etwa begann im 17. Jahrhundert eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründen für den Niedergang der Ming Dynastie. Im Buddhismus mit seiner Fokussierung auf Spiritualität sah man einen zentralen Punkt dieses Niedergangs. Es fand eine Rückbesinnung auf die klassischen konfuzianischen Texte statt, die philologisch, etymologisch und durch Textvergleiche kritisch überprüft wurden. Diese Vorgehensweise, die kritische Überprüfung von Quellen, kann mit entsprechenden Entwicklungen in Europa bzw. umgekehrt, europäische Entwicklungen mit denen in China, verglichen werden. Sachsenmaier (2011), 175 f.

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A. Einleitung

was Geschichte ist, sondern das moderne historische Bewusstsein bestimmt das philosophische Denken. 2 Diese Vorstellungen entwickeln sich in Europa ausgehend von der Renaissance, der Reformation und der naturwissenschaftlichen Revolution, der kopernikanischen Wende. Seit dem Ausgang des Mittelalters wird die religiöse Überlieferung des Christentums zunehmend kritisch befragt und in Frage gestellt. Im 18. Jahrhundert entwickeln sich erste Konzeptionen einer Weltgeschichte, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Hegel in einer großen Synthese zusammengefasst werden. Aus vielen Geschichten wird eine – westliche – Weltgeschichte. In Europa wird das antike Naturrechtsdenken und das mittelalterliche Heilsdenken ersetzt durch ein Denken, das davon ausgeht, dass nur durch die Geschichte Gegenwart verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit dient nicht mehr der Chronologie eines Herrscherhauses oder der Legitimation bestehender Institutionen basierend auf Überlieferung und Tradition. Die Aufklärung tritt mit dem Anspruch auf, dass die Vernunft die Geschichte kritisch befragen und mit Hilfe der Vernunft neu entdecken kann. Die Überprüfung von Quellen, die Forderungen nach einer Verwissenschaftlichung der Geschichte, erblickt das Tageslicht. Es entwickelt sich im 19. Jahrhundert der Historismus, die Vorstellung, dass es neben der Natur eine genuin menschliche Welt gibt, die nur durch die Geschichte zu verstehen ist. Georg I. Iggers fasst dieses Denken so zusammen: „Der Begriff ‚Historismus‘ hat viele Bedeutungen. Er wird zuerst in der Romantik als Gegensatz zu ‚Naturismus‘ gebraucht, um die von den Menschen gemachte Geschichte von der Natur zu unterscheiden, die die Menschen nicht machen. Vom späten 19. Jahrhundert an wird der Begriff häufig gebraucht und unterschiedlich definiert, einerseits als Weltanschauung, andererseits als Methode, obwohl beides untrennbar miteinander verbunden ist. Als Weltanschauung bedeutet Historismus, dass die Wirklichkeit nur in ihrer historischen Entwicklung verstan2

Löwith (1969/70), 463.

A. Einleitung

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den werden kann und dass deshalb jede Wissenschaft vom Menschen von der Geschichte ausgehen muss. Extrem formuliert: ‚... der Mensch hat nicht ... Natur, sondern er hat Geschichte‘. Aus dieser Sicht sind auch die Philosophie Hegels und der Marxsche Historische Materialismus Erscheinungsformen des Historismus, obwohl sie in der deutschen Tradition nicht so verstanden worden sind.“ 3

Im deutschen Sprachraum entwickelt sich im 19. Jahrhundert der Historismus bzw. die historische Schule, die stärker als in anderen Ländern von der strikten Trennung naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Denkens ausgeht. Getragen von Hegels Geschichtsphilosophie halten die meisten Vertreter des Historismus, Ranke, Droysen, Dilthey, trotz scheinbarer Ablehnung, an Hegels optimistischer Weltgeschichtsdeutung fest, also an der Überzeugung, dass die Geschichte ein sinnvoller Prozess ist, der mit den Begriffen Fortschritt und Kontinuität erfasst werden kann. Allerdings wollen sie die Geschichte von ihrem metaphysischen Ballast befreien und eine Wissenschaft aus ihr machen. Diesbezüglich teilten die meisten Historiker des 19. Jahrhunderts den Glauben und die Zuversicht an eine methodisch geregelte Forschung, die eine objektive Erkenntnis ermöglicht. 4 Geschichte etablierte sich als wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten. Der aus der Neuzeit stammende Typus des gelehrten, gebildeten Geschichtsschreibers wurde abgelöst durch den professionellen Historiker, der sich durch ein Studium für diese Profession zu qualifizieren hatte. Durch diese Entwicklungen veränderte sich das Nachdenken über Geschichte grundsätzlich und es begann die moderne Form des Nachdenkens über Geschichte. Um die Besonderheit des historischen Denkens gegenüber den Naturwissenschaften zu etablieren, setzte eine intensive Auseinandersetzung darüber ein, was Geschichte zu einer Wissenschaft macht. Der Gegenstand der Geschichte wurde in seiner Besonderheit hervorge3 4

Iggers (2007), 23 f. Iggers (2007), 12.

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A. Einleitung

hoben, also die Behauptung, Geschichte habe es immer mit einmaligen Ereignissen, Handlungen, Abläufen zu tun im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, in denen das Regelmäßige, das Gesetzmäßige untersucht wird. Deshalb, so die Schlussfolgerung, könne die Geschichte sich in ihren wissenschaftlichen Methoden nicht an den Naturwissenschaften orientieren, sondern müsse eine eigene Methodologie hervorbringen, die eine eigene Form wissenschaftlicher Objektivität ermögliche. In diesem Kontext sind die Ausführungen über Hegel und Droysen zu lesen. Hegel war derjenige, der mit seiner Philosophie der Geschichte, seiner Weltgeschichte, den Horizont für das genuin geschichtliche Denken eröffnete. Droysen übernahm die Aufgabe, diese neue Denkrichtung im Sinne einer wissenschaftlichen Methodik zu begründen und abzusichern. Beide gingen davon aus, dass Geschichte ein sinnvoller und objektiver Prozess sei, der durch die historische Erkenntnisarbeit zu Tage gefördert wird. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung wurde von den meisten Historikern in Deutschland nicht berücksichtig. Diese lehnten die damit verbundenen neuen Methodenansätze der Soziologie und Nationalökonomie mit ihren empirischen und systematischen Verfahren ab und betonten immer wieder die Besonderheit der Geschichtswissenschaft und der Einmaligkeit der zu erfassenden Geschehnisse. Zu den wenigen Ausnahmen in Deutschland gehörte die „Lamprecht-Kontroverse“ am Ende des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Historiker Karl Lamprecht hatte in seiner Deutschen Geschichte (1891) auf die Methodik der Naturwissenschaften aufmerksam gemacht und erklärt, dass die beschreibende Methode, die nur das Einmalige und Besondere erfasse, längst überwunden sei. Auch in der Jüngeren Schule der Nationalökonomie in Deutschland, deren wichtigster Protagonist Gustav von Schmoller war, setzte eine Kritik an der historischen Schule ein und forderte dazu auf, die durch die Industrialisierung veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in die Forschung aufzunehmen. Besonders Max Weber arbeitete in dieser Richtung, ohne

A. Einleitung

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jedoch die etablierte deutsche Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ernsthaft herausfordern zu können. In diesem Zusammen ist das Kapitel über Ernst Troeltsch zu sehen. Troeltsch war selber von Haus aus kein Historiker. Als Theologe sah er sich durch den Historismus besonders herausgefordert, da die neuen historischen Erkenntnisse sich nicht mehr mit den Überlieferungen der christlichen Kirchen deckten. Wie kaum ein anderer hat sich deshalb Troeltsch mit den Herausforderungen durch den Historismus auseinandergesetzt. Dabei war er gegenüber den sozialen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen durch die Industrialisierung sehr viel aufgeschlossener als seine historischen Fachkollegen. Anhand Troeltschs Gedanken über den Historismus können wir nachvollziehen, wie sich das Nachdenken über Geschichte direkt auf die Geschichte selbst richtet. Sah Droysen noch seine Aufgabe darin, die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft gegenüber den Naturwissenschaften nachzuweisen, zielte Troeltsch mit seinen kritischen Reflexionen darauf ab, die Problematik zu thematisieren, die durch den Historismus entstanden war. Troeltsch legte sein Augenmerk auf die wechselvolle, spannungsreiche Entstehung und Entwicklung der Moderne und auf den durch den Historismus auftretenden Relativismus, der alle sicheren Wahrheiten und jede Form der Überlieferung in Frage stellte und im Kern unmöglich machte. Damit hatte das Nachdenken über Geschichte einen neuen Punkt erreicht: die Öffnung des historischen Denkens gegenüber sozialen, ökonomischen, kulturellen Phänomenen und die Problematisierung der erkenntnistheoretischen Begründung der Geschichte als Wissenschaft. Die Idee des Fortschritts, die für Hegel und Droysen noch den verbindlichen Rahmen eines objektiven bzw. objektivierenden Geschichtsdenkens ermöglicht hatte, war brüchig geworden. Bereits bei Troeltsch waren die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges in seinen kritischen Ausführungen über den Historismus zu spüren. Der Optimismus des 19. Jahrhunderts war

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A. Einleitung

einer Krisenhaftigkeit gewichen und die Folgen der Industrialisierung veränderten das Bild über die Moderne. Neben der Fortschrittsgläubigkeit entwickelte sich der Eindruck, dass die Relativierung des Denkens durch den Historismus zu einer einseitigen Individualisierung und Überhöhung des Menschen geführt habe. Löwith fragt in diesem Zusammenhang nicht mehr, wie noch Troeltsch, nach den Licht- und Schattenseiten des Historismus, sondern nach den grundlegenden Voraussetzungen, die hinter dem modernen historischen Denken stehen. Er erblickt diese in der theologischen Struktur des modernen Geschichtsdenkens. Dieses habe heilsgeschichtliche Bilder in die Deutung von und über Geschichte projiziert. In diesem Sinn ist für Löwith das moderne Geschichtsdenken eine säkularisierte Form religiösen Heilsdenkens. Die Vorstellungen von Anfang und Ende, die Verheißung des Paradieses, der Blick auf die Zukunft prägen das moderne Geschichtsdenken und reißen die Vernunft in den Strom der Geschichte. Das Denken über Mensch und Welt verlässt seinen natürlichen Boden und orientiert sich einseitig an einer menschlichen Welt. Damit führt das moderne Geschichtsdenken zu einer Abkehr vom antiken Denken, das sich am Kosmos und der Vorstellungen zeitloser Wahrheiten orientiert hatte. Das Nachdenken über Geschichte wird bei Löwith ein Nachdenken darüber, was modernes geschichtliches Denken in letzter Konsequenz prägt. Seine Erfahrungen in Japan, wo er von 1936 – 41 lebte und lehrte, machte ihn mit dem, wie er es nennt, östlichen Denken vertraut. Hier fand er ein philosophisches Denken in der Gegenwart, das nicht gleichermaßen unter dem Einfluss der europäischen Philosophie stand. Dies verstärkte seine Überzeugung, dass das moderne Geschichtsdenken in Europa aus seinen Wurzeln zu verstehen ist. Löwith eröffnet damit einen Rahmen, in dem nicht über einzelne historische Geschehnisse, Entwicklungen kritisch reflektiert wird, sondern über das, was modernes geschichtliches Denken in seiner Substanz ist. Löwith fragt also nach den Grundlagen, auf denen nach seiner Überzeugung dieses Den-

A. Einleitung

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ken aufbaut, ohne dass sich dieses Denken darüber im Klaren ist. Nach Löwith sind dies die theologischen Voraussetzungen des modernen Geschichtsdenkens, das in seiner Struktur – Idee von Entwicklung, Verlauf, Anfang, Ende, auf ein Ziel hinführend – aus dem theologischen Denken hervorgeht. Leo Strauss führt auf andere Weise eine radikale Kritik am Historismus durch. Ebenfalls geprägt von den Krisen zweier Weltkriege, nimmt er das Ganze des modernen historischen Denkens in den Blick, um es einer philosophischen Kritik zu unterziehen. Strauss erkennt in dem modernen historischen Denken einen Angriff auf das Naturrecht, das der Historismus im 19. Jahrhundert historisiert hatte. Die Auflösung eines philosophischen Denkens über politische Frage durch das moderne historische Denken war nach Strauss ein Angriff auf die politische Philosophie, wie sie von den Griechen entdeckt worden war. Die Historisierung hatte ein vernünftiges philosophisches Denken über politische Fragen diskreditiert und war für die totalitären Ideen des Marxismus und des Faschismus verantwortlich, da beide Denkrichtungen von der Idee der Historisierung der Welt getragen waren. Das Nachdenken über Geschichte ist mit Strauss in eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen historischen Denkens getreten, unabhängig davon, in welcher Form historisches Denken und Forschen betrieben wird. Die Geschichte als Wissenschaft, die Geschichtswissenschaft, hat sich seit den 1960er Jahren in Deutschland gewandelt, war aber bereits vorher, wenn man den Blick in andere europäische Länder und außerhalb Europas wirft, bereits differenzierter. Die hier vorgelegte Darstellung konzentriert sich auf die Rekonstruktion des modernen historischen Denkens, des Historismus, besonders in seiner deutschen Prägung, vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre. Damit gibt es Einblicke in Entstehung und Entwicklung dieses Denkens. Die Konzentration auf fünf wichtige Denker dieser Entwicklung einschließlich derjenigen, die diese Denkrichtung kritisierten, soll es ermöglichen, dass sich der weniger mit dieser Mate-

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A. Einleitung

rie vertraute Leser den Grundfragen des Nachdenkens über Geschichte aus seinen Entstehungs- und Begründungszusammenhängen zuwenden kann. Diese Studie versteht sich deshalb nicht als eine Studie über die Entstehung und Entwicklung der Geschichtswissenschaft oder des Historismus insgesamt. Hierzu gibt es eine Reihe älterer und neuerer Studien, die dieses Thema aufgreifen oder sich ausschließlich diesem Thema widmen. 5 Die fünf hier vorgestellten Denker sollen, soweit es möglich ist, in ihren Denkansätzen selbst zur Sprache kommen. Dies bedeutet nicht, dass ihre Denkansätze kritiklos hinzunehmen wären, aber die Substanz ihres Denkens ist so gehaltvoll, dass es sinnvoll erscheint, sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Im letzten Kapitel wird dieses Denken in Beziehung zu Entwicklungen der Geschichtswissenschaften in Deutschland seit den 1960er Jahren gesetzt, die zeigen, dass der Rückblick auf die Entstehung des modernen Geschichtsdenkens in Deutschland und die Kritik an diesem Denken auch dem gegenwärtigen historischen Denken in Deutschland etwas zu sagen haben und dieses nur aus dem Kontext der eigenen Genese zu verstehen ist. Darüber hinaus geht die vorliegende Untersuchung davon aus, dass zwischen einem grundsätzlichen Nachdenken über das moderne historische Denken und deren Ausprägungen in den Geschichtswissenschaften unterschieden werden kann. Auch die immer differenziertere Untersuchung und Darstellung von Geschichte auf ganz unterschiedliche Themen kann sich den grundsätzlichen Fragen, was eigentlich das Besondere des modernen historischen Denkens ist und wie ein historisches Denken mit dem Problem der Relativierung umgeht, nicht entziehen. In diesem Sinn ist die Auseinandersetzung von Leo Strauss mit dem modernen Geschichtsdenken eine Auseinan5 Iggers (1971); Jäger / Rüsen (1992); Nordalm (2006); Völkel (2006); Iggers (2007); Iggers (2008); Raphael (2010); Sachsenmaier (2011); Woolf (2011); Cheng (2012).

A. Einleitung

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dersetzung über die grundlegende Problematik des modernen historischen Denkens. Dies betrifft jede Form des geschichtlichen Denkens, auch das gegenwärtige. Das geschichtliche Denken muss in letzter Konsequenz jede Denkform, jedes Geschehen, jede Entwicklung relativieren, die Besonderheit der jeweiligen Denkform, des jeweiligen Geschehens, der jeweiligen Entwicklung zur Erkenntnis bringen. Diese Relativierung bricht sich an der Vorstellung universeller Normen. Die Rekonstruktion der hier vorgelegten Studie lädt deshalb dazu ein, seine eigenen Vorstellungen des Geschichtsdenkens, die Annahmen, die dieses Denken leiten, aus der Tradition dieses Denkens zu erkennen und sich der Frage nach den Konsequenzen des modernen historischen Denkens zu stellen: Können bzw. wie können historisches Denken und universelle Normen zusammen gedacht werden? Diese zentrale Frage in einer zunehmend sich differenzierenden nicht westlichen Welt ist eine der größten Herausforderungen des gegenwärtigen Geschichtsdenkens.

B. G. W. F. Hegel: Die philosophische Konzeption der Weltgeschichte Hegel (1770 – 1831) kann als Ausgangs- und Kulminationspunkt des modernen Geschichtsdenkens in Europa angesehen werden. Er prägte mit seiner Weltgeschichtsdeutung den Diskurs über das moderne Geschichtsdenken auch im deutschen Sprachraum nachhaltig. Mit seiner Synthese aller bisherigen Geschichten zu einer Weltgeschichte eröffnete er den Weg für eine neue Denkrichtung, nämlich dass Mensch und Welt eine eigene, von der Natur verschiedene Sphäre sind, deren besonderes Merkmal die Geschichte bzw. die Geschichtlichkeit ist. Neben dem Nachdenken über die Natur durch die Naturwissenschaften entsteht ein Nachdenken über Mensch und Welt aus einer historischen Perspektive. Mensch und Welt unterscheiden sich durch ihre Geschichtlichkeit von der natürlichen Welt. Das entscheidende Axiom dieser Geschichtlichkeit ist, „dass die Geschichte eine sinnvolle Entwicklung sei, in der die ‚bürgerlichen‘ Werte der Bezwingung der Natur und des Naturwüchsigen durch Vernunft und Wissenschaft zum Wohle der Menschen verwirklicht werden kann.“ 1 Hier setzt sich der Gedanke durch, der das historische Denken im 19. Jahrhundert prägen wird, nämlich dass die Geschichte ein sinnvoller Prozess ist und der Sinn der Geschichte in einem „unaufhaltsamen Siegeszug der Kultur, d. h. von Bildung, Wissenschaft und Technik, kurzum in der aufgeklärten Vernunft über die Unvernunft der Natur liegt.“ 2

1 2

Iggers (2007), 15. Iggers (2007), 15.

B. G. W. F. Hegel

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Hegel begann ab dem Wintersemester 1822/23 selbständige Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte zu halten. Bis dahin hatte die Weltgeschichte in Hegels philosophischem Denken ihren systematischen Ort am Ende der Rechtsphilosophie. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte entwickelt Hegel eine Synthese aus den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftauchenden Konzeptionen und Ideen einer Weltgeschichte. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, entwickelt sich die Vorstellung, dass Vernunft und Geschichte zusammen zu denken sind, dass es in der Geschichte, bei richtiger Betrachtung, eine Entwicklung und einen Fortschritt zu erkennen gibt, die als Entäußerung der Vernunft in der Geschichte zu begreifen sind. Die Vernunft ist nicht mehr ein Vermögen des einzelnen oder die Möglichkeit, nach Grundprinzipien des Denkens, der ethischen Lebensführung, der Begründung von Gesetzen und Institutionen zu fragen, sondern sie entäußert sich in der Zeit und ermöglicht etwas, was im europäischen Kontext weder die Antike noch das Mittelalter kannten: die Vorstellung, dass die Geschichte eine fortschreitende Entwicklung der Vernunft ist. Um diesen Zusammenhang von Vernunft und Geschichte zu vereinen, mussten die bisherigen Erzählungen über Welt und Geschichte zusammengeführt werden. Aus vielen unterschiedlichen Geschichten wurde eine große umfassende Geschichte, die Weltgeschichte. Hegel legt auf Grundlage der Ideen von Voltaire, Kant und anderen Aufklärern den ersten großen Gesamtentwurf einer solchen Weltgeschichte vor. Er unterscheidet dabei von Anfang an zwischen Betrachtungen über Weltgeschichte und der Weltgeschichte selbst. Er ist davon überzeugt, dass es den Gegenstand der Weltgeschichte in Form einer objektiven Erzählung gibt, der unabhängig der Betrachtungsweise des Philosophen oder Historikers in seiner Objektivität erkannt und wiedergegeben werden kann:

26

B. G. W. F. Hegel „Der Gegenstand unserer Vorlesung ist die allgemeine Weltgeschichte, nicht Reflexionen über sie, sondern sie selbst, – ihr Entstehen, ihr Fortgang, nicht Betrachtungen, in denen wir sie als Beispiel anführen.“ 3

Damit geht Hegel über alle bisherigen Erklärungsansätze von Geschichte hinaus. Wenn die Vernunft sich in der Geschichte entäußert, müssen alle Formen menschlichen Denkens und Handelns in den großen Kontext der Weltgeschichte eingeordnet werden. Geschichte ist nicht mehr eine unter anderen Deutungsmöglichkeiten, sondern rückt ins Zentrum von Weltdeutung und Welterklärung. Wenn es so etwas wie eine Weltgeschichte gibt und diese an eine Idee des Fortschritts geknüpft ist, dann gibt es keine Erklärung und kein Verstehen von Welt und Mensch ohne Bezug auf die Geschichte. In diesem Sinn ist Hegels Philosophie der Weltgeschichte die Grundlage für alle folgenden Auseinandersetzungen und alle Formen des Nachdenkens über Geschichte bis in die Gegenwart. Hegels Weltgeschichte ist die Folie, auf der sich die Idee, dass alles Denken nur durch die Geschichte zu verstehen ist, durchgesetzt hat. Das, was für die Denker bis zum 17. Jahrhundert undenkbar gewesen war, nämlich einer durch und durch historisches Denken zur Erklärung von Mensch und Welt, ist uns heute – allzu oft – eine Selbstverständlichkeit, ohne dass uns die Ursprünge dieses Denkens bewusst sind. Um sich den Ursprüngen unseres heutigen Geschichtsdenkens anzunähern, müssen wir mit Hegels Philosophie der Weltgeschichte beginnen. Hier finden wir nicht nur die erste große zusammenfassende Synthese einer Weltgeschichte, sondern auch eine Auseinandersetzung, in welchen Formen ein Nachdenken über Geschichte stattfindet.

I. Die Behandlungsarten der Geschichte

Bevor sich Hegel dem eigentlichen Ansinnen seiner Ausführungen über die Weltgeschichte widmet, nämlich einer Darstel3

Hegel (1996), 3.

I. Die Behandlungsarten der Geschichte

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lung der bisherigen Entwicklung der Weltgeschichte am Leitfaden der Idee der Freiheit, reflektiert er zusammenfassend über die Behandlungsarten der Geschichte, die Idee der menschlichen Freiheit und die Natur des Staates. Hegel unterscheidet drei Grundformen der Behandlungsarten der Geschichte: Die ursprüngliche Geschichte, die reflektierte Geschichte und die philosophische Weltgeschichte. Zur ursprünglichen Geschichte zählt Hegel Autoren wie Herodot und Thukydides. Diese berichten nur von den Begebenheiten, die sie selbst erlebt und erfahren haben. Sie nehmen das auf, was sie unmittelbar in ihrer Zeit erkunden, und geben durch ihre Erzählung dem Gang der Ereignisse eine feste Form. In ihrer Darstellung fließen wichtige Reden von Staatsmännern ein, die ein anschauliches Bild darüber geben, wie in ihrer Zeit über Politik nachgedacht worden ist. Diese Unmittelbarkeit, die in den Reden zum Ausdruck kommt, kennzeichnet die Art der ursprünglichen Darstellung. Die Reden „enthalten Reflexionen über die Zeit und ihre Zwecke und geben Aufschlüsse über die Grundsätze der Zeiten.“ 4 Die Darstellungsart erfordert keine eigene, über den zeitlichen Horizont hinausgehende Reflexion, sondern sie begnügt sich in ihrer Darstellung mit der Wiedergabe von Ereignissen aus dem überschaubaren Umfeld der eigenen Lebenszeit. Diese Darstellungsart unterscheidet sich deutlich von anderen Formen der Erzählung über Vergangenes wie etwa Sagen oder Volkslieder, da letztere nur vage, ungenaue Vorstellungen über Vergangenheit vermitteln – ganz im Gegensatz zur Darstellungsform der ursprünglichen Geschichte und deren Vermittlern: den Geschichtsschreibern: „Sie bringen das Erstere, dies Vorübergegangene, in der Erinnerung Zerstreute, in eine feste, dauernde Vorstellung, binden, was flüchtig vorüberschaut, zusammen und legen es im Tempel der Mnemosyne nieder zur Unsterblichkeit. Von solcher Geschichte sind die Sagen, Volkslieder auszuschließen, denn dies sind noch erste trübe Weisen, das Geschehene zu befestigen. Deswegen sind sie den Vorstellungen der Völker mit trü4

Hegel (1996), 4.

28

B. G. W. F. Hegel bem Bewusstsein eigen, und diese sind von der Weltgeschichte [noch] ausgeschlossen, solange sie jenes haben.“ 5

Hegel gibt hier erste Hinweise darauf, dass die Darstellungsform der Geschichte Auskunft gibt über den Zusammenhang zwischen historischer Entwicklungsstufe eines Volkes und der aus dessen Horizont sich entwickelten Form der Geschichtsdarstellung. Mit der ursprünglichen Geschichte befinden sich die Griechen auf dem Weg zu einem geschichtlichen Bewusstsein ihrer selbst, ohne jedoch über die Unmittelbarkeit ihrer Zeit hinaus zu reflektieren. Sie, die ursprüngliche Geschichte, enthält das Bewusstsein der Zeit. Für spätere Generationen enthält diese Darstellungsform die Möglichkeit, von einer höheren Warte des geschichtlichen Bewusstseins Aufschluss über den Zustand des geschichtlichen Bewusstseins jener Zeit zu gewinnen. Hegel konstatiert abschließend, dass es auch in seiner Gegenwart die Darstellungsform der ursprünglichen Geschichte noch gibt und zwar in Form von Memoiren oder von Staatsmännern, die ihre unmittelbaren Erlebnisse aufschreiben. Die ursprüngliche Geschichte aber ist in ihrer historischen Einordnung ein Produkt der Antike, in der zum ersten Mal eine zwar auf die eigene Zeit beschränkte, aber dennoch bewusste Form der Geschichtsdarstellung entsteht. Die reflektierte Geschichte ist eine Darstellungsform der Geschichte, die über das Gegenwärtige hinausgeht. Diese sind Kompilationen schon vorhandener Geschichtsschreibung. Hegel unterscheidet diesbezüglich vier Formen der Geschichtsschreibung: Darstellungen, die eine Übersicht über die Geschichte eines ganzen Volkes oder gar der Weltgeschichte geben; eine sogenannte pragmatische Geschichtsschreibung; eine kritische Reflexionsgeschichte; und eine Spezialgeschichte unter einem allgemeinen Gesichtspunkt. Zu den Darstellungen, die eine Übersicht über ein ganzes Volk oder die Weltgeschichte geben, zählt Hegel Livius und 5

Hegel (1996), 4.

I. Die Behandlungsarten der Geschichte

29

Johannes von Müllers ‚Schweizer Geschichte‘. Beide gehen in ihrer Darstellungsform über das unmittelbar Erlebte hinaus und versuchen, historische Ereignisse und Entwicklungen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Das Dargestellte geht über den Zeithorizont des Geschichtsschreibers hinaus. Hegel bemängelt an dieser Darstellungsform, dass deren Geschichtsschreiber den Versuch unternehmen, die ursprüngliche Geschichte in die Form ihrer Erzählung zu integrieren: „Ebensolch ein verunglückter Versuch, in der Zeit gelebt zu haben, in welcher die Begebenheit geschah, ist Johannes von Müllers ‚Schweizer Geschichte‘, die etwas Hölzernes und Pedantisches hat, in gemachter, affektierter Altertümlichkeit – nicht originell wie der ursprüngliche Geschichtsscheiber Tschudi. Eine Geschichte, die eine weite Zeit, große Perioden umfasst, muss sich ihrer Natur nach mit abstrakten, allgemeinen Vorstellungen behelfen [...]“. 6

Hegel fordert, dass eine Darstellung eines ganzen Volkes oder der Weltgeschichte von abstrakten Prinzipien ausgehen müsse, wenn sie dem Gegenstand der Darstellung gerecht werden wolle. Hier versage die erste Form der reflektierten Geschichte. Der zweiten Form der reflektierten Geschichte, der pragmatischen Geschichtsschreibung, steht Hegel äußerst kritisch gegenüber. Ausgangspunkt der pragmatischen Geschichtsschreibung ist der Versuch, die ferne Vergangenheit zur Gegenwart zu bringen, und zwar in einer Art und Weise, dass aus der Vergangenheit etwas für die Gegenwart gelernt werden kann. Aus einem allgemeinen Gesichtspunkt werden Ereignisse der Vergangenheit als Reflexion für die Gegenwart beleuchtet. Unter diesem allgemeinen Gesichtspunkt hebt Hegel die moralischen Reflexionen und Belehrungen hervor. Geschichtsschreibern der pragmatischen Geschichtsschreibung geht es darum, belehren zu wollen. Das Material der Vergangenheit wird so dargestellt, dass der gegenwärtige Leser durch belehrende Schlüsse Ereig6

Hegel (1996), 8.

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B. G. W. F. Hegel

nissen und Entwicklungen in seiner Gegenwart kritisch gegenübersteht. Für Hegel ist dies eine unzulässige und unbrauchbare Vorgehensweise. Er argumentiert, dass moralische Gebote sich auf einfache Interessen und Privatverhältnisse beziehen, und „diese brauche ich nicht aus der Geschichte zu lernen.“ 7 Geschichte und Moral haben – im Sinne einer ethischen Reflexion über eigene gegenwärtige Handlungen und Entwicklungen – nichts miteinander zu tun. Dazu sind Vergangenheit und Gegenwart zu verschieden. Nach Hegel sind die Umstände nie gleich und deshalb ist die Erinnerung und deren Bezug auf die Gegenwart ein Missverständnis. Das Bilden der Geschichte ist nach Hegel etwas anderes als die daraus abgeleiteten Reflexionen. Der Irrtum der pragmatischen Geschichtsschreibung liegt in der Annahme, dass aus der Vergangenheit etwas für die Gegenwart gelernt werden könne – wenn es in Form einer Übertragung historischer Geschehnisse auf die Gegenwart unter Zuhilfenahme einer kritischen Reflexion geschieht. Das Missverständnis liegt darin, dass Geschichte bzw. Weltgeschichte im Sinne Hegels eben nicht die Zusammenfassung von Ereignissen auf dem Reflexionsniveau des Historikers sein kann. In der kritischen Reflexionsgeschichte versucht der Geschichtsschreiber, aus der kritischen Reflexion seiner Gegenwart Gesichtspunkte für die Darstellung einer vergangenen Epoche zu gewinnen: „Sie ist nicht so sehr die Geschichte selbst, sondern eine Geschichte der Erzählungen der Geschichte und der Beurteilung der Erzählungen.“ 8

Hierzu zählt Hegel Niebuhrs ‚Römische Geschichte‘. Das Verdienst einer solchen Darstellung liegt im Scharfsinn des Geschichtsschreibers, seine eigene Gegenwart kritisch zu beleuchten. Allerdings wird dadurch die Gegenwart, die durch die Darstellung der Vergangenheit kritisch erfasst werden soll, eine Ge7 8

Hegel (1996), 11. Hegel (1996), 12.

I. Die Behandlungsarten der Geschichte

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genwart, die auf subjektiven Einfällen des Geschichtsschreibers beruht und somit von den Fähigkeiten des Geschichtsschreibers abhängt. Zufall und Willkür sind Tür und Tor geöffnet und somit erfüllt auch die kritische Reflexionsgeschichte nicht den Anspruch, wirkliche Weltgeschichte darzustellen. Zuletzt erläutert Hegel als vierte Art der reflektierten Geschichte eine solche Geschichte, die sich sogleich als etwas teilweise Abstrahierendes ausgibt. Erst hier erkennt Hegel den Übergang zur philosophischen Weltgeschichte: „Endlich solche Geschichte, die sich sogleich als etwas teilweise Abstrahierendes ausgibt. Sie ist zwar abstrahierend, bildet aber zugleich den Übergang zur philosophischen Weltgeschichte. Diese Art ist eine Spezialgeschichte eines allgemeinen Gesichtspunktes, der also aus dem ganzen Zusammenhang der Allgemeinheit herausgenommen, aus dem reichen Leben eines Volkes herausgehoben wird [...] Solche einzelnen Gesichtspunkte sind z. B. die Geschichte der Kunst, Wissenschaft, Verfassung, des Rechts, Eigentums und der Schifffahrt.“ 9

Der allgemeine Gesichtspunkt kann den Geschichtsschreiber über den eigenen Standpunkt hinausheben. Hegel sieht diese Form der Geschichtsdarstellung nur als gelungen an, wenn es dem Geschichtsschreiber gelingt, die innere Entwicklung dieses Gesichtspunktes aufzuzeigen, ohne es durch eigene Reflexion an äußerlichen Verhältnissen zu brechen. Bei genauerer Betrachtung liegt in diesen Formen der Geschichtsdarstellung bereits die Idee einer Entwicklung bzw. von Entwicklungsstufen historischen Denkens. Die Geschichtsdarstellung reflektiert den Grad des historischen Bewusstseins der Zeit, die eine solche Darstellungsform hervorgebracht hat. Die zunehmende Abstraktionsleistung in diesen Darstellungsformen zeigt die Entwicklungsstadien des historischen Bewusstseins, das kein individuelles, sondern ein gattungsgeschichtliches ist. Das historische Bewusstsein unterliegt dem Entwicklungsprozess der Geschichte selbst. Deshalb kann erst aus der 9

Hegel (1996), 13.

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B. G. W. F. Hegel

letzten Form der reflektierten Geschichtsschreibung die philosophische Weltgeschichte hervorgehen. Der Grund liegt nicht äußerlich in der Form der Darstellung, sondern ist nur aus dem inneren Zusammenhang der Zeit selbst zu verstehen. Die philosophische Weltgeschichte hebt sich dadurch von den anderen Formen der Geschichtsdarstellung ab, da in ihr die Geschichte selbst und nicht mehr die Reflexion des Geschichtsschreibers vorherrschend ist. Hierin liegt Sinn und Zweck der philosophischen Weltgeschichte. Sie knüpft an die Geschichtsdarstellung an, die von einem allgemeinen Gesichtspunkt ausgehend den inneren Zusammenhang einer geschichtlichen Entwicklung darstellt: „Die philosophische Weltgeschichte knüpft an diese Art der Geschichte näher an. Ihr Gesichtspunkt ist nicht ein besonderes Allgemeines, nicht einer von vielen allgemeinen Gesichtspunkten abstrakt herausgehoben, wobei man von den anderen Gesichtspunkten absieht; sondern sie ist ein konkretes Allgemeines, das geistige Prinzip der Völker und die Geschichte dieses Prinzips. Dieses Allgemeine gehört nicht einer zufälligen Erscheinung an, so dass die Schicksale, Leidenschaften, die Energie der Völker das erste wäre, besondere Gelegenheit dessen, [dass] dieses Allgemeine sich hervortäte, sondern dieses Allgemeine ist die leitende Seele der Begebenheiten, der Merkur, der Seelenführer des Individuums, der Handlungen und Begebenheiten. Die Idee ist der Führer der Völker und der Welt. Der Geist führt die Welt und seine Führung wollen wir erkennen.“ 10

Hier entfaltet Hegel die Idee einer historischen Objektivität, die erst in einer philosophischen Weltgeschichte ihren Ausdruck finden kann. Und es ist nach Hegel erst seine gegenwärtige Epoche, die eine solche Betrachtung der Weltgeschichte ermöglicht, da erst in ihr die Geschichte zum Bewusstsein ihrer selbst kommt. Hegel verwendet die Begriffe Geist und Weltgeist, durch die sich die Weltgeschichte offenbart. Die Weltgeschichte ist die Stufenfolge der Völker, in denen sich der Weltgeist entäußert. In der Weltgeschichte können wir in ver10

Hegel (1996), 14.

I. Die Behandlungsarten der Geschichte

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schiedenen Regionen immer wieder Rückfall, Barbarei, Zerstörung erkennen, aber in den welthistorischen Zentren erweist sich der historische Fortschritt der Weltgeschichte. Die philosophische Weltgeschichte zeichnet in großen Umrissen die fortschreitende Entwicklung der Menschheit in ihren historischen Zentren dar, und dies sind nach Hegel verschiedene Völker, durch die sich der Weltgeist emporarbeitet. Dafür muss Hegel voraussetzen, dass es in der Weltgeschichte einen Endzweck gibt und dass es in der Weltgeschichte in den Entwicklungsstufen der welthistorischen Zentren vernünftig zugeht: „Ist nicht ein Endzweck aller dieser Bewegung zu denken? Die Frage drängt sich uns auf, ob hinter dem Lärmen, dieser lauten Oberfläche der Erscheinungen, nicht ein inneres, stilles, geheimes Werk sei, in welchem die Kraft aller Erscheinungen aufbewahrt werde und dem alles zugutekomme, um [dessentwillen] das alles geschehen ist. [...] Die Frage ist also nach einem an und für sich bestimmten Innern, das Eines ist, dessen ewige Arbeit es ist, sich zum Wissen, zur Anwendung und zum Genusse seiner selbst fortzutreiben, fortzubringen. Dass in den Begebenheiten der Völker ein solcher letzter Zweck das Herrschende und allein sich Vollbringende ist, dass also Vernunft in der Weltgeschichte ist, ist eine Wahrheit. Diese bejahende Antwort der Frage wird hier vorausgesetzt, als Beweis welcher Wahrheit man die Abhandlung der Weltgeschichte selbst nehmen könnte, da sie das Bild und die Tat der Vernunft ist.“ 11

Vernunft und Endzweck sind die beiden Begriffe, die nach Hegel Voraussetzung für die Erkenntnis der philosophischen Weltgeschichte sind. In der Weltgeschichte entfaltet sich die Vernunft als eine Form ihrer Entäußerung und ihr Endzweck ist die Hervorbringung der Idee der Freiheit. Dieser Endzweck beruht auf der grundsätzlichen Idee der menschlichen Freiheit und dessen Verwirklichung in der Institution des Staates. Bevor Hegel also den eigentlichen Inhalt der philosophischen Weltgeschichte darlegen kann, muss er Voraussetzung und Endzweck, in bzw. durch den sich die Voraussetzung entfalten kann, dar-

11

Hegel (1996), 20 f.

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B. G. W. F. Hegel

stellen: die Idee der menschlichen Freiheit und die Natur des Staates.

II. Die Idee der menschlichen Freiheit

Die Idee der menschlichen Freiheit ist nach Hegel die Voraussetzung, dass die Idee der Freiheit in der Geschichte gedacht werden kann. Im Gegensatz zum Tier, das durch Trieb und Bestimmung gekennzeichnet ist, ist dem Menschen eigentümlich, dass er keine Bestimmung hat: „Was der Mensch zunächst unmittelbar ist, ist nur seine Möglichkeit, vernünftig und frei zu sein, nur die Bestimmung nur das Sollen; erst durch Zucht, Erziehung und Bildung wird er, was er sein soll, der Vernünftige. Der Mensch ist nur die Möglichkeit Mensch zu sein, wenn er geboren ist. Das Tier ist, geboren, fast fertig; sein Wachstum mehr ein Erstarken. Im Instinkt hat es sogleich alles, dessen es bedarf [...] Der Mensch muss alles erwerben, muss sich selbst erst zu dem machen, was er sein soll; was sonst nur seine Möglichkeit war, eben weil er ein Geistiges ist; er muss das Natürliche abschütteln. Der Geist ist also sein eigenes Resultat.“ 12

In der Entgegensetzung von Geist und Natur bringt Hegel den Unterschied zwischen dem Menschen und allen anderen Lebewesen, der Natur, zum Ausdruck. Nur der Mensch hat Geist und kann sich dadurch in ein Verhältnis zu sich selbst setzen. Dieser Geist ist im Wesentlichen nicht Grundbedingung des je einzelnen Menschen, sondern des Menschen als Gattungswesen. Deshalb ist der Geist nicht die Wesensbestimmung des individuellen Menschen, in dem und durch den er sich verwirklicht, sondern er entäußert sich im Verlauf der gattungsgeschichtlichen Entwicklung. Er ist nicht gleich da – in seinem Selbstbewusstsein, sondern muss sich erst im Verlauf der Zeit zu sich selbst entwickeln. Im Gegensatz zum Tier ist diese Entwicklung nicht vorbestimmt, festgelegt und 12

Hegel (1996), 31.

II. Die Idee der menschlichen Freiheit

35

dennoch ist sie nicht willkürlich, sondern trägt im Keim die Möglichkeit zur Höherentwicklung bereits in sich. Hegel betont, dass der Geist von Anfang an nicht aus dem Begriff der Natur zu begreifen ist. Der Anfangspunkt der Entwicklung des menschlichen Geistes in der Geschichte, der Naturzustand, kann deshalb nicht als ein natürlicher Zustand verstanden werden, in dem der Mensch sich aus dem Tierischen entwickelt. Zwar ist in diesem Naturzustand der Geist ein leeres Ideal, der „erste, unmittelbare, natürliche Zustand des Geistes ein Zustand der Unfreiheit, der Begierde, worin der Geist als solcher nicht wirklich ist.“ 13 Aber in ihm liegt bereits die Bestimmung des Geistes, sich aus diesem Zustand der unmittelbaren Sinnlichkeit zu befreien. Dies kann er aber nur, weil er selber nicht tierisch ist, sich also naturhaft aus dem Tierischen entwickeln kann: „Tierische Menschlichkeit ist etwas ganz anderes als Tierheit. Der Geist entwickelt sich nicht aus dem Tier, sondern es ist vom Geist anzufangen, aber von dem, der nur erst an sich ist, der ein natürlicher ist, nicht ein tierischer, sondern ein solcher, dem der Charakter des Menschen aufgedrückt ist. So ist die Möglichkeit des Kindes, vernünftig zu werden, ganz etwas anderes, viel höheres als das ausgebildete Tier. Das Tier hat nicht die Möglichkeit, seiner sich bewusst zu werden. Dem Kinde können wir keine Vernünftigkeit zuschreiben; aber der erste Schrei des Kindes ist schon anders als das tierhafte, es ist darin sogleich schon das menschliche Gepräge. Schon in der einfachen Bewegung des Kindes liegt etwas Menschliches.“ 14

Hegel kann die Frage, wie es zur Entstehung des Geistes gekommen ist, nicht beantworten, ähnlich wie Kant den Begriff der Freiheit letztlich nicht erklären konnte. Dies hängt bei Hegel mit dessen statischem Naturverständnis zusammen. Die Natur bringt nach Hegel nichts Neues hervor, nur der Geist drängt auf Veränderung: 13 14

Hegel (1996), 33. Hegel (1996), 35.

36

B. G. W. F. Hegel „Durch alle Veränderungen in der Natur kommt nichts Neues hervor; dies macht die Langweile der Natur aus [...] In der Natur macht die Gattung keinen Fortschritt. Im Geist aber drängt die Veränderung auf eine neue Stufe, ist jede Veränderung Fortschritt; alle einzelnen Sprossen bleiben aber existierend.“ 15

Die Natur kennt zwar auch Veränderungen, aber diese Veränderungen sind keine wirkliche Entwicklung. Sie können sich nicht über die Natur erheben. Durch die Dichotomie von Natur und Geist kann Hegel die Besonderheit des Menschen durch die Idee der Freiheit bestimmen. Das scheinbare Paradox, dass der Geist in der Verwirklichung seiner Freiheit Entwicklungsstufen durchläuft und so scheinbar nicht frei ist, entwertet Hegel durch die Bestimmung von Entwicklung und Notwendigkeit. Da er den Begriff der Freiheit nicht anthropologisch, sondern gattungsgeschichtlich begreift, setzt er den Begriff der Freiheit von Anfang an in Beziehung zu dem Begriff des Geistes, der in die Zeit fällt. Die Idee der menschlichen Freiheit ist keine individuelle Freiheit des einzelnen, sondern die Freiheit zum Verstehen und Handeln nach den allgemeinen Prinzipien, die der Geist in der jeweiligen Entwicklungsstufe seiner Entwicklung hervorgebracht hat. Er muss, um am Anfang den Weg der Entäußerung einzuschlagen, verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, um der Bestimmung, die in seinem Endzweck liegt, zu folgen bzw. diesen zu erfüllen. Der Geist hat sich nach Hegel die Bestimmung seines Endzwecks gesetzt: „Dies führt uns zum Inhalt des absoluten Zwecks, den sich der Geist mit der Weltgeschichte vorgesetzt hat, was also das Werk der Weltgeschichte ist. [...] Dieser Endzweck liegt im angegebenen Begriff des Geistes.“ 16

Hegel begründet den Endzweck zunächst theologisch, denn nur eine solche Begründung befreit die Idee des Geistes von aller Empirie und der Idee der Natur. Den Zweck der geistigen 15 16

Hegel (1996), 39. Hegel (1996), 57.

II. Die Idee der menschlichen Freiheit

37

Tätigkeit bezeichnet Hegel als „die Verherrlichung Gottes und seiner Ehre“. 17 In der Idee Gottes fällt alles Zufällige, Subjektive ab. In ihr erfasst der Mensch, der menschliche Geist, seine Bestimmung als Absolutes. Er weiß sich aufgehoben in dem Wissen um das Absolute und befreit sein Tun, seine Existenz, die allein in der Zufälligkeit seiner besonderen Existenz oder seiner besonderen Zeit liegen. Das Absolute, die Idee Gottes, verweist ihn auf das konkret Allgemeine, die Verwirklichung seiner Besonderheit in der allgemeinen Idee des Absoluten. Dies ist der Zweck des Menschen und seiner Freiheit: „Sein Zweck, sein absoluter Trieb ist also, das Bewusstsein des Wesens zu geben, so dass es als das einzig und allein Seiende und Wahre gewusst sei, durch das alles geschehe und sich begebe, so dass alles danach eingerichtet werden müsste und wirklich eingerichtet sei, dass es also die Macht ist, die den Gang der Weltgeschichte leitete und leitet, regiert und regiert hat. Dies in diesen Taten und Werken [zu] erkennen, ist in dem richtigen Ausdruck der Religion niedergelegt, dass Gott die Ehre gegeben oder die Wahrheit verherrlicht werde [...] Hierin hat der individuelle Geist seine Wahrheit und seine Freiheit erreicht, hat es mit dem reinen Begriff, mit dem Absoluten zu tun, ist bei keinem anderen mehr, sondern bei sich, bei seinem Wesen, nicht bei einem Zufälligen, sondern in absoluter Freiheit. Dies also wäre der Endzweck der Weltgeschichte. In dieser Idee ist der Gegensatz fortgefallen, der im beschränkten Geist sich befindet, der sein Wesen nur in einer Schranke weiß und durch den Gedanken sich darüber erhebt.“ 18

Die Idee der menschlichen Freiheit ergibt sich aus dem Wissen des Absoluten in der Idee Gottes. Die wirkliche Freiheit, nicht die zufällige, subjektive, den Schwankungen und Launen des Individuums ausgelieferte, ist das Erkennen des Geistes, des je besonderen individuellen Geistes, um sein Aufgehobensein im absoluten Geist. Hegel verdeutlicht diese Idee der menschlichen Freiheit anhand der welthistorischen Persönlichkeit. Da Hegel den Verlauf der Weltgeschichte als einen objektiven Ver17 18

Hegel (1996), 58. Hegel (1996), 59.

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B. G. W. F. Hegel

lauf sieht, eine notwendige Entwicklung, die sich paradoxerweise aus der Idee der menschlichen Freiheit ergibt, erkennt er den Vorrang der notwendigen historischen Entwicklung vor der Erfüllung subjektiver Wünsche in der Geschichte: „In der Weltgeschichte kann die Befriedigung nicht sowohl Glück genannt werden; denn es ist Befriedigung allgemeiner Zwecke, die über die Sphäre hinausgehen, in der die gewöhnlichen, partikularen Neigungen sich befriedigen lassen. Der Gegenstand der Weltgeschichte sind Zwecke, welche in der Weltgeschichte Bedeutung haben, die mit Energie, einem abstrakten Wollen durchgeführt werden, das oft gegen das Glück der Individuen selbst und anderer Individuen gerichtet ist. Weltgeschichtliche Individuen haben nicht glücklich werden wollen, doch haben sie sich befriedigt.“ 19

Die welthistorischen Menschen, die historischen Persönlichkeiten, handeln aus der Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Handlungen. Diese ergeben sich mitunter aus dem subjektiven Wollen der handelnden historischen Persönlichkeit, aber ihr Handeln selbst steht im Dienst der notwendigen historischen Entwicklung im Rahmen der sich vollziehenden Weltgeschichte: „In dieser Rücksicht ist zu bemerken, dass die welthistorischen Menschen die einsichtsvollsten in ihrer Welt sind. Sie verstehen am besten, um was es zu tun ist; was sie wollen und tun, ist das Richtige, Rechte, obgleich es als ihre Sache, Leidenschaft, Willkür erscheint, weil die anderen es noch nicht wissen. Aber sie müssen gehorchen, weil sie es fühlen, weil es innerlich schon das ihrige ist und nur jetzt erst zum Dasein kommt. Es erscheint aber wie gesagt als Leidenschaft der welthistorischen Menschen.“ 20

Man könnte hier bei Hegel vom Paradox der Freiheit sprechen. Wenn die Weltgeschichte ein objektiver Verlauf ist, wieso sollte dann die menschliche Freiheit die Grundvoraussetzung 19 20

Hegel (1996), 65. Hegel (1996), 69.

III. Die Natur des Staates

39

dieser Weltgeschichte sein? Es ist der subjektive Wille, die Leidenschaft, die sich in der Idee verwirklichen, nämlich in der Idee der Weltgeschichte, die nicht eine subjektive Idee, sondern Ausdruck des Absoluten ist. Das, worin diese beiden zusammenkommen, ist das Vernünftige, das sittliche Ganze: der Staat. Hegels Idee der menschlichen Freiheit ist die Grundvoraussetzung, dass es im Unterschied zur Natur eine Geschichte, eine Weltgeschichte, gibt. Sie liegt begründet in der Idee des Geistes. Der Geist macht aus dem Menschen ein Wesen, das der naturhaften Kausalität enthoben ist. Und gleichzeitig liegt in ihm eine Bestimmung, die die Idee der menschlichen Freiheit ausmacht, ohne die sich die Idee der Notwendigkeit nicht denken lässt. Die Notwendigkeit der Entäußerung der menschlichen Freiheit ist die sittliche Welt und diese repräsentiert sich im Staat. In ihm verwirklicht sich die Bestimmung der menschlichen Freiheit, denn er ist die Verwirklichung der sittlichen Idee.

III. Die Natur des Staates

Den Staat sieht Hegel als den eigentlichen Gegenstand der Weltgeschichte an. Deshalb muss sich der Philosoph, der die philosophische Weltgeschichte hervorbringt, neben der Idee der menschlichen Freiheit als der Grundvoraussetzung von Geschichte mit der Natur des Staates auseinandersetzen und verstehen, was der Staat eigentlich ist: „Ehe man an die Geschichte geht, ist es wesentlich zu wissen nötig, worauf es beim Staat ankommt, was der Staat ist, ebenso wie Kunst, Religion und Wissenschaft zum Staat stehen [...] Was die Natur des Staates betrifft, so muss man von ihm die Vorstellung haben, dass in ihm die Freiheit sich gegenständlich wird, in ihm die Freiheit positiv realisiert ist, – im Gegensatz [zu] der Vorstellung, dass er ein Zusammenleben von Menschen sei, in dem die Freiheit aller beschränkt [ist], [dass] also [der] Staat Negation der Freiheit sei, so dass jedem nur ein kleiner Fleck bleibe, wo er seine Freiheit äußern könne [...] Wo also die Philosophie

40

B. G. W. F. Hegel den Staat erfasst, diese Weise ist so, dass der Staat Verwirklichung der Freiheit sei. Dies ist seine erste Bestimmung.“ 21

Hegel spricht mit Nachdruck von der Natur des Staates, nicht um auf eine Naturhaftigkeit zu verweisen, woraus der Staat hervorgeht, sondern um das Wesen des Staates in seiner sittlichen Substanz zu erfassen. Im Gegensatz zu den politischen Philosophen des Gesellschaftsvertrages von Hobbes bis Rousseau spricht Hegel dem Staat von vornherein ein sittliches Moment zu, das aus der Errichtung des Staates aus dem Naturzustand, ob dieser nun historisch oder nur fiktiv ist, nicht verstanden werden kann. Der Staat ist seiner Natur, seiner sittlichen Bestimmung nach, Ort der Verwirklichung von Freiheit – nicht von subjektiver, willkürlicher Freiheit, sondern, wie Hegel sagt, von vernünftiger Freiheit. Zu fragen ist also, worin nach Hegel die Sittlichkeit des Staates liegt. Hegels Argument der Dichotomie von Natur und Geist führt ihn zu der Schwierigkeit, historisch die Entstehung des Staates zu erklären. Da der Naturzustand nur als Zustand der Abwesenheit des Rechts gedacht werden kann, ist die Frage nach dem Übergang vom Naturzustand in den staatlichen Zustand nicht überzeugend zu verstehen. Nach Hegel ist der Naturzustand gekennzeichnet durch Rohheit, Wildheit, Stärke, ungebändigten Naturtrieb, Gewalt, Gewalttätigkeit, Willkür, Unrecht, Ungerechtigkeit. 22 Deshalb bemängelt Hegel am Begriff des Naturrechts, dass in ihm der Begriff des Rechts nicht gedacht werden kann. Der Naturzustand bedeutet die Abwesenheit des Rechts, ein Naturrecht ist nach Hegel ein Widersinn. Erst mit und im Staat gibt es einen Rechtszustand. Deshalb ist der Staat, die Staatsbildung, die erste weltgeschichtliche Tat der Völker, weil sie damit in den Zustand des Geistes eintreten. 23 Ohne Staat kann, so wie bei Hobbes, Freiheit nicht gedacht 21 22 23

Hegel (1996), 72 f. Vgl. Sonnenschmidt (1995), 342. Givsan (1995), 60.

III. Die Natur des Staates

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werden, da ihr das sittliche Moment fehlt. Der Naturzustand bei Hobbes als vorstaatlicher Zustand, als Zustand der Abwesenheit des Staates, ist der Zustand der unbegrenzten Freiheit des Individuums. Diese grenzenlose Freiheit richtet sich jedoch in seiner Schrankenlosigkeit gegen das Individuum, da die grenzenlose Freiheit des anderen die permanente Unsicherheit des eigenen Zustandes bedeutet. Der Staat wird gegründet, um den dauerhaften Zustand der Unsicherheit zu überwinden. Die unbegrenzte Freiheit wird aufgegeben und einem Souverän übertragen, der durch das Gewaltmonopol die unbegrenzte Freiheit des Einzelnen zugunsten einer relativen Freiheit und Sicherheit einschränkt. Was Hegel an dieser Konstruktion des Staates missfällt, ist die Verkennung der eigentlichen Natur des Staates. Hegel begründet die Natur des Staates in dessen sittlicher Eigenschaft: „Alles, was das Individuum ist, verdankt es dem Staat, es hat nur darin sein Wesen. Der Staat ist das sittlich Ganze, kein Abstraktum, dem das Individuum gegenüberstände. Ihm gegenüber steht als widerstrebend nur der Verbrecher. Aber auch er bleibt im Staat und hat sein Recht in ihm. Das Individuum lebt nur im Ganzen.“ 24

Es liegt nach Hegel im Interesse der Vernunft, dass es einen Staat gibt, da er die erste Voraussetzung ist, unter der ein, wie auch immer gearteter, Zustand des Rechts überhaupt gedacht werden kann: „Das Interesse der Vernunft ist, dass der Staat, dieses sittliche Ganze, vorhanden sei, dass der einzelnen Wille vereint sei mit diesem Absoluten [...] Der Staat ist nicht um der Bürger willen vorhanden, sondern er ist der Zweck an und für sich und nicht Mittel der Individuen, und sie sind Momente desselben. Nicht die Individuen sind der Zweck und der Staat das Mittel. Das Verhältnis von Zweck und Mittel ist nicht passend: denn der Staat ist nicht das Abstraktum, das den Bürgern gegenübersteht, sondern sie sind das wesentliche Moment, das Bewusstsein des Ganzen selbst.“ 25 24

Hegel (1996), 74.

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B. G. W. F. Hegel

Die Natur des Staates liegt begründet in der Zurückweisung des unmittelbaren, schrankenlosen Willens des Einzelnen. Nach Hegel ist deshalb das Moment der Sittlichkeit, die Zurückweisung und Unterdrückung des unmittelbaren schrankenlosen Willens des Einzelnen, bereits in rohen Staaten vorhanden. Der besondere Wille muss sich in einem solchen Zustand dem Willen eines anderen, dem des Herrschers, unterwerfen. Der besondere Wille bricht sich an dem allgemeinen Willen des Herrschenden und macht das Allgemeine zu seinem Zweck: „Schon in einem solchen rohen Zustand wird auf die Besonderheit des Willens Verzicht getan. Es liegt also darin wenigstens dies, dass der besondere Wille unterdrückt wird. So geht er also in sich zurück. Dieses In-sich-zurückgehen, innerlich bei sich zu sein, setzt eine Gewalt voraus, die dem bloß sinnlichen, natürlichen Willen geschieht. Und nur wenn dies geschieht, können Kunst, Wissenschaft und Religion sich bilden.“ 26

An dieser Stelle wird deutlich, warum Hegel erst im Staat den Beginn von Geschichte sieht, und Weltgeschichte erst mit dem Staat beginnen kann. Ohne Staat, ohne die Brechung des besonderen Willens, ist nach Hegel Sittlichkeit gar nicht zu denken. Erst in der Zurückweisung des besonderen Willens in einer Vergemeinschaftung, dem Staat, entsteht dauerhaft Sittlichkeit in den Formen von Kunst, Wissenschaft und Religion. Diese sittlichen Mächte ermöglichen Kontinuität und Weitergabe des in der Gemeinschaft erworbenen Wissens und ethischen Handelns. In einer bloßen Gemeinschaft ohne staatliche Organisation bliebe diese Kontinuität und Weitergabe gefährdet und dem Zufall überlassen. Der Staat bündelt und sorgt für den Fortbestand der erreichten Sittlichkeit, da er das allgemeine Bewusstsein der je besonderen Sittlichkeit in sich vereint. Die Sittlichkeit des Staates, die seine Natur ausmacht, kommt aber nicht von den einzelnen Bürgern des Staates, sondern der Staat als sittliche Macht fordert die Sittlichkeit der Bürger durch die Gesetze: 25 26

Hegel (1996), 74. Hegel (1996), 77.

III. Die Natur des Staates

43

„Im Staat gehorcht das Individuum den Gesetzen und weiß, dass es in diesem Gehorsam seine Freiheit, seine Objektivität hat; denn die Gesetze sind Vernünftiges.“ 27

Damit ist für Hegel die Natur des Staates ausreichend erklärt. Er ist Grundvoraussetzung für die Verwirklichung von Religion, Kunst und Wissenschaft. Ohne diesen herrschen Willkür und Beliebigkeit, weshalb Hegel die roheste Form des Staates jeder Form eines wie auch immer gearteten Naturzustandes vorzieht. Die Natur des Staates bestimmt sich durch seine Fähigkeit, ein Allgemeines hervorzubringen, durch das sich der Einzelnen aus seiner Vereinzelung, seinem besonderen Willen, lösen kann. Die Weltgeschichte beginnt mit dem Staat. Nachdem Hegel die Idee der menschlichen Freiheit und die Natur des Staates als Grundbedingungen für das Verständnis von Geschichte erläutert hat, kann er dazu übergehen, nach den Staatsverfassungen zu fragen, die in der historischen Entwicklung dem Ziel des vernünftigen Staates immer näher kommen. Er widerspricht der liberalen Auffassung, dass es Aufgabe des Staates sei, die Freiheitsrechte des Volkes zu garantieren. In einer solchen Auffassung ist nach Hegel der Gegensatz von Regierung und Volk noch gedacht: „Es liegt etwas Boshaftes im Gegensatz des Volkes und der Regierung. Solange dieser Gegensatz noch fortdauert, ist der Staat eigentlich noch nicht vorhanden, und es handelt sich um die [bloße] Existenz des Staates. Die Idee des Staates ist Einheit des allgemeinen und des besonderen Willens, und der Gegensatz, den wir hatten, ist ein abstrakter. Im Staat muss dieser Gegensatz verschwunden sein.“ 28

Die sittliche Substanz des Staates fragt nach der vernünftigen Freiheit, nicht nach der besonderen Freiheit des Einzelnen. Hegel misstraut den besonderen Willen, wenn sie in ihrer Besonderheit als Allgemeines gegenüber dem Staat auftreten wollen 27 28

Hegel (1996), 75. Hegel (1996), 79.

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B. G. W. F. Hegel

und damit den Staat ihren besonderen Willen unterwerfen. Die Demokratie hält er deshalb nicht für die am weitesten entwickelte Form der vernünftigen Freiheit. Die Verfassungen, die in der Weltgeschichte alle Reiche durchlaufen, teilt er in folgende Formen auf: „Zuerst sehen wir in jedem Staat eine Art von patriarchalischem Königreich, patriarchalisch oder kriegerisch, diese noch in sich gedrungene Einheit. Dann tut sich die Einzelheit, Besonderheit hervor, und so entsteht Aristokratie und Demokratie; je nachdem einzelne Kreise oder Individuen herrschen. In der Demokratie kristallisiert sich eine zufällige Aristokratie, – [durch] die Talente oder sonstige Zufälligkeit. Dies macht den Übergang zu einem zweiten Königtum, [einer] Monarchie, die erst die letzte, wahre [Form] des Staates ist. Diesen Zustand hat die Weltgeschichte durchlaufen.“ 29

Hegel überträgt diesen Entwicklungsgang auf die Weltgeschichte im Ganzen: „In der Weltgeschichte sind es erstens die orientalischen Reiche, wo die Allgemeinheit in gediegener ungetrennter substantieller Einheit erscheint. Die griechischen und römischen Reiche, auf dem Punkt der höchsten Blüte, d. h. der Entwicklung ihrer welthistorischen Bedeutung, zerfielen in Aristokratie und Demokratie. Die neuere europäische Welt, das Germanische hingegen stellt die [zweite] monarchische Verfassung dar, wo die besonderen Kreise frei werden ohne Gefahr des Ganzen, sondern wo gerade die Tätigkeit der Besonderheit das Ganze produziert. Und dies ist die Darstellung der Idee, die ihrem Unterschiede die Freiheit gibt, sich hervorzutun, und sie zurücknimmt zu ihrer Einheit.“ 30

Allerdings schränkt Hegel ein, dass diese fortschreitende Entwicklung nicht mit dem Fortschritt in den Wissenschaften verglichen werden kann. In den Wissenschaften sind alle früheren Prinzipien Grundlagen des Folgenden. In der Staatsverfassung gilt dies nicht. Im Gegenteil: nach Hegel sind in ihnen die frühe29 30

Hegel (1996), 80. Hegel (1996), 81.

IV. Die philosophische Weltgeschichte

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ren Prinzipien durch die folgenden aufgehoben. Der Fortgang der Weltgeschichte ist zwar Kontinuität, aber nur eine solche, in der in der höheren Form das Alte untergegangen ist.

IV. Die philosophische Weltgeschichte

Hegel unterteilt den Gang der Weltgeschichte nach diesen Prinzipien ein und entwickelt seine Theorie einer philosophischen Weltgeschichte. Ausgangspunkt ist der Staat in seinem ersten Entwicklungsstadium. Hegel entwirft folgende Topologie der Entwicklung: Kindesalter: Hinterasien und China; Knabenalter: Mittelasien; Jünglingsalter: das griechische Reich; Mannesalter: die römische Welt; Greisenalter: das germanische Reich. Dem südlichen Teil Afrikas spricht Hegel Geschichtlichkeit ab. „Diese Völker“, so Hegel, „sind aus sich nie herausgekommen, haben in der Geschichte keinen Fuß gefasst“. 31 Ausführlich stellt Hegel in einem ersten Hauptkapitel die orientalische Welt dar, die er in die Geschichten Chinas, Indiens, Persiens und Ägyptens unterteilt. Er bemängelt an der Geschichte Chinas und Indiens, dass in ihnen keine Trennung von Moralität und Recht stattgefunden habe, und deshalb nicht wirklich von einem wenn auch rudimentären Prinzip der Freiheit als Grundvoraussetzung eines Staates die Rede sein könne. Erst mit Persien treten wir „in die eigentliche Weltgeschichte ein“. 32 China, so Hegel, „liegt außer den Zusammenhängen der Weltgeschichte, obgleich es ein wichtiges, wesentliches Moment ist, ebenso Indien, das andere Moment, das nur einen stummen, lautlosen, inneren Zusammenhang hat, der tatlos vorüberzieht. Bei Persien aber ist ein eigentlicher, bewusster, offener Zusammenhang. Je weniger [man] in China und Indien von einer nach außen gehenden Geschichte sagen konnte, aber Genügendes vom Inne-

31 32

Hegel (1996), 99. Hegel (1996), 233.

46

B. G. W. F. Hegel ren, desto mehr wissen wir in Persien vom Äußeren, desto weniger von der inneren Welt.“ 33

Hegel sieht in China und Indien nicht die notwendige Voraussetzung eines Staates, die der Natur des Staates nahekommt: die Entzweiung des besonderen und des allgemeinen Willens durch das Gesetz. Beide verbleiben in ihrem eigenen Horizont, entäußern sich nicht – eine notwendige Voraussetzung für eine Fortentwicklung. Dies findet sich erst in Persien und Ägypten. Persien umfasse unterschiedliche Völker, die in Sprachen, Sitten, Religion höchst verschieden seien. Während China durch die Starre des Patriarchalisch-Moralischen und Indien durch die der Unterschiedenheit der Kasten kennzeichnet gewesen sei, vereine Persien diese beiden Momente in dem Unterschied der Individualisation als Nation. Allerdings habe sich auch Persien nicht zu einer wirklichen Staatsbildung emporgehoben. Erst im oberen Niltal hat sich „geschichtlich der erste Staat geäußert, ist die erste Staatsbildung“. 34 Diese Staatsbildung wurde dadurch ermöglicht, dass in Ägypten das Recht nicht mehr an die Willkür des Herrschers gebunden war und somit ein erster Zustand gesetzlicher Ordnung hergestellt werden konnte, der nicht mehr ausschließlich durch Moralität und Überlieferung bestimmt wurde: „So sehen wir, dass in Ägypten alles in bestimmter Ordnung war, so dass selbst die Könige nicht nach Willkür herrschten. Es ist dies ein ganz geordneter polizeigerechter Zustand, wo der Willkür alles entnommen. Wir sehen also einen bestimmten, regelmäßigen Zustand bis zu den Partikularitäten.“ 35

Aber Ägypten verbleibt innerhalb einer Naturreligion. Für Hegel bedeutet dies, dass die religiösen Vorstellungen an die sinnliche Einbildungskraft gebunden bleiben und nicht den Boden des Gedankens betreten. Dennoch wird bei den Ägyptern 33 34 35

Hegel (1996), 233. Hegel (1996), 272. Hegel (1996), 279.

IV. Die philosophische Weltgeschichte

47

ihre religiöse Vorstellung vom Symbol bestimmt. Damit streift der religiöse Gedanke das unmittelbar Partikulare ab, ohne sich jedoch zum Gedanken entwickeln zu können. Die Tiergestalten, die sie in den Sphinxen zu Symbolen emporgehoben haben, bestimmen zwar die bildhafte Seite des religiösen Denkens, verweisen aber bereits darauf, sich davon frei zu machen. Hegel bezeichnet den ägyptischen Geist als den „Erfinder der besonderen partikulären Erfindungen, nicht des freien Gedankens“. 36 Hierin liegt die Beschränkung der orientalischen Welt. Sie ist nach Hegel nicht in der Lage gewesen, sich über ihr je Partikulares hinaus zu entwickeln. Dies kulminiert in der orientalischen Vorstellung, dass dem Individuum keine Freiheit eingeräumt wird. Letztendlich bleibt in der orientalischen Welt der Geist bei sich. Nur bei den Ägyptern zeigen sich erste Ansätze eines Aufweichens der Partikularität, ohne sie letztendlich abstreifen zu können. In der griechischen Welt erhebt sich der Gedanke über das Natürliche hinaus, ohne den Bereich des Natürlichen ganz zu verlassen. Hier interessiert das Innerliche, Menschliche, das in der griechischen Skulptur ihren Ausdruck findet. Die Idee der Schönheit streift das Endliche, Zufällige, Äußerliche ab und wird eine Erscheinung des Geistigen. Dieses Geistige ist aber noch nicht allgemeines Prinzip, sondern an die sinnliche Anschauung geknüpft: „Bei den Griechen war das Freie wohl die eine Seite, aber worin das Freie erscheint, ist die noch ins Materielle versenkte, immanente Geistigkeit. Hier also kann Gott noch nicht verehrt werden. Der Geist ist noch nicht das Wissen des Geistes. Die Seite seiner Realität ist die natürliche Erscheinung. Nach dieser Seite müssen wir sagen, dass das griechische Prinzip noch nicht zu einer Welt des Gedankens ausgebildet, erhoben ist; sondern das denkende, das individuelle Prinzip hat zu seinem Objekt die substantielle Einheit des Geistigen und des Physikalischen. Die höhere, unsinnliche Welt steht noch nicht über der sinnlichen.“ 37 36 37

Hegel (1996), 295. Hegel (1996), 341.

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B. G. W. F. Hegel

Dieses Prinzip des natürlichen Geistigen findet sich bei den Griechen auch in der Religion und in den Gesetzen. In der Religion repräsentieren die Götter die Natur, in den Gesetzen spiegeln sich die Sitten wider. Diese Sinnlichkeit der Griechen kulminiert in ihrer Auffassung und Darstellung der Kunst: „Die Religion der Griechen, ihr Bewusstsein des Absoluten, ist die Schönheit, ein Geistiges also mit sinnlichen Momenten behaftet. Deshalb waren ihre Religion und ihr Kultus die Kunst. Ihr Gott ist schöne Individualität, der Gott war schön, noch nicht wahr. Ebenso ist ihre Verfassung, [sind] ihre Gesetze, das Rechtliche und das Sittliche [eine] Gewohnheit gewesen.“ 38

Erst mit Sokrates beginnt der griechische Geist den Boden der Sinnlichkeit zu verlassen. Indem Sokrates nach dem Wesen der Dinge fragt, danach, was das Rechte und Gute sei, lässt er den sinnlichen Gedanken hinter sich und fragt nach dem Allgemeinen. Doch das sokratische Prinzip ist zu schwach, um sich innerhalb der griechischen Welt durchzusetzen. Es markiert den Endpunkt der griechischen Entwicklung. In der römischen Welt tritt das abstrakt Allgemeine in Form der Macht in die Welt. Macht ist für die Römer nicht mehr die Durchsetzung ihres partikularen Willens, sondern jener wird durch die Macht gebändigt. Die Entstehung und Ausbreitung des römischen Reiches überwindet die Schranken ihrer partikularen Existenz. Diese Überwindung findet sich im römischen Recht wieder, das die abstrakte Persönlichkeit erfunden und ausgebildet hat. 39 Aber erst das Erscheinen der christlichen Religion unter Augustus markiert nach Hegel den endgültigen Übergang vom Sinnlichen zum Gedanken. Hegel spricht bezüglich des Erscheinens der christlichen Religion von der „Notwendigkeit des Erscheinens zu dieser Zeit, als die Zeit erfüllt war“. 40 In der Idee Gottes erscheint „das Eine, das schlechthin 38 39 40

Hegel (1996), 379. Hegel (1996), 401. Hegel (1996), 419.

IV. Die philosophische Weltgeschichte

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Allgemeine, worin alles Natürliche, Besondere untergegangen ist“. 41 Es ist die historische Entwicklung, die bei den Ägyptern begonnen hatte, die Abarbeitung am Natürlichen, um sich am Ende von seiner Natürlichkeit zu befreien: „Erst jetzt, in diesem harten Dienst des Fatums, kommt es zustande, erst jetzt erhält dies Bedeutung, dass der Mensch sich selbst betrachtet, dass das den Griechen aufgegebene: ‚Mensch, erkenne dich selbst!‘ nicht mehr bloß dieses erste Erkennen ist, nicht bloß bis zur Schönheit fortgeht, sondern sich vollendet, zum allgemeinen Bewusstsein durch die Vorstellung kommt und als allgemeine Natur des Geistes erfasst wird, dass Gott Mensch geworden sei und so die Versöhnung, die Befreiung zustande gekommen ist. Das ist die Befreiung, die in der christlichen Religion gegeben ist.“ 42

Nach Hegel ist die Menschwerdung Gottes der Schritt, der alle Partikularität abstreift, da der Mensch in die göttliche Natur aufgenommen worden ist. Es ist dieser Teil der römischen Welt, die den Übergang in die germanische Welt vorbereitet. Hegel konstatiert: „Die christliche Religion ging zur Zeit der römischen Welt auf, aber nicht bei den Römern selbst, sondern in einem anderen Volk, das der Weltgeist bestimmte, Träger dieses Prinzips zu sein.“ 43

In der germanischen Welt entfaltet sich trotz aller scheinbarer äußeren und inneren Widersprüche die Idee der Freiheit. Vom frühen Mittelalter bis zur Geschichte der Neuzeit entfaltet Hegel das Bild der historischen Entwicklung. In Luthers Lehre und der Reformation kulminiert die Entwicklung, die nach Hegel den Sinn der Weltgeschichte ausmacht: die Herausbildung des Gedankens der Freiheit, der alle Sinnlichkeit abgestreift hat:

41 42 43

Hegel (1996), 419. Hegel (1996), 431. Hegel (1996), 437.

50

B. G. W. F. Hegel „Luthers einfache Lehre ist, dass das Bewusstsein des Dieses in der Gegenwart kein Sinnliches, sondern ein Wirkliches, ein Geistiges von einem wirklich Gegenwärtigen ist, nicht im Sinnlichen, sondern im Glauben und Genuss. Es ist dies kein Bewusstsein von einem Gott, der als ein Ding sinnlich existieren sollte, noch auch, dass dieser Gegenstand ein bloß vorgestellter, nicht gegenwärtiger sei, sondern er sei wirklich gegenwärtig, aber nicht sinnlich.“ 44

Jetzt ist die Subjektivität nicht mehr die natürliche, sondern das Substantielle. Diese Idee der Freiheit in der Religion, ihre abstrakte Allgemeinheit, ist das Grundprinzip des Staates, die Religion die Basis des Staates. Dieses Staatsprinzip setzt sich in der germanischen Welt durch und führt die Weltgeschichte in der Verwirklichung der Idee der Freiheit in der abstrakten Sittlichkeit des Staates zu einem Abschluss. Hegel betont am Ende nochmals, dass damit das Prinzip der Weltgeschichte in seiner konsequenten Entwicklung auf seinem Weg zur vernünftigen Freiheit im Staat dargelegt worden sei: „Wir haben also kurz die Darstellung der Weltgeschichte gemacht. Die Absicht war: zu zeigen, dass der ganze Gang ein konsequenter des Geistes ist und die ganze Geschichte nichts als nur die Verwirklichung des Geistes sei, die die Staaten ausführen, und [dass] der Staat die weltliche Verwirklichung derselben ist [...] Wichtig ist die Einsicht, dass der Geist sich nur in der Geschichte und Gegenwart befreien, befriedigen kann und dass das, was geschehen ist und geschieht, nicht nur von Gott kommt, sondern Gottes Werk ist.“ 45

Es ist diese Objektivität des Geschichtsverlaufs, nicht in seinen Einzelheiten, sondern in seiner Substanz, die Hegels Geschichtsphilosophie und seinem Gebäude der Weltgeschichte Attraktivität verleiht. Die Idee des Fortschritts, die Hegels Grundmotiv der Weltgeschichte ist, ist dem heutigen westlichen Geschichtsdenken nicht fremd.

44 45

Hegel (1996), 499. Hegel (1996), 521.

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Den ganzen Verlauf der Weltgeschichte von der orientalischen bis zur germanischen Welt erzählt Hegel anhand der großen historischen Entwicklungen, die in der westlichen Geschichtsschreibung noch heute den Kern historischen Denkens ausmachen. Er erläutert die historischen Entwicklungen Chinas, Indiens, Persiens, Ägyptens, entfaltet vor dem Leser das Panorama der griechischen Antike, die Ausbreitung der griechischen Kultur, die Perserkriege, den Gegensatz von Athen und Sparta, die attische Demokratie, den Peloponnesischen Krieg, das Reich Alexanders, die Anfänge Roms, den Gegensatz von Patriziern und Plebejern, Roms Krieg mit Karthago, das Zeitalter der Bürgerkriege, die Probleme der Römischen Verfassung, Cäsar, Augustus, das Erscheinen des Christentums, den Untergang Roms, die Völkerwanderung, das Auftauchen des Islams, die Zeit Karls des Großen, den Reichszerfall des Frankenreichs, die Herausbildung der deutschen Kaiserwürde, die Kreuzzüge, die Monarchie Karl V., die Entdeckung Amerikas, die Reformation, den dreißigjährigen Krieg, den westfälischen Frieden, das Zeitalter Ludwig XIV. und die Epoche Friedrich II. Mit dieser Erzählung schafft Hegel den Rahmen, der bis heute die Chronologie eines westlichen Weltgeschichtsdenkens prägt. Obwohl Hegel eine Philosophie der Weltgeschichte konzipiert, entwickelt er mit seiner Konzeption einer Weltgeschichte den wichtigsten Orientierungsrahmen für die im 19. Jahrhundert entstehende moderne Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum. Zum einen reflektiert er systematisch über die Darstellungsformen der Geschichte, zum anderen gibt er eine inhaltliche Konzeption der Weltgeschichte vor, an der sich das professionalisierte historische Denken im 19. und 20. Jahrhundert abarbeiten wird. Mit diesem Denken verlässt Hegel den Boden der abstrakten Philosophie und verhilft dem sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausbildenden historischen Denken zum Durchbruch. Hegels entscheidende Idee ist, dass alle Realität histo-

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B. G. W. F. Hegel

risch ist. 46 Er bricht mit dem Denken der Aufklärung, dass die Vernunft ein Vermögen ist, das unabhängig von Raum und Zeit universelle Prinzipien formulieren kann. Vernunft ist nur noch denkbar durch ihre Entäußerung in der Geschichte, sie selber ist ohne Geschichte, ohne die historische Denkweise, nicht mehr zu verstehen. 47 Diese Historisierung des Denkens fällt in eine Zeit, in der sich Europa zivilisatorisch als Mittelpunkt der Welt sieht. Diese Stellung Europas, die selber ein Prozess des 18. Jahrhunderts und der zunehmenden wirtschaftlichen Dominanz Europas seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, wird auf den Gesamtverlauf der Geschichte übertragen. Indem Hegel Geschichte als Weltgeschichte mit einem linearen Fortschrittsgedanken darstellt und das in seiner Zeit zur Verfügung stehende historische Material nach dieser Idee sichtet, entwertet er andere Zugänge zur Weltgeschichte, die die eigenen historischen Entwicklungen im Verhältnis zu anderen Geschichten relativieren. Europa bzw. der Westen werden zum Synonym für ein Geschichtsbild, das die Rekonstruktion der Geschichte bzw. Weltgeschichte an der besonderen Rolle Europas bzw. des Westens misst. Auch dort, wo vermeintlich misstrauisch auf Hegels philosophische Darstellung der Weltgeschichte geschaut wird, teilt sie dessen Prämissen. Die historische Schule im 19. Jahrhundert, Marx Gegenentwurf zu Hegel, Max Webers Versuch, die Sonderstellung des okzidentalen Rationalismus stärker empirisch zu begründen, bleiben dem Fortschrittsdenken Hegels und dessen Weltgeschichtskonstruktion verhaftet. Gleiches gilt für weite Teile des historischen Denkens in Europa bis heute. Die gängige Abfolge der Geschichte in Lehrplänen und Bildungseinrichtungen ist ein Spiegelbild von Hegels Geschichtsdarstellung. Hegels Philosophie der Geschichte hat deshalb grundsätzlich Bedeutung für ein Nachdenken über Geschichte. Die Wurzeln des modernen Geschichtsdenkens in Europa und besonders in Deutschland, aber auch deren Inhalte, sind von Hegels Darstellung maßgeblich geprägt. 46 47

Iggers / Iggers (2008), 81. Berlin (2009), 33 f.

IV. Die philosophische Weltgeschichte

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Wenn auch die Begründungen Hegels und dessen Sprache befremdlich wirken können, so teilen wir doch im Kern die Idee, dass die Weltgeschichte eine Entwicklungsgeschichte zu mehr Freiheit ist. Die Idee der Freiheit wird sicher anders gedeutet, nämlich im Rahmen universeller Menschenrechte. Sie verbleibt aber im Horizont eines Denkens, das davon ausgeht, dass der Westen bei allen Brüchen und Diskontinuitäten ein normatives Projekt ist, in dem sich auf besondere Weise und anders als in anderen Kontinenten und Kulturen die Idee der Freiheit entwickelt hat. Stellvertretend für eine solche Sichtweise steht Heinrich August Winklers Darstellung der Geschichte des Westens, indem er versucht, diese Geschichte als Vollendung eines normativen Projekts, den Ideen von 1776 und 1789, zu beschreiben. 48 Auch hier durchzieht die westliche Geschichte eine Leitvorstellung, die in ihren Ursprüngen angelegt ist: die Entwicklung zu einer Trennung von Staat und Kirche bzw. Politik und Religion, die Idee der Demokratie und die Vorstellung von universellen Rechten. „Zusammen mit den Ideen von den unveräußerlichen Menschenrechten“, so Winkler, „der Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie gehört die Gewaltenteilung zum Kernbestand dessen, was wir als normatives Projekt des Westens oder die westliche Wertegemeinschaft bezeichnen können.“ 49 Diese Sichtweise liegt in den Fußspuren der Geschichtsphilosophie Hegels. Der empirische Gang durch die Geschichte, die Winkler unternimmt, stimmt in wesentlichen Teilen mit Hegels Darstellung überein. Sie teilt darüber hinaus die Vorstellung, dass Geschichte am Leitfaden einer Gegenwartsdeutung erzählt werden kann. Die Frage ist, ob der Ansatz, den Winkler wählt, vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Relativierung einer westlichen Weltgeschichte noch angemessen ist. Der erneute Blick auf Hegels Philosophie der Geschichte macht deutlich, wie sehr wir noch immer in den Bahnen dieser 48 49

Winkler (2010), 13. Winkler (2010), 21.

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B. G. W. F. Hegel

Vorstellung denken. Dies hängt auch damit zusammen, dass Hegel mit seiner Philosophie der Weltgeschichte eine Prägekraft für das nicht philosophische, für das historische Denken, besitzt, die für die anderen Teile seines philosophischen Denkens nicht gelten. Die Idee der Freiheit, die in Hegels Sicht sicher einseitig ausgelegt ist, steht noch allzu oft im Zentrum westlichen Geschichtsdenkens, ohne die Freiheitsgeschichte reflexiv in den globalen Kontext einzubinden. Noch immer ist es der Westen, der, trotz aller Rückschläge, als Zentrum dieser Freiheitsgeschichte gesehen wird. In diesem Sinn ist Nachdenken über Geschichte ein Nachdenken über die Vor-Urteile eines westlichen Geschichtsdenkens, das sich den Veränderungen der Globalisierung nicht geöffnet hat.

C. Johann Gustav Droysen: Geschichte als Wissenschaft Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) gilt in Deutschland als einer der Begründer der modernen Geschichtswissenschaft. In seiner Historik oder, wie Droysen es selbst nannte, eine Wissenschaftslehre der Geschichte, begründet er ausführlich, worin das Besondere der Geschichtswissenschaft im Gegensatz zu anderen Wissenschaften liegt. Droysen, der ein eifriger Hörer Hegels gewesen und mit dessen Geschichtsphilosophie bestens vertraut war, orientiert sich in seiner Begründung der Geschichte als Wissenschaft an einer methodischen Grundlegung wissenschaftlichen Forschens über Geschichte, ohne bei einer solchen methodischen Verengung stehenzubleiben. Sein Ziel war es, die spekulative Geschichtsphilosophie Hegels zu überwinden und die Geschichte als Wissenschaften im Sinne eines modernen Wissenschaftsverständnisses zu begründen. Dabei geht Droysen von vornherein davon aus, dass sich die Geschichte als Wissenschaft nicht einseitig an dem Methodenbegriff der Naturwissenschaft orientieren kann, und sie neben einer methodischen Begründung den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Geschichte, in seiner Besonderheit erfassen muss. Dies ist vor dem Hintergrund der Verwissenschaftlichung der Geschichte als universitäre Disziplin im 19. Jahrhundert zu sehen – die Umwandlung der Geschichte in eine Fachdisziplin. Ausgehend von der Gründung der Universität Berlin im Jahr 1810 als Teil des Reformprogramms zur Modernisierung Preußens, galt es, wissenschaftliche Regeln für das Fach Geschichte zu entwickeln, um durch eine solche Professionalisierung Geschichte in den Rang einer Wissenschaft zu heben. Diesem Vorhaben widmete sich neben Leopold von Ranke ganz besonders Johann Gustav Droysen, der mit sei-

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C. Johann Gustav Droysen

ner Historik einen umfassenden methodischen Kanon der Geschichtswissenschaft entwirft, der in der internen Lehrtradition vieler deutscher Historiker traditionsbildend wurde. 1

I. Methodik und Geschichte

Noch bevor sich Droysen in seinen Vorlesungen und den dann folgenden Veröffentlichungen der Historik den systematischen Fragen der Geschichtswissenschaft widmet, stellt er im Vorwort zur Geschichte des Hellenismus II im Jahr 1843 unter der Überschrift Theologie der Geschichte Überlegungen darüber an, wie für die Geschichtswissenschaft eine eigenständige Methodik entwickelt werden kann. Seine frühen Überlegungen kreisen bereits um den Zusammenhang von Methodik und dem Gegenstand der Erkenntnis, der Geschichte selbst. Droysen beschäftigt in dieser Anfangszeit besonders die Frage nach der Zuverlässigkeit der Überlieferung und der Möglichkeit des Historikers, sich unabhängig des eigenen Standpunktes Formen einer Objektivität anzunähern, die geschichtliche Erkenntnis der Zufälligkeit des Betrachtenden entreißt: „Wie kommt die Geschichte zu ihren Fragen? Wie kann sie es wagen, den vorliegenden Überlieferungen ihre Lücken, ihre Fehler, die Schiefheit der Gesamtauffassung, die sich aus ihnen ergeben hat, bezeichnen zu wollen? Sie kann es, wenn sie über die monographische Betrachtungsweise hinaus den Zusammenhang geschichtlicher Entwicklung zu erkennen vermag.“ 2

Geschichte in ihrer Gesamtheit, geschichtliche Entwicklungen in ihren Einordnungen in größere Zusammenhänge, sind nach Droysen der Schlüssel zu einem wirklich historischen Verstehen. Dieses Verstehen ist das Besondere historischen Den-

1 2

Schnädelbach (1974), 91. Droysen (1843), 370.

I. Methodik und Geschichte

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kens auf systematischer Grundlage. Es geht nicht um das Erzählen oder Auflisten einzelner Tatsachen oder Begebenheiten, sondern um eine aus den Quellen überprüfbare Rekonstruktion der Vergangenheit, die aus der nachschauenden Betrachtung erst ihre wirkliche Bedeutung enthüllt. In dieser wissenschaftlichen Rekonstruktion der Vergangenheit wird sich der Mensch seiner Einzigartigkeit bewusst: „Ist jede Kreatur ein Dasein ihrer Gattung, Trägerin ihres Gattungsbegriffs, so ist die Geschichte der Gattungsbegriff des Menschen. Wie einsam, verloren, trostbedürftig ist der einzelne in dem Gefühl seiner empirischen Endlichkeit, seiner Schwäche und Verzagtheit; da ist es, wo er der Gottheit sich zuwendet, unablässig ringt, ihrer gewiss zu sein. Aber zugleich fühlt er, nicht bloß dieser einzelne, sondern Glied zu sein in einem Kreise seines Volkes, seiner Zeit, ein Glied in der großen Kontinuität der Geschichte, erfüllt und getragen von dieser Allgemeinheit, dem Quell seiner Sittlichkeit, mitberufen zu dem Großen Werk der Menschheit.“ 3

Die große Kontinuität der Geschichte, von der Droysen spricht, ist der Gegenstand der Erkenntnis, es ist die Geschichte, formuliert im Singular, denn die Kontinuität der Geschichte erfüllt sich im Großen Werk der Menschheit. Noch bevor Droysen den Versuch unternimmt, die Geschichte als Wissenschaft systematisch zu begründen, tauchen hier die Motive seines Denkens auf. Es geht um die Vorrangstellung geschichtlichen Denkens gegenüber anderen Denkformen für ein wirkliches Verständnis der Gegenwart. Aus der Kontinuität der Geschichte lassen sich die spezifischen Entwicklungsbedingungen für die Weiterentwicklung einer Nation, eines Staates, eines Volkes erkennen. Neben der methodischen Begründung der Geschichte als Wissenschaft versucht Droysen, Geschichte als umfassendste Erkenntnismöglichkeit für das Verstehen von Gegenwart und Zukunft zu etablieren.

3

Droysen (1843), 375 f.

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C. Johann Gustav Droysen

Um diese umfassende Bedeutung der Geschichte für die Erkenntnis der Gegenwart zu begründen, greift Droysen auf den Gegensatz von Historischem und Rationellem zurück. Das Rationelle identifiziert er mit Ideen, so wie sie in der Aufklärung und der Französischen Revolution auftauchten, Prinzipien der Vernunft, die nicht aus der Geschichte abgeleitet und deshalb in ihrer Verwirklichung die Idee einer Kontinuität der Geschichte oder einer Kontinuität in der Geschichte ablehnen. Die aufklärerischen Ideen der Vernunft, die politische Forderung nach Gleichheit und Freiheit, wirken nach Droysen zerstörerisch, wenn sie sich, als radikale Forderungen gestellt, den Bedingungen der aus der Geschichte gewachsenen Traditionen und Entwicklungen entgegenstellen und die besonderen Bedingungen des historischen Umfeldes unberücksichtigt lassen. Er verwahrt sich dabei aber gegen die Vorstellung, dass diese Ideen tatsächlich unhistorisch seien. Es sei vielmehr eine unhistorische Betrachtungsweise, solche Ideen und Prinzipien nicht in die Kontinuität der Geschichte zu stellen. Es geht Droysen nicht um die Ideen als solche, sondern um die Enthistorisierung dieser Ideen, indem die geschichtliche Betrachtungsweise Zeiten bzw. Epochen, die nicht den Verklärungen eines idealen Denkens entsprechen, aus dem Strom der geschichtlichen Entwicklung zu bannen versuchen. Eine solche historische Ansicht widerspricht nach Droysen dem Geist eines wirklich historischen Denkens: „Gerade die griechische und römische Geschichte erinnert in jedem Augenblick daran, wie wenig die historischen Rechte gelten gegen das Recht der Geschichte; die eine wie die andere ist unerklärlich, solange man nicht den Inhalt dieses Rechts zu erfassen vermag. Ich will von Rom nicht sprechen; es liegt mir hier näher, den Blick auf Griechenland zu wenden; gemeinsam ist beiden, je länger je mehr zu denationalisieren, sich endlich völlig man möchte sagen aufzulösen zu Allgemeinheiten, Prinzipien, Potenzen. Das ist es, wovon sich die sogenannte historische Ansicht mit ebenso lautem Willen abwendet wie von der wüsten neuesten Zeit; scheint ihr die hellenistische Geschichte bis Alexanders Zeit, die römische bis etwa zu den Gracchen wie von selbst in schönster ‚organischer‘ Ebenmäßigkeit erwachsen, so sieht sie dann Epochen

I. Methodik und Geschichte

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beginnen, von denen alles Ärgste zu sagen für Einsicht, Gesinnung, ja Tugend gilt. Bis zum Ekel wiederholt wird es, wie der arge Philipp von Makedonien die griechische Freiheit brach, wie mit Demosthenes und Aristoteles eigentlich alles aus ist, alles geschichtliche Leben stockt und stirbt, nichts bleibt als eine öde Macht. Mag solche Ansicht attisch, recht hellenisch dünken, geschichtlich ist sie nicht.“ 4

Droysen verwahrt sich hier gegen eine Verklärung eines Teils der Antike, die sich in einer einseitigen Idealisierung Athens niederschlägt, und er kritisiert eine historische Betrachtungsweise, die aufgrund falscher Idealisierungen Epochen wie den Hellenismus oder die Französische Revolution aus dem Strom geschichtlicher Überlieferung ausblenden möchte. Die Zerrbilder der Aufklärung und der Französischen Revolution sind Teil der historischen Kontinuität. Droysen richtet sich gegen ein rückwärtsgewandtes Denken, das in den 1840er Jahren politisch immer noch zu den Zuständen vor der Französischen Revolution zurückkehren möchte. Die Ideen der Französischen Revolution werden zu Zerrbildern, die aus der geschichtlichen Überlieferung getilgt werde sollen, um an dynastische und monarchische Ideale der vorrevolutionären Zeit anknüpfen zu können. Eine solche, einseitige, unangemessene historische Betrachtungsweise sieht „von dem an statt der Entwicklung Verwilderung, statt des Fortschreitens allgemeine Auflösung, ein immer wachsendes immer weiteres Verfallen. Sie sieht durch die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts und ihre furchtbare Betätigung in der Französischen Revolution den Zusammenhang geschichtlicher Entwicklung, die Beziehung der Gegenwart zu den früheren Jahrhunderten gewaltsam durchrissen; sie erkennt da eine Tendenz, die, für Sitte, Recht, Staat, Religion gleich verderblich, an die Stelle einer ruhigen Weiterbildung revolutionäre Ideen, die Ungeduld rationeller Forderungen und abstrakter Theorien, die Frevellust des destruierenden Verstandes, die Frechheit allgemeiner Menschenrechte treten lasse, alles Ehrwürdige und Herkömmliche, alle wohlerworbenen Rechte, alle wohltätigen und durch die Treue uralter Gewohnheiten geheiligten Un4

Droysen (1843), 383.

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C. Johann Gustav Droysen terschiede missachtend und frevelnd zerstörend. Diese Ansicht ist es, der die gegenwärtige Welt aus ihren Fugen gerenkt erscheint, die das einzige Heil darin sieht, dass man solchen Übermut des menschlichen Geistes niederwerfe, den wilden Strom zuschütte, seine Quellen verstopfe, dass man die Zeit der Aufklärung, der Revolution möglichst aus dem Gedächtnis der Menschen tilge oder sie wenigstens in ihrer abschreckendsten Zerrgestalt darstelle, dass man zu den Ehrwürdigkeiten und Herkömmlichkeiten zurückkehre, die weitere gesundende Entwicklung der Gegenwart an die historische Kontinuität von ehemals anknüpfe, sorgsam die Trümmer bewahrend, die noch vorhanden sind, das Zerstörte wieder aufbauend, das Zersprengte wieder zusammenfügend.“ 5

Gegen eine solche Verengung eines historischen Denkens, das nichts weiter als die eigenen Ideale in die Geschichte projiziert, um zwischen historischen und unhistorischen Epochen zu unterscheiden, setzt Droysen ein geschichtliches Denken, das die Erkenntnis der geschichtlichen Entwicklung und der historischen Zusammenhänge als die eigentliche Leistung des Historikers anerkennt. Die wirkliche historische Betrachtungsweise „sieht in dem ruhig dahin strömenden Verlauf geschichtlichen Werdens, das weit hinaus über List und Willkür des einzelnen ‚sich wie von selbst macht‘, eine Berechtigung, eine Autorität, deren Anerkennung ihr außer Frage ist.“ 6

Die Geschichte selber ist Gegenstand einer Gegenwartserkenntnis und diese darf sich nicht einseitig an eigenen Idealen orientieren. Politische Gestaltung der Gegenwart vollzieht sich nach Droysen nur vor dem Hintergrund einer geschichtlichen Erkenntnis, die methodisch wissenschaftlich abgesichert ist und damit eine Geschichtserkenntnis hervorbringt, die den subjektiven Idealen und Meinungen enthoben ist. Wie wir später sehen werden, ist Droysen selber von solchen Idealisierungen nicht frei. In einem ersten Schritt aber wird deutlich, wie 5 6

Droysen (1843), 381 f. Droysen (1843), 381.

I. Methodik und Geschichte

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Droysen frühzeitig über Fragen eines historischen Denkens reflektiert, das beide Aspekte der Geschichte, den Gegenstand in seiner Objektivität und dessen methodische Absicherung, umfasst. Dennoch lehnt Droysen die Vorstellung, dass in der Geschichte Gesetze herrschten – also eine Analogie zu dem Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften – ab. In einer längeren Kritik an Burkes Abhandlung Geschichte der Zivilisation in England setzt er sich mit dessen Forderungen nach einer Neuausrichtung der Geschichte am Ideal eines naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs auseinander. Burke hatte die bisherigen Formen geschichtlichen Denkens kritisiert, da sie mehr auf Zufälligkeiten und subjektiven Betrachtungen aufbauten, nicht aber anhand einer strengen Ausrichtung an einem wissenschaftlichen Denken. Diese sieht Burke, anders als Droysen, nicht in der methodischen Begründung der Geschichtswissenschaft und deren Besonderheit im Gegensatz zu anderen Formen der Wissenschaften, sondern in einer Anlehnung an den Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften. Nach Burke müssen historische Tatsachen aus allgemeinen Gesetzen bewiesen werden. Droysen zitiert in seiner Kritik an Burke eine wichtige Passage aus dessen Werk, in der deutlich wird, dass Burke den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff auf die Geschichte übertragen möchte. Burke, so zitiert ihn Droysen, hoffe „für die Geschichte des Menschen das oder doch etwas Ähnliches zu leisten, was anderen Forschern in den Naturwissenschaften gelungen ist, und in der Natur sind die scheinbar unregelmäßigsten und widersinnigsten Vorgänge erklärt und als im Einklange mit gewissen unwandelbaren und allgemeinen Gesetzen nachgewiesen worden; wenn wir die Vorgänge der Menschenwelt einer ähnlichen Bewertung unterwerfen, haben wir sicher alle Aussicht auf einen ähnlichen Erfolg.“ 7

In dieser Anlehnung an den Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft wird nach Droysen die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft verkannt. In seiner Kritik an Burke hebt er 7

Droysen (1863), 391.

62

C. Johann Gustav Droysen

die Kategorie des Verstehens in das Zentrum historischen Denkens: „Die Wissbegierde, die unsere Mitmenschen betrifft, ist darum ‚unersättlich‘, weil, was sie uns da einbringt, ein Verstehen ist, und weil mit unserem wachsendem Verständnis der Menschen und des menschlicherweise Seienden und Gewordenen das uns selbst Eigenste weiter, tiefer, freier wird, ja überhaupt erst wird. So gewiss es ist, dass auch wir Menschen in dem allgemeinen Stoffwechsel mit leben und weben, und so richtig es sein mag, dass jeder einzelne nur eben die und die Atome aus der ‚ewigen Materie‘ vorübergehend zusammenfasst und zu seiner Daseinsform hat, ebenso gewiss oder vielmehr unendlich gewisser ist, dass vermittelst dieser ‚fließenden Bildung‘ und ihrer trotz allem vitalen Kräfte etwas gar Besonderes und Unvergleichliches geworden ist und wird, eine zweite Schöpfung nicht von neuen Stoffen, aber von Formen, von Gedanken, von Gemeinsamkeiten und ihren Tugenden und Pflichten, die sittliche Welt.“ 8

Es ist die sittliche Welt im Unterschied zur natürlichen Welt, die die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft auszeichnet. Die sittliche, die von Menschen gemachte Welt, öffnet sich anders als die Natur dem Verstehen, Nachempfinden, Einfühlen. Doch dieses Verstehen, Nachempfinden, Einfühlen bedarf einer methodischen Absicherung, um in der Geschichte eine Erkenntnis zu ermöglichen, die sich dem Zugriff subjektiven Meinens entzieht. In seiner Antrittsrede in der Berliner Akademie formuliert er diesen Gedanken: „Denn allerdings haben wir in den menschlichen Dingen, von jedem Ausdruck und Abdruck menschlichen Tichtens und Trachtens, der uns unmittelbar wird oder soweit er noch wahrnehmbar ist, unmittelbar und in subjektiver Gewissheit ein Verständnis; aber es gilt Methoden zu finden, um für dieses unmittelbare und subjektive Auffassen – zumal da von Vergangenem aus noch Auffassungen anderer oder Fragmente dessen, was einst war, vorliegen – objektive Maße und Kontrollen zu gewinnen, es damit zu begründen, zu berichtigen zu vertiefen; – denn das und nur das scheint der Sinn der historischen Objektivität sein zu 8

Droysen (1863), 397.

II. Historik

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können. Es gilt diese Methoden zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln und so nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des historischen Erkennens und Wissens festzustellen.“ 9

Damit hat Droysen Grundgedanken und Grundzüge formuliert, auf denen er seine systematischen Ausführungen über die Geschichte als Wissenschaft aufbauen wird. Im Kern ist es die Idee, die Geschichte in ihrer Eigenständigkeit als einer Geistes- oder Kulturwissenschaft zu begründen, deren Ziel nicht die Formulierung abstrakter Erklärungsmodelle, sondern das Verstehen von Sinneinheiten ist. 10

II. Historik

Damit betritt Droysen den Boden, auf dem er in seiner Historik die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft entwickelt. Droysen hat seit 1857 regelmäßig ein Kolleg gehalten, in dem er zentrale Gedanken zu einer Theorie der Geschichte als Wissenschaft entwickelt hat. 1858 gab er einen Grundriss der Historik als Leitfaden für seine Studenten heraus, in dem er anfing, seine Vorstellung über Geschichte als Wissenschaft zu systematisieren. Dort hebt er am Anfang seiner Ausführungen die Bedeutung der Geschichte hervor, bemängelt aber gleichzeitig, dass die wissenschaftliche Rechtfertigung nur unzureichend sei: „Man wird den historischen Studien die Anerkennung nicht versagen, dass auch sie in der lebhaften wissenschaftlichen Bewegung unseres Zeitalters ihre Stelle haben, dass sie ständig sind Neues zu entdecken, das Alte neu zu durchforschen, das Gefundene in angemessener Weise darzustellen. Aber wenn sie nach ihrer wissenschaftlichen Rechtfertigung und ihrem Verhältnis zu den anderen Formen menschlicher Erkennt9 10

Droysen (1868), 428. Iggers (2007), 25.

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C. Johann Gustav Droysen nis, wenn man sie nach der Begründung ihres Verfahrens und dem Zusammenhang ihrer Aufgaben fragt, so sind sie nicht in der Lage, grundlegende Auskunft zu geben.“ 11

Droysen bemängelt die unzureichende Begründung der Geschichte als Wissenschaft. Die menschliche Natur trage zwar einen historischen Sinn in sich, dieser sei aber nicht ausreichend, den Ansprüchen und Forderungen der Geschichte als Wissenschaft zu genügen: „Der historische Sinn ist in der menschlichen Natur zu rege, als dass er nicht früh und, unter glücklichen Verhältnissen, in angemessenen Formen seinen Ausdruck hätte finden sollen; und dieser natürliche Takt ist es, der noch jetzt unseren Studien den Weg weist und die Form gibt. Aber der Anspruch der Wissenschaft dürfte sich damit nicht befriedigt erachten; ihr liegt es ob, sich über ihre Ziele, ihre Mittel, ihre Grundlagen klar zu werden.“ 12

Im Folgenden entwirft Droysen eine systematische Begründung der Geschichte als Wissenschaft, die auf zwei Ebenen verläuft: zum einen legt er dar, worin sich der Gegenstand Geschichte von dem anderer Wissenschaften grundsätzlich unterscheidet, zum anderen entwickelt er daraus eine Methodik der Geschichtswissenschaft, die dieser besonderen Wissenschaft eigentümlich ist und nicht von anderen oder auf andere Wissenschaften übertragen werden kann. Die Einteilung der verschiedenen Kapitel macht diese Vorgehensweise deutlich: Die Einleitung ist unterteilt in: Die Geschichte, Die historische Methode und Die Aufgabe der Historik. Es folgt das Kapitel Die Methodik, das sich in die Abschnitte Die Heuristik, Die Kritik, Die Interpretation, Die Darstellung unterteilt. Anschließend folgt das Kapitel Die Systematik, welche sich in folgende Unterteilung gliedert: Die geschichtliche Arbeit nach ihrem Stoffe, Die geschichtliche Arbeit nach ihren Formen, Die geschichtli11 12

Droysen (1858), 4. Droysen (1858), 5.

II. Historik

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che Arbeit nach ihren Arbeitern und Die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken. Am Ende steht das Kapitel Die Topik. Damit tastest sich Droysen an eine systematische Darstellung und Begründung der Geschichte als Wissenschaft heran. Der Begriff der Wissenschaft wird in Bezug auf den Gegenstand Geschichte entwickelt und nicht an einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff. Das einzige, was jede Wissenschaft in ihrer Weise zu bewerkstelligen hat, ist eine ihr eigentümliche Methodik, die absichert, dass das Dargestellte objektiv, also durch Methoden, gewonnen werden kann und überprüfbar ist. Die Aussagen und Deutungen, zu denen man über die gewonnenen Erkenntnisse kommt, sind, zumindest in der Geschichte, nicht in gleicher Weise objektivierbar. Am Ende des letzten Kapitels formuliert Droysen die daraus resultierende Bescheidenheit der Geschichte als Wissenschaft: „Unsere Wissenschaft macht nicht den Anspruch, dass die Methode ihres Erforschens die einzig wissenschaftliche sei (§14). Sie bescheidet sich, in ihren Darlegungen des Erforschten nicht mehr geben zu können, als zu erforschen ihres Bereiches ist und ihre Methoden ihr möglich machen. Und wenn sie sich bewusst ist, auf viele Fragen in ihren Bereichen nicht mehr oder noch nicht genügend antworten zu können, so wird sie um so behutsamer sein, das, was sie gibt, für mehr zu geben, als es ist und sein kann, nämlich: die möglichst sicher erarbeitete und möglichst sachgemäß entwickelte Vorstellung von Dingen, die in nahen, fernsten Zeiten Gegenwart und Wirklichkeit waren und nur in dem Wissen der Menschen noch leben und mitleben.“ 13

In den Folgejahren erweitert Droysen seine systematische Begründung der Geschichte als Wissenschaft und er tut dies in dem Bewusstsein, die Geschichte von einer bloßen Kunst zu überführen in eine Wissenschaft, die diesen Namen in ihrer methodologischen Begründung auch verdient. Diese Weiterführung erfolgt vor allem in seinen Vorlesungen. In der zweiten Auflage des Grundrisses der Historik kündigt er zwar an, seine 13

Droysen (1977), 365 f.

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C. Johann Gustav Droysen

Ausführungen zu gegebener Zeit zu einem Handbuch auszuarbeiten, aber dazu ist er nicht gekommen. Die seit 1937 vorliegende Ausgabe der Historik ist aus Vorlesungsmanuskripten erstellt worden, die sich im Droysenschen Nachlass befanden. 14 Hier findet sich eine ausführlicher begründete systematische Darlegung seiner Historik, auf die wie uns im Folgenden beziehen. Droysen formuliert in der Vorbemerkung seiner Historik die Fragen, die ihn dazu gedrängt haben, systematisch über die Frage der Wissenschaftlichkeit der Geschichte bzw. der Erforschung von Geschichte nachzudenken: – Was heißt nun: Geschichte studieren? – Was meinen die Prüfungen mit dem Fach Geschichte? – Worin besteht nun der wissenschaftliche Charakter dieser Studien? – In welchem Zusammenhang steht mit diesem Moment die Methode? – Vor allem, wie kommen wir dazu, von Geschichte und Wissenschaft der Geschichte zu sprechen? 15

Von diesen Fragen ausgehend entwirft Droysen zuerst einen gedanklichen Horizont, der deutlich machen soll, dass sich die Geschichte als Wissenschaft durch ihren Gegenstand von anderen Disziplinen unterscheidet. Ausgangspunkt ist seine Überlegung von der Eigenständigkeit der Geschichte als Wissenschaft: „Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns die Definition unserer Wissenschaft und die Regel ihres Verfahrens nicht leihweise aus anderen Wissenschaften entnehmen. Denn wir würden damit unter deren Norm treten und von deren Methoden abhängig werden. Wollten wir, wie in unserer Zeit so oft gefordert wird, die Geschichte nach der Methode der Naturwissenschaften behandeln und sagen, sie sei nur so weit wissenschaftlich, als sie auch die geschichtliche Welt auf die Mechanik der Atome zurückführt, so würde die Geschichte nur eine unter den 14 15

Über die Rezeptionsgeschichte siehe Schuppe (1998), 16 ff. Droysen (1977), 5 f.

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Naturwissenschaften sein. Während doch die Naturwissenschaften anerkennen, dass sie mit ihrer Mechanik der Atome keinesfalls alles, was in den Bereich der empirischen Forschung fällt, zu erklären vermögen. Wenn dem so ist, so müssen für diesen Rest, wie groß oder klein er denn sein mag, andere Erkenntnisformen gefunden werden können, solche, die für die Eigenartigkeiten der Erscheinungen, die in diesen Rest fallen, die entsprechenden sind, aus denen diese Eigenartigkeiten sich ergeben, für welche sie die geeigneten sein sollen.“ 16

Droysen erteilt der Forderung, die Wissenschaftlichkeit der Geschichte an den Vorstellungen der Naturwissenschaften zu orientieren, eine Absage. Diese Absage begründet sich nicht in der Auffassung von Objektivität, sondern darin, dass jede Wissenschaft aufgrund ihres Gegenstandes nicht die gleiche Vorstellung von Objektivität hervorrufe. Die Erkenntnisformen einer Wissenschaft müssen an dem besonderen Gegenstand gewonnen werden und sind nicht aus einer allgemeinen Theorie der Wissenschaftlichkeit zu gewinnen. Wenn es überhaupt eine übergreifende, allgemeine Vorstellung von Wissenschaftlichkeit gibt, dann liegt sie nur darin, dass die je besonderen Methoden Verfahren aufzeigen, die objektive bzw. objektivierbare Tatsachen ermöglichen, deren Deutung sich aber der Objektivität entzieht. Von dieser Überzeugung ausgehend entwickelt Droysen am Anfang seiner Historik Gedanken über die Voraussetzungen, die es überhaupt ermöglichen, dass wir so etwas wie Geschichte überhaupt wahrnehmen und erkennen können. Diese Voraussetzung sieht er in den Grundkategorien der Wahrnehmung von Raum und Zeit und in der Doppelheit des menschlichen Wesens. In Anlehnung an Kant geht Droysen davon aus, dass Raum und Zeit die Grundbedingungen menschlicher Wahrnehmung sind: „Dass wir diese Einwirkungen der Wirklichkeiten auf uns zunächst nach Raum und Zeit auffassen, und dass wir unser System von Zeichen 16

Droysen (1977), 5.

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C. Johann Gustav Droysen danach in zwei große Gebiete zerlegen, hat seinen Grund darin, weil diese beiden Formen oder Register sich als die allgemeinsten erweisen, als diejenigen, in die sich alle anderen, Wärme, Töne, Farbe, Schwere usw., einordnen und subsumieren lassen. Denn diese beiden Anschauungen Raum und Zeit umfassen die weitesten Alternativen, und mehr: sie erweisen sich in der Art korrelativ, dass uns in ihr Entweder-Oder alles fällt, wovon wir wahrnehmende Kunde haben. Raum und Zeit verhalten sich wie Stetigkeit und Rastlosigkeit, wie Ruhe und Eile, wie Gebundenheit und Ungehemmtheit, wie Stoff und Kraft.“ 17

In Anlehnung an die Physiologie Wundts geht Droysen davon aus, dass die Eigenschaft der Dinge, die wir wahrnehmen, nicht Eigenschaft der Dinge sind, sondern sie sind „Empfindungen, welche deren Einwirkung in dem betreffenden unserer Sinne veranlasst“. 18 Dies erinnert an Kants Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass wir die Dinge, wie sie an und für sich sind, nicht erkennen können und an die Bedeutung von Raum und Zeit für das menschliche Wahrnehmungsvermögen. Kant unterschied diesbezüglich als Eigenschaften des Gemüts einen äußeren Sinn, in dem die Gegenstände im Raum vorgestellt werden, von einem inneren Sinn, der das Gemüt selbst oder seinen inneren Zustand anschaut. Zumindest im inneren Sinn hat alles einen Bezug zur Zeit: „Aber diese allgemeinsten Anschauungen Raum und Zeit sind leer, solange sie nicht einen diskreten Inhalt dadurch bekommen, dass wir sie durch das Nebeneinander und Nacheinander der Einzelheiten bestimmen und erfüllen. Das Nacheinander und Nebeneinander bestimmen heißt die Einzelheiten in Raum und Zeit unterscheiden, heißt nicht bloß sagen, dass sie sind, sondern was sie da sind.“ 19

Es ist besonders die Grundbedingung der Wahrnehmung von Zeit, die Droysen interessiert, denn sie ist konstitutives Moment in der Begründung, dass nur der Mensch Geschichte 17 18 19

Droysen (1977), 8 f. Droysen (1977), 6. Droysen (1977), 9.

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im Sinne einer zeitlichen Wahrnehmung und der daraus resultierenden Erkenntnisfähigkeit hat. Diese Grundbedingung vertieft Droysen durch seine Unterscheidung von Natur und Geschichte, die bereits im Wesen des Menschen (anthropologische Konstante) angelegt ist. Durch diese Unterscheidung gelingt es Droysen auf der einen Seite, die Geschichte als Wissenschaft in ihrer Besonderheit zu begründen, auf der anderen Seite hat er damit die Geschichte als Wissenschaft von der damals entstehenden soziologischen Betrachtungsweise und der Ökonomie (der wissenschaftlichen Lehre wirtschaftlicher Zusammenhänge) abgetrennt. Diese Trennung wird zur Folge haben, dass sich der Historismus, die Lehre von der Wissenschaftlichkeit der Geschichte, besonders in Deutschland empirischen Methoden der Sozialwissenschaften verweigern wird. Geschichtswissenschaft und Soziologie werden – bis auf wenige, aber sehr wichtige Ausnahmen: z. B. Max Weber – getrennte Wege gehen. Droysen erkennt im Menschen bereits die Doppelheit, die für ihn die Dichotomie von Natur und Geschichte als unterschiedliche Weisen der Erkenntnis ausmacht. Der Mensch ist einerseits in seiner natürlichen Beschaffenheit Teil der Natur, hat aber darüber hinaus die Eigenschaft, im Gegensatz zu allen anderen Naturwesen, eine Offenheit in sich zu tragen, die ihn über die Natur hinaushebt: „Auch der Mensch hat seine kreatürliche Seite, aber das genus homo ist doch nicht bloß Tier; dieser sein naturalistischer Gattungsbegriff füllt nicht sein ganzes Wesen aus wie bei Tier und Pflanze; man könnte sagen, statt des Gattungsbegriffs ist ihm Geschichte. Und die sich immer höher summierenden Erkenntnisse und Formungen des Menschengeschlechts sind ihr Inhalt.“ 20

Der Mensch als Gattungswesen ist eben nicht von Natur aus festgelegt, sondern kann sich gegenüber der Natur in einer Weise verhalten, wie es anderen Lebewesen nicht möglich ist. 20

Droysen (1977), 10.

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C. Johann Gustav Droysen

Indem der Mensch als einziges Lebewesen in der Lage ist, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in einem denkenden Ich zu bündeln, kann er sich distanziert zur Welt und zur Natur verhalten. Dieses Verhalten unterscheidet sich von dem der Tiere, denn in diesen suchen wir nach Droysen nicht das Individuelle, sondern das gesetzmäßig sich Wiederholende: „Für das individuelle Leben des Tiers, der Pflanze, haben wir kein anderes Verständnis als das der in ihnen sich wiederholenden Perioden, das ihrer Stofflichkeit, der physikalischen und chemischen Gesetze, die in ihnen zur Wirksamkeit kommen; unsere Erforschung an ihnen sucht schließlich die Mechanik der Atome, welche sie so sein und werden lässt, wie sie sind. Also in den Erscheinungen dieser Reihe fassen wir nur das Stetige, Stoffliche, an dem sich die Bewegung vollzieht, – suchen wir das im Wechsel Gleiche, das in der Veränderlichkeit Bleibende auf; das Moment der Zeit scheint uns überall hier sekundär.“ 21

Die Geschichte der Natur im Sinne ihrer Entwicklung ist grundlegend verschieden von der Geschichte des Menschen und der Menschheit, da in beiden das Wesens ihres Gegenstandes zur Erscheinung kommt: in der Geschichte des Menschen die Einmaligkeit, in der Geschichte der Natur das Gesetz und die Wiederholung. Droysen formuliert mit dieser Annahme den Kern des Historismus, also der Schule des historischen Denkens, die im 19. Jahrhundert Grundüberzeugung der meisten Historiker in Deutschland geworden ist. Genau in dieser Trennung sieht Georg G. Iggers die Besonderheit des Historismus. „Der Kern des Historismus“, so Iggers, „liegt in der Voraussetzung, dass zwischen den Erscheinungen der Natur und denen der Kultur ein Wesensunterschied besteht, der für die Sozial- und Kulturwissenschaften eine prinzipiell andere Methode als für die Naturwissenschaften erfordert. Demnach ist die Natur der Schauplatz ewig wiederkehrender Erscheinungen, die sich ihrer Zwecke nicht bewusst sind; die Geschichte dagegen setzt sich aus einmaligen und unwiederholbaren menschlichen Handlungen zusammen, die von Wille und Absicht erfüllt sind. Die Welt des Menschen befindet sich in ei21

Droysen (1977), 11.

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nem Zustand unaufhörlichen Fließens, obschon es darin stabile Zentren gibt (Persönlichkeiten, Institutionen, Nationen, Epochen), deren jedes eine innere Struktur, einen bestimmten Charakter aufweist und die sich alle gemäß den ihnen innewohnenden Entwicklungsgesetzen ständig verändern. Nur mittels der Geschichte lässt sich also alles Menschliche verstehen. Eine unveränderliche Natur des Menschen gibt es nicht; der Charakter jedes Menschen enthüllt sich durch seine Entwicklung. Die abstrakten, klassischen Methoden der Naturwissenschaften sind deswegen ungeeignet für den Zugang zum Verständnis der Welt des Menschen.“ 22

Droysen vertieft diesen Gedankengang, indem er die Besonderheit der menschlichen Geschichte näher erläutert. Dafür unterscheidet er zwischen der Welt der Natur und der sittlichen Welt. In der Welt der Natur gibt es Gesetze, mechanische Wiederholung, die nicht durchbrochen werden kann. In der sittlichen Welt dagegen drückt sich der Wille des Menschen, so formuliert es Droysen, vermittelt über bzw. durch Familiengeist, Gemeingeist und Volksgeist aus. Dieser Wille vermittelt über die Vergemeinschaftungsformen, in denen der Mensch lebt, fügt der sittlichen Welt etwas Neues hinzu, etwas, das nicht aus der naturhaften Seite des Menschen erklärt werden kann. Diese sittliche Welt zeichnet sich durch Kontinuität aus, „in der die ganze Reihe durchlebter Gestaltungen sich zu fortschreitenden Ergebnissen summiert und jede der durchlebten Gestaltungen als ein Moment der werdenden Summe erscheint [...] Die Gesamtheit der sich uns so darstellenden Erscheinungen des Werdens und Fortschreitens fassen wir auf als Geschichte.“ 23

Droysen gesteht durchaus zu, dass auch in der Natur Entwicklungen thematisiert werden, aber diese seien mit denen der Menschenwelt nicht zu vergleichen:

22 23

Iggers (1971), 13 f. Droysen (1977), 12.

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C. Johann Gustav Droysen „Natürlich kann man, wie bemerkt, auch von Dingen, welche die dargelegte Auffassung als der Natur zugehörig bezeichnete, ihre Veränderlichkeit und die Reihenfolge ihrer Veränderungen ins Auge fassen, sie nach dem Moment der Zeit betrachten; und so wird von der Geschichte der Erde, von der Entwicklungsgeschichte etwa der Raupe, es wird von der Geschichte der Erdbeben, von Naturgeschichte gesprochen. Aber man wird sagen dürfen, das ist nur vel quasi Geschichte; Geschichte im eminenten Sinn ist nur die des sittlichen Kosmos, die der Menschenwelt.“ 24

Droysen greift in seiner Argumentation auf den Begriff der Bildung, wie er im deutschen Idealismus entwickelt worden war, zurück. Bildung ist die besondere Seite des Menschen, durch die er sich eigenständig zu dem entwickelt, was in seiner Natur angelegt ist, ohne von dieser im Sinne einer kausalen Gesetzlichkeit vorherbestimmt zu sein. Durch seine Geburt ist der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen erst Möglichkeit; er muss, um Mensch zu sein, erst Mensch werden. Diesen Entwicklungsprozess durchläuft der Mensch in der Bildung. Durch die Bildung enthebt sich der Mensch seiner natürlichen Umwelt und stellt sich in den Strom der Zeit. Dieser ist bestimmt durch das, was aus der Geschichte auf ihn zukommt: „Dadurch, dass jeder, in das Resultat des von seiner Familie, seinem Volk, seiner Zeit, von den Jahrhunderten vorher, von der Menschheit Durchlebte hineingestellt, sich in dies Niveau der gewordenen Gegenwart hinaufarbeitet, dadurch also, dass er mit Bewusstsein in der Geschichte und die Geschichte in seinem Bewusstsein lebt, eben dadurch erhebt er sich über die bloß kreatürliche zu der geistigen und sittlichen Existenz, die den Menschen über die Monotonie der übrigen Schöpfung stellt, ihn gleichsam aus dem Raum in die Zeit, aus der Natur in die Geschichte erhebt, ihn aus einem unsteten Atom in dem bloß peripherischen Ebben und Fluten der Erscheinungswelt zu einem neuen Mittelpunkt macht.“ 25 24 25

Droysen (1977), 13. Droysen (1977), 16.

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Diese Menschenwelt ist nach Droysen durch und durch geschichtlicher Natur und darin liegt ihr spezifischer Unterschied zur natürlichen Welt. Mit dieser Trennung von Geschichte und Natur auf Grundlage der menschlichen Natur entwirft Droysen ein Bild, in dem er die Besonderheit der Geschichte im Gegensatz zu dem der Natur als grundlegende Voraussetzung für das Verstehen der Wissenschaftlichkeit von Geschichte entwickelt. Die Doppelheit des Menschen, seine natürliche und seine sittliche Seite, heben den Menschen als einziges Lebewesen aus der reinen Naturhaftigkeit heraus. Die sittliche Seite führt zur Erschaffung einer zweiten Welt, der Welt der Geschichte. Nur in ihr kann der Mensch seine Besonderheit entwickeln und verstehen. Diese Besonderheit liegt neben der Grundvoraussetzung seiner Sittlichkeit darin, dass durch sie eine zweite, eine sittliche bzw. kulturelle Welt entsteht, die den Menschen ebenso prägt wie seine natürliche Seite. Wahrscheinlich müsste man noch weiter gehen und sagen, dass der Mensch durch die Geschichte so geprägt wird, dass er, um mit Droysen zu sprechen, erst durch sie, die Geschichte, sich zum Menschen erheben kann. Der Gegenstand der Geschichte als Wissenschaft ist somit bereits Grundlage der besonderen wissenschaftlichen Erkenntnis des Gegenstandes Geschichte. Die Methodik muss von dieser Besonderheit ausgehen und aufzeigen, welche spezifische, dem Gegenstand angemessene Form von Objektivität die Wissenschaftlichkeit von Geschichte ausmacht. In den einleitenden Bemerkungen über die historische Methode schließt er seine Gedanken über die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft ab. Droysen macht von Anfang an klar, dass eine Beschränkung auf die Methodik zur Hebung der Geschichte in den Rang einer Wissenschaft nicht ausreicht: „Die historische Methode ist eine Betrachtungsweise der menschlichen Dinge, eine neben manch andern; aber wer glauben wollte, dass allein mit der Methodik zum Ziel zu kommen sei, vielleicht bloß mit

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C. Johann Gustav Droysen der Kritik, oder der Quellenkritik, dass das die ganze Ausrüstung des Historikers sei, der würde vielleicht in bedenkliche Lagen geraten.“ 26

Droysen ist klar, dass Geschichte als Wissenschaft nicht die Erkenntnis über das, was einst gewesen ist, zu Tage fördert, sondern dass diejenigen Kenntnisse erforscht und gefunden werden, die sich durch quellenkritische Arbeit erschließen lassen. Geschichte ist immer Rekonstruktion aus den aus der Überlieferung uns ansprechenden Überresten. Diese Überlieferung steht in einer Verbindung zur Gegenwart, denn die Gegenwart ist nichts anderes als das aus der Kontinuität der Vergangenheit sich Entwickelnde, das in die Gegenwart hineinwirkt. In einem ersten Schritt umreißt Droysen die historische Methode, die er in drei Punkte gliedert: das Material der historischen Empirie, das Verfahren, mit dem wir aus diesem historischen Material Ergebnisse gewinnen und die so gewonnenen Ergebnisse und deren Verhältnis zu den Tatsächlichkeiten, über die wir Aufklärung suchen. 27 Für jeden dieser drei Punkte formuliert er einen Fundamentalsatz. Bezüglich des historischen Materials greift Droysen erneut das Argument auf, dass die Wissenschaft der Geschichte das, „was sie über die Vergangenheit erfahren will, sie nicht in diesen sucht, denn sie sind gar nicht und nirgend mehr vorhanden, sondern in dem, was von ihnen noch, in welcher Gestalt auch immer, vorhanden und damit der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist.“ 28

Droysen verweist auf die Idee der sittlichen Welt, die den Gegenstand der wissenschaftlich zu erforschenden Geschichte bestimmt. In diese dringen wir immer tiefer ein und wir erweitern unsere Kenntnisse der sittlichen Welt. Diese Erkenntnis wirkt zurück auf unser ethisch-sittliches Verhalten, denn sie ermöglicht uns ein Verstehen dessen, was aus der Geschichte 26 27 28

Droysen (1977), 189 f. Droysen (1977), 18. Droysen (1977), 20.

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auf und in uns zukommt. Droysen orientiert sich mit der Vorstellung bzw. Bezeichnung der menschlichen Welt als der sittlichen an Hegel und an dem Begriff der Bildung, wie er oben bereits kurz erwähnt worden ist. Die Geschichte selber ist ein Fortschreiten der Sittlichkeit, eine Fort- und Weiterentwicklung der Formen menschlichen Zusammenlebens, die das Leben der Menschen bestimmen: Familie, Volk, Nation. In ihnen sammelt sich die historische Überlieferung, die durch die Wissenschaft der Geschichte ins Bewusstsein des bzw. der Menschen tritt. Damit löst sich der Mensch aus den Banden seiner unmittelbaren Umwelt und gewinnt durch die Erkenntnis der Geschichte die historische Bestimmung, die aus der Vergangenheit auf ihn zukommt. Gegenwart als Bezugspunkt der Erkenntnis der Vergangenheit rückt in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung. Rückblickend erscheint es irritierend, dass Droysen die fundamentalen Veränderungen, die durch die Industrialisierung ausgelöst worden waren, nicht in den Blick nimmt. Die Idee der sittlichen Welt als ideelle Beschreibung des Gegenstandes der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte verhinderte die Einbeziehung sozialer, ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen in den Fragehorizont des Historikers. In diesem Punkt ist Droysen ein Kind des deutschen Idealismus geblieben und wie andere bürgerliche Historiker hat er sich den radikalen Veränderungen seiner Zeit nicht geöffnet. Zu dieser Einschränkung passt Droysens zweiter Fundamentalsatz, nämlich dass die besondere Methode der Geschichte als Wissenschaft forschend zu verstehen ist. Droysen sieht im Verstehen die Besonderheit der historischen Methode. Auch hier greift er auf die Dichotomie von Natur und Geschichte zurück. Natur können wir erklären, sie mit Gesetzen beschreiben, aber verstehen im Sinne einer inneren Anteilnahme und eines wirklichen Mitgefühls können wir sie nicht: „Mit einem Wort: nichts, was den menschlichen Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck gefunden hat, das nicht verstanden werden könnte, nichts verstehbar, das nicht in dem Bereich unserer Kongenialität liegt,

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C. Johann Gustav Droysen den wir der historischen Empirie zugehörig erkannt haben, in dem Bereich der sittlichen Welt. Denn weder in dem Bereich der Spekulation noch in dem der Natur gibt es ein eigentliches Verstehen [...] Und die Dinge im Raum, die wir als Natur zusammenfassen, sie werden von uns nur soweit verstanden, als wir sie praktisch oder theoretisch unter den Kategorien, den Denkregistern fassen, die unserem Ich eigentümlich sind. Wir verstehen sie nur nach dem Stoff, den sie enthalten, als Material für unsere Zwecke, nach den Kräften, die sie latent oder offenkundig in sich tragen, für unsere Benutzung, nach den Regeln und Gesetzen, in denen sich der Kreislauf ihres Seins wiederholt. Das Individuelle, das Eigenleben, das sie haben, ist uns gleichgültig. Denn das verstehen wir nicht.“ 29

Für Droysen ist diese Fähigkeit des Verstehens, die an Sprache gebunden ist, der entscheidende Unterschied zu den Naturwissenschaften. Die forschende Methode findet ihre Begründung im Gegenstand ihrer Untersuchung. Damit werden bezüglich der Methode diejenigen Methoden ausgeschlossen, die in der damals aufkommenden Soziologie Grundlage empirischer Verfahren werden sollten: die empirische Erforschung sozialer Tatbestände. Damit verschließt sich Droysen auch in der Begründung der Methode den Veränderungen der Industrialisierung und verbleibt im Horizont eines bildungsbürgerlichen Denkens, das im 19. Jahrhundert in seinen Bildungstraditionen dem Geist des Humanismus verhaftet blieb. Er stellt sich gegen den westeuropäischen Positivismus, der die sozialen Veränderungen, die durch die Industrialisierung entstanden sind, durch vergleichende und systematische Fragestellungen untersuchen und historische Entwicklungen der Gesellschaft gesetzlich erfassen will. Das forschende Verstehen als methodische Grundlage der Geschichte als Wissenschaft bleibt für Droysen der Kern der Geschichtswissenschaft. Dies führt ihn zur abschließenden Frage, welcher Art die so gewonnenen Ergebnisse sind und inwiefern sie wissenschaftlichen Charakter haben.

29

Droysen (1977), 24 f.

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Aus dem bisher Dargestellten sollte klar geworden sein, dass es Droysen um eine der Geschichte als Wissenschaft eigentümliche Form der Objektivität geht, die den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte als Wissenschaft ausmacht. Die historische Methode der Quellenkritik und das Verfahren des forschenden Verstehens wenden sich dem Gegenstand der Geschichte zu, der nach Droysen nur durch diese beiden Grundannahmen erkannt werden kann. Hierin liegt die Besonderheit der Geschichte als Disziplin gegenüber allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Droysen setzt dafür voraus, dass es in der Geschichte der sittlichen Welt eine Kontinuität gibt, die sich der forschende Historiker durch seine Arbeit aneignet. Seine Aufgabe ist nicht die Rekonstruktion der Vergangenheit um der Vergangenheit willen, sondern die Rekonstruktion der sittlichen Welt der Gegenwart: „Es gilt also nicht die Vergangenheit weder objektiv noch in der vollständigen Breite ihrer einstigen Gegenwart festzustellen [...], sondern unsere zunächst enge, stückweise, unklare Vorstellung von den Vergangenheiten, unser Verständnis derselben zu erweitern, zu ergänzen und zu berichtigen, nach immer neuen Gesichtspunkten zu entwickeln und zu steigern – nicht Bilder aus der Vergangenheit oder Abbilder dessen, was längst dahin ist, aufstellen zu wollen [...] sondern unsere Gedankenwelt zu bereichern und zu steigern mit der begründeten Erkenntnis der Kontinuität der menschlichen sittlichen Entwicklung, in der wir jetzt Lebenden für den Augenblick an der Reihe sind, sie aufzunehmen und an unserem Teil mit Verständnis ihres Zusammenhangs weiterzuführen.“ 30

Droysen ist der Überzeugung, dass erst in dieser Verzahnung von Methodik, Verfahren, Systematik und Gegenstand die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft zu erfassen ist. Sein Leitbild ist die Vorstellung einer sittlichen Welt, eines Fortschrittsdenkens, das sich an Hegel anlehnt, aber gleichzeitig den Raum philosophischer Spekulation hinter sich lassen möchte. Die quellenkritische Methode sorgt für die spezifische 30

Droysen (1977), 27.

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C. Johann Gustav Droysen

Methodik der Geschichte als Wissenschaft, bleibt aber nach Droysen ohne eine Erkenntnis des Gegenstandes, auf den sich diese quellenkritische Methode bezieht, unverständlich. Im Unterschied zur Idee des Gesetzes in den Naturwissenschaften betont Droysen die Einmaligkeit menschlicher Schöpfungen, die sich aber nicht willkürlich neben- oder nacheinander anreihen, sondern in einer Überlieferung stehen, einer Kontinuität, die den besonderen Kosmos der sittlichen Welt ausmacht. In dieser Sichtwiese offenbart sich der versteckte Glaube an objektive Kräfte in der Geschichte oder, anders gesagt, an eine Objektivität der bzw. in der Geschichte. Die sittliche Welt ist der Kosmos eines geordneten Systems, das sich im Verlauf der Zeit geschichtlich offenbart. Es ist nach Droysen die Entwicklungsstufe der Ideen von Staat, Familie, Recht, Kirche, die die sittliche Welt ausmacht und jeder einzelne „auferbaut sich seine Welt, die Verwirklichung seines Ich, in dem Maß, als er an diesen Ideen seinen Teil hat, an seinem Teil an der Verwirklichung der sittlichen Mächte mitarbeitet. Denn sie leben und schaffen in dem sittlichen Wollen und Tun der Menschen, und jedes Ich hat seinen innersten Lebensinhalt an ihnen.“ 31

In dieser fortschreitenden Versittlichung der Welt sieht Droysen das Wesen der Geschichte. Hier waltet ein Optimismus im Denken Droysens, das wie Hegels Philosophie der Geschichte die Vorstellung eines grundsätzlichen Fortschritts in der Geschichte teilt. Droysen verbleibt im Horizont der damaligen bildungsbürgerlichen Welt, die sich an den Idealen der deutschen Klassik ausrichtet. Ihr liegt der Gedanke der Bildung zugrunde, die über verschiedene Stufen zu einer Veredelung des Menschengeschlechts führt. Zu fragen ist, ob man damit Droysen nicht eine gewisse Naivität gegenüber der Wirklichkeit vorwerfen kann, ein Nichterkennen der sozialen Sprengkraft einer sich industrialisierenden Welt, die sich vor seinen Augen vollzogen hat. Mit den Ausführungen über die sittliche Welt und 31

Droysen (1977), 181.

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Kontinuität schließt Droysen seine Bemerkungen über die historische Methode ab. Das Fundament für seine Begründung der Geschichte als Wissenschaft ist gelegt. Die weiteren Ausführungen der Historik führen diese Gedanken systematisch aus. Droysen unterteilt seine Historik in drei große Hauptkapitel, die aufzeigen, wie und auf welchem Weg er die besondere Art der Wissenschaftlichkeit der Geschichte begründen will: Die Methodik, Die Systematik und Die Topik. In der Methodik behandelt er die kritische Form der Quellenerschließung und Bearbeitung, in der Systematik den Gegenstand der Geschichte in seiner Besonderheit als Gegenstand der historischen Erschließung und in der Topik die Formen der Darstellung historischer Erkenntnis. In der Methodik beschreibt er detailliert das historische Material, aus dem wir Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen können: die Überreste, die Denkmäler, die Quellen, die er in ihren einzelnen Formen darstellt. Ein zentrales Kapitel ist die Kritik, d. h. die Art und Weise, wie das historische Material zu prüfen sei. Dabei geht er über eine Untersuchung der Echtheit des historischen Materials hinaus und beschreibt die Aufgabe der historischen Kritik zu bestimmen, „in welchem Verhältnis dies uns vorliegende Material, das wir historisch zu benutzen beabsichtigen, zu den Willensakten steht, von denen es Kenntnis nimmt“. 32 Dahinter steht immer wieder die Frage, was aus dem historischen Material erkannt werden kann und auf welche Weise sich historische Erkenntnis vollzieht. Das Problem der Geschichte als Wissenschaft liegt darin, dass der Begriff bzw. die Vorstellung von Objektivität als Maßstab der Erkenntnistätigkeit bzw. des Erkenntnisaktes unzureichend ist: „Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. Was in irgendeiner Vergangenheit objektiv vor 32

Droysen (1977), 98 f.

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C. Johann Gustav Droysen sich gegangen ist, ist etwas ganz anderes als das, was man geschichtliche Tatsache nennt.“ 33

Es gibt keine Objektivität in dem historischen Material selbst. Dies muss erst in die größeren Zusammenhänge eingeordnet werden, aus denen hervorgeht, welche Bedeutung das Geschehene wirklich hat. Hiermit berührt Droysen den Punkt, dass die Geschichte, das historische Geschehen, eine Bedeutung hat, die aus dem Einzelereignis nicht zu gewinnen ist, und der Historiker auf der anderen Seite selber Teil einer historischen Entwicklung ist, die er als forschend Verstehender in das historische Material hineinträgt. Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit als solche, sondern das Wissen des menschlichen Geistes von ihr. Erst hier, im menschlichen Geist, werden der Zusammenhang und die Bedeutung der Vergangenheit in ihrer wahren Bedeutung erkannt. Die kritische Quellenkritik ist somit Methodik und Erkenntnisakt zugleich. In ihrer Verbindung vollzieht sich im menschlichen Geist ein Erkennen über Geschichte, das sich von einem Wissen über einzelne Tatsachen der Vergangenheit unterscheidet. In der Systematik beschäftigt sich Droysen mit den Inhalten, die der Historiker untersucht. Es geht ihm um eine Darstellung der geschichtlichen Arbeit in ihren unterschiedlichen Formen: die geschichtliche Arbeit nach ihren Stoffen, die geschichtliche Arbeit nach ihren Formen, die geschichtliche Arbeit nach ihren Arbeitern und die geschichtliche Arbeit nach ihren Zwecken. Dies soll zu einer Grundlegung und Systematisierung der Gesichtspunkte führen, nach denen der Historiker forschend verstehend das historische Material untersucht und befragt. Die Erkenntnisse, die aus der Untersuchung des historischen Materials gewonnen werden, orientieren sich an dem aus der Geschichte sich entwickelnden Sinn, den Droysen als sittliche Mächte bezeichnet. Die Vorstellung über die Geschichte, die sich eigentlich erst aus der Untersuchung der Vergangenheit 33

Droysen (1977), 133.

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ergeben soll, ist bereits als Erkenntnismöglichkeit aus dem Wissen der Gegenwart vorhanden. Das, was aus der Geschichte verstanden werden soll, ist schon in Form der sittlichen Mächte, die in uns hineinwirken, da. Diese sittlichen Mächte umfassen den Kosmos des Menschen in seiner Besonderheit. Auch hier wird deutlich, wie sehr Droysen dem Bild der deutschen Klassik verhaftet bleibt. Er spricht von den idealen Gemeinsamkeiten, dem Sprechen und den Sprachen, dem Schönen und den Künsten, dem Wahren und der Wissenschaft, dem Heiligen und der Religion. Es folgen dann zwar Ausführungen über die praktischen Gemeinsamkeiten, der Gesellschaft, dem Recht, der Macht, aber es wird deutlich, dass Droysen sich letztendlich an den idealen Gemeinsamkeiten orientiert, da sie es sind, die seinem Begriff einer fortschreitenden Entwicklung entgegenkommen. In ihnen, in Familie, Volk, Staat verkörpert sich der ideelle, der sittliche Fortschritt der Menschheit, der über die Rohheit des einzelnen hinausführt. Die historische Erkenntnis wird zu einer ethischen Aufgabe, denn diese zeigt dem Historiker und damit der Menschheit den sittlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft, die sittliche Höhe des bisher Erreichten. Die Aufgabe des Historikers, so könnte man die Systematik zusammenfassen, stellt die Gesichtspunkte dar, unter denen der Historiker das historische Material sinnvoll ordnen kann. Die Darstellungen der historischen Erkenntnis sind abhängig von den Gesichtspunkten, unter denen das historische Material geordnet wird. In der Topik untersucht Droysen abschließend die Art der Darstellungen, also die literarischen Formen, in denen der Historiker seine Ergebnisse zusammenfassend dem Publikum darstellen kann. Er unterteilt diese in die untersuchende Darstellung, die erzählende Darstellung, die didaktische Darstellung und die diskursive Darstellung. Diese vier Darstellungsformen sind nach Droysen die maßgebenden, in denen der Historiker sein gewonnenes Wissen weitergeben kann: „Man wird ohne Mühe erkennen, dass in diesen vier Formen sich der Kreis der möglichen historischen Darstellungen erschöpft, aber auch

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C. Johann Gustav Droysen für die verschiedenen Aufgaben der historischen Forschung damit die nötigen Formen gegeben sind. Man kann nicht sagen, dass diese oder jene die Beste ist, sondern je nach der Aufgabe und dem Zweck wird sich die eine oder die andere als geeigneter, als die je gebotene erweisen.“ 34

Hiermit endet Droysens Begründung der Geschichte als Wissenschaft. Am Ende fasst er, nach einem Eintrag von Friedrich Meinecke aus Droysens Vorlesung aus dem Wintersemester 1882/83, seine Gedanken zusammen: „Bis zu diesem Punkte war die Darstellung zu führen, und nun lässt sich wohl die Einteilung in Methodik, Systematik und Topik leichter übersehen. Zweierlei sollte daraus besonders klar hervortreten. Einmal, dass wir nicht, wie die Naturwissenschaften, das Mittel des Experimentes haben, dass wir nur forschen und nichts als forschen können. Dann: dass auch die gründlichste Forschung nur einen fragmentarischen Schein von der Vergangenheit erhalten kann, dass Geschichte und unser Wissen von ihr himmelweit verschieden sind. Kunststücke der Phantasie helfen da nicht. Die Griechen hatten sich da ein wunderschönes, harmonisches Bild von ihrer Vergangenheit ausgemalt, – zu dem, was davon wirklich echt erhalten, stimmt es herzlich wenig. Es würde uns entmutigen, wenn nicht eins wäre: die Entwicklung der Gedanken in der Geschichte können wir allerdings verfolgen, auch bei lückenhaftem Material. So gewinnen wir nicht ein Bild des Geschehenen an sich, sondern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon. Das ist unser Surrogat. Das zu gewinnen ist nicht so leicht und das Studium der Geschichte ist nicht so heiter, wie es sich dem ersten Blicke darstellt.“ 35

Mit seiner wissenschaftlichen Begründung der Geschichte lieferte Droysen das Fundament für die moderne Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum. Besonders die methodische Grundlegung führte zu einem neuen Selbstverständnis historischen Forschens. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Geschichte von Gebildeten geschrieben. Die Geschichte als Wissenschaft wurde nun an den Universitäten professionalisiert. Dabei orientierte man sich durchaus an anderen 34 35

Droysen (1977), 276. Droysen (1977), 315 f.

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Wissenschaften. In den historischen Fakultäten wurden Prüfungen, Seminare, Vorlesungen, Examina eingeführt und professioneller Historiker konnte man nur werden, wenn man das Studium der Geschichte durchlaufen hatte. Diese Professionalisierung ging einher mit einer zunehmenden Spezialisierung, die sich sowohl auf die Methodik als auch auf den Inhalt der Forschung bezog. Das Nachdenken über Geschichte sah sich zunehmend einer Spezialisierung gegenüber. Das Auseinanderfallen in Forschung und allgemeine Darstellung wurde in der Bildung an Schulen und Universitäten überbrückt. Besonders Schulen oblag die Aufgabe, ein Überblickswissen über Geschichte zu vermitteln. Die methodische Grundlegung der Geschichte als Wissenschaft sollte dazu führen, Geschichte aus dem Bereich der Spekulation in den Bereich des Wissens zu überführen. Allerdings teilte Droysen, trotz seiner Kritik an Hegel, zentrale Annahmen, die Hegel formuliert hatte: dass es in der Geschichte sittliche Mächte gibt, die Kontinuität in der Geschichte verbürgen. Diese sittlichen Mächte, Familie, Volk, Staat, Religion sind die Kräfte, in denen sich Hegels Idee des Fortschritts bei Droysen wiederfindet. Diese werden selber nicht kritisch analysiert, sondern durch die Methode des Verstehens in ihrer Besonderheit erfahren. Die Setzung der sittlichen Mächte als dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand und Ziel der historischen Forschung machte Droysen blind für die sozialen und ökonomischen Veränderungen der Industrialisierung. Der Verweis auf die wissenschaftliche Begründung der Geschichte als Wissenschaft und die eigentliche historische Aufgabe des 19. Jahrhunderts, die Herausbildung eines modernen deutschen Nationalstaates, ließ auch Droysen in einem Bild über Geschichte denken, das sich an dem Ideal der deutschen Klassik und der politischen Notwendigkeit der deutschen Staatsgründung orientierte. Die Kritik, die historische Kritik, als dem neuen Fundament wissenschaftlichen historischen Denkens und Forschens, blieb der eigenen Gegenwart gegenüber zu unkritisch. Das neue wissenschaftliche Nachdenken über Geschichte verblieb im Denkhorizont eigener politischer Ideale und bildungsbürgerlicher Vorstellungen. Mit He-

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C. Johann Gustav Droysen

gel teilte Droysen die Vorstellung, dass Geschichte ein Entwicklungsprozess sei, der im Westen seine Vollendung gefunden habe. 36 Obwohl Droysen überzeugt war, die Geschichte aus seinen metaphysischen Klauen befreit zu haben, blieb er mit seinen Annahmen einem solchem metaphysischen Denken verhaftet. Die Wissenschaftlichkeit der Geschichte, die er etablieren wollte, entzog sich letztendlich durch seine Konzeption der sittlichen Mächte und der Verquickung von historischer Forschung und politischer Zielsetzung einer kritischen Reflexion. Mit seiner methodischen Unterscheidung von Verstehen und Erklären und der immer wieder formulierten grundlegenden Differenz zwischen Geschichte und Naturwissenschaften vertiefte Droysen für weite Teile des professionalisierten historischen Forschens im deutschen Sprachraum eine intensivere Auseinandersetzung mit der aufkommenden Soziologie und Phänomenen der industriellen Gesellschaft. Das Nachdenken über Geschichte verblieb weitgehend im Rahmen einer politischen Geschichte, die sich an der Aufgabe der politischen Errichtung eines deutschen Nationalstaates orientierte. Fragen der Ökonomie und der Gesellschaft passten nicht zu den sittlichen Mächten als Träger historischer Entwicklung und historischen Fortschritts. Karl Marx, Werner Sombart, Max Weber blieben Außenseiter der professionellen Historikerzunft. Verstehen und Nachvollziehen als die eigentlichen Aufgaben des Historikers für die Erkenntnis über die Vergangenheit begrenzte die Geschichtsforschung auf Gebiete, die mit diesem methodischen Ansatz bearbeitet werden konnten. Das Nachdenken über Geschichte, das sich im 19. Jahrhundert professionalisierte, durchbrach den Horizont der eigenen Vorurteile nicht. Hierzu hätte es einer größeren und kritischeren Auseinandersetzung über die eigene Gegenwart bedurft. Was wir mit Droysen über das Nachdenken über Geschichte erfahren können, ist die enge Verbindung zwischen eigenen, auf die Gegen36

Iggers / Wang (2008), 127.

II. Historik

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wart bezogenen politischen Vorstellungen über Mensch, Gesellschaft, Staat, Welt und der Deutung von Geschichte, die dieser Sichtweise unterworfen werden. Ein Nachdenken über Geschichte ist immer auch ein Nachdenken über die eigenen Gegenwartsvorstellungen. Zudem werden wir daran erinnert und dazu aufgefordert, erneut über die Besonderheit der Geschichte als Erkenntnisform nachzudenken. Die Naturalisierung der Geisteswissenschaften, die sich in den letzten Jahren breit gemacht hat, stellt erneut die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Erkenntnismöglichkeiten zwischen Geschichte und Natur.

D. Ernst Troeltsch: Siegeszug und Krise des Historismus Ernst Troeltsch (1865 – 1923) war seit 1892 in Bonn und seit 1894 in Heidelberg ordentlicher Professor für Systematische Theologie. 1912 erfolgte die Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1915 arbeitete er als ordentlicher Professor für Philosophie in Berlin. Er war also im professionellen Sinn der damaligen Zeit nicht Historiker, setzte sich aber in seinen Schriften wie kaum ein anderer mit Grundfragen des historischen Denkens, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren, auseinander. Der Historismus, das Denken, das davon ausgeht, dass alle systematischen Fragen von Welt und Mensch geschichtlich zu erfassen sind, war seiner Überzeugung nach eine der einschneidendsten Veränderungen der europäischen Neuzeit. Neben dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften war für Troeltsch der Historismus die Strömung, die nicht nur in der Theologie bzw. im theologischen Denken zu völlig neuen Einsichten in die Grundlagen und Grundfragen menschlichen Denkens führte. Er war der Überzeugung, dass der Historismus mit seiner radikalen Formulierung, alles Vergangene auf den kritischen Prüfstein der historischen Methode zu stellen, besonders für die Theologie eine Herausforderung war, die überkommene Dogmen und Glaubenswahrheiten in Frage stellte und relativierte. Aber nicht nur die Theologie stand auf dem Prüfstein des neuen, kritischen historischen Denkens, sondern alle überkommenen Glaubenswahrheiten, Annahmen, Sichtweisen – ja die ganze bisherige Geschichte und infolge die daraus hervorgegangene Gegenwart mussten sich kritisch der historischen Methode stellen. Der Historismus wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts, nach seinem Siegeszug an Univer-

D. Ernst Troeltsch

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sitäten und Bildungseinrichtungen im 19. Jahrhundert, zu einer zentralen Herausforderung in den historischen, politischen und sozialen Auseinandersetzungen der Zeit. Troeltsch hat sich in unterschiedlichen Phasen seines Denkens der Herausforderung gestellt, über die Folgen des Historismus für das Verstehen von Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken. Die Auseinandersetzung mit dem Historismus führte Troeltsch in verschiedenen Schriften durch. In seinem 1900 veröffentlichten Aufsatz Über historische und dogmatische Methode der Theologie begrüßte er den Historismus und die ihm inneliegenden Möglichkeiten, die Theologie von ihrem Dogmatismus zu befreien. Die Analyse der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Theologie führte ihn in eine intensive Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Fragen, die in ihrem Kern um Fragen des Historismus kreisten. Diese Auseinandersetzung brachte ihn später zu einer grundsätzlichen Beschäftigung mit der Frage, was eigentlich die Moderne sei, und worin ihre historische Besonderheit liege. Diese Frage behandelte er ausführlicher in dem 1907 erschienenen Aufsatz Das Wesen des modernen Geistes. Hier begann sich Troeltsch von seinem anfänglichen Enthusiasmus für den Historismus zu distanzieren. Zunehmend erkannte er in seiner Deutung der Moderne, die nach seinem Verständnis den Historismus als Voraussetzung und integralen Bestandteil beinhaltete, einen ambivalenten Prozess, den er für unumkehrbar hielt. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte in dem 1922 veröffentlichten Aufsatz Die Krisis des Historismus eine kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus, den er nun selber in einer Krise sah. Während Hegel den Grundstein für das moderne historische Denken gelegt hatte, hatte Droysen versucht, das historische Denken, die Geschichte, methodisch und inhaltlich als eine – besondere Form – der Wissenschaft zu begründen. Troeltsch nimmt dieses Denken auf und setzt sich systematisch mit – aus seiner Sicht – Chancen und Risiken dieses Denkens auseinander, wobei er an der Überzeugung festhält, dass dieses Denken keiner Zufälligkeit entsprungen war und dass jede

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D. Ernst Troeltsch

ernsthafte Auseinandersetzung mit der Gegenwart ohne den Historismus als Denkform nicht auskommt.

I. Die historische Methode

In dem Aufsatz Über historische und dogmatische Methode der Theologie aus dem Jahr 1900 beschäftigt Troeltsch die Frage, was eigentlich die historische Methode sei. Troeltsch spricht von der historischen Methode rein als solcher und versteht darunter aus theologischer Sicht nicht die Untersuchung einzelner historischer Ereignisse des Christentums, sondern den Versuch, „die Wirkung der modernen historischen Methode auf die Auffassung des Christentums überhaupt zu verstehen.“ 1 Als Ausgangspunkt konstatiert er die überwältigende Bedeutung und Auswirkung des modernen historischen Denkens auf die Theologie: „Die historische Methode, einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der Alles verwandelt und der schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt.“ 2

Im Gegensatz zu anderen Theologen seiner Zeit wie etwa Niebergall, der der Überzeugung war, dass das Eingeständnis zeitgeschichtlicher Bedingtheiten mit der dogmatischen Methode vereinbar wäre, folgerte Troeltsch, dass die historische Methode zu einem ganz neuen Verständnis von Dogma und Theologie führen würde. Mit der historischen Methode bräche das ganze alte System der Dogmatik zusammen: „Das ist die offenkundig vor Augen liegende Wirkung der historischen Methode. Sie relativiert Alles und Jedes, nicht in dem Sinne, dass damit jeder Wertmaßstab ausgeschlossen und ein nihilistischer Skeptizismus das Endergebnis sein müsse, aber in dem Sinne, dass jeder Moment 1 2

Troeltsch (1900), 3. Troeltsch (1900), 3.

I. Die historische Methode

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und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann, und dass jede Bildung von Wertmaßstäben deshalb nicht vom isolierten Einzelnen, sondern nur von der Überschau des Ganzen ausgehen kann.“ 3

Das Wirken der historischen Methode läge darin, dass zuerst Einzeltatsachen nach ihrer historischen Richtigkeit befragt würden. Die Summierung von Einzeltatsachen, die der bisherigen Überlieferung widersprechen, führen in einem zweiten Schritt zu einer allmählichen Veränderung der Sichtweise des Ganzen, zu dem die Einzeltatsachen gehören. Immer stärker drängt sich durch das Erforschen von Einzeltatsachen durch die historische Methode eine generelle Infragestellung des dazugehörenden Ganzen. Der religiöse Glaube, der in einem inneren Zusammenhang mit der bisherigen Überlieferungsgeschichte steht, wird brüchig, lockert sich, wird nicht sofort aufgehoben, aber verändert, bis schließlich die Überlieferungsgeschichte nicht mehr in den Deutungsrahmen der Gegenwart, die selbst durch die historische Methode relativiert wird, passt. Durch die historische Methode findet eine doppelte Infragestellung statt: eine Infragestellung der bisherigen Überlieferungsgeschichte und des dazugehörenden Dogmas, und eine Infragestellung der aus der Gegenwart gewonnen Einsicht über die Vergangenheit, da diese Gegenwart durch die historische Methode selbst relativiert wird. Die historische Methode entzaubert die dogmatische Methode, die durch die Überzeugung an feste Glaubenssätze gekennzeichnet ist: „Ist die neue Methode als die historische zu bezeichnen, die alle Überlieferung erst der Kritik unterwirft und für prinzipielle Fragen von der Gesamtheit der historischen Wirklichkeit ausgeht, um erst von der Überschau über sie die Wertmaßstäbe zu gewinnen, so ist die alte als die dogmatische zu charakterisieren, die von einem festen, der Historie und ihrer Relativität völlig entrückten Ausgangspunkte ausgeht und von ihm aus unbedingt sichere Sätze gewinnt, die höchstens nachträglich mit Erkenntnissen und Meinungen des übrigen menschlichen Lebens in 3

Troeltsch (1900), 9 f.

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D. Ernst Troeltsch Verbindung gebracht werden dürfen. Diese Methode ist prinzipiell und absolut der geschichtlichen entgegengesetzt. Ihr Wesen ist, dass sie eine Autorität besitzt, die gerade dadurch Autorität ist, dass sie dem Gesamtzusammenhang der Historie, der Analogie mit dem übrigen Geschehen und damit der alles das in sich einschließenden historischen Kritik und der Unsicherheit ihrer Ergebnisse entrückt ist.“ 4

Die dogmatische Methode bestätigt die aus der Überlieferung bezeugten Glaubenswahrheiten, da sie nicht Teil der gewöhnlichen Geschichte sind. Dadurch können sie durch Kritik weder festgestellt noch erschüttert werden. Sie sind „durch eine wunderbare Überlieferung und durch ein inneres Siegel der Beglaubigung in den Herzen sichergestellt.“ 5 Dieser Methode fehlen alle Hauptkennzeichen der historischen Methode: Kritik, Analogie, Korrelation. Troeltsch kritisiert, dass die dogmatische Methode diese Formen der Kritik, die der historischen Methode eigen ist, nicht akzeptieren kann, weil dadurch die dogmatischen Glaubenswahrheiten hinterfragt werden könnten. Eine solche mögliche Infragestellung widerspräche dem Dogma. Deshalb ist die Geschichte, auf der das Dogma beruht, zwar auch Geschichte, „aber diese Geschichte ist keine gewöhnliche, profane Geschichte, wie die der kritischen Historie, es ist Heilsgeschichte und Zusammenhang von Heilstatsachen, die als solche nur dem gläubigen Auge erkennbar und beweisbar sind und die gerade die entgegengesetzten Merkmale von den Tatsachen haben, welche die profane kritische Geschichte nach ihren Maßstäben als geschehen betrachten kann.“ 6

Die Grundvoraussetzung für die dogmatische Methode ist der dualistische Begriff von Gott und vom Menschen. Dieser Dualismus spiegelt die zwei geschichtlichen Methoden und Sichtweisen. Gott gehört zur heilsgeschichtlichen absoluten und apodiktisch sicheren Methode, der Mensch zur profange4 5 6

Troeltsch (1900), 13. Troeltsch (1900), 13. Troeltsch (1900), 13 f.

I. Die historische Methode

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schichtlichen, kritisch-relativistischen. 7 Gott ist Teil der Welt und der Gesamtheit der Tatsachen und Bewegungen in ihr, zugleich aber steht er außerhalb dieses Zusammenhangs und kann jederzeit von außen in das Wirken der Natur eingreifen. Dieser Gottesbegriff bzw. diese Gottesvorstellung rechtfertigt das Dogma und die dogmatische Methode. Ihre Rechtfertigung entzieht sich der historischen Kritik und kann von ihr nicht berührt werden. Troeltsch identifiziert die dogmatische Methode keineswegs mit dem Katholizismus und seinen Glaubensvorstellungen, sondern spricht davon, dass sie Ergebnis nicht historisch gebildeter Zeitalter sei. Überall, wo die historische Methode abgelehnt oder – noch – nicht erkannt sei, lauere Dogmatismus. Auch der Protestantismus sei in seinem Ursprung dogmatisch gewesen. Troeltsch sieht hier im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen keine Verbindung zwischen dem Protestantismus in seinen Anfängen und einer der historischen Kritik nahekommenden Sichtweise. Erst die Aufklärung habe, entgegen zahlreichen Bekundungen, eine historische Denkweise angebahnt. Die Infragestellung der alten Autoritäten habe ein Klima der Kritik ermöglicht, aus dem später die historische Methode hervorgehen konnte. Troeltsch stand vor dem Problem bzw. vor dem Vorwurf, dass er mit der Forderung einer Neugrundlegung theologischen Denkens durch die historische Methode dem Relativismus Tür und Tor öffne. In der ersten Phase seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus ist er damit vor das Dilemma des Historismus gestellt, dass diese Denkweise keine gesicherten Wahrheiten mehr hervorbringen könne. Hegel hatte dieses Problem durch seine Rekonstruktion der Geschichte als eines objektiven Verlaufs gelöst, Droysen durch die in der Geschichte waltenden sittlichen Mächte. Der junge Troeltsch kann sich diesem Einfluss nicht entziehen und versucht auf ähnliche Weise das Dilemma des historischen Relativismus zu lösen: 7

Troeltsch (1900), 16.

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D. Ernst Troeltsch „Ja, ich kann geradezu sagen: es ist das Wesen meiner Anschauung, dass sie den historischen Relativismus, der nur bei atheistischer oder religiösskeptischer Stellung die Folge der historischen Methode ist, rundweg bestreitet und die Aufhebung dieses Relativismus durch die Auffassung der Geschichte als eine Entfaltung der göttlichen Vernunft verlangt [...] Gerade darum handelt es sich, dass die Geschichte kein Chaos ist, sondern aus einheitlichen Kräften hervorgehend einem einheitlichen Zustand zustrebt.“ 8

Hierdurch überwindet der gläubige Mensch die Infragestellung des Dogmas durch die historische Methode, da die Geschichte, ähnlich wie bei Hegel, selber Ort göttlicher Offenbarung ist: „So glaube ich mit den großen Idealisten, dass in diesem scheinbaren Chaos sich doch von verschiedenen Seiten her die göttliche Tiefe des menschlichen Geistes offenbart, dass der Gottesglaube in allen Formen, wo er überhaupt nur wirklicher Gottesglaube und nicht selbstsüchtiges Zauberwesen ist, dass er aus seiner eigenen Konsequenz, und d. h. aus der in ihm treibenden Kraft Gottes, überall an Energie und Tiefe gewinnt, soweit es die Schranke der ursprünglichen Naturgebundenheit des menschlichen Geistes erlaubt.“ 9

Ähnlich wie Hegel mit der historischen Bedeutung des Christentums die Entfaltung der Idee der Freiheit identifiziert, ist für Troeltsch mit den Propheten Israels und in der Person Jesu ein Abschluss aller vorherigen religiösen Bewegungen erreicht, der Ausgangspunkt einer neuen historischen Entwicklung als neuer Bezugspunkt des Gläubigen ist. In dieser ersten Auseinandersetzung mit der historischen Methode erkennt Troeltsch diese neue Denkweise in seiner Radikalität an. Als Theologe kann er nach eigenem Selbstverständnis nicht mehr auf Grundlage der dogmatischen Methode theologisieren, da dies ein Rückfall hinter die historische Einsicht ist, die der Historismus hervorgebracht hat. Den dadurch auf8 9

Troeltsch (1900), 20. Troeltsch (1900), 20.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

93

tretenden Relativismus kann er nur im Rückgriff auf eine an Hegel orientierte Sichtweise der Geschichte als fortschreitende Entwicklung der (göttlichen) Vernunft zurückweisen. In diesem ersten Ansatz sehen wir, wie Troeltsch am Anfang des 20. Jahrhunderts auch als Theologe die Durchschlagskraft des Historismus als neue Denkweise über Mensch und Welt nicht ignorieren kann. Die geschichtsphilosophische Spekulation rettet ihn zunächst vor den Konsequenzen eines radikalen Historismus, den er im Kern bereits anerkannt hat.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

In einem längeren Aufsatz aus dem Jahr 1907 mit dem Titel Das Wesen des modernen Geistes unternimmt Troeltsch den Versuch, über die Theologie hinausgehend, die Bedeutung des Historismus als Denkform zu begreifen. Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass „unsere Welt in erster Linie historisch zu begreifen als eine von bestimmten geschichtlichen Kräften hervorgebrachte Formation“ ist. 10 Troeltsch folgt in seiner Analyse des modernen Geistes und damit seiner Gegenwart der sich im 19. Jahrhundert herausgebildeten westlichen Weltgeschichtsdeutung, nach der die drei großen Entwicklungsschritte zur Moderne in der Antike, im Christentum und in den Kräften und Eigenschaften des Germanentums liegen. Die Antike sei eingewickelt in die christlich-kirchliche Überlieferung auf uns gekommen, das Christentum habe besonders in Form der sich herausbildenden Sozialform, der Kirche, auf alles Denken und Fühlen eingewirkt, während das Germanentum durch den Protestantismus das Christentum der bisherigen Kirche auf neue Grundlagen gestellt habe. Zu diesen drei Grundpfeilern der modernen Welt komme aber ein vierter, der in seiner Bedeutung noch wichtiger sei:

10

Troeltsch (1907), 125.

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D. Ernst Troeltsch „Zu alledem kommt nun aber als viertes und wichtigstes Grundelement die eigentlich moderne Geisteswelt selbst, die aus der inneren Entwicklung des Mittelalters, aus der Renaissancebewegung und dem Protestantismus herausgewachsen ist, vorbereitet durch die spätmittelalterliche städtische, durch die protestantisch-landeskirchliche und durch die katholisch-romanische Kultur der Gegenreformation, zur vollen Selbständigkeit entbunden durch die Aufklärungsbewegung, durch die englische, amerikanische und französische Revolution. Hierin wurzeln alle entscheidenden Züge des heutigen Lebens, und die Verbindung oder Verfeindung dieser modernen Elemente mit den überkommenen macht nebst den inneren Spannungen und Gegensätzen der modernen Ideenwelt selbst den vielverschlungenen Inhalt unseres heutigen Lebens aus.“ 11

Diese moderne Geisteswelt, von der Troeltsch spricht, ist der Historismus, der nicht nur zur Anschauung bringt, wie geschichtlich die moderne Welt entstanden ist, sondern selber Ausdruck einer ganz neuen Weltsicht ist. Somit muss auch der Historismus in seiner Anschauungsform aus bestimmten geschichtlichen Entwicklungen begriffen werden, die aufzeigen, dass der moderne Geist sich von anderen Formen des Denkens durch seine Überzeugung unterscheidet, dass alles Verstehen und Erklären von Mensch und Welt historisch ist. Troeltsch untersucht in einem ersten Ansatz systematisch die Elemente, die den modernen Geist in seiner Besonderheit am besten erfassen. Es sind die Elemente, durch die sich der moderne Geist ausdrückt. Hierzu zählt Troeltsch „das immer mächtigere Emporsteigen des Staates und der Staatsidee“ 12, „eine ganz ungeheure Individualisierung des ganzen Fühlens und Denkens des modernen Menschen“ 13, den Kapitalismus 14, die Umgestaltung des Rechts 15, die Naturwissenschaft 16, die 11 12 13 14 15

Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch

(1907), (1907), (1907), (1907), (1907),

126 f. 128. 133. 135. 138.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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Geschichts- und Sozialwissenschaften 17, die moderne Kunst 18 und die Hinwendung zur Immanenz 19. Diese Entwicklungen führen zu einer letzten großen Frage: der Frage nach der Religion in der modernen Welt. 20 Troeltsch unterscheidet den modernen vom antiken Staat. Die Besonderheit des modernen Staates liegt in seiner Diesseitigkeit und seiner Doppelseitigkeit. Der antike Staat empfand sich als „eine Stiftung der Götter oder als eine Wirkung des staatsbildenden Triebes“ und die eigentliche Religion kannte er nur als Staatsreligion. 21 Im Gegensatz dazu beruht im modernen Staat dessen Souveränität auf der Diesseitigkeit. In dieser liegt sein ethisches Fundament. Alle ethischen Fragen, die den Staat betreffen, fundieren in einer rationalen, vernünftigen Begründung. Seine Verfassung ist ein Produkt diesseitiger Rationalität. Diese wird durch ein Rechts- und Verwaltungswesen ergänzt, das rein innerweltlich ist. In dieser Diesseitigkeit liegt aber auch die Schranke des modernen souveränen Staates. Historisch ist er aus der Auseinandersetzung mit der Kirche hervorgegangen. Diese hatte den Anspruch auf eine absolute Wahrheit gestellt, aber der moderne souveräne Staat hat in der Auseinandersetzung mit der Kirche und dem Zurückweisen eines solchen Anspruchs diesen nicht wirklich überwinden können. Für sich selbst fordert der Staat keine überzeitliche Wahrheit, aber die Bürger können für sich im Staat – ob Gläubige oder nicht – die Überzeugung einer absoluten Wahrheit beanspruchen. Darin liegt die Doppelseitigkeit des Staates: auf der einen Seite seine reine Diesseitigkeit, auf der anderen Seite die Erinnerung an eine ethische Forderung, die aus der Kirche kommt und den Anspruch an eine absolute Wahrheit aufrechterhält. Zudem drängen Probleme und Forderungen auf 16 17 18 19 20 21

Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch

(1907), (1907), (1907), (1907), (1907), (1907),

140. 142. 145. 147. 154. 129.

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D. Ernst Troeltsch

und an den Staat heran, die zwar nicht dessen Diesseitigkeit und Rationalismus in Frage stellen, aber ganz unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie diese beiden Elemente zu gestalten sind: Liberalismus, Sozialismus, Marxismus. Sie fordern rationale, diesseitige Handlungs- und Denkweisen, die sich untereinander ausschließen. So gibt es eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Ausgestaltung des diesseitigen Rationalismus, die den modernen souveränen Staat in neue, politische Glaubenskämpfe einbindet. Des Weiteren können seine Bürger ethische Grundüberzeugungen haben, die sich einem diesseitigen Rationalismus widersetzen. Die Staatsform, die sich gegenüber anderen Staatsformen in der Moderne durchgesetzt hat, ist die moderne Demokratie. Sie ist „die eigentlich beherrschende Macht des modernen Staates und damit eine Grundmacht der modernen Welt überhaupt.“ 22 Der Grundgedanke der modernen Demokratie wurzelt nach Troeltsch in der liberalen Idee des Individualismus, dem zweiten Grundmotiv der Moderne. Er unterscheidet zwei Formen: einen rationalistischen Individualismus von einem irrationalistischen Individualismus. Der rationalistische Individualismus entstammt dem entchristlichen Naturrecht, der irrationalistische der Forderung nach der Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat, dem Liberalismus: „Im ersten Fall herrscht der allgemeine Begriff der natürlichen Gleichheit der Individuen und die Forderung einer rationellen Konstruktion des Staatsganzen, die die Lebenszwecke des Individuums durch den Staat nach Möglichkeit für das Individuum und durch das Individuum verwirklicht. Im zweiten Fall herrscht die Voraussetzung einer irrationalen Freiheit und Beweglichkeit des Lebens, die geschützt werden muss gegen die Staatsallmacht und angeleitet werden muss zu ihrer Entfaltung, was nur möglich ist, wenn die Individuen die Staatsleitung stets im Sinne der Erhaltung dieser Freiheit kontrollieren und regulieren können. Das erste ist die Rousseausche Demokratie, die eben daher auch kein Recht der Minderheiten kennt und die von der Sozialdemokratie auf die Spitze getrieben ist; das zweite ist die angelsächsische Demokratie 22

Troeltsch (1907), 132.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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und das Prinzip des Altliberalismus. Beides ist schlechthin unvereinbar [...]“. 23

Troeltsch sieht in diesem Individualismus als Grundbaustein des modernen Staates den Herd zukünftiger Konflikte. Die Sozialdemokratie müsse dem Staat alles einverleiben, damit dieser das Prinzip der Gleichheit für seine Bürger gewährleisten könne. Dafür müsse er sich auf die Majorität stützen, wodurch er in immer neue Krisen gerate, da eine umfassende, für alle Bürger geltende Gleichheit nicht durchgesetzt werden könne. Der Liberalismus dagegen verteidige die Freiheitsrechte des Individuums gegenüber dem Staat, bedürfe aber auch des Staates zur Durchsetzung dieser Freiheitsrechte. Auch dieser Konflikt sei grundsätzlich nicht lösbar. Staat und Individualismus in ihrer Diesseitigkeit entgehen zwar den religiösen Glaubenskämpfen, erzeugen aber politische Glaubenskämpfe, die trotz aller diesseitigen Rationalität nicht rational zu lösen seien. Als dritten Grundpfeiler nennt Troeltsch den Kapitalismus. Dabei interessiert ihn nicht die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, sondern seine Bedeutung für den modernen Geist. Nach Troeltsch wirkt der Kapitalismus in alle Lebensbereiche des Menschen hinein. Er führt in einen riesigen Verwertungsprozess, dem er alle diesem zur Verfügung stehenden Mittel unterwirft: von der Arbeitsorganisation, der Produktion, dem Handel, dem Konsumenten bis zu den Anschauungen, die dadurch geprägt werden. Diese werden zunehmend durch Diesseitigkeit, ein Hochgefühl der Menschenkraft und Rationalisierung bestimmt: „Die geistigen und moralischen Folgen sind nun aber ebenso gewaltig und ungeheuer wie die materiellen. Die erste und allgemeine Wirkung ist eine ungeheure Steigerung des Erwerbssinnes und eine dem dienende unermessliche Intensität und Hast der Arbeit, eine Verlegung aller Kraft und Energie in diesen beständig von Krisen bedrohten Wunderbau, der keine Risse bekommen darf, eine wachsende Freude an Lu23

Troeltsch (1907), 133 f.

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D. Ernst Troeltsch xus und Wohlleben, ein kolossaler praktischer Materialismus. Das alles aber bedeutet eine außerordentliche Steigerung der Diesseitigkeit aller Interessen, Gedanken und Strebungen. Mit dieser Diesseitigkeit eng verbunden ist das Hochgefühl der Menschenkraft, die eigener Leistung alles verdankt und die auch noch das Versicherungswesen aus dem Kapitalismus entwickelt, um den Menschen gegen alle irgend berechenbaren Schädigungen zu schützen. Noch wichtiger aber ist die ungeheure Rationalisierung des Lebens durch diese ständige Berechnung des Ertrages, durch die rationell-wissenschaftliche Methode der Technik, durch die rationelle Kunst der Arbeitsteilung, die Berechenbarkeit jeden Wertes in bestimmten Tauschwerten, die Konstruktion des ganzen Daseins aus wirtschaftlichen Gesetzen. Verdiesseitigung, Selbstvergötterung, Rationalismus strömt durch tausend Kanäle in alle Poren unseres Daseins [...]“. 24

Troeltsch erkennt den modernen Kapitalismus in seinen Auswirkungen auf das Leben an. Wie Max Weber sieht er dessen durchgreifende Macht, die alle Lebensbereiche durchdringt. Dabei setzt er den politisch-rechtlichen Individualismus voraus, um gleichzeitig depersonifizierend zu wirken. Im Kapitalismus liegt eine unerbittliche Logik des Abstraktums, „das seine Unpersönlichkeit überall hin verbreitet“. 25 Diese Unpersönlichkeit stellt im Kern auch die moderne Staatssouveränität in Frage: „Er ballt um die großen Betriebe neue Abhängigkeiten zusammen und schafft einen Analogon der antiken Sklaverei und der mittelalterlichen Hörigkeit, das der persönlichen Elemente dieser älteren Formen vollends entbehrt, und hält Völker und Staaten in Abhängigkeit von den internationalen Finanzkräften. Damit wirkt er allen Tendenzen der individualistisch-politischen Ideen wie auch dem innersten Wesen der Staatssouveränität als internationale Macht entgegen [...]“. 26

Somit ist der Kapitalismus mit seinen Kräften der Diesseitigkeit und der Rationalität ebenso zwiespältig wie die ersten beiden Grundpfeiler der Moderne. Er überwindet die Schranken 24 25 26

Troeltsch (1907), 136. Troeltsch (1907), 137. Troeltsch (1907), 137.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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einer irrationalen Weltsicht, um gleichzeitig neue Motive für weltanschauliche Auseinandersetzungen zu liefern. Diese drei Grundpfeiler – der moderne Staat, die Individualisierung und der Kapitalismus – sind die Grundsäulen der Moderne: „Die bisher geschilderten Mächte sind die Grundsäulen unseres Daseins, die Grundlinien, auf denen all unser Leben und Schaffen sich bewegt, es mag wollen oder nicht, und von denen die stärksten geistigen Gewalten aufsteigen.“ 27

Aus diesen Grundsäulen gehen die Elemente hervor, die Anschauungs- und Denkweisen der Moderne prägen: das Recht, die Naturwissenschaft, die Geschichts- und Sozialwissenschaften, die moderne Kunst und die Hinwendung zur Immanenz. Im Recht findet eine Hinwendung zu einer neuen Form der Humanität statt, die ihren Ursprung in dem Gedanken der Nächstenliebe hat. Ihren besonderen Ausdruck findet diese Hinwendung in „der humanitären Umwandlung des Strafrechts, die den Vergeltungsgedanken immer mehr umbiegt in den Erziehungs- und Schutzgedanken.“ 28 Diese humanitäre Umwandlung entwickelt sich weiter im Wohltätigkeitswesen, das die Idee des Guten im Menschen und die Anteilnahme am Schicksal des Mitmenschen fördere. In der Naturwissenschaft findet die um sich greifende Rationalisierung durch die Vorstellung von Gesetz und Objektivität ihren Ausdruck. Die Natur ist nicht mehr ein Rätsel, das fremden Mächten untergeordnet ist, sondern ein in sich rationaler Kreislauf, der mit Hilfe der Mathematik und empirischer Verfahren entschlüsselt werden kann. Damit tritt die Natur in ganz anderer Weise in den Verwertungszusammenhang menschlichen Wirtschaftens, die Natur wird Studien- und Ausbeutungsobjekt zugleich. Diese Rationalisierung der Natur fördert die Vorstellung, dass mit fortschreitenden Kenntnis27 28

Troeltsch (1907), 138. Troeltsch (1907), 138.

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sen das Leben verbessert werden kann. Naturwissenschaft und Fortschrittsidee sind die zwei neuen Seiten der Diesseitigkeitsmedaille: „Die Empfindung, dass man in einer völlig prinzipiell durchsichtigen, kein Rätsel mehr absolut anerkennenden Welt stehe, dass ungemessene Fortschritte diesem nie versagenden Schlüssel sich öffnen müssen, so dass man mit diesen Begriffen die Lösung des Welträtsels selbst in der Hand haben müsse, ist geblieben und allmächtig geworden.“ 29

Diese Naturalisierung des Denkens ergreift auch den Menschen, der sich aber dieser Vereinnahmung widersetzt. Selber nur ein gesetzliches Naturprodukt zu sein, sei eine neue auf den Menschen zukommende Last, die nur durch die Erfolge und die damit verbundene Fortschrittsgläubigkeit des Menschen überdeckt würden. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind der Ausdruck der Moderne. Ihr Ursprung liegt in der Kritik an der Überlieferung, die in Renaissance und Aufklärung als Auflehnung gegen die alten Mächte zunächst eine Kritik an bestimmten Überlieferungen war, bevor sie im 19. Jahrhundert in der historischen Methode ihren allgemeinen Ausdruck fand. Alle Denkund Lebensweisen werden der historischen Methode unterzogen, die den Reichtum der Vergangenheit zum Vorschein bringt und gleichzeitig jede Form einer irrationalen Begründung von Glaubenswahrheiten einen Riegel vorschiebt. Wenn Alles geschichtlich ist, muss auch jede Überlieferung, jeder Glaubensanspruch, jedes Dogma vor dem Richterstuhl der historischen Kritik bestehen. Sie allein scheidet die Tatsachen von Vorstellungen und Glauben. Aus der Geschichte können weder Ideale noch Ziele formuliert werden, sie fördert das Misstrauen gegen alle Überlieferung: „Daraus ergibt sich das spezifisch moderne geschichtliche Denken oder der historische Sinn, der in der Tat ein sechster Sinn zur Auffassung der 29

Troeltsch (1907), 141.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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Dinge ist. Es ist das in erster Linie ein Sinn der Kritik und des Misstrauens gegen alle Überlieferung, die jedes Mal sich erst vor der Kritik als zurechtbestehend ausweisen muss und die dabei in der Regel durch ein ihr unterzuschiebendes Bild des mutmaßlich wirklichen Hergangs ersetzt werden muss.“ 30

Dabei bringt die historische Methode aber nicht nur eine neue diesseitige Realität hervor, sondern durch sie entsteht gleichzeitig ein Antirationalismus. So hat die historische Kritik keinen Platz „für absolute, überall gleiche rationelle Wahrheiten und Ideale. Von dieser Seite her wirkt die Geschichte, die mit ihrer Kritik und ihrem Zutrauen zu der Rekonstruktionsfähigkeit den Rationalismus zu begünstigen scheint und alles Übernatürliche in ein natürliches Geschehen verwandele, doch wieder entschieden antirationalistisch.“ 31

Das antirationalistische Moment ergibt sich aus der Überfülle des historischen Wissens, das durch die historische Methode zutage gefördert wird. Die Historisierung des Lebens führt zu neuen Ausschmückungen in Literatur, die sich nicht an die wissenschaftliche Seite der Darstellung des Historischen halten. Auch die moderne Kunst ist Ausdruck der neuen modernen Welt. Besonders zwei Entwicklungen der modernen Kunst lassen sie als Ausdruck dieser modernen Welt erkennen: „die Verklärung der diesseitigen Welt“ und die „Darstellung des originalen, die Tiefen des eigenen Selbst empfindenden und suchenden Individuums“. 32 Das Individuelle wird dabei nicht wie in der Sphäre des Politischen in seiner Vereinzelung erfasst, sondern in der offenen Suche des Individuums auch jenseits der Gesellschaft, in seiner metaphysischen Vereinzelung. Diese

30 31 32

Troeltsch (1907), 144. Troeltsch (1907), 145. Troeltsch (1907), 145 f.

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D. Ernst Troeltsch

metaphysische Vereinzelung führt zur Entdeckung des letzten Grundpfeilers der Moderne: der Immanenz. Die Immanenz bedeutet die Überwindung und „das Ende des anthropomorphen Dualismus von Gott und Welt“. 33 Das Religiöse streift seine reine Jenseitigkeit ab und wird Teil der Welt. Doch ist diese Immanenz wie die anderen Grundpfeiler der Moderne bzw. des modernen Geistes zwiespältig. Das Gefühl der Immanenz führt nicht zu einer Befriedigung des Daseins, sondern stößt sich an den aus der Überlieferung kommenden Vorstellungen der Transzendenz. Mit diesem Panorama des modernen Geistes entwirft Troeltsch ein umfassenderes Bild der Moderne als es Hegel und Droysen auf dem Weg der Historisierung des Denkens im 19. Jahrhundert aufgezeigt haben. Er geht weit über die Vorstellungen einer geistesgeschichtlichen Darstellung hinaus, die sich im Wesentlichen auf eine historische Chronologie oder die Darstellung der sittlichen Mächte konzentriert. Troeltsch versucht, die historische Methode als umfassende Erkenntnis des modernen Geistes zu erfassen, der sich auf die unterschiedlichsten Gebiete erstreckt: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Kunst. Damit entfaltet der Historismus viel durchgreifender als im 19. Jahrhundert seine Kraft, die Besonderheit der Gegenwart aus der Geschichte abzuleiten und die Methode selbst, mit der dies durchgeführt wird, der historischen Methode, in den Prozess dieser Entwicklung einzubeziehen. Während Troeltsch sieben Jahre zuvor noch auf die Geschichtskonstruktion Hegels zurückgriff, um den durch den Historismus entstehenden Relativismus in Schranken zu halten, lehnt er nun einen solchen Rückgriff ab. In der abschließenden Frage nach der Bedeutung der Religion in der modernen Welt greift er diese Problematik auf. Troeltsch untersucht den Zusammenhang von Moderne und Religion auf zwei Ebenen: erstens analysiert er, in welcher 33

Troeltsch (1907), 147.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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Form die Auseinandersetzung mit Religion, Kirche, kirchlichen Autoritäten am Beginn der Moderne dieser selber zum Durchbruch verholfen hat; und zweitens wirft er einen kritischen Blick auf die Bedeutung der Religion in der Gegenwart. Die Infragestellung der überlieferten Religion steht nach Troeltsch in Verbindung mit den Entstehungsbedingungen der Moderne selbst. Die Kritik an der Religion ist an den Durchbruch der modernen Welt selbst geknüpft: „Sie ist der Bruch mit der kirchlichen Autoritätsstruktur, der katholisch-weltkirchlichen und der protestantisch-landeskirchlichen. Sie ist die Beseitigung der Kirchen und ihrer übernatürlichen Offenbarungsautoritäten aus der doch niemals praktisch vollständig innegehabten, immer voll von in der Theorie behaupteten leitenden Stellung.“ 34

Nach Troeltsch liegt in den Entwicklungsbedingungen der Moderne der Schlüssel zum Verständnis der modernen Religionskritik. Wenn das Kennzeichen der Moderne eine Hinwendung zur Diesseitigkeit ist, die, anders als in der Antike, eine in erster Linie wissenschaftliche Hinwendung zur Diesseitigkeit ist, dann muss jede Überlieferung, auch die Religion, auf den Prüfstein wissenschaftlicher Kritik gestellt werden. Bei der Religion kommt hinzu, dass sie in Form der organisierten mittelalterlichen und neuzeitlichen Kirchen, der katholischen und der protestantischen, an absoluten Glaubenswahrheiten festhielt, die mit der Idee der modernen Wissenschaftlichkeit nicht zu vereinbaren war. Die Verbindung von absoluten Glaubenswahrheiten und kirchlicher Organisation als Besonderheit der europäischen Religiosität, die ihr Fundament nicht in einer individualisierten oder gemeinschaftlichen Form, sondern in Form großer Organisationen hatte, die auch eine politische Macht war, wurde in dem Moment von den Kräften der Moderne herausgefordert, als sich diese politische Macht gegen das Neue stemmte. Allerdings sei die Moderne nicht aus dem Gegensatz zur Religion des Christentums entstanden, sondern in gewis34

Troeltsch (1907), 157 f.

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D. Ernst Troeltsch

ser Weise habe bereits die christliche Religion den Keim der Moderne in sich getragen: „Nicht Atheismus oder Pantheismus sind, wie man oft in gläubigen Leitartikeln hören kann, Ausgangspunkt der modernen Welt, sondern in der Hauptsache ein begeisterter gläubiger Theismus und das von der Kirche selbst bereitete Amalgam christlicher und antik-philosophischer Ideen. Ein solcher Theismus hat die Anfänge der Nationalökonomie aus der Wiege gehoben und die Weisheit des Weltmechanismus aufsuchen lassen. Der christliche Individualismus hat dem modernen die ersten Anstöße gegeben und großenteils selbst die Kirchen zerbrochen, ehe Staat und Gesellschaft daran dachten. Der strengst kapitalistische Geschäftseifer ist vom Puritanismus ausgebrütet worden, und die Volkssouveränität ist mindestens ebenso sehr das Werk begeisterter Gläubiger und Gotteskämpfer als rationalistischer Naturrechtler.“ 35

Somit ist die Moderne nicht nur die Auflösung der alten Religion, sondern in der Religion stecken bereits die Keime, die diese moderne Auflösung hervorgebracht haben. Diese sind nicht auf ein bestimmtes Moment der christlichen Religion zurückzuführen, sondern finden sich in mannigfaltigen Entwicklungen, die zum Fundament der christlichen Religion gehören. Mit der Moderne endet aber nach Troeltsch die alte Form der Religion und ihrer Organisationsformen: „Die kirchliche Welt des Mittelalters mit ihrer Autorität, ihrem Supranaturalismus und ihrem natur- und geschichtsphilosophischem Weltbild, ihrer Anthropologie und Psychologie, ihren inspirierten Büchern und heiligen Traditionen ist zu Ende, sie wandelt sich aus sich selbst und ihrem antiken Erbe heraus zu einer neuen Welt, der dann aber die Einheitlichkeit der Wurzel und der Entfaltung fehlt, weil sie nicht mehr wie die alte von dem einzigen Autoritätsgedanken beherrscht ist, der alles unter sich beugen kann, dem jenseitig-religiös-supranaturalen.“ 36

Das Ende der alten Kirche ist nicht gleichzusetzen mit dem Ende der Religion. Troeltsch hält den Versuch, an der alten 35 36

Troeltsch (1907), 159. Troeltsch (1907), 160.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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Form der Kirche festzuhalten, für unfruchtbar. Auf der anderen Seite konstatiert er die Zersplitterung der bisherigen Kirche, die damit einen Wesenszug der Moderne teilt. Auch die Moderne ist kein einheitliches Prinzip, sondern eine Fülle zusammentreffender Prinzipien. 37 Durch die Zersplitterung sei es nicht möglich, eine einheitliche Charakterisierung der modernen Religion vorzunehmen. Die moderne Welt könne dieser Zersplitterung gelassen entgegensehen, weil hierin keine wirkliche Herausforderung oder Gefahr für sie liege. Die Religion ist nämlich durch die Zersplitterung keine Macht mehr, allenfalls seien sie, die religiösen Konfessionen, Mächte: „Sie sind eine sich gegenseitig aufhebende Vielheit von Organisationen absoluter Alleinwahrheiten, und so erlauben sie eine einheitliche Charakterisierung der modernen Kirche in keiner Weise. Aber dazu kommt noch etwas viel wichtigeres. Sie sind die Gestaltung des religiösen Lebens vergangener Zeiten und in ihrer Vielfalt nebeneinander nur möglich, weil die moderne Welt sich selbst im Grunde mit keiner von ihnen deckt. Die Toleranz, die sie gegen sie übt und vom Staate fordert, ist selbst nur möglich, weil ein starkes Gefühl dafür herrscht, dass jene wohl starke Wahrheitsmomente enthalten mögen, dass sie aber einer freien geistigen Welt nichts mehr anzuhaben vermögen, weil diese stärker ist als sie.“ 38

Neben der alten Religion entwickeln sich nach Troeltsch auch eine außerkirchliche Religion, neue Strömungen und Verbindungen, Freikirchen, Okkultismus, Kunstreligionen. Diese haben keine neue Kraft hervorgebracht, so dass nicht von einer neuen, modernen Religion gesprochen werden könne. Die Konsequenz aus der Zurückdrängung der Religion aus dem Zentrum der Macht müsse zu einer Trennung von Staat und Kirche führen, wie dies bereits in den angelsächsischen Ländern der Fall sei. Diese Trennung von Staat und Kirche sei ein wesentliches Charakteristikum der modernen religiösen Lage. In diesen Entwicklungen erkennt Troeltsch eine schwere Reli37 38

Troeltsch (1907), 161. Troeltsch (1907), 154 f.

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gionskrisis der modernen Welt. Sie werde politisch teilweise dadurch überdeckt, dass politische Strömungen christliche Heilserwartungen verweltlichen, also Religionssurrogate seien: „Die Sozialdemokratie hat ihre Erbsündenlehre in der Lehre von der radikalen Schlechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Erlösungslehre und ihr Jenseits im Zukunftsstaat und ihren Ersatz für Gott in der blind alles logisch vorwärtsschiebenden Entwicklung. Andere haben andere Surrogate, die Menschheitsidee, die Natur, das Gewissen.“ 39

Troeltsch sucht in dieser Gemengenlage nach Perspektiven für die moderne Religion und sieht diese in der Hinwendung zu einem religiösen Bewusstsein, das sich aus den Wurzeln einer Metaphysik des Personalismus und einer Ethik speist, die eine Emporhebung der Person aus aller bloßer Naturgebundenheit zur Einheit mit Gott ins Zentrum stellt. Nur in einer Verbindung der religiösen Kräfte in Gestalt des kirchlichen Glaubens mit der freien Verbindung mit modernen Lebenselementen sieht er eine Zukunftsaussicht für die moderne Religion. Die Religion wird damit eingebettet in den Prozess der Individualisierung und die Religion zunehmend vom religiösen Bewusstsein und seiner Verankerung in der Lebenswelt gesehen, nicht aber in einer dogmatischen Auslegung der Religion durch eine kirchliche Autorität. Die Frage nach der Religion in der modernen Welt führt Troeltsch zu der Einsicht, dass die Moderne Entwicklungen hervorgebracht hat, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Im Gegensatz zu seiner früheren Deutungen erkennt er aber zunehmend eine Ambivalenz in dieser Entwicklung, die damit zusammenhängt, dass er den Glauben an einen Fortschritt als Antwort auf den durch den Historismus aufkommenden Relativismus ablehnt. Hier verbindet sich seine Deutung der Analyse der Moderne mit einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Historismus, der grundsätzlicher auf die Problematik des historischen Nachdenkens eingeht. 39

Troeltsch (1907), 156.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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Troeltsch verabschiedet sich von einem objektiven bzw. objektivierenden Geschichtsbild, das davon ausgeht, dass die Geschichte selber ein sinnvoller Prozess ist, der mit der Kategorie des Fortschritts am besten zu begreifen ist. Er beobachtet zwei Denkwege, die sich mit der Frage des Fortschritts beschäftigen: einen positiv bejahenden und negativ ablehnenden: „Auch noch eine andere vielverhandelte Frage gewinnt von hier aus ihre Antwort, die Frage, ob die moderne Welt ein reiner absoluter Fortschritt sei, der ‚Fortschritt an sich‘, den jede neue Zeit macht, eine höhere Stufe in der beständig aufwärts steigenden Entwicklung, oder ob sie vielleicht der Beginn der Zersetzung und des Verfalls der europäischen Völker sei, ähnlich wie die Reflexionskultur und individualistische Zersetzung den Untergang der Antike eingeleitet hat. Beide Fragen haben ihren Sinn nur unter ganz bestimmten dogmatischen Voraussetzungen.“ 40

Die positive bejahende Denkweise setzt nach Troeltsch voraus, dass man bereits eine nicht beweisbare Theorie voraussetze, nämlich die Theorie, dass es einen unbedingten, kontinuierlichen Aufstieg in der Geschichte gibt. Diese Theorie, der er Jahre zuvor noch zugestimmt hatte, lehnt er nun ab. Es seien die Werturteile einer Zeit, die eine solche historische Denkweise begründeten. Die Geschichte bzw. der Verlauf der Geschichte gäbe eine solche Einsicht nicht Preis: „Dass ein Fortschritt und welcher Fortschritt vorliegt, das geht nicht aus der bloßen Bewegung der Geschichte selbst hervor, sondern muss in beständiger Selbstkritik von jeder Epoche selber erst durch spontane Werturteile festgestellt werden, die nicht mehr aus der Bewegung begründet werden können, sondern die vielmehr erst die Beurteilung der Bewegung begründen. So verliert man jeden Grund, in der modernen Welt den Fortschritt als solchen zu sehen, man wird ihr Großes frei würdigen, aber auch ihre Verluste und Gefahren empfinden.“ 41

Die negative ablehnende Denkweise gründet in einer einseitigen Deutung des durch die Moderne hervorgebrachten Indivi40 41

Troeltsch (1907), 162. Troeltsch (1907), 162.

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dualismus. Hier wird der Individualismus als negative Kraft gedeutet, die alles aus der Überlieferung Stammende zersetze und auflöse. Auch hier bestreitet Troeltsch, dass es einen Individualismus als solchen gäbe, ebenso wenig wie es einen Fortschritt als solchen gäbe. Der moderne Individualismus müsse in seiner ganzen Breite verstanden werden, um ihm gerecht zu werden. Neben den negativen Auswirkungen sieht Troeltsch im modernen Individualismus auch eine positive Kraft, die notwendig gewesen war, um den alten Autoritätsglauben zu zerstören. Erst dadurch könne sich ein neues ethisches Denken entfalten, das im Kern die Besonderheit des einzelnen betont. Und so urteilt er diesbezüglich über die moderne Welt: „Sicherlich enthält sie vielen auflösenden Individualismus, aber ebenso sicher ist, dass ihre größten Leistungen nur durch eine Befreiung des Individuums zu originaler und autonomer Schaffenskraft möglich waren und dass der ethisch zu Pflichtgefühl und freier Gemeinschaft erhobene Individualismus, der zu möglichster Anteilnahme des Individuums an den höchsten Lebenswerten gesteigerte Gemeinsinn, die Grundforderung jeder Ethik überhaupt ist. Es hieße an den Grundforderungen der Moral verzweifeln, wollte man im Individualismus als solchem das tödliche Kulturgift sehen, statt mit allen Mitteln danach zu streben, die frei und unermesslich schöpferisch gewordenen Naturgewalten des Individualismus ethisch zu bändigen und zu verklären.“ 42

Troeltsch lehnt letzten Endes die Konstruktion der Moderne aus einem einheitlichen Gesichtspunkt ab: „So sind also alle einheitlichen Konstruktionen der modernen Welt aus einem Punkte, sei es nun aus dem Antichristentum, aus dem Individualismus, aus der Diesseitigkeit und Immanenz oder aus dem reinen Fortschritt oder aus dem Zersetzungsprozess gealterter Kulturen, gleicherweise unmöglich.“ 43

Hier schließt sich der Kreis von Troeltschs Denken in seiner Darstellung über das Wesen des modernen Geistes. Die Ana42 43

Troeltsch (1907), 162 f. Troeltsch (1907), 163.

II. Die Ambivalenzen der Moderne

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lyse der modernen Welt hatte ihm gezeigt, dass diese nicht einseitig zu fassen ist. Zunehmend erkannte er auch Gefahren in dieser Entwicklung, ohne sich einer pessimistischen oder rückwärtsgewandten Denkweise hinzugeben. Die Errungenschaften und Realitäten der Moderne fasste er so zusammen: „Es sind im Wesentlichen folgende: die Weiträumigkeit aller Staaten und Verhältnisse verbunden mit dem alles ausgleichenden Verkehr und der steigenden Bevölkerungsmasse; der das Individuum möglichst an den Lebenswerten beteiligende und dabei verselbständigende Individualismus; die vor allem in der positiven Weltgestaltung tätige und mit den religiösen Gütern die kulturlichen verschmelzende Diesseitigkeit; die ungeheure Steigerung der Kritik und des kritischen Reflexionsvermögens; die gewaltige technische Naturbeherrschung und ihre Ausnutzung in der rationellen Wirtschaft; die im Menschen wesentlich das Gute suchende und entwickelnde Humanität; der gewaltige alles umklammernde Aufbau des Staates im Zusammenhang mit möglichster Volkseinheit; die allgemeine Weltanschauung der Kontinuierlichkeit und inneren Lebenseinheit des Weltprozesses, schließlich und vor allem die allen rein äußerlich supranaturalen Bindungen entgegengesetzte Freiheit der innerlich empfundenen Notwendigkeit oder die Autonomie im Sollen und Denken.“ 44

Um diese Entwicklungen positiv zu gestalten, stellt Troeltsch die Forderung, sich mit Augenmaß und ethischer Zurückhaltung an ihnen zu beteiligen. Seine umfassende Deutung der Moderne rückt das Nachdenken über Geschichte über die Schranken des Historismus des 19. Jahrhunderts hinaus. Anders als Hegel und Droysen sucht er nicht mehr eine verklärende Deutung der Moderne, die die umwälzenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft außer Acht lässt. Als Theologe öffnet er sich den ökonomischen und sozialen Veränderungen seiner Zeit und erkennt, dass eine moderne Theologie nicht mehr zu den Dogmen der Überlieferung zurückkehren kann. Indem er die historische Sichtweise als Fundament der Moderne erkennt, deckt er zweierlei auf: Geschichte, die histori44

Troeltsch (1907), 164.

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D. Ernst Troeltsch

sche Sichtweise, ist nicht nur eine neue Form des Denkens über Mensch und Welt, sondern sie ist gleichzeitig eine wesentliche Grundlage dieser Sichtweise. Das historische Denken ist der Grund seiner eigenen Denkweise. Hierin unterscheidet sich die Moderne von den geschichtlichen Entwicklungen zuvor. Diese kannten kein umfassendes historisches Denken als Grundlage des Welt- und Menschenverständnisses. Somit ist die Moderne mit der Hervorbringung des historischen Denkens durch dieses selbst eine neue Welt- und Menschensicht. Moderne und Historismus sind untrennbar miteinander liiert. Mit dieser Einsicht wendet sich Troeltsch zunehmend den Ambivalenzen dieser Entwicklung zu. Er erkennt die Gefahr der Relativierung bzw. des Relativismus, sieht aber keine grundsätzliche Möglichkeit, dieser bzw. diesem durch eine umfassende Fortschrittsidee zu begegnen. Den Gefahren der Historisierung des Lebens setzt er eine ethische Grundhaltung entgegen, die von der Notwendigkeit ausgeht, die Moderne als unumkehrbaren Prozess anzuerkennen, die ihr innewohnenden Chancen zu erkennen, ohne sich den Verführungen eines neuen Weltpessimismus zu ergeben: „Wir bedürfen in erster Linie einer ethischen Begründung und Verklärung unseres Individualismus und des Verständnisses für die ethischen Werte, die in freiwilliger Über- und Unterordnung zum Zweck des Ganzen liegen. Wir bedürfen einer Zügelung der Kritik, die nicht zum Sport und Selbstzweck werden darf, sondern nur als Mittel wirklichen Wahrheitssuchens und -Gewinnes einen Sinn hat; damit zugleich einer Ermäßigung des Reflexionswesens durch körperliche und geistige Gesundheit, des Verständnisses für die Unersetzbarkeit alles instinktiv Geschaffenen durch Verstandesprodukte, der Einschränkung des Wissens auf brauchbares Wissen ohne Vollständigkeitswahn, einer Erleichterung unseres Schulsackes. Wir bedürfen der sozialen Versöhnung um jeden Preis, die die getrennten Heerlager wieder zum Verständnis gemeinsamer Werte zusammenführt und die mit starken Lähmungen des Kapitalismus und Einschränkungen der Staatsallmacht nicht zu teuer erkauft ist. Wir bedürfen eines vertieften Sinns für das Irrationale des Daseins, für die Notwendigkeit von Kampf und Leiden, für die Unbegreiflichkeit der letzten Gründe und damit vor allem Ehrfurcht vor dem

III. Kritik am historischen Denken

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Unerforschlichen. Wir bedürfen einer ethischen Läuterung und Vertiefung, die nicht das natürliche Subjekt sich ausleben lässt, sondern es an die Notwendigkeit der Selbstbegrenzung und Läuterung sowie an die sittlichen Aufgaben der Gemeinschaft mahnt. Wir bedürfen schließlich und vor allem der Religion, die den Menschen nicht alles aus sich selbst herausspinnen lässt bis zur Erschöpfung, sondern ihn mit einem festen Lebensgrund verbindet, aus dem ihm mit der Frische des Lebens auch immer neue Ideen und Ziele kommen.“ 45

III. Kritik am historischen Denken

1922 veröffentliche Troeltsch den Aufsatz Die Krisis des Historismus. Hier setzte er sich intensiv und ausschließlich mit dem Historismus auseinander. Der Aufsatz fällt in die Nachkriegszeit in Deutschland und erläutert die Krisenhaftigkeit der eigenen Zeit und grundsätzliche Probleme des Historismus. Historismus ist nach Troeltsch ein Begriff, der in der Nachkriegszeit unter Verruf geraten ist. Eine allgemeine Ablehnung der Moderne spiegele sich in einer Abwendung vom Historismus, der für die Krisen der Gesellschaft verantwortlich gemacht werde: „Das Wort ‚Historismus‘ ist im heutigen Sprachgebrauch zunächst ein Scheltwort, eine Entladung von allerhand Beschwerden gegen historische Belastung, kompliziertes historisches Denken und die Entschlusskraft schwächende historische Bildung. Es gehört in diesem Sinn in die allgemeine heutige Rebellion gegen die Wissenschaft überhaupt hinein, in der sich die Enttäuschung einer leidenden, dem intellektuellen Fortschritt nicht mehr trauende Menschheit Luft macht.“ 46

Im Fokus von Troeltschs Auseinandersetzung mit dem Historismus stand aber nicht die Krisenhaftigkeit seiner Zeit, sondern vielmehr die durch den Historismus entstandene umfassende Historisierung des Lebens und Denkens. Die allgemeine 45 46

Troeltsch (1907), 165. Troeltsch (1922), 246.

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D. Ernst Troeltsch

Frage nach der Krisenhaftigkeit der Zeit rückte nicht ins Zentrum seiner Ausführungen: „Aber nicht von dieser allgemeinen Frage möchte ich reden, sondern von der besonderen inneren Krise der Historie, die nicht erst aus der allgemeinen Erschütterung der Geister, sondern aus dem inneren Gang und Wesen der Historie selbst entspringt. Da zeigt dann das Wort ‚Historismus‘ sofort einen anderen, einen sachlichen Sinn. Es bedeutet dann die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Kunst sind in den Fluss des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich.“ 47

Troeltsch ging es um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Historismus und dessen Folgen für das moderne Denken. Während sich Troeltsch in seinen früheren Aufsätzen zuerst positiv, dann kritisch mit den – auch durch den Historismus – hervorgetretenen Veränderungen beschäftigte, fokussiert er jetzt sein Denken auf die dahinterliegende Problematik: einem historischen Denken, das nicht nur die alten Wahrheiten der Überlieferung, sondern auch die aus der Aufklärung stammenden allgemeinen Vernunftwahrheiten außer Kraft setzt: „Der Historismus in diesem Sinne ist die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet. Das geistige Leben ist nicht mehr Teilhaber an überirdischen und übersinnlichen, festen, unveränderlichen Wahrheiten, auch nicht mehr Erhellung der allgemein-menschlichen Vernunft- und Commonsense-Wahrheiten gegenüber den Irrungen des Aberglaubens und der Phantastik, nicht mehr die Erforschung des Naturrechts und ein 47

Troeltsch (1922), 246 f.

III. Kritik am historischen Denken

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darauf begründeter Umbau von Staat und Gesellschaft, sondern es ist ein kontinuierlicher, aber sich stets verändernder Lebensstrom, in dem sich stets nur vorübergehende, den Schein der Dauer und Eigenexistenz vortäuschende Wirbel bilden.“ 48

Das Naturrecht als Grundlage eines aus der Aufklärung stammenden Vernunftdenkens, das sich der Zeitlichkeit entzieht, sieht er als überwunden an: „Das Naturrecht, das geschichts-philosophische Surrogat der Aufklärung, das bis zu Kant und Fichte reicht, ist – wenigstens in Deutschland – überwunden.“ 49

Troeltsch spielt hier auch auf die Auswirkungen des Historismus auf die verfassungsrechtlichen Folgen in der Weimarer Republik an. Die historische Schule hatte die Idee einer über der Zeit stehenden Rechtsnorm, wie sie das Naturrecht formuliert hatte, abgelehnt. Wie alle anderen Phänomene musste nach Deutung der historischen Schule auch das Recht historisch abgeleitet und aus der Geschichte erklärt werden. Aus der Vernunft abgeleitete Rechtsnormen als Korrektiv des positiven Rechts wurden abgelehnt. Dies war im Kern eine Argumentation, die es im 19. Jahrhundert ermöglichte, die aus der Französischen Revolution formulierten universellen Forderung ablehnen zu können, und die Besonderheit der staatlichen Entwicklung in Deutschland dem französischen Modell gegenüberzustellen. Auch hier wirkte der Historismus mit seiner Forderung nach einer geschichtlichen Vernunft gegen die Tendenzen eines normativen Rechtsdenkens, das sich unmittelbar aus der Vernunft ableiten ließ. Troeltsch erkennt zwei Hauptströmungen des modernen Denkens, die sich, meist unvermittelt, gegenüberstehen: den Historismus und den Naturalismus. Der Naturalismus ist die Zusammenfassung der modernen Naturwissenschaften, die da48 49

Troeltsch (1922), 247. Troeltsch (1922), 249.

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von ausgehen, „die gesamte Körperwelt einschließlich der Lebens-, der Nerven- und Gehirnprozesse nach den allgemeinen naturwissenschaftlichen Prinzipien der Naturkausalität zu erforschen“. 50 Die Biologie und die Psychologie nehmen als einzige Wissenschaften eine Zwischenrolle ein, indem beide Denkformen berücksichtigen werden. Der Historismus als die sich später entwickelnde Wissenschaft hatte im 19. Jahrhundert ihren Durchbruch, und sich seitdem zu einer eigenständigen wirkungsvollen Wissenschaft entwickelt: „Die Historie ist von den beiden wissenschaftlichen Großmächten die spätere und hat ihre Selbständigkeit der Naturalisierung der Philosophie und des Bewusstseins erst abkämpfen müssen, hat aber dann, seit die Aufklärungshistorie und Kritik im 19. Jahrhundert zu den großen historischen Forschungen aufgeblüht ist, einen selbständigen Rang und eine ungeheure Wirkung erlangt trotz aller verbleibenden Grenzstreitigkeiten und der wechselnd bald mehr hierhin bald mehr dorthin gerichteten Gunst der Zeitlagen.“ 51

Beide Denkrichtungen haben zu einer je eigenen Problematik geführt. Der Naturalismus muss nach Troeltsch in letzter Konsequenz auch den Menschen naturalistisch erklären. Damit wird die menschliche Fundierung durch Religion, Kultur, Kunst radikal in Frage gestellt und muss am Ende zu der Einsicht führen, dass der Mensch, der menschliche Geist, nur naturwissenschaftlich erklärt werden kann. Der Historismus mit seiner Forderung, Mensch und Welt geschichtlich zu verstehen, führte im Laufe der Neuzeit zu einer Infragestellung von Überlieferung und Tradition. Darüber hinaus wirke der Historismus politisch, indem er für den Kampf gegen das mittelalterliche Denken, den rationalistischen Geist der Aufklärung und im 19. Jahrhundert für die Begründung einer deutschen Staatlichkeit eingesetzt wurde:

50 51

Troeltsch (1922), 248. Troeltsch (1922), 248.

III. Kritik am historischen Denken

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„Zuerst diente die Historie der Kritik und Wegräumung der mittelalterlich-kirchlichen Kultur. Dann schuf sie in der Romantik in der von ihr inspirierten großen Historie das Gegengewicht gegen den revolutionär-rationalistischen Geist [...] Darauf diente sie den großen nationalen Einigungsversuchen der europäischen Völker und ihrer nationalen Selbstvertiefung.“ 52

Durch den Weltkrieg ist nach Troeltsch der Glaube an die im Historismus angelegte Fortschrittsgläubigkeit erschüttert worden. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts habe sich der Historismus mit Hegels Idee des Fortschritts allgemein verbinden lassen. Dieser Fortschrittsglaube sei nun erschüttert, ohne dass der Historismus darauf reagiere oder eine Antwort auf die Krise geben würde: „Es ist Hochkonjunktur für die Geschichtsphilosophie geworden, während die fachmäßige Forschung sich von alledem grundsätzlich zurückhält und ihre alten Problemstellungen und Interessen, ihren alten Objektivitätsstandpunkt und zumeist auch die alten Wertmaßstäbe festhält. In dieser Lage empfindet die Zeit den allgemeinen historischen Relativismus und die liebevoll kritische Erforschung der einzelnen Strecken des Lebensstromes wie eine Qual oder eine Sinnlosigkeit und überträgt ihre allgemeine Enttäuschungsgefühle gegenüber der Wissenschaft vor allem auf die Historie.“ 53

Die Zeitumstände führten dazu, dass der dem Historismus innewohnende Drang, alles zu relativieren, offen zu Tage trete. Der bis zum Ausbruch des Weltkrieges vorherrschende Optimismus habe dieses Problem auch im Rückgriff auf die Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, die sich in Hegels Geschichtsphilosophie, aber ebenso stellvertretend für den Historismus bei Droysen findet, überdeckt. Dieser gemeinsame Glaube an eine stetige Verbesserung des Lebens sei brüchig geworden. Die Naturwissenschaften könnten dieses Problem durch ihre praxisnahe Anwendung überdecken, technische Ver52 53

Troeltsch (1922), 249. Troeltsch (1922), 250.

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besserungen könnten als solche wahrgenommen werden. Bei Fragen über die Zukunft der Nation gäbe es aber eine solche aus der Praxis kommende positive Wahrnehmung nicht mehr. Deshalb liegen nach Troeltsch die Gründe für die offenkundige Krise des Historismus noch tiefer. Der Wegfall einer übergreifenden Fortschrittsidee, die die einzelnen historischen Tatsachen und Entwicklungen zusammengeführt habe, sei neben dem Wegfall der Fortschrittsidee durch die erkenntnistheoretische Begründung des Historismus in den letzten Jahrzehnten zusätzlich belastet worden. Um gegen die immer erfolgreicheren Naturwissenschaften bestehen zu können, sei der Versuch unternommen worden, die Würde des Geistes und damit der Geisteswissenschaften und des Historismus, erkenntnistheoretisch zu begründen. Diese erkenntnistheoretische Begründung erfolgte durch Dilthey. Dilthey war von dem Ansatz des Historismus zutiefst durchdrungen, sah aber eine fehlende erkenntnistheoretische Begründung als dessen Mangel an. In der Vorrede seiner Schrift Einleitung in die Geisteswissenschaften schrieb er im Jahr1883: „Aber die historische Schule hat bis heute die inneren Schranken nicht durchbrochen, welche ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluss auf das Leben hemmen mussten. Ihrem Studium und ihrer Verwertung der geschichtlichen Erscheinungen fehlte der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewusstseins, sonach Begründung auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen, kurz eine philosophische Grundlegung.“ 54

Dilthey ging es um eine eigenständige philosophisch-wissenschaftliche Begründung der Geisteswissenschaften und diese konnte sich nicht an den Naturwissenschaften orientieren, wenn sie ihre Eigenständigkeit behalten sollten. In der Tradition Kants sah er den einzigen Weg, eine solche erkenntnistheoretische Begründung durchzuführen, in einer Fundierung der Geisteswissenschaften in einer Analyse des Bewusstseins, also nicht 54

Dilthey (1962), XVI.

III. Kritik am historischen Denken

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im Gegenstand der Geisteswissenschaften, sondern im Organ ihrer Hervorbringung: „Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewusstseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken, und ich habe den Mut, dass kein Leser sich der Beweisführung in diesem Punkte entziehen wird. Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewusstseins.“ 55

Hieran knüpft Troeltsch in seiner Analyse der Krise des Historismus an. Diese Hinwendung zu einer Bewusstseinsphilosophie habe den Gegenstand der Geschichte noch weiter relativiert. Während die dem Historismus inneliegende Tendenz des Relativismus durch eine Fülle von Einzelforschungen und der zunehmenden Spezialisierung den Relativismus bereits fördere, verstärke die bewusstseinstheoretische Fundierung des Historismus den Eindruck der starken subjektiven Färbung der jeweiligen Geschichtsdarstellung durch den Historiker: „Was in diese darstellende Historie eingeht, ist ein winziger Ausschnitt der völlig unerreichbaren und unzählbaren tatsächlichen Vorgänge, die sich zuletzt ihrerseits aus Komplikationen unendlich vieler Einzelvorgänge und ihrer Zusammenhänge mit Natur und Körper zusammensetzen. Es haben also alle in die Historie eingehenden Tatsachen für sie wesentlich repräsentative oder stellvertretende Bedeutung. Nicht der Einzelvorgang als solcher ist es, der hier in Betracht kommt, sondern die in ihm enthaltende Hindeutung auf in ihm sich offenbarende allgemeine Tendenzen und Strebungen, die durch ihn sichtbar und auch zugleich durch ihn wieder bestimmt werden.“ 56

Letzteres, die Tendenzen und Strebungen, die durch den Historiker bestimmt werden, erwecken Troeltschts Aufmerksamkeit. Während es Dilthey darum ging, die Geisteswissenschaften in einer ihnen zukommenden Weise objektiv zu begründen, erkennt Troeltsch die subjektivistischen Tendenzen dieser Fun55 56

Dilthey (1962), XVII. Troeltsch (1922), 251 f.

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dierung. Jede historische Darstellung ist individuell gefärbt und trägt die Handschrift des Historikers, der die Sinneinheiten des von ihm untersuchten Gegenstandes intuitiv zusammenführt: „Fasst man aber diese Tendenzen und Allgemeinheiten ins Auge, so sind sie überhaupt nicht exakt, sondern nur intuitiv und verstehend als Sinneinheiten erfassbar. Diese Sinneinheiten sind unbegrenzbar verschieden und jedes Mal individuell gefärbt, verlangen also eine ungeheure Empfänglichkeit und Kongenialität, Lebens- und Sachkenntnis des Historikers, sobald der einen größeren Zusammenhang bearbeitet. Und nur die großen Zusammenhänge sind von allgemein menschlicher Bedeutung und verleihen der Historie einen einheitlichen Einfluss auf Bildung und Lebensorientierung.“ 57

Um dieser subjektiven Färbung zu entgehen und die Wissenschaftlichkeit der Geschichte aufzuweisen, ziehen sich nach Troeltsch immer mehr Historiker auf Spezialgebiete zurück, die für den Fachmann interessant, aber für den Laien unerheblich seien: „Auf der einen Seite ist die Folge das immer mehr sich zerteilende Spezialistentum, das um der Exaktheit willen immer kleinere und gleichgültigere Gegenstände bearbeitet, um mit sicherer, den Naturwissenschaften ebenbürtiger Methode strenge Erkenntnis, eigentliche Wissenschaft zu gewinnen. Bei der Bedeutung der Philologie für solche Exaktheit läuft es auf eine Philologisierung der Historie hinaus. Der Zustand, der damit eingetreten ist, bedarf keiner näheren Beschreibung. Die Seminarhistorie ist ein Triumph der Wissenschaft, aber sie interessiert nur Fachleute, und zwar jeweils nur solche des gleichen engeren Gebietes.“ 58

Neben diesen Auswirkungen der erkenntnistheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften, in denen Troeltsch eine Öffnung subjektiver Darstellungsmöglichkeiten sieht und die zu einer Spezialisierung der Historiker führe, die den Laien nicht mehr ansprächen, sieht er einen weiteren Aspekt, der zur Krisis des Historismus beitrage: die Einführung des so57 58

Troeltsch (1922), 252. Troeltsch (1922), 252.

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ziologischen Elementes in die historische Forschung. Troeltsch erkennt in diesem durchaus einen positiven Gewinn für die Geschichtswissenschaft, gleichzeitig werde damit die Materie noch komplizierter. Troeltsch führt die zunehmende Bedeutung soziologischer Fragen, der Soziologie, auf die industriellen, technischen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zurück. Diese Thematik sei zwar von einigen Historikern bereits aufgegriffen worden, aber die soziologische Betrachtungsweise erweitere grundsätzlich den historischen Horizont und führe zu ganz neuen Betrachtungsweisen. Dem Marxismus gesteht Troeltsch zu, durch seine Betonung der Ökonomie und des Sozialen neue, wesentliche Einsichten zu vermitteln: „Man kann die materialistischen oder halbmaterialistischen Voraussetzungen des Marxismus gründlich beseitigen, seine soziologische Lehre bleibt von größter Bedeutung und verlangt den vielseitigsten Ausbau. Damit werden alle historischen Probleme noch ganz ungeheuer viel komplizierter. Das Spiel und Wiederspiel ökonomisch-sozialer, geistigkultureller und politisch-rechtlicher Elemente wird in jedem Einzelfall eines großen Kulturzusammenhangs eine jedes Mal besonders zu lösende Aufgabe.“ 59

Die Synthese der marxistischen Geschichtsauffassung lehnt er ab, da sie die Komplexität der Geschichte auf unzulässige Weise vereinfache. Auf der anderen Seite werde die Geschichtsforschung durch die sich aus der Realität aufdrängenden Fragen noch komplexer und komplizierter. Dies verstärke die ohnehin schon bedenkliche Spezialisierung der Historie, die kaum noch in der Lage sei, Konstruktionsmöglichkeiten für eine große Synthese bereitstellen zu können. Troeltsch sieht dies aber, trotz aller Bedenken, für notwendig an, wenn die Historie wieder eine Relevanz im öffentlichen Leben haben wolle. Den meisten Historikern wirft er vor, sich vor dieser Aufgabe

59

Troeltsch (1922), 255.

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D. Ernst Troeltsch

zu drücken und den Blick rückwärtsgewandt auf alte Fragestellungen zu richten: „Aber gerade vor solcher Riesenaufgabe schreckt die gegenwärtige Historie begreiflicherweise zurück und flüchtet sich lieber in ihren älteren Stil der reinen Kontemplation der Fülle des Historischen und der patriotischen oder geistesgeschichtlichen Konstruktion, in Anschauung vom Werden der europäischen Humanität oder vom Werden des modernen Staates oder von Kunst- und Literaturgeschichte. Damit entsteht dann der Eindruck ihres vielleicht wesensnotwendigen Versagens vor den Aufgaben der Gegenwart, oder die Probleme fallen den Dogmatikern, Ästheten und Nationalökonomen in die Hand.“ 60

Neben dieser Verweigerung der Historiker, sich den Einsichten und Problemen der Gegenwart zu stellen und den Mut zur vereinheitlichenden Synthese zu haben, sieht er einen dritten Aspekt für die Krise des Historismus. Der dritte Aspekt in Troeltschs Analyse der Krisis des Historismus betrifft die Erschütterung des ethischen Wertesystems. Das ethische Wertesystem des modernen Geistes wurde durch den Glauben an Fortschritt und Vernunft bestimmt: „Das herkömmliche Wertesystem seit dem Zusammenbruch des christlich-theologischen und des dynastisch-absolutistischen war das des humanitären Fortschritts, der Autonomie der Vernunft, die in Recht, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst sich aus eigenem Vermögen und eigenem Triebe entfaltet und die moderne Kultur der Menschheitsangelegenheit aus sich hervorbringt. Dieses Wertesystem konnte man mehr international-universalgeschichtlich oder mehr national-individualisierend in seiner Bedeutung für Sammlung, Einheit und Selbstdurchsetzung des nationalen Staates auffassen. Das erstere war die Neigung des kosmopolitischen, an der Selbstvervollkommnung interessierten achtzehnten Jahrhunderts, das zweite die des neunzehnten, das auf die Erfahrungen der französischen Revolution und des Napoleonismus zurückblickte.“ 61 60 61

Troeltsch (1922), 256. Troeltsch (1922), 256.

III. Kritik am historischen Denken

121

Diese Kulturideale, die auf den Historismus einwirkten, indem sie ihm eine positive ethische Fundierung gaben, wurden durch Darwinismus, Ethnologie und evolutionistisch-psychologische Erklärungen aller Werte erschüttert. Es entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten und dann verstärkt durch den Weltkrieg eine Skepsis gegenüber der Humanitätsidee, die als Heuchelei enttarnt und durch Rassenideologien überdeckt wurde. Schopenhauers und Nietzsches Angriffe auf die Werteordnung der bürgerlichen Gesellschaft und der Moderne wurde von Kritikern jedweder Richtung aufgegriffen. Damit begann der für die Historie wichtige Konsens einer positiven Werteordnung zu bröckeln. Der Polytheismus der Werte wurde zum neuen Schlagwort in der öffentlichen Debatte. Die Vorstellung einer verbindlichen, nicht aus den Subjekten hervorgebrachten Werteordnung wurde ersetzt durch die Vorstellung, dass alle Werte letztendlich subjektiv sind und sich jeder für seine Werte entscheiden muss. Daraus entsteht ein Wertekampf aller gegen alle und eine „Anarchie der Werte und die Notwendigkeit rein persönlicher, außerwissenschaftlicher Stellungnahme. Alles kämpft gegen alles: die Kultur und der Fortschritt, die Skepsis und das Ästhetentum gegen die Christlichkeit, vor allem gegen den lange Zeit mit der Kultur identifizierten Protestantismus, die Realisten, Modernen, Völkischen und Expressionisten gegen die Antike, die Verehrer des Christentums untereinander und gegen die moderne Kultur, die dionysischen und apollinischen Erneuerer der Antike gegen Christentum und Moderne zugleich. Kampf gegen Kapitalismus und Bürgertum, gegen Imperialismus und Krieg, Kampf für Nation, Staat, Krieg und Realpolitik, für eigenständig nationale oder für internationale und pazifistische Kultur, für Wirtschaft gegen Politik und für Politik gegen Wirtschaft!“ 62

Der Historismus habe durch seinen tendenziellen Relativismus diese Wertekrise mit verursacht und hervorgebracht. Er habe, verstärkt durch die Verunsicherungen, die durch und nach dem Weltkrieg aufgetreten sind, an dieser Zersetzung mit62

Troeltsch (1922), 257 f.

122

D. Ernst Troeltsch

gewirkt und sei in letzter Instanz dafür verantwortlich, da die alten, nun bekämpften Werte selber durch die Historie hervorgebracht worden seien: „Aber da diese Werte selbst alte historische Werte sind und in Entstehung und Gehalt vor allem von der Historie uns vorgeführt wurden, so ist das zugleich eine Krise der Historie selbst in ihrem innersten Gefüge. Sie hat durch den von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles verstehenden Relativismus die Erschütterung der alten Werte angebahnt [...] Indem sie selber sich dem bloßen Alles-Verstehen ergab, hat sie sich in einen inneren Widerspruch hineingearbeitet, und dieser Widerspruch wurde in den Sturm des allgemeinen Lebens hineingerissen [...] Das alles zusammengenommen, ist eine wirkliche Krisis des Historismus.“ 63

Troeltsch sieht diese Krisis nicht als ein Phänomen, das durch die Krise der Gegenwart hervorgerufen ist, sondern eine Krise, die im Historismus selbst begründet ist. Die im Historismus, in der historischen Denkweise, angelegte Relativierung aller Phänomene, wurde im 19. Jahrhundert überdeckt, weil diese Denkweise gleichzeitig die Geschichte bzw. zentrale Entwicklungen in der Geschichte als einen objektiven Entwicklungsprozess angesehen habe, der diesen Relativismus aufhob. Der Wegfall eines allgemein verbindlichen Fortschrittsglaubens habe die Annahme bzw. den Glauben an solche objektiven Entwicklungsprozesse erschüttert. Nun entfalteten sich die im Historismus inneliegenden Tendenzen des Relativismus, die durch die Industrialisierung und die damit einhergehenden neuen Untersuchungsaspekte – Gesellschaft, Ökonomie – weiter verschärft würden. Der Historismus spiegele nicht die Krise der Gegenwart, sondern sei ihre eigentliche Wurzel. Die – auch – durch den Historismus aufgetretene Krise der Gegenwart drängt aber über den Historismus hinaus und wird zu einer tiefen Krise der Zeit:

63

Troeltsch (1922), 258 f.

III. Kritik am historischen Denken

123

„Vor allem ist doch gerade für die Historie die Krisis gar keine in den Ereignissen begründete, sondern eine logisch in der Sache liegende [...] So versteht man die heutige Krisis des Historismus als eine innere tiefe Krise der Zeit überhaupt. Es ist kein bloß wissenschaftliches, sondern ein praktisches Lebensproblem.“ 64

Troeltsch schätzt die Antworten, die auf diese Krise gegeben werden, negativ ein, da sie die Tendenz hätten, entweder nur positiv oder nur negativ zu sein: radikaler Wissenschaftshass und grundsätzlicher Antihistorismus 65, ein radikaler Rationalismus 66, eine völkische Geschichtsschreibung, die sich gegen das gesamte Westlertum und gegen die englische und amerikanische Welt richtet 67 und die Hinwendung zu einem Rassismus, der das Judentum zum Hauptgegner erkoren habe 68. In dieser Ablehnung des Historismus erkennt Troeltsch den Versuch, die Grundlagen der Moderne zu zerstören: „Der grundsätzlichste Ausweg ist freilich die Verneinung der ganzen kulturellen und politischen Entwicklung seit dem Ausgang des Mittelalters, die zu den heutigen geistigen, sozialen und politischen Krisen geführt hat, der Verzicht auf die Gewinnung von Weltanschauung und Lebensmaximen aus freier Betrachtung der Geschichte und auf die rationale Gestaltung der Gesellschaft aus frei schaffender Vernunft. Die Rückkehr zur kirchlichen Autorität und einer modernisierten städtischen Lebensordnung scheint allein die unheilbaren Probleme der Moderne lösen zu können.“ 69

Troeltsch sieht die Gefahr, dass in der Abkehr von den Errungenschaften der Moderne geistige Tendenzen in den Vordergrund rücken, die Dogmen und Sicherheit versprechen, die es nicht mehr geben kann. Die Verweigerung gegenüber den Ent64 65 66 67 68 69

Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch Troeltsch

(1922), (1922), (1922), (1922), (1922), (1922),

259 f. 260. 261. 261. 262. 262.

124

D. Ernst Troeltsch

wicklungen der Moderne sei ein Rückfall und sei „der stärkste Ausdruck der weitgreifenden Verzweiflung an der Vernunft und Wissenschaft und ein Geschichtsbild auf Grund von Visionen- und Geheimoffenbarungen.“ 70 Die Antwort auf die Krisis des Historismus sieht Troeltsch in einer neuen Fundierung des historischen Denkens durch eine Berührung von Historie und Philosophie. Es gehe nicht um die Imprägnierung historischer Facharbeit durch die Philosophie, sondern um ein Überdenken des Bildungsertrags der Historie, der auf das Mögliche und Erreichbare begrenzt werden müsse: „Das Problem der historischen Lebenskenntnis im Verhältnis zu gegenwärtiger Schöpfung und Kultursynthese muss mit allem Nachdruck gestellt und die universal-geschichtliche Unterlage für solche Gegenwartsschöpfung mit aller Kraft und Tiefe neu gestaltet werden. Das sind Aufgaben nicht der Historie selbst, sondern der auf die Historie bezogenen Philosophie, Antworten auf Fragen, die freilich aus der Historie selbst heraus entspringen.“

Nochmals betont Troeltsch, dass die Historie bzw. der Historismus die Probleme der Gegenwart hervorgerufen habe, aber er sieht in einer einseitigen Abwendung von dieser Denkweise keine Antwort auf die dadurch hervorgerufene Krise. Nochmals stellt er dem Bild des modernen Menschen das des Mittelalters gegenüber, um deutlich zu machen, worum es in der Auseinandersetzung um den Historismus geht. In der grundsätzlichen Ablehnung einer modernen Denkweise, wozu der Historismus gehöre, sieht er die Gefahr eines Rückfalls hinter die historische Vernunft: „Hier scheiden sich die grundsätzlichen Lebenseinstellungen, der moderne Mensch, der die Freiheit und Beweglichkeit des Gedankens für ein wesentliches Element der in tausendfachen praktischen Verwicklungen sich abspielenden Kultur hält, und der mittelalterliche Mensch, der seine Kraft und Stärke in dogmatischer Gebundenheit und Ehrfurcht hat und

70

Troeltsch (1922), 263.

III. Kritik am historischen Denken

125

dafür dann den Rest frei spielen lassen kann. Wohl möglich, dass uns auf dem Kontinent eine mittelalterliche Rückbildung bevorsteht [...].“ 71

Die Moderne hat nach Troeltsch zu einer grundsätzlichen neuen Weltsicht und Weltdeutung geführt. Das mittelalterliche Weltbild, geprägt durch Dogmen und Autoritätsglauben, sei in der Moderne erschüttert worden. Der Historismus habe einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung des mittelalterlichen Weltbildes geleistet. Gleichzeitig habe der Historismus in der Überwindung des mittelalterlichen Weltbildes im Laufe seiner Entwicklungen die ihm inneliegende Problematik der Relativierung aller Lebensverhältnisse offenbart. Dieser Relativismus konnte in einer ersten Phase durch einen Fortschrittsglauben überdeckt werden. Durch die Krise der Gegenwart seien aber die Tendenzen des Historismus offengelegt worden. Kritiker des Historismus sähen die Überwindung der gegenwärtigen Krise in der Überwindung des Historismus. Diese Überwindung lässt nach Troeltsch nur zwei Wege offen: eine Abwendung vom wissenschaftlichen Denken oder eine einseitige Überhöhung; Rückkehr in eine vormoderne Zeit oder ein radikaler Rationalismus, der in letzter Konsequenz den Historismus im Naturalismus auflöst. Beide Wege sind für Troeltsch keine Alternative. In der Krisis des Historismus deckt Troeltsch die grundsätzlichen Probleme der historischen Denkweise auf. Die intensive Auseinandersetzung mit der Moderne öffnet ihm aber auch die Augen für die der Moderne inne liegenden positiven Entwicklungen. Diese beschreibt er nicht einseitig, er erkennt ihre Zwiespältigkeit, ohne der Versuchung zu erliegen, dieser durch eine einseitige Antwort entgehen zu können. In der Entwicklung von Troeltschs Denken in Bezug auf den Historismus können wir erkennen, wie sich am Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen die Einstellungen gegenüber dem Historismus verändert 71

Troeltsch (1922), 264.

126

D. Ernst Troeltsch

und die Bedeutung der Industrialisierung und deren Folgen in den Blick des historischen Denkens gelangt sind. Anders als zahlreiche Historiker hatte Troeltsch einen offenen Blick für diese Veränderungen. Seine Analyse des modernen Geistes berücksichtigt die Soziologie und die Erweiterung des historischen Denkens auf ökonomische, gesellschaftliche und soziale Fragen. Darin spiegelt sich eine Modernität seines Denkens, die man im Hauptstrom des historischen Denkens in der Zeit der Weimarer Republik vermisst. Max Weber, der sich ebenfalls den Entwicklungen der Moderne in seiner ganzen Komplexität öffnete, blieb ein Außenseiter in der Historikerzunft, und der geistesgeschichtliche Historismus blieb weitgehend unberührt von den Fragen und Problemen einer Industriegesellschaft. Troeltsch stellt als Außenseiter der damaligen Historikerzunft mit seiner Analyse des Historismus und der modernen Gesellschaft eine wichtige Etappe dar, aus der wir erfahren können, in welcher Form sich das Nachdenken über Geschichte am Anfang des 20. Jahrhunderts verändert hat. Während im 19. Jahrhundert in der Hauptströmung des Historismus der von Hegel übernommene Fortschrittsglauben die dem Historismus inneliegenden Tendenzen des Relativismus überdeckt hat, tritt nun durch die sich immer stärker durchsetzende Industrialisierung und deren Folgen und die krisenhaften Erscheinungen, ausgelöst durch den Weltkrieg, eine Debatte über die Grundlagen des Historismus ein. Nachdenken über Geschichte wird eingebettet in eine Welt, die nicht mehr an einen objektiven Verlauf der Geschichte oder objektive Mächte in der Geschichte glaubt. Die Herausforderungen durch die Naturwissenschaften führen den Historismus in Bedrängnis. Droysens wissenschaftliche Begründung der Geschichte als Wissenschaft reicht nicht mehr aus, um Geschichte als Disziplin der Geisteswissenschaften erkenntnistheoretisch zu begründen. Die Antworten durch Dilthey, auf die Troeltsch anspielt, wurzeln selber in den Annahmen des Historismus des 19. Jahrhunderts, nämlich darin, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaf-

III. Kritik am historischen Denken

127

ten gäbe. Diese Trennung führte im Historismus dazu, sich gegenüber den Veränderungen einer Industriegesellschaft, die von der Soziologie thematisiert wurden, zu verschließen. In seiner Krisis des Historismus erkennt Troeltsch die Gefahren, die sich aus diesem Denken ergeben. Ein Nachdenken über Geschichte, das sich wichtigen Gegenwartsveränderungen verweigert, projiziert ein rückwärtsgewandtes Bild in die Geschichte und verweigert sich einer vernünftigen Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die Grenzen des Historismus dürfen nach Troeltsch nicht durch eine Ablehnung der Moderne überwunden werden. Anhand von Troeltschs Schriften gewinnen wir so neue Einblicke in das Nachdenken über Geschichte. Seine Auseinandersetzung mit dem modernen historischen Denken legt den Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit offen, die Tatsache, dass die Deutung von Geschichte immer an ein Bild der Gegenwart geknüpft ist. Troeltsch hat sich auch deshalb so intensiv mit der Moderne auseinandergesetzt, weil er nur durch diese Auseinandersetzung einen Standpunkt gewonnen hat, der ihm aufzeigte, aus welcher Perspektive er sich Problemen von Gegenwart und Vergangenheit in seinen historischen Analysen annähern konnte. Die kritische Analyse der Gegenwart war für ihn eine notwendige Voraussetzung, um überhaupt historisch denken zu können. Ähnlich wie Nietzsche verwarf er ein antiquarisches Geschichtsdenken, das sich mit einer Versenkung in die Vergangenheit zufrieden gab und der Gegenwart nichts zu sagen hatte. Ein Zurück hinter den Historismus gab es für Troeltsch nicht mehr. Ein Nachdenken über Geschichte, so können wir Troeltsch zusammenfassen, geht immer von einer Analyse der Gegenwart aus. Letztere darf aber die Deutung der Vergangenheit nicht festlegen. Diese Tendenzen, die er in der marxistischen Geschichtsdeutung sah, lehnte Troeltsch ab. Er sah darin die Fortführung eines metaphysischen Geschichtsdenkens, das aus Hegels Konzeption der Weltgeschichte stammte. Diesem konnte der späte Troeltsch nicht mehr zustimmen. Einen geraden Ausweg aus dem Di-

128

D. Ernst Troeltsch

lemma des Historismus gab es nicht. Dem dogmatischen Denken stellte er am Ende das Vertrauen in die Fähigkeiten von Vernunft und Wissenschaft entgegen: „So lange der Lebensquell unerschöpflich spricht, so lange werden wir auch dem Leben und seiner, die moderne Welt nicht allein, aber grundsätzlich mitbestimmenden Selbstdarstellung als Geschichte im Vertrauen zur Vernunft und Wissenschaft uns hingeben. Das ist Glaubenssache, wie es das mittelalterliche Dogma, solange es naiv war, auch gewesen ist.“ 72

72

Troeltsch (1922), 264 f.

E. Karl Löwith: Die theologischen Voraussetzungen des modernen historischen Denkens Während wir bei Troeltsch die Entwicklung von einer einseitigen Befürwortung bis zu einer Kritik am modernen historischen Denken beobachten können, können wir bei Löwith (1897 – 1973) eine viel grundsätzlichere Kritik am modernen historischen Denken erkennen. Für Löwith war das gesamte moderne Geschichtsdenkens seit dem 18. Jahrhundert mit seinem Fortschrittsglauben nichts anderes als eine säkularisierte Version theologischen Denkens. 1 Das Auftauchen des Begriffs Geschichte im Singular, dem man finalisierende Ziele zuordnete, führte zu einer neuen Wahrnehmung von Welt und Geschichte, in der beide Begriffe zusammengedacht wurden: Weltgeschichte. 2 Die Kritik am historischen Denken, wie sie von Troeltsch durchgeführt worden war, ging Löwith nicht weit genug, da sie die Voraussetzungen der eigenen Kritik nicht ausreichend berücksichtige. Die Entmythologisierung der Heiligen Schrift und die Infragestellung von Dogmen, wie sie Troeltsch durchgeführt habe, teilen durch ihre Bejahung der historischen Methode theologische Denkmuster, die damit eigentlich überwunden werden sollten. Für Löwith musste die Kritik am Historismus die Struktur des theologischen Denkens in seiner Substanz berücksichtigen und offenlegen: „Diese kritische Wendung von der Theologie der Geschichte zur Geschichtsphilosophie ist seit der Aufklärung auch in dem Bereich der kritisch-historischen Theologie zur Herrschaft gekommen und im liberalen Protestantismus stehen geblieben. Das Neue Testament wird 1 2

Wollin (2001), 74. Liebsch (1995), 7.

130

E. Karl Löwith

seit hundertfünfzig Jahren ‚entmythologisiert‘ und profangeschichtlich erklärt. Dieses Prinzip der Aufklärung hat sich auch Troeltsch zu Eigen gemacht, wenn er die Theologie der Geschichte von Augustin bis Bossuet verwirft, weil sie infolge ihrer dogmatischen Bindung dem beweglichen Reichtum der ‚wirklichen‘ Geschichte nicht gerecht werden könne. Das eigentliche Geschichtsverständnis beginne mit Voltaire und Gibbon. Dass die Befreiung vom christlichen Dogma nicht schon voraussetzungslos macht, ist Troeltsch nicht bewusst geworden. Er übersieht, ebenso wie Croce und Dilthey, dass die moderne Historie ohne Offenbarung und Heilsgeschehen, ohne dogmatischen Anfang, Mitte und Ende, die nicht minder unkritische Voraussetzung macht von dem unbedingten Wert des geschichtlichen Prozesses als solchem. Dieser Glaube an die absolute Relevanz der Geschichte rein als solcher ist für das völlig durchhistorisierte Denken des 19. Jahrhunderts die ‚letzte Religion der Gebildeten‘ gewesen. In der antiken und christlichen Welt war die Erfahrung der Geschichte kosmologisch und theologisch geordnet und begrenzt.“ 3

Hier tauchen die Themen auf, die Löwith in den Mittelpunkt seiner Kritik am modernen historischen Denken stellt: die nicht erkannten theologischen Voraussetzungen dieses Denkens, die Vorstellung einer Entwicklung in der Geschichte, die Annahme der Bedeutung der Geschichte per se und die damit verbundene Idee einer menschlichen im Gegensatz zu einer natürlichen Welt. Löwith beklagt, dass das moderne historische Denken das Fragen und Wissen um die Natur des Menschen gar nicht mehr kenne: „Das Wissen um die Natur des Menschen hat sich in unserer Zeit in das Verstehen seiner geschichtlichen Existenz verlegt. Die Überzeugung von einer immer gleichen Natur des Menschen gilt dem modernen historischgebildeten und geschichtlichen Denken als unzeitgemäßer Rückfall in einen längst überwundenen Naturalismus. Schon Dilthey hat in der Konsequenz seines prinzipiell historischen Denkens gesagt, dass der ‚Typus Mensch‘ im Prozess der Geschichte ‚zerschmelze‘ und dass es überhaupt mit der Metaphysik der Substanzen vorbei sei.“ 4 3 4

Löwith (1950), 260 f. Löwith (1957), 259.

I. Welt und Menschenwelt

131

Löwith konstatiert nicht nur eine Infragestellung eines an der Natur orientierten Denkens, wie es für die Griechen noch selbstverständlich gewesen sei, sondern dessen Verneinung und Aufhebung durch das moderne historische Denken, das alles Denken in den Horizont der Zeit stelle. Die fundamentale Kritik, die Löwith am modernen historischen Denken durchführt, zeigt sich in seiner Aussage, dass das 19. Jahrhundert nur einen Historiker aufzuweisen habe, „dessen Betrachtung des menschlichen Geschehens souverän, hellsichtig und weitblickend“ war: Jacob Burkhardt. 5 Im Gegensatz zu anderen Denkern des 19. Jahrhunderts wie Niebuhr, Donoso Cortés, Karl Marx habe Burkhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen auf alle Wünschbarkeiten in seinen historischen Analysen verzichtet. Dieser Verzicht auf ein Ziel oder einen Sinn der Geschichte, die er seinen Deutungen unterliege, mache sein historisches Denken gegenwärtig, da Denken über Geschichte nicht vordergründig mit Gegenwart verbunden würde, sondern im Nachdenken über Geschichte Reflexionen über Gegenwart gemacht werden könnten, die nicht rückwärts auf die Geschichte projiziert würden. Löwiths Kritik am modernen historischen Denken speist sich aus mehreren Quellen: seiner Deutung der antiken Philosophie, den Erfahrungen, die er während seiner Lehrtätigkeit in Japan von 1936 – 1941 gemacht und die ihn mit einem nichthistorischen Denken, dem östlichen Denken, vertraut gemacht hat und seinen Studien über die theologischen Voraussetzungen des modernen historischen Denkens.

I. Welt und Menschenwelt

Nach Löwith ist der Zusammenfall von Welt und Menschenwelt ein Resultat des modernen historischen Denkens. Dieses 5

Löwith (1937), 363.

132

E. Karl Löwith

moderne historische Denken habe dazu geführt, dass für den modernen Menschen der Horizont der Welt mit dem Horizont der Geschichte zusammenfließe. Dass die Welt im Singular gedacht werden müsse und nicht die Geschichte und dass es die eine Welt sei, die vor und über der Geschichte stehe, sei dem modernen Menschen fremd: „Wir existieren und denken heute alle im Horizont der Geschichte und ihrer Geschicke, wir leben aber nicht mehr im Umkreis der natürlichen Welt. Wir wissen ferner um vielerlei geschichtliche Welten, während unsere eigene, alteuropäische zerfällt. Es fehlt uns die eine Welt, die älter und bleibender ist als der Mensch. Diese vor- und übermenschliche Welt des Himmels und der Erde, die ganz und gar auf sich selber steht und sich selbst erhält, übertrifft unendlich die Welt, die mit dem Menschen steht und fällt. Die physische Welt lässt sich ohne eine ihr wesentliche Beziehung zum Dasein des Menschen denken, aber kein Mensch ist denkbar ohne Welt.“ 6

Dieses Zusammenfließen von natürlicher Welt und Menschenwelt sei ein Ausdruck der modernen historischen Denkens, des Historismus, mit dem wir uns „die von Dilthey formulierte These des Historismus zu eigen machen, dass wir keinen Sinn von der Welt der Natur in das Leben des Menschen tragen, weil Sinn und Bedeutung erst mit dem geschichtlich existierenden Menschen entsprängen.“ 7

Löwith stellt diesem modernen Weltverständnis das der Antike entgegen. Dabei geht es ihm nicht um eine historische Argumentation, die in der Antike ein historisches Vorbild sieht, sondern um ein grundsätzlich philosophisches, das sich dem modernen Geschichtsdenken entzieht. Löwith fragt, wie es überhaupt dazu kommen konnte, „dass die Welt in Welt-Geschichte aufging, so dass nun der geschichtliche Weltbegriff auch den natürlichen mitbestimmt und übertönt“. 8 In einer Hinwendung zum Natur- und Weltbegriff der Antike sieht 6 7

Löwith (1960/1), 295. Löwith (1960/1), 304.

I. Welt und Menschenwelt

133

er einen Weg, die Voraussetzungen eines nicht historischen Denkens offenzulegen. Ein solches ‚natürliches‘ Denken sei ursprünglicher, nicht im Sinne eines vorhistorischen Denkens, das nun überholt sei, sondern in einem grundsätzlichen Weltverständnis, das vor jeder Historie stehe und aufzeige, dass das moderne historische Denken seiner eigenen Zeitlichkeit unterliege. Das moderne historische Denken gehe von anthropologischen Voraussetzungen aus, die die natürliche Weltsicht außer Kraft setze, um auch das Natürliche in den Bereich der Geschichte zu holen. Diese Sichtweise speise sich aus Quellen der spätrömischen Antike und des jüdisch-christlichen Denkens, die den Logos, der ursprünglich Teil des Kosmos gewesen war, als der menschlichen und damit geschichtlichen Welt zugehörig erachte. Kosmos und Kosmologie, das Wissen über den Kosmos, sei aber ursprünglich keine anthropologische Sicht der Welt gewesen: „Kosmologie ist ursprünglich keine anthropologische Ansicht der Welt, sondern der physische Kosmos hat selbst einen Logos, und alle Weltauslegung orientiert sich, von Heraklit bis zu Nietzsche, naturgemäß am Anblick der Welt selbst.“ 9

Löwith fragt nach der Vorstellung von dieser Welt als dem eigentlichen Denkhorizont der Philosophie und dem Denken über Mensch und Welt. Diese Vorstellung beinhaltet nach Löwith, dass in ihr die Welt als das Eine und Ganze alles von Natur aus Seienden gedacht wird: „Eine erste und auch letzte formale Bestimmung der Welt ist, dass sie das Eine und Ganze alles von Natur aus Seienden ist. Das Eine ist sie nicht in einem numerischen Sinn, denn sie ist nicht eine unter mehreren anderen, sondern das eine Ganze der einen Welt. Der Sinn ihrer Einheit bestimmt sich aus dem der Ganzheit, die alle nur mögliche Mannigfaltigkeit einschließt, so dass die Welt das All-Eine ist und eins in einem einzigartigen Sinn. Was bindet aber alles Seiende zur einzigartigen Einheit 8 9

Löwith (1960/1), 297 f. Löwith (1960/1), 295.

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E. Karl Löwith

des Universums oder des Weltalls zusammen? Der Zusammenhang, der alles Einzelne und Verschiedene einheitlich als Ganzes zusammenhält, kann nur eine Ordnung sein, in der jegliches einem anderen zugeordnet ist.“ 10

Es besteht nach Löwith ein Zusammenhang zwischen dem Denkhorizont der Welt und einer ihr zugehörigen Ordnung, die aus ihr hervorgeht und nicht vom Menschen gemacht ist oder gemacht werden kann. Welt ist nach diesem Verständnis die natürliche Welt als Urgrund alles Seienden. Über diese natürliche Welt könne der Mensch reflektieren, er könne sie transzendieren, ohne den ursprünglichen Zusammenhang von Welt und Mensch auflösen zu können. Der Mensch sei der natürlichen Welt zugehörig und könne sich dieser nicht entziehen. Für dieses Denken haben die Griechen den Begriff Kosmos gehabt: „Dass die Welt als das Eine und Ganze alles von Natur aus Seienden eine Welt-Ordnung und als ein wohlgeordnetes Ganzes vortrefflich und schön ist, diese Bestimmungen kennzeichnen das griechische Wort für Welt: sie ist ein Kosmos. Ein Chaos ist keine Welt. Auch die Weltgeschichte lässt sich nur dann als ‚eine‘ Welt ansprechen und wissenschaftlich-philosophisch erforschen, wenn sie in ihrem Gang und Fortgang einer bestimmten Regel und Ordnung folgt.“ 11

Löwith geht es um eine fundamentale Kritik am modernen historischen Denken, das nach ihm den Versuch unternimmt, das alte Logos-Denken der Antike, das sich an der Natur orientiert, durch ein neues Logos-Denken, das Mensch und Geschichte in den Mittelpunkt stellt, zu überwinden. Dieser Versuch, in der menschlichen Geschichte einen Logos zu finden, ist für Löwith fragwürdig, da er von Voraussetzungen ausgehe, die diesem Denken verborgen bleiben. So gäbe es zwar durchaus eine moderne Naturwissenschaft, aber die Übertragung dieser Vorstellung auf die Natur mache keinen Sinn: 10 11

Löwith (1960/1), 296. Löwith (1960/1), 297.

I. Welt und Menschenwelt

135

„Es gibt zwar eine moderne Naturwissenschaft und Weltkonstruktion, die eben darum auch notwendig wieder veralten müssen, aber es gibt keine moderne Natur und keine moderne Naturwelt, und fragwürdig ist nicht die historische Aufeinanderfolge der verschiedenen Weltauslegungen, sondern welche von ihnen der Wahrheit der Welt am nächsten kommt.“ 12

Löwith wirft einen Blick zurück auf den antiken Kosmosund Naturbegriff, um in ihnen den ursprünglichen Horizont des Denkens über Welt und Mensch aufzudecken. Er beruft sich auf zwei Schriften, die diesen Denkhorizont offenlegen: die pseudoaristotelische Schrift Über die Welt, die Alexander dem Großen gewidmet war, und Heraklits Fragmente und den griechischen Philosophen Platon. Die pseudoaristotelische Schrift Über die Welt thematisiere als das natürliche Thema der Philosophie, die verborgene Wahrheit über die Welt zu erkunden. Der Verfasser kritisiere den engen Standpunkt desjenigen, der nur den Lebensraum kenne, in dem er sich bewegt, und sich nicht dem Kosmos als dem Ganzen zuwende: „Wer dagegen nur von einem Ort oder einem großen Fluss zu berichten weiß, der ist kurzsichtig und bedauernswert, denn er verschließt sich dem Anblick des Kosmos, der das weitaus Erstaunlichste ist. Von ihm handelt dann im Einzelnen, im Hinblick auf seine Physis und Bewegung, der weitere Inhalt der Schrift: von dem Stoff und der Bewegung der Himmelskörper, von der Erde, vom Meer und den Winden, von Feuer und Erdbeben, vom Pflanzen- und Tierleben. ‚Welt‘ meint in dieser Schrift sowohl Himmelswelt (ouranos) wie Welt (kosmos). Beide Begriffe gehen oft unmerklich ineinander über, doch bedeutet ouranos vorzüglich das Umfassende der äußersten Himmelssphäre und kosmos das in sich Gegliederte und Geordnete des Umfassten. Der Logos des vom Himmel umfassten Kosmos besteht in der verborgenen Waltung und Verwaltung des Weltalls als einer Weltordnung.“ 13

Allerdings gehe es nicht um eine vordergründige Harmonie alles Seienden, sondern ein Zusammenfügen des Widerstreben12 13

Löwith (1960/1), 298. Löwith (1960/1), 299.

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E. Karl Löwith

den wie des Schweren und des Leichten, des Kalten und des Warmen oder des Trockenen und des Feuchten. Der Logos des Kosmos ist die Verbindung der Gegensätze und die daraus hervorgehende notwendige Ordnung der Dinge. Dieser Grundgedanke des Kosmos werde auf die Polis übertragen, denn in einer wohlgeordneten Polis halte die wirksame Einheit der ganzen Verfassung Menschen von ungleicher Art zusammen. Das Politische wird vom Natürlichen, von der naturhaften Ordnung des Kosmos her gedacht. In dieser Ordnung, dem Kosmos, gehe es um das Verstehen des Notwendigen, das einer menschlichen Welt gar nicht zukommen könne. Dies sei die eigentliche und ursprüngliche Aufgabe der Philosophie: „Und die Philosophie hat es, von Aristoteles bis Hegel, mit gar nichts anderem zu tun als dem, was immer notwendig ist, aber nicht mit dem, was einmal so und ein andermal anders ist, weil es nur zufällig zufällt, ohne die Natur oder das bleibende Wesen der Dinge und deren regelmäßige Veränderung zu bestimmen.“ 14

Löwith kritisiert, dass dieses Verstehen der kosmischen Welt dem historischen Denken fremd geworden sei, obgleich wir doch an einem solchen Denken festhielten: „Diese kosmische Welt gilt dem modernen, historisch-gebildeten Bewusstsein als eine geschichtliche Ansicht der Griechen, die darum für uns nicht verbindlich sein könne. Trotzdem unterscheiden auch wir täglich, vor und nach aller Wissenschaft, Himmel und Erde, Geordnetes und Ungeordnetes, Notwendiges und Zufälliges und verlassen uns auf die regelmäßige Bewegung der Himmelskörper und auf die natürliche Ordnung in allem irdischen Entstehen und Vergehen. Auch der moderne Naturwissenschaftler kann nicht umhin, mit einer, wenn auch noch so beweglichen Ordnung der Dinge zu rechnen, wenn er nach Regeln und Gesetzen forscht.“ 15

Trotz neuer Erkenntnisse durch die Naturwissenschaften werde dieses unmittelbare Weltverständnis nicht in Frage ge14 15

Löwith (1960/1), 300. Löwith (1960/1), 300.

I. Welt und Menschenwelt

137

stellt. Die natürliche Ordnung der Dinge, der Unterschied von Himmel und Erde, und die unverbrüchliche Ordnung ihrer Bewegungen bestünden fort. Diese Regelhaftigkeit der natürlichen Ordnung fehle der geschichtlichen Menschenwelt, da es vom Zufallenden kein wirkliches Wissen geben könne. Die Philosophie habe es mit ewigen von der Zeit unabhängigen Fragen zu tun und deren Antworten könne nicht eine Zufälligkeit der Erscheinungen sein: „Und wenn es zutrifft, dass es vom Zufallenden kein wesentliches Wissen und keine Wissenschaft geben kann, dann fragt es sich in der Tat, ob die Pragmata der Geschichte überhaupt ein mögliches Thema der Philosophie sein können und nicht nur ein solches der Historie, welche die Ereignisse schlicht berichtet. Eine Philosophie der Weltgeschichte, wie sie erstmals Hegel, im Ausgang von der Theologie der Geschichte ausgedacht hat, wäre nur möglich, wenn die Geschehnisse der Geschichte einen geschichtlichen Kosmos bildeten und also eine geordnete Welt, in der Schritt für Schritt eine weltgeschichtliche Entscheidung und ein weltgeschichtliches Ereignis mit innerer Notwendigkeit auf das andere folgt.“ 16

Auch Heraklit spreche von der Welt im Sinne des Kosmos, der vor den Göttern existiert und nicht von diesen erschaffen sei, ohne Anfang und Ende. Platon habe diesen Blick auf die natürliche Ordnung der Dinge in seinem politischen Denken nicht verloren. Die gerechte Ordnung der Polis werde in Bezug auf die kosmische Weltdeutung ausgelegt: „Die schon im Altertum aufgeworfene Frage, ob die gerechte Ordnung der Polis ein Abbild der kosmischen Weltordnung ist, oder ob umgekehrt diese nur ein Paradigma der wahren Polis, diese Alternative bleibt nicht in einer unentscheidbaren Schwebe, denn entscheidend ist für den Ordnungsgedanken als solchen der Anblick der Himmelswelt, in deren regelmäßiger Bewegung der Bestand einer übermenschlichen und unverbrüchlichen Ordnung evident ist, wogegen eine vergleichbare Ordnung in der politisch-geschichtlichen Welt so sehr ein Problem ist, dass alles Platonische Denken um ihre Herstellung geht.“ 17 16

Löwith (1960/1), 301.

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E. Karl Löwith

Dieses Logos-Denken stellt Löwith dem sich in der Spätantike herausbildenden Welt-Denken gegenüber, das aus der natürlichen Welt eine menschliche Welt mache. Im griechischen Denken sei der Kosmos selbst Logos gewesen. Der Unterschied zwischen den sterblichen Menschen und dem ewigen Kosmos liege darin, „dass die Gestirne durch ihre Kreisbahnen die Kraft haben, den Anfang an das Ende zu binden, wogegen die Menschen als Einzelne vergehen und nur durch Fortzeugung in einem anderen Geschlecht überleben.“ 18 Dieser Kosmos-Gedanke, der den antiken Naturbegriff enthält, sei Grundlage allen Lebens, auch des menschlichen Lebens, das sich diesem Urgrund seiner Existenz nicht entziehen kann. Bei den römischen Stoikern erkennt Löwith einen Umbruch dieses Denkens. Es entwickelt sich eine Weltflucht und eine Weltverachtung, eine Flucht zu Mysterienkulten und eine Flucht in christliche Katakomben, wo die Menschen sich auf ein überweltliches Gotteserlebnis beziehen, weil sie nur noch Gott und ihre Seele interessiert. Der Bezug auf einen Schöpfergott führt zu einer Neu- und Umdeutung des griechischen Kosmos-Gedankens. Der ewige Logos, der weder Anfang noch Ende kennt, wird ersetzt durch die Schöpfungsidee eines Gottes, die Welt verdankt ihre Existenz der Erschaffung durch einen Gott und in dieser Erschaffung ist zugleich ihr Ende begründet. Der biblische Gott führt zu einem anthropologischen Weltbegriff, der die Grundlage eines geschichtlichen Denkens wird, das in der christlichen Eschatologie eine Heilsgeschichte sieht, die, wenn sie ihre christlichen Voraussetzungen abstreift, zu einer innerweltlichen Heilsgeschichte wird. In der Spätantike vermischen sich unter dem Eindruck des Auseinanderbrechens des Römischen Reiches stoische Lebenshaltung und christliche Heilserwartung. Das Christentum als neue historische Kraft zersetzt den griechischen Kosmos-Gedanken: 17 18

Löwith (1960/1), 303. Löwith (1960/1), 304.

I. Welt und Menschenwelt

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„Das Alte und das Neue Testament kennt nicht den griechisch verstandenen Kosmos. Wenn die Welt eine auf den Menschen abzielende Schöpfung Gottes ist, die sich in dem Gottmenschen Christus erfüllt, dann ist sie als natürliche Welt depotenziert und denaturiert; es fehlt ihr das fundamentale ‚aus sich selbst‘ der Selbstbewegung und Selbsterhaltung der Physis, der Kosmos bedeutet und im Neuen Testament zwar auch noch Weltall im Sinne der Schöpfung, aber vor allem die Oikumene, die Wohnstätte des Menschen, der sich von seinem Schöpfer abgekehrt hat, um sich in der Welt einzurichten, anstatt wie ein Pilger zum Reiche Gottes durch sie hindurch zu gehen.“ 19

Während den Griechen die Idee einer Weltgeschichte unbekannt war, und sie auch keinen Fortschritt in der Geschichte kannten, da sie Geschichte als einen zyklischen Prozess ansahen, in dem sich grundsätzlich nichts verändern kann, zielt der neue christliche Heilsbegriff auf eine schöpferische Welt, die ein Ziel hat. 20 Löwith konstatiert: „Kein griechischer Philosoph hat eine Philosophie der Geschichte erdacht. Es muss zu bedenken geben, dass Aristoteles, der über alles nachgedacht hat – über Tiere und Pflanzen, Erde und Himmel, Metaphysik und Logik, Politik und Ethik, Rhetorik und Poetik –, nicht eine einzige Schrift der Geschichte gewidmet hat, obwohl er der Lehrer und Freund Alexander des Großen war. Was er von seinem weltgeschichtlichen Schüler erbat, waren nicht Berichte über den Feldzug in Asien und Betrachtungen über den Sinn des weltpolitischen Geschehens, sondern seltene Tiere und Pflanzen. Die Griechen frugen vor allem nach dem Logos des Kosmos, aber nicht wie Juden und Christen nach dem Herrn des Heilsgeschehens.“ 21

Unter dem Einfluss des Christentums bewegt sich Weltund Menschendeutung fort von der Vorstellung eines Kosmos, der durch ewige Wahrheiten geprägt wird, zu einer Weltvorstellung, die zunehmend theologisch-anthropologisch gedeutet

19 20 21

Löwith (1960/1), 305. Wollin (2001), 74. Löwith 1950), 250.

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E. Karl Löwith

wird und nicht mehr zwischen ewigen und zeitlichen Wahrheiten in Bezug auf Kosmos und Welt, sondern zwischen den Existenzweisen von Gläubigen und Ungläubigen unterscheidet: „Die kosmologische Unterscheidung von ewig-unveränderlicher Himmelssphäre und veränderlicher sublunarer Welt verlegt sich in die theologisch-anthropologische Unterscheidung von zwei entgegengesetzten Existenzweisen: der Gläubigen und der Ungläubigen, der in Christus Wiedergeborenen und der bloß von Natur aus Gezeugten.“ 22

Diese Unterscheidung bietet den Nährboden für das spätere moderne Geschichtsdenken. Der erst wichtige Schritt, den Löwith hier darlegt, ist die Auflösung des griechischen Kosmos-Gedankens durch eine theologische Weltvorstellung. Hierdurch wird der Bezug auf den Kosmos langsam aufgelöst durch eine Weltvorstellung, die auf einen Schöpfer und auf die Erschaffung des Kosmos setzt. Mit dem Rückgriff auf den griechischen Kosmos-Gedanken möchte Löwith die verschütteten Traditionen des Philosophie-Denkens wieder aufbrechen, um daran zu erinnern, was Philosophie eigentlich sei: die Frage nach dem Unveränderlichen, den ewigen Wahrheiten, die keiner Zeitlichkeit unterliegen: „Wenn wir trotzdem an dem griechischen Begriff der Philosophie als dem klassischen festhalten, so tun wir es nicht, um eine vergangene Epoche in der Geschichte der fortgeschrittenen Philosophie zu repristinieren, sondern in der Überzeugung, dass die Griechen eine Entdeckung machten, die – wie jeder erste Entdeckung – für immer wahr bleibt, auch wenn sie verschüttet und wieder vergessen wird, oder in Misskredit fällt, weil es keine Philosophen mehr gibt, die noch das gute Gewissen zur Betrachtung der Welt haben. Die Griechen entdeckten einmal für immer, dass es ein Sehen und eine Einsicht gibt, die frei sind von den Beschränktheiten der alltäglichen praktischen Umsicht, die sich im Umkreis unserer jeweiligen Absichten bewegt.“ 23

22 23

Löwith (1960/1), 306. Löwith (1960/1), 314.

II. Das östliche Denken

141

Das griechische Denken, der Kosmos-Gedanke, ist der Urgrund, von dem aus Löwith das moderne historische Denken kritisiert. Die Wurzeln dieses Denkens reichen bis in die Ablösung des Kosmos-Gedankens in der Spätantike zurück. Das Problem des Historismus, die Verzeitlichung des Denkens, das keine ewigen Wahrheiten mehr kennt, ist zwar in seinen Konsequenzen erst in der Neuzeit aufgetaucht, hat aber seine Ursprünge in einem Auflösungsprozess des griechischen Naturdenkens, der in der Spätantike durch ein neues Welt- und Menschenverständnis ausgelöst wird.

II. Das östliche Denken

Karl Löwith ging in seiner Kritik an dem modernen historischen Denken durch die Erfahrungen eines nicht europäischen bzw. europazentrierten Denkens über den Horizont der europäischen Philosophie hinaus. Durch seine Lehrtätigkeit in Japan von 1936 – 1941 kam er in direkten Kontakt mit einer ganz anderen philosophischen Tradition, die nicht durch eine monotheistische Religion geprägt war und sich nach wie vor sehr viel stärker an der Natur als Reflexionsboden philosophischen Denkens orientierte. Das Eintauchen in die japanische Welt zeigte Löwith eine Kultur, die ganz andere Orientierungsmuster hatte, als diejenigen, die er aus seinem europäischen Leben kannte. Die Entfremdung vom europäischen Denken war der zweite Blickpunkt, unter dem er das moderne historische Denken kritisch beleuchten konnte: „Um die geschichtliche Relativität auch der absolut gesetzten Geschichte zu Gesicht zu bekommen und damit eine weitere Perspektive zu gewinnen für die Frage nach dem ‚Sinn‘ der Weltgeschichte, ist es nötig und heilsam, sich einmal vom Europäischen zu entfremden, um sich selbst von woanders her in seiner begrenzten Eigenart zu erkennen. Die Erfahrung des Ostens bietet dazu eine Möglichkeit“. 24 24

Löwith (1950), 241 f.

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E. Karl Löwith

Um die tiefe Verankerung eines nicht an der Historie orientierten Denkens in Japan darzustellen und um zu zeigen, dass das, was sich in der philosophischen Tradition Japans findet, kein intellektuelles Phänomen ist, greift Löwith auf lebensweltliche Erfahrungen in Japan zurück: „Der Osten ist für den Neuankömmling zunächst eine verkehrte Welt, die das Eigene, längst Bekannte, auf den Kopf stellt. In Japan werden Handwerkszeuge beim Gebrauch in umgekehrter Richtung als bei uns bewegt; die Geste beim Heranwinken sieht für uns aus wie eine des Fortschickens; der japanische Regenschirm wird mit der Spitze in der Hand und dem Handgriff zum Boden getragen; die Trauerfarbe ist nicht schwarz, sondern weiß; der Schmerz über den Verlust eines Angehörigen wird mit einem Lächeln bekundet; der Verkauf einer Tochter in die Prostitution kann ein ehrenvoller Entschluss sein, aber ein Abschiedskuss in der Öffentlichkeit wäre gegen alle guten Sitten. Der Todestag ist ungleich wichtiger als der Geburtstag, der überhaupt kein persönliches Datum ist. ‚Veränderung‘ gilt eo ipso als Veränderung zum Schlechteren, und die gebräuchliche japanische Begrüßungsformel wünscht deshalb, dass ‚keine Veränderung‘ stattgefunden haben möchte. Der starke Duft der Rose und ihre langblühende üppige Pracht bedeuten dem Japaner ordinäre Aufdringlichkeit und unanständige Lebensgier; die Rose ‚verrottet schamlos am eigenen Stamm‘, wogegen die zarte wilde Kirschblüte (das Symbol des japanischen Geistes) schön und edel ist, weil sie sich beim ersten Wind und Regen leicht vom Stamme löst und verweht, anstatt sich zäh ans Leben zu klammern. Seinem eigenen Dasein ein schnelles Ende zu bereiten, ist ein würdiger Entschluss, durch den man am besten Fragen löst, die vom Leben selbst nicht gelöst werden können. ‚Ihr Europäer‘, sagte mir ein Japaner, ‚seid durch die christliche Sorge um das Heil der Seele verdorben; ihr hängt zu sehr am individuellen Leben‘.“ 25

Für Löwith sind die Erfahrungen der japanischen Lebenswelt, so wie er sie wahrnimmt, das Eintauchen in eine Welt, die nicht durch eine monotheistische Religion und einer damit verbundenen Heilsgeschichte affiziert ist. In der japanischen Lebenswelt findet er die Grundanschauung einer am Kos25

Löwith (1950), 242.

II. Das östliche Denken

143

mos orientierten Lebensweise wieder. So wie das griechische Denken kenne auch das östliche Denken nicht den Gegensatz von Natur und Geschichte. Da geschichtliche Geschehnisse wie natürliche empfunden würden, bedürfe es in Japan keiner neuen Suche nach einem überhistorischen Standpunkt, wie es Nietzsche im europäischen Kontext versucht habe. Dem japanischen Denken sei das moderne europäische historische Denken fremd. Diese Haltung findet Löwith in der japanischen Philosophie. Im Gegensatz zum europäischen Denken sei das philosophische Denken in Japan vom Zen-Buddhismus und der Vorstellung des Nichts geprägt. Das europäische Denken habe von Heraklit bis Hegel nur das Sein gedacht, ohne den Begriff des Nichts zu kennen. Das Nichts sei aber nicht bloß die Negation des Seins, sondern das Reichste und Positivste: „Als absolute Leere kann das Nichts alles in sich aufnehmen. Es kann nicht begriffen, wohl aber empfunden werden als der Resonanz verleihende ‚Hintergrund‘ eines jeden Vordergründigen. Die japanische Kultur [...] ist weder von einem platonischen Eros inspiriert noch von einem überweltlichen Glauben, noch von einem Wissenwollen, auch nicht vom dem chinesischen Ideal des metaphysisch schicklichen Betragens. Sie hat eigentlich überhaupt kein Prinzip. Sie lebt aus einer Grundstimmung, deren Verständnisweise nur paradox formuliert ist. Der japanische Geist vernimmt ‚formlose Form‘, ‚farblose Farbigkeit‘ und ‚tonlose Stimme‘, weil der letzte metaphysische Hintergrund, die volle Leere, überall mitschwingt. Darum kann auch das Geringste und Gemeinste das Höchste und Feinste offenbaren und es in einem knappen Ausspruch oder mit einem einzigen Pinselstrich voll zum Ausdruck bringen.“ 26

Der Begriff des Nichts im japanischen Denken verweist auf eine grundsätzlich andere Wahrnehmung der Welt, die dem griechischen Denken der unverbrüchlichen Ordnung der Himmelswelt nahesteht. 27 Diese Ordnung der Himmelswelt übersteigt die individuelle Existenz des Einzelnen. Sie verbirgt den 26

Löwith (1950), 243.

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E. Karl Löwith

Fortgang der Dinge, ohne ein Ziel zu haben. Es gibt keinen verborgenen Sinn hinter den Dingen. Wahrheit leuchtet unmittelbar auf, der Wissende ist eher ein Ergriffener als ein Ergreifender: „Der Wissende jedoch will, ohne etwas zu wollen und ist gespannt und ohne Absicht. Er trifft, wie der japanische Bogenschütze, die Mitte der Welt, ohne auf sie zu zielen, denn die Mitte selbst zielt in ihm, wenn er sich mit einer höchsten Anspannung loslässt.“ 28

Löwith konstatiert diesem Denken, dass es seine Fundierung in einer nicht-zeitlichen Ordnung hat. Dieses Denken habe die Frage nach Ziel und Sinn der Geschichte nie gestellt und es vermieden, Geschichte und Welt zusammenzudenken. 29 Wahrheit sei in diesem Denken eine Heimkehr, eine Zurückführung zu seinem Ursprung. Er beschreibt dies anhand einer bekannten japanischen Bilderfolge mit begleitendem Text: „Der Kuhhirte hat seine Kuh, d. h. sich selbst in seiner Habe, verloren. Er ist auf der Suche nach ihr. Nachdem der aufgeregte Hirte nach vielen Mühen eine Spur seiner Kuh entdeckt hat, findet er auch die Kuh wieder. Zunächst sieht er nur ihren Schwanz, sodann fängt er sie ein, bemeistert sich ihrer und besteigt sie. Erschöpft von der Anstrengung des Suchens und dem Glück des Findens reitet er auf der Kuh sitzend heim, die Flöte spielend. Er ist nun selbstvergessen und weltvergessen. Der Mond – das Sinnbild des Geistes –, in dessen kühlem Licht sich alles unversehrt zeigt, erleuchtet die Welt und seinen Geist und erfüllt beide mit Stille und Leere. Das letzte Bild der Geschehensfolge zeigt nichts weiter als einen leeren, vollkommenen Kreis, in dem sich nichts ereignet. Alle irdische Geschäftigkeit und Zerstreutheit ist verschwunden und damit auch der Sinn für Verlust und Besitz. Angelangt bei seiner Hütte, legt sich der Hirte schlafen. Alles hat sich im Lauf dieses Geschehens geändert und ist doch wieder das Gleiche: ‚Die Wiese ist wieder grün; die Blüten sind wieder rot.‘ Alle Dinge sind zurückerstattet zu ihrem ‚So-und-nichtanders-Sein‘.“ 30 27 28 29

Löwith (1960/2), 571. Löwith (1950), 245. Löwith (1950), 246 f.

II. Das östliche Denken

145

Löwith fasziniert diese Form des Denkens, die dem Kosmos-Denken der Griechen so viel näher steht als das moderne europäische Geschichtsdenken: die ewige Wahrheit des Kosmos und der ihm zugehörigen Dinge, die der Urgrund des Denkens über Mensch und Welt ist. Über diese Ordnung kann sich der Mensch nicht erheben, geschweige denn eine eigene, zeitliche Ordnung an ihre Stelle setzen. Der Vergleich mit dem östlichen Denken offenbart Löwith aus einem realen Erfahrungshorizont, dass das moderne geschichtliche Denken ein europäisches ist. Damit stellt er auch in Frage, dass das europäische Selbstbewusstsein durch Antike und Christentum gleichermaßen bestimmt sei. Die Differenz zwischen diesen beiden Denkrichtungen hatte er bereits in seinen Analysen des griechischen Kosmos-Denkens entdeckt. Die Erfahrungen in Japan und seine Auseinandersetzung mit der japanischen Philosophie haben diesen Eindruck der Differenz zwischen Antike und Christentum weiter verstärkt. Das östliche Denken, so wie Löwith es sieht, in seiner Nichtbeachtung eines zeitlichen, geschichtlichen Denkens, ist für ihn ein weiterer Beleg für die Sonderentwicklung des geschichtlichen Denkens in Europa. Löwith greift den Konsens einer europäischen Überlieferung, die Antike und Christentum zusammendenkt, an: „Die Frage nach der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und griechischem Denken ist, über das theologische Anliegen hinaus, auch heute noch eine, wenn nicht die entscheidende Frage für den geistigen Bestand von Europa. ‚Homer und Bibel‘ [...], Sokrates und Christus, Schicksalstragödie und Kreuzestheologie, Demonstration der Anfangs- und Endlosigkeit der natürlichen Weltbewegung und Glaube an ihre einmalige übernatürliche Schöpfung, Vernunft und Offenbarung, Wissen und Glauben – sie alle sind ebenso viele Entweder-Oder, wie zuletzt Kierkegaard und Nietzsche gezeigt haben.“ 31

Das moderne europäische Denken ist für Löwith vom christlichen Neuanfang her bestimmt besonders dort, wo es die Frage 30 31

Löwith (1950), 246 f. Löwith (1950), 248.

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E. Karl Löwith

nach dem Sinn der Geschichte stellt. Er erkannte im östlichen Denken, besonders in Japan, einen Umgang mit der Realität, der diesen Fortbestand trotz aller Widersprüche ermöglichte. Das Denken in Gegensätzen, die sich weder auflösen, noch auflösen sollten, erlaubt nach Löwith ein Denken, das westliches und östliches nebeneinander ohne direkte Interaktion bestehen lässt. Wie zwei Stockwerke eines Hauses, die aber nicht miteinander verbunden sind, bewege sich der japanische Geist mal im westlichen mal im östlichen Stockwerk. 32 Löwith wusste aber auch, dass die technische Rationalisierung vor Japan nicht Halt machte und das Land sich dieser Rationalisierung nicht entziehen konnte und wollte. Dennoch war er überzeugt, dass das östliche Denken und die östliche Lebenswelt sich nach wie vor von dem westlichen Denken unterschieden: „Die Tatsache, dass der Restbestand von Europa nicht mehr durch Christus und das kommunistische China und das verwestlichte Japan nicht mehr durch Konfuzius und Buddha geprägt sind, bedeutet aber nicht, dass Orient und Okzident nicht trotzdem noch immer in ihren alten Traditionen stehen. Überlieferungen von jahrtausendlanger Geltung können, trotz radikalster Veränderung, nicht völlig unwirksam werden. Die technische Zivilisation ist zwar überall die gleiche geworden, und mit ihr das berechnende wissenschaftliche Denken, aber die überlieferte Kultur unterscheidet sich nach wie vor, auch wenn die christlichen Kirchen und die buddhistischen Tempel nicht mehr das alltägliche Leben der Masse von Menschen von der Geburt bis zum Grabe bestimmen.“ 33

Der Grund für den Fortbestand eines östlichen Denkens in Japan ermittelte Löwith durch einen Vergleich des chinesischen und des westlichen Einflusses in Japan. Die Aufnahme der chinesischen Kultur begann nach Löwith bereits im 6. Jahrhundert nach Christus, während der westliche Einfluss erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Von China über32 33

Löwith (1942/43), 543. Löwith (1960/2), 578.

II. Das östliche Denken

147

nahm Japan den Konfuzianismus und den Buddhismus, Kunst, Literatur, Weisheit und die chinesische Schrift. Vom Westen dagegen übernahm Japan nicht Religion, Moral oder andere wesentliche Kulturelemente, sondern Industrie, Kapitalismus, militärische Organisation und die Technik bzw. technische Methoden, die letzteres ermöglichen. Ein Teil der chinesischen Kultur sei Bestandteil der japanischen Kultur geworden, während die westliche Zivilisation nur aufgenommen und den eigenen Verhältnissen angepasst wurde. 34 Dennoch verwische sich nach Löwith die alte Differenz zwischen Okzident und Orient: „Der traditionelle Unterschied von Okzident und Orient verteilt sich nicht mehr auf den Osten und Westen, sondern er existiert nur als ein Zwiespalt im Orient selbst, besonders in Japan. Der Einbruch und Aufgang des Westens im Orient hat alle bisherigen Beziehungen des einen zum anderen verändert und die Frage, vor die sich der Osten durch den Westen gestellt sieht, ist, ob und wie es gelingen kann, sich die Errungenschaften des Westens anzueignen, ohne sich selber fremd zu werden.“ 35

In der Auseinandersetzung mit dem östlichen Denken erfuhr Löwith das Dilemma seines eigenen Denkansatzes. Die Frage, die sich ihm stellte, und die in dieser Auseinandersetzung auftauchte, war, ob es ein modernes philosophisches Denken geben kann, das jenseits des modernen Geschichtsdenkens den Kosmos-Gedanken und die Aufhebung eines anthropozentrischen Denkens wieder ermöglicht. Die Notwendigkeit zu einer solchen Rück-Entwicklung zeigte sich Löwith in seiner intensiven Auseinandersetzung mit den theologischen Voraussetzungen des modernen europäischen Denkens, das für ihn die Machbarkeit von Welt und Mensch repräsentierte, und die eigenen Lebenserfahrungen in Japan, die ihm eine Vertiefung in das östliche Denken ermöglichten.

34 35

Löwith (1943), 557. Löwith (1960/2), 588.

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E. Karl Löwith

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

Löwiths Angriff auf das moderne europäische Geschichtsdenken bezieht sich auf eine Entwicklung, die aus seiner Sicht im 18. Jahrhundert eingesetzt hat und geschichtliches Denken grundsätzlich neu verstehen möchte: Geschichte wird seit jener Zeit in Verbindung mit der Philosophie zu einer Geschichtsphilosophie. Geschichtsphilosophie bedeutet nach Löwith „die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden“. 36 Vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Kosmos-Gedanken der Griechen als dem ursprünglichen Begriff der Philosophie und seiner Deutung des östlichen Denkens untersucht er in einem dritten Schritt, wie sich das moderne europäische Geschichtsdenken aus den Wurzeln der biblischen Auslegung der Geschichte entwickelt hat. Löwiths Angriff zielt nicht nur auf die großen Geschichtsentwürfe von Hegel und Marx, in denen das moderne europäische Geschichtsdenken kulminiert, sondern auf die säkularisierte Idee eines Fortschritts, die sich auch jenseits der Geschichtsphilosophie im historischen Denken entfaltet hat. Darüber hinaus ist Löwith das moderne europäische Geschichtsdenken suspekt, weil es den für die Philosophie ursprünglichen Begriff des Kosmos bzw. der Natur einem geschichtlichen Denken unterworfen hat, das selbst Kosmos und Natur historisch begreift. Dies führt zu einer Wahrnehmung, nach der es zwei Welten gibt: die Welt der Natur und die Welt der Geschichte: „In der einen weiß sich der Mensch mehr oder minder fremd, weil sie ohne ihn, von Natur aus, ist; mit der andern mehr oder minder vertraut, weil sie eine von ihm hervorgebrachte, menschliche Welt ist. In beiden Welten geschieht etwas, aber das Naturgeschehen scheint in die menschliche Welt zumeist nur herein, sofern es kulturfördernd und -hemmend ist. Wir fragen darum auch nicht nach dem Sinn der 36

Löwith (1949/53), 11.

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

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Natur, sondern nur nach dem Sinn der Geschichte. Der Mensch wird zwar immer wieder von seiner eigenen Welt und Geschichte wie von etwas Fremden und Sinnfremden überwältigt; was ihn dabei überwältigt, ist aber doch ein Geschehen, das auf dem Handeln des Menschen beruht. Diese Unnatur des geschichtlichen Geschehens gehört zur ‚Natur‘ des Menschen. Je künstlicher, kultivierter und zivilisierter unsere Zustände sind, desto mehr verlangen wir zurück zur Natur. Das seit Rousseau vernehmliche ‚Unbehagen in der Kultur‘ und die Flucht zur Natur bestätigt nur, dass wir kultur-geschichtlich existieren und der Natur entfremdet sind.“ 37

Diese Trennung in zwei Welten ist nach Löwith ein Ergebnis des modernen europäischen Geschichtsdenkens. Dies sei aber nicht aus sich selbst heraus entstanden und sei nicht voraussetzungslos. Löwith kritisiert die Annahme, dass das moderne europäische Geschichtsdenken nur aus dem Kontext des 18. Jahrhunderts zu verstehen sei und ausschließlich ein Produkt der Aufklärung, der Verwissenschaftlichung von Geschichte durch eine methodische Absicherung der Quellenkritik und eine kritische Befragung der Vergangenheit anhand wissenschaftlicher Methoden, die es vorher so nicht gegeben habe. Diese Ansicht moderner Philosophen und Theologen verwirft er: „Weil die Philosophie der Geschichte von Augustin bis Bossuet keine wissenschaftliche Theorie der ‚wirklichen‘ Geschichte gibt, sondern eine dogmatische Glaubenslehre auf der Grundlage von Offenbarung und Glauben ist, zogen sie den Kurzschluss, dass die theologische Geschichtsdeutung, d. h. vierzehnhundert Jahre abendländischen Denkens, philosophisch und historisch belanglos sei und dass das eigentlich historische Denken erst mit dem 18. Jahrhundert beginne. Entgegen dieser allgemein verbreiteten Meinung möchte der folgende historische Grundriss zeigen, dass die moderne Geschichtsphilosophie dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und dass sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet.“ 38

37 38

Löwith (1950), 240. Löwith (1949/53), 11 f.

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E. Karl Löwith

Löwith betont, dass dem griechischen Denken die Vorstellung eines Sinns der Geschichte unfassbar gewesen wäre. Vom Zufälligen und Zeitlichen könne es keine wirkliche Erkenntnis geben. Der Logos des Kosmos sei ein unpersönlicher, nicht auf einen Gott bezogener Denkhorizont gewesen, und alle irdischen Geschehnisse seien vor diesem Hintergrund zu sehen gewesen. Die neue Idee eines Herrn der Geschichte, wie ihn das jüdische und christliche Denken hervorgebracht habe, habe aus dem Kosmos eine von Gott für den Menschen erschaffene Welt gemacht, in der sich der Wille Gottes ausdrücke. Die Geschehnisse in der Welt seien nun keine natürlichen mehr, eingebunden in den ewigen Kreislauf der Natur, sondern bezögen sich auf eine göttliche Vorsehung. In dieser Vorsehung sei ein neues Weltverständnis entstanden, das die von Gott für den Menschen gemachte Welt von der natürlichen Welt unterschied. Die Welt sei nun eine menschliche Welt, in der es Aufgabe des Menschen sei, den göttlichen Willen zu verwirklichen. Dieser göttliche Wille verfolge einen Zweck mit den Menschen. Dieser Zweck weise über die unmittelbare Zeitlichkeit der gegenwärtigen Existenz hinaus. Geschichte, vergangene und gegenwärtige Ereignisse, reihten sich ein in den Verlauf einer Entwicklung, die auf die Zukunft verweise. Geschichte bekommt nun einen eigenen Sinn und unterscheidet sich von der Natur. Auch in der Natur haben die Dinge ihr Telos und dieser entfaltet sich im Laufe ihrer Existenz. Die Geschichte aber kann eigentlich kein Telos haben, da hier Zufall und Offenheit gleichermaßen die Vorstellung einer sinnvollen Entwicklung nicht zulassen. Erst die Vorstellung einer von Gott für den Menschen erschaffenen Welt ließ die Idee aufkommen, dass auch in der menschlichen Welt, in der Geschichte, ein Sinn waltet, der sich nicht auf das unmittelbare Geschehen bezieht, sondern die gesamte Geschichte in den Blick nimmt: „Auch geschichtliche Geschehnisse sind nur sinnvoll, wenn sie auf einen Zweck jenseits der tatsächlichen Ereignisse verweisen, und weil die Geschichte eine zeitliche Bewegung ist, muss der Zweck ein zukünftiges Ziel sein. Weder einzelne Geschehnisse noch eine Folge von

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

151

Geschehnissen sind als solche schon sinnvoll und zielvoll. Die Fülle des Sinnes ist Sache einer zeitlichen Erfüllung. Eine Aussage über den Sinn historischer Ereignisse zu wagen, ist nur möglich, wenn ihr künftiges telos sichtbar wird. Wenn eine geschichtliche Bewegung ihre Tragweite enthüllt, so denken wir über ihr erstes Auftreten nach, um den Sinn des Ganzen, obschon besonderen Ereignisses zu bestimmen – des ‚ganzen‘, insofern als es einem bestimmten Ausgangspunkt und einen letzten, eschatologischen Endpunkt hat. Die Annahme, dass die Geschichte einen letzten Sinn habe, antizipiert also einen Endzweck als Endziel, das die tatsächlichen Geschehnisse überschreitet [...] Die zeitliche Dimension eines endgültigen Ziels ist somit eine eschatologische Zukunft, und Zukunft ist für uns nur in Erwartung und Hoffnung.“ 39

Diese auf die Zukunft ausgelegte Geschichtsdeutung unterscheidet sich nach Löwith von den Orakeln der Antike. Die Antike glaubte wie die meisten heidnischen Kulturen an die Entschleierung künftiger Ereignisse durch eine bestimmte Kunst der Weissagung. Die Vorbestimmung der Ereignisse machte solche Weissagungen auch in den Augen von Philosophen glaubhaft. Diese vorhersehbare Zukunft war aber nicht menschengemacht, sondern verhaftete in ihrer eigenen Vorherbestimmung. Der moderne Mensch aber glaube nicht mehr an solche Weissagungen, weil er sich einbilde, die Zukunft könne durch ihn geschaffen werden. Er hält sie für unerkundbar, weil er sie selbst herbeiführen will. 40 Der moderne Mensch schaffe am Ende die Beschränkung, die einem Gottesglauben immer noch unterliegt, ab, und entwerfe sich aus der nun eigenen Freiheit auf Selbstbestimmung. 41 Löwith untersucht die Entstehung des modernen europäischen Geschichtsdenkens von der Gegenwart zurückschreitend anhand folgender Stationen 42: die biblische Auslegung der 39

Löwith (1949/53), 15 f. Löwith (1949/53), 21. 41 Löwith (1967), 9. 42 Hier chronologisch von den Anfängen ausgehend; Löwith geht in seiner Untersuchung den umgekehrten Weg. Löwith (1949/53), 7. 40

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E. Karl Löwith

Geschichte, Orosius,, Augustin, Joachim, Bossuet, Vico, Voltaire, Condorcet und Turgot, Comte, Proudhon, Hegel, Marx, Burckhardt. Letzterer ist für Löwith die Ausnahme unter den Historikern, da er in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen auf eine theologische Deutung der Geschichte verzichtet habe. Ausgehend von der biblischen Auslegung der Geschichte entfaltet Löwith seine Theorie des säkularisierten modernen Geschichtsdenkens. Am Anfang, so könnte man formulieren, wurde durch die jüdische und christliche Religion die Vorstellung in die Welt gebracht, dass die Welt nichts natürliches, sondern etwas von Gott Erschaffenes ist. Auch im vorchristlichen Heidentum gab es die Vorstellung eines Anfangs, aber im jüdischen und christlichen Verständnis wird der Anfang zu einem Anfang der Welt und nicht mehr der Anfang einer Stadt oder eines Reiches. Nun betrifft der Anfang die ganze Welt. Ohne Gott wäre sie nicht und sie hätte auch anders sein können. In dieser Setzung der Welt durch einen Gott sind Welt und Kosmos nicht mehr etwas Eigenes, sondern etwas Gemachtes. In diese Welt kann Gott eingreifen, die Allmacht liegt bei ihm und nicht mehr bei der Natur. Diese Tendenz einer menschlichen Welt verstärkt sich im Christentum mit der Bedeutung von Jesus Christus als dem Sohn Gottes. In dem geschichtlichen Auftreten von Jesus Christus liegt der ganze und einzige Sinn der Geschichte. 43 Es entwickelt sich mit dieser Annahme eine neue Form von Geschichtsauslegung: „Die Möglichkeit einer christlichen Geschichtsauslegung beruht weder auf der Erkenntnis geistiger Werte noch auf der Einsicht, dass Jesus ein weltgeschichtliches Individuum war, denn viele Individuen haben eine weltgeschichtliche Wirkung gehabt und mehr als eines hat sich für einen Erlöser ausgegeben. Die christliche Geschichtsauslegung steht und fällt mit der Annahme, dass Jesus der Christus ist, d. h. mit der Lehre von der Fleischschwerdung Gottes.“ 44

43 44

Löwith (1949/53), 198. Löwith (1949/53), 198.

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

153

Alle Geschichte ist von und zu Gott durch Jesus Christus. In ihm erfüllt sich die Zeit. Die Zeit zwischen Kreuzigung, Auferstehung und seiner Widerankunft ist eine Zwischenzeit, in der sich nach christlichem Verständnis nichts grundlegend Neues ereignen kann. Diese Zwischenzeit ist weder eine leere Zeit, noch eine geschäftige, „in der alles vorkommen kann, sondern die entscheidende Zeit der Bewährung und der Aussonderung des Weizens von der Spreu.“ 45 Diese christliche Behauptung ist nach Löwith für das normale historische Bewusstsein anmaßend: „Für einen antiken Philosophen wie Celsus ist die christliche Behauptung lächerlich anmaßend, weil sie einer unbedeutenden Gruppe von Juden und Christen kosmische Bedeutung zuspricht. Für einen modernen Philosophen wie Voltaire ist sie ebenso lächerlich, weil sie eine besondere Geschichte des Heils und der Offenbarung von der weltlichen und allgemeinen Geschichte der Zivilisation ausnimmt. Sowohl Celsus wie Voltaire sind sich des skandalon eine Heilsgeschehens bewusst.“ 46

In der Geschichte des Heilsgeschehens, in der Zwischenzeit bis zur Wiederankunft Christi, erfüllt sich die Zeit in den auf Gott bezogenen Geschehnissen, während die Welt und die Geschehnisse in ihr ihren Sinn eigentlich schon verloren haben. Die Erzählungen über Christus, das historische Geschehen ‚Jesus‘, ist der Ur- und Orientierungsgrund, auf den sich die Heilserwartung seiner Wiederankunft richtet. Obwohl die weltliche Zeit und die weltlichen Geschehnisse keinen eigenen Sinn mehr haben, sondern nur die Zwischenzeit ausfüllen, entsteht der Gedanke eines zentralen Ereignisses, das auf die Zukunft verweist und nur in ihr erfüllt werden kann. Aus diesem Anspruch einer zukünftigen Erfüllung eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses, das die ganze Welt umfasst, liegt der Kern einer heilsgeschichtlichen Erwartung, die, wenn sie ihren religiösen Sinn abstreift, verweltlicht in der Welt existieren kann. In diesem Sinn deutet Löwith das moderne Geschichtsbewusstsein als ein 45 46

Löwith (1948/53), 197. Löwith (1949/53), 198.

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E. Karl Löwith

Bewusstsein, das sich seiner theologischen Voraussetzung entledigt, um statt des Heils einen Fortschritt als Erfüllung der Zukunft anzusehen: „Das moderne Geschichtsbewusstsein hat sich zwar des christlichen Glaubens an ein zentrales Ereignis von absoluter Bedeutung entledigt, aber es hält an seinen Voraussetzungen und Konsequenzen fest, nämlich an der Vergangenheit als Vorbereitung und an der Zukunft als Erfüllung, so dass das Heilsgeschehen auf die unpersönliche Teleologie einer fortschreitenden Entwicklung reduziert werden konnte, in der jedes gegenwärtige Stadium die Erfüllung geschichtlicher Vorbereitung ist. In eine weltliche Fortschrittstheorie verwandelt, konnte das Schema des Heilsgeschehens natürlich und beweisbar erscheinen.“ 47

In der biblischen Auslegung der Geschichte mit seiner Vorstellung eines Heilsgeschehens und der Erwartung einer zukünftigen Erfüllung sieht Löwith den Beginn des modernen Geschichtsbewusstseins. Hier sind die Denkstrukturen angelegt, in der die Geschichte der ganzen Welt auf dem Spiel steht, und von einem Ziel her gedacht wird. In dieser Deutung wurzelt eine neue Form der Geschichtsdeutung, die Löwith als christliche Geschichtsdeutung bezeichnet. Es entwickelt sich ein – christliches – Geschichtsbewusstsein, ein Bewusstsein, das Zeit, Geschichte und die Geschehnisse in ihr als einen von der Natur abgesonderten Kosmos ansehen. Der Blick richtet sich auf die Zukunft und entwertet die weltliche Zeit der Gegenwart als den eigentlichen Lebenshorizont des Menschen. Die klassische Anschauung der Weltzeit als einer ziellosen, periodischen Kreisbewegung wird aufgegeben zugunsten einer erfüllten Zeit, die in der Wiederankunft Christi Ziel und Heil sieht. Augustinus ist für Löwith der Denker, der diesen Prozess zu einem christlichen Geschichtsbewusstsein maßgeblich geprägt hat. Augustinus hat nach Löwith den Versuch unternommen, die klassische Theorie der Zeit- und Weltbewegung mit einer Theo47

Löwith (1949/53), 199.

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

155

logie der von Gott gelenkten Menschheitsgeschichte zu widerlegen. 48 Während der griechische Begriff der theoria eine WeltSchau oder Kontemplation des Sichtbaren ist, ist der von Augustinus geprägte Begriff des Glaubens, die pistis, ein unbedingtes Vertrauen in Unsichtbares. Der Gläubige ist, im Vertrauen auf Gott, Bewohner zweier Welten: der natürlichen Welt und der göttlichen Welt. Die göttliche Welt als der eigentliche Raum des Gläubigen prägt den Blick auf die natürliche Welt, die nur ein Gebilde Gottes ist. Hieraus entsteht eine neue Welt, eine von Gott für den Menschen gemachte Welt, die Sinn und Ziel nicht aus der Natur, dem Kosmos haben kann, sondern aus dem Willen Gottes, den der Gläubige zu erkennen hat. Der Gläubige lebt nicht mehr in der natürlichen Zeit, sondern Zeit ist von Gott erst erschaffen worden: „Mit der Welt wurde gleichzeitig die Zeit geschaffen, denn es ist unmöglich, sich eine Zeit ‚vor‘ der Schöpfung dessen, was sich bewegt und verändert, vorzustellen, wogegen Gott unveränderlich und zeitlos ist. Gott schuf das Universum nicht in der Zeit, sondern gleichzeitig mit ihr, als eine zeitliche Welt [...] Wenn daher heidnische Philosophen die Ansicht vertreten, dass die Welt mit ihrer immer wiederkehrenden Bewegung ewig, d. h. ohne Anfang und Ende sei, so täuschen sie sich maßlos. Aber nicht so sehr aus Mangel an Verstand, als vielmehr durch ‚den Wahnsinn des Unglaubens‘.“ 49

Augustinus prägt die Vorstellung eines zeitlichen Denkens, das in der Zeit selbst den Vollzug eines göttlichen Planes sieht. Alles, was in der Zeit geschieht, geschieht durch Gott. Der Gläubige ist Teil der zeitlichen Ordnung Gottes, er lebt in dieser Zeit. Zeit wird der neue lebensweltliche Raum des Gläubigen und alle natürlichen Phänomene werden in Bezug auf Gott gedacht. In dem natürlichen Ablauf der Dinge kann es kein Heilserwarten geben, hier lösen sich Glück und Unglück, Leiden und Freuden immer wieder ab, ohne dass es eine grundsätzlich Änderung dieses Zustandes geben kann. Erst mit dem 48 49

Löwith (1949/53), 173. Löwith (1949/53), 175.

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Glauben entgeht man der weltlichen Welt mit ihrer Ungewissheit und begibt sich in das Reich Gottes, das ewiges Seelenheil verspricht. Erlösung und Seelenheil von den Unbilden des Lebens stehen einem hoffnungslosen Leben gegenüber, das sich in ewigen Kreisläufen vollzieht und keine Hoffnung auf das Ende von Schmerz und Angst bietet. Während die Griechen in der theoria, der inneren Schau auf die Welt, höchste Glückseligkeit erkannten, schließt dies Augustinus aus: Glückseligkeit ist nur im Glauben an Gott. Die klassische Theorie der zyklischen Wiederkehr wird nach Augustinus durch das einmalige Ereignis des Auftretens Christi außer Kraft gesetzt und Löwith sieht in diesem Argument von Augustinus den Schnittpunkt, an dem sich Inhalt und Form der Argumentation von Augustinus zeigen: „Es ist kein Zufall, dass die Erörterung der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die sich auf die Beständigkeit kosmisch-natürlicher Geschehnisse bezieht, mit dem übernatürlichen Argument endet, das Auftreten Christi und seine Auferstehung seien beides einmalige Begebenheiten von universeller Bedeutung. Die Macht, die Toten zum ewigen Leben zu erwecken, ist der stärkste Beweis für die Macht Gottes und unendlich bedeutungsvoller als die Ewigkeit der Welt, wie sie griechische Philosophen lehrten. In dem Wunder der Auferstehung wird das Wunder der Schöpfung erneut vollzogen und überhöht.“ 50

Augustinus vollzieht nach Löwith mit diesem Argument die Kehre, mit der die Theorie eines Kosmos beiseitegeschoben wird. Dabei braucht sich die christliche Lehre gar nicht mit der Kosmos-Idee auf dessen Begründungshorizont einlassen, da die Durchbrechung der Natur durch Gottes Handeln schon bewiesen hat, dass alles, was sich in der Natur vollzieht, von Gott gemacht und daher von ihm abhängig ist. Naturerkenntnis ist jetzt Gotteserkenntnis, die Bösen bewegen sich im Kreis, die Gläubigen in der Erwartung auf das Gottesreich. Im Gottesstaat arbeitet Augustinus die neue Geschichtsauffassung aus. Sie ist nach Löwith noch keine Geschichtsphilosophie, sondern 50

Löwith (1949/53), 179.

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eine dogmatische Auslegung des Christentums in dem Geschehen der Welt. 51 Zur letzteren gehört die heilige Geschichte, die sich von der profanen, der weltlichen Geschichte, unterscheidet. Die eigentliche Geschichte ist die heilige Geschichte, die Deutung der Ereignisse, die auf das künftige ewige Leben verweisen. Die profane Geschichte ist im Vergleich dazu ohne Bedeutung: „Was immer zwischen der Gegenwart und dem Ende, als finis und telos, noch geschehen mag, ist unerheblich zu der Alternative der Annahme oder Ablehnung der christlichen Botschaft. Augustins Glaube bedarf keiner geschichtlichen Entfaltung, weil der Geschichtsverlauf als solcher das zentrale Mysterium der Fleischwerdung Gottes weder hervorbringen noch aufsaugen kann. Der Glaube daran durchbricht alle geschichtlichen Entwicklungen und Krisen. Abraham, Moses und Christus bezeichnen zwar eine heilsgeschichtliche Folge des Glaubens, sie begründen aber keine Geschichte der christlichen Religion.“ 52

Immer wieder betont Augustinus, so Löwith, die Bedeutung der Gegenwart als Zwischenzeit. Dem weltlichen Geschehen stand er distanziert gegenüber. Die Plünderung Roms 410 durch Alarich bewog ihn zwar, seine Schrift Über den Gottesstaat abzufassen, aber er trennte die politischen Ereignisse von seiner theologischen Weltsicht. Das römische Imperium ist danach weder Teufels- noch Gotteswerk. Einzige Aufgabe des Reiches sei es, den Frieden zu sichern, damit sich der christliche Glaube ausbreiten könne: „Worauf es in der Geschichte ankommt, ist nicht die vergängliche Größe von Reichen, sondern Erlösung und Verdammnis in einer eschatologischen Zukunft. Das feste Ziel für das Verständnis der gegenwärtigen und vergangenen Geschehnisse ist die letzte Vollendung: Jüngstes Gericht und Auferstehung. Dieses Endziel bildet das Gegenstück zum ursprünglichen Beginn der Menschheitsgeschichte mit Schöpfung und Sündenfall. Auf diese beiden überhistorischen, ersten und letzten Geschehnisse bezogen, ist die Geschichte selber ein Interim zwischen der 51 52

Löwith (1949/53), 180. Löwith (1949/53), 181.

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ersten Offenbarung des Heilsgeschehens und dessen künftiger Erfüllung.“ 53

Dieses Heilsgeschehen ist universal und transzendiert alle lokal begrenzten Ereignisse. In ihm entfaltet sich eine absolute Wahrheit. Die Unterscheidung zwischen Gottesstaat und Weltstaat – civitas Dei und civitas terrena –, die eigentlich göttliche Gemeinschaft und irdische Gemeinschaft bedeuten, ist deshalb keine Zuweisung zu der Kirche auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite, sondern bezeichnet zwei Existenzweisen innerhalb der Welt. Die Ereignisse innerhalb der Welt, dem Weltstaat, haben deshalb keinen unmittelbaren Bezug zur Kirche und sind auch nicht in Bezug auf die Heilsgeschichte zu deuten. Die beiden Existenzweisen äußern sich in einem Leben in Gott und einem Leben ohne Gott: „Die civitas terrena besteht durch natürliche Zeugung; die civitas Dei durch übernatürliche Wiedergeburt; die eine ist zeitlich und sterblich, die andere ewig und unsterblich. Die eine wird durch die Liebe zu Gott, bis zur Verachtung des eigenen Selbst bestimmt; die andere durch Eigenliebe, bis zur Verachtung Gottes. Die Kinder des Lichts betrachten ihre irdische Existenz als Mittel zur Freude an Gott; die Kinder der Finsternis betrachten ihre Götter als Mittel zur Freude an der Welt. So ist die eigentliche Geschichte ein beständiger Kampf zwischen Glaube und Unglaube.“ 54

Durch diese Scheidung zweier Existenzweisen schafft Augustinus einen Denkhorizont, mit dem sich der Blick auf Welt und Zeit grundsätzlich ändert. Während im griechischen Denken beide auf den Kosmos als übergeordneter, ewiger Ordnung bezogen blieben, bekommen sie nun eine Eigendynamik, indem weltliches Geschehen vor dem Hintergrund einer – göttlichen – Offenbarung gedeutet wird. Damit bereitet Augustinus den Boden für ein weltliches Zeitdenken, obwohl dies nicht unbedingt in seiner Absicht gelegen hatte. 53 54

Löwith (1949/53), 183. Löwith (1949/53), 184.

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Nach Löwith geht Joachim von Floris (1131 – 1202) über Augustinus hinaus, indem er die Idee eines providentiellen Fortschritts zu einem geschichtlichen Eschaton formuliert. Joachim sah seine Zeit, sein Jahrhundert, als ein Jahrhundert des Zerfalls. Viele Zeichen deuteten nach ihm darauf hin, dass das grundsätzlich Neue, das Reich Gottes, bevorstehe. Er benutzte die allegorische Deutung der Bibel, um dort geschilderte Figuren, Gestalten und Tiere in ihrer geheimen Bedeutung zu begreifen und sie in Bezug zu bestimmten Personen und Ereignissen zu setzen. Unter diesem Blickwinkel unterschied er Ereignisse, die bereits erfüllt waren von solchen, deren Erfüllung noch ausstand. Die Lehre der Trinität war Grundlage für eine neue, weltlichere Auslegung der göttlichen Zeit in der weltlichen Geschichte: die Lehre von den drei Zeitaltern: „Drei verschiedene Ordnungen entfalten sich in drei verschiedenen Epochen, in denen die drei Personen der Trinität nacheinander offenbar werden. Die erste ist die Ordnung des Vaters, die zweite die des Sohnes, die dritte die des Heiligen Geistes. Die letztere beginnt gerade jetzt (d. h. gegen Ende des 12. Jahrhunderts) und entwickelt sich zur vollkommenen ‚Freiheit‘ des ‚Geistes‘ hin [...] Die erste Epoche wurde von Adam in Furcht und unter dem Zeichen des Gesetzes begonnen; seit Adam hatte sie Frucht getragen, um in Jesus Christus erfüllt zu werden. Die zweite wurde von Usia gläubig und in Demut begründet unter dem Zeichen des Evangeliums; seit Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers, hatte sie Frucht getragen, um in künftigen Zeiten erfüllt zu werden. Die dritte wurde durch den Heiligen Benediktus in Liebe und Freude unter dem Zeichen des Geistes eingeleitet; sie wird mit der Wiederkehr des Elias am Ende der Welt erfüllt werden. Die drei Stadien überschneiden sich, da das zweite innerhalb der ersten und das dritte innerhalb der zweiten beginnt.“ 55

Joachim geht noch nicht den Schritt in eine rein innerweltliche Auslegung der Heilsgeschichte, und er versteht die drei Stadien immer noch allegorisch, d. h. als versteckte Zeichen des Alten und Neuen Testaments über die Wege des Herrn. Aber 55

Löwith (1949/53), 162.

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E. Karl Löwith

seine allegorische Auslegung entspricht seiner prophetisch-historischen Methode. Er entwickelt auf Grundlage des Glaubens an den inspirierten Charakter der Schrift ein streng religiöses Geschichtsverständnis und entdeckt in der wirklichen Geschichte das verborgene Walten einer ausschließlich religiösen Bedeutung. Die Erfüllung der Zeit ist damit nicht mehr als ein einzigartiges Ereignis der Vergangenheit zu begreifen, „sondern als etwas, das sich in der Zukunft entfalten wird, so dass die Kirche von Christus bis heute kein ewiges Fundament, sondern ein unvollkommenes Vorzeichen ist. So aufgefasst, wird die Auslegung der Geschichte notwendigerweise Prophetie und das rechte Verständnis der Vergangenheit beruht auf dem richtigen Weg für die Zukunft, in welcher die vorausgehenden Zeichen ihre Erfüllung finden werden.“ 56

Joachim ging es nicht um eine radikale Veränderungen bestehender Strukturen innerhalb der Kirche, sondern er dachte aus der Einsicht des Kommenden, vom dem er überzeugt war, dass der Zerfall seiner Zeit das Kommende ankündigte. Die Ankündigung des dritten Stadiums, in dem der Geist herrschen werde, wies den Weg in eine weltlichere Deutung der Zeit als noch bei Augustinus. Das kommende Reich des Geistes als Vorbereitung auf die Herrschaft Gottes verlangte in ganz anderer Weise, dieses kommende Reich vorzubereiten, indem man die verderbliche Gegenwart bekämpfte. Diese Bekämpfung im Namen einer heilsgeschichtlichen Erwartung öffnet den zeitlichen Raum der Zukunft nicht mehr auf das unmittelbar Zukünftige, sondern auf das Zukünftige, das sich ohne sicheres Wissen über den eintretenden Zeitpunkt ankündigt. Augustins Idee des Interims wird aufgeweicht und durch eine Zeitvorstellung abgelöst, in der die Zeit durch Übergänge zu höheren Stufen gegliedert ist. Es beginnt sich ein neues Verständnis von Zeit zu entwickeln. Während bei Augustinus die Heilsgeschichte nicht Teil der weltlichen Geschichte war und beide Sphären nebeneinander existierten, vollzog sich bei Joachim, auch vor dem Ausbleiben einer unmittelbaren Heilserfüllung, 56

Löwith (1949/53), 165.

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eine christliche Geschichtsdeutung, die ihren Blick auf die Zukunft als den zeitlichen Horizont eines bestimmten Ziels und einer letzten Erfüllung richtet. In diesem theologischen, heilsgeschichtlichen Schema erkennt Löwith alle modernen Versuche, „die Geschichte als ein sinnvoll gerichtetes, wenn auch nie abgeschlossenes Fortschreiten auf eine innerweltliche Erfüllung hin darzustellen“. 57 Bei Bossuet (1627 – 1704) findet Löwith eine Fortführung von Agustins und Joachims Denken über die Zeit. Bossuet hat nach Löwith in seinem Werk Discours sur l’histoire universelle, die er für einen Sohn Ludwig XIV. verfasst hatte, den Gang der menschlichen Geschichte als von der Vorsehung gelenkt dargestellt. Er erkennt, dass die vielen Geschehnisse der Zeit auf den ersten Blick verwirrend und ohne Sinn seien, aber ein zweiter Blick aus größerer Entfernung zeige, dass es durchaus einen verborgenen Sinn hinter den Geschehnissen gibt. Hinter der scheinbaren Sinnlosigkeit offenbare sich eine verborgene Gerechtigkeit. Bossuet verfasst unter dieser Deutung, dass eine Vorsehung waltet, eine Universalgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Errichtung des neuen abendländischen Christenreiches durch Karl den Großen. 58 Die französische Monarchie sah er als Erbin des Römischen und des Heiligen Römischen Reiches. Sein Discours ist in drei Teile untergliedert: der erste Teil zeichnet einen allgemeinen Umriss der bisherigen Geschichte, ohne heilige und weltliche Geschehnisse zu unterscheiden; der zweite Teil erläutert die Geschichte der Religion, die sich auf das Schicksal der Juden konzentriert; der dritte Teil handelt von der Geschichte der weltlichen Reiche. 59 Ein entscheidender Wesenszug seiner Darstellung liegt in der Vorstellung, dass die Erfüllung der prophetischen Voraussagen beweist, dass die Geschichte der Reiche letzten Endes der christlichen Kirche dient. Die weltliche Geschichte wird 57 58 59

Löwith (1949/53), 173. Löwith (1949/53), 151. Löwith (1949/53), 152.

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als Erfüllung der Heilsgeschichte gelesen und dennoch, anders als bei Augustin und Joachim, wird der weltlichen Geschichte mehr Raum zugestanden. Eine Eigenständigkeit der weltlichen Geschichte gibt es aber noch nicht. Erst Voltaire (1694 – 1778) vollzieht nach Löwith in seinem Essai sur les moeurs et l’esprit des nations den Übergang zu einer Philosophie der Geschichte. Als entschiedener Kritiker der christlichen Religion ist Voltaire ein Kind der Aufklärung. Die Zweifel an der Religion als umfassende Erklärung von Mensch und Welt hatten im 17. und 18. Jahrhundert im Anschluss an Renaissance und Humanismus zugenommen. Die quellenkritische Auseinandersetzung auch mit der Heiligen Schrift führte zu der Erkenntnis, dass die Bibel nicht das unmittelbare Wort Gottes sei und die Texte philologisch zu prüfen seien. Die geographischen Entdeckungen, die Herausbildung eines neuen Weltbildes – die kopernikanische Wende – und die Entdeckung der chinesischen Zivilisation durch die Jesuiten führten zu einer Infragestellung des religiösen mittelalterlichen Weltbildes. Für Voltaire wurde die Auseinandersetzung mit China als einer großen nicht christlichen Zivilisation Ausgangspunkt seiner weltgeschichtlichen Betrachtungen: „Die Errungenschaften Europas wurden zum ersten Mal an den Leistungen einer nicht-christlichen Zivilisation gemessen und Europa musste lernen, sich von außen her zu sehen und zu beurteilen. Daraus ergab sich das Problem, wie die traditionelle Einheit und der Brennpunkt der christlichen Geschichte in der Geschichte des auserwählten Volkes mit der neuen Kenntnis des Fernen Ostens zu vereinbaren sei. Eine besondere Schwierigkeit bestand darin, zwischen der historischen Chronologie der Bibel und der nicht-biblischen, astronomischen Chronologie, wie sie die Chinesen ausgearbeitet hatten, einen Ausgleich zu schaffen.“ 60

Den zweiten Band seines Essai sur les moeurs et l’esprit des nations eröffnet Voltaire mit China. Er bewundert an dem Reich, 60

Löwith (1949/53), 116.

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das erst kürzlich durch die Missionare entdeckt worden war, den wissenschaftlichen Geist, der durch keine monotheistische Religion beeinträchtigt worden sei. Er rühmt, dass die chinesische Geschichte nicht nur älter, sondern auch zivilisierter – als die im Alten Testament berichteten Ereignisse – sei. Die chinesische Geschichte sei der Geschichte der Juden überlegen. Während das Alte Testament voll von wundersamen Ereignissen sei, sei die Geschichte der Chinesen frei von absurden Wundern, Mächten und Prophezeiungen. Konfuzius war für Voltaire ein Vorbild. 61 Neben der chinesischen Geschichte befasst sich Voltaire mit Indien, Persien, Arabien, Rom und dem Aufstieg des Christentums. Seine Betrachtungen unterstellt er dem kritischen Blick der Vernunft, er entzieht sich also von vornherein einer heilsgeschichtlichen Perspektive, wie sie bei Bossuet noch anzutreffen war. Durch Vergleiche der unterschiedlichen kulturellen Tatsachen untergräbt er den biblischen Blick auf die Geschichte. Er benutzt das Material und die Kenntnisse über andere Kulturen, um aufzuzeigen, dass eine biblische Deutung der Geschichte mit den Prinzipien der Vernunft nicht zu vereinbaren ist: „In Voltaires Essai hat Gott sich von der Herrschaft über die Geschichte zurückgezogen; und wenn er auch noch herrscht, so greift er doch nicht mehr regierend in sie ein. Sinn und Zweck der Geschichte bestehen darin, durch eigene Vernunft die menschlichen Verhältnisse zu verbessern, den Menschen weniger unwissend, ‚besser und glücklicher‘ zu machen.“ 62

Damit greift Voltaire Bossuets Ansatz an und behauptet, dass dessen Darstellung universal sei und den Nachweis schuldig bliebe, dass die Vorsehung im Verlauf der Geschichte in Erscheinung trete. Dennoch propagierte Voltaire noch keine einheitliche Fortschrittsidee, die er seinen historischen Betrachtungen unterlegt. Löwith erkennt in Voltaires geschichtlichem Gedankengebäude die Idee eines gemäßigten Fortschritts. Die 61 62

Löwith (1949/53), 117. Löwith (1949/53), 118.

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Vernunft als Leitmotiv von Voltaires Deutung der Geschichte erkennt auch in der Geschichte ihre Grenzen, Perioden des Fortschritts werden durch Perioden des Rückschritts unterbrochen und eine gerade Linie im Sinne eines linearen Fortschritts, der sich in der Geschichte verwirkliche, habe Voltaire nicht postuliert. Erst Condorcet (1743 – 1794) hat nach Löwith in dem Werk Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain aus dem Jahr 1793 den Übergang zu einer immanenten Fortschrittsgläubigkeit gezogen, die den Verlauf der Geschichte unter der Perspektive der Perfektibilität des Menschen und der menschlichen Zivilisation sieht. Unter dem Eindruck der Aufklärung, der Französischen Revolution und den naturwissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit entwirft Condorcet das Bild eines möglichen, unaufhaltsamen Fortschritts des Menschengeschlechts, der auf der Fähigkeit der menschlichen Vernunft beruht. Er untersucht „die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten im Verlauf der menschlichen Geschichte“ und stellt „ihre Ordnung und zugleich ihre Veränderungen“ heraus. Condorcet gehe dabei davon aus, „dass die Natur unserem Fortschreiten keine Grenzen gesetzt“ habe und dass „die Perfektibilität des Menschen“ faktisch unbegrenzt sei. 63 Er betrachtet die Geschichte unter dem Blick der Verwissenschaftlichung und verlangt, dass auch die Historie eine exakte Wissenschaft werden solle, „durch Experiment und Berechnung, ohne eine Mischung von Aberglaube, Vorurteil und Autorität“. Dies ermögliche, dass man „sich im Ganzen der geschichtlichen Bewegungen“ wissenschaftlich orientiere und der „künftige Gang der Geschichte“ vorherbestimmt werden könne. 64 Über die Gräueltaten der Europäer in den Kolonien sieht er hinweg, da er davon überzeugt ist, dass die Vernunft in den aufgeklärtesten und freien Nationen, den Franzosen und den Anglo-Amerikanern, dazu führen werde, dass auch hier der 63 64

Löwith (1949/53), 102. Löwith (1949/53), 103.

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Segen des menschlichen Fortschritts durch Aufklärung Einzug erhalten werde. Aus dieser einseitigen Darstellung folgert Löwith: „Condorcets Prognose einer künftigen Vervollkommnung der Menschen ist nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Schlussfolgerungen und Beweise, sondern ein Wunschtraum des Glaubens und der Hoffnung.“ 65

Glaube und Hoffnung, die beiden Grundpfeiler der christlichen Lehre, werden in einen weltlichen Kontext gestellt, der sich auf die Vernunft des Menschen und den durch die Wissenschaften ermöglichenden Fortschritt, der die menschlichen Lebensbedingungen stetig verbessern kann, gründet. Bei Hegel, Comte und Marx sieht Löwith den vorläufigen Abschluss des modernen Geschichtsdenkens, das in der Idee des menschlichen Fortschritts und der Auslegung der gesamten bisherigen Geschichte als einer Geschichte des Fortschritts gipfelt. Die gesamte bisherige Geschichte bzw. die bisherigen Geschichten werden nun zu einer einzigen Geschichte, zu einer Weltgeschichte. In dieser Weltgeschichte ist in der Vielzahl der empirischen Geschehnisse ein Prinzip erkennbar, dass diese Weltgeschichte durchzieht und durch das diese Weltgeschichte verstanden werden kann. Die Betrachtung und Erkenntnis der Weltgeschichte sind nicht abhängig vom Standpunkt des Philosophen, Historikers oder Soziologen, sondern sie sind die objektive Wiedergabe ihres Verlaufs. Die Idee der Weltgeschichte beinhaltet die Idee, dass es einen objektiven Geschichtsverlauf gibt, der philosophisch und wissenschaftlich erkannt werden kann. Die biblische Vorsehung kippt in die Idee einer weltlichen Theodizee. Die Weltgeschichte streift alle religiösen Bezüge ab und die Vorsehung wird durch eine weltliche Fortschrittsidee ersetzt. Das telos der Geschichte ist die sich in ihr entwickelnde Vernunft als allgemeines Prinzip ihrer Verwirklichung. 65

Löwith (1949/53), 105 f.

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Hegel repräsentiert nach Löwith den Übergang zu dieser weltlichen Weltgeschichte. In dessen Geschichtsphilosophie wird die Weltgeschichte eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. 66 Umfassender als Condorcet geht Hegel von der Idee aus, dass die Vernunft die Welt beherrscht. Dem morgenländischen Gedanken einer Beschreibung der Welt als einer beständigen Veränderung ohne Entwicklung stellt Hegel die abendländische Geschichtsauffassung entgegen, „die eine nichtumkehrbare Ausrichtung auf ein zukünftiges Ziel zur Voraussetzung hat“. 67 Der christliche Vorsehungsglaube entspreche zwar der Vorstellung, dass die Vernunft die Welt regiere, sei aber für das Verständnis und die Darstellung der Weltgeschichte zu eng. Der christliche Vorsehungsglaube beziehe sich auf Einzelfälle, die Weltgeschichte aber handele von Völkern und Staaten und könne nur im Gang ihrer notwendigen vernünftigen Entwicklung verstanden werden. Die Philosophie ersetzt die christliche Religion und die Theologie als die Form, in der allein der vernünftige Verlauf der Weltgeschichte dargestellt werden kann: „Der Begriff der Vorsehung muss sich in den Einzelheiten der großen geschichtlichen Vorgänge ausweisen. Und wenn es der Theologie nicht gelingt, diese Vorgänge zu erklären, dann muss die Philosophie die Aufgabe der christlichen Religion übernehmen und darlegen, dass Gott seine Absichten in der Welt durchsetzt.“ 68

Nach Löwith erkennt Hegel in letzter Konsequenz die Zweideutigkeit seines Versuches, Philosophie und Theologie in der Geschichtsphilosophie zu versöhnen, nicht. Für Löwith ist Hegel ein umgekehrter Prophet, der „die christliche Erwartung einer letzten Erfüllung in den geschichtlichen Prozess als solchen verlegte“ und dadurch die Weltgeschichte „als sich selber rechtfertigend“ betrachtete: 66 67 68

Löwith (1949/53), 65. Löwith (1949/53), 64. Löwith (1949/53), 65.

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„Hegel ist sich der tiefen Zweideutigkeit seines großen Versuchs, die Theologie in Philosophie umzusetzen und das Reich Gottes weltgeschichtlich zu realisieren, nicht bewusst gewesen. Er empfand keine Schwierigkeit, die ‚Idee der Freiheit‘, deren Verwirklichung der Endzweck der Geschichte ist, mit dem Willen Gottes ‚gleichzusetzen‘, denn als ‚Priester des Absoluten‘, ‚von Gott dazu verdammt, ein Philosoph zu sein‘, glaubte er diesen Willen und seinen Plan zu kennen. Er kannte ihn als ein umgekehrter Prophet, der die Wege des Geistes, nach Maßgabe der geschichtlichen Folgen und Erfolge im Ganzen übersieht und rechtfertigt.“ 69

Hegels Geschichtsphilosophie und Weltgeschichtskonzeption vollendet den schleichenden Prozess einer in der jüdischen und christlichen Religion aufgetauchten heilsgeschichtlichen Erwartung, die die Idee der Vorsehung als immanenten Prozess der Weltgeschichte auslegt. Die Idee des Fortschritts ersetzt die heilsgeschichtliche Erwartung des Reiches Gottes und Weltgeschichte wird eine verweltliche Theodizee. Löwith gesteht neben Hegel Auguste Comte (1798 –1857) zu, mit seinem Werk Cours de philosophie positive (1830 –42) die historische Methode, d. h. alles Denken in den Horizont der Geschichte zu stellen und es dadurch zu verstehen, in den Mittelpunkt seines Gedankengebäudes über die moderne, positive Gesellschaft gestellt zu haben. Comte entwickelt zum Verständnis der Gegenwart ein Dreistadiengesetz, das alle Bereiche des menschlichen Denkens und der menschlichen Entwicklungsgeschichte durchläuft: das theologische, das metaphysische und das positive Stadium. Diese drei Stadien beziehen sich auf die bisherige Menschheitsgeschichte, auf die Wissenschaften und den einzelnen Menschen: „Aus seinem Studium der allgemeinen Entwicklung leitet Comte ‚das große fundamentale Gesetz‘ ab, dass jeder Zweig unserer Zivilisation und unseres Wissens nacheinander drei verschiedene Stadien durchläuft: das theologische oder fiktive (Kindheit), das metaphysisch oder abstrakte (Jugend) und das wissenschaftliche oder positive (Mannesalter). 69

Löwith (1949/53), 68.

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Ebenso wie die christliche Epoche als die letzte verstanden wurde, ist auch die wissenschaftliche Ära eine Endzeit, welche die Überlieferung des geschichtlichen Fortschritts der Menschheit abschließt. Sie begann mit Bacon, Galilei und Descartes, dessen Discours de la Méthode jetzt erweitert und vervollständigt werden muss durch die Ausarbeitung der historisch-soziologischen Methode, die die Geschichtsphilosophie zu einer Wissenschaft macht“. 70

Alle Wissenschaften von der Mathematik bis zur Soziologie werden von einer gleichartigen Methode bestimmt und die Soziologie als die neue Wissenschaft der Gesellschaft gipfelt in einer sozialen Physik, „die das System der Naturwissenschaften abrundet“. Comte beschreibt das Dreistadiengesetz mit dem theologischen Stadium als dem ersten, dem metaphysischen als dem zweiten und dem wissenschaftlichen als dem dritten: „Im ersten Stadium sucht der menschliche Geist nach den wahren Ursachen aller Dinge, ihren ersten und letzten Ursachen, ihrem Ursprung und ihrem Ziel, kurz: nach absoluter Erkenntnis. Er unterstellt allen Phänomenen, sie seien durch die direkte und fortwährende Einwirkung von vielen übernatürlichen Mächten (Polytheismus) oder von einer einzigen göttlichen Macht (Monotheismus) hervorgebracht. Im metaphysischen Stadium werden diese übernatürlichen Mächte durch abstrakte Wesenheiten ersetzt. Die von der Metaphysik gestellten Fragen sind immer noch die theologischen; nur die Art der Antworten ist bereits metaphysisch. Im positiven Stadium hat der Geist die Unmöglichkeit, absolute Begriffe zu bilden, endgültig eingesehen. Er verzichtet auf die vergebliche Suche nach Ursprung und Bestimmung des Weltalls und beschränkt seine Forschung, durch die Verbindung von empirischer Beobachtung und logischem Denken, auf die unveränderlichen Beziehungen phänomenaler Aufeinanderfolgen und Ähnlichkeiten, worin die Naturgesetze bestehen. Comtes neue Philosophie ist Relativismus im radikalen und buchstäblichen Sinne, weil sie ausschließlich in Beziehungen denkt. Während alles Forschen nach der Natur der Dinge absolut sein muss, muss die Erforschung der Gesetze der Vorgänge relativ sein.“ 71

70 71

Löwith (1949/53), 81. Löwith (1949/53), 81 f.

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Im Gegensatz zu Hegel, der in seiner Gegenwart die Erfüllung seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion sah, öffnet sich Comtes Fortschrittsdenken den wissenschaftlichen Erfahrungen seiner Gegenwart und lehnt sich stärker an die Gedanken Condorcets an. Comtes allgemeiner Zielpunkt seiner Universalgeschichte ist „die offene Zukunft eines geradlinigen Fortschritts von primitiven zu entwickelten Stadien“. Diese Sichtweise erlaubt eine „wissenschaftlichere“ Herangehensweise an die Analyse der Gegenwart unter der Perspektive des Fortschritts. Die spekulative Idee Hegels, die Idee der Freiheit, wird ersetzt durch eine wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft mit wissenschaftlichen Methoden. Das Dreistadiengesetz kann als wissenschaftliches Prinzip auf verschiedene Gesellschaften übertragen werden. Löwith erkennt in Hegels und Comtes Denkgebäude nicht einen rationalen Fortschritt der Wissenschaften, sondern die Übertragung heilsgeschichtlicher Ideen in eine weltliche Fortschrittsidee, die sich in der weltlichen Geschichte verwirklicht. Comtes ablehnende Haltung gegenüber dem griechischen Denken begründet sich in der Vorstellung, dass Aristoteles in seiner Politik, die dem positiven Denken am nächsten kommt, „weder eine fortschrittliche Tendenz“ erkennt, noch „den blassesten Schimmer von den Naturgesetzen der Zivilisation, d. h. dem Gesetz der Evolution“, habe. Das Mittelalter sieht Comte als einen Fortschritt an, der durch das katholische System die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht bewirkt, eine universale Ethik des Christentums außerhalb und über der Sphäre der politischen Mächte halten konnte und somit den Horizont für das positive Denken vorbereitet habe. Dies habe zur Herausbildung einer weltlichen, auf der Vernunft basierenden Moral geführt. Eine solche Trennung von Moral und Religion sei der Antike unbekannt gewesen. Mit den Wissenschaften sei das letzte Stadium eigeleitet worden und es eröffne sich der Raum auf eine bessere Zukunft. In diesem Ansatz sieht Löwith den Kern des christlichen Fortschrittsglaubens, d. h. einen auf die Zukunft ausgerichteten Blick:

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E. Karl Löwith

„Nur innerhalb dieses Horizontes der Zukunft, wie ihn der jüdische und christliche Glaube gegen die ‚hoffnungslose‘, weil zyklische Weltanschauung des klassischen Heidentums schuf, konnte die Fortschrittsidee überhaupt zum Leitgedanken des modernen Geschichtsverständnisses werden. Das ganze moderne Mühen um immer neue Verbesserungen und Fortschritte wurzelt in dem einen christlichen Fortschritt zum Reiche Gottes, von dem das moderne Bewusstsein sich emanzipiert hat und von dem es doch abhängig blieb, wie ein entlaufener Sklave von seinem entfernten Herrn.“ 72

Marx verbindet Hegel und Comte, indem er auf der einen Seite Hegels Glaube an einen objektiven Verlauf der Geschichte mit einem Endziel übernimmt, und auf der anderen Seite wie Comte meint, diesen objektiven Verlauf ausschließlich wissenschaftlich erklären zu können. Marx konstruiert anhand Hegels Geschichtsverlaufs eine Weltgeschichte, die sich von den Anfängen der klassenlosen Gesellschaft über eine Abfolge von Klassengesellschaften – der asiatischen, der antiken, der feudalen und der kapitalistischen – bis hin zur klassenlosen sozialistischen und dann kommunistischen Gesellschaft entwickelt. Der Gang der Weltgeschichte ist wie bei Hegel ein Gang von der Unfreiheit in das abschließende Reich der Freiheit. Im Kapitalismus entfaltet sich nach Marx, so Löwith, der letzte Antagonismus der beiden feindlichen Lager, der Bourgeoisie und des Proletariats, und Löwith erkennt in dieser Beschreibung von Marx die heilsgeschichtliche Vorstellung des Endkampfes zwischen Christus und dem Antichristen: „Es ist deshalb kein Zufall, dass der letzte Antagonismus der beiden feindlichen Lager, der Bourgeoisie und des Proletariats, dem Glauben an einen Endkampf zwischen Christus und Antichrist in der letzten Geschichtsepoche entspricht, und die Aufgabe des Proletariats der welthistorischen Mission des auserwählten Volkes analog ist. Die universale Erlösungsfunktion der unterdrückten Klasse entspricht der religiösen Dialektik von Kreuz und Auferstehung und die Verwandlung des Reiches der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit der Verwandlung 72

Löwith (1949/53), 95.

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des alten in einen neuen Äon. Der ganze Geschichtsprozess, wie er im Kommunistischen Manifest dargestellt wird, spiegelt das allgemeine Schema der jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin.“ 73

Kern von Marx Geschichtsdenken ist seine Kritik der Religion. Nach Löwith war für Marx das bestehende Christentum die Religion des Kapitalismus. Die Religion ist nur der Überbau, der beweist, „dass die wirklichen Probleme des Lebens noch nicht gelöst“ sind „durch eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse“. Die Zerstörung des religiösen Bewusstseins war für Marx die Grundbedingung einer Kritik der nicht-religiösen, der wirklichen Welt. Die Religion bzw. der Glaube entspringt nur den ungelösten Problemen einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich Ausbeuter und Ausgebeuteter als Bourgeois und Proletarier gegenüberstehen, und die ungerechte Klassenherrschaft der Bourgeoisie dazu führt, dass die Religion, der Glaube an eine bessere Zukunft, der Zementierung der Klassenherrschaft dient. Die Religion ist deshalb nicht nur eine Schöpfung des Menschen, wie es bereits Feuerbach behauptet hatte, sondern Religion ist das Selbstbewusstsein des Menschen, „der aus seiner Selbstentfremdung noch nicht zurück- und sich in seinen wirklichen Verhältnissen“ zurechtgefunden hat. Nach Marx muss die Religionskritik zu der Überzeugung führen, dass nur in der wirklichen Welt die Verheißung einer gerechten Gesellschaft und damit eines irdischen Glücks möglich ist: „Marx ist der Überzeugung, dass das endgültige Absterben der Religion durch diesen Willen zum irdischen Glück, der weltlichen Form des Erlösungsbedürfnisses, herbeigeführt werde. Die wahrhaft materialistische Kritik der Religion besteht also weder in ihrer bloßen Verwerfung (Bauer) noch in ihrer einfachen Humanisierung (Feuerbach), sondern in der positiven Forderung, Zustände zu schaffen, die die Religion ihrer Quelle und ihrer Motivationskraft beraubt. Einzig und allein die prak-

73

Löwith (1949/53), 54.

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tische Kritik der bestehenden Gesellschaft kann die Kritik der Religion ablösen.“ 74

Nach Löwith bleibt Marx dem religiösen Denken in seiner Struktur ähnlicher als Hegel. Während Hegels Geschichtskonstruktion zwar eine Art Theodizee ist, so ist dessen Idee der Realisierung der Vernunft in der Geschichte von der Vorstellung gekennzeichnet, dass die wirkliche Welt in letzter Konsequenz eine Weise der Vernunft ist, während bei Marx die Struktur seiner Geschichtsphilosophie stärker dem messianischen Ideal einer von allem Unrecht befreiten Zukunft verhaftet bleibt. Indem Löwith somit den Ursprung der modernen Geschichtsphilosophie aus der Rekonstruktion der jüdischen und christlichen Heilsgeschichte aufzeigt, versucht er dazulegen, dass das moderne Geschichtsdenken auf Voraussetzungen fußt, die nicht allein auf die Aufklärung und den Geist der Neuzeit zurückzuführen sind. Hegel, Comte und Marx als Repräsentanten eines neuen umfassenden historischen Denkens stehen nach Löwith in einer Tradition, die ihre Ursprünge in der heilsgeschichtlichen Erwartung der jüdischen und christlichen Religion hat. Dieses historische Denken gilt nicht nur für die moderne Geschichtsphilosophie. In dieser drückt sich nach Löwith das moderne Geschichtsbewusstsein aus, eine Haltung gegenüber der Welt, diese durch und durch historisch zu deuten, und zwar in einem Bewusstsein, aus der Deutung der Vergangenheit Zukünftiges zu entziffern. Erst ein solches Bewusstsein von der Geschichte führt dazu, das Sein des Menschen durch und durch geschichtlich zu deuten: „Man kann sich in der Tat fragen, ob es ein geschichtliches Sein, geschichtlichen Fortschritt, Kontinuität und Krisen überhaupt geben kann ohne ein entsprechendes historisches Bewusst-sein. Ohne ein epochales Bewusstsein gäbe es vermutlich auch kein epochales Geschehen und ohne den bewussten Willen zum Fortschritt würde auch die Geschichte 74

Löwith (1949/53), 59.

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selbst auf andere Weise vor sich gehen [...] ‚Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt aller progressiven Bildung und der Anfang der modernen (d.i. nachchristlichen) Geschichte‘. Wenn es aber richtig ist, dass die Erwartung des Reiches Gottes und die revolutionäre Verwirklichung der Ideen von Rousseau und Marx durch Robespierre und Lenin geschichtsmäßig wurde, dann besagt dies, dass geschichtliches Denken und historisches Bewusstsein tatsächlich Geschehnisse hervorbringen, die es ohne dieses Denken und ohne dieses Bewusstsein nicht geben würde.“ 75

Löwith sieht in der Herausbildung des modernen Geschichtsbewusstseins eine Denkform, die nicht allein in der Geschichtsphilosophie zu finden ist. Letztere ist vielmehr nur die Konsequenz eines säkularisierten geschichtlichen Denkens, das sich schrittweise in den letzten zweitausend Jahren herausgebildet hat. In dieser Entwicklung werden das antike Kosmos-Denken und auch die übernatürliche Theologie des Christentums aufgelöst. An ihre Stelle tritt die Vorstellung der Welt als Geschichte. In der Idee einer alle Menschen umfassenden Weltgeschichte findet diese Entwicklung ihren vorläufigen Abschluss. Der moderne Historismus mit seiner Trennung von Natur und Geist, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, bleibt der Idee der Welt als einer Welt der Geschichte verhaftet: „Die Unterscheidung von Natur und Geschichte, die Gottl-Ottlilienfeld und Dilthey innerhalb der modernen Voraussetzungen durchdachten, ist noch völlig beherrscht von der Tendenz, die Eigenart der historischen Wissenschaften vom Geiste gegen die Naturwissenschaften sicherzustellen. Der Weltverlust des modernen Menschen ist in dieser Theorie der zwei Welten komplett, denn diese zwei Welten ergänzen einander nicht; sie sind Zerfallsprodukte der einen und ganzen Welt, innerhalb derer es, unter anderen Lebewesen, den Menschen und seine selbstbewusste Geschichte gibt. Die uns eingefleischte Gewohnheit, der Natur die Geschichte des Geistes gegenüberzustellen, ist aber selbst schon Folge einer ganz bestimmten Situation. Der natürliche Gegenbegriff zur Natürlichkeit der Natur wäre nicht die Geschichte, sondern die Künstlichkeit der Kunst, und in geschichtlichen Zeiten, deren Men75

Löwith (1966), 411 f.

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E. Karl Löwith

schen der Natur noch näher standen als wir, hat man darum die physis von der techne unterschieden als demjenigen, was nicht von Natur aus wird, sondern vom Menschen bewerkstelligt wird.“ 76

Unter dieser Perspektive ist Löwiths Angriff gegen das moderne Geschichtsdenken der Versuch, dieses Denken aus seinen religiösen Wurzeln zu begreifen. Nachdenken über Geschichte ist bei Löwith eine Auseinandersetzung mit der, wie er es sieht, Grundstruktur und den Grundannahmen des modernen Geschichtsdenkens. Die Idee des Fortschritts, die sich versteckt auch in den rein historischen Deutungen und Auslegungen von Geschichte – innerhalb der Fachhistorie – findet, wäre demnach nicht aus der Deutung der Ereignisse selbst zu gewinnen, sondern aus der Überzeugung eines historischen Bewusstseins, das sich seiner Wurzeln nicht bewusst ist, da es ihm selbstverständlich erscheint, so und nicht anders über Geschichte nachzudenken. Dieses Nachdenken ist immer auch ein Vordenken, denn historische Geschehnisse werden im modernen historischen Denken auf eine mögliche zukünftige Entwicklung antizipiert. Auch die Philosophie wird zunehmend Teil des historischen Bewusstseins. Es bestimmt „nicht mehr das philosophische Denken, was Geschichte ist, sondern umgekehrt bestimmt das moderne historische Bewusstsein unser philosophisches Denken“. 77 Das moderne Geschichtsdenken erfasst die gesamte Welt als historisch und in letzter Konsequenz wird auch die Natur in ihrer Geschichte dem historischen Denken einverleibt. Mit Löwith können wir nachvollziehen, wie grundsätzlich über das moderne Geschichtsdenken reflektiert werden kann. Implizit enthält Löwiths Ansatz, ob wir ihn teilen oder nicht, die Aufforderung, dass wir uns Rechenschaft darüber ablegen, unter welchen Voraussetzungen und mit Hilfe welcher Vorstellungen wir über Geschichte nachdenken, bevor wir den historischen Gegenstand, die histori76 77

Löwith (1966), 423. Löwith (1969/70), 463.

III. Weltgeschichte und Heilsgeschehen

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schen Geschehnisse, in den Blick unseres Nachdenkens über Geschichte nehmen. Insgesamt finden wir in Löwiths Rekonstruktion des modernen Geschichtsdenkens einen Ansatz, der über Troeltschs Kritik am Historismus hinausführt. Während Troeltsch im modernen historischen Denken weiterhin eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen von Mensch und Welt erkennt, trotz aller Kritik, die er daran äußert, versucht Löwith eine Perspektive aufzuzeigen, die die Ausschließlichkeit und den Anspruch des modernen historischen Denkens, Mensch und Welt umfassend erklären zu können, zurückweist. Die Kritik am modernen historischen Denken, das seine eigenen Voraussetzungen nicht erkennt, ermöglicht den Weg für Denkweisen, die einen Horizont jenseits der ausschließlichen Geschichtlichkeit der Welt aufzeigen. Der Historismus bedarf, wie es bereits Troeltsch forderte, einer Fundierung, die nicht in der Geschichtlichkeit des modernen geschichtlichen Denkens liegt.

F. Leo Strauss: Die philosophische Kritik am Historismus Leo Strauss (1899 – 1973) war einer der schärfsten Kritiker des Historismus. 1899 in Kirchhain in der Nähe von Marburg geboren, erlebte er als deutscher Jude den Zerfall der Weimarer Republik. Von 1934 bis 1938 arbeitete er in England, bevor er 1938 in die USA ging. Dort lehrte er an der New School for Social Research in New York City. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Er folgte 1949 einem Ruf als Professor für Politische Philosophie an die Universität von Chicago, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrte. Bereits in seinen frühen Jahren in Deutschland hatte sich Strauss mit Fragen der politischen Philosophie auseinandergesetzt. Den Zerfall der Weimarer Republik deutete er auch als eine Krise des modernen Geschichtsdenkens, das nach Strauss die politische Philosophie diskreditiert hatte, indem es zentrale Fragen der politischen Philosophie in historische überführt und damit einem Relativismus Tür und Tor geöffnet hatte, den sich die Nationalsozialisten zu eigen machten. Diese Entwicklungen führten Strauss dazu, sich grundsätzlich mit dem Historismus auseinanderzusetzen. Er sah in dieser Denkrichtung einen Angriff auf die politische Philosophie und die Gefahr einer Auflösung eines philosophischen Denkens über politische Fragen. Während Löwith über die theologischen Voraussetzungen des modernen Geschichtsdenkens reflektiert hatte, ging es Strauss um eine systematische, philosophische Auseinandersetzung mit dieser Denkrichtung, um die Schwächen dieser Denkrichtung aufzeigen. In der Kritik von Strauss am Historismus finden wir deshalb nicht nur eine Kritik am Historismus als einer besonderen Form des modernen Geschichtsdenkens, sondern eine grundsätzliche Auseinandersetzung über jede Form des historischen

F. Leo Strauss

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Denkens. Damit gelangen wir am Ende nicht nur zu einer kritischen Analyse des modernen Geschichtsdenkens, wie wir es bei Hegel, Droysen und Troeltsch erfahren haben, sondern darüber hinaus zu einer systematischen Auseinandersetzung mit jeder Form des historischen Denkens. Der Begriff Historismus beschränkt sich in Strauss Kritik nicht auf die nach dieser Bezeichnung benannten historischen Denkrichtung in Anschluss an Ranke und Droysen, die den Wesensunterschied zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften betont, sondern auf das gesamte moderne Denken, das nach Strauss auf der Überzeugung gründet, alles Denken fuße in einem historischen Kontext, der das jeweilige Denken erklärt. Auch die politische Philosophie sei historisiert und zu einer historisch verstandenen politischen Philosophie umgedeutet worden. Die Annahme eines solchen Denkens geht davon aus, dass die klassische Frage der politischen Philosophie, die nach der richtigen oder besten politischen Ordnung, nur beantwortet werden kann, wenn man sie in den historischen Kontext ihrer Entstehung einbindet. Der Historismus ist nach Strauss deshalb ein Angriff auf das Wesen der politischen Philosophie. 1 Er stellt fest, dass die Menschen sich noch niemals zuvor mit solch einer Hingabe der gesamten Vergangenheit gewidmet hätten. Die Zahl historischer Hilfswissenschaften steige ständig. Dabei nähmen wir von vornherein an, dass historisches Wissen ein hohes Bildungsgut sei. 2 Diese selbstverständliche Annahme stellt Strauss in Frage. Er kritisiert, dass in der Gegenwart Fragen nach dem modernen Staat, der modernen Regierungsform, den Idealen der westlichen Zivilisation mittlerweile den Platz eingenommen haben, den zuvor die Fragen nach dem Staat und der richtigen – politischen – Lebensweise innehatten. Philosophische Fragen wurden in historische Fragen überführt, oder – wie Strauss es ausdrückt – in historische Fragen mit Blick auf die Zukunft. 3 Um den Blick für diese 1 2

Strauss (1973/2), 56. Strauss (1973/2), 57.

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F. Leo Strauss

Problematik offenzulegen, setzt sich Strauss mit der Frage auseinander, was eigentlich das Wesen der politischen Philosophie ist. In der Offenlegung dieser Frage entwirft er einen Denkhorizont, der sich aus einer philosophischen Sichtweise dem Problem des Historismus nähert.

I. Das Wesen der politischen Philosophie

Nach Strauss hat der Historismus die Frage nach der politischen Philosophie überschattet und die politische Philosophie ihres Wesens beraubt. Der Historismus hat die Fragen der politischen Philosophie historisiert, d. h. er hat die Behauptung aufstellt, dass es Antworten auf Fragen nach dem Wesen bzw. der Natur des Staates, der Gerechtigkeit, der besten politischen Ordnung nicht geben kann, sondern diese durch den jeweiligen historischen Kontext bestimmt werden. Es gibt so viele Antworten auf diese Fragen, wie es verschiedene Kulturen und Zeiten gibt, die aus ihren besonderen Umständen besondere Antworten auf diese Fragen geben. Somit kann es politische Philosophie im eigentlichen Sinn des Wortes gar nicht geben, sondern nur eine Geschichte der politischen Philosophie. Alle zentralen Begriffe der politischen Philosophie unterstehen den historischen Umständen, unter denen sie gebildet werden. Die Vernunft ist nicht in der Lage, prinzipielle Antworten auf prinzipielle Fragen der politischen Philosophie zu geben. Die historische Schule des 19. Jahrhunderts hatte aus dieser Sichtweise die Idee des Naturrechts in Frage gestellt. Strauss formuliert daraus ein allgemeines Argument: „Der Angriff des Naturrechts im Namen der Geschichte findet in den meisten Fällen folgendermaßen statt: Das Naturrecht nimmt für sich in Anspruch, ein Recht zu sein, das von der menschlichen Natur erkennbar und daher allgemein anerkannt ist; aber die Geschichte (einschließlich der Ethnologie) lehrt uns, dass es kein solches Recht gibt; statt der 3

Strauss (1973/2), 59.

F. Leo Strauss

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angenommenen Gleichförmigkeit finden wir eine bestimmte Vielfalt von Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit, oder mit anderen Worten: es kann kein Naturrecht geben, wenn es nicht unveränderliche Prinzipien der Gerechtigkeit gibt. Die Geschichte zeigt uns aber, dass alle Prinzipien veränderlich sind.“ 4

Nach Strauss ist eine solche Argumentation völlig belanglos, weil sie nicht den Kern der Sache trifft. Das Auffinden und Entdecken immer weiterer Gerechtigkeitsvorstellungen in verschiedenen Kulturen ist nach Strauss nicht ein Argument gegen die Annahme des Naturrechts und der Formulierung unveränderlicher Prinzipien, sondern ein Nachweis solcher Prinzipien, da die Suche in allen Kulturen nach solchen Prinzipien zeigt, dass das, was gesucht wird, auch existieren muss. Deshalb sei ein Schluss von der Vielfalt der Rechtsvorstellungen auf die Nichtexistenz des Naturrechts kein Argument. Nach Strauss ist klar, dass die Verwerfung des Naturrechts im Namen der Geschichte nur Bedeutung haben kann, wenn sie sich auf etwas anderes als historische Beweise stützt. Sie muss „von einer philosophischen Kritik der Möglichkeit oder Erkennbarkeit des Naturrechts ausgehen – von einer Kritik, die irgendwie mit ‚Geschichte‘ zusammenhängt“. 5 Strauss unterscheidet diesbezüglich den Konventionalismus und den historischen Sinn. Mit dem Konventionalismus ist die politische Philosophie der Griechen gemeint, mit dem historischen Sinn die Denkschule des Historismus des 19. Jahrhunderts. Der Konventionalismus steht nach Strauss am Beginn der politischen Philosophie. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Konvention und Natur gibt: „Der Konventionalismus setzte voraus, dass die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention die grundlegendste aller Unterscheidungen ist. Er unterstellte, dass die Natur von ungleich höherer Würde ist 4 5

Strauss (1977), 10. Strauss (1977), 11.

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F. Leo Strauss

als die Konvention oder das ‚Fiat‘ der Gesellschaft, oder dass die Natur die Norm ist. Die These, dass Recht und Gerechtigkeit konventionell sind, bedeutete, dass Recht und Gerechtigkeit keine Grundlage in der Natur haben, sondern letztlich gegen sie stehen und dass sie, explizite oder implizite, von willkürlichen Entscheidungen der Gemeinschaften bestimmt werden: sie haben keine andere Basis als eine Art von Vereinbarung, und eine solche mag zwar Frieden stiften, aber die Wahrheit kann sie nicht hervorbringen.“ 6

Strauss betont, dass in der klassischen Philosophie mit der Unterscheidung von Konvention und Natur das Wesen der – politischen – Philosophie entdeckt worden ist. Die Frage nach der Natur der Dinge ist bereits die Frage nach der Wahrheit der Dinge. So wie die Griechen die äußere Natur entdeckt haben und nach den Gesetzen fragten, die in der Natur wirken, so haben alle Dinge eine ihnen zukommende Natur, die ihr eigentliches Wesen ausmacht. Die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention ist deshalb grundlegend, „denn sie ist bereits in der Idee der Philosophie eingeschlossen. Philosophieren heißt, aus der Höhle ins Sonnenlicht aufsteigen, d. h. zur Wahrheit gelangen. Die Höhle stellt die Welt der Meinungen dar, im Gegensatz zur Erkenntnis. Meinungen sind wesentlich veränderlich. Die Menschen können aber nicht leben, d. h. sie können nicht zusammenleben, wenn die Meinungen nicht durch eine gesellschaftliche Übereinkunft stabilisiert werden. So wird aus der Meinung eine autoritäre Meinung, ein öffentliches Dogma oder eine Weltanschauung. Philosophieren heißt demnach, vom öffentlichen Dogma zum wesentlich privaten Erkennen aufsteigen. Das öffentliche Dogma ist ursprünglich ein unzulänglicher Versuch, die Frage nach der allumfassenden Wahrheit oder nach der ewigen Ordnung zu beantworten.“ 7

Die Frage nach der Natur der Dinge ist die Frage nach der unveränderlichen Wahrheit der Dinge oder, wie Strauss es formuliert, es ist die Aufgabe der politischen Philosophie, Meinungen über die Natur politischer Dinge zu ersetzen durch 6 7

Strauss (1977), 12. Strauss (1977), 13.

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ein Wissen über die Natur politischer Dinge. 8 Politische Philosophie ist nach ihm etwas anderes als politisches Denken im Allgemeinen. Politisches Denken sei gleichgültig gegenüber der Unterscheidung von Meinung und Wissen. Die Aufgabe der politischen Philosophie sei es, durch fortwährende Anstrengung des Nachdenkens über die Natur politischer Dinge, Meinungen über diese durch Wissen zu ersetzen. Ein politischer Denker oder ein Politiker ist in erster Linie an einer bestimmten politischen Denkrichtung interessiert, der politische Philosoph an der Wahrheit über politische Dinge. Deshalb müsse zwischen politischer Philosophie und anderen Formen des Nachdenkens über Politik unterschieden werden, also von der politischen Wissenschaft, den Sozialwissenschaften, der Geschichte. Diese behandeln immer nur bestimmte Aspekte der Politik, nicht aber die grundsätzliche Frage nach der Natur der politischen Dinge. Die Frage nach der politischen Natur der Dinge ist nach Strauss der Ursprung der politischen Philosophie bei den Griechen. Sokrates, der sich von der Natur ab- und dem Menschen zuwandte, verkörpert dieses Denken, denn er fragt nicht nach der Besonderheit einer Polis, eines Staates, einer Verfassung, einer Gerechtigkeit, sondern nach der Natur dieser Dinge. Seine Fragen beginnen mit: Was ist ...? Er möchte wissen, was unabhängig der Meinungen, der Konventionen, die Polis, der Staat, die Verfassung, die Gerechtigkeit ist. Die Entdeckung der – äußeren – Natur ist die Entdeckung der Natur schlechthin. Während Konventionen und Meinungen sich auf die Autorität der Überlieferung berufen, bricht das philosophische Denken mit den Meinungen und Konventionen durch die Behauptung, dass es unabhängig der Konventionen und Meinungen eine Wahrheit ist, die hinter bzw. über den Konventionen und Meinungen steht. Die Vorstellung vieler Menschen heute, so Strauss, dass die gegenwärtige Ordnung die beste sei mit der Begründung, unsere heutige Zivilisation sei besser als alle vorherigen, hält er für ein schlechtes Argument. Eine solche Denkweise, dass eine Ge8

Strauss (1973/1), 11 f.

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sellschaft über sich selbst urteilt ohne den Maßstab eines philosophischen Fragens nach der besten Ordnung schlechthin, müsse für jede Gesellschaft gleichermaßen gelten, und Kannibalismus sei dadurch ebenso zu rechtfertigen wie jede andere politische Ordnung. 9 Den modernen Sozialwissenschaften wirft Strauss vor, dass sie eingestehen, kein wahres Wissen über die Prinzipien unseres politischen Denkens haben zu können, sondern dass wir uns damit zufrieden geben müssten, sehr viel Wissen über die konkreten Formen von Politik zu haben, ohne jemals ein sicheres Wissen im Sinne prinzipieller Wahrheiten zu erreichen. Alle Zivilisationen seien deshalb gleich zu behandeln und nur das konkrete Wissen über eine konkrete politische Lage ist Maßstab unseres Urteils. Das moderne Geschichtsdenken und die modernen Wissenschaften arbeiteten an der Zerstörung der politischen Philosophie. 10 Der Konventionalismus, also die griechische Unterscheidung zwischen Konvention und der Natur der Dinge, denkt in einem Horizont eines philosophischen Fragens. Nach Strauss ermöglicht erst diese Unterscheidung, dass wir überhaupt die Frage stellen können, was die beste politische Ordnung ist. Diese Frage ist unabhängig von Konvention, Meinung, Tradition, Überlieferung zu stellen und kann durch diese gar nicht begründet werden. Politisches Denken gehe zwar immer aus der konkreten politischen Situation hervor und in ihr müsse konkret gehandelt werden. Dabei kann es der Fall sein, dass die konkrete politische Antwort auf eine konkrete politische Situation nicht der Erkenntnis der besten Ordnung entspricht. Dadurch aber wird diese Erkenntnis nicht diskreditiert, sondern das philosophische Denken fordert dazu auf, darüber nachzudenken, was getan werden könnte, um sich der besten politischen Ordnung anzunähern. Der Konventionalismus ermöglicht somit nach Strauss die klassische Form des Nachdenkens über Politik: die politische Philosophie. 9 10

Strauss (1965), 3. Strauss (1973/1), 18.

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Im Gegensatz dazu steht nach Strauss der historische Sinn bzw. das historische Denken. Der Historismus, das moderne Geschichtsdenken, entstand nach Strauss im Kontext der Französischen Revolution und fand ihren Ausdruck in der historischen Schule. Während sich die Französische Revolution auf grundlegende Vernunftprinzipien aus der Aufklärung berief – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als unveräußerliche Rechte, die allen Menschen zustehen –, entwickelte sich im Zeitalter der Restauration als Ablehnung dieser universellen Forderungen ein historisches Denken, das die Besonderheiten einer jeden Kultur, Zeit, historischen Entwicklung betonte. Dieses historische Denken verbreitete sich im 19. Jahrhundert und Geschichte etablierte sich als Wissenschaft, deren Ziel es war, die objektive Wahrheit der Geschichte aufzudecken. 11 Die Objektivität der Geschichte in der historischen Schule bezog sich aber nach ihrem Selbstverständnis auf die jeweils besondere Geschichte einer Nation, eines Staates, eines Volkes. Damit sollte besonders in Deutschland eine Rechtfertigung für die Ablehnung der Ideen der Französischen Revolution legitimiert werden. Die Betonung der Geschichte zur Erfassung der Wirklichkeit ermöglichte die Betonung der je eigenen besonderen Geschichte, die an keinem Maßstab gemessen werden konnte: „Indem die historische Schule Maßstäbe zu finden suchte, die objektiv waren und gleichzeitig den jeweiligen historischen Situationen entsprach, maß sie der historischen Forschung eine weitaus größere Bedeutung bei, als sie jemals besessen hatte [...] Da alles menschliche Streben vom Menschen ausgeht und zu ihm zurückkehrt, konnte die empirische Erforschung der Menschheit anscheinend mit Recht eine größere Würde als alle anderen Tatsachenwissenschaften für sich beanspruchen. Die Geschichte – die von allen zweifelhaften oder metaphysischen Voraussetzungen losgelöste Geschichte – erlangte die höchste Autorität.“ 12

11 12

Cheng (2012), 61. Strauss (1977), 17 f.

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Damit lehnte der Historismus allgemeine Vernunftprinzipien ab. Vernunftprinzipien selbst sind nur Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche und in letzter Konsequenz ebenso relativ wie die historische Epoche selbst, die diese Vernunftprinzipien hervorgerufen hat. Das moderne historische Denken kann deshalb mit der politischen Philosophie nichts anfangen. Die Antwort auf die Frage nach der besten politischen Ordnung ist ebenso zeitgebunden wie die Antworten auf die Fragen nach dem, was das Recht ist oder was Gerechtigkeit bedeutet. Die Entdeckung von z. B. unterschiedlichen Rechtsvorstellungen ist aber nach Strauss noch nicht einmal eine besondere Leistung der historischen Schule. Dass es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, was Recht und Gerechtigkeit bedeuten, sei trivial: „Die historische Schule hat die örtliche und zeitliche Vielfalt von Rechtsvorstellungen nicht etwa entdeckt: das Selbstverständliche braucht nicht entdeckt zu werden. Man könnte höchstens sagen, dass sie den Wert, den Zauber und die Innerlichkeit des Örtlichen und Zeitlichen aufdeckte oder dass sie deren Überlegenheit über das Allgemeine aufzeigte. Vorsichtiger wäre es zu sagen, dass die historische Schule, indem sie die Tendenz von Menschen wie Rousseau radikalisierte, behauptete, dass das Orts- und Zeitgebundene höheren Wert als das Allgemeine hat. Infolgedessen erschien schließlich dasjenige, was zuvor Anspruch auf Universalität erhob, abgeleitet von etwas Orts- und Zeitgebundenem, als das Räumliche und Zeitliche in statu evanescendi. Die Naturrechtslehre der Stoiker zum Beispiel würde so wahrscheinlich als bloßer Reflex eines besonderen geschichtlichen Stadiums in einer besonderen, örtlich begrenzten Gesellschaft erscheinen, nämlich als Reflex der Auflösung der griechischen Polis.“ 13

Was Strauss beunruhigt, ist die Tatsache, dass durch den Historismus politische Philosophie unmöglich geworden ist. Der Anspruch auf historische Einmaligkeit und Besonderheit einer Kultur, Zivilisation oder Epoche verwische die Frage nach den Prinzipien, mit denen wir über unseren Zeithorizont hin13

Strauss (1977), 16.

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aus kritisch über unsere bzw. eine Kultur, Zivilisation, Epoche denken können. Die politische Philosophie als Frage nach der Natur der politischen Dinge muss deshalb den Historismus in Frage stellen. Strauss arbeitet heraus, dass politische Philosophie im Anschluss an den Konventionalismus zwar immer aus Gesprächen über konkrete politische Angelegenheiten hervorgeht, aber dabei nicht stehenbleibt, sondern nach dem fragt, was die Konvention nicht beantworten kann: die Frage nach grundlegenden Prinzipien einer oder, besser gesagt, der besten politischen Ordnung. Die Vorstellung, dass wir aus der Geschichte eine kontinuierliche Entwicklung zum Besseren erkennen können, ist nach Strauss ein Dogmatismus, der zu der Überzeugung führen muss, dass wir auch in politischen Dingen der Wahrheit immer näher kommen. 14 Eine solche Sichtweise ist aber eine unphilosophische Sichtweise. Sie schließt die Frage nach der Wahrheit aus. Das Wesen der politischen Philosophie liegt aber genau darin, dass sie im Gegensatz zu empirischen Wissenschaften wie den Sozialwissenschaften, der Geschichtswissenschaft oder der Politikwissenschaft die Frage nach den grundlegenden Prinzipien in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt. Für Strauss ist dies die Voraussetzung dafür, um Traditionen, Überlieferung, Konventionen in Frage stellen zu können. Die entscheidende Frage der politischen Philosophie lautet deshalb nicht, was in einer gegebenen Ordnung am besten ist, sondern sie muss die grundlegende Frage nach der schlechthin besten Ordnung stellen. In dieser zentralen Frage liegt ihr ursprüngliches Ansinnen, das die Griechen erkannt haben: die Infragestellung der Überlieferung nicht durch den Verweis auf eine bessere Zukunft, sondern eine Infragestellung der Überlieferung durch die Frage, welche politische Ordnung die beste ist. Ein historisches Denken kann nach Strauss nur durch den Blick auf eine bessere Vergangenheit oder eine bessere Zukunft Gegenwart kritisch in den Blick nehmen. Die politische Philosophie muss ihrem 14

Strauss (1973/3), 266.

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Wesen nach diese Gegenwart transzendieren, indem sie nicht den Blick auf ein Zeitliches richtet, sondern auf ein Grundsätzliches: die grundsätzlich beste politische Ordnung. Zwar müssen wir in der politischen Wirklichkeit unser Handeln nach den politischen Umständen richten, aber eine Orientierung für unser Handeln können wir daraus nicht gewinnen. Diese Orientierung ergibt sich aus der Erkenntnis nach den grundsätzlichen Prinzipien der besten politischen Ordnung. Letzten Endes geht es um die Frage, ob Philosophie im Angesicht einer historischen Welt überhaupt noch möglich ist: „Philosophie ist nur dann möglich, wenn der Mensch, obschon unfähig, Weisheit oder ein volles Verständnis des Ganzen zu erwerben, doch fähig ist, ‚dass zu wissen, was er nicht weiß‘, d. h. wenn er die Grundprobleme und damit die grundlegenden Alternativen erfassen kann, die grundsätzlich immer dieselben bleiben [...] Die Möglichkeit der Philosophie erfordert nicht mehr, als dass die Grundprobleme immer die gleichen bleiben.“ 15

Das Wesen der politischen Philosophie als Frage nach der besten politischen Ordnung, die jede Tradition, Überlieferung, Konvention übersteigt, zielt darauf ab, dass es in der politischen Praxis nicht nur möglich, sondern notwendig ist, das Handeln an der Einsicht in die beste politische Ordnung zu orientieren. Über alle Konflikte hinweg darf diese Richtschnur für das politische Handeln nicht aufgegeben werden. Die politischen Interessen dürfen deshalb nicht unter Verweis auf unterschiedliche Werte begründet werden. Wenn dies geschieht, dann ist das Wesen der politischen Philosophie zerstört bzw. wird dessen Unmöglichkeit proklamiert. Dieses Problem greift Strauss in einer ausführlichen Kritik an Max Weber auf.

15

Strauss (1977), 37.

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II. Die Kritik an Max Weber

Nach Strauss geht Max Weber in letzter Konsequenz in der Auflösung der politischen Philosophie noch weiter als der Historismus. Beide sind sich einig in der Ablehnung des Naturrechts als eines transzendenten Rechts, das jeder Rechtsordnung vorausgeht. Während der Historismus durch die Historisierung des Naturrechts noch eingeschränkt am Naturrecht als einem historischen Recht festhält, geht Max Weber über diese Deutung hinaus, indem er auch diesen Ansatz verwirft. Weber wirft der historischen Schule vor, so Strauss, dass sie zwar das Naturrecht historisiert hatte, aber überzeugt war, dies methodisch objektiv nachzuweisen. Die Relativierung von Mensch und Welt basierte demnach auf einer objektiven Erkenntnis. Diese Form der objektiven Erkenntnis lehnte Weber ab: „Er trennte sich von der historischen Schule nicht, weil sie natürliche Normen, d. h. Normen, die sowohl universal als auch objektiv sind, verworfen hatte, sondern weil sie versucht hatte, Maßstäbe aufzustellen, die allerdings partikular und historisch, aber immer noch objektiv waren. Nicht weil die historische Schule die Idee des Naturrechts verdunkelt hatte, sondern weil sie das Naturrecht, statt es in seiner Gesamtheit zurückzuweisen, unter historischem Deckmantel beibehalten hatte, wandte er sich gegen sie. Die historische Schule hatte dem Naturrecht ein historisches Gepräge gegeben, indem sie auf dem ethnischen Charakter allen echten Rechts bestand bzw. alles echte Recht auf den speziellen Volksgeist zurückführte und indem sie annahm, dass die Geschichte der Menschheit ein sinnvoller oder ein durch einsichtige Notwendigkeit beherrschter Prozess sei. Weber verwarf beide Annahmen als metaphysisch, d. h. als auf der dogmatischen Prämisse der Vernünftigkeit alles Wirklichen beruhend.“ 16

Weber selbst teilte nicht die Vorstellung der historischen Schule, dass es einen mehr oder minder sinnvollen Prozess der Geschichte gebe und dass aus der Erkenntnis dieses Prozes16

Strauss (1977), 39.

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ses rationales Wissen über die Gegenwart gewonnen werden könne, wenn es um die eigenen, subjektiven Einstellungen und Wertungen gehe. Hier herrsche ein Kampf um Ideale und Weltanschauungen, die aus der Erkenntnis über die Geschichte nicht gewonnen werden können. Weber formulierte diese Sichtweise so: „Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, dass wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchführung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, dass ‚Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und dass also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren.“ 17

Mit diesem Ansatz radikalisierte Weber nach Strauss das historische Denken, indem er davon ausging, dass es außer dem subjektiven Sinn oder dem von den Akteuren der Geschichte Gewollten keinen Sinn der Geschichte gibt. Damit wollte er keinem willkürlichen Relativismus das Wort reden, sondern ihm ging es um Möglichkeiten und Grenzen der Sozialwissenschaften als Wissenschaft mit dem Anspruch auf Objektivität. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte Weber die Beziehung zwischen dem Wissenschaftler und dem Gegenstand seiner Untersuchung. Dass es in der Art und Weise des Umgangs mit dem Gegenstand der Untersuchung Objektivität gäbe – das war Webers Überzeugung. Das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis sah er in der objektiven Geltung ihrer Ergebnisse als Wahrheit. Dies gelte aber nicht für den Sozialwissenschaftler, da er von Idealen, Werten, Annahmen ausgehe, die in letzter Konsequenz subjektiv und willkürlich seien, unabhängig von der Tatsache, dass der Wissenschaftler davon überzeugt sei, seine eigenen Werte und Ideale kritisch zu 17

Weber (1904), 154.

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prüfen. Eine solche kritische Prüfung und Abwägung ist nach Weber nicht mehr Teil der Wissenschaft: „Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich nicht mehr mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihn zu dem Bewusstsein verhelfen, dass alles Handeln und natürlich auch, je nach den Umständen des Nicht-Handelns, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen ist seine Sache.“ 18

Damit trennt Weber Werturteile und Erfahrungswissen. Der Forscher bringt bereits Werturteile in den Forschungsprozess mit, indem er bestimmte, von ihm gestellte Fragen an den zu untersuchenden Gegenstand stellt. Mit seinen Werturteilen, die seine Fragen beeinflussen, lenkt er den Gegenstand seiner Untersuchung. Dieser selber, im Sinne einer empirischen Erforschung, sei durchaus objektiv, nicht aber das, was an dem Gegenstand untersucht werden soll. Dies liegt nach Weber in der Tatsache begründet, dass es keine objektive wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens gibt: „Es gibt keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder – was vielleicht etwas Engeres, für unsern Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet – der ‚sozialen Erscheinungen‘ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich oder stillschweigend, bewusst oder unbewusst – als Forschungsprojekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit [...]. 19

Strauss betont, dass Weber damit zwischen sittlichen Geboten und kulturellen Werten unterscheidet und beide den 18 19

Weber (1904), 150. Weber (1904), 170.

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Sphären des Sollens und des Seins zuordnet, zwischen denen es keine wirklich nachvollziehbare Verbindung gibt. Zwischen Norm und Wert existiert bzw. kann ein Gegensatz existieren, der durch die Wissenschaft selbst weder überbrückt noch gelöst werden kann: „Sittliche Gebote appellieren an unser Gewissen, während kulturelle Werte unser Gefühl ansprechen: das Individuum soll seine sittlichen Pflichten erfüllen, während es völlig von seiner Willkür abhängt, ob es Kulturideale verwirklichen will oder nicht. Kulturidealen oder –werten mangelt es an spezifisch verpflichtendem Charakter moralischer Imperative.“ 20

Mit dieser Argumentation hat Weber nach Strauss die Ethik selber relativiert. Die Würde des Menschen in einer zunehmend verwissenschaftlichten Welt liegt in der Freiheit, sich seine letzten Werte selbst zu setzen. Darin liegt in der modernen Welt die eigentliche und letzte Würde des Menschen. Was Strauss an Webers Argumentation bemängelt, ist die Einseitigkeit, mit der Weber bereit ist, die Frage nach der Objektivität von Werturteilen aufzugeben. Die apodiktische Haltung Webers in dieser Frage führe dazu, sich als Historiker von vornherein von der Verantwortung zu entbinden, in der Rekonstruktion der Vergangenheit und deren Interpretation sich an Maßstäben zu orientieren, die nicht aus den eigenen Werturteilen abgeleitet werden können: „Die Verwerfung von Werturteilen gefährdet die historische Objektivität: erstens verhindert sie, dass man ein Ding bei seinem rechten Namen nennt; zweitens gefährdet sie jene Art der Objektivität, die zu Recht das Vermeiden von Wertungen erfordert, nämlich die Objektivität der Interpretation. Der Historiker, der die Unmöglichkeit objektiver Werturteile als erwiesen annimmt, kann das auf der Annahme der Möglichkeit objektiver Werturteile beruhende Denken der Vergangenheit, d. h. praktisch allen Denkens früherer Generationen, nicht sehr ernst nehmen. Indem er schon von vornherein weiß, dass dieses Denken auf einer fundamentalen Täuschung beruhte, mangelt es ihm am notwen20

Strauss (1977), 45.

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digen Antrieb, die Vergangenheit zu verstehen zu suchen, wie sie sich selbst verstanden hat.“ 21

Strauss gesteht Weber zu, selber durchaus an den Idealen einer aufgeklärten Gesellschaft festgehalten zu haben. So habe Weber das Ziel der Wissenschaft darin gesehen, sich von Täuschungen und Illusionen frei zu machen und sich mit Klarheit den großen Aufgaben der Gegenwart zu stellen. Die Welt sei nur durch Wissenschaft zu erklären. Diese Entwicklung aber habe Weber auch negativ gedeutet. Die Verwissenschaftlichung der Welt führt demnach zu ihrer Entzauberung, d. h. zu einer Welt, in der der Mensch der wissenschaftlichen Erkenntnis folgen müsse, wenn er auf der Höhe der Zeit leben wolle. Freiheit gibt es dann nur noch im Bereich der eigenen Werte. Nur in diesem Bereich habe die Wissenschaft eine Grenze, die sie nicht durchbrechen könne. Über diese Werte zu streiten, sei die eigentliche Aufgabe und Herausforderung des Menschen in einer verwissenschaftlichten Welt. Strauss vermutet hinter dieser Deutung Webers, dass der Kampf zwischen den Werten mehr sei als eine Auseinandersetzung darüber, wie die Welt politisch zu gestalten sei. Strauss ist der Überzeugung, dass für Weber Kampf wichtiger sei als Frieden und letzterer als Dauerzustand nicht wünschenswert sei: „Webers These von der Unlösbarkeit des Kampfes zwischen den Werten war somit ein Teil oder eine Folge der umfassenden Ansicht, nach welcher das menschliche Leben wesentlich ein unausweichlicher Kampf ist. Aus diesem Grund erschien ihm ‚Friede und allgemeine Glückseligkeit‘ als ein illegitimes oder phantastisches Ziel. Sogar wenn dieses Ziel erreicht werden könnte, so dachte er, wäre es nicht wünschenswert. Es wäre der Zustand jener ‚letzten Menschen, die das Glück erfunden haben‘, und gegen welche Nietzsche seine ‚vernichtende Kritik‘ gerichtet hatte. Wenn Friede mit dem menschlichen Leben unvereinbar ist, dann scheint das ethische Problem eine klare Lösung zuzulassen: die Natur der Dinge erfordert eine Kriegerethik als Grundlage für eine ‚Machtpolitik‘, die ausschließlich von Erwägungen des nationalen Inter21

Strauss (1977), 63.

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esses geleitet wird; oder ‚der nackteste Machiavellismus [müsste] in jeder Hinsicht als selbstverständlich und ethisch ganz unanstößig betrachtet werden‘.“ 22

Aus diesem Dilemma, der Erkenntnis, wie die Welt, nach Weber, ist, und den eigenen Idealen, gibt es kein Entrinnen. Indem Weber Werte und Werturteile aus einer ethischen Grundhaltung aus dem Bereich der Erkenntnis verbannte, radikalisierte er – unbewusst – den Ansatz der historischen Schule, alle Erkenntnis aus dem Horizont der Geschichte zu deuten. Die scheinbare Rettung der Objektivität wissenschaftlichen Denkens in den Sozialwissenschaften wurde erkauft mit einer Preisgabe eines ethischen Relativismus, der in seiner Konsequenz noch über den Relativismus des Historismus hinausgeht. Damit verschärft sich aus der Sicht von Strauss das Problem des Historismus und des modernen historischen Denkens, indem es jede Begründungsmöglichkeit bereits in dem Horizont eines historischen Relativismus denkt, der selber schon relativistisch ist. Die Kritik an Max Webers Wertdenken hat Strauss vor Augen geführt, dass der Historismus noch dort am Werk war, wo er in den Augen seiner Protagonisten als überwunden gelten sollte.

III. Das grundsätzliche Problem des Historismus

Strauss begründet seine Kritik am Historismus grundsätzlich, d. h. er möchte aufzeigen, dass der Historismus und das moderne Geschichtsdenken auf Voraussetzungen beruhen, die seine Unhaltbarkeit aufzeigen. Nicht, dass historisch gedacht wird, ist das Ziel von Strauss Kritik, sondern dass das historische Denken nicht durch sich selbst zu begründen ist und die Philosophie und damit die politische Philosophie durch dieses Denken diskreditiert werden. Darüber hinaus formuliert Strauss seine Bedenken gegenüber dem historischen Denken, 22

Strauss (1977), 67.

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da er im Historismus eine Wurzel der modernen totalitären Ideen sah, die in dieser Denkrichtung gründen. Wenn alles historisch ist, dann gibt es keine Möglichkeit, dem Kampf der Werte und den Weltanschauungen eine vernünftige Alternative gegenüberzustellen, die uns die Gefahren von bestimmten Werten und bestimmten Weltanschauungen vor Augen führt. Das Gegenargument, dass das eigene Denken und Urteilen ebenso historisch, kulturell, zeitgeschichtlich bestimmt ist, enthält bereits seine grundsätzliche Entkräftigung. Strauss sieht nur eine Möglichkeit, die Grenzen und damit das grundsätzliche Problem des Historismus aufzuzeigen: ein – politisches – Denken, das sich jenseits des historischen Denkens begründen lässt. Hierzu greift er auf das antike Naturrecht zurück, das im Gegensatz zum modernen Naturrecht die Überzeugung hat, dass Konventionen, Traditionen, Überlieferung durch Vernunft befragt und transzendiert werden können. In der Entdeckung der Natur bei den Griechen sieht Strauss den entscheidenden Punkt seiner Ausgangsüberlegungen, denn das moderne Naturrecht, das mit Hobbes einsetzt, habe sich bereits von der ursprünglichen Entdeckung der Natur entfernt. Nur die erstere, die ursprüngliche Entdeckung der Natur eröffnete dem Denken einen Horizont, der Mensch und Welt aus dem Horizont seiner Überlieferung herausholte: „Somit kann in Kürze gesagt werden, dass die Entdeckung der Natur identisch mit der Verwirklichung einer menschlichen Möglichkeit ist, welche zumindest ihrer eigenen Deutung zufolge transhistorisch, transsozial, transmoralisch und transreligiös ist.“ 23

Die Unterscheidung zwischen Natur und Konvention ist Ursprung und Beginn der Philosophie und damit so alt wie die Entdeckung der Natur. Während Religion, in welcher Form auch immer, an Überlieferung gebunden ist, selbst wenn dadurch gegenwärtige Konventionen in Frage gestellt werden, so fußt sie doch in der Vorstellung, dass in der Autorität der 23

Strauss (1977), 91.

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Religion bzw. des Gottes in den monotheistischen Religionen Wahrheit verkündet worden ist. Im Gegensatz dazu hat die Natur eine eigene Würde, die die Griechen entdeckt hätten. Indem sie mit Hilfe der Natur eigene Institutionen kritisch befragt hätten, hätten sie die Idee aufgenommen, dass der Natur selber eine Würde zukommt, die ungeachtet menschlicher Wünsche und Vorstellungen Wahrheit verbirgt: „Die Natur ist älter als jede Tradition; somit ist sie ehrwürdiger als jegliche Tradition. Die Anschauung, dass die natürlichen Dinge von höherer Würde als die von Menschen geschaffenen Dinge sind, basiert nicht auf irgendwelchen heimlichen oder bewussten Anleihen aus dem Mystischen oder auf Überbleibseln des Mythischen, sondern auf der Entdeckung der Natur selbst [...] Indem die Philosophie die Autorität des Angestammten entwurzelt, erkennt sie die Natur als die Autorität an.“ 24

Die Natur als die Autorität ist unabhängig von Meinungen und Wünschen. Nach der Natur einer Sache fragen, heißt, nach ihrer zeitlosen Wahrheit fragen. Für die Griechen enthält die Natur selber ein Wissen, das nicht im Menschen oder in der menschlichen Welt gründet, sondern über diese hinausgeht. Das moderne Naturrecht, das nach Strauss mit Hobbes beginnt, hat diese fundamentale Sichtweise aufgegeben. Hobbes und die modernen Verfechter des Naturrechts sind davon ausgegangen, dass eine politische Ordnung ihren Ausgangspunkt im Menschen hat. Hier kommt ein ganz anderer Naturbegriff ins Spiel. Hobbes spricht von der Natur des Menschen, die ihn dazu bringe, Krieg gegen alle zu führen, solange es keine Autorität gibt, die dem kriegerischen Menschen und seinen kriegerischen Handlungen eine Grenzen zieht. Die Natur wird nicht mehr als eigenständige Wesenheit begriffen, sondern in den Menschen mit seinen Anlagen verlegt, wodurch der Mensch in seiner problematischen Seite zum Ausgangspunkt des modernen politischen Denkens wird. Der Mensch mit seinen Meinungen über Glück, Unglück, Gerechtigkeit, Moral ist Grund und Ur24

Strauss (1977), 94.

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sache für das moderne politische Denken. 25 Von dieser Natur des Menschen wird das moderne Naturrecht begründet. Die tiefste und ursprünglichste Bestimmung der Natur des Menschen liegt nach Hobbes in seiner Angst vor einem gewaltsamen Tod. Diese negative Bestimmung bzw. Leidenschaft ist Motiv für alle anderen Handlungen, die nur ein Ziel haben können: die Selbsterhaltung. Deshalb muss das natürliche Recht von dieser natürlichen Leidenschaft abgeleitet werden. Hier liegt die Wurzel der Moral und alle moralischen Vorstellungen zielen auf die Selbsterhaltung ab. Die darauf gegründete politische Ordnung hat als grundlegendstes Ziel diese Selbsterhaltung und ist demnach die Verwirklichung der Selbsterhaltung seiner Mitglieder und hat in dieser ihre eigentliche Bestimmung. Im Gegensatz dazu sahen die Griechen das Problem der Begründung einer politischen Ordnung ganz anders. Sie fragten, in was für einer politischen Ordnung der Mensch leben müsse, um seine Fähigkeiten gemäß der Natur am besten entfalten zu können: „Um sich voll zu entwickeln, muss der Mensch in der besten Art der Gesellschaft leben, in jener nämlich, die menschlicher Vortrefflichkeit am meisten förderlich ist. Die Klassiker nannten die beste Gesellschaft die beste politeia. Mit diesem Ausdruck deuteten sie an, dass eine Gesellschaft, um gut zu sein, in allererster Linie eine bürgerliche oder politische Gesellschaft sein müsse, eine Gesellschaft, in welcher Menschen regieren oder regiert werden und man nicht nur Dinge verwaltet [...] Die klassischen Denker gebrauchten politeia im Gegensatz zu ‚Gesetzen‘. Die politeia ist viel grundlegender als irgendwelche Gesetze, sie ist die Quelle aller Gesetze.“ 26

Die Frage nach dem besten Regime bzw. nach der besten politischen Ordnung ist die Frage nach der Natur, d. h. der Wahrheit, der politischen Ordnung schlechthin. An dieser Wahrheit muss sich jede politische Ordnung messen lassen. Dies bedeu25 26

Tanguay (2007), 105. Strauss (1977), 140.

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tet nicht, dass sie diese Wahrheit unmittelbar verwirklichen kann, aber es ist der Maßstab, der jede historische Form einer politischen Ordnung durchbricht: „Das beste Regime, wie es die klassischen Denker verstanden, ist aber nicht nur höchst wünschenswert. Es soll auch zu verwirklichen oder möglich sein, d. h. auf Erden möglich sein. Es ist sowohl wünschenswert als auch möglich, weil es naturgemäß ist. Da es naturgemäß ist, bedarf es zu seiner Verwirklichung keiner wunderbaren oder nicht-wunderbaren Veränderung der Natur des Menschen. Es bedarf nicht der Abschaffung oder Ausrottung dieses Übels oder jener Unvollkommenheit, die zum Wesen des Menschen und des menschlichen Lebens gehört. Daher ist es möglich. Und weil es mit den Erfordernissen der Vortrefflichkeit oder Vervollkommnung der menschlichen Natur in Einklang steht, ist es auch höchst wünschenswert.“ 27

Somit ist nach Strauss der Blick auf das antike Naturrecht, die Idee der Natur, die notwendige Voraussetzung, um die Grenzen des modernen Naturrechts und des Historismus zu erkennen. Indem er die Begründung des politischen Denkens in der politischen Philosophie verortet, zeigt Strauss das zentrale Problem des Historismus und des modernen Geschichtsdenkens auf: die Unmöglichkeit des Historismus, grundsätzliche Antworten auf grundsätzliche Fragen des – politischen – Menschen geben zu können. Der Historismus in seiner klassischen Ausrichtung wie bei Droysen muss immer wieder die Besonderheit eines Staates, einer Verfassung einer Kultur betonen. Die Geschichtsphilosophie verstrickt sich in dem Problem, dass alle Geschichte selber schon eine objektive Verwirklichung der Vernunft ist, die selber nicht transzendiert werden kann. Die totalitären Verwirklichungen der Geschichtsphilosophie, der Marxismus und der Faschismus, wurden in den Augen ihrer Vertreter mit diesem Argument, dem objektiven Verlauf der der Geschichte innewohnenden Entwicklungen, begründet. Der antike telos Gedanke fußte dagegen auf der Vorstellung, dass jedes Ding eine ihm innewohnende Natur hat, die es zur Verwirk27

Strauss (1977), 143.

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lichung bringen will. Einen telos der Geschichte kannte die Antike nicht. Mit dieser Kritik von Strauss am modernen historischen Denken schließt sich vorläufig der Kreis. Strauss hat gezeigt, worin die grundsätzliche Problematik des historischen Denkens liegt – unabhängig davon, in welcher – wissenschaftlichen – Form dieses Denken auftritt. Es liegt in der Relativierung aller Kulturen, Werte, Verfassungen und der Unmöglichkeit, jenseits der historischen Erkenntnis einen Horizont zu gewinnen, vor und mit dem wir historische Erkenntnisse dem Zufall subjektiver Einsichten entreißen können. Dort, wo der Historismus glaubte, das Problem der Relativierung umgehen zu können, in der Geschichtsphilosophie bzw. in der Vorstellung objektiver bzw. sittlicher Mächte in der Geschichte, verfestigte er das jeweilige Fortschrittsdenken der jeweiligen Gegenwart. Dies gilt auch noch dort, wo die Idee des Fortschritts kritiklos dem untersuchten historischen Gegenstand untergeschoben wird. Seine Antwort auf dieses grundsätzliche Problem hat Strauss in der Wiederentdeckung des klassischen Naturrechts gesehen, d. h. in der Möglichkeit, Historisches transzendieren zu können. Sein Anliegen war auch, die totalitären Ideen seiner Gegenwart kritisch zu beleuchten. Sie beriefen sich auf die Machbarkeit der Natur in einem umfassenden Sinn und hatten diese Vorstellung auf die Politik übertragen. Seine Kritik zielte aber auch auf einen naiven Liberalismus, der mit seiner versteckten Fortschrittsgläubigkeit umfassend historisch denkt und das antike Naturrecht ebenso in Frage stellt wie der Historismus. Damit formuliert Strauss eine grundsätzliche Kritik am historischen Denken. Historisches Denken in seinen verschiedenen Spielarten – Geschichtsphilosophie, Historismus, Fortschrittsgläubigkeit, westlich zentriertes Weltgeschichtsdenken, naiver Liberalismus, Sozialismus – zerstören die Idee einer das Geschichtliche übersteigenden Transzendierung, die den Raum für das Politische öffnet, das nicht nur unter dem Diktum der Geschichte in seiner Relativität verstanden werden kann. Ohne

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eine solche Transzendierung entgleitet das moderne Geschichtsdenken in eine Orientierungslosigkeit, die den Menschen dem Diktum des Zeitgeistes ausliefert. Der Rückgriff auf die der Geschichte innewohnende Rationalisierung ist selber wieder eine Unterwerfung unter einen Fortschrittsglauben, der, einseitig ausgelegt, an die Traditionen des westlichen Weltgeschichtsdenkens nahtlos anknüpft. Der Historismus ist trotz scheinbarer Überwindung in der Geschichtswissenschaft in Deutschland nach wie vor aktuell. In Bezug auf eine Neuorientierung der Globalgeschichte, ein Begriff, der in den letzten Jahren zunehmend anstelle des Begriffs Weltgeschichte verwendet wird, konstatieren Matthias Middel und Katja Neumann, dass es für den Moment so scheint, „dass das Historische Seminar auf die hinteren Plätze im Schaffen von Räumen und Gelegenheiten rückt, bei denen Nationalstaaten historisiert und kulturübergreifende Transfers nachgezeichnet werden“. 28 Die Relativierung der eigenen Geschichte wäre aber der erste Schritt, um sich in anderen Geschichten dem Gemeinsamen zu öffnen, das alles Historische transzendiert.

28

Middel / Naumann (2011), 101 f.

G. Rückblick und Ausblick Die Tradition des modernen historischen Denkens in Deutschland ist eng an den Historismus geknüpft. Der Historismus ist die im 19. Jahrhundert sich entwickelnde Denkrichtung, die im Prozess der Verwissenschaftlichung den Gegenstand Geschichte an deutschen Universitäten als eine besondere Wissenschaft etabliert hat. Die Grundannahmen dieser Denkrichtung haben ihre Wurzeln – trotz scheinbarer Ablehnung – in dem Geschichtsdenken Hegels, der in der Geschichte einen objektiven Verlauf erkennt und die Geschichte als umfassende Erklärung von Mensch und Welt deutet, und in der Idee der Wissenschaftlichkeit, die im 19. Jahrhundert auf die Geisteswissenschaften übertragen wurde. Die Gründer des Historismus übernehmen diese Vorstellungen und begründen die Wissenschaftlichkeit der Geschichte in dem besonderen Gegenstand und der daraus hervorgehenden besonderen Methodik. Geschichte, so lautet das Grundargument, bezieht sich immer auf einzelne Geschehnisse, die nicht wie in den Naturwissenschaften durch Regelmäßigkeit, d. h. Gesetze, erklärt werden können. Während die Natur durch Gesetze erklärt, aber nicht verstanden werden kann, so kann Geschichte verstanden, aber nicht im naturwissenschaftlichen Sinn erklärt werden. Die Objektivität der Geschichte ergibt sich aus der ihr eigenen Methodik, die in ihrem Kern in der kritischen Prüfung von Quellen jedweder Art besteht. Die Deutung der Quellen entzieht sich dagegen der Objektivität. Droysen als ein typischer Vertreter des Historismus hält dennoch an Vorstellungen einer objektiven Geschichte fest. Die sittlichen Mächte bürgen in ihrer Kontinuität für eine sinnhafte Objektivität, die über die Einzelgeschehnisse hinaus den Gang der Geschichte bestimmt. Mit der Absage eines systematischen Ansatzes, wie er in der aufkommenden Soziologie gefordert wurde, verschloss der His-

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torismus die Augen vor den durch die Industrialisierung aufkommenden sozialen und ökonomischen Veränderungen. Die Abneigungen gegen Generalisierungen legte, so Iggers, dem Historismus Fesseln an, „und das in einer Epoche, in der neue Kräfte auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne auftraten“. Damit schleppte er „in einem von Technik und Wissenschaft bestimmten Zeitalter eine Gesellschaftsvorstellung und eine Methode mit sich, die eher für gewisse Aspekte des politischen und geistigen Lebens in einer vordemokratischen Epoche geeignet gewesen wären“. 1 Troeltsch als Außenseiter der Historikerzunft stellte sich diesem Problem und öffnete in seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus den Blick für die umgreifenden Veränderungen der Moderne. Dies befähigte ihn dazu, den Historismus nicht nur als eine besondere Form des Geschichtsdenkens, das sich in Deutschland im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, zu begreifen, sondern als eine umfassende Erklärungsweise von Mensch und Welt, die die Besonderheiten der Moderne in all ihren Facetten historisch zu begreifen versuchte. Sein anfänglicher Enthusiasmus wich einer kritischen Einstellung und Troeltsch musste bekennen, dass der Historismus als Denkform eine problematische Seite enthielt, die er selber nicht lösen konnte: die Relativierung des Denkens durch die Überführung aller Denk- und Lebensbereiche in den Horizont der Geschichte. Die Moderne mit den in ihr auftauchenden politischen Forderungen vom Marxismus bis zum Rassismus sah er vor ähnliche Herausforderungen gestellt wie die durch Religion geprägte Zeit des Mittelalters: anstelle religiöser Glaubenskämpfe traten nun politische Glaubenskämpfe, die den gleichen Anspruch auf Wahrheit stellten wie zuvor die Religion(en). Löwith knüpfte an diesen Gedankengang an und vertiefte ihn, indem er über die theologischen Voraussetzungen des modernen Geschichtsdenkens reflektierte. Er erkannte in der Struktur des modernen Geschichtsdenkens die Struktur der 1

Iggers (1971), 365.

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aus Judentum und Christentum stammenden heilsgeschichtlichen Erwartung. Die Ablehnung des griechischen Kosmos-Gedankens und die Hinwendung zu einem religiösen Weltbild, d. h. der Idee der Erschaffung der Welt und der Idee des Paradieses, führten zu einer Abwendung von einem an der Natur orientierten Denken hin zu einem innerweltlichen Weltverständnis, das die Natur aus dem Denken über Welt ausgrenzte. Das moderne Geschichtsdenken fußt nach Löwith auf dieser Struktur. Die Welt wird als eine menschliche Welt historisiert und die heilsgeschichtliche Erwartung in den Horizont eines Fortschritts übertragen. Mit der Kritik am modernen Geschichtsdenken wies Löwith darauf hin, dass das moderne Geschichtsdenken auf Annahmen beruht, die nicht aus diesem Denken stammen. Damit öffnete er den Blick für ein Nachdenken über die Voraussetzungen und Annahmen des modernen Geschichtsdenkens. Leo Strauss überführte diese kritischen Ansätze am modernen Geschichtsdenken in eine grundsätzliche, philosophische Kritik. Er warf dem modernen Geschichtsdenken vor, dass es versuche, sich selbst aus dem Gegenstand der Geschichte zu begründen, ohne einzusehen, dass dies gar nicht möglich sei. Den bei Troeltsch anklingenden Vorwurf des Relativismus als das Grundproblem des modernen Geschichtsdenkens vertiefte Strauss durch eine philosophische Befragung dieses Denkens. In seiner Kritik an Max Weber legte er dar, welche Gefahren in der Relativierung ethischer Fragen durch das moderne Geschichtsdenken liegen. In dieser Entwicklung spiegeln sich gleichzeitig die realhistorischen Erfahrungen des hier behandelten Zeitraums. Hegels Entwurf seiner Philosophie der Geschichte, der Weltgeschichte, speist sich aus zwei Quellen: zum einen nimmt er die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftauchenden Vorstellungen und Konzeptionen einer zusammenfassenden Darstellung von Geschichte auf und führt sie in einer fortschrittsorientierten Weltgeschichtsdeutung zusammen; zum anderen sieht er sich als Philosoph des preußischen Staates vor

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die Aufgabe gestellt, die im Zuge der preußischen Reformen durchgeführten Veränderungen für einen modernen preußischen Staat philosophisch-politisch zu untermauern. Indem Hegel im Protestantismus und in der preußischen Monarchie die höchste Stufe der welthistorischen Entwicklung sieht, liefert er eine historische Legitimation des neuen Staates, um ihn gegenüber den nach wie vor aus dem Bürgertum gestellten Forderungen der Französischen Revolution nach nationaler Einheit und Freiheit abzusichern. Diese Verquickung von Zeitumständen und Geschichtsdenken findet sich auch bei Droysen. In seiner Historik formulierte er den Gedanken, dass der Historiker die objektiven Mächte der Geschichte nur begreifen könne, wenn er sie vom Standpunkt seines Volkes und Staates betrachtet. Eine Objektivität, die sich daraus ergibt, dass der Historiker einen unvoreingenommenen Standpunkt einnimmt, indem er über den Dingen steht, lehnte er ab. Für den Historiker, so Droysen, ist „die Frage der Objektivität, der Unparteilichkeit, des vielgepriesenen Standpunkts außer und über den Dingen abgetan. Natürlich nicht von meiner subjektiven Willkür, von meiner kleinen und kleinlichen Persönlichkeit aus werde ich die Aufgaben der großen historischen Darstellung lösen wollen. Indem ich von dem Standpunkt, von dem Gedanken meines Volkes und Staates, meiner Religion aus die Vergangenheit betrachte, stehe ich hoch über meinem eigenen Ich. Ich denke gleichsam aus einem höheren Ich, in welchem die Schlacken meiner eigenen kleinen Person hinweggeschmolzen sind“. 2

Die Identifizierung mit der nationalen Frage spiegelt die problematische Entwicklung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wider. In dieser Phase treten die Forderungen von Teilen des liberalen Bürgertums bis zur Revolution 1848/49 nach einem einheitlichen deutschen Nationalstaat auf der Grundlage einer freiheitlichen Verfassung immer wieder auf. Das Scheitern dieser Umsetzung führte nach 1849 zu einem 2

Droysen (1977), 287.

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teilweisen Rückzug des Bürgertums aus der Politik. Die Reichseinigung 1871 unter Bismarck wurde zumindest als vorläufiger Teilerfolg gesehen, obwohl der politische Liberalismus mit seinen Forderungen nach Grundrechten in einer Verfassung gescheitert war. Droysens Bemühen einer Objektivität aus der Identifizierung mit seinem Volk und seinem Staat sind aus dieser Perspektive zu sehen. Die nationale Frage war für ihn wie für die meisten deutschen Historiker im 19. Jahrhundert die zentrale Frage der Geschichte. Gleichzeitig spiegelt sich in Droysens Bemühen um eine systematische Begründung der Geschichte als Wissenschaft die Abkehr von einem aufklärerischen Kosmopolitismus, wie er noch bei Kant zu finden war, zu einem an der eigenen Nation orientierten Geschichtsdenken. 3 Diese dem Historismus eigene Beschränkung auf nationale Fragen ist ein Grundzug des Hauptstroms des professionellen Geschichtsdenkens und -forschens in Deutschland bis heute. 4 Die Fundierung der Geschichte als Wissenschaft in Ablehnung generalisierender und systematischer Fragestellungen und die Betonung der Einmaligkeit historischer Geschehnisse hat sich in der Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft stärker verankert als dies in anderen Ländern der Fall war. Droysen steht deshalb mit seinem Ansatz, die Besonderheit der Geschichte als Wissenschaft von anderen Wissenschaften abzugrenzen, auch für den Hauptstrom der deutschen Geschichtswissenschaft bis in die 1960er Jahre und darüber hinaus bis heute. Troeltschs Entwicklung von einer einseitigen Bejahung des modernen Geschichtsdenkens bis hin zu seiner kritischen Auseinandersetzung in der Zeit von 1900 – 1922 reflektiert die Umbrüche durch den Weltkrieg und die sozialen und ökonomischen Folgen durch die Industrialisierung. Im Gegensatz zu den meisten Fachhistorikern seiner Zeit setzte er sich mit dem Marxismus, der Soziologie und der Nationalökonomie auseinander, um ein umfassenderes Verständnis der Moderne zu ge3 4

Sachsenmaier (2011), 113. Sachsenmaier (2011), 122 ff.

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winnen. Das moderne historische Denken war für ihn gleichzeitig Ausdruck der Moderne selbst, d. h. ein neues Weltverständnis, das nicht mehr auf den engen Bereich der Politik beschränkt werden darf, sondern umfassend alle Veränderungen, die durch die Moderne entstanden sind, historisch zu erklären hat. Löwiths Kritik am modernen Geschichtsdenken ist im Wesentlichen eine Antwort auf die totalitären Ideen des Marxismus und Faschismus. In ihnen kulminierte der Anspruch eines Geschichtsdenkens, das nur in der Geschichte Erkenntnisund Verwirklichungsmöglichkeit sah und jeden Anspruch an universelle Werte ablehnte. Wenn es einen universellen Wert gab, dann nur die Verwirklichung einer aus der Geschichte immanent abgeleiteten Entwicklungsidee. Die in die Geschichte gelegten heilsgeschichtlichen Erwartungen führten zu einem absoluten Anspruch auf die Unterwerfung des Menschen unter die geschichtliche Objektivität einer totalitären Geschichtsidee. Darüber hinaus liegt in Löwiths Kritik am modernen Geschichtsdenken auch eine Kritik an der modernen Fortschrittsgläubigkeit. In diesem Denken spiegeln sich die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und die Entwicklungen des Kalten Krieges, die den Anspruch auf eine Umsetzung und Verwirklichung einer besonderen Geschichtsdeutung zur Folge hatten: den Marxismus mit dem Endziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft und den Liberalismus mit seiner Fortschrittsgläubigkeit. Leo Strauss ist wie Löwith in seinem Denkansatz vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Scheiterns der Weimarer Republik und den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges zu sehen. Wie Löwith geht er in seinem Denken über die zeitbedingten Umstände hinaus. Der Historismus findet nach Strauss seine Antwort im europäischen Nihilismus und dieser ermöglichte die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die Subjektivierung der Werte, die der Historismus durch die Historisierung aller Lebens- und Wertvorstellungen propagiert, entpuppt sich als Ablehnung eines übergreifenden, universellen, ethischen Denkens, das die Menschen über alle Grenzen und

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Kulturen miteinander verbindet. In dieser systematischen Kritik am modernen Geschichtsdenken findet sich eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem historischen Denken und bereitet damit den Boden für Fragen, die auch das gegenwärtige Geschichtsdenken in seiner Substanz betreffen. Die Geschichtswissenschaft in Deutschland hat seitdem, den 1960er Jahren, verschiedene Entwicklungen durchlaufen und der klassische Historismus ist in dieser Zeit mit seiner Fixierung auf die politische Geschichte in Frage gestellt worden. Die Öffnung der Geschichtswissenschaft zur Ökonomie, Soziologie, zu den Kulturwissenschaften formte eine neue Ausrichtung historischen Denkens: Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Besonders der Bezug auf Max Weber, aber auch, wenn auch mit Einschränkungen, auf Karl Marx, befreite die Geschichtswissenschaft in Deutschland von den engen Banden einer politik- und machtorientierten Geschichte. Dennoch blieb der Fokus weitgehend auf die deutsche Geschichte beschränkt. Dieses klassische Erbe des Historismus wurde fortgeführt. Unter den Bedingungen der deutschen Teilung galt das Interesse der meisten Historiker Fragen über die Ursachen des Dritten Reiches und deren Folgen für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Fragen der Objektivität und der Darstellungsform von Geschichte – Geschichte als theoriegeleitete Wissenschaft (Hans-Ulrich Wehler) oder als sinnvolle Erzählung (Golo Mann) – prägten die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen der Historiker. Die Ablehnung universeller Normen durch den Nationalsozialismus wurde als Makel empfunden. Auch die strikte Ablehnung von Generalisierungen, wie sie der Historismus gepredigt hatte, wurde verworfen. Es entwickelte sich in Deutschland eine Öffnung des historischen Denkens zu anderen Wissenschaften und historischen Denkschulen außerhalb Deutschlands. Die deutsche Geschichte wurde stärker in den Kontext der westlichen Geschichte gestellt. Aber auch damit blieb die Geschichtswissenschaft in Deutschland stärker ihren Wurzeln verhaftet, als es ihren Protagonisten bewusst war. Sie standen in der Tradition der Weltgeschichtskonzeption von

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Hegel, die eine westliche Weltgeschichte war. Die Vernachlässigung der Geschichten von Ländern, Kulturen, Zivilisationen außerhalb Europas und den USA führte Hegels Geschichtskonzeption fort: andere westliche Geschichten wurden in erster Linie als Referenz zur deutschen Geschichte dargestellt und untersucht. Darunter fiel besonders die These vom deutschen Sonderweg, die erklären sollte, warum in Deutschland der Totalitarismus im Dritten Reich zur Entfaltung gekommen war, nicht aber in anderen westlichen Ländern wie England, Frankreich und den USA. Diese drei Länder hatten, so die Sonderwegstheorie, eine normale Entwicklung zur modernen westlichen Demokratie durchlaufen, während Deutschland im 19. Jahrhundert den Weg zu einer parlamentarischen Demokratie nicht vollzogen hatte. Inhaltlich wurde damit die Deutung des Dritten Reiches als eines Abweges der deutschen Geschichte umgedeutet und das Dritte Reich als Kontinuität der deutschen Geschichte gesehen. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft lag darin, durch eine Offenlegung der Fehlentwicklungen Deutschlands die Öffnung gegenüber dem Westen zu fördern. Interessanterweise wurde in diesen Diskussionen die Frage, ob die DDR ein totalitärer Staat ist, weitgehend ausgeklammert. In den 1980er Jahren entbrannte die letzte große Auseinandersetzung in der deutschen Geschichtswissenschaft: der Historikerstreit. Ernst Nolte hatte den Historikerstreit mit der These entfacht, dass der Nationalsozialismus als eine Antwort auf den sowjetischen Gulag zu begreifen sei, nicht aber aus dem Kontext der deutschen Geschichte. Dahinter verbarg sich die Frage, ob der Nationalsozialismus mit anderen totalitären Systemen verglichen werden könne. Die deutsche Wiedervereinigung führte zu einer erneuten Hinwendung zur deutschen Geschichte. Zwar gab es jetzt zahlreiche, sich immer weiter differenzierende Forschungsansätze von der Alltagsgeschichte, der Geschichte der Frauen, der Migrationsgeschichte, der Regionalgeschichte, aber im Gros blieb die Mehrzahl der professionellen Historiker der Nationalge-

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schichte verhaftet. 5 Die Veränderungen der Globalisierung wurden zwar aufgenommen, spielten und spielen aber bis heute nach wie vor eine eher marginale Rolle in der deutschen Geschichtswissenschaft. Ansätze einer Weltgeschichtsdeutung verbleiben allzu oft im Rahmen einer eurozentrischen Perspektive. 6 Forderungen wie die der amerikanisch-kanadischen Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Nathalie Zemon Davis, dass jeder Historiker ein globales Bewusstsein und Kenntnisse nicht-westlicher Geschichten haben sollte, sind noch lange kein Allgemeingut unter den professionellen Historikern in Deutschland. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty spricht in diesem Zusammenhang von einer Provinzialisierung Europas. 7 Die Ansätze einer Öffnung zu Fragen einer Globalisierung nehmen dennoch zu. Dies gilt für den institutionellen Rahmen, so etwa für die alle zwei Jahre stattfindenden Historikertage, auf denen seit den 1980er Jahren dem Thema außereuropäische Geschichte besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, als auch für die Arbeit einiger Historiker wie etwa Jürgen Osterhammel oder Lutz Raphael. Aber sie bleiben, so konstatiert der in den USA lehrende deutsche Historiker Dominic Sachsennmaier, in der deutschen Historikerzunft eher die Ausnahme. 8 Der kurze Ausblick auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Deutschland seit den 1960er Jahren führt am Ende zurück zu unserem Untersuchungsgegenstand: die Entstehung und Entwicklung des modernen Geschichtsdenkens in Deutschland, dem Historismus, und der im und nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden generellen Kritik an dieser Denkrichtung. Die generelle Kritik von Löwith und Strauss behält ihre Relevanz für ein kritisches Nachdenken über Geschichte. Der Diskurs in Deutschland über historische Fragen, 5 6 7 8

Sachsenmaier (2011), 122 ff. Sachsenmaier (2011), 121. Chakrabarty (2007). Sachsenmaier (2011), 130.

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besonders in der Fachdisziplin der Geschichtswissenschaft, verbleibt nach wie vor zu stark im Horizont seiner Entstehung: dem westlichen Geschichtsdenken Hegels, dem nationalstaatlichen des Historismus und dem erkenntnistheoretischen Droysens in der klaren Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Es scheint, dass der historisch Denkende sehr viel stärker historisch sozialisiert ist, als ihm dies bewusst ist. Deshalb ist eine intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft von Nöten, um durch die Erkenntnis der jeweiligen Besonderheit der Geschichtswissenschaft den Blick frei zu machen für die Begrenzungen, die aus dieser Wissenschaftsgeschichte kommen. Im deutschen Kontext würde dies eine stärkere Auseinandersetzung in der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik mit den Traditionen der eigenen Wissenschaftsdisziplin bedeuten. Im Zuge der Globalisierung ist eine solche Auseinandersetzung in Deutschland notwendig. Im Gegensatz zu den USA oder China ist in Deutschland das Nachdenken über Geschichte an Universitäten, in Schulen, aber auch in der Öffentlichkeit nach wie vor durch einen einseitigen Bezug auf die eigene Nationalgeschichte bzw. die westliche Geschichte gekennzeichnet. Die Infragestellung dieses Geschichtsbewusstseins durch eine kritische Aneignung der eigenen Wissenschaftstradition und deren Implikationen für das Nachdenken über Geschichte in Deutschland ist ein notwendiger Schritt, um das Nachdenken über Geschichte aus dem Bannkreis eines einseitigen westlichen Geschichtsdenkens zu befreien. Dies müsste unter anderem dazu führen, dass an den Universitäten die Kenntnis der eigenen Wissenschaftsgeschichte, aber auch der Blick auf andere Wissenschaftsgeschichten der Geschichtswissenschaften zum selbstverständlichen Kanon historischen Lernens gehört. 9 Ob es möglich ist, sich diesen Blick ohne eigne Fremderfahrung zu verschaffen, ist fraglich. Hier scheint es Grenzen zu geben, die bei auch noch so wohlwollender kritischer Selbstreflexion nicht überwunden werden können. 9

Iggers (2008).

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Der systematische Zusammenhang zwischen historischem Denken und Relativierung universeller Normen bleibt eine Herausforderung gegenwärtigen Geschichtsdenkens. Strauss’ generelle Kritik am Historismus ist als generelle Kritik an einem historischen Denken als umfassende Deutung von Mensch und Welt zu verstehen. Gleichzeitig führen die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die unter dem Begriff Globalisierung zusammengefasst werden, zu einer Öffnung des modernen historischen Denkens gegenüber anderen Geschichten. Dies bedeutet im Ansatz eine weitere und – auf den ersten Blick – tatsächliche Relativierung durch das historische Denken. Die Berücksichtigung der nicht-westlichen Geschichte(n) bzw. die Infragestellung einer westlichen Weltgeschichtsdeutung führen zu einer neuen Wahrnehmung von Geschichte. In einer sich globalisierenden Welt ist die Notwendigkeit des Wissens anderer Geschichten offensichtlich. Aus einer nationalstaatlichen oder westlichen Perspektive lässt sich der Prozess der Globalisierung nicht verstehen. Die Erhebung der Menschenrechte zu einer universellen Norm, so wie sie im Westen oft erhoben wird, ist eher der Ausdruck einer Fortführung westlicher Geschichtsdeutungen aus dem 19. Jahrhundert. „Die globale Geschichte“, so Iggers, „braucht keine klar definierte Theorie der historischen Entwicklung, keine umfassende Meistererzählung; im Allgemeinen verwirft sie diese sogar als Teil des westlich-imperialistischen Ballasts“. 10 Heinrich August Winklers Geschichte des Westens 11, die sich an dem normativen Projekt der Ideen von 1776 und 1789 orientiert und einseitig von der Vorstellung einer nur dem Westen eigentümlichen historischen Entwicklung, die zu einer Trennung von Staat und Religion geführt habe, ausgeht, ist die Fortführung eines historischen Denkens, das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat und sich den Entwicklungen der Globalisierung und der Hinwendung zu anderen Geschichten verschließt. Hier ist immer noch versteckt die Vorstellung, dass es eine besondere westliche Geschichte gibt, 10 11

Iggers (2007), 141. Winkler (2010).

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die sich über einen Zeitraum von über 2000 Jahren erstreckt und sich grundsätzlich von anderen Geschichten unterscheidet. Einen anderen Weg geht Jürgen Osterhammel. In seinem Werk Die Verwandlung der Welt plädiert er für eine Überwindung eines solchen Eurozentrismus: „Weltgeschichte will ‚Eurozentrismus‘ ebenso wie jede andere Art von naiver kultureller Selbstbezogenheit überwinden. Dies geschieht nicht durch die illusionäre ‚Neutralität‘ eines allwissenden Erzählers oder die Einnahme einer vermeintlichen ‚globalen‘ Beobachterposition, sondern durch ein bewusstes Spiel mit der Relativität der Sichtweisen.“ 12

Erst die Relativierung eines überhöhten westlichen Geschichtsdenkens ebnet den Weg für ein neues, umfassenderes Nachdenken über Fragen der Relativierung historischen Denkens bei gleichzeitiger Suche universeller Normen. Die Begründung universeller Normen in einem historischen Diskurs muss die Vorrangstellung des westlichen Denkens in Frage stellen und in den – verschüttenden – Traditionen geschichtlichen Denkens weltweit fragen, ob und inwiefern universelle Normen in lokalen Überlieferungen zur Sprache kommen. Der Schweizer Philosoph Elmar Holenstein plädiert für eine kritische Betrachtung der Herleitung universeller Normen aus einem westlichen Kontext wie den Menschenrechten, die zu oft einseitig begründet werden: „In Europa hat man sich daran gewöhnt, bei einer Erörterung der allgemeinen Menschenrechte nur jene Passagen aus der Bibel, der hellenischen Philosophie und dem römischen Recht zu zitieren, mit denen sie sich begründen und als Erbgut der eigenen Tradition darstellen lassen. Allzuoft bleibt ausgeblendet, dass man sich bei der Ablehnung allgemeiner Menschenrechte – für Frauen, Besitzlose, Sklaven und ‚barbarische‘ Völker – ausgerechnet auf die beiden überragenden Autoritäten der hellenischen Philosophie, Platon und Aristoteles, und innerhalb der Bibel auf ihren philosophischen Denker, den Apostel Paulus, berufen kann und dies in der Tat auch Jahrhunderte getan hat.“ 13 12

Osterhammel (2009), 19.

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Holenstein plädiert für die Einsicht, dass in verschiedenen Geschichten universelle Normen tangiert werden. Er verweist auf Traditionen in Ost- und Südostasien, in denen Vorstellungen von Menschenrechten, Säkularisierung, Trennung von Moral und Religion historisch viel weiter zurückreichen als in westlichen Gesellschaften. „In Ostasien“, so Holenstein, „mit seinen alten, in die Achsenzeit zurückreichenden säkularen Traditionen vertraut man jedenfalls mehr auf natürliche Anreize zur Verwirklichung ethischer Lebensformen als in Europa.“ 14 Die Nichtbeachtung nicht-westlicher Geschichten und philosophischer Traditionen auch bei renommierten Denkern wie Habermas und dem kanadischen Philosophen Charles Taylor führe zu einer einseitigen Betrachtungsweise, die eigenen Entwicklungen, die als Errungenschaften des Westens gefeiert werden wie etwa die Säkularisierung, noch nicht einmal kritisch mit anderen Geschichten zu vergleichen. Das moderne Geschichtsdenken in Deutschland auch in seiner kritischen Variante, der Geschichte als historische Sozialwissenschaft, geprägt durch den einseitigen Blick auf die Nationalgeschichte bzw. die westliche Geschichte, kann erst durch eine wirkliche Relativierung den Forderungen einer normativen Fundierung nachkommen. Eine solche Relativierung könnte das Besondere eigener historischer Entwicklungen ohne Überhöhungstendenzen in den Blick nehmen und es mit anderen entsprechenden Entwicklungen vergleichen. Im Auffinden von vergleichbaren Entwicklungen ließe sich leichter und für Menschen unterschiedlicher Herkunft einsichtiger darlegen, was sie miteinander teilen und auf welche Weise in unterschiedlichen Geschichten die Forderungen nach universellen Normen aufgetreten sind und auftreten. Es gilt, sich im historischen Diskurs den Ansätzen eines transkulturellen Denkens stärker zu öffnen und den Forderungen eines „Pluralismus ohne Relativismus“ entgegenzukommen. Dafür ist im historischen Diskurs der transkulturelle Austausch zu fördern, wobei dieser Austausch „die 13 14

Holenstein (2009), 28. Holenstein (2009), 71.

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G. Rückblick und Ausblick

Kontextualisierung des Denkens in konkreten historischen Prozessen und die Kultivierung transversaler und transkultureller Tugenden zur Voraussetzung haben“ muss. 15 Jörn Rüsen hatte bereits vor Jahren festgestellt, dass es eine Diskrepanz zwischen einem scheinbar selbstkritischen westlichen Geschichtsdenken und der tatsächlichen Öffnung zu einem Diskurs mit anderen Geschichten gibt: „Die europäischen Länder, Völker, Gesellschaften und Staaten finden sich auf neue Weise in Frage gestellt und herausgefordert durch nicht europäische Länder und Kulturen, die die kulturelle Hegemonie des Westens kritisieren und sich entschieden und energisch aus den historischen Deutungen befreien wollen, die ihnen von uns angesonnen wurden. Das westliche Geschichtsdenken muss sich mit der Ideologiekritik auseinandersetzen, dass hinter seinen universalistischen Geltungsansprüchen und Vernunftmaßstäben Herrschaftsansprüche stecken, die den Eigensinn anderer Kulturen gefährden, wenn nicht gar zerstören. Diese Konfrontation ist längst zu einer habituellen Selbstkritik der westlichen Deutungsstrategien geworden, ohne dass damit in den etablierten Institutionen und Verfahren der Geschichtskultur schon Wege gefunden wären, sich zu den Anderen neu ins Benehmen oder gar ins Einvernehmen über die jeweilige kulturelle Differenz zu setzen.“ 16

Rüsen fordert in diesem Zusammenhang eine Öffnung des historischen Denkens, das viel stärker interkulturelle Bezüge berücksichtigen sollte. Er kritisiert, dass nach wie vor die westliche Perspektive dominiere und die so genannten nicht-westlichen Länder und Kulturen noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die ihnen angesichts der gegenwärtigen Weltlage gebührt. 17 Er plädiert für die Öffnung des historischen Denkens zu einem interkulturellen Humanismus, den er als Antwort auf drängende kulturelle Orientierungsprobleme der Gegenwart begreift, „die sich aus dem Zusammentreffen un-

15 16 17

Dhouib / Jürgens (2011), 10 f. Rüsen (1999), 17. Rüsen / Laass (2009), 6

G. Rückblick und Ausblick

213

terschiedlicher Weltsichten und Lebensformen immer wieder ergeben.“ 18 Die Frage ist, ob im historischen Diskurs der Begriff der Interkulturalität nicht besser durch den der Transkulturalität ersetzt werden sollte, da er eine größere Offenheit und Durchlässigkeit zulässt und nicht in gleichem Maße von sich abschließenden Kulturen ausgeht, die miteinander kommunizieren sollten und vom Ansatz stärker die Suche nach gemeinsamen Wertvorstellungen und Lebenshorizonten betont. Die Berücksichtigung einer solchen transkulturellen, philosophischen Perspektive würde das historische Denken in seiner Betonung des Besonderen, Einmaligen, Abgeschlossenen herausfordern und die Suche nach den sich aus den Geschichten herauswindenden Gemeinsamkeiten in das Zentrum historischen Denkens im Zeitalter der Globalisierung stellen. In einem solchen Diskurs könnte der Weg zu einem Ausgleich zwischen philosophischem und historischem Denken eröffnet werden, der das westlich zentrierte Geschichtsdenken hinter sich lässt und einen gemeinsamen weltoffenen historischen und philosophischen Diskurs fördert, der Differenz und Gemeinsames erörtert und zur Sprache bringt, ohne dass einer der Beteiligten bereits den Königsweg einer richtigen historischen Entwicklung für sich beanspruchen könnte. Die eigenen Traditionen des Geschichtsdenkens müssen offengelegt werden und man sollte sich von der Idee verabschieden, dass nur im westlichen Kontext, geprägt durch die Aufklärung, ein kritisches Geschichtsdenken möglich sei. Die säkulare Gesellschaft, die von westlichen Philosophen als wichtigstes Kennzeichen der modernen aufgeklärten europäischen Gesellschaft angesehen wird und für die Trennung von Religion und Moral grundlegend ist, ist eine Errungenschaft, die „in Ostasien anders als in Europa seit der Achsenzeit nie in den Hintergrund gerückt ist oder ganz vergessen oder gar geleugnet wurde“. 19 Bezüglich 18 19

Rüsen / Laass (2009), 8. Holenstein (2009), 59.

214

G. Rückblick und Ausblick

der europäischen Geschichte tendiert man allzu leicht dazu, sich an den Traditionen und Texten zu orientieren, die eine Bestätigung überhöhter westlicher Werte vorgeben, ohne diese an den realhistorischen Entwicklungen zu messen, die bei der Betrachtung und Analyse nicht-europäischer Kulturen und Zivilisationen im Mittelpunkt stehen. Hegels Konzeption einer westlichen Weltgeschichte prägt immer noch zu stark den Diskurs des modernen Geschichtsdenkens in Deutschland. Erst wenn diese Einseitigkeit aufgegeben bzw. kritisch reflektiert wird, greifen wir die kritischen Impulse von Löwith und Strauss auf und können die einseitigen westlichen Perspektiven in unserem historischen Denken, das durch Hegels Geschichtsphilosophie und den Historismus geprägt ist, mit einem offenen Blick für das andere hinter uns lassen. Der Blick zurück auf die Entstehung und Entwicklung des modernen historischen Denkens in Deutschland ist ein möglicher Schritt, um die Grenzen dieses Denkens und dessen Fortwirken in der Gegenwart zu erkennen und sich mit diesem Wissen neuen Entwicklungen und Perspektiven einer nicht westlich zentrierten Geschichte zu öffnen.

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Personen- und Sachverzeichnis Abraham 157 Adam 159

Burke, Edmund 61

Afrika 45

Celsus 153

Ägypten 46, 51

Chakrabarty, Dipesh 207, 215

Alarich 157

Cheng, Eileen Ka-May 22, 183, 215

Alexander der Große 135, 139 Antihistorismus 123 Antike 25, 28, 51, 59, 93, 103, 107, 121, 132, 134, 145, 151, 169, 197, 218 Aristokratie 44 Aristoteles 59, 136, 139, 169, 210 Aufklärung 25, 52, 60, 113, 149, 164, 213 Augustin 130, 149, 152, 162 Augustinus 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160 Bacon 168

China 8, 10, 15, 45, 46, 146, 162, 208, 216 Christentum 16, 51, 88, 92, 93, 103, 121, 138, 139, 145, 152, 157, 163, 169, 171, 173, 201 Christus 139, 140, 145, 146, 152, 153, 157, 159, 160, 170 Comte 152, 165, 167, 168, 169, 170, 172 Condorcet 152, 164, 166 Cortés, Donoso 131 Darwinismus 121

Bauer, Bruno 171

Davis, Nathalie Zermon 207

Benediktus 159

Demokratie 44, 51, 53, 96, 206

Berlin, Isaiah 52, 55, 86, 215, 216, 218

Descartes 168

Bibel 145, 159, 162, 210

Diesseitigkeit 95, 97, 98, 103, 108, 109

Bildung 24, 34, 62, 72, 75, 78, 83, 89, 111, 118, 173

Dhouib, Sarhan 212, 215

Bossuet 130, 149, 152, 161, 163

Dilthey 17, 116, 117, 126, 130, 132, 173, 215

Buddha 146

Dogmatik 88

Buddhismus 15, 147

Dreistadiengesetz 167, 168, 169

Burckhardt, Jacob 131, 152, 216

Drittes Reich 206

Personen- und Sachverzeichnis Droysen 7, 17, 18, 19, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 87, 91, 102, 109, 115, 177, 196, 199, 202, 215, 218 Elias 159 Erfahrungswissen 189 Eschaton 159 Ethnologie 121, 178 Faschismus 204 Feuerbach 171 Fortschrittsgläubigkeit 20, 100, 115, 164, 197, 204 Fortschrittsidee 100, 110, 116, 163, 165, 169, 170 Französische Revolution 58, 59, 113, 164, 183, 202 Friedrich II. 51 Galilei 168 Geschichte als historische Sozialwissenschaft 9, 205, 211 Geschichte als Wissenschaft 7, 19, 21, 55, 57, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 69, 73, 74, 75, 76, 77, 79, 82, 126, 203 Geschichtsbewusstsein 153, 154, 172 Geschichtsphilosophie 17, 50, 53, 55, 115, 129, 139, 148, 149, 156, 166, 167, 168, 172, 173, 196, 197, 214, 216, 218 Geschichtswissenschaft 8, 18, 21, 51, 55, 56, 61, 64, 69, 76, 82, 185, 198, 203, 205, 206, 207, 216, 217, 218

221

Gesellschaft 76, 81, 84, 101, 102, 104, 106, 109, 111, 113, 120, 121, 122, 123, 126, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 180, 181, 184, 191, 195, 204, 213, 215 Gottesstaat 156, 157, 158 Gottl-Ottlilienfeld 173 Habermas, Jürgen 7, 211, 216 Hegel 7, 16, 18, 19, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 54, 75, 77, 83, 87, 91, 92, 93, 102, 109, 126, 136, 137, 143, 148, 152, 165, 166, 167, 169, 170, 172, 177, 202, 206, 216, 218 Heilsgeschichte 90, 138, 142, 158, 159, 160, 162, 172 Heraklit 133, 137, 143 Herodot 27 Historie 89, 90, 112, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 130, 133, 137, 142, 164 Historik 55, 56, 63, 64, 65, 66, 67, 79, 202, 215 historische Methode 64, 74, 77, 79, 88, 89, 91, 92, 101, 102, 167 Historismus 16, 17, 19, 21, 69, 70, 73, 86, 87, 88, 91, 92, 93, 94, 102, 106, 109, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 132, 141, 173, 176, 177, 178, 179, 183, 184, 185, 187, 192, 196, 197, 198, 199, 200, 203, 204, 205, 207, 209, 214, 216, 217, 218 Hobbes 40, 193, 194

222

Personen- und Sachverzeichnis

Holenstein, Elmar 210, 211, 213, 216 Homer 145 Humanismus 76, 162, 212, 217 Idealismus 72, 75 Iggers, Georg G. 7, 8, 9, 10, 16, 17, 22, 24, 52, 63, 70, 71, 84, 200, 208, 209, 216 Immanenz 95, 99, 102, 108 Indien 8, 45, 46, 51, 163 Individualisierung 20, 94, 99, 106, 112 Industrialisierung 18, 19, 20, 75, 76, 83, 122, 126, 200, 203 Jäger, Friedrich 22, 216 Japan 8, 20, 131, 141, 142, 143, 145, 146, 147, 216 Jesus 92 Joachim 152, 159, 160, 162 Johannes der Täufer 159 Jürgens, Andreas 212, 215 Kant 25, 35, 67, 68, 113, 203 Kapitalismus 94, 97, 98, 110, 121, 147, 170, 171 Karl der Große 161 Katholizismus 91 Kierkegaard 145 Konfuzianismus 147 Konfuzius 146, 163 Kontinuität 17, 42, 45, 57, 58, 59, 60, 71, 74, 77, 78, 79, 83, 172, 199, 206 Kontinuität der Geschichte 57, 58 Konventionalismus 179, 182, 185

Kosmos 20, 72, 78, 81, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 143, 145, 147, 148, 150, 152, 154, 155, 156, 158, 173, 201 Kunst 31, 39, 42, 43, 48, 65, 95, 98, 99, 101, 102, 112, 114, 120, 147, 151, 173 Laass, Henner 212, 213, 217 Lamprecht, Karl 18 Lenin 173 Liberalismus 96, 97, 197, 203, 204 Liebsch, Burkhard 129, 216 Livius 28 Logos 133, 134, 135, 136, 138, 139, 150 Löwith, Karl 7, 8, 16, 20, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 176, 200, 201, 204, 207, 214, 216, 217, 219 Ludwig XIV 51, 161 Luther 49, 50 Mann, Golo 205 Marx 52, 84, 131, 148, 152, 165, 170, 171, 172, 173, 205 Marxismus 21, 96, 119, 196, 200, 203, 204 Materialismus 17, 98 Menschenwelt 61, 71, 72, 73, 131, 132, 137, 217 Methode 16, 18, 65, 66, 70, 75, 76, 77, 83, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92,

Personen- und Sachverzeichnis 98, 100, 102, 118, 129, 160, 168, 200, 218 Middel, Matthias 198, 217 Mittelalter 25, 49, 169 Moderne 19, 20, 87, 93, 96, 99, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 121, 123, 125, 126, 127, 128, 200, 203 Moses 157 Müller, Johannes von 29 Nachdenken über Geschichte 17, 19, 20, 21, 26, 52, 54, 83, 84, 109, 126, 127, 131, 174, 207 Nationalsozialismus 205, 206 Naturalismus 113, 114, 125, 130 Naturzustand 35, 40, 216, 218 Naumann, Katja 198, 217 Neuzeit 15, 17, 49, 86, 114, 141, 172 Niebergall 88 Niebuhr 30, 131, 217 Nietzsche 121, 127, 133, 143, 145, 191, 217 Nolte, Ernst 206 Nordalm, Volker 22, 217 Objektivität 18, 25, 32, 43, 50, 56, 61, 62, 67, 73, 77, 78, 79, 80, 99, 183, 188, 190, 192, 199, 202, 204, 205, 218 Okzident 146, 147, 217 Orient 146, 147, 217 Orosius 152 Osterhammel, Jürgen 207, 210, 217 Östliches Denken 141, 143, 145, 146 Persien 45, 46, 51, 163

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Platon 135, 137, 210 Polis 136, 137, 181, 184 Politikwissenschaft 185 Protestantismus 91, 93, 94, 121, 129, 202 Proudhon 152 Quellenkritik 74, 77, 80, 149 Ranke 17, 55, 177 Raphael, Lutz 22, 207, 217 Rationalisierung 97, 98, 99, 146, 198 Rationalismus 52, 96, 98, 101, 123, 125 Reformation 16, 49, 51 Relativismus 19, 91, 92, 93, 102, 106, 110, 115, 117, 121, 122, 125, 126, 168, 176, 188, 192, 201, 211 Relativität 89, 141, 197, 210 Religion 37, 39, 42, 43, 46, 48, 49, 50, 53, 59, 81, 83, 95, 102, 103, 104, 105, 106, 111, 114, 120, 130, 141, 142, 147, 152, 157, 161, 162, 163, 166, 167, 169, 171, 172, 193, 200, 202, 209, 211, 213 Renaissance 16, 100, 162 Robespierre 173 Rousseau 40, 149, 173, 184 Rüsen, Jörn 22, 212, 213, 216, 217 Sachsenmaier, Dominic 15, 22, 203, 207, 217 Schmoller, Gustav von 18 Schnädelbach, Herbert 56, 218 Schopenhauer 121 Schuppe, Christian-Georg 66, 218

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Personen- und Sachverzeichnis

sittliche Welt 39, 62, 71, 78, 79 Sittlichkeit 40, 42, 50, 57, 62, 73, 75 Sokrates 48, 145, 181 Sombart, Werner 84 Sonnenschmidt, Reinhard 40, 218 Sozialismus 96, 197 Sozialwissenschaften 69, 95, 99, 100, 181, 185, 188, 192 Soziologie 18, 69, 76, 84, 119, 126, 127, 168, 199, 203, 205 Spätantike 138, 141 Staat 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 50, 53, 59, 78, 81, 83, 85, 95, 96, 97, 99, 104, 105, 112, 113, 120, 121, 158, 177, 181, 202, 203, 206, 209, 216 Stoiker 184 Strauss, Leo 7, 8, 21, 22, 178, 179, 180, 181, 182, 185, 186, 187, 188, 189, 192, 193, 194, 195, 196, 204, 207, 214, 218

176, 183, 190, 197,

177, 184, 191, 201,

Südkorea 8, 10 Tanguay, Daniel 195, 218 Taylor, Charles 211 Telos 150 Theodizee 165, 166, 167, 172 Theologie 56, 86, 87, 88, 93, 109, 129, 137, 155, 166, 167, 173, 215, 218 Thukydides 27 Topik 65, 79, 81, 82 Trinität 159 Troeltsch 7, 19, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99,

100, 101, 102, 107, 108, 109, 114, 115, 116, 121, 122, 123, 128, 129, 130, 218 Turgot 152

103, 110, 117, 124, 177,

104, 111, 118, 125, 200,

105, 112, 119, 126, 201,

106, 113, 120, 127, 203,

USA 8, 176, 206, 207, 208 Usia 159 Vico 152, 217 Völkel, Markus 22, 219 Voltaire 25, 130, 152, 153, 162, 163 Weber, Max 18, 69, 84, 98, 126, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 201, 205, 218 Wehler, Hans-Ulrich 205 Weltgeschichte 16, 18, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 36, 37, 38, 39, 42, 43, 44, 45, 49, 50, 51, 52, 54, 127, 129, 134, 137, 139, 141, 148, 165, 166, 167, 170, 173, 198, 201, 206, 210, 214, 216, 217 Weltstaat 158 Werturteile 107, 189, 190, 192 Winkler, Heinrich August 53, 209, 218 Wirtschaft 102, 109, 120, 121 Wissenschaft 17, 19, 24, 31, 39, 42, 43, 55, 57, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 73, 74, 75, 77, 78, 79, 81, 83, 87, 88, 111, 114, 115, 117, 118, 120, 124, 128, 136, 137, 164, 168, 181, 183, 188, 189, 190, 191, 199, 203, 205, 215 Wollin, Richard 129, 139, 219

Personen- und Sachverzeichnis Woolf, Daniel 22, 219

Zacharias 159

Wundt, Wilhelm 68

Zen-Buddhismus 143

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