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German Pages 848 [850] Year 2011
Antonio Baldassarre holds a doctorate in musicology and since 1997
has been lecturer and guest professor at numerous universities, music conservatories and research institutions in Switzerland and abroad. At present he is research fellow at The Institute for Music Performance Studies (IMPS) of Lucerne University of Applied Sciences and Arts. His extensive research and publication activities include late 18th- to 21st-century music history, performance studies, music iconography, music historiography and the cultural history of music.
Festschrift zum 65. Geburtstag von Dorothea Baumann Festschrift for Dorothea Baumann’s 65th Birthday
This Festschrift is the living proof of the impact that resulted from Dorothea Baumann’s work as a music practitioner and music scientist. More than fifty internationally renowned scholars and friends of Dorothea Baumann from around the world provide new insights into today’s topically and methodologically multifaceted field of music research. The topics range from Trecento to contemporary music and include contributions to ethnomusicology, music theory, music pedagogy, music documentation and performance studies.
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1997 als Lehrbeauftragter und Gastdozent im In- und Ausland tätig. Zurzeit ist er Research Fellow am Institute for Music Performance Studies IMPS der Hochschule Luzern – Musik. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit umfassen Aspekte der Musikgeschichte des späten 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, der Performance Studies sowie die Musikikonographie, die Musikgeschichtsschreibung und die musikalische Kulturgeschichte.
Antonio Baldassarre (Hg./ed.)
Antonio Baldassarre ist promovierter Musikwissenschaftler und seit
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Antonio Baldassarre (Hg./ed.)
Diese Festschrift ist ein lebendiges Zeugnis für die grosse Wirkung, die Dorothea Baumann als Musikpraktikerin und Musikwissenschaftlerin entfaltet hat. Über fünfzig international anerkannte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Freunde und Freundinnen der Jubilarin aus der ganzen Welt geben der Leserschaft neue Einblicke in das inhaltlich und methodisch weite Feld, das die musikwissenschaftliche Forschung heute bietet. Die Themen reichen vom Trecento bis zur musikalischen Gegenwart und umfassen Beiträge zu Musikethnologie, Musiktheorie, Musikpädagogik, Musikdokumentation und Performance Studies.
MUSIK · RAUM · AKKORD · BILD Festschrift zum 65. Geburtstag von Dorothea Baumann
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Festschrift for Dorothea Baumann’s 65th Birthday
www.peterlang.com
Peter Lang
ISBN 978-3-0343-1044-4
PETER LANG
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Antonio Baldassarre (Hg./ed.)
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Festschrift zum 65. Geburtstag von Dorothea Baumann
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Festschrift for Dorothea Baumann’s 65th Birthday
unter Mitarbeit von / in colaboration with Debra Pring, Lena Kopylova & Matthias von Orelli
PETER LANG Bern · Berlin · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford · Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
ISBN 978-3-0343-1044-4 E‐ISBN 978‐3‐0351‐0320‐5 © Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2012 Hochfeldstrasse 32, CH-3012 Bern, Schweiz [email protected], www.peterlang.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Hungary
Inhalt / Table of Contents
ANTONIO BALDASSARRE Making some kind of dent in the world Some preliminary thoughts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einige einleitende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Studien /Studies ALFRED ZIMMERLIN Berührung und Druck (Clavierstück 13) – für Clavichord (4 Oktaven) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 BARBARA HAGGH Composers-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance: Did They Write? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 DAVID FALLOWS Ockeghem, England and O rosa bella . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 ELENA ABRAMOV-VAN RIJK The Raven and the Falcon: Literary Space in a Trecento Musical Aviary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 MARICARMEN GÓMEZ Patrimonio musical histórico y tradición: a propósito del Misterio de Elche y el Canto de la Sibila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 JUDITH COHEN Alfonso dalla Viola (Ferrara, c. 1508–c. 1574): Aspects of Chronology, Style and Influences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 RUDOLF BOSSARD Il Giustino redivivus: Zur klingenden Wiedererweckung einer Oper von Giovanni Legrenzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 CATERINE MASSIP Itinéraires d’un musicien européen: l’autobiographie de Michel Farinel (1649–1726) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
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Inhalt / Table of Contents
BELLA BROVER-LUBOVSKY Sirocco, Borea, e tutti i venti. Wind Allegory in Venetian Music . . . . . . . 149 FLORENCE GÉTREAU Guillaume de Limoges et François Couperin ou comment enseigner la musique hors la Ménestrandise parisienne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 MARIE-CLAIRE MUSSAT La recherche d’une salle de musique ou les tribulations d’une société de concert au XVIIIe siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 BEAT A. FÖLLMI Johann Mattheson als Kirchenmusiker. Das Oratorium Der liebreiche und geduldige David von 1723 . . . . . . . . . . 193 BERNHARD BILLETER Text und Musik, ihr wenig geklärtes Verhältnis in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 JOSEPH WILLIMANN Fraglicher Schluss, kein trauriges Ende: Das Finale von Joseph Haydns Sinfonie H-Dur Nr. 46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 HERBERT SCHNEIDER Sinfonien Haydns von Cambini als „Quatuors concertants“ arrangiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 RYUICHI HIGUCHI Ein Skizzenblatt Mozarts in Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 CHRIS WALTON Who did William Tell? Early musical settings in Switzerland and beyond . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 GABRIELLA HANKE KNAUS Ein verlorenes Repertoire – Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 HENRI VANHULST Fétis fustigateur des «monstres acoustiques» bruxellois . . . . . . . . . . . . 309 VOLKER KALISCH Franz Liszt – Musik in sozialer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 CATHERINE N. DOULOVA Vasily Zolotaryov’s Belarusian Period of Creative Work . . . . . . . . . . . . 341
Inhalt / Table of Contents
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DOMINIK SACKMANN „Es harren die Rätsel der lösenden Kunst“. Hans Hubers Kantate zum Jubiläum der Universität Basel (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 HANS SCHOOP Serenus Zeitblom: Ich spiele die Viola d’amore. Willem de Boer in Thomas Manns Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 GISELHER SCHUBERT Hin und zurück. Historische Ortsveränderungen in der Neuen Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 ANTONIO BALDASSARRE Ein längerer Blick ins Raritätenkabinett der Musikgeschichte. Richard Strauss’ Panathenäenzug op. 74 und Kurt Leimer . . . . . . . . . . . 399 PATRICK MÜLLER Suche nach einer Poetik der Oper. Othmar Schoecks Opernprojekte mit Hermann Hesse . . . . . . . . . . . . . 423 LUDMILA KOWNAZKAJA Schostakowitschs Hindemith: die verbotene Wahrheit . . . . . . . . . . . . . 437 OLGA SOLOMONOVA A Mid-war Night’s Dream: Shostakovich’s Lullaby . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 MALENA KUSS Alberto Ginastera and the many meanings of Bearbeitung . . . . . . . . . . 467 THOMAS GARTMANN „Ein gesamtkunstwerkähnliches Live-Ereignis“. Zur Musik von Daniel Ott für den Klangkörper Schweiz . . . . . . . . . . . 473 TATJANA MARKOVIC´ Nostalgia and utopia and/in music: …hold me, neighbor, in this storm… (2007) by Aleksandra Vrebalov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 GUERINO MAZZOLA Faire de la Musique – une expérience de pensée en gestes? . . . . . . . . . 507 MARGARET KARTOMI Body Percussion Performance Techniques in Male and Female Song-Dances in Aceh and the Links around the Indian Ocean and the Mediterranean . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
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Inhalt / Table of Contents
SILVAIN GUIGNARD Das Spiel mit den ,Drei geschmackvollen Linien‘ – Erotische Implikationen in shamisen-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . 535 MATTHIAS STÖCKLI Lärm und Musik in der Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España von Bernal Díaz del Castillo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 MARC-ANTOINE CAMP Transforming traditional music cultures: a narrative on safeguarding Brazilian vissungo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 DEBRA PRING “When I behold my Picture”. The Negotiation of Meaning in Edwaert Collier’s Still Life with a Copy of Wither’s “Emblemes” (1696) . . . . 563 ZDRAVKO BLAZ¡ EKOVIC´ Francesco Bianchini’s Triplex Lyra in Eighteenth-Century Music Historiography . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 FRANÇOIS SEYDOUX Musikalisch-organologische „Brosamen“ aus den Feuilles d’Avis de la Ville et Canton de Fribourg . . . . . . . . . . . . . . 597 BRIGITTE BACHMANN-GEISER Die Hanottere. Ein Kunstmusikinstrument der Renaissance lebt in der Schweizer Volksmusik weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 PABLO SOTUYO-BLANCO Challenging the boundaries of musical iconography: the process of re-signification of Smetak instruments . . . . . . . . . . . . . . 641 DOROTHEE RIPPMANN Sozialgeschichte von Musikinstrumenten: Musikalische Spurensuche einer Historikerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 ELENA ZINKEVYCH On the issue of connections among the arts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 DANIEL MUZZULINI Descartes’ Töne – Newtons Farben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 HARRY JOELSON-STROHBACH Wie der Hirsch nach frischer … Didaktische Aspekte musikalischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
Inhalt / Table of Contents
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RUDOLF RASCH The Discovery of the A Double Sharp, or How Many Notes Does the Tonal System of Western Classical Music Have? . . . . . . . . . . 723 THOMAS MEYER Vektoren im Klangraum. Ein paar arg mäandernde Gedanken über gerade Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 JULIAN RUSHTON A meditation on the tritone: Why should the devil have the best intervals? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 MATHES SEIDL Ernst Kurth – rückwärts lesen vorwärts lesen weiterdenken . . . . . . . . 755 STEFANIE STADLER ELMER Structural aspects of early song singing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 SAMUEL WEIBEL Urheberrechtsprobleme bei analogen und frei im Internet verfügbaren, digitalen Reprint-Editionen von Musikalien . . . . . . . . . . 783 OLIVER SENN / LORENZ KILCHENMANN The Secret Ingredient: State of affairs and future directions in groove studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 DINKO FABRIS Early Opera Revival e L’Italia: una difficile ascesa . . . . . . . . . . . . . . . . . 811
Miscellanea SUSANNE ELSENSOHN Dorotheas erster Klavierunterricht. Eine kleine biografische Vignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
Schriftenverzeichnis / List of Publications PD Dr. DOROTHEA BAUMANN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833
Biografien der Autorinnen und Autoren / Biographies of Authors . . . . . . . . 839
Making some kind of dent in the world Some preliminary thoughts Antonio Baldassarre
A main premise of the internationally top-ranking scientist in adult eduction, Stephen Brookfield, says that “teaching is about making some kind of dent in the world so that the world is different than it was before you practiced your craft.”1 Expanded into the dimension of research, one can hardly describe more accurately the merits of Dorothea Baumann, to whom this festschrift is dedicated. In the last three decades she has left lasting and visible marks in the Swiss and international scholarly community with her work as lecturer and researcher, characterized by innovative thinking and sustainability. Dorothea Baumann was born in 1946 and is privatdozentin at the University of Zurich. She studied music, physics and modern German literature at the University of Zurich and during the same period she studied piano at the music academy of Zurich (diploma in 1969). From 1973 to 2006 she was research assistant at the Institute of Musicology of Zurich University. She received her PhD with the thesis Die dreistimmige italienische Lied-Satztechnik im Trecento, supervised by Kurt von Fischer, and later qualified as university professor with the habilitation Raum und Musik: Eine Untersuchung zur Bedeutung des Raumes für die musikalische Aufführungspraxis.2 She was guest lecturer at the Graduate College of the City University of New York, at the University of Innsbruck, at the Department of Architecture of the Swiss Federal Institute of Technology Zurich and also taught for several years at the University of Berne and the Ethnomusicology Archives of the University of Zurich. Since 1994 she has lectured at the Institute for Music Therapy of Zurich University of the Arts. From 1972 to 1995 she was responsible for the documentation of the program books of Tonhalle-Gesellschaft Zurich in collaboration with staff members, students and alumni of the Institute of Musicology Zurich. She has also been acting as consultant of room acoustics since 1976 (multi-purpose halls, schools, churches, theaters, and courtrooms). From 1977 to 1996 she was lecturer 1 2
Stephen Brookfield, The skillful teacher. San Francisco (CA) 1990, 18–19. As far as Dorothea Baumann’s publications are concerend please refer to the list of publications at the end of this publication.
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Antonio Baldassarre
for organology and acoustics within the education and further education programs of Swiss Radio and Television public broadcasting. Since 2005 she has been supervising the re-editing of historical recordings of the pianist Kurt Leimer on behalf of the Kurt Leimer Foundation and in collaboration with the Swiss National Sound Archives. Dorothea Baumann’s broad research and publication activities include the music of the Middle Ages, the organization of knowledge in databases, aspects of historical and systematic musicology and their relationship, acoustics, performance practice as well as organology, music iconography, music theory, music psychology, music philosophy and interdisciplinary aspects of music, room acoustics and music perception. Her teaching also includes topics of ethnomusicology. This broad thematic and methodological spectrum is mirrored in the list of Dorothea Baumann’s publications, which appears at the end of this festschrift. Although more than fifty internationally renowned scholars from several European and Latin American countries and from Israel, Japan, Australia and the U.S. present their work here, their contributions can only partially reflect the remarkable research and publication spectrum of Dorothea Baumann. They serve, however, to give an impressive insight into her thematic and methodological plurality. This plurality is a characteristic of not only Dorothea Baumann’s approach, but also for the international profile of musicology. In this respect plurality does not mean trivial or discretionary eclecticism but is rather the result of reflective processes that have been initiated by new approaches which were initially introduced within Anglo-Saxon music research traditions. Within these processes the conventional models and patterns of music research were subject to productive (although not always frictionless) criticism which conveyed the insight that conventional knowledge acquisition models can only be preserved at the cost of the complete isolation of musicology and the assessment of its methods as “dead cultural techniques”. Dorothea Baumann has, however, never retreated to the battlefield of positions, not because she has internalized the Swiss virtue of behaving as a neutral in conflicts but rather because of the insight into the productive power of constructive compromise. In this respect Dorothea Baumann has always followed Kant’s (moral) categorical imperative, i. e. to “act as though the maxim of your action were to become by your will a universal law of nature”.3 Decency, honesty and integrity are the fundamental conditions 3
“Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.” Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 7 (Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft), in: Werke in zwölf Bänden. Ed. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1968–69, vol. 7, 140.
Making some kind of dent in the world. Some preliminary thoughts
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of such a behavior, and Dorothea Baumann’s actions always give a notable example of this. In addition to her impressive research and teaching achievements Dorothea Baumann has, as acoustic-consultant, pianist and accompanist always maintained a closeness to the practice of music and has also lived this relationship intensely. The surviving recordings give a striking testimony to this side of her personality and one that is not widely known. One has to be always aware of this close connection between practice, research and science to evaluate and appreciate Dorothea Baumann’s achievements accordingly. Finally, Dorothea Baumann was and still is executive and advisory member of numerous prestigious national and international organizations: 1983–2006 member of the executive board of the Swiss Musicological Society SMG, 1985–2005 President of the Zurich Chapter of the Swiss Musicological Society (since 2006 as Secretary), 1993–2004 Vice-President and 1990–92 and 2005–12 President of the Swiss branch of the International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centres IAML, 1986–2008 Treasurer of the Allgemeine Musikgesellschaft Zürich (AMG), since 1995 Secretary General of the International Musicological Society IMS, 1996–2004 member of the Commission Mixte of the Répertoire International de Littérature Musicale RILM, since 1994 advisory member of the Commission Mixte of the Répertoire International des Sources Musicales RISIM, since 1997 member of the executive board and member of committee of Universe of Music: a History (UMH), a project developed in collaboration with the International Music Council IMC of UNESCO, since 2004 member of the board of trustees of the Kurt Leimer Foundation Zurich, 2004–12 elected representative of the privatdozenten on the library committee of the University of Zurich, since 2005 advisory member of the Commission Mixte of the Répertoire International d’Iconographie Musicale RIdIM, since 2009 advisory member to the Staatliches Institut für Musikforschung (SIM) Berlin, and since 2011 secretary of the Association RIdIM Zurich. This broad and manifold scholarly and professional profile may explain why Dorothea Baumann has maintained a distance from the nitpicking of specialization and the corresponding ideologies to not only remain able to look beyond the boundaries of one’s academic field but also to contribute “to free musicology from that isolation into which so many specialized branches of research have fallen in our overspecializing times,”4 as Emanuel Winternitz pointed out already in 1972. Such a stance reflects an 4
Emanuel Winternitz, The Iconology of Music: Potentials and Pitfalls, in: Perspectives in Musicology. Ed. Barry S. Brook et al. New York 1972, 80–90, quote 90.
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awareness that the “failure” of the humanities “to address a wider audience is a direct result of academic specialization.”5 And as Hans Eisler stated (by applying a famous aphorism coined by Georg Christoph Lichtenberg)6 “someone who knows only music, understand nothing about it”, Generally, the background of such a research and teaching philosophy is both the “rediscovery” of the social role of music teaching and research – as has been especially emphasized in the perspectives of the Birmingham School and the US-american gender and cultural studies since the 1980s – and the corresponding increasing discomfort with the still effective strongly elitist academic definition of musicology (its methodology and content), as shown in particular by the productive reflection of premises and principles of the Frankfurt School and French post-structuralism, particularly the fundamental criticism of the “imperialism of the logos” as formulated by Jacques Derrida.7 Last but not least, I want to express my heartfelt and warm gratitude to all who have made significant efforts to this festschrift in honor of Dorothea Baumann, to both the numerous authors and the individuals and institutions that have signed the tabula gratulatoria. I also want to express my sincere gratitude to Debra Pring, Lena Kopylova and Matthias von Orelli (without their help this ambitious plan would never have been realizable in such a brief period), and to Simone Netthoevel of Peter Lang Publishers, who supervised the publication with both tremendous expertise and a sensitive nature from the beginning. May this festschrift give great pleasure to Dorothea Baumann and to its readers. Editorial notes The publication follows the accepted editorial, linguistic and orthographic rules of the respective languages without being the salve of the norms (particularly with regard to certain editorial practices). The publication therefore preserves the standard linguistic varieties of specific languages in different countries. With respect to editorial practices of publications with contributions of different languages, particularly concerning references and footnote layouts and formats, we are following the principles of pragmatism and intelligibility.
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James Anderson Winn, The Pale of Words. Reflections on the Humanities and Performance. New Haven (CT) and London 1998, 108. Lichtenberg’s original aphorism referred to chemistry: “Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.” (“He who knows nothing but chemistry does not know chemistry either”), in: Sudelbücher J (1789), 860. Jacques Derrida, Of Grammatology. Transl. Gayatri Chakravorty Spivak. Baltimore (MD) 1997 (corrected ed.), 3.
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Making some kind of dent in the world Einige einleitende Gedanken Antonio Baldassarre
Eine Hauptprämisse des international anerkannten Erziehungswissenschaftlers Stephen Brookfield besagt, dass „teaching is about making some kind of dent in the world so that the world is different than it was before you practiced your craft.“1 Kaum treffender – wenn auch um die Dimension der wissenschaftlichen Forschung erweitert – können die Verdienste von Dorothea Baumann beschrieben werden, der diese Festschrift gewidmet ist. Mit ihrer durch innovatives Denken und Nachhaltigkeit geprägten Tätigkeit hat sie als Dozentin und Wissenschaftlerin in den letzten drei Jahrzehnten in der schweizerischen und internationalen Musikforschung bleibende Spuren hinterlassen. Dorothea Baumann wurde 1946 geboren und ist Privatdozentin an der Universität Zürich. Sie studierte Musikwissenschaft, Physik und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich und gleichzeitig Klavier an der Musikakademie Zürich (Diplom 1969). Von 1973 bis 2006 war sie Assistentin, dann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich. Sie promovierte bei Kurt von Fischer mit der Dissertation Die dreistimmige italienische Lied-Satztechnik im Trecento und habilitierte sich später mit der Studie Raum und Musik: Eine Untersuchung zur Bedeutung des Raumes für die musikalische Aufführungspraxis.2 Sie war Gastdozentin am Graduate Center der City University in New York, an der Universität Innsbruck, an der Abteilung Architektur der Eidgenössische Technischen Hochschule Zürich (ETH) und unterrichtete auch während mehrerer Jahre an der Universität Bern und am Musikethnologischen Archiv der Universität Zürich. Seit 1994 ist sie auch als Dozentin am Zürcher Institut für Musiktherapie an der Zürcher Hochschule der Künste im berufsbegleitenden Aufbaustudium Musiktherapie (BAM) tätig. Von 1972 bis 1995 sorgte sie gemeinsam mit Mitarbeitern, Studierenden und Ehemaligen des Musikwissenschaftlichen Seminars für die Dokumentation der Programmhefte der Tonhalle-Gesellschaft Zürich. Seit 1976 wirkt sie immer 1 2
Stephen Brookfield, The skillful teacher. San Francisco (CA) 1990, 18–19. Siehe dazu das Schriftenverzeichnis von Dorothea Baumann am Schluss dieser Publikation.
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wieder als raumakustische Beraterin (Mehrzwecksäle, Schulen, Kirchen, Theater, Gerichtssaal). Von 1977 bis 1996 war sie Dozentin für Instrumentenkunde und Akustik in den Aus- und Weiterbildungskursen für Mitarbeiter des Schweizer Radio und Fernsehens (SRF). Seit 2005 begleitet sie die Restaurierung historischer Tonaufnahmen von Kurt Leimer, im Auftrag der Kurt Leimer Stiftung und in Zusammenarbeit mit der Fonoteca Nazionale Svizzera. Ihre breite Forschungs- und Publikationstätigkeit umfasst die Musik des Mittelalters, die Wissensorganisation in Datenbanken, Aspekte im Spannungsfeld zwischen historischer und systematischer Wissenschaft, die musikalische Akustik, die Aufführungspraxis und Organologie, die Musikikonographie, Musiktheorie, Musikpsychologie und Musikphilosophie sowie interdisziplinäre Fragestellungen zu Musik und Raumakustik und zur Musikwahrnehmung. Ihre Lehre schliesst zudem die Musikethnologie ein. Dieses äusserst breite thematische und methodische Spektrum kann auch am Schriftverzeichnis von Dorothea Baumann abgelesen werden, welches sich am Schluss dieser Festschrift findet. Die Beiträge der vorliegenden Festschrift von über fünfzig international anerkannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus zahlreichen europäischen und lateinamerikanischen Ländern sowie aus Israel, Japan, Australien und den U.S.A. vermögen dieses beeindruckende Forschungs- und Publikationsspektrum nur teilweise abzubilden, bieten aber einen eindrücklichen Einblick in die thematische und methodische Vielfalt, welche nicht nur Dorothea Baumanns, sondern auch das internationale Profil der musikwissenschaftlichen Forschung zurzeit prägt. Dabei steht thematische und methodische Vielfalt nicht für beliebigen Eklektizismus, sondern ist Resultat von Reflexionsprozessen, welche vor allem durch die neueren, zunächst in der angelsächsischen Musikforschung erprobten Ansätze verursacht wurden. In diesen Erkenntnisprozessen wurden die herkömmlichen Denkfiguren und -modelle der Musikforschung einer produktiven, wenn auch nicht immer friktionsfreien Kritik unterzogen, welche die Einsicht beförderten, dass an den etablierten Erkenntnisverfahren nur um den Preis einer beständigen Isolation der Musikwissenschaft und der Beurteilung ihrer Techniken als „tote Kulturtechniken“ festgehalten werden kann. In das Schlachtfeld der Positionen hat sich Dorothea Baumann aber nie begeben. Nicht etwa, weil sie die schweizerische Tugend verinnerlicht hätte, sich bei Konflikten grundsätzlich neutral zu verhalten, sondern vielmehr aus der Einsicht in die viel produktivere Kraft des konstruktiven Kompromisses. Dabei hat sich Dorothea Baumann immer an Kants (sittlichen) kategorischen Imperativ gehalten, so zu handeln, „dass die Maxime deines
Making some kind of dent in the world. Einige einleitende Gedanken
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Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“3 Anstand, Aufrichtigkeit und Lauterkeit sind Grundvoraussetzung eines solchen Verhaltens, und Dorothea Baumanns Handeln gab immer ein bemerkenswertes Beispiel dafür, sowohl in menschlicher als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Neben ihrer eindrücklichen wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrtätigkeit hat Dorothea Baumann als Akustikberaterin, Pianistin und Liedbegleiterin immer auch die Nähe zur musikalischen Praxis gepflegt und intensiv gelebt. Die erhalten gebliebenen Tondokumente geben davon ein beredetes Zeugnis und legen eine Seite ihrer Persönlichkeit frei, welche nicht unbedingt allgemein bekannt sein dürfte. Dieser engen Verbindung zwischen Praxis, Forschung und Wissenschaft muss man sich bei Dorothea Baumann stets bewusst sein, um ihre Leistungen angemessen zu würdigen. Schliesslich war und ist Dorothea Baumann auch Mitglied in leitender Funktion und Beirätin zahlreicher renommierter nationaler und internationaler Organisationen: 1983–2006 Vorstandsmitglied der Zentralgesellschaft der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft (SMG), 1985–2006 Präsidentin der Sektion Zürich der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft (ab 2006 Aktuarin), 1986–2008 Quästorin der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich (AMG), 1993–2004 Vizepräsidentin und 1990– 1992 und 2005–2012 Präsidentin der Association Suisse des Collections et des Bibliothèques Musicales (ASCM) – der Landesgruppe der Association Internationale des Collections et des Bibliothèques Musicales (AIBM) –, seit 1995 Generalsekretärin der International Musicological Society (IMS), 1996–2004 Mitglied der Commission Mixte des Répertoire International de Littérature Musicale (RILM), seit 1994 beratendes Mitglied der Commission Mixte des Répertoire International des Sources Musicales (RISM), seit 1997 Vorstandsmitglied und Mitglied des Ausschusses von Universe of Music: a History (UMH) (ein Projekt entwickelt in Zusammenarbeit mit dem International Music Council IMC, UNESCO), seit 2004 Stiftungsrätin der Kurt Leimer Stiftung Zürich, 2004–2012 Vertreterin der Privatdozenten in der Bibliothekskommission der Universität Zürich, seit 2005 beratendes Mitglied des Répertoire International d’Iconographie Musicale (RIdIM), seit 2009 wissenschaftliche Beirätin des Staatlichen Instituts für Musikforschung (SIM) Berlin und seit 2011 Aktuarin des Vereins RIdIM Zürich.
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Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 7 (Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft), in: Werke in zwölf Bänden. Hg. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1968– 69, Bd. 7, 140.
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Antonio Baldassarre
Dieses breite und facettenreiche Tätigkeitsprofil mag erklären, weshalb Dorothea Baumann jenen gesunden Abstand von der Kleinkrämerei des Spezialistentums und den damit korrespondierenden Ideologien hielt und noch immer hält, der notwendig ist, um nicht nur über die Grenzen des Fachs zu blicken, sondern auch zur „Befreiung der Musikwissenschaft von der Isolation“ beizutragen, „in welche so viel spezialisierte Forschungszweige in unserer überspezialisierten Zeit geraten sind,“4 wie Emanuel Winternitz bereits 1972 feststellte. Eine solche Grundhaltung ist sich bewusst, dass zwischen dem Misserfolg, ein breiteres Publikum für die Musikforschung zu gewinnen, und der akademischen Spezialisierung eine direkte Korrelation besteht5 und dass „wer nur von Musik etwas versteht, auch davon nichts“ verstehe, wie Hanns Eisler es einmal in Anlehnung an einen berühmten Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg formulierte.6 Der Hintergrund eines solchen Verständnisses von Forschung und Lehre bildet letztlich sowohl die „Wiederentdeckung“ des der Musikforschung an sich essentiellen gesellschaftlichen Auftrags – wie er besonders in den Perspektiven der Birmingham School und der US-amerikanischen Gender and Cultural Studies seit den 1980er Jahren betont wird –, als auch das damit korrespondierende Missbehagen an der noch immer stark wirkenden elitären akademischen Definition des Fachs Musikwissenschaft (seiner Methodik und Inhalte), wie es sich vor allem durch die produktive Auseinandersetzung mit Prämissen und Maximen der Frankfurter Schule sowie des französischen Poststrukturalismus’, insbesondere der von Jacques Derridas formulierten fundamentalen Kritik am „Imperialismus des Logos“7 verstärkt hat. Last but not least möchte ich allen, die zum Entstehen dieser Festschrift für Dorothea Baumann beigetragen haben, persönlich ganz herzlich danken, sowohl den zahlreichen Autorinnen und Autoren der Beiträge als auch den Personen und Institutionen, welche sich in die tabula gratulatoria eingetragen haben. Auch Debra Pring, Lena Kopylova und Matthias von Orelli gebührt mein aufrichtiger Dank, ohne deren Hilfe dieses ehrgeizige Unter4
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„[…] to free musicology from that isolation into which so many specialized branches of research have fallen in our overspecializing times.“ Emanuel Winternitz, The Iconology of Music: Potentials and Pitfalls, in: Perspectives in Musicology. Hg. Barry S. Brook et al. New York 1972, 80–90, Zitat 90. „Our failure to address a wider audience is a direct result of academic specialization.“ James Anderson Winn, The Pale of Words. Refelctions on the Humanities and Performance. New Haven (CT) und London 1998, 108. Lichtenbergs Aphorismus bezog sich auf die Chemie und lautete: „Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht“, in: Sudelbücher J (1789), 860. Jacques Derrida, Grammatologie. Übers. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1974, 12.
Making some kind of dent in the world. Einige einleitende Gedanken
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fangen nie in so kurzer Zeit hätte realisiert werden können, sowie Simone Netthoevel vom Peter Lang Verlag, die mit ihrem enormen Fachwissen und ihrer einfühlsamen Art die Entstehung dieser Arbeit von Anfang an optimal betreut hat. Möge dieses Buch der Jubilarin und seinen Leserinnen und Lesern grosse Freude bereiten. Editorische Hinweise Die Publikation folgt den anerkannten editorischen, sprachlichen und orthographischen Richtlinien der jeweiligen Sprachen, ohne allerdings in jedem Fall Sklave von Normen zu sein (insbesondere mit Blick auf bestimmte Editionspraktiken). Die Publikation bewahrt also die editorischen und sprachlichen Eigenheiten und harmonisiert nur im Ausnahmefall, das trifft insbesondere für die verschiedenen Standardvarietäten der einzelnen Sprachen in verschiedenen Ländern zu. Mit Blick auf editorische Praktiken einer Publikation mit Beiträgen unterschiedlicher Sprachen, insbesondere im Zusammenhang mit Literaturangaben und Fussnotenformaten, sind wir dem Grundsatz des Pragmatismus und der Nachvollziehbarkeit gefolgt.
Studien / Studies
Berührung und Druck (Clavierstück 13) für Clavichord (4 Oktaven) Alfred Zimmerlin
q = 56
Clavichord
ppp
pp
pp
q= 56
(Bebung)
mf
15
mf
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p
p
pp
pp
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ppp
mp
p
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mp
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Alfred Zimmerlin
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mf
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Mit Fingernägeln RH rasch gleitende Bewe-
q = 72
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Tasten, Geräusch. gung über"schwarze" p mp mp 6 p
q = 96
5
mp f ppp
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35
5
f
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poco f
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Berührung und Druck (Clavierstück 13) – für Clavichord (4 Oktaven)
3 mp
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mf
7
54
mp
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mf
3 3
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pp
52
6
mf
46
3
6
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mp 3
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3
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pp
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f
p
26
Alfred Zimmerlin
4 62
q = 72
Mit Fingerkuppe unauffällig auf Corpus oder Deckel klopfen.
p p espr.
mf
q=
56 (Tremolo-Tempo etwas variieren)
66
ppp
f
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76
p
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3
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mf
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p
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mf
q = 72
mp
mp
3
mf
f
71
pp
mp
p
pp (Jan./Feb. 2011)
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Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance: Did They Write? Barbara Haggh
Skill in writing is often assumed, even of early composers, because their works have lived on in written form in surviving manuscripts. That evidence may be misleading however, given that many dozens of works attributed to blind composers, such as Francesco Landini and Conrad Paumann, were recorded in writing. Moreover, autographs of musicians of the Middle Ages and Renaissance are exceedingly rare.1 One may be tempted to claim that early composers, the musici, left the writing down of their creations, a kind of manual labor, to the cantores.2 Indeed, Lodovico Zacconi in his Prattica di musica of 1592 calls the composer a theorico and a musico if he also sings, while one who prepares music on the written page
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They include those of Notker Balbulus, Adémar de Chabannes, and Heinrich Isaac. See Susan Rankin, Ego itaque Notker scripsi, in: Revue bénédictine 101 (1991), 268–298; James Grier, The Musical World of a Medieval Monk: Adémar de Chabannes in Eleventh-century Aquitaine. Cambridge 2006, especially chapter 2, 37–96, and Jessie Ann Owens, An Isaac Autograph, in: Music in the German Renaissance: Sources, Styles, and Contexts. Ed. John Kmetz. Cambridge 1994, 27–53. The issue of whether or not the process of composition involved writing in the Middle Ages and Renaissance, which is assumed for modern composers, is very complex and outside the purview of this study. Pertinent studies include Margaret Bent, Counterpoint, Composition, and Musica Ficta. New York 2002, 46–59 and 301–319 [commentary and reprint of Resfacta or cantare super librum, in: Journal of the American Musicological Society 36 (1983): 371–391], and Bonnie J. Blackburn, On Compositional Process in the Fifteenth Century, in: Journal of the American Musicological Society 40 (1987), 211–284; Anna Maria Busse Berger, The Problem of Diminished Counterpoint, in: Uno gentile et subtile ingenio. Studies in Renaissance Music in Honour of Bonnie J. Blackburn. Ed. M. Jennifer Bloxam et al. Turnhout 2009, 13–27; Anna Maria Busse Berger, Medieval Music and the Art of Memory. Berkeley and London 2005, chapter 6, 198–251; Jessie Ann Owens, Composers at Work: The Craft of Musical Composition, 1450–1600. New York 1999, and Jessie Ann Owens, Palestrina at Work, in: Papal Music and Musicians in Medieval and Renaissance Rome. Ed. Richard Sherr. Oxford and Washington DC 1998, 270–300; Rob C. Wegman, From Maker to Composer: Improvisation and Musical Authorship in the Low Countries, 1450–1500, in: Journal of the American Musicological Society 49 (1996), 409–470, especially 428–444 and 449–469, and Margaret Bent, The Musical Stanzas in Martin Le Franc’s Le Champion des Dames, in: Music and Medieval Manuscripts. Paleography and Performance. Ed. John Haines and Randall Rosenfeld. Aldershot 2004, 91–127, especially 105–106, but also passim.
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Barbara Haggh
is a prattico. One who sings but does not compose or write is a cantore.3 Even Guillaume de Machaut is not thought to have copied his own music, although he was involved in some way in the ordering of some of the manuscript compilations of his works.4 Two brief case studies support the existence of such class distinctions in the fifteenth century. Firstly, in Brussels, Abertijne Malcourt and Crispijne van der Stappen were both tenor singers and composers, if Malcourt composed the chanson “Malheur me bat”, as I have argued. Yet Crispijne never copied music, and Abertijne only did so early in his career while he was vicar and chaplain and before he rose in rank to become singing master (zangmeester) at St. Goedele in Brussels.5 Secondly, Liane Curtis has reconstructed the activity of scribes at Cambrai Cathedral, and in no single instance are any of the numerous composers we know who were active there named as scribes in the accounts.6 In the list of payments presented by Alejandro Planchart of scribes copying books and music for the choirboys at Cambrai Cathedral in the fifteenth century we find no composers, but some scribes qualified as “scriptor” or “escrivain”, suggesting that this function was regarded as professional.7 Furthermore, Guillaume Du Fay wrote letters and at least one document, but there is no evidence that at-
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4
5
6
7
James Haar, Some Introductory Remarks on Musical Pedagogy, in: Music Education in the Middle Ages and the Renaissance. Ed. Russell E. Murray et al. Bloomington (IN) 2010, 3–22, here 12. Lawrence Earp, Scribal Practice, Manuscript Production and the Transmission of Music in Late Medieval France; The Manuscripts of Guillaume de Machaut. PhD diss., Princeton University, 1983; Lawrence Earp, Machaut’s Role in the Production of Manuscripts of his Works, in: Journal of the American Musicological Society 42 (1989), 461–503, and Lawrence Earp, Guillaume de Machaut: A Guide to Research. New York 1995, 73–128. See Barbara Haggh, Crispijne and Abertijne: Two Tenors at the Church of St. Niklaas in Brussels, in: Music & Letters 76 (1995), 325–344, especially 338–339 on the chanson attribution. A Dutch translation of this article is Crispijne en Abertijne in de St.-Niklaaskerk van Brussel: Het verhaal van twee tenoren, in: Musica Antiqua [Peer] 11/1 [1994], 14–21. Cf. Barbara Haggh, Singers and Scribes in the Secular Churches of Brussels, in: Music and Musicians in Renaissance Cities and Towns. Ed. Fiona Kisby. Cambridge 2001, 143– 156. Table 12.1, “Music Writing in Brussels, 1400–1500,” lists mainly the copying of service books, which was often accomplished either by minor clergy in the church or by clergy outside of the church of destination (see 152, 154–155). Organists copied music for their own use. Note that in this table Anthoenise den scriment (155) should be Anthoenise den scriwere. Liane Curtis, Music Manuscripts and Their Production in Fifteenth-Century Cambrai. PhD diss., University of North Carolina, Chapel Hill, 1991, and Liane Curtis, Simon Mellet, Scribe of Cambrai Cathédral, in: Plainsong and Medieval Music 8/2 (1999), 133–166. Alejandro E. Planchart, Choirboys in Cambrai in the Fifteenth Century, in: Young Choristers, 650–1700. Ed. Susan Boynton and Eric Rice. Woodbridge (VA) 2008, Table 7.1, 131–133.
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
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tests to his copying of music.8 We know from those letters that he sent music by mail, but we should not assume that it was copied by him.9 Decades later, there is evidence that Isaac added a fourth voice himself to a composition he received by mail, however.10 This marginal place of writing in early musicians’ careers is confirmed by what we can learn about the place of writing in early musical instruction. We know that every choirboy studied grammar and singing throughout the period considered here, but it is not clear to what extent writing was required of them. Charlemagne’s Admonitio generalis of 789 required boys to learn notas, essentially written symbols,11 but the evidence for writing thereafter is scarce. Margot Fassler and Susan Boynton emphasize the role of the librarian (armarius), who also corrected books, in musical instruction in eleventh and twelfth-century monasteries, but there is no explicit evidence that this individual or his assistant taught writing to boys.12 Susan Boynton considers the didactic function of glossed hymnaries, but these glosses were the work of teachers not boys, even though boys did use them.13 Andrew Kirkman observes in his study of the collegiate church of St. Omer in the fifteenth century that singing masters copied music used by the boys, but he presents no evidence that the boys were taught to write,14 and Sandrine Dumont cites an instance at the cathedral of St. Quentin, when a choirmaster argued that he should not be obliged to keep the accounts of the choir school, because he was “a musician, not a banker, and
8 David Fallows, Dufay. London 1987, 221–222, and illustrations 18 (autograph letter) and 19 (autograph receipt). 9 Compare the results of Blake Wilson’s discussion of musicians in Florence who sent music back and forth by mail: Isaac the Teacher: Pedagogy and Literacy in Florence, ca. 1488, in: Music Education (as note 3), 287–302, here 294–296. 10 Ibid., 295–296. 11 This decree is edited by Alfred Boretius in Monumenta germaniae historica, Capitularia regum francorum. Hannover 1883, vol. 1, 52–62 (no. 22), see especially 60–61. Notas included a range of written signs of different purpose; there is no evidence that they refer exclusively to musical notation. Cf. Isidore, Etymologiae, I, xxii–xxvi. Notice that according to Isidore, grammatical accents are figuris (I, xix) and punctuation signs are posituris (I, xx). Cf. Charles Atkinson, Some Thoughts on Music Pedagogy in the Carolingian Era, Music Education (as note 3), 37–51. 12 Margot Fassler, The Office of the Cantor in Early Western Monastic Rules and Customaries: A Preliminary Investigation, in: Early Music History 5 (1985), 29–51; Susan Boynton, Boy Singers in Monasteries and Cathedrals, in: Young Choristers (as note 7), 52–62, here 42. 13 Boynton, Boy Singers (as note 12), 57. 14 Andrew Kirkman, The Seeds of Medieval Music: Choirboys and Musical Training in a Late-Medieval Maîtrise, in: Young Choristers (as note 7), 104–22, here 110–111.
30
Barbara Haggh
that the chapter should entrust this task to the master of grammar […]”15 Craig Wright explains that choirboys at the cathedral of Notre Dame of Paris learned from oral presentations by a preceptor, and that the canons only provided an instructor to teach the boys writing in the seventeenth century.16 Book-related skills were taught by apprenticeship in 1487 in Ghent, but there is no evidence that musicians sought to acquire them.17 Evidence for the use of the many music treatises describing musical notation might support a different interpretation, but this work that has only just begun.18 There is more evidence for student writing in the late fifteenth and sixteenth centuries, in didactic treatises such as the Breviloquium musicale of Bonaventura da Brescia (1497) or Juan Bermudo’s Declaración de instrumentos (1555). The latter teaches musicians how to copy polyphony into score and advocates self-instruction through copying and analysis.19 Much later Pietro Pontio, in his Ragionamento di musica (1588), asks students to learn by written example,20 and Johann Frosch and Lodovico Zacconi encourage young musicians to copy excerpts from works by good composers.21 And writing was part of the education of women as well as of men in sixteenth-century Antwerp.22 The young Thomas Mulliner did copy mu-
15 I quote Sandrine Dumont, Choirboys and Vicaires in the Maitrise of Cambrai, in: Young Choristers (as note 7), 152, who cites Denise Launay, L’Enseignement de la composition dans les maîtrises en France au XVIe et XVIIe siècles, in: Revue de musicologie 68 (1982), 79–90. 16 Craig Wright, Music and Ceremony at Notre Dame of Paris, 500–1550. Cambridge 1989, 174–175. 17 In Ghent, on 15 February 1487, n. s., Simoen vanden Dycke, book scribe (boucscrivere), stipulated that for three years a certain Jacobus would teach Gillekin, the son of Joerisse van Vaernewyck, to make round letters and bind books (ronden lettren te makene ende boucken te bindene) for 3 L.g. (SAG 301/ 59, 1486/7, 99v). See Barbara Haggh, The Aldermen’s Registers as Sources for the History of Music in Ghent, in: La la la… Maistre Henri: Mélanges de musicologie offerts à Henri Vanhulst. Ed. Christine Ballmann and Valérie Dufour. Turnhout 2010, 27–54, here 52. 18 See, for example, Susan Forscher Weiss, Vandals, Students, or Scholars? Handwritten Clues in Renaissance Music Textbooks, in: Musical Education (as note 7), 207–246. 19 The former emphasizes learning music by reading written musical symbols, though Haar does not think the children read it [Haar, Some Introductory Remarks (as note 3), 6–7]. On the latter, see John Griffiths, Juan Bermudo, Self-instruction, and the Amateur Instrumentalist, in: Music Education (as note 3), 126–137, especially 130. 20 Russell E. Murray, Jr., Zacconi as Teacher: A Pedagogical Style in Words and Deeds, in: Music Education (as note 3), 303–323, here 308. 21 Peter Schubert, Musical Commonplaces in the Renaissance, in: Music Education (as note 3), 161–192, here 162–163. 22 Kristine K. Forney, A Proper Musical Education for Antwerp’s Women, in: Music Education (as note 3), 84–125, especially 88, 91, 103, 111–112.
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
31
sic in 1558 while a clerk at Magdalene College, Oxford, and later on, but even if he was a composer, which is not at all clear, his main occupation was as a singer and organist.23 In view of this evidence, it is surprising that a number of early composers or writers on music are called secretaries or notaries in documents, and that others held offices we assume must have required some writing, such as Johannes Ockeghem the treasurer, Josquin des Prez the provost, or Puyllois, the only papal singer and composer to have served as a procurator at the papal curia.24 Was the writing of documents more acceptable than the writing of music? And how much did the musicians actually write? In the following section of this article, the kinds of musicians who became secretaries or notaries, the nature of their bureaucratic activity, and the conclusions to be drawn about their use of writing are considered.25 Other officers are not, because of a lack of sufficient published diplomatic or paleographic evidence about them. The following table presents medieval and Renaissance composers or writers on music who are also listed as secretaries or notaries in Grove Music Online:
23 See Jane Flynn, Thomas Mulliner, Young Choristers (as note 7), especially 184 and passim (copying) and pp. 188–189 (composing). 24 Pamela F. Starr describes the process of papal provision of a benefice, using the examples of Puyllois, procurator, and Ockeghem, the recipient of the procured benefice, in Music and Music Patronage at the Papal Court, 1447–1464. PhD diss., Yale University 1987, 38–62. On 50–59 she provides an unusually lucid description of the work of the papal chancery. 25 A useful typology of medieval documents produced by secretaries and notaries, and discussion of their production and verification is Olivier Guyotjeannin, Jacques Pycke, and Benoît-Michel Tock, Diplomatique médiévale. Turnhout 1993.
Secretary and legal advisor for Friedrich Barbarossa and Henry VI Scribe and notary by profession but abandoned poorlypaid duties to become a troubadour Notary in Florence
Friedrich von Hüsen (c. 1150–90)
Philippe de Vitry (1291–1361)
Francesco da Barberino (1264–1348)
Notary, later representative in Avignon for Louis de Bourbon; maître des requêtes du palais and in requêtes de l’hôtel; in French royal chancery with title of royal notaire by 1328
Notary in chancery of Emperor Henry IV
Gottschalk of Aachen (fl. 1071–98)
Arnaut de Mareuil (fl. c.1170–1200)
Secretary or notary
Name (Dates)
Poet, author of didactic poems mentioning music, instruments, and dance Composer, called litteratissimus homo by Petrarch; motets, songs
Provençal troubadour, composed chansons
Poet (influential early Minnesinger) who also wrote Leiche
Poet-composer(?): sequences
Profession and genres composed or musical activity
Priest
Law study in Bologna and Florence
Priest or married; university education Priest Abbey of Klingenmünster
Monastic employers
Notre Dame in Clermont-enBeauvaisis; bishop of Meaux; canonicates at Verdun, Soissons, Beauvais, Paris, St Omer, Amiens, Vertus
St. Servatins, Maastricht; Church of Our Lady, Aachen
Secular churches where employed
Table: A Prosopography of Medieval and Renaissance Musician-Secretaries or Notaries
Louis de Bourbon, later duke; Jean, Duke of Normandy (army and his representative in Avignon)
Hohenstaufen emperors Friedrich Barbarossa and Henry VI Roger II, Viscount of Béziers, and his wife Adelaide; of William VIII, Count of Montpellier
Emperor Henry IV
Noble, royal, or papal courts where employed
32 Barbara Haggh
Secretary of Nicholas V from 1449–52; compiled large incomplete music book
Secretary of Cour d’amour c. 1417
Johannes Haucourt (fl c. 1390–after 1416)
Composer of chansons
Composer, music theorist, writer on physics, orator; songs in French and Italian
Organist, composer of Italian song
Florentine notary and judge
Ugolino of Orvieto (c. 1380–1452)
Composer, singer, teacher, scribe, illuminator; songs, mass settings
Secretary for Boniface IX, Innocent VII, Gregory XII; he may be the notary Giacomo di Antonio da Teramo named in Teramo docs.
Antonio Zacara da Teramo (c.1350/60–after 1413) [few papal letters by him, all copies but one autograph letter survives] Giovanni Mazzuoli (c. 1360–1426)
Priest
Priest
Married
Poet-composer; mass, Priest motets, ballades, rondeauxs, virelais, lais
Guillaume de Machaut clerc-écrivain among (c. 1300–77) domestic familiars, then notaire, and lastly secretaire
Father organist in Florence at Orsanmichele, S. Felicita, and Florence Cathedral Forlì Cathedral (canon, archdeacon), S. Antonio Abate in Rivaldino, Forlì (rector), Ferrara Cathedral (archpriest) Seclin (canon); Rouen Cathedral (chaplain), parish church of St. Vaast (rector); Rozoy (canon), St. Opportune, Paris (canon), Cambrai (chaplain), cathedral of Laon (canon)
Church adjoining Ospedale di Santo Spirito in Sassia, Rome (teacher, copied antiphoner and made miniatures)
Reims Cathedral (canon); many other benefices
Antipope Clement VII, Benedict XIII
Pope Gregory XII (singer); Cardinal Pietro Barbo (the future Pope Paul II) (vicar)
John of Luxembourg, King of Bohemia (almoner); Charles II, King of Navarre; Jean, Duke of Berry; Philip the Bold, Duke of Burgundy; Pierre de Lusignan Chapel of Antipope John XXIII, Boniface IX, Innocent VII, Gregory XII
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
33
May have been notary mentioned in doc. of 1372 Secretary to Philip the Good of Burgundy
Notary in Venice
May have worked as secretary at the Collège du Cardinal Lemoine in Paris
Secretary to Ferdinand I; secretary of state to Ferdinand II Apostolic notary by motu prioprio of Leo X; copied music at St. Omer
Vetulus de Anagnia, Johannes (fl 14th c.)
Guillelmus Musart (fl. 1420s–1430s)
Jean Molinet (1435 –1507)
Benedetto Gareth (c.1450–1514)
Poet and performer; composed frottole, strambotti Composer, singer, teacher; masses, Magnificat settings, motets, chansons
Poet, composer, historiographer; one rondeau
Singer of polyphony; indexer of I-Bc O1526
Composer, owned organ; songs
Profession and genres composed or musical activity
Monastic employers
Leading member of the Accademia Pontaniana Priest
Master from Univ. of Paris
Priest or married; university education Italian theorist
Noble, royal, or papal courts where employed
Notre Dame in Nesle (teacher); cathedral OF St. Omer (singer, copied music); Amiens Cathedral (master of boys); collegiate churches of St. André in Grenoble and St. Quentin
Queen Anne of Brittany, King Louis XII, King François I
Notre Dame of Paris (?); Chapel of John XXIII; St. Donatian, Bruges Duke Philip the Good of Burgundy (valet de chambre, taught two boys) Archpriest of Personal chaplain Cathedral of Venice, to F. Malipiero, S. Pietro di Castello bishop of Vicenza Church of Salle-leCourt of Burgundy Comte, Valenciennes (unofficial (canon), Condé (canon), association at first, St. Géry in Cambrai court chronicler (canon) 1475–1506) Ferdinand I, Ferdinand II
Secular churches where employed
26 Margaret Bent, Bologna Q15: The Making and Remaking of a Musical Mansucript, 2 vols. Lucca 2008, vol. 1, 89–94.
Jean Mouton (1459–1522)
Jacobus Vide (fl. ?1405–33)
Secretary or notary
Name (Dates)
34 Barbara Haggh
Secretary to bishop of Geneva, Pierre de la Baume
Adherent of Luther and from 1517 lawyer and imperial notary of the Cistercian abbey at Heilsbronn; in 1523 its chief magistrate and first secular official Secretary of divorce court of Duke Ulrich
Guillaume de la Moeulle (c. 1485–1556)
Hartung, Johannes (1493–1554)
Motets, songs
Composer and singer; Magnificat, lamentations, frottola, mascherata Composer of psalms, canticles, chansons spirituelles; also fiddler and singer Compiled seven volumes of Heilsbronn choirbooks; may be composer of two other pieces
Appointed apostolic notary by Leo X
Ulrich Brätel (c. 1495–1544/45)
Composer of masses, motets
Appointed apostolic notary by Leo X
Johannes Bonnevin alias Beausseron (born c. 1475–90, d. 1542) Juan Escribano (c. 1478–1557)
Bachelor’s Cistercian degree from abbey of University Heilsbronn of Leipzig
Composer, one mass, Priest five chansons
Notary and procurator at Chartres Cathedral (of canonicate of St Martin)
Jehan Fresneau (c. 1468–1505)
Cathedral of St. Pierre in Geneva (singer)
Travelled with musicians of Polish court; privy council of Duke Ulrich of Württemberg
Bishop of Geneva, Pierre de la Baume
French royal chapel (chapelain ordinaire, later cantorcapellanus), Galeazzo Maria Sforza (singer in chapel) Papal chapel (1514–); private chapel of Paul III Salamanca cathedral Papal choir (singer, (singer), other benefices treasurer, dean)
Cambrai Cathedral (petit vicaire), St. Martin, Tours (canon); Chartres cathedral (notary, procurator, canon, provost) St. Chapelle, Paris (singer); other benefices
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
35
Secretary or notary
Secretary at St. Nicholas in Passau
Apostolic notary by motu proprio of Leo X
Chapter secretary, archivist and chamberlain at S. Lorenzo in Florence
Active as diplomat; secretary of chancery for Sigismund I the Old and Sigismund II Augustus
Name (Dates)
Leonhard Paminger (1495–1567)
Antoine Longueval (fl. 1498–1525/26)
Francesco Corteccia (1502–71)
Marcin Kromer (1512–89)
Priest or married; university education At Vienna University
Historian, theologian Priest; stumusic theorist died at Univ. Krakow, Padua, and Bologna
Performer, composer, teacher; madrigals, lamentations, motets, hymns, responsories, passion
Composer and singer; motets, prayer setting
Composer of songs, antiphons, responsories, psalms, hymns and Propers, and German Protestant hymns; also theologian, author; his three sons were composers and writers
Profession and genres composed or musical activity
Benedictine priory of St. Pierre, Longueville
Monastic employers
Courts of Queen Anne of Brittany; House of Savoy; Alfonso d’Este in Ferrara; King Louis XII; King François I (counselor and first chaplain)
Noble, royal, or papal courts where employed
Biecz (rector), parish priest at Wislica, Sandomierz , Kielce; coadjutor and later bishop of Ermeland
Court in Vilnius; Sigismund I the Old and Sigismund II Augustus
Choirboy and chaplain Duke Cosimo at Florentine baptistry de’ Medici (later of S. Giovanni; chapel master) chaplain and organist at S. Lorenzo
St. Chapelle in Bourges; St. Chapelle of Paris; Notre Dame, Paris
St. Stephens in Vienna (bass singer, teacher in Stadtkantorei); St. Nicholas in Passau (schoolmaster, rector)
Secular churches where employed
36 Barbara Haggh
Secretary for Elector Friedrich III
Secretary for Editor, music Cardinal Giovanni Ricci theorist, and da Montepulciano historian
Secretary for Duke Charles III of Guise/ Lorraine
Stephen Zirler (c.1518–68)
Girolamo Mei (1519–94)
Pierre Clereau (fl. 1539–67, d. before Jan. 1570)
Composer, choirmaster, possibly organist; French and Italian songs, masses, canticles, madrigals
Composer and publisher; chorales, motets, German songs Songs, one motet
Secretary for Ottheinrich as Elector (beg. in 1556)
Hans Kilian (1515/16–1595)
Writer, publisher, instrumentalist, singer, painter
Elected secretary of Accademia Fiorentina in 1546
Antonfrancesco Doni (1513–74)
Priest
Member of the Accademia fiorentina; Accademia dei pianigiani, nonresident member of Accademia degli alterati; attended lectures at univ. Padua
Servite monastery in Florence (briefly early in life, expelled)
Toul (choirmaster), St. George’s in Nancy (canon)
Claude de Guise/ Lorraine and duke’s younger brother René, Marquis d’Elbeuf
Bishop of Agen (position in France), tutor to Guglielmo Guadagni, end of life at palace of Giovanni Ridolfi
Elector Friederich III
Treasurer for Ottheinrich in 1544
Founded Accademia Ortolana in Piacenza; member of Venetian Accademia Pellegrina
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
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Clerk at law courts in Mühlhausen; clerical duties for consistory; later public notary, and in 1583 town councillor
Chancery clerk at Burgbreitungen; town clerk at Wasungen; chancery secretary to Elector of Saxony at Meiningen, then notary public and mayor there Secretary to Louis de Bourbon, prince of Condé (1557–69)
Joachim a Burck (1546–1610)
Johann Steuerlein (1546–1613)
Ubert Philippe de Villiers (fl. 1553–69)
Secretary or notary
Name (Dates)
Writer, composed a lament
Composer of motets, German sacred songs, passion; organist, poet laureate
Self-taught composer, organist, and public official. taught by Martin Agricola and then probably by Gallus Dressler; hymns, motets, passion, occasional and sacred vocal works
Profession and genres composed or musical activity
Priest or Monastic married; employers university education Kantor of the newly founded grammar school at Mühlhausen at age 17; took part in the famous organ trials at Gröningen near Halberstadt and organ consultant at Sondershausen in 1603 and in 1604 at Hersfeld Matriculated at Univ. of Wittenberg St. Blasius, Muhlhausen (organist)
Secular churches where employed
Louis de Bourbon, prince of Condé
Noble, royal, or papal courts where employed
38 Barbara Haggh
Notary in Middelburg; later burgomaster of Veere and member of chamber of rhetoric
Secretary for Queen Anne
Secretary for Marco da Gagliano’s Accademia degli Elevati
Adriaen Valerius (c.1570–1625)
Daniel Bacheler (baptized 1572; buried 1619)
Giovanni del Turco (1577–1647)
Composer, courtadministrator, nobleman belonging to military order; composed madrigals, mascherata
Lutenist, composer, of lute solos, one song, a few pieces for mixed consort
Lawyer, poet, musician; author of posthumously published history with dozens of popular songs
Royal secretary and Chansons, mass, registrar in the motets, Vespers, judiciary (as was father) Tenebrae settings, hymns, odes, instrumental fantasias, ballet music
Jacques Mauduit (1557–1627)
Composer of masses, motets
Seville cathedral chapter secretary
Alonso Lobo (1555–1617)
Member of Baïf’s Academy of Poetry and Music
Priest; licence from Osuna university
Seville cathedral (choirboy, chapter secretary), collegiate church at Osuna (canon), Toledo Cathedral (chapel master)
Jacopo Corsi in Florence; Grand Duke Cosimo II (superintendent of court music)
Apprenticed to lutenist then to principal secretary Queen Elizabeth I; Earl then Lady of Essex; groom in Queen Anne’s privy chamber
French kings
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
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Barbara Haggh
As we can observe, many more composer-secretaries have been identified than composer-notaries. Here again, the reason may be related to the amount of writing required by such positions. When the word “secretary” appears in the Middle Ages, it by no means implies duties of writing. The word first refers to a tabernacle for keeping secret items and then to individuals who were charged with secret matters. The chronicler Jean Froissart (d. c. 1405) is the first to refer to a secretary as an individual who wrote documents for another.27 This explains why most of the composersecretaries in the table given here were employed by popes, cardinals, or members of the nobility. They were ideal secretaries, not to mention spies28 because, as performers, they had personal access to such high-ranking individuals. Indeed, composer-secretaries often took on such posts later in their careers and then never left them, suggesting that mature individuals inspired more confidence. Hans Kilian, for example, was treasurer in 1544, then established a publishing house, and only became secretary to the Elector in 1556. Other composer-secretaries worked for cathedral or collegiate chapters. Johannes Haucourt worked for a cour d’amour, which functioned not unlike a confraternity, and confraternity statutes emphasize the confidentiality of their secrets.29 Ulrich Brätel worked for the divorce court of a duke, and two others for Italian academies. Antonfrancesco Doni was elected secretary of the Accademia Fiorentina, and Giovanni del Turco was secretary for the Accademia degli Elevati.30 Composer-secretaries were rare, but found throughout Europe. Of the twenty-four secretaries in the table shown above, only six were priests, and only five had some university education, though not necessarily degrees, meaning that an education was not a prerequisite for secretarial work. Six were French, seven German-speaking, seven Italian, and one each from England, the Low Countries, Spain, and Switzerland.
27 Algirdas Julien Greimas, Dictionnaire de l’ancien français jusqu’au milieu du XIV e siècle. Paris 1968, s. v. “secrétaire”. 28 As was the music scribe, Petrus Alamire. See Grove Music Online, s. v. “Pierre Alamire.” (http://www.grovemusiconline.com). Accessed February 27, 2011. 29 See Arthur Piaget, Un manuscrit de la Cour Amoureuse de Charles VI, in: Romania 31 (1902), 597–603. 30 See Guyotjeannin et al., Diplomatique (as note 25), 223–227 on chanceries in general, 238–240 on the papal chancery, 240–241 on the French royal chancery; 242–244 on public notaries. He comments (244–245) that little is known about the education of the professionals of the chancery and supposes that many, and especially civic secretaries, learned their trade on the job. He distinguishes secretaries with legal positions from those with mere calligraphic positions.
Composer-Secretaries and Notaries of the Middle Ages and Renaissance
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Thus, we should perhaps not assume that composer-secretaries were hired to write, when their main function may have been to receive or transmit confidential messages in person. Nevertheless, a thank-you letter on behalf of Queen Anne written by the composer, Daniel Bacheler (buried in 1619) survives. 31 Composer-notaries appear to have been fewer in number. I identified seventeen, of which five were priests and three university-educated. The relative status of the secretary and notary is evident in the career of Machaut, who was first notary and then secretary. In the chancery of the French king notaries were numerous and, after 1291, specialized. Whereas secretaries worked at the wish of the king, notaries were assigned important but routine tasks including writing.32 Much earlier, Gottschalk of Aachen as notary drafted letters defending the king’s right of episcopal investiture against Pope Gregory VII, crucial documents of the Investiture Controversy.33 Four composers were appointed as apostolic notaries by Pope Leo X. They were charged to receive or sign documents relating to ecclesiastical affairs, such as benefices, foundations, donations to churches, wills, and suchlike.34 The significant roles of notaries in the genesis of the Roman de Fauvel stand out in the history of medieval music, however. Gervès de Bus, author of the poem of the Roman de Fauvel, was employed as a notary in the French royal chancery from 1313 until 1338, as was the notary who signed himself as “Chalop” claimed to be Chaillou de Pesstain, who compiled the contents of the Fauvel manuscript.35 Although this manuscript (Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS français 146) is filled with musical notation, its notator remains unknown. Yet in the fifteenth century, less
31 Christopher Morrongiello, Notes from the Scriptorium of Daniel Bacheler, in: Lute News: The Lute Society Magazine 69 (2004), 11–13. 32 Ibid., 240–241. See Élisabeth Lalou, La Chancellerie royale à la fin du règne de Philippe IV le Bel, in: Fauvel Studies. Ed. Margaret Bent and Andrew Wathey. Oxford 1998, 307–319: in 1316, the royal secretaries take on the title “secrétaire”; earlier on, they were called “clercs du secré” (308). 33 Michael McGrade, Gottschalk of Aachen, the Investiture Controversy, and Music for the Feast of the Divisio apostolorum, in: Journal of the American Musicological Society 49 (1996), 351–408. 34 See Auguste Boudinhon, Notaries, in: The Catholic Encyclopedia. New York 1911, vol. 11, http://www.newadvent.org/cathen/11122a.htm (accessed 8 March 2011), and Rainer Heyink, Zur Wiederentdeckung der Motu proprio-Erlasse Papst Leo X. an Jean Mouton und weitere Mitglieder der französischen Hofkapelle, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 76 (1992), 45–58. 35 Lalou, La Chancellerie royale (as note 31), 307–319.
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formal musical notation is found in documents drafted by secretaries or notaries, including civic cartularies, evidence of musical knowledge in these environments.36 Furthermore, notaries not known to have composed did own music books.37 And there is the example of the composer, Geert van Turnhout (d. 1580), who dedicated a collection of songs for household use to Adrian Dyck, notary of Antwerp.38 Finally some composers had fathers or other relatives who were notaries, such as Grazioso da Padova and, later, Cristóbal de Morales.39 In conclusion, writing rarely had a place in most composer’s or theorist’s careers before 1500, even if they did hold the title of secretary. Notaries did write, however, as did isolated composers in Italy.40 After 1500, writing slowly becomes part of musical training and, in some cases, of composition, while printing again removed composers from directly participating in the notated representation of their creations. By contrast, many composers were entrusted with keeping secrets, no doubt precisely because of their excellent memory, as well as their discretion.41
36 See Paolo Peretti, Una testimonianza poetico-musicale in un notaio pesarese del primo ‘500, in: Pesaro città e contà 11 (2000), 63–72, and Barbara Haggh, The Helmond Manuscript, in: Music Fragments and Manuscripts from the Low Countries (Yearbook of the Alamire Foundation, 2). Leuven 1997, 39–41. 37 See, for example, Jürg Stenzl, The Music Book of Simon Zmutt of Sion, Sion, Kapitelarchiv, Tir. 87–4, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 1 (1972), 115–132. 38 New Grove Online, s. v. “Geert van Turnhout” (http://www.grovemusiconline.com). Accessed February 27, 2011. 39 New Grove Online, s. v. “Gracioso da Padova” and “Cristobal de Morales” (http:// www.grovemusiconline.com). Accessed February 27, 2011. 40 Antonio Zacara da Teramo (see the table) and Johannes de Quadris, the possible scribe of Oxford, Bodleian Library, Ms. Canonici Misc. 213. See Laurenz Lütteken, Guillaume Dufay und die isorhythmische Motette. Gattungstradition und Werkcharakter an der Schwelle der Neuzeit. Hamburg 1993), 126–127. Cf. Laurenz Lütteken., Musicus et cantor diu in ecclesia Sancti Marci de Veneciis: Note biografiche su Johannes de Quadris, in: Rassegna veneta di studi musicali 5–6 (1989–90), 43–62. 41 I am grateful to Meghan Sommers for her assistance with this article and to the University of Maryland, College Park for supporting her assistance.
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Ockeghem, England and O rosa bella David Fallows
There is much still to say on the matter of Ockeghem and England. What seem to his earliest secular work and his earliest mass cycle are both based on English music – namely his new discantus to go alongside the discantus of Bedyngham’s O rosa bella and his Missa Caput, famously modelled on the earlier Caput mass by a still unnamed English composer. Nobody at the time could have been in any doubt that the anonymous Caput mass was by an Englishman, even if that matter was unknown for most of the twentieth century;1 and everybody surely knew that O rosa bella was by an English composer, even if they weren’t entirely sure which. That may seem odd for a man who was in French royal employment from at least 1448, that is to say the last five years of the bitter Hundred Years’ War between England and France, a war that had the English occupying Paris and the French king exiled to Bourges for many years. That would suggest that Ockeghem is more likely to have composed both his Missa Caput and his O rosa bella arrangement before he reached French royal employment. Such a suggestion could be resting too much on too little objective evidence. But on the other hand it is notable that apart from those two works there is no direct evidence of a debt to English music in Ockeghem’s output; and in any case it has often been suggested that these are among his earliest works. His arrangement of O rosa bella looks very much like a student work, though perhaps only because it is in only two voices; and several writers have agreed that Caput must be one of his earliest mass cycles. It makes sense – at least as a working hypothesis – to think that he composed both while at Antwerp, a Flemish city with a close and commercially essential dependence on the English wool trade, or at least while he was still living in the Low Countries.2 Before tackling O rosa bella, perhaps a few words about the Missa Caput are in order. The cantus firmus is taken from the anonymous English Missa 1
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For most of the twentieth century it went under the name of Du Fay, to whom its Kyrie is ascribed in the manuscript Trento 88; already the abstract of Thomas Walker’s famous 1969 American Musicological Society paper, “A Severed Head”, was enough to convince all specialists that this was indeed the work of an English composer, not of Du Fay. Rob C. Wegman, Petrus de Domarto’s Missa Spiritus almus and the Early History of the Four-voice Mass in the Fifteenth Century, in: Early Music History 10 (1991), 235–303, at 289–296, argues this point from several other angles.
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David Fallows
Caput, still undated but first found in the manuscript Trento 93 of ca. 1450– 52; Ockeghem takes the rhythms and the design of the borrowed tenor, merely putting it down an octave by canonic instruction. That cantus firmus melody is from an antiphon for Maundy Thursday, and seems to be unique to the Sarum liturgy: the melody had no place whatsoever in the liturgies of Paris and of Tours, where Ockeghem was active after 1450. And he includes another characteristically English detail, telescoping in the Credo, found otherwise in the English Missa Caput and several other English works but almost unknown on the continental mainland at the time. To say this is by no means to dispute what I would call the Roger Bowers view of liturgy, namely that the paymasters neither knew nor cared what was happening in their chapels and churches as long as it did not go on longer than expected.3 On the other hand, for a young composer to use a very English tenor and employ the very English practice of telescoping can neither of them have been random decisions. It is true that once you have taken the Caput tenor in its present shape you are stuck with a fairly compact Credo; but telescoping is surely a very extreme process when it concerns the most sacred of all liturgical texts. It really seems hard to see that other than as a clear tribute to England and English music. The case of O rosa bella is rather different. It may be true that the English dominance in sacred music on the continent was a matter of the 1420s and the 1430s. But as concerns the secular music, it is in the 1440s and the 1450s that the English composers virtually cleaned up. That is perhaps best explained in the following list of all songs apparently from the 1440s surviving in five or more musical sources.4 Bedyngham: Du Fay: Bedyngham: Bedyngham (or Du Fay): Bedyngham (or Frye): anonymous: Bedyngham: Du Fay: Binchois: anonymous: anonymous:
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O rosa bella Le serviteur Gentil madonna Mon seul plaisir So ys emprentid Puis que je vis Myn hertis lust Mille bonjours Pour prison ne pour maladie Terriblement suis Een vrauken edel
18 17 16 14 11 10 8 6 7 5 5
Roger Bowers, Obligation, Agency, and laissez-faire: The Promotion of Polyphonic Composition for the Church in Fifteenth-century England, in: Music in Medieval and Early Modern Europe: Patronage, Sources, and Texts. Ed. Iain Fenlon. Cambridge 1981, 1–19. A fuller picture of the most often copied songs from 1410 to 1480 is included in my forthcoming John Bedyngham and the Case of the Disappearing Composer, in a volume edited by Marco Gozzi.
Ockeghem, England and O rosa bella
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Intriguingly, the last fifteen years have added one further source to two of the Bedyngham pieces, Myn hertis lust and So ys emprentid; and they have added two new sources to his Gentil madonna. So the degree to which Bedyngham took over the continent during those years has quite recently become even more startling. (Oddly the discovery of new sources appears currently to be having more impact on English composers than others: in the 1460s Hothby, with the new document in Mantua; in the 1470s Robert Morton, in both Mantua and Stockholm.)5 The list shows O rosa bella as the most successful song of its generation. Now it is true that Du Fay’s Le serviteur survives in seventeen sources, just one fewer than O rosa bella. But there is only one other song of Du Fay that comes even close to that number, namely Par le regart, with fifteen sources. For Bedyngham we have no fewer than five songs here with an exceptionally large number of sources. Any such listing and numbering inevitably hides uncertainties. As concerns who composed Mon seul plaisir there has been no disagreement that it is by Bedyngham, despite a contrary ascription to Du Fay.6 The case of So ys emprentid is a lot harder, since it is ascribed to Frye in the beautiful and generally authoritative Mellon chansonnier and to Bedyngham only in the later, messy and in my view much underestimated Florence manuscript 176. But whatever the upshot of those questions, it remains beyond question that the new secular music of the 1440s was dominated by the English, and indeed probably by one man – namely John Bedyngham. There are still people asserting that O rosa bella may be by Dunstaple. In 1980 Margaret Bent stated clearly that the work shared absolutely nothing with Dunstaple’s style; in 1981 she repeated the point, with more detail and more force. In 1983 I published a detailed discussion of the Oporto songbook, the one containing the clearest ascription to Bedyngham, showing several entirely different respects in which it was a highly authoritative document as concerns English music and particularly Bedyngham. In 1993 Reinhard Strohm aligned himself with us, adding his own special linguistic expertise as well as his stylistic acumen to add to the case that
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I have attempted to keep a formal list of new sources and new identifications since the publication of my A Catalogue of Polyphonic Songs, 1415–1480 (Oxford 1999). It was earlier kept on my website at the University of Manchester; since my retirement and the withdrawal of those facilities, it is now on the website of the Digital Image Archive of Medieval Music (DIAMM) at Oxford. I would however take this opportunity to report my embarrassment at seeing that I wrote in the 2001 Grove, s. v. “Bedyngham”, that it appears in more sources than any authenticated piece by Du Fay: both Le serviteur and Par le regart appear in more sources than Mon seul plaisir.
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the song is by Bedyngham. And in 1994 I added to this by putting O rosa bella firmly within the context of Bedyngham’s music, supplying many parallel passages in other works of Bedyngham, doing so at such length and in such detail that I felt guilty of overkill.7 That the music is not by Dunstable was perhaps first clearly recognized by the composer Percy Grainger, who wrote to Dom Anselm Hughes on 13 May 1955, as part of their preparations for the edition they would issue in English Gothic Music, “utterly unlike other Dunstables, OR ANY OTHER MUSIC AT ALL”.8 I would qualify that remark only by drawing attention to the parallels in Bedyngham’s music that I noted in 1994. I think it is right to say that the only coherent support for Dunstaple over the past sixty years came from Manfred Bukofzer, who wrote in his 1953 edition of Dunstaple’s music that “The authorship of Dunstable seems certain in view of the fact that Urb [namely the manuscript Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. Lat. 1411] contains a collection of chansons of an early group of composers active some time before Bedingham”. There are precisely three other composers in the manuscript: Ciconia did indeed die in 1412; but the other two, Du Fay and Binchois, both actually outlived Bedyngham – Binchois admittedly by only a few months, but Du Fay by fifteen years. What remains at issue is when the Vatican manuscript was compiled; and that has not been answered in the recent publications about it.9 The suggestion that it was copied in 1445 is based on almost nothing; the date must sadly remain “perhaps from the 1440s“– albeit always with the gloss that Dennis Slavin thought it could be as late as c. 1450. Slavin’s proposal was largely because it contains the Binchois song Mon cuer chante joyeusement, which looks from its style and other sources most unlikely to have been composed earlier than about 1445. Until we know more about the chronology and style of Binchois, it is hard to go further. Alexander Erhard’s recent book on O rosa bella and its related pieces has changed the situation substantially.10 Erhard makes in particular two points that are directly relevant to this discussion. First, he proves beyond any shadow of doubt that O rosa bella cannot possibly have been the ori7 David Fallows, Dunstable, Bedyngham and O rosa bella, in: The Journal of Musicology 12 (1994), 287–305, which spells out the references just mentioned. 8 Christopher Grogan, Percy Grainger and the Revival or Early English Polyphony, in: Music & Letters 77 (1996), 425–39, at 434. 9 James Haar, Città del Vaticano: MS Urbinas Latinus 1411. Lucca 2006; Adalbert Roth, Biblioteca Apostolica Vaticana: MS Urbinate Latino 1411: Edizione facsimile. Lucca 2006. 10 Alexander Erhard, Bedynghams O rosa bella und seine Cantus-Firmus Bearbeitungen in Cantilena-Form. Tutzing 2010.
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ginal text for the song, even though it circulated throughout the continent with that text or at least that title. That is obviously embarrassing and surprising for somebody who has been writing about that song on and off for over thirty years; but I am not the only person to have missed that obvious conclusion. Since there is no trace of any original poem (presumably in English), we are more or less forced to continue calling it “Bedyngham’s O rosa bella”. Second, Erhard also shows that the arguments apparently demonstrating that Bedyngham knew the earlier setting of that text by Ciconia hold no water at all. What is particularly surprising about Bedyngham is that six of his eight known secular songs are each ascribed to him just once (twice in the case of O rosa bella, and twice in the case of Se belle, though in the synoptic Trento 93 and 90): so ten appearances of his name among a total of seventy-two currently known copies of his songs in continental sources. Inevitably the scribes seem to have had some trouble with orthography: the only ascription for Gentil madonna reads “Io bodigham” (in the Schedel songbook), those for So ys emprentid and Myn hertis lust read “bellingan” (in Florence 176), that for Se belle is “benigun” (in Trento 90 and 93). Moreover, his name seems to have been almost unknown: no theorist or poet ever cites him unless he could be the “Barbingham” (who could also be Barbingant or Barbireau) mentioned in Eloy d’Amerval’s Livre de la deablerie, printed in 1509 but written nearer 1490. My guess is that Bedyngham never left England and was not personally known to any of the continental composers or theorists. That is all to say that Ockeghem in making his duo arrangement of O rosa bella may not have known who composed it. Nobody can underestimate the power of the O rosa bella effect. It is not just that there are eighteen sources for the original song but that its heritage is greater than for any other fifteenth-century song except Hayne van Ghizeghem’s much later De tous biens plaine. That is to say that my Catalogue of Polyphonic Songs devotes no fewer than six pages to reporting the later history of O rosa bella in arrangements, mass cycles, citations, and so on. The only competitors here are J’ay pris amours, with three pages, Fortuna desperata, with two and a half pages, and Le serviteur, with two pages; in other words, there is nothing with even half the quantity of later materials that O rosa bella has. Admittedly I gave up on De tous biens plaine, in the Catalogue and again in my volume for the New Josquin Edition, partly because there was so much information that was approximate and needed further checking, despite the enormous amount of work done by a dozen or so earlier researchers: currently I have 55 later pieces based on De tous biens plaine together with six more that seem to be musically unrelated; and one day I hope to present the list publicly.
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But the great difference again here is that so much of the main heritage for O rosa bella seems to have happened very quickly after the song became available. If it was composed in the very early 1440s, as I have guessed (on no particularly sturdy basis), there were by ten years later: three and probably four gimel parts to be sung alongside the original discantus; one added contratenor; the setting by Hert; the anonymous setting that inverts the “O rosa bella” riff; the anonymous setting that treats the same riff more casually; and the first of the three mass cycles. That list is confined to pieces that happen to be available in Trento 93 and Trento 90. By contrast, if De tous biens plaine is from the mid-1460s, ten years later I suspect that the only available work based on it was Loyset Compere’s motet Omnium bonorum plena. But this is all to say that it is no exaggeration to say that the secular music of the 1440s was absolutely dominated by the music of John Bedyngham and most particularly by his O rosa bella. It is no surprise, then, that Ockeghem should have chosen to write a duo voice to be performed alongside the discantus of Bedyngham’s polyphony. Honey Meconi long ago pointed out that O rosa bella is the earliest of the fifteenth-century songs to have the kind of tradition I just mentioned (and I would agree with her that it is likely to be a bit earlier than Du Fay’s Le serviteur).11 If that is the case, it seems doubly important to try to establish what position Ockeghem occupied in this process. To explore that question a few details about the original song need to be clarified. The first issue to confront is one of several concerning the notation of O rosa bella. In three of its earliest sources, the Trento manuscripts 93, 90 and 89, it appears in note-values double those of all the other sources. Is it possible that this reflects an original English notation? After all, several pieces did undergo substantial changes in their moves from England to the continental mainland. There are three pieces of evidence demonstrating that the note-values have indeed been doubled in Trento. First, the three Trento sources are synoptic: it was long ago demonstrated that much of Trento 90 was copied directly from Trento 93; the copy in Trento 89 has all the same musical details. To all intents and purposes these three copies in Trento amount to a single source. Alongside these, in all the remaining sources for O rosa bella from many parts of Europe there is no further hint of these doubled note-values; and one must really view these as Johannes Wiser’s attempt to present unfamiliar music in unambiguous form without resorting to red notation. 11 Honey Meconi, Art-Song Reworkings: an Overview, in: Journal of the Royal Musical Association 119 (1994), 1–42, at 12–15.
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Second, in two of the most authoritative sources we have the music presented in two colours: full-black for anything down to a minima, red for semiminims and for dots after minims (as well as for coloration). This is particularly striking in the Oporto manuscript 714, copied in Ferrara well after 1450 (to cut short an elaborate discussion);12 and of course it is a common procedure in English manuscripts throughout the fifteenth century. In earlier years it was by no means confined to English manuscripts: the earlier Escorial chansonnier V.III.24 and the Binchois fragment in Munich have the same red semiminims. But in Escorial V.III.24 as well as in the Vatican Urb. lat. 1411 we have an interesting juxtaposition of pieces that use red notation for semiminims and those that present them in black notation but with flags. Both sources present the two different notation styles cheek by jowl. It looks very much as though the original notation of O rosa bella would have used red semiminims, as happens in many English sources from the middle years of the century. In fact, if it was written by an Englishman in England there is every chance that it was indeed originally in full-black notation with red color and semiminims. The renotation in Trento was merely an attempt to modernize the note-values. This brings us back again to the authority of the Oporto songbook, an exceptionally late continental source to have fullblack notation, let alone red semiminims. It looks very much as though this was a fair representation of what Bedyngham originally wrote. The third piece of evidence lies in the Trento codices themselves. In Trento 90, folios 361v–362, there are four different components (and there is no longer any need to produce a plate of the opening since it is now available online in reproductions better than any printed plate):13 First, Bedyngham’s original song, presented in doubled note values and without any staff-signatures. All three voices have a cut-C mensuration sign. And all three voices contain the occasional accidental written in. This version of the song has a text opening “O rosa bella, o tu mi Maria”. Second, the voice labelled “Gimel: O rosa bella”, plainly intended as a duet with Bedyngham’s discantus (since it constantly duplicates one or other of the other two voices). This gimel is also in doubled note values and lacking the necessary staff-signature. It is copied with a surprising
12 That discussion, largely based around my article Robertus de Anglia and the Oporto Song Collection, in: Source Studies and the Interpretation of Music: A Memorial Volume to Thurston Dart. Ed. Ian Bent. London 1981, 99–128, is summarized in Manuel Pedro Ferreira, Porto 714: Um Manuscrito Precioso. Oporto 2001. 13 www1.trentinocultura.net/portal/server.pt?open=514&objID=22652&mode=2 (last visited on 12 April 2011).
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number of mistakes, among them that the entire second half of the line is put a third too low. Third, the voice labelled “Alius Gimel: O rosa bella”, in original note values, apparently with a circle mensuration sign (which makes no sense), all notated a third too low and again lacking the necessary staff-signature. Fourth, the voice labelled “Secundus contratenor concordans cum ceteris vocibus” – that is, an extra contratenor which fits together with Bedyngham’s three original voices. This too is in original note values, though here with a C mensuration sign, which seems to be correct. Again there is no staff-signature, though a single high b-flat written in towards the end. This extra contratenor is written across the bottom of the opening on what seem to be added staves. By contrast, it looks very much as though the first three components of the opening were written as a single exercise. Certainly there are changes in the ink colour, but it is clear that the scribe began to worry about space as he reached the end of Bedyngham’s piece on the righthand page. The last two staves are extended into the right-hand margin. I suggest that these various materials endorse the same point, namely that the original O rosa bella was written in the shorter note-values and that the doubled note-values are a characteristic whim of the Trento scribe. That seems an important conclusion, in that it helps us to believe that Ockeghem was dealing with something fairly close to the original copying of the piece. In fact, if he was really in the Low Countries when he made his arrangement he would almost certainly have had very close access to English music. These comments are all by way of outlining the context for the piece by Ockeghem called O rosa bella, his new voice in the same range to be performed alongside the discantus of O rosa bella. Ex. 1 contains the discantus of Bedyngham’s song above four different equal-range lines, each composed to be sung just with Bedyngham’s discantus. The ones labelled “Gimel” and “Alius gimel” are on the opening of Trento 90 that I have just described. The one ascribed to Ockeghem is much later in the same manuscript. The one called Escorial is in the later Escorial chansonnier, IV.a.24, perhaps also from the 1450s. The were two original purposes in aligning these four different gimel lines – despite the obvious disadvantage that in several details they need different versions of Bedyngham’s discantus. The first was to provide the basis for a kind of analysis that would make it possible to show which was the earliest and what the various copies owe to one another – as Klaus-Jürgen Sachs attempted to do fifteen years ago.14 14 Klaus-Jürgen Sachs, Die Gymel-Stimmen zum Superius des “O rosa bella”-Satzes im Kodex Trient 90, in: Die Musikforschung 49 (1996), 287–92.
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Ex. 1: Conflation of four duos on the discantus of O rosa bella Gimel Alius gimel Escorial Ockeghem 6 12 18 22
Bedyngham
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27
33
39
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If anybody thinks they can do this, they are welcome to try. All I can say is that I eventually concluded that any such attempt would be so subjective as to be useless. The second purpose was to show some of the ways in which Ockeghem’s effort was superior; that too, on further examination, proved harder than I had hoped – or, let us say, more potentially subjective than I had hoped. On the other hand, I think this alignment does appear to show that all four gimel voices belong to the same stable, as it were. They all move in the same kind of way; they all pick up a few characteristic bits of Bedyngham’s original counterpoint; and they all represent a clear stylistic genre. Its roots are perhaps in a group of songs for two equal voices, which I once guessed were all from the years about 1400–1425.15 But I also suspect that there is no later composition quite in this manner – or if there is one, it is an isolated phenomenon. What can surely be said about ex. 1 is that the four added lines are absolutely not isolated. Irrespective of what came first, they belong together. In fact it almost looks as though they are a series of exercises in the manner of species counterpoint: that is, you write one gimel, then you write another providing a different solution, and that after the third or the fourth attempt it begins to become quite a challenge to think up new ideas. In general it looks as though all these pieces try to avoid the original counterpoints except at a few key moments. The general procedure seems only commonsensical: somehow there is no point in writing new lines if they are the same as the old ones. I once dismissed Ockeghem’s gimel as quoting far too much of the original tenor. I now see that all four gimels quote it, though usually at characteristic places, most particularly the opening O rosa bella riff. Similarly, Klaus-Jürgen Sachs states that the “Alius gimel” quotes from the original less than the first Gimel; that seems hardly to be true. This is another sense in which I believe that the four surviving gimels to O rosa bella belong to a single family. Ex. 2 gives a much more detailed picture of Ockeghem’s piece, noting all variants. Above Bedyngham’s discantus a few selected variants from other sources are added. In the case of Ockeghem’s O rosa bella duo the new scans rather reduce the number of necessary emendations. In bar 3 there is quite definitely a full semiminima where there should be a void minima.
15 David Fallows, Two Equal Voices: A French Song Repertory with Music for Two More Works of Oswald von Wolkenstein, in: Early Music History 7 (1987), 227–41.
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Ex. 2: Ockeghem’s duo on the discantus of O rosa bella
Bedyngham
Ockeghem
Alius discantus super O rosa bella
Col Pav Wolf Dij Hert
Col Dij Pav Wolf Hert
8ve
BerK Wolf Hert
Ct
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Ockeghem, England and O rosa bella
Pav Hert
Pix Hert
Col Pav Hert
Pav Pix Glog Hert
Col Dij Pav Wolf Glog
RU: G
F E
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In bar 11 those four semiminims must be fusae. In bar 16 the third note needs to be a minima, not a semibrevis: this is not the most obvious emendation, and other editors have done it differently, but this is the only emendation that results in contrapuntal sense; and Ockeghem’s approach has created a very pleasing shifting of the beat. And most interesting of all is bar 41, where, Ockeghem has plainly taken over Bedyngham’s tenor, putting it up an octave; so the necessary emendation is that the third and fourth notes, the semibrevis and the minima, should be in full-black coloration to create Bedyngham’s dotted figure here. In order to make that easier to understand, ex. 2 includes brackets under Ockeghem’s line whenever it follows Bedyngham’s tenor (or, in one case, Bedyngham’s contratenor). The other point that makes it easier to view Ockeghem’s duo is that most of the sources are now far easier to obtain in good reproductions than a few years ago. It is now easy to have more or less complete control of the variants. Some important details follow from that. In bar 42, the counterpoint fails to work unless the second note of Bedyngham’s discantus reads G rather than F. Of all the sources for the music, the only one to give G rather than F is the one that is probably the earliest, the little Vatican songbook Urb. Lat. 1411 – the document discussed earlier (in ex. 2 given its traditional abbreviation “RU”). A glance back at ex. 1 shows that the other gimel writers expected an F at this point, but that Ockeghem was plainly working from a different source, with the Vatican reading. So that perhaps answers the question of whether all four gimels could be by Ockeghem: no, because his at least was based on a different set of readings of Bedyngham’s discantus. Just as important is the detail in bar 37. Ockeghem’s second note fits poorly with the majority version. It would be better if we took the discantus as it appears in five sources of no particular authority, namely with the second note reading not E but D. Better still, though, I suggest, is the version found in only two sources: the Pixérécourt chansonnier, some forty years later but often remarkably good in its musical readings, and the setting of the O rosa bella material by a certain Hert. The point about Hert’s setting is that it appears on the same opening of Trento 90 as our only copy of Ockeghem’s duo. And repeatedly there are variants in Hert’s version, which appears only here, that actually work better with Ockeghem’s music. Thus in bar 39, the anticipation that is in most sources is not present in Hert, here in a reading that is shared by three other sources, again Pixérécourt among them. The reading with the anticipation is not impossible; but the Hert reading is better. The same could be said four bars earlier at bar 35, where the dipping cadence in the majority of the sources
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produces a momentary fourth below the discantus; again not impossible, though the Hert reading (shared by two other sources) is actually better. The same happens in bar 17. My addition of the Hert variants for bars 24 and 28 is perhaps harder to justify on a purely contrapuntal argument, though the pattern is there. The one at bar 7 is really added just to show the only other point where Hert differs from the main sources of Bedyngham’s song. Perhaps the real point of drawing attention to those details is that the resulting counterpoint is now of an exceptional purity, though it is a purity generated mainly by the Hert version, with only a few details generated by me. Even so, that is what gives me courage to think that a final emendation may be appropriate, the one I have proposed in bar 45. The three parallel fourths produced by the manuscript reading cannot be accepted. By putting two of those notes down a third we obtain counterpoint as pure as the rest of the piece. And what we then have, just slightly contradicting what I said earlier, is a piece that is contrapuntally just a little purer than the other three gimels on O rosa bella. Nobody knows who Hert was. The name is too common for any safe identification: to the three suggested in the 2001 Grove, s.v., might be added Bukofzer’s proposal of Alan Hert who was in the English chapel royal between 1413 and 1422.16 But it may be unwise even to speculate that he was English. One thing we do now know about him is that he must have had some association with Ockeghem. Ockeghem may not have known who composed the song or the other four Bedyngham songs from the 1440s that dominate the manuscripts. But the English dominance in song cannot have escaped him in his formative years. The O rosa bella effect was massive.
16 The New Oxford History of Music, vol. 3 (Ars Nova and the Renaissance: 1300–1540). Oxford 1964, 129.
The Raven and the Falcon: Literary Space in a Trecento Musical Aviary Elena Abramov-van Rijk
The anonymous author of Capitulum de vocibus applicatis verbis defined the content of poetic texts of madrigals as follows: “verba volunt esse de vilanellis, de floribus, arbustis, sertis, ubere et similibus, dummodo sit bona sententia, loquela et sermo.”1 Though Antonio da Tempo, in his Summa artis rithimis vulgaris dictaminis (1332), also defined the madrigal as rustic poetry sometimes using unpolished words, idioms and expressions, he noted that contemporary poets “now compile madrigals that are more subtle and beautiful.”2 Indeed, the majority of madrigals, known mostly from the written musical repertory beginning with the 1340s, are substantially distant from purely rural imagery. Not only pastoral themes, but also philosophical, moral and other topics became typical of the genre. In the increasing search for literary subtleties and beauty, the use of other languages, quotations from and references to learned sources, allegories and other devices reflect the elevation of this genre to a higher artistic level. It is worth noting that Antonio da Tempo reserved these devices for the genre of the sonnet, whereas his madrigals demonstrate an ingenuous simplicity of rustic amorous topics. In the vernacular translation of his Summa, made I would like to thank Aldo Menichetti, Bonnie Blackburn, Irene Guletsky and Sergei Abir for their comments and help. The following abbreviations are used: Lo (London, British Library, Add.29987), Pit (Paris, Bibliothèque nationale de France, f. it. 568), SL (San Lorenzo, Archivio Capitolare 2211), and Sq (Biblioteca Medicea Laurenziana, Palatino 87, Squarcialupi Codex). 1
2
“[Their] words should be about shepherdesses, flowers, trees, wreaths, fertility and the like, provided that the sentiment, diction, and style are good.” Cf. Thorsten Burkard and Oliver Huck, Voces applicatae verbis: Ein musicologischer und poetologischer Traktat aus dem 14. Jahrhundert, in: Acta Musicologica 74 (2002), 1–34, quote 18. See also Santorre Debenedetti, Un trattatello del secolo XIV sopra la poesia musicale, in: Studi medievali 2 (1906–7), 57–82, and Nino Pirrotta, Una arcaica descrizione trecentesca del Madrigale, in: Festschrift Heinrich Besseler zum sechzigsten Geburtstag. Ed. Eberhardt Klemm. Leipzig 1961, 155–61. For the date of this source, see Elena Abramov-van Rijk, Evidence for a Revised Dating of the Anonymous Fourteenth-Century Italian Treatise Capitulum de vocibus applicatis verbis, in: Plainsong and Medieval Music 16 (2007), 19–30. “Licet hodie subtilius et pulchrius per rithimatores mandrialis huiusmudi compilentur”, Summa artis rithmici vulgaris dictaminis: Antonio da Tempo. Ed. Richard Andrews. Bologna 1977, 70.
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Elena Abramov-van Rijk
fifty years later by Gidino da Sommacampagna (De li rithimi volgari, 1384), Gidino’s own examples of both sonnets and madrigals include mythological subjects.3 Mythological themes from Ovid’s Metamorphoses were among the more popular literary devices in Trecento madrigals. Michael Long, with regard to Ovid’s narrative of Pluto and Proserpina in the madrigal Ita se n’era a star nel paradiso (set to music twice, by Lorenzo da Firenze and Vincenzo da Rimini), observed that “the employment of characters and situations drawn from classical mythology as textual subject matter is typical of the Trecento madrigal.”4 Through such a refined connection with other literature, especially classical works, the madrigal became a true literary phenomenon that refers to the readers’ and listeners’ knowledge of a larger literary patrimony. The present article deals with another Ovidian motive, the transformation of a beautiful white bird into a black raven, which is found in two Trecento madrigals: I fu’ già bianc’uccel con piuma d’oro by Donato da Firenze (active in the 1350s–70s) and Girando un bel falcon gentil e bianco by Paolo da Firenze (1355–1436). The possible meaning and dating (1409) of Paolo’s madrigal has often been discussed, while the madrigal by Donato has not attracted as much attention. The two madrigals never have been considered in relation to one another, despite several shared characteristics, not only textual but musical as well. Perhaps scholars have not assumed that a relationship between Donato and Paolo was likely, since even though they lived in the same city, they are chronologically somewhat distant from each other. An analysis that compares these compositions from both textual and musical viewpoints may contribute to a better understanding of the creative and literary context in which these musical compositions were written. The topic of the transformed raven originates in the episode about Apollo and the nymph Coronis (Metamorphoses II, vv. 531–562). Apollo commanded his favorite bird, the raven – then a very beautiful white bird with soft plumage and a fine voice – to guard his beloved Coronis during his absence. When Apollo came back after a while, the raven informed him about Coronis’s infidelity. Apollo killed Coronis in his rage, but immediately regretted it. As a punishment for the raven’s unrestrained tongue, he turned it into a repellent black bird with an unpleasant voice, who eats everything that comes his way, is unable to rejoice and, it is believed, brings bad news. 3 4
Gidino da Sommacampagna, De li rithimi volgari. Ed. Carlo Giuliari. Reprint, Bologna 1968. Michael Long, Ita se n’era a star nel paradiso: the Methamorphoses of Ovidian madrigal in Trecento Italy, in: L’Ars Nova Italiana del Trecento VI (1992), 257–267, quote 257.
The Raven and the Falcon: Literary Space in a Trecento Musical Aviary
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The topic of the raven whose white feathers changed to black was so popular in Italian literature of the thirteenth and fourteenth centuries that it entered into the Italian versions of bestiaries, thus introducing a new element into the interpretation of the raven’s image. The traditional, nonItalian, bestiaries do not accentuate the changing of colors: the reader learns that the raven does not feed the young birds until they have black feathers (in the meantime God feeds them).5 Brunetto Latini (1227–1294), in the Italian version of his Tresor, Il tesoro, informs us that the chick’s fluff is white – “calugine bianca”.6 The raven was one of the most popular subjects in church sermons, appearing in two somewhat controversial guises as a preacher and a sinner, as in the Aviarium (ca. 1152) by Hugh of Fouilloy.7 The Florentine poet Cecco d’Ascoli (ca. 1269–1327) featured the raven in the bestiary section of his encyclopedic poem Acerba as the soul, initially white, pure and innocent (“Nasce onne corvo per natura bianco”), but made black by sins.8 The change of color has clearly been inspired by the Ovidian text, well known in the Middle Ages and constantly commented on by medieval scholars, among them the early-fourteenth-century intellectual Giovanni del Virgilio (late 13th century – after 1327).9 In the second half of the fourteenth century a change occurred in the attitude to this Ovidian story. This seems to have been in keeping with the spirit of the time, as Long has suggested with regard to a more humanistic and less theological reading of the Proserpina myth around the middle of the fourteenth century.10 A similar reinterpretation of the old plot about the raven’s transformation can been seen in the sonnet Per le parole del corbo 5 See Florence McCulloch, Medieval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill (NC) 1962, 161, and Willene B. Clark, A Medieval Book of Beasts: The Second-Family Bestiary. Commentary, Art, Text and Translation. Woodbridge etc. 2006, 183. 6 Il Tesoro di Brunetto Latini volgarizzato da Bono Giamboni. Ed. Luigi Gaiter. Bologna 1877, vol. 2, 174. The same motive appears in Bestiario Toscano, or Libro della natura degli animali, an original Italian bestiary datable to the end of the thirteenth century: “Lo corbo sì è uno uccello tutto nero, ed ha cotal natura che quando li suoi figlioli nasceno, sì nasceno tutti bianchi” (in: Bestiari medioevali. Ed. Luigina Morini. Turin 1996, 441), and in Bestiario moralizzato: “Quando lo corvo li filioli vede venire colla bianca vestidura”, (in: Bestiari medioevali, 511). 7 Medieval Book of Birds: Hugh of Fouilloy’s Aviarium. Ed. Willene B. Clark. Binghamton (NY) 1992, 174–181. 8 “Così l’anima nostra è bianca e netta, / Tabula rasa ove non è peccato: / Diventa negra poi che si diletta./ Il vizio la nutrica e la conduce / E cieca e negra nell’eterno stato, / Spogliandosi da sè la degna luce.” Cecco d’Ascoli, L’Acerba [Acerba etas]. Ed. Marco Albertazzi. Trento 2002. Unfortunately, the main corpus of this edition is unpaginated. 9 Giovanni del Virgilio, Allegoriae Librorum Ovidii Metamorphoseos. Ed. Fausto Ghisalberti. In: ll Giornale Dantesco 34 (1933), 1–110. 10 Long, Ita se n’era a star nel paradiso (as note 4), 258.
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fedele by Gidino da Sommacampagna, where it is claimed that the transformation into a repulsive black bird was the “reward” received by the faithful raven from his ungrateful master.11 Given this background, the innovative presentation of the raven episode in the madrigal by Donato da Firenze I fu’ già bianc’uccel con piuma d’oro becomes more evident. The poem reads: I fu’ già bianch’ uccel chon piuma d’oro, Piacqui tanto ch’al canto amor mostrò Et or son fatto corbo e canto cro (cro, cro) Quel signor che mi trasse a se selvaggio, Come a lui piacque, me per ale prese, E subito d’amor el cor m’accese. Qual per isdegno non so poi mi die In preda là a chi porta mie fè.12
Previously I was a white bird with a golden crest, and was adored for I showed a love of singing, and now I have become a raven and can only croak caw. That lord who drew me, [still] untrained (inexpert), to him as he liked, clasped me by my wings, and suddenly inflamed my heart with love. Through what anger, I do not know, he then gave me in prey to that [person] who is the object of my fidelity.
The story is told from the raven’s point of view in the first person. Here the episode of Coronis is disregarded, and it is the raven’s feelings that are in focus: we discern the sadness of the white bird turned into a raven because of his master’s arbitrary action. The poetic text of Donato’s madrigal has been transmitted, in addition to two musical manuscripts, Sq (fols. 78v–79r) and Lo (fols. 35v–36r), in literary codices, one of which, the Codex Ashburnham 569 (Florence, Biblioteca Medicea Laurenziana), ascribes the poem I fu’ già bianc’ uccel (fol. 27) to the Florentine nobleman and poet Antonio degli Alberti. This codex is known, however, to be untrustworthy in its attributions.13 Whether or not Antonio degli Alberti was the author of the text can be neither proven nor rejected, for too many conventions and discrepancies are intertwined. Recognition of Antonio’s authorship, however, has consequences for the outline of Donato’s life. Nothing is known about Donato except that he was a Benedictine monk in Florence.14 A single more or less certain chronological marker can be 11 Gidino da Sommacampagna, De li rithimi volgari. Bologna 1870, 48–49. It is an example of the semiliterary sonnet, which combines the Latin lines with vernacular ones: “Et eciam corvum qui sibi rem dixit, / E per premio dell’opra mal gradita / Ad inde citra Corvus niger vixit.” 12 Cf. Italian Secular Music. Ed. W. Thomas Marrocco. Monaco 1971, 44–45. 13 “Va però osservato che le attribuzioni fatte dall’Ashb. vanno prese con molto discernimento, trattandosi di manoscritto infido delle attribuzioni”. Giuseppe Corsi, Poesie musicali del Trecento. Bologna 1970, 125. 14 “The position of Donato’s works in the Squarcialupi Codex suggests that he was somewhat younger than Lorenzo and older than Landini. The poet Franco Sacchetti desig-
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extracted from the book of verses by Franco Sacchetti, arranged by the poet himself in chronological order.15 Two of Sacchetti’s madrigals, with the inscription that Donato, the priest from Cascia, set them to music, fall in the chronological sequence between 1358 and 1363.16 The musical style of Donato’s settings, too, indicates a period of activity earlier than 1378, if we assume that his madrigal Dal cielo scese was linked with the wedding of Samaritana da Polenta and Antonio della Scala in 1378.17 Such a late dating of Donato’s composition seems doubtful. However, since Antonio degli Alberti was born in 1363,18 his poetry could not have been written earlier than the late 1370s. Consequently, if the poem I fu’ già bianc’uccel is indeed his, Donato’s music was most plausibly written in the late 1370s or early 1380s.19 Whatever the case, what is important is that Donato dressed this poem with his music. The music of Donato’s two-voice madrigal is quite typical of an earlier Trecento musical style. Kurt Von Fischer and Gianluca D’Agostino note that it “is indebted stylistically to Jacopo da Bologna, notably in the transi-
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nated Donato as ‘presbiter de Cascia’. […] The titles Ser, Dominus and Don as well as his dress as depicted in Sq (f. 71v) indicate that he was a Benedictine or a Camaldolensian. Very little information can be gleaned from the texts of Donato’s works, which are almost all madrigals.” Kurt von Fischer and Gianluca D’Agostino, Donato da Cascia, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians (2nd ed.). Ed. Stanley Sadie and John Tyrell. London 2001, vol. 7, 459. Regarding Sacchetti’s arrangement of his verses in the autograph codex Ashburnham 574 (Biblioteca Medicea Laurenziana, Florence) there is a consensus that it is “grosso modo… cronologico”, according to Franca Ageno, though in this manuscript there are places where later additions were made that do not respect the presumed chronology [Franca Ageno, Per una nuova edizione delle rime del Sacchetti, in: Studi di filologia italiana 11 (1953), 257–320, quote 257]. To correct the information in New Grove: “The two lost settings of texts by Sacchetti presumably date from the 1350s” [Fischer and D’Agostino, Donato da Cascia (as note 14), 459]. This suggestion was originally made by Corsi (Poesie musicali del Trecento, p. xlviii), but is regarded as rather hypothetical: “Dal cielo scese possibly refers to Samaritana di Polenta who married Antonio della Scala (Verona) in 1378. Some doubt is cast on this relatively late dating of a work by Donato by the fact that the two-voice madrigal is still dominant in his work, as it was in the output of the older Trecento composers.” [Fischer and D’Agostino, Donato da Cascia (as note 14), 459.] Antonio’s birth-date is uncertain. Some scholars think it is about the years 1356 or 1358. However, in the postscript to his father’s testament (made in 1375) is said that Antonio will be eighteen in July 1381, which means that he was born in 1363. Cf. Arnoldo D’Addario, Alberti, Antonio degli, in: Dizionario biografico degli italiani. Rome 1960, vol. 1, 682–684. It is, however, unclear in what circumstances Donato would have been in touch with Antonio degli Alberti, and why he, already old, would choose the poem of an adolescent. Antonio was known as a person of considerable humanistic culture, and must have been very precocious in his early years to demonstrate the exceptional maturity expressed in such an original rethinking of a traditional subject.
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tional phrases between lines of madrigal verse, these being usually untexted and monophonic (though some are two-voiced and more modern in style), and in sporadic points of imitation”.20 In this madrigal, in fact, we find the transitional melody between the verse-lines of the ritornello in the tenor, and the non-simultaneous delivery of the poetic text in the first line of the main part (example 1). Ex. 1: Donato da Firenze, I fu’ già bianch’ucciel (bars 1–14).
I fu’ già bianc’uccel shows an interesting detail apparently suggested by the poetic text. In this madrigal, with the standard rhyme scheme ABB CDD EE, lines 2 and 3 of the first tercet and both lines of the ritornello are oxytonic, namely truncated hendecasyllables consisting of only ten syllables, with the accent on the last one.21 Usually, the final melisma, a necessary element 20 Fischer and D’Agostino, Donato da Cascia (as note 14), 459. 21 As a rule, when the poem features a combination of normal (piano, consisting of eleven syllables with the accent on the penultimate one), truncated (tronco – ten-syllable verse) and/or sdruccioli hendecasyllables (consisting of twelve syllables with the accent on the antepenultimate one), the corresponding lines of the different tercets must retain an identical structure. This principle, called isosyllabism, an equal number of syllables in corresponding lines of different strophes, is meant to guarantee the best possible adaptation of the strophes to the music. In the present madrigal it is wrecked. Damaged isosyllabism is rare in Trecento musical poetry. The texting of lines 2 and 3 of the second tercet, containing the normal eleven syllables, requires some effort on the part of the performer, since he needs to insert one more syllable.
The Raven and the Falcon: Literary Space in a Trecento Musical Aviary
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of the musical structure of the madrigal, falls on the penultimate accented syllable and is followed by a long sound on the final unstressed syllable. Thus, a truncated verse-line creates a different situation for the musical setting of the final melisma. Sometimes composers move the melisma to the previous unaccented syllable, or even to an earlier accented one somewhere in the middle of the verse-line, but often they omit it altogether.22 Here Donato, in the second line, distributed the melismas along the entire phrase, putting the longest one in the middle on the unstressed syllable a-[mor] (figure 1a). In the third line, which ends with the raven’s croaking cro-cro, Donato adopted a solution similar to that used earlier by Giovanni da Firenze in an analogous situation in the madrigal Angnel son biancho e vo belando bè by placing the final accented syllable bè in a hocket. In Donato’s madrigal I fu’ già bianc’uccel ‘cro, cro’ is prolonged with a melisma (example 2).23 In the ritornello the final melismas are absent.
Fig. 1a: Donato da Firenze, I fu’ già bianch’ucciel, (superius, Sq, fol. 78v). (© with kind permission of the Biblioteca Medicea Laurenziana, Florence.)
22 When the verse is sdrucciolo, in which the last accent falls on the antepenultimate syllable, the final melisma is also on the antepenultimate syllable. Further information is provided in Elena Abramov-van Rijk, Parlar cantando: The practice of reciting verses in Italy from 1300 to 1600. Bern etc. 2009, 240–244. 23 In another of Donato’s madrigals, Lucida pecorella, the sheep’s bleating (be-be) is also given as a hocket.
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Donato’s I fu’ già bianc’ uccel belongs to a series of Trecento musical works on the topic of transformation. Not all of them were inspired by Ovidian stories; for example, the transformation madrigals by Jacopo da Bologna have no thematic connection with the Metamorphoses: the phoenix changed into a turtle-dove and a lady transformed into a snake. The lady-snake series has an interesting feature that is especially relevant in our case. The three madrigals – Posando sopr’un acqua, Nel bel giardino, and Sotto l’impero – tell the story from the author’s viewpoint: the lady is transformed into a ferocious snake and bites the author – the faithless lover, her victim – half to death. The madrigal Donna già fu’ by Giovanni da Firenze unfolds this story from the opposite viewpoint, namely, from that of the formerly alluring and amorous lady, who is transformed into a savage snake for the sole purpose of punishing her disloyal lover. Thus, the texts form a dialog between the two opposite sides, a kind of dramatic action. Equally, Donato’s madrigal on the raven also has a contrasting counterpart in the madrigal Girando un bel falcon gentil e bianco24 by Paolo da Firenze. This madrigal has been transmitted as anonymous in Pit (fols. 138v–139) simply because the composer’s name has been erased from the page, whereas in the palimpsest codex San Lorenzo 2211 (fols. 101v–102) it bears Paolo’s name. Here the story of the transformation of a beautiful white bird into a raven is told in the name of the bird’s master. Paolo’s madrigal reads: Girand’un bel falcon gentil e bianco per l’ari’ al mie chiamar lento s’attenne e com’uman in pugno mi rivenne. Con meco stette in fin che venne manco la speranza del frutto, e con lo ’ngegno mancò la fede, simulando sdegno. Diventò corbo poi fellon e fero, cro cro grachiando e non dicendo vero.
A beautiful and noble white falcon, while circling in the air, listened to my long drawn-out call and like a human person came back to my fist. He remained with me until he lost hope of advantage, and together with his wisdom he lost his trust [in me], acting offended. He then turned into a treacherous and fierce raven, croaking cro cro and telling lies.
Both madrigals create a dialog dramatically presented from opposite sides: the complaining raven in Donato’s work and the abandoned master in Paolo’s. Donato’s and Paolo’s madrigals not only have a common plot, imagery and words, but also the onomatopoeia of the raven’s croaking – crocro – accompanied by hocketing (examples 2 and 3).
24 The incipit is an almost verbatim reproduction of the first line in Jacopo da Bologna’s madrigal, Un bel sparver gentil di penna bianca.
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Ex. 2: Donato da Firenze, I fu’ già bianch’ucciel (bars 34–43).
Ex. 3: Paolo da Firenze, Girando un bel falcon (bars 63–64).
In addition to the story of the raven’s transformation, we notice in Paolo’s madrigal another topos, since the white bird, which in the classical Ovidian story is a raven, here is a white falcon. Trecento music is richly populated with hunting birds: sparvieri, girfalchi, astorelle, falconi. Among the different plots concerning hunting birds there is one about the falcon who abandons his master. Besides Paolo’s Girando un bel falcon we find a similar story in Vola el bel sparver by Jacopo da Bologna, the anonymous Chiamando un’astorella and Un bel girfalco scese alle mie grida by Donato da Firenze, on the poem by Niccolò Soldanieri. In the last, the story is told in the falcon master’s name as well. Here too, exactly as in Paolo’s Girando un bel falcon, the beautiful falcon was obedient to the call of his master, who loved him, but once he rose so high that his master lost sight of him: “My heart does not suggest that he will even return; he is probably being handled by another master” [Et che ritorni non mi dice ’l core, / Che credo che se ’l teng’ altro signore]. It is quite certain that Paolo was aware of these topics within Trecento musical poetry and might well have been acquainted with both madrigals by Donato. The poetic text, whether by Paolo himself or someone with whom Paolo collaborated, consciously combines the topics of the transformed raven and the falcon’s betrayal, thereby marking a shared point of these two plots.
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Although Paolo is one of the latest Trecento composers (1355–1436), the music of his madrigal Girando un bel falcon is more typical of an earlier stage of the Trecento madrigal, with its traditional separation of syllabic and melismatic parts, virtuosity of the upper voice and other traits. There are, however, some specific details that point toward an especial musical affinity with Donato’s I fu’ già bianc’ uccel. Firstly, both madrigals are written in the same octave: g-g1 in the superius and c-c1 in the tenor of Donato’s madrigal; g-g1 in the superius and c-d1 in the tenor of Paolo’s (although the tenor rises up to d1 only once, in the melisma of the second phrase). Secondly, they share a number of initial and cadential intervals: (1) g/d1 and d/d1 in the first phrase in both madrigals (examples 1 and 4); (2) the opening unison with the following similar divergent movement in the second phrase on c1/c1 in Donato’s madrigal and a/a in Paolo’s (example 5a); (3) the fifth a/e1 in Donato’s and on g/d1 in Paolo’s at the beginning of the third line and the cadence on c1/c1 in both (example 5b); (4) in the ritornello, the final cadence in both is on d/d1, approached similarly (example 5c). Ex. 4: Paolo da Firenze, Girando un bel falcon (bars 1–18).
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Ex 5: Similar points Donato, I fu’ già bianch’ucciel
Paolo, Girando un bel falcon
a)
b)
c)
The initial phrase of Paolo’s madrigal differs from Donato’s. In Donato’s madrigal the text is not declaimed simultaneously, rather one voice follows the other at a distance of two breves. In Paolo’s Girando un bel falcon the first verse-line is given twice: the first hemistich (the half of the verseline) is first given simultaneously in both voices (breves in the tenor and short melismatic embellishments in the superius), then the superius and the tenor deliver the text once again, one after the other (examples 1 and 4).25 However, we find such a non-simultaneous pronunciation of the poetic text in Donato’s “falcon” madrigal Un bel girfalco, where the entire main section and one of the ritornello lines do not declaim the text at the same time (example 6).
25 The double presentation of the text also occurs in the early Trecento music. We find it, for example, in the first line of the madrigal Angnel son bianco by Giovanni da Firenze mentioned earlier; his objective, however, was the evident intention to emphasize the amusing effect of the sheep’s voice be-be, repeating it twice.
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Ex. 6: Donato da Firenze, Un bel girfalco (bars 1–29).
The most interesting feature linking Paolo’s Girando un bel falcon with Donato’s I fu’ già bianc’ uccel is the disposition of binary and ternary divisions, completely identical in both madrigals. They begin with binary rhythm (quaternaria in Donato’s and octonaria in Paolo’s), then change into ternary, senaria perfecta, in the third verse of the main part, continuing in the ritornello. The change of measure is signed in Sq for Donato’s madrigal (figure 1a), and in Pit for Paolo’s one (figure 1b), but the ternary rhythm in the ritornello of Paolo’s madrigal has a further division of duodenaria, indicated in Pit. Normally in madrigals the change in measure from binary to ternary, or vice versa, occurs in the ritornello. Sometimes there are no
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changes at all, and sometimes there are many changes, but if the change is made only once, it normally occurs in different parts of the madrigal; usually the binary is replaced by the ternary in the ritornello.
Fig. 1b: Paolo da Firenze, Girando un bel falcon (superius, Pit, fol. 138v). (© with kind permission of the Bibliothèque nationale de France, Paris.)
In several of Donato’s madrigals, however, we find the change of binary to ternary not on the seam of the madrigal’s parts, but at the beginning of the third line or at the beginning of the penultimate melisma of the third line. In the ritornello the ternary rhythm continues. This peculiarity is present in 9 of 14 madrigals: at the beginning of the third verse in Dal cielo scese, D’or pomo, I fu’ già bianc’uccel, Io ho perduto, Sovran ucello; at the beginning of the penultimate melisma of the third verse it appears in Come da lupo, Come potes tu far, I fu’ già usignol and Un bel girfalco. This feature is not present at all in Jacopo da Bologna’s works, and in only two of Niccolo’s and in four of Gherardello’s, although the latter changes meter more times within the same composition. In Paolo’s works we see something similar in two other madrigals. Therefore, we can consider the change in measure from binary to ternary in the third phrase of the main part of the madrigal as Donato’s personal compositional feature.26
26 Its purpose was apparently to achieve more variety in the madrigal’s rhythmic design: when the change of the measure occurs only in the ritornello, it means that the main rhythm of the main part will continue uninterruptedly for two tercets at least, until it changes in the ritornello. In Donato’s case, ternary rhythm alternates with binary already in the main part of the madrigal, no matter how long it may be.
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It seems that Paolo consciously imitated this feature. Bearing in mind all that has been said above regarding the poem’s topic and the similarity of musical details, it seems likely that Paolo took I fu’ già bianc’uccel by Donato da Firenze, and perhaps the madrigal Un bel girfalco, as models for his own composition Girando un bel falcon. Yet, for Paolo such a musical style must already have been quite old-fashioned, unless the madrigal Girando un bel falcon was one of his earliest works. The above hypothesis, however, contradicts the currently accepted chronology of Paolo’s compositions. Ursula Günther suggested that the madrigal Girando un bel falcon might have been composed in connection with a political event of 1409: Paolo may have composed Girand’un bel falcon as another political madrigal, for its text closely reflects the negative sentiments of Florentines against Pope Gregory XII at the time of the Coucil of Pisa.27
Consequently, the madrigal in question would be the latest work by Paolo da Firenze, written three years after the three-voice madrigal Godi, Firenze. Concerning the musical style of the latter, related to the victory of the Florentines over Pisa in 1406, unequivocally mentioned in the poetic text,28 Kurt von Fischer claims that it is “a more refined work, one that in certain of its traits approaches the ars subtilior.”29 The madrigal Girando un bel falcon, unlike the madrigal Godi, Firenze, does not suggest anything specific that could hint at a certain event.30 27 Ursula Günther, John Nádas and John A. Stinson, Magister Dominus Paulus Abbas de Florentia: New Documentary Evidence, in: Musica Disciplina 41 (1987), 203–246, quote 204–205. 28 Nino Pirrotta, Paolo Tenorista in a new fragment of the Italian Ars Nova. Palm Springs 1961, 24, and Ursula Günther, Zur Datierung des Madrigals “Godi, Firenze“ und der Handschrift Paris, B. N., fonds it. 568 (Pit), in: Archiv für Musikwissenschaft 24/2 (1967), 99–119. 29 Kurt von Fischer, Language and music in 14th-century Italy: On the question of an Early Renaissance, in: Essays in Musicology. New York 1989, 76–92, quote 85. 30 Günther, Zur Datierung des Madrigals “Godi, Firenze” (as note 29). John Nádas supports this opinion in: The Songs of Don Paolo Tenorista: The Manuscript Tradition, in: In cantu et in sermone: for Nino Pirrotta on his 80th Birthday. Ed. Fabrizio Della Seta. Florence etc. 1989, 41–64, reference 57. Apparently, the suggestion was inspired by the illumination in the Codex Squarcialupi at fol. 55v, which was supposed to be the opening page of the section of Paolo’s works, but unfortunately remained empty. Because the capital letter with the portrait of Paolo is G, the page most probably should have contain the madrigal Girando un bel falcon, all the more since at the bottom of the page the white falcon and black raven are placed vis-à-vis. However, there is also a blazon with two lions between the birds. Margherita Ferro Luraghi observed that “this coat of arms corresponds, with reversed colors, to that of the [Florentine] Leoni family” (The
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Günther’s suggestion evokes more questions than it provides answers. If this specific text should refer to a political event, does that necessarily mean that other similar texts from the same series also refer to an event? On what basis can we diagnose one text, separated from other similar texts, as connected to politics if there is no hint of that? Finally, why should Paolo compose a composition in a noticeably retro style for an event that took place in 1409? It is difficult to find acceptable answers to these questions. I should like to propose another explanation, to some extent suggested by a comment by David Fallows. Regarding the erasing of Paolo’s name from a number of compositions in the codex Pit and the complete absence of Paolo’s music in Sq, Fallows observed: What can perhaps be said is that most of them lack the quality and individuality of Paolo’s best work, so it is just possible that he later preferred to suppress them; if so, perhaps it was a similar attitude that delayed his decision on which pieces to have copied into the Squarcialupi codex.31
Although elsewhere Fallows lists the madrigal Girand’ un bel falcon together with two of Paolo’s other madrigals as characterized by strong individuality,32 we must take into account that this madrigal in fact belongs to those compositions from Pit in which Paolo’s name was erased. Obviously, the elimination of Paolo’s name in Pit and the absence of his works in Sq must have had a serious reason, especially because the author was still alive and, in all likelihood, was linked to these manuscripts. Fallows’s assertion suggests that Paolo was very critical toward his own works and, if so, he must have seen some of them as not worthy of preservation, or at least not under his name. His Girand’ un bel falcon, as we have seen, follows the model of Donato’s works. Bearing in mind the evident difference in the composers’ ages (when Paolo was born in 1355, Donato was already a priest and comMiniatures, in: Il codice Squarcialupi. Ed. Franco Alberto Gallo. Florence 1992, 183.) On her opinion, it was Godi Firenze to should have been placed here, and she left the birds without explanation. Günther apparently considered them as linked together, and, as a result, the madrigal Girando un bel falcon acquired its political meaning. I believe the case to be simpler: the producers of the codex did not decide, at this stage of work, which of the two pieces in question should have held this prestigious place, and therefore they left both options open. 31 David Fallows, Paolo da Firenze, in: New Grove (as note 14), vol. 19, 49–51, at 50. 32 “The dates of 1406 for Godi, Firenze (Günther, Zur Datierung des Madrigals “Godi, Firenze”, as note 29) and of 1409 for Girand’ un bel falcon (convincingly argued in Günther et al., Magister Dominus Paulus Abbas de Florentia, as note 28) must stand as a basis for a chronology, supported by the more tentative date 1397–1402 for Sofrir m’estuet (Nádas, The Songs of Don Paolo Tenorista, as note 31). All three are works of high individuality.” Fallows, Paolo da Firenze, (as note 31), 50.
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poser) it is possible that Paolo learned music from Donato himself or at least from his compositions, if Donato was no longer living.33 Another detail, also noted by Fallows, allows us to consider a possible personal acquaintance between the two composers: they are the only Trecento composers who bore the title Don or Dominus, which indicates that they belonged to the Benedictine order.34 Fallows assumes that Paolo entered the Benedictine order in about 1380 in Florence. In these circumstances the young Paolo probably would have met the elder Donato, if he was still alive in the 1380s (which could be the case if the poem of Donato’s madrigal I fu’ già bianch’ uccel was written by Antonio degli Alberti). In that case, the madrigal Girando un bel falcon might be a kind of early pedagogic exercise, one that assembled many typical characteristics that had accumulated in the Trecento musical repertory up to the beginning of the 1380s, both textually (for example, Ovidian motives and pairing texts) and musically. The attempts to link musical compositions of the Trecento with certain events in social and political life reflects, to some extent, scholars’ desire to uncover the motives that might have stimulated Trecento composers to create one or another work. The discussion above, however, presents another possible motive for the creation of part of this repertory. Many compositions were linked to one another through a substantial network of literary topics, associations, reminiscences, etc. We might consider this phenomenon as a kind of musico-poetic laboratory in which Italian musical art, carefully joined to the art of poetry, gradually matured and tested new possibilities of expression. 33 The frame of this article does not permit examination of other “concordances” in Paolo’s works, and not only with Donato. One example, however, must be cited. Among Sacchetti’s poems there are two madrigals, composed very closely in time. They share both imagery and words, telling about a little boat in the tempestuous sea guided by a lucid star toward the safety of port. Niccolò da Perugia composed music to Nel mezzo già del mar, which survived in manuscripts, whereas Donato set to music another madrigal, Fortuna avversa, whose musical setting does not survive. The text of Donato’s madrigal is very similar to that of Paolo’s madrigal Corse per l’onde, repeating the same imagery, words and even rhymes. To compare: “Quando la vaga stella che m’accese, / d’oscuro mar m’avea tratto e scorto / con una navicella presso a porto, / vento si volse, e ’n parte m’ha condotto / ch’i’ son gittato a’ scogli, ed ella ha rotto.” (Donato-Sacchetti vv. 4–8) and “Corse per l’onde gia di speme piena / la navicella mia d’aver buon porto/ dietr’a la stella lucid’e serena. / Onde el giovin tempo in suo diporto / lieto vivea con dolci fiamme accese/ quasi gia certo del mie gran conforto. / Ma nuov’uccel per l’aria giù discese / che la mie speme per sì tolse e prese.” (Paolo). Unfortunately, it is impossible to compare their music, but Paolo’s madrigal contains the disposition of binary and ternary divisions typical of Donato, namely, the change of the measure in the third line of the main part. 34 “The prefix ‘Don’ (or ‘Dominus’), otherwise used only for the Benedictine Donato, endorses the view that he [Paolo] was a Benedictine.” [Fallows, Paolo da Firenze (as note 31), 49.]
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Patrimonio musical histórico y tradición: a propósito del Misterio de Elche y el Canto de la Sibila* Maricarmen Gómez
Diez años después de que la UNESCO otorgase al Misterio de Elche o Misteri d’Elx la condición de Patrimonio cultural inmaterial, una nueva reliquia del pasado, el Canto de la Sibila, ha recibido la misma distinción, para sorpresa incluso de los promotores de este venerable canto convertido en los últimos años en un símbolo identitario de las Islas Baleares y en particular de Mallorca. Según la Convención para la salvaguarda del Patrimonio cultural inmaterial de 2003, se entiende por tal aquel que transmitido de generación en generación, es recreado constantemente por las comunidades y grupos en función de su entorno, su interacción con la naturaleza y su historia, infundiéndoles un sentimiento de identidad y continuidad, contribuyendo así a promover el respeto por la diversidad cultural y creatividad humana.1
El tipo de manifestaciones que abarca es muy amplio, desde las de tradición oral hasta las costumbres sociales, pasando por los ritos, las fiestas y el teatro. Algo de todo ello tienen tanto el Misterio de Elche como la Sibila, aunque ambas manifestaciones se sitúan en un difícil punto de equilibrio entre lo que es patrimonio cultural histórico y patrimonio cultural inmaterial, lo que les otorga justamente su singularidad. De producirse un desajuste peligraría su supervivencia como lo que siempre fueron, al transformarse en algo distinto que probablemente no mereciese el galardón con las que han sido distinguidas. Por ello no está de más examinar su actual estado de supervivencia, aunque sólo sea en lo referente a uno de sus aspectos, el musical, acaso el que requiere mayor cuidado. Los orígenes del Misteri se remontan, como pronto, a principios del siglo XVI. Concretamente hay noticia de que ya en 1523, el día 14 de agosto, víspera de la Asunción, tenía lugar en Elche una procesión con la imagen de la Virgen que desembocaba en la iglesia mayor “donde se le hace *
El presente ensayo se inscribe dentro de un proyecto I+D+I del Ministerio Español de Ciencia y Tecnología dedicado al estudio de La música histórica en Valencia (siglos XV– XVIII).
1
http://unesdoc.unesco.org/imagenes/0013/001325/132540s.pdf.
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grandísima fiesta y solemnidad”.2 Sin embargo el texto más antiguo que se conoce data de 1625; es reproducción de una copia anterior y se realizó para someter la letra de la obra, que no la música, al dictamen de la Inquisición. En 1639, siete años después de que el Misteri recibiese la autorización papal para seguir representándose, se realizó una nueva copia esta vez de letra y música, que en la actualidad se halla en paradero desconocido lo mismo que la de 1625. Ello convierte a la consueta de 1709 en su copia íntegra más antigua, que a pesar de su fecha reproduce algún viejo original del Renacimiento (Arch. Histórico Municipal de Elche, ms. 1–24). El Misterio de Elche no es otra cosa que la representación de un drama asuncionista, que cuenta con al menos tres precedentes en los otrora territorios de la Corona de Aragón a los que se vincula, dejando al margen el resto del continente europeo. El más antiguo, en latín, data del siglo XIV y procede del monasterio de Santa María del Estany (Barcelona). Se trata de una breve representación, única en su género, adaptada para la festividad de la Asunción a partir de las versiones del Quem quaeritis de Navidad y Pascua que lleva el mismo manuscrito que la incluye, un procesionario elaborado en el scriptorio de la catedral de Vic con destino a la comunidad de monjes agustinos del Estany (Arch. Episcopal de Vic, ms. 118). En el año 1388 tuvo lugar en la plaza pública de Tarragona la representación de un segundo drama de la Asunción de la Virgen cuya letra es la de un manuscrito del Archivo Histórico Archidiocesano de la ciudad (ms. 60). Se trata de la primera obra dramática en catalán con partes cantadas, que hace uso extensivo de las adaptaciones o contrafacta de origen tanto sacro como profano. Junto a himnos como Veni Creator Spiritus o Vexilla regis, las acotaciones mencionan algunas piezas de corte trovadoresco a cuyo son se interpretaban los versos de esta representación. Sigue cronológicamente a la Asunción de Tarragona la que se representó en Valencia el 15 de agosto de 1416, también en lengua vernácula. El drama se divide en dos jornadas y por lo que se deduce de la letra, que es lo único que se conserva y aún en una transcripción moderna, se cantaba al son de conocidas piezas del repertorio litúrgico y del trovadoresco, entre ellas la conocida melodía de Quant vey la lauzeta mover del trovador Bernart de Ventadorn († ca. 1190/1200). Es posible que algún fragmento de la obra se cantase con música original sin que pueda asegurarse, lo que es evidente en el caso del Misterio de Elche, la única de las representaciones asuncionistas que sobrevivió en España a las dispo-
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Maricarmen Gómez y Francesc Massip, Misteri d’Elx / Misterio de Elche. Consueta de 1709. Valencia 2010, 14.
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siciones derivadas del Concilio de Trento gracias al rescripto pontificio de 1632 antes aludido.3 A lo largo de los siglos y hasta el día de hoy, la letra del Misterio de Elche apenas si ha variado. Dividido en dos jornadas, como el de Tarragona de principios del siglo XV, trata de la Asunción de la Virgen, argumento que se basa en la narración que el fraile dominico Santiago de la Vorágine hace del tema en su Legenda aurea (ca. 1260). La primera jornada se inicia con el recorrido de la Virgen por el Via Crucis hasta llegar al lecho de su muerte; allí recibe la visita del Ángel del Señor, portador de la palma, y acto seguido la de San Pedro, San Juan y demás Apóstoles. Con el óbito de la Virgen y el ascenso de su alma al cielo concluye la primera jornada, que se representa la víspera de la Asunción. Al día siguiente, 15 de agosto, se representa la segunda jornada. Empieza con los preparativos del sepelio de la Virgen, cuyo cuerpo quieren profanar los judíos; estos, por obra de milagro, se convierten a la fe cristiana, tras lo cual tiene lugar la Asunción de María.
Ilustración 1: Misterio de Elche: Coronación de la Virgen. 3
Para su edición véase El rescripto del papa Urbano VIII sobre la festa o Misteri d’Elx. Ed. José A. Pérez. Valencia 2008.
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La obra finaliza con la Coronación de la Virgen a su llegada al cielo. Se desarrolla íntegramente en el interior de la iglesia de Santa María de Elche, con una puesta en escena espectacular gracias sobre todo a una tramoya aérea que comparte con la Asunción de Valencia y que se vincula a la usada en las fiestas de la coronación de los reyes de Aragón. Consta de doscientos cincuenta y cuatro versos escritos en catalán antiguo e íntegramente musicados —treinta piezas en total, quince en cada jornada—, a los que se suman los versos en latín del salmo In exitu Israel de Egypto y los del Gloria final. Su interpretación corre a cargo de los miembros de la capilla del Misteri, que encarnan a sus distintos personajes; los de las tres Marías y tres de los cinco ángeles que descienden del cielo son niños. Todos los fragmentos, salvo dos, se cantan a capela. En la primera jornada del Misteri dominan los fragmentos a una voz —once en total— frente a los polifónicos, y en la segunda ocurre lo contrario —doce fragmentos polifónicos, frente a tres a una voz. Entre los fragmentos monódicos los hay que son adaptaciones de conocidas piezas del repertorio litúrgico, entre ellas el himno Vexilla regis también utilizado en la Asunción de Tarragona y la secuencia Victimae paschali laudes, de amplia tradición dramática, pero otros son de nueva creación. La consueta de 1639 identifica el autor, total o parcial, de siete de las composiciones polifónicas de la segunda jornada: Juan Ginés Pérez († 1600), que en 1566 fue maestro de capilla de Oriola, localidad vecina a Elche; Luís Vich, que primero fue organista y luego maestro de capilla de la iglesia ilicitana de Santa María entre 1557 y 1594, y finalmente el compositor valenciano Bernardino de Ribera († 1570/1), que entre 1563 y 1570 ejerció como maestro de coro de la catedral de Toledo. De las cinco composiciones que se atribuyen a Ribera dos resultan ser adaptaciones del repertorio cancioneril de la época de los Reyes Católicos.4 A pesar del variado origen del conjunto de fragmentos musicales que integran el Misterio de Elche, llama la atención su cohesión y por ende su unidad estética, que es el extraordinario resultado de una obra colectiva, la de aquellos maestros de capilla que le confirieron su personalidad añadiendo, suprimiendo o modificando aquello que faltase o estuviese de más hasta dar por concluida la obra hacia el último tercio del siglo XVI, aunque hubo quien luego intentó darle un último retoque. A esa labor directa de los maestros de capilla hay que sumarle otra indirecta pero esencial, la de 4
Una de las piezas adaptadas por Ribera es de Juan del Encina —Non quiero que me consienta— y la otra de Pedro de Escobar —Quedaos, adiós. Para una edición crítica del Misterio de Elche véase Gómez y Massip, Misteri d’Elx (como nota al pie 2) (incluye facsímil de la consueta de 1709).
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la interpretación, que estableció las bases de una larga tradición en tanto que se consolidaba la obra. Si el Misteri fue concebido de fuera hacia dentro, a partir de un proyecto inicial que pudo parecerse a la Asunción de Tarragona o a la más evolucionada de Valencia, el proceso interpretativo siguió la vía inversa tal vez porque su puesta en escena no permite veleidades como tampoco las permiten sus personajes. Se trata de la única obra del repertorio lírico sacro de Occidente que si a lo largo de cinco siglos nunca ha dejado de interpretarse, tampoco sonó nunca fuera de la iglesia ilicitana de Santa María hasta fines del siglo XX. Quiere decir esto que en el pasado nadie que no fuese el maestro de capilla de Santa María de Elche dirigió el Misteri, ni nadie que no hubiese sido miembro de su capilla participó en su interpretación, hecha salvedad de algunos refuerzos puntuales. Por lo tanto, y a pesar de los avatares por los que la capilla del Misteri ha pasado a lo largo de su historia, hay que dar por supuesta una tradición interpretativa de la obra, con sus más y sus menos, mantenida viva gracias a sus sucesivos maestros de capilla y a un núcleo de fieles intérpretes. Una tradición interpretativa, que es materia intangible, es algo que va más allá de una partitura porque no se aprende con el mero estudio. El aprendizaje tiene lugar desde dentro y no desde fuera, convirtiéndose el intérprete poco a poco en partícipe de esa tradición hasta lograr hacerla suya, momento en que se habrá establecido un nuevo eslabón de una cadena que garantice su supervivencia. Ya desde el siglo XVIII, si no antes, y en contra de lo que pudiera hacer presumir la consueta de 1709 o incluso una copia suya que data de trece años después,5 se habría producido un divorcio entre lo que recogen las partituras “oficiales” del Misterio de Elche y lo que realmente se interpretaba. A juzgar por la evidencia del resultado, que no es otro que el de la versión que se sigue interpretando, los cambios afectarían básicamente a aquellos fragmentos en los que intervienen voces blancas que son los que canta la Virgen María, el que canta el ángel que desciende del cielo a entregarle la palma, transportado por lo que representa ser una nube —la “mangrana”— [Ilustración 2], y el que cantan a cuatro voces los ángeles del Araceli, primero cuando acompañan el alma de la Virgen al cielo y luego, con letra distinta, cuando ascienden su cuerpo. Según la consueta de 1709, en el caso de los cantos monódicos se trataría de fragmentos en canto llano en notación medida, salvo el fragmento que canta el ángel de la 5
Reproducción facsímil en Luis Quitante, El Misteri d’Elx. Edició de la consueta de 1722. Elx, Patronat Nacional del Misteri: Misteri d’Elx 2, 2002. El manuscrito original pertenece a la Biblioteca de los herederos de Juan Orts Román († 1958).
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palma que podría derivar de algún canto trovadoresco. En cuanto al fragmento polifónico, para tres tiples y tenor, es un breve motete del Renacimiento de relativa sencillez. Sin embargo la diferencia es grande entre aquello que figura escrito en la partitura de las consuetas antiguas y lo que se interpreta, debido a los melismas que adornan las versiones originales de estos cantos. Uno de los casos más espectaculares es el del Déu vos salve que canta el ángel de la palma, donde un simple giro de tres notas —MiFa-Mi (2 semibreves-breve)— se transforma en otro que ocupa más de una veintena de compases en la versión transcrita por el que fuera maestro de capilla del Misteri Alfredo Javaloyes (1893–97, 1931–43), base de la que se sigue interpretando y de la que ofrece un primer testimonio un cuadernillo de fines del siglo XVIII o principios del XIX. Como se aprecia en el Ejemplo 1, la versión de Javaloyes tiende a recargar la ornamentación.
Ejemplo 1: Versiones comparadas del fragmento inicial de Déu vos salve (Misterio de Elche nr. 3), según el cuadernillo antiguo (a) y Alfredo Javaloyes (b).
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Ilustración 2: Misterio de Elche: Ángel del Señor.
Otras transcripciones modernas de la música del Misteri realizadas por diversos maestros de capilla de Elche posteriores a Javaloyes corroboran tanto su versión del Déu vos salve como la de cuantos fragmentos presentan discrepancias de tipo ornamental con las consuetas antiguas. No tiene caso preguntarse en qué momento empezaron a producirse cambios en la interpretación del Misteri que modifican lo que fija la tradición escrita, por cuanto las diferencias entre lo escrito y lo interpretado pudieron existir desde los orígenes mismo de la obra.6 Lo que sí parece evidente es que los cambios tienen que ver sobre todo con aquellas piezas en las que el aprendizaje oral tuvo que jugar un importante papel, porque quienes las interpretan son niños casi todos, y que esos cambios, básicamente de naturaleza ornamental, aproximan estas piezas a otras del repertorio tradicional del área mediterránea. Un repertorio mantenido vivo durante generaciones y que hoy está prácticamente extinguido, lo que en el terreno de la
6
Sobre los efectos de la transmisión oral del canto gregoriano, entre los que se incluye el de la ornamentación melódica, véase Peter Jeffery, Re-Envisioning Past Musical Cultures. Ethnomusicology in the Study of Gregorian Chant. Chicago y Londres 1992.
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música histórica supone la desaparición de un modelo equivalente a la caída en el olvido de sus prácticas interpretativas. El hecho de que el Misterio de Elche lleve interpretándose desde hace unos cinco siglos no implica en absoluto una supervivencia intacta de su “sonoridad original”, como la realidad se encarga de demostrar. Con el transcurso del tiempo ha sufrido un lento pero progresivo e inevitable deterioro, fruto de su exposición a la “contaminación acústica” y a unos cambios sociales que han convertido la obra en un evento cultural frente a lo que era antes una manifestación de carácter piadoso. Ello ha llevado a emprender en fecha reciente su “restauración”, siguiendo aquellos criterios que establece la recuperación de la música antigua, sin considerar previamente si son los más adecuados para el caso y sin que hasta el momento se haya hecho nada por mantener la “autenticidad” de todo aquello que de “tradicional” hay en el Misteri, que en este sentido carece de un modelo en el que poder reflejarse, como lo tuvo hasta mediados del pasado siglo y como dejó de tenerlo alguna vez la música del Renacimiento, a la que pertenecen un elevado tanto por ciento de sus fragmentos. Los fluidos melismas que todavía acariciaban el oído hace un par de décadas, suenan cada vez más a lección de solfeo, con una acusada tendencia a alejarse de la forma de interpretar la música tradicional. Por lo demás las versiones que se ofrecen de algunos de los fragmentos polifónicos imitan ahora versiones discográficas realizadas por grupos especializados totalmente ajenos al contexto de la obra. Los intereses económicos que de unos años acá rodean al Misterio de Elche y el prestigio social que a nivel local ha adquirido su maestro de capilla, desde que en 2001 pasó a formar parte del Patrimonio inmaterial de la UNESCO, son dos factores que actúan en contra de su estabilidad. En el pasado nunca nadie llegaba al relevante puesto de maestro de capilla de una institución eclesiástica sin haber pasado antes por un largo aprendizaje, que en el caso particular del Misteri no significa otra cosa que el haber estado vinculado activamente a la representación durante años y haberse embebido de ella hasta la saciedad. El proceso, que hoy en día resulta llamativo, no es muy distinto al de los maestros de capilla de antaño, iniciados desde corta edad en la liturgia y el canto gregoriano que aprendían de memoria a base de rutina, de lo cual se derivaba un dominio absoluto del repertorio luego ampliable a otro más sofisticado. Si el Misteri sigue siendo lo que es, se debe, excepciones aparte, al hecho de que antes de llegar a dirigirlo sus maestros tuvieron la oportunidad de irlo poco a poco absorbiendo, como miembros de una capilla especializada desde décadas en la interpretación de una única obra cuyos principales papeles son rotativos. Si un día pasa a dirigirlo alguien externo a ella, se habrá roto una tradición
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secular porque partituras del Misteri siempre las ha habido, pero sus intérpretes lo han aprendido, a lo largo de las generaciones, antes de oídas que a partir de lo escrito. La ruptura en este sentido aún no se ha producido —puede que no tarde—, pero su tradición interpretativa empieza a andar falta de unos criterios que siempre existieron y que ahora más que nunca convendría fijar. Para representar el Misteri fuera de Elche habría que reproducir primero el marco arquitectónico de la iglesia de Santa María, que es el que permite el desarrollo de su particular escenografía, algo a lo que afortunadamente nunca hasta ahora se ha accedido.7 Por otra parte habría que trasladar a un núcleo importante de su público, aquella población ilicitana que acude año tras otro a escuchar y contemplar una manifestación que no existiría sin su firme voluntad de mantenerla viva, antaño como proyección de un particular sentimiento de piedad popular y al día de hoy como una manifestación cultural distintiva de su comunidad, tal como requieren las condiciones de la UNESCO de aquello que se considera Patrimonio inmaterial. El Misteri sin su público “no existe”. Muy otro es el caso del Canto de la Sibila, que si de una tradición se ha convertido en signo identitario de una comunidad ha sido por obra y gracia de una determinada voluntad política. Los orígenes del canto sibilino se remontan al siglo X. Resulta que en la Edad Media adquirió fama un sermón “Contra judaeos, paganos et arianos” por largo tiempo atribuido a San Agustín pero que en realidad escribió el obispo de Cartago Quodvultus (437–53). En uno de sus apartados el sermón da cuenta de las varias profecías que anuncian la venida del Mesías, que pone en boca de aquellos a quienes se atribuyen mediante una fórmula retórica. Tras el testimonio de seis profetas sigue el de cuatro personajes del Nuevo Testamento, el de dos gentiles y, por último, el de la sibila Eritrea que recita unos versos de sentido escatológico que San Agustín le atribuye en la Ciudad de Dios, Iudicii signum tellus sudore madescet etc.; en su versión original en griego forman el acróstico JESUS CHRISTUS DEI FILIUS SALVATOR CRUX. En la traducción latina de San Agustín los treinta y cuatro versos originales se reducen a veintisiete, número que simboliza la Trinidad (33). En los países latinos el Sermo de symbolo del pseudo-Agustín, que es así como se conoce al “Contra judaeos, etc.”, usó ocupar la lección sexta o la novena del servicio de maitines de la Navidad, con la particularidad de 7
Sólo en un par de ocasiones la capilla del Misteri lo ha interpretado fuera de Elche reproduciendo su escenografía, aunque sin la tramoya aérea. Con carácter excepcional lo suele interpretar en versión de concierto.
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que los versos de la Sibila en lugar de leerse se cantaban, si no en todas partes sí en un significativo número de lugares. A esta costumbre se sumó, ya en el siglo XI, la dramatización de aquellos personajes que ofrecen en el sermón su testimonio profético, dando lugar al conocido drama litúrgico del Ordo prophetarum o Procesión de los profetas, del que se conserva una única versión musical que procede del monasterio de San Marcial de Limoges (París, Bibl. Nacional, ms. lat. 1139 fols. 55v–58r). Los versos del Iudicii signum se estructuran musicalmente en dos frases —β γ— que alternan con la del estribillo —α—, del que hace las veces el primer verso; le siguen trece coplas de dos versos cada una. La composición resulta, en esquema, α – β γ α – β γ α— etc., si bien las frases β y γ nunca son idénticas dos a dos, puesto que, a la manera de un salmo, necesitan adaptarse a la longitud de unos versos cuyo número de sílabas es variable debido a su versificación clásica. Iudicii signum: tellus sudore madescet.
α
E caelo Rex adveniet per saecla futurus, Scilicet in carne praesens, ut iudicet orbem. Iudicii signum: tellus sudore madescet.
β γ α
Unde Deum cernent incredulus atque fidelis Celsum cum sanctis, aevi iam termino in ipso. Iudicii signum: tellus sudore madescet.
β γ α
Sic animae cum carne aderunt, quas iudicat ipse, Cum iacet incultus densis in vepribus orbis, Iudicii signum: tellus sudore madescet.
etc.
Reicient simulacra viri, cunctam quoque gazam, Exurent terras ignis, pontumque polumque Iudicii signum: tellus sudore madescet. Inquirens, taetri portas effringet Averni. Sanctorum sed enim cunctae lux libera carni Iudicii signum: tellus sudore madescet. Tradetur, sontes aeterna flamma cremabit. Occultos actus retegens tunc quisque loquetur Iudicii signum: tellus sudore madescet. Secreta, atque Deus reserabit pectora luci. Tunc erit et luctus, stridebunt dentibus omnes. Iudicii signum: tellus sudore madescet. Eripitur solis iubar, et chorus interit astris. Volvetur caelum, lunares splendor obibit. Iudicii signum: tellus sudore madescet. Deiciet colles, valles extollet ab imo. Non erit in rebus hominum sublime vel altum. Iudicii signum: tellus sudore madescet.
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Iam aequantur campis montes, et caerula ponti Omnia cessabunt, tellus contracta peribit. Iudicii signum: tellus sudore madescet. Sic pariter fontes torrentur, fluminaque igni. Sed tuba tum sonitum tristem demittet ab alto Iudicii signum: tellus sudore madescet. Orbe, gemens facinus miserum variosque labores, Tartareumque chaos monstrabit terra dehiscens. Iudicii signum: tellus sudore madescet. Et coram dic Domino reges sistentur ad unum. Recidet e caelis ignisque et sulphuris amnis. Iudicii signum: tellus sudore madescet. Ejemplo 2: Versos del Iudicii signum estructurados musicalmente.
A partir del siglo XIII la costumbre de cantar los versos sibilinos empezó a decaer en todas partes salvo en la Península ibérica, arraigando con fuerza en algunas catedrales como las de Toledo y Barcelona. Resulta significativo el que el Breviario del rey Martín I de Aragón (1396–1410), el último de la dinastía catalana, incluya los versos sibilinos pero por entonces se había iniciado su transformación al empezar a adaptarse a la lengua vernácula. Primero fue el occitano, luego el catalán y tal vez el francés y más tarde el español, sin que hasta el momento se tengan noticias de versiones en italiano o en portugués. Con la adopción de la lengua vernácula se produjo un cambio en la forma de interpretar el fragmento sibilino, que si antes solía correr a cargo de dos o cuatro clérigos, ahora asume un niño que alterna con el coro que canta el estribillo. Cual si se tratase de uno de los personajes de la Procesión de los profetas, el niño se disfraza de Sibila; de ahí que los versos del Iudicii signum pasen a designarse, cuando se cantan en lengua vernácula, con el nombre del personaje que los interpreta, la Sibila o, si se prefiere, Canto de la Sibila según lo denominan quienes han escrito al respecto. Con el cambio de lengua la música sufre un importante reajuste, obligado por la traducción del latín que, si al principio trata más o menos de adaptarse al modelo clásico, pronto se organiza en estrofas de cuatro versos octosilábicos, excepciones aparte, que repiten mecánicamente la misma música. Conocidos compositores del último tercio del siglo XV y primera mitad del XVI como Juan de Triana, Cristóbal de Morales o Bartolomé Cárceres, vinculados a las grandes catedrales peninsulares o alguna de sus capillas privadas, compusieron versiones polifónicas del estribillo del canto sibilino, síntoma inequívoco de que la costumbre de interpretar la Sibila en los maitines navideños seguía viva en España. A ello puso fin la disposición derivada del Concilio de Trento (1545–63), que suprimía la lectura del Sermo de symbolo en los susodichos maitines.
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Sin embargo, y por motivos que falta averiguar, la catedral de Toledo decidió seguir con la costumbre de interpretar la Sibila, eso sí, desvinculada del sermón del que hasta entonces había formado parte trasladando su interpretación al final del Oficio de maitines, precediendo a la Misa del Gallo, costumbre que pervivió hasta fines del siglo XVIII en que cayó en desuso. También se siguió interpretando en la catedral de Palma y en algunas iglesias y monasterios de su diócesis, tras haberla suprimido en repetidas ocasiones, la última en 1666, prohibición que para lo único que surtió efecto fue para poner fin a dramatizaciones del Ara coeli cuya protagonista es la sibila Tiburtina y no la Eritrea del Sermo de symbolo. Aparte sobrevivió por cierto tiempo en algunas localidades periféricas como L’Alguer, en la isla de Cerdeña, y Braga, en Portugal, curiosamente en su versión primitiva en latín.
Ejemplo 3. Versiones comparadas del estribillo del Canto de la Sibila, según el Cantoral de la Concepción de Pollensa (a) y el impreso que se interpreta en la catedral de Palma (b).
Corría el año 1900 cuando Josep Massot iniciaba su labor recopilatoria del repertorio musical folklórico balear, cuyo resultado no llegó a la imprenta hasta más de ochenta años después.8 Entre las muchas canciones tradicionales que recogió Massot figuran cuatro versiones de la Sibila: la del monasterio del Lluc, otra que cantaban en Felanix, y otras dos muy parecidas que seguramente proceden de la catedral de Palma. A pesar de las variantes, en todos los casos se trata de la misma composición en la que se reconoce la antigua melodía sibilina, la del Iudicii signum, adaptada al catalán. La diferencia esencial se halla en los melismas que adornan a la antigua melodía como muestra el Ejemplo 3, donde se compara la única versión histórica que se conserva en Mallorca del Canto de la Sibila, la del cantoral 8
Josep Massot, Cançoner musical de Mallorca. Ed. Baltasar Bibiloni y Josep Massot. Palma de Mallorca 1984.
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del siglo XV del monasterio de la Concepción de Pollensa (Arch. Capitular de Mallorca, ms. 01), con la que se canta en la actualidad en la catedral de Palma, siguiendo un impreso de origen y fecha desconocidos. El proceso de transformación sufrido por la melodía sibilina es paralelo al de aquellos cantos del Misterio de Elche que son contrafacta —probados o presumibles— del repertorio medieval, sólo que en el caso de la Sibila puede constatarse un paso intermedio en el proceso gracias a una de sus últimas versiones musicales impresas, la del Ordinarium Sacramentorum secundum laudabilem ritum Diocesis Gerundensis (Barcelona, 1550), más ornamentada que otras que se conservan de la misma época, ninguna de las cuales es del todo idéntica a otra. Lo mismo sucede con las versiones del Iudicii signum que proceden de distintos centros eclesiásticos, algo por lo demás característico del repertorio medieval.9
Ejemplo 4. Versiones comparadas del estribillo del Canto de la Sibila, según el Ordinarium Barcinonense (Barcelona, 1569) (a) y el Ordinarium Gerundensis (ibidem, 1550) (b).
Hasta fines del siglo pasado en la catedral de Palma la Sibila la cantaba un niño vestido con ropas de mujer, con toca y capa de color morado, sosteniendo una espada en alto como aquellos dos clerizones que acompañaban a la Sibila en Toledo antes de su supresión, de lo que existe incluso una reproducción gráfica en las Memorias referidas a la historia de la catedral de Toledo redactadas por Felipe Fernández Vallejo hacia el año 1785 (Madrid, Real Academia de la Historia, Ms 2/24) [Ilustración 3 a/b]. La Sibila de la catedral mallorquina sigue portando la espada, que evidentemente ilustra el pasaje que precede a los versos de la Sibila en el Sermo de symbolo donde se menciona;10 pero si primero el niño que tradicionalmente cantaba la Sibila fue sustituido por una niña por una cuestión de género, a su vez ésta ha sido sustituida en los últimos años por una mujer.
9 Higini Anglés, La música a Catalunya fins al segle XIII. Barcelona: Biblioteca de Catalunya, 1935, tabla I, y Solange Corbin, Essai sur la musique religieus portugaise au Moyen Age (1100–1385). París 1952, [288–289], incluyen en sus respectivos trabajos tablas comparativas de la melodía del Iudicii signum. Edición de las versiones procedentes de España en Maricarmen Gómez, El Canto de la Sibila, 2 vols. Madrid 1996–97. 10 Quid Sibylla vaticinando etiam de Christo clamaverit in medium proferamus […], atque suo gladio, sicut Golias, Christi omnes percutiantur inimici, dice el pasaje en cuestión.
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Ilustración 3a: Pedro Morales: Representación de la Sibila en la catedral de Toledo (ca.1785).
Ilustración 3b: Representación de la Sibila en la Catedral de Palma de Mallorca (1954?).
Que una niña interprete la Sibila es históricamente justificable, teniendo en cuenta que en el siglo XV era una novicia de corta edad la encargada de interpretarla en el monasterio de Pollensa, pero no hay nada que justifique el cambio posterior, que imita ciertas recreaciones discográficas pretendidamente de música histórica; tampoco se justifica la actual proli-
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feración de Sibilas en las parroquias de la propia Palma y sus alrededores, que repiten mecánicamente la melodía que se canta en la catedral “apañando” su coreografía, que viaja con su intérprete de una parroquia a otra porque resulta que determinadas iglesias cambian el horario de la Misa del Gallo, de forma que se tenga oportunidad de escuchar la Sibila más de una vez. Entre sus intérpretes se imponen las estudiantes de canto, miembros de las corales locales que aprenden la composición como lo harían de cualquier otra pieza. Las corales, por su parte, la entonan a modo de un himno, costumbre que se ha ido imponiendo con el avance de una determinada ideología política de signo nacionalista. La tradición está, en términos generales, totalmente desvirtuada. Nada queda en Mallorca de aquella antigua tradición que recogiera Massot y de la que, afortunadamente quedan algunos registros sonoros, por lo que habría que delimitar muy bien qué se entiende por Patrimonio cultural inmaterial en el caso del Canto de la Sibila mallorquina. Si abarca de forma genérica todas sus manifestaciones, entonces también habría que incluir la versión que se interpreta en la iglesia de Santa María del Mar de Barcelona, que lleva bastantes más años cantándose que en muchas iglesias de las Baleares, o la de la catedral de Barcelona, recuperada hace un par de años con criterio histórico, o la que interpreta una conocida cantante folk, o las que de nuevo empiezan a sonar por Castilla respetando las versiones antiguas, lo que no se respeta en absoluto en las Baleares ni en sentido histórico ni en el de la tradición, salvo en el monasterio del Lluc y alguna otra localidad remota. Lo que en Mallorca en otro tiempo fue folklore hoy es puro folklorismo, que lo único que tiene de particular es que se reduce a una única pieza. Si es que el folklorismo debe formar parte del Patrimonio inmaterial de la UNESCO, en el caso español habría que reinvindicar, por ejemplo, el género de la sardana, de origen medieval, que es también uno y que adquirió su particular simbología hará poco más de un siglo; a la gaita, que en Galicia acompaña ahora las apariciones públicas de determinados políticos a la manera que en el siglo XIV acompañaba a las de Pedro IV de Aragón, etc. etc. Antes de otorgar al Canto de la Sibila la condición de Patrimonio inmaterial se imponía un estado de la cuestión que pusiese de relieve lo que lo es y lo que no, porque “el sentimiento de identidad y continuidad” al que se refiere la definición de la UNESCO de lo que se entiende por Patrimonio cultural inmaterial no parece que incluya su manipulación de orden político-cultural. Una vez concedida, la urgencia es todavía mayor, no porque peligre la interpretación del canto sibilino en las Baleares, sino porque lo que peligra es la supervivencia de las versiones tradicionales de la pieza, tan escasas que ya nadie sabe a ciencia cierta cuántas y cuáles son.
Alfonso dalla Viola (Ferrara, c. 1508 – c.1574): Aspects of Chronology, Style and Influences* Judith Cohen
Alfonso dalla Viola’s madrigals have not often been discussed. His contemporaries refer to him mainly as a virtuoso viol player but also mention his excellence as a composer. In 1543, for example, Silvestro Ganassi praises his outstanding ability to play virtuoso diminutions in high register.1 Before discussing theoretical aspects of his music, Luigi Dentice describes him as being “non meno miracoloso nel contrapunto e nel comporre, che nel sonar la viola d’arco in conserto”(1552), and Cosimo Bartoli, in the third dialogue of his Raggionamenti accademici (1567), mentions him among the viol virtuosi of his time, performing both as soloist and in ensemble (“… raro in sonare solo, & accompagnato”), and also praises his “virtù… di comporre”.2 In 1594 Hercole Bottrigari still mentions the gran concerto in Ferrara whose repertory consisted of two unnamed compositions by Alfonso dalla Viola and Luzzasco Luzzaschi. Historical sources also occasionally document a performance of his music, mainly in festive and social events at the Ferrarese court.3 Dalla Viola’s compositional output is not large. His involvement in the Ferrarese court theatre yielded music (mostly lost) for four plays: one tragedy, one comedia pastorale, and two favole pastorali. Fragments of his music for one of the Pastorali – Beccari’s Il Sacrificio (1554) – have survived and have often been considered as examples of the earliest oratorio.4 His con*
The research for this paper was supported by the Israel Science Foundation (grant No. 0608414032).
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Silvestro Ganassi, Lettione seconda pur della prattica di sonare il violino d’arco da tasti (Venice 1543). Reprint Bologna 1970. Luigi Dentice, Dialogo secondo della musica. Naples 1552. Quoted in: James Haar: The Science and Art of Renaissance Music. Ed. Paul Corneilson. Princeton (NJ) 1998, 54 and 59. Hercole Bottrigari, Il desiderio overo di concerti di varij strumenti musicali (Venice 1590). Ed. Kathi Meyer. Berlin 1924. See also Howard Mayer Brown, A Cook’s Tour of Ferrara in 1529, in: Rivista de musicologia italiana 10 (1975), 216–241, and Pierre M. Tagmann, Ferraras Festivitäten von 1529: Cristoforo di Messisbugos Aufzeichnungen zur Musikpraxis am estensischen Hof, in: Schweizer Beiträge zur Musikwisssenschaft 3 (1979), 85–105. Jessie Ann Owens, Music in the Early Ferrarese Pastoral: A Study of Beccari’s Il sacrificio, in: Il teatro italiano del Rinascimento. Ed. Maristella de Panizza Lorch. Milan 1980, 583– 601. See however James Haar’s statement that its importance as an example of early monody has been exaggerated. James Haar, Art. “Dalla Viola”, in: Grove Music Online http://www.oxfordmusiconline.com. Ed. Laura Macey (accessed October 2010).
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tribution to the field of the madrigal consists of two volumes a 4 printed in Ferrara in 1539 (by Buglhat, Hucher and de Campis), and in 1540 (by de Campis), containing 43 and 35 madrigals respectively. It is however accepted among musicologists that the madrigals were composed in the late 1520s and the early 1530s. They have never been reprinted, nor has a single composition from these two volumes ever been included in printed anthologies. Lacking a dedication, we do not know anything about the circumstances of their publication. Seven additional madrigals appear in anthologies from 1542, 1543, and 1562. Several of dalla Viola’s madrigals were also attributed to other contemporary composers (Costanzo Festa5, Arcadelt, and Berchem), a fact that suggests writing in the “international style” of the late 1520s, or “stylistic non-pertinence”. However, it is my contention that Alfonso dalla Viola had a distinct voice of his own, not in the sense claimed by Einstein, who regarded him a forerunner of Lasso and drew attention to his “dark colours”6 but in many details of the musical line and the interplay of textures. This view is corroborated by statements of Stanley Boorman who claims that “this composer seems to inhabit a different stylistic world”7 and James Haar who presents him as a composer whose music “is expertly written, showing full awareness of the style cultivated by Verdelot and Arcadelt, and has touches of individuality in declamation and tone colour”. 8 Leonardo J. Waisman in his study on the madrigal in Ferrara in the mid16th century – the most comprehensive discussion of dalla Viola’s music – is more reserved in his judgment, but he concedes that If he [dalla Viola] lacks the gracefulness of an Arcadelt, if he does not achieve the immediacy and spontaneity of a Verdelot […] he has an expressive power all his own and a feeling for color that makes him a worthy founder of the Ferrarese madrigal school.9
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One of Festa’s madrigals, “Amor, s’al primo sguardo”, is included in dalla Viola’s second book of madrigals, transposed a fourth upwards. Alfred Einstein, The Italian Madrigal. Princeton (NJ) 1949, 305. Stanley Boorman, Sixteenth-Century Madrigal: Previously Unpublished Full Scores of Major Works from the Renaissance, in: Notes 48 (1991), 270. Haar, Art. “Dalla Viola” (as note 4). Leonardo J. Waisman, The Ferrarese Madrigal in the Mid-Sixteenth Century. PhD Dissertation, University of Chicago, 1980, 128.
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Some Dates and Data on Alfonso dalla Viola’s life and career10 c. 1508 1525: 1528: 1528– c.1570? 1529: 1530–40 1539 1540 1541 1541–1549 1542 1543 1544 1546 1549–1572 1552 1554 1560 1560–69 1562 1563 1567 c. 1570 31.5.1572 1573–4 1594
Born in Ferrara Mentioned in the salary lists of Ferrara Court Music for the wedding of Prince Ercole II d’Este and Renée of Lorraine In charge of the instrumental ensembles at court Music for a banquet at the Ferrara Court Mentioned in the salary lists as a member of Duke Alfonso I’s chapel Primo libro di madrigali a 4 (Ferrara: Buglhat, de Campis and Hucher): 43 madrigals Secondo libro di madrigali a 4 (Ferrara: de Campis): 35 madrigals Music for Giraldi Cinthio’s Orbecche (music lost) Absent from Ferrara court registers (imprisoned?) 4 madrigals in Il primo libro di madrigali de diversi a 5 (Venice: Gardane) RISM 154216 1 Madrigal in Il secondo libro de li madrigali a 4 a misura di breve (Venice: Scoto) RISM 154318; mentioned by Silvestro Ganassi Requests and receives Duke Ercole II’s pardon for a double murder committed by him and his brother Andrea Cipriano de Rore appointed maestro di cappella in Ferrara Alfonso’s name appears again in salary lists of the court Mentioned as outstanding composer and viola player in Luigi Dentice’s Duo dialoghi dalla musica Music to Act III, Scene 3 of A. Beccari’s Il Sacrificio Member of the Accademia dei concordi in Ferrara Capo dei concerti of the Cappella di musica, Ferrara 2 madrigals in I dolci et harmoniosi concenti, libro secondo a 5 (Venice: Scotto). RISM 15626 Music to A.Lollio’s Aretusa (music lost); Appointed Maestro di cappella dalla Cathedrale (?) Music to A. Argenti’s Lo sfortunato (music lost); mentioned in Cosimo Bartoli’s Ragionamenti Accademici Replaced by Luzzaschi as Capo dei concerti of Duke Alfonso’s cappella di musica Still appearing on the salary lists of Ferrara court; still documented as Maestro di cappella dalla Cathedrale? Alfonso’s name disappears from the Ferrara payrolls. Mentioned posthumously in Bottrigari’s Il Desiderio
10 Information drawn mainly from Angelo Solerti, Ferrara e la corte estense nella seconda metà del secolo decimosesto (1891). Città di Castello 1900 (2nd ed.), cxxi, Walter Weyler, Documenten bettreffende de Muziekkappel aan het Hof van Ferrara, in: Vlaamsch Jaarboeck voor Muziekgeschiedenis 1 (1939), 81–113; Anthony Newcomb, The Madrigal at Ferrara 1579–1597. Princeton (NJ) 1980, vol. 1, passim; Alfonso dalla Viola: Primo libro di madrigali (Ferrara, 1539). Ed. Jessie Ann Owens. New York 1990, xi–xiii; Alfonso dalla Viola: Secondo libro di madrigali (Ferrara, 1540). Ed. Jessie Ann Owens. New York 1991, xi–xiii; Joachim Steinheuer, Art. “Dalla Viola“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Ed. Ludwig Finscher. Kassel usw. 2001, Personenteil, vol. 5, 308–14; Lewis Lockwood and Murray Steib, Art. “Ferrara”, in: Grove Music Online (http://www.oxfordmusiconline.com). Ed. Laura Macey (accessed November 2010); Haar, Art. “Dalla Viola” (as note 4), and Waisman, The Ferrarese Madrigal (as note 9), 41–46.
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Chronology Dalla Viola’s madrigals are divided into two successive volumes, printed in July 1539 and October 1540. According to Waisman they reflect an “early” and a “mature” stage,11 but in my view the composer or his publisher considered the 78 madrigals as one unit, which they divided into two separate books. According to stylistic criteria, there is no clear chronological differentiation between the madrigals of volume I and II, and “earlier” and “later” pieces are dispersed throughout them. Thus we may find in volume II early characteristics like voice crossing (e. g., nos. 22 and 29), void cadences (e. g., nos. 8 and 25), poor declamation (e. g., nos. 7 and 18), parallel fifths (e. g., no. 12, m. 60), faux bourdon passages (e. g., nos. 4 and 28), frottolostic traits (e. g., nos. 25 and 29), and avoidance of word painting (e. g., no. 21: a descending tetrachord on “…e posto in su la cima”), while later characteristics – such as correct declamation, concordance between textual and musical units, a balance of homophonic and imitative textures, and an increased musical awareness of the semantic aspects of the text appear in both volumes. The choice of texts, too, indicates overall planning of the two volumes. Each volume includes three texts by Petrarch: two sonnets and one ballata in vol. I, and two sonnets and one madrigal in vol. II. In each volume texts were chosen from the renowned Ferrarese poet Ariosto, and from the verse of Lelio Capilupi (1497–1563) – a contemporary of Ariosto, mentioned in his Orlando Furioso.12
Style a. An Early Chromaticist? Alfonso dalla Viola entered the music history books of the 20th century with Theodor Kroyer’s Munich dissertation from 1897, printed in 1902 under the title Die Anfänge der Chromatik im italienischen Madrigal.13 Kroyer was looking for the origins and development of what he called “the chromatic movement”, and tried to draw a line leading from the early madrigalists to Vicentino and Gesualdo. He listed seven chromatic instances in dalla Viola’s first book of madrigals (1539) and one in an anthology from 1542, 11 Waisman, The Ferrarese Madrigal (as note 9), 47. 12 Orlando Furioso, Canto XLVI, stanza 12. 13 Theodor Kroyer, Die Anfänge der Chromatik im italienischen Madrigal des XVI. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur Gechichte des Madrigals. Leipzig 1902.
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and thus focused attention on his work. Einstein took up the idea in his comprehensive History of the Madrigal in Italy. He saw in dalla Viola a composer “much more colorful than Festa, Arcadelt, Verdelot, and most of the other musicians of the thirties”14. Einstein follows Kroyer in quoting one of dalla Viola’s famous chromatic openings, that of the madrigal “In me cresce la voglia” (I: 2), where “growing desire” is expressed by “the swelling chromaticism of the soprano”. He adds, however, that “it is possible that … the sharp has a retroactive force”.15 Ex. 1: Dalla Viola, vol. I (1539), no. 2: In me cresce la voglia. a. Transcribed by Alfred Einstein16 b. Transcribed by Jessie Ann Owens.17 The transcription takes for granted the “retroactive function” of the accidental a.
b.
Retroactive accidentals are a quite common printing convention in the 16th century and we often encounter them in dalla Viola’s two madrigal collections. Ex. 2 demonstrates a second musical depiction of “growth” that seems to turn the chromatic step on “cresce”, together with its printing convention, into a personal trademark of the composer (and perhaps also of the printer). Note that there is no “retroactive sign” in the Alto part. Ex. 2: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 19: Se quanto cresce ogn’hor in voi beltade, mm. 1–4.
(“ficta” suggestions henceforth by the present author)
14 15 16 17
Einstein, The Italian Madrigal (as note 6), 300. Ibid., 305. Idem. Owens, Alfonso dalla Viola (as note 10), 4.
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If we rule out the “retroactive” sign as designating chromaticism, as I believe we should, there remain several practices of chromatic usage in dalla Viola’s madrigals. Primary among them is the chromatic inflection at a caesura at the end of a line, where cross relations or a chromatic progression (a half-tone step) function as a point of subtle articulation, and thus clarify the versification and the structure of the text. This device is known in the frottola repertory, but dalla Viola’s use of it is more consistent and imaginative. The following example demonstrates the importance of the issue of articulation at the end of a line for dalla Viola and his printer. Ex. 3: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 16: Luce degli occhi miei: Tenor, m. 5.
Here the a in the Tenor part is notated twice – once with the stem upwards, and once with the stem downwards, in order to mark the caesura between the words “miei” and “luce”. In at least one case, a chromatic shift appears immediately after the opening word, indicating not only a caesura but an exclamation mark as well. It occurs in the setting of Petrarch’s Ballata “Amor, qui vedi”, where the opening word “Amor” is set off from the rest of the line by the play between c# and c natural in the Tenor, resulting in a change from an A major to a void F chord.18 Jessie Ann Owens’s transcription (Ex. 4a) retains the flats and sharps as they appear in the original print, while my own transcription (Ex. 4b) adds “ficta” suggestions.
18 Wolfgang Osthoff calls attention to a similar Exordium, and a more pronounced one, at the opening of Verdelot’s “O dolce notte” for Machiavelli’s La Mandragola, where the play between an a major and an a minor chord cuts the sentence into two halves, separated by a rest in all the voices. Wolfgang Osthoff. Theatergesang und darstellende Musik in der italienischen Musik. Tutzing 1969, 228–235.
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Ex. 4: Dalla Viola, vol. I (1539), no. 29: Amor quando fioriva, mm.1–5. a. Transcribed by Owens.19
b. Transcribed by Cohen.20
Notwithstanding this example, accidentals usually occur at the end of lines and mark the transition between them. An obvious case in point is the clear-cut transition from line 10 to 11 in the last madrigal of vol. I, Bonifazzio Dragonetto’s ballata “Amor mi fa morire”.
19 Owens, Alfonso dalla Viola: Primo libro di madrigali (Ferrara, 1539) (as note 10), 162. 20 Alfonso della Viola: Sechs Petrarca Madrigale. Ed. Judith Cohen. Wolfenbüttel 1989, 1.
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Ex. 5: Dalla Viola, vol. I (1539), no. 43: Amor mi fa morire, mm. 36–40.
While the D major triad in m. 37 closes the mutazioni section of the ballata, the F major triad in the next measure, obtained by a chromatic step in the Alto, marks the transition into the volta.21 A few examples will demonstrate more intricate techniques – all of them occurring at implied caesuras between two lines; for example, cross relations between Alto (c#) and Canto (c): Ex. 6: Dalla Viola, vol. I (1539), no. 36: Vinto dal grav’ ardore, mm. 19–21.
Or, between Canto (f#) and Tenor (f), resulting also in a diminished fourth in the Canto, m. 61.
21 See Marco Mangani and Zackova Rossi, Ballata Form in the Early Madrigal, in: Théorie et analyse musicales, 1450–1650. Dir. Anne-Emmanuelle Ceulemans et al. Louvain-laNeuve 2001, 166 and 176. They point out Willaert’s ‘Flemish’, i. e. contrapuntal treatment of this transition in his setting of the same text.
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Ex. 7: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 12: Lasso la rete che mi leg’il core, mm. 58–62.
Throughout this piece, text and music toy with solmization syllables, but the musical setting is rather poor – note for instance the parallel fifths between Tenor and Canto (m. 60). In dalla Viola’s anthologized madrigals, this technique appears twice, in the anthologies from 1542 and 1543. Ex. 8: Dalla Viola, Il primo libro di madrigali de diversi a 5. Venice: Gardano, 1542: Che dolce più, mm. 52–55.
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In this ottava rima by Ariosto, f# in the Alto is followed by f natural in the Canto and thus marks the caesura before the closing couplet (m. 54). The second example occurs in Amor mi fea morire from Gardano’s second anthology of note nere madrigals for 4 voices, 1543. Ex. 9: Dalla Viola, Il secondo libri de li madrigali ...a misura di breve... a quatro voci. Venice: A. Gardano, 1543: Amor mi fea morire, mm. 34–36
Here the change from the E major to the C major triad is marked not by a subtle point of respiration, a caesura, but by a rest in all the voices, which emphasizes even more the frottolistic ending of the phrase.22 In addition to the shifts at points of articulation, dalla Viola’s musical language makes liberal use of diminished and augmented intervals, both melodic and harmonic, and often features a fast exchange between major and minor chords. These shifts do not occur at the turning points of musical and textual phrases, but at the beginning or the middle of a line. Sometimes, but not always, they seem to be employed in the service of textual expression.
22 In his article on “False Relations and Chromaticism in 16th Century Music” (1977, updated 1998), James Haar has observed that these chromatic phenomena occur over typical bass progressions, which he summarizes and classifies (for instance, downward and upward bass progression, a sustained bass note, etc.). Although this observation is supported by Ex. 4, 6, 7 and 9, I believe that the chromatic shifts occur primarily in the three upper voices, while the bass provides harmonic support. James Haar, False Relations and Chromaticism in Sixteenth-Century Music, in: Journal of the American Musicological Society 30/3 (1977), 391–418 [updated version in: James Haar: The Science and Art of Renaissance Music (as note 2), 93–120].
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Such is the beginning of E pur fier il contrasto (I: 19), where the contrast between b flat and b natural may symbolize the lover’s conflicting feelings of love and hate.23 Ex. 10: Dalla Viola, vol. 1 (1539), no. 19: E pur fier il contrasto, mm. 1–4.
A similar case is S’una gran fed’ et un desir eterno from vol. 2: Ex. 11a: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 3: S’una gran fed’ et un desir eterno, mm. 1–7.
Here the diminished fourth f#-b flat is the soggetto that opens the madrigal in imitation between Tenor, Alto and Canto, perhaps to express the lover’s constant desire. The interval is taken up also by the Alto part. Later in the same piece, when the speaker calls himself “a satisfied servant” (“servo contento”), his satisfaction is expressed by an augmented chord on “contento”.
23 Spencer and Brown chose this madrigal to exemplify Alfonso’s system of transposition when adapting a vocal piece to performance on the viol. Kathleen Moretto Spencer and Howard Mayer Brown, How Alfonso della Viola Tuned his Viols, and How He Transposed, in: Early Music 14 (1986), 520–533.
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Ex. 11b: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 3: S’una gran fed’ et un desir eterno, mm. 20–22.
Many other instances of free chromaticism are dispersed throughout dalla Viola’s madrigals, without serving textual purposes. They include, for example, an augmented triad f-a-c# (I: 4, “Deh se fusse pur vero”, mm. 4–5), diminished fourths such as g#-c (ibid., mm. 51–52, Canto, on “d’amore”), f#-b flat (I: 38, mm. 5–6) and others. But there is also a less successful case of a sharp clash c-c# occurring in vol. 2, no. 19: Ex. 12: Dalla Viola, vol. 2 (1540), no. 19: Se quanto cresce ogn’hor in voi beltade, mm. 22–28.
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The text is “E dal primiero sguardo / Fin’al’ estremo veggio nel bel viso”: the Bass rushes upwards to the extreme region (“al estremo”) and clashes with the Alto part that lies only a half-tone above. Despite our appreciation of dalla Viola’s liberty with the use of dissonant clashes, we must admit that this is a maladroit passage. The fact that this piece is placed in volume II of dalla Viola’s madrigals, as is ex. 6 with the parallel fifths, may be regarded as a further proof of my assumption that the content of the two volumes is chronologically mixed. But on the whole, and despite this unsuccessful piece, Alfonso dalla Viola’s rich chromatic palette and generous choice of accidentals, cross relations and intervals outside the modal system are his personal stylistic marks and set him off from his contemporaries. b. “Miracoloso nel contrapunto & nel comporre” Dalla Viola’s renomé as a composer, as recorded by Luigi Dentice (1552), should not surprise us. His two madrigal collections cover a wide range of styles and textures, from frottolistic reminiscences through homophony to non-imitative counterpoint and to imitation, both exact and inexact, and “double counterpoint”, the latter at the opening of a piece. The concluding line of “Si dolce è il canto” (Book II) is, in my opinion, one of his most successful polyphonic passages. The text, by Lelio Capilupi, is cast in the form of a trecento madrigal. Ex. 13: Dalla Viola, vol. II (1540), no. 11: Si dolce è il canto, mm. 44–47.
Three (or four) consecutive chains of triads lead down, in imitation, from g1 to B flat, creating triads on C, F, and B flat. Margaret Bent has pointed out a similar pattern of four descending imitative entries on C, F, B flat and
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E (flat?) in a motet by Carpentras, quoted by Pietro Aron,24 but in dalla Viola’s piece, this chain of descending triads, although concealed by overlapping, is text-related: it constructs a metaphorical bridge between heaven and earth – an idea prevailing in the text.25 Dalla Viola also experiments with voci pari and with note nere. The note nere technique (in vol. I nos. 3, 16, 42, 43; in vol. II nos. 6 and 15 – the latter without the typical time signature C) is sometimes, though not always, enlisted to express an especially emotional text. This is certainly the case with “Ite, caldi suspiri” (I: 16): After the initial reference to Petrarch’s sonnet, the text unfolds as a ballata, and expresses the bitter lament of a forsaken woman. The music presents balanced polyphonic and homophonic textures and adherence to the poetic form of the text, in which the volta repeats the text of the ripresa. The only means possibly conveying something of the spirit of the text are metrical shifts and syncopations, characteristic of the note nere madrigal. The two equal-voice pieces that appear in succession in the first madrigal book (Nr. 38 and 39) are set for ATTB clefs and are distinctive in their somber colors and serene texts. They thus achieve the quality of gravità that Vicentino later demanded from voci pari compositions.26 It should be noted, however, that – pace Vincentino’s gravità – the same piece appears in a Munich manuscript (Mus. MS 1501) one octave higher (g2, g2 c1, c3), des, ignated “a voce parij”.
Influences and Intertextuality The technique of borrowing and imitating was a well-known means of musical communication between composers, although we are not always able to restore its context. And yet, the two opening madrigals in Alfonso dalla Viola’s first madrigal volume may tell us something about the circle of composers he related to. The first madrigal in dalla Viola’s primo libro (1539), “Sapete amanti”, shows many points of similarity with Arcadelt’s/Berchem’s setting of the same text in his primo libro (1538), of which only the 1539 print is preserved; 24 Margaret Bent, Accidentals, Counterpoint and Notation in Aaron’s Aggiunta to the Toscanello in Musica, in: The Journal of Musicology 12 (1994), 311. 25 See also Judith Cohen, Re-Assessing Musical Style: Voices from 16th Century Italy, in: Orbis Musicae 13 (2003), 63–64. 26 Frank J. Carey, Composition for Equal Voices in the Sixteenth Century, in: The Journal of Musicology 9 (1991), 308.
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it was variously attributed to Arcadelt (RISM 154617) and to Berchem (RISM 155016 and 155111)27. The similarity between the two settings has been discussed in detail by Waisman,28 but a salient allusion to the chanson “Mille regretz”, traditionally attributed to Josquin, has been overlooked.29 Ex. 14 a. Dalla Viola, vol. I (1539), no. 1: Sapete amanti, mm. 20–22: “E col divin splendore”; previous line: “Ella col suo bel viso”.
b. Josquin des Pres (?): Mille regretz, mm. 13–17: “Vostre fache amoureuse”.
The text of the second madrigal in the same volume, “In me cresce la voglia”, a canzona-madrigal, sounds like a risposta to a similar text set by Verdelot. There is no musical similarity, however, between the two compositions.
27 Iain Fenlon and James Haar, The Italian Madrigal in the Early Sixteenth Century: Sources and Interpretation. Cambridge 1988, 322. 28 Waisman, The Ferrarese Madrigal (as note 9), 76–78. 29 The chanson has lately been declared spurious. It appears as an anonymous composition in many MSS and tablatures of the first half of the 16th century. See David Fallows, Josquin. Turnhout 2009, 338–339.
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Dalla Viola, a 4, Book I: 2 (1539)
Verdelot (?) a 6 RISM 154516
In me cresce la voglia, in voi il desire In me cresce la fede, in voi l’amore Io cerc’il vostro ben, voi del mio core Cercat’ a leviar ogni martite. ––––––– Et com’ habiam comform’ il bel desio Cosi s’unisc’il vostro pet’ al mio.
In me cresce l’ardor’, in voi l’orgoglio, In me cresce la fede, in voi l’inganni. Io cerc’il vostro ben, voi gli miei Danni Adunque con ragion di voi mi doglio. ––––––– Anzi d’amanti og’hor cresc’ il desio Pero ragion è ben che siate mio.
In referring to both a well-known chanson and to a text of a renowned composer at the opening of his primo libro, dalla Viola places himself among the musical celebrities of his time. A further direct musical reference occurs in vol. 2, no. 19 (Se quanto cresce ogn’hor in voi beltade), a piece that has been discussed several times above. After the “gauche” phrase we have already observed, where the Bass moves upwards to the extreme region (“Fin’al estremo”, see Ex. 12 above), the text continues: “Nascer nova belezza ond’io accend’il core”: it contains an obvious reference to the opening of Arcadelt’s most famous madrigal, “Il bianco e dolce cigno”. The gliding motif in the Alto seems to reassure us that this is a case of conscious citation, and not just a similarity based on a stereotypic melodic type characteristic of F mode pieces.30 Ex. 15: a. Dalla Viola, vol. II (1540), no. 19: Se quanto cresce ogn’hor, mm. 28–33.
30 On F-mode pieces by Arcadelt and his contemporaries see James Haar, Towards a Chronology of the Madrigals of Arcadelt”, in: The Journal of Musicology 5 (1987), 40–41.
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b. Arcadelt, Il bianco e dolce cigno.
A comparison between dalla Viola’s “A pie d’un chiaro fonte” from Il primo libro di madrigali de diversi a 5, 1542 and Arcadelt’s setting of the same text in Il quinto libro a 4, 154431 is revealing. Despite an affinity in the opening motives of lines 1 and 3 in the two settings, the differences between them are striking. Ex. 16 a. Dalla Viola, Il primo libro de diversi… a cinque voci. Venice: Gardano, 1542, A pie d’un chiaro fonte, line 1, mm. 1–3.
31 Corpus Mensurabilis Musicae 31: VI, 41.
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b. Arcadelt, Book 5 a 4, 1544, A pie d’un chiaro fonte line 1, mm. 1–3.
The text, by Alessandro Malvaggia,32 is cast in the form of a cinquecento madrigal, but dalla Viola’s setting is conceived as a ballata and divided into ripresa (lines 1–3, rhyming ABB), quasi-mutazioni (lines 4–12, rhyming aBA CDcDdc) and volta (lines 13–15, rhyming dCC). In the ripresa, the two rhyming lines 2 and 3, rhyming “Aprile/gentile,” are set to identical music. The section is marked off by a double bar at the end of line 3 (m. 16).The next cut occurs at the end of line 12 (m. 51), i. e., the end of the quasi- mutazioni, and the concluding three lines of the text (lines 13–15), rhyming d-c-c, once again take up the music of the three opening lines 1–3, thus enhancing the effect of a ballata.33 Einstein has already called attention to dalla Viola’s predilection for the form of the ballata, and his observation that he “…takes care always to give the same music to the volta as to the ripresa”34 is vindi-32 cated here. The double-bar after line 3 appears also in Arcadelt’s setting; however the music for lines 2 and 3 is not repeated in his setting, and he does not return to it at the end of the piece. On the contrary, in accordance with the tradition of the early madrigal he repeats the concluding line, text and music. In dalla Viola’s setting C-tonality prevails. He expresses the new, sweet and graceful melody (“A novo e dolc’e gratioso canto” – line 10) by reaching to the highest note (f'') on “dolce” in homophony. Arcadelt, who sets the piece in the F-mode characteristic of him, remains subdued at that point. 32 Rime de diversi...Libro nono. Cremona: V. Conti 1560, 48. 33 Amati-Camperi points to texts that smoothly bridge the gap between the ballata and the free madrigal. Alexandra Amati-Camperi, Poetic Form in the Early Madrigal reconsidered, in: The Journal of Musicological Research 17 (1998), 178–179. They are called ballatamadrigals by Harran. Don Harran, Verse Types in the Early Madrigal, in: Journal of the American Musicological Society 22/1 (1969), 33–36. 34 Einstein, The Italian Madrigal (as note 6), 302.
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In line 12, where the lover imagines seeing the reflection of his beloved (deep) in the water (“All’imagine sua nell’acqua corse”), Arcadelt’s setting rushes in eighths that lead into a low cadence, where the Canto descends to f, while dalla Viola’s setting of this line proceeds in moderate quarter notes, leading into the cadence that prepares the return of the opening section, the volta. On the whole, it could be said that dalla Viola’s five-part madrigals from the anthologies of 1542 and 1562 gain from the broader space allotted to the voice parts, rather than exhibiting a late style, as claimed by Waisman.35 Dissonant clashes, voice crossings, unexpected accidentals and augmented and diminished triads do not appear in these compositions. Dalla Viola presents himself here as a competent composer, balancing homophonic and polyphonic textures and offering various voice groupings. He is always aware of the poetic structure of the text, even when he misinterprets it, and is less inclined towards word painting; if he does refer to the semantic aspect of the text, he uses rhythmic rather than melodic means – e. g., syncopation and “nervous” movement on “Fremon’ i venti” in Ariosto’s S’el sol si scosta (1562), or a change from the calm composure of the first quatrain of Ariosto’s “Che dolce piu” (1542), reflecting the happy state of the loving heart, to the metric instability of the second quatrain, expressing the frenzy of the lover’s envy. Dalla Viola may lose something of his distinctive voice here; however, this observation is based on only six madrigals out of a total of 85. Ironically, perhaps, these works may have been chosen by Gardano and Scotto to be included in their anthologies precisely because they lack those stylistic characteristics that introduced Alfonso dalla Viola into our music history books as an early chromaticist.
35 Waisman, The Ferrarese Madrigal (as note 9), 47.
Il Giustino redivivus: Zur klingenden Wiedererweckung einer Oper von Giovanni Legrenzi Rudolf Bossard
I Beim vorliegenden Text handelt es sich nicht um einen Forschungsbeitrag im engeren Sinn; vielmehr gilt es, über eine spannende Begegnung zwischen Wissenschaft und Praxis zu berichten. Auf der Seite der Wissenschaft stand meine Basler Dissertation über Legrenzis Oper Il Giustino; die Seite der Praxis vertrat der Dirigent Thomas Hengelbrock. Meine Arbeit erschien 1988 in Buchform;1 es wurde damals allerdings darauf verzichtet, den zweiten Band des Dissertationsmanuskripts, die kritische Edition der Oper, zu publizieren. Dieser Entscheid fiel nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, vor allem aber auch, weil bereits die – wenngleich mangelhafte – Edition des Giustino von Luciano Bettarini existierte.2 Der Hauptteil meines Editionsmanuskripts beruht auf der Venezianer Erstproduktion vom Februar 1683 (Venezia 1683); im Anhang sind die Ergänzungen und Veränderungen durch die Neapolitaner Zweitproduktion von 1684/85 (Napoli 1684/ 85) festgehalten.3 Thomas Hengelbrock, stets unterwegs nach Neuentdeckungen, stieß vor einigen Jahren auf Il Giustino, dies mit Blick auf eine Koproduktion der Schwetzinger Festspiele und des Grand Théâtre de Luxembourg.4 Bei seinen Recherchen geriet ihm meine Arbeit in die Hand. Ihn überzeugten die dort präsentierten Forschungsergebnisse, und er zog es daher vor, auf mein rein wissenschaftlich ausgerichtetes Editionsmanuskript des Giustino zurückzugreifen, statt auf Bettarini zu rekurrieren, der in seinem Notentext 1 2 3 4
Rudolf Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino. Eine monographische Studie. Baden-Baden 1988. Giovanni Legrenzi, Il Giustino, Riproduzione integrale (= Collezione settecentesca Bettarini 12). Mailand [1980]. Näheres zur Giustino-Überlieferung siehe unten, III. Premiere in Schwetzingen mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble und namhaften Sängern unter Hengelbrocks Leitung am 26. April 2007; Inszenierung: Nicolas Brieger; weitere Aufführungen: 28./29.4. und 1.5. Aufführungen im Grand Théâtre de Luxembourg am 14. und 15. November 2008; Leitung: Michael Behringer; teilweise andere Sänger als in Schwetzingen; semiszenische Neufassung, Regie: Alexander Schulin.
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und im Kommentar eine unzulässige Vermengung zwischen Venezia 1683 und Napoli 1684/85 vorgenommen hatte.5 Außerdem schien Hengelbrock Bettarinis Generalbass-Aussetzung für die eigene Arbeit mehr hinderlich als förderlich. Im Sommer 2005 kam es zu ersten Kontakten mit dem Büro für Internationale Kulturprojekte (bik) in Freiburg i. Br., dessen künstlerische Leitung Hengelbrock innehat. Es blieb zunächst offen, ob auf Venezia 1683 oder auf Napoli 1684/85 zurückzugreifen sei. Für das Erste sprach, dass man sich Legrenzis Original würde größtmöglich annähern können; für das Zweite gab es das starke Argument, dass der junge Alessandro Scarlatti eine moderate Bearbeitung von Legrenzis Oper vorgenommen hatte, so dass ein Pasticcio hätte präsentiert werden können, das eine reizvolle Gegenüberstellung der beiden Komponisten ermöglicht hätte. Auf der Basis der Librettoüberarbeitung durch Andrea Perrucci integrierte Scarlatti in den grundsätzlich unveränderten Venezianer Kern einige Buffoszenen, ersetzte einzelne Arien Legrenzis durch eigene und fügte in einer Szene eine neue Arie hinzu. Auf der andern Seite verzeichnet Napoli 1684/ 85 gegenüber Venezia 1683 gewisse Kürzungen; sie betreffen in erster Linie die mythologischen Einlagen in der Eröffnungs- und der Schlussszene. Weil Il Giustino in Neapel zunächst zum Zweck der festlichen Begehung des Geburtstags von Karl II., dem spanisch-habsburgischen König, am 6. November 1684 im „Regal palaggio“ aufgeführt wurde, hatten Perrucci und Scarlatti einen Huldigungsprolog an den Monarchen geschrieben. Bei der Übernahme der Oper durch das öffentliche Teatro San Bartolomeo entfiel der Prolog.6 Da der Entscheid, Venezia 1683 oder Napoli 1684/85, bis 2006 offen blieb, schuf das bik Grundlagen für Aufführungen beider Versionen: Für die entsprechenden Arbeitspartituren griff man neben meiner Edition auf die drei musikalischen Hauptquellen zurück, und die Libretti wurden sowohl im italienischen Original als auch in deutscher Übersetzung für den Druck vorbereitet.7 Letztlich entschied sich Thomas Hengelbrock für Venezia 1683.8 Unter Berücksichtigung aller Umstände begrüßte ich diesen Schritt, nicht zuletzt aus folgendem Grund: Im Sommer 1984 war nämlich in England 5 6 7
8
Zu den Mängeln von Bettarinis Edition siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 60–62. Zu Napoli 1684/85 siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 33–52 und 219–241. Die Übersetzungen der Libretti und Kommentare durch Sabine Radermacher lagen mir zur Begutachtung vor. An dieser Stelle sei Thomas Krümpelmann, dem damaligen Dramaturgen des bik (seit 2008 am Opernhaus Zürich), für die monatelange gute Zusammenarbeit gedankt. Die einzige Ausnahme betraf die Einfügung einer kurzen Buffoarie Scarlattis in den 3. Akt.
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eine Version von Il Giustino über die Bühne gegangen, die auf der Edition von Bettarini beruhte; man ging damals also vom Pasticcio Legrenzi/ Scarlatti aus.9 Bei der Premiere von Il Giustino im Rahmen der Schwetzinger Festspiele vom 26. April 2007 dagegen sollte es sich mit einiger Sicherheit um die erste Produktion von Venezia 1683 in neuerer Zeit handeln. Über diesen Punkt wie auch generell über Il Giustino informierten die Werkeinführungen des Verfassers in den Programmheften von Schwetzingen und Luxembourg.10
II Ein knappes Wort zum Inhalt von Il Giustino scheint an dieser Stelle angebracht.11 Die Oper spielt in und um Konstantinopel im frühen 6. Jahrhundert und basiert in den Grundzügen – bei all den üblichen Freiheiten, die der Librettist Nicola Beregan sich gegenüber der Historie herausgenommen hatte – auf Episoden der byzantinischen Geschichte.12 Zu den Figuren gehört neben dem Titelhelden das Kaiserpaar Arianna und Anastasio; zu Beginn der Oper wird die Kaiserin Witwe mit dem neuen Herrscher vermählt. Giustino, ursprünglich Ackerbauer, später erfolgreicher Feldherr und Sieger über Vitaliano, der das byzantinische Reich bedroht hat, wird in einer der letzten Szenen von Anastasio zum Mitregenten gekrönt; er ist, wie sich gegen Ende der Oper herausstellt, der Bruder von Vitaliano 9 Zur Produktion am Bishop Otter College in Chichester, U.K., siehe die Rezension von Winton Dean, Reports, in: Musical Times CXXVI (1984), 519–520. 10 Rudolf Bossard, Il trionfo del Giustino, in: Programmheft Il Giustino, Schwetzinger Festspiele 2007, 9–23; dass. (leicht geändert), Programmheft Luxembourg Festival Il Giustino, Grand Théâtre de Luxembourg 2008, 8–17. 11 In der nachfolgenden Inhaltsübersicht bleiben die kleinen Nebenrollen unberücksichtigt. Information über Il Giustino in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Bd. III. München und Zürich 1989, 436–438; siehe im weitern: Hellmuth Christian Wolff, Die Venezianische Oper in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Berlin 1937). Bologna 21975, 84–93; Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1); Rudolf Bossard, Von San Luca nach Covent Garden. Die Wege des Giustino zu Händel, in: Göttinger Händel-Beiträge IV (1991), 146–173; Rudolf Bossard, I viaggi del Giustino, in: Atti dei convegni internazionali di studi, Venezia, 24–26 maggio 1990. Hg. Francesco Passadore und Franco Rossi. Florenz 1994, 495–544. Zur Stagione 1682/83, in der Il Giustino seine Premiere erlebte, vgl. Rudolf Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ – Streiflichter auf die Opernstagione des Winters 1682/83 in Venedig, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft XXVII (2007), 165–237. 12 Zu den historischen Hintergründen siehe Bossard, Von San Luca nach Covent Garden (wie Anm. 11), 150–152.
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wie auch von Andronico und damit wie diese von adliger Herkunft. Andronico, als Zofe verkleidet, hofft von Beginn an, Eufemia, die Schwester des Kaisers, für sich zu gewinnen, und um dieses Ziel zu erreichen, will er auch List und Trug einsetzen. Er scheitert jedoch, weil Eufemia Giustino liebt, zunächst ohne Erfolg; später jedoch gewinnt sie seine Liebe und wird am Schluss mit ihm vermählt. Bleibt Amantio, der General des Kaisers, der im dritten Akt eine Intrige gegen Giustino anzettelt und einen Staatsstreich verübt, jedoch im letzten Moment vom Helden überwunden wird. Als komische Figur fungiert der Diener Brillo. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Beregan seinem Libretto eine allegorische Bedeutung zumaß: Das venezianische Publikum konnte auf Giustino, der den Aggressor Vitaliano besiegt, jenen ersehnten Helden projizieren, der Europa von der Türkengefahr befreien sollte.13
III An Primärquellen existieren zu Venezia 1683 einmal das Libretto, sodann die grundsätzlich integrale Partitur A, in der allerdings die Instrumentalteile weitestgehend fehlen, handelt es sich doch nicht um eine Aufführungspartitur, sondern um ein Sammelstück; das Autograph ist verloren. Zu erwähnen sind überdies Ariensammlungen, von denen die relevanteste in Venedig aufbewahrt wird. Hinzukommen indirekte Quellen, darunter die Berichte von Zeitzeugen. Diese enthalten wertvolle Informationen über die ganze Opernstagione des Winters 1682/83.14 Für die Erschließung von Legrenzis Musik sind die Partituren zu Napoli 1684/85, B und C, deshalb von größter Relevanz, weil sich aus ihnen ein Großteil der in A fehlenden Instrumentalpartien zurückgewinnen lässt;15 dies gilt für die Streicher 13 Zu diesem Aspekt siehe Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ (wie Anm. 11), 224. 14 Vgl. die Beschreibungen der zwölf Produktionen der Stagione 1682/83 durch Jacques Chassebras de Cramailles in Mercure Galant, März 1683, 161–229, und April 1683, 17–65; zu Il Giustino vgl. Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 32–33.; Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ (wie Anm. 11), 226–227; ferner ist auf die Notate des „Residente di Toscana“, Matteo Del Teglia (I-Fas), sowie die Bemerkungen zu Opern in den Avvisi oder Mercuri (I-Vnm) hinzuweisen. Näheres zu den Zeitzeugen in Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ (wie Anm. 11), 169–171. 15 Näheres zur Instrumentalbesetzung siehe unten, IV. Die musikalischen Primärquellen: Venezia 1683: Partitur A, I-Vnm, Ms. It. 426 (= 9950); Napoli 1684/85: Partitur B, I-Nc, Ms. Rari 6.5.4 (fünfst. Ensemble ohne Angaben von Instrumenten mit Ausnahme der Tromba),
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begleiteten Arien wie auch für jene mit obligater Trompete sowie für die Mehrheit der Orchesterritornelli bei Continuo begleiteten Arien.16 Eine spezielle Frage wirft die „Sinfonia“ vor der Oper auf. In A fehlt sie; sie ist lediglich in B und C überliefert. Es lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen, ob sie von Legrenzi oder von Scarlatti stammt. Obwohl Il Giustino nach Napoli 1684/85 in einigen weiteren italienischen Städten über die Bühne ging, verlieren sich danach die Spuren Legrenzis: Es sind für die Jahre 1689 bis 1699 zehn anonyme Produktionen nachgewiesen, die keine Rückschlüsse auf die jeweiligen Anteile seiner Musik erlauben.17 Von fünf italienischsprachigen Giustino-Opern, die zwischen 1695 und 1737 entstanden, kennt man die Komponisten:18 Luigi Mancia (Roma 1695), Domenico Scarlatti (Napoli 1703), Albinoni (Bologna 1711), Vivaldi (Roma 1724) und Händel (London 1737).19
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Partitur C, I-Rc, Ms. 2572 (vierst., Tenorviola fehlt, keine Angabe von Instrumenten mit Ausnahme der Tromba); die wichtigste Ariensammlung: I-Vqs, Ms. 1435, Cl. VIII, Cod. IX, fol. 75–132; zur Überlieferung 1683–1685 siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 21–55; dazu auch Reinmar Emans, Die einstimmigen Kantaten, Canzonetten und Serenaden Giovanni Legrenzis. Bonn 1984, 509–511, Francesco Passadore und Franco Rossi, La sottigliezza dell’intendimento. Catalogo tematico di Giovanni Legrenzi. Venedig 2002, 267–324. Auf den Sonderfall der Orchesterritornelli ist zurückzukommen (siehe unten, V). Zur Giustino-Überlieferung nach Napoli 1684/85 (bis 1703) vgl. Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 55–60. Näheres dazu in Bossard, Von San Luca nach Covent Garden (wie Anm. 11), und Bossard, I viaggi del Giustino (wie Anm. 11). Neben den italienischen sind auch deutsche Bearbeitungen des Stoffs nachgewiesen, u. a. Johann Christian Schiefferdecker, Justinus, Leipzig 1700/1703, rev. Fassung als Der Von dem Ackers-Pflug zu den Thron Erhabene Käyser Justinus, Hamburg 1706, vgl. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. Ludwig Finscher. Kassel usw. 2005, Personenteil, Bd. 14, 1332. Zu Mancias Giustino (Libretto: Silvio Stampiglia) siehe Bossard, Von San Luca nach Covent Garden (wie Anm. 11), 147; speziell zum Libretto dass., 156–160; siehe ferner Bossard, I viaggi del Giustino (wie Anm. 11), 528–529. – Die These Ralph Kirkpatricks, Domenico Scarlatti habe in seinem Giustino (Libretto: Giulio Convò) acht Arien von Legrenzi übernommen (vgl. Domenico Scarlatti, Princeton 1953, 16), ist zurückzuweisen, vgl. Bossard, Von San Luca nach Covent Garden (wie Anm. 11), 161–162; Bossard, I viaggi del Giustino (wie Anm. 11), 530. – Nachdem namentlich Stampiglia und Convò sich stark vom Venezianer Original entfernt hatten, griff Pietro Pariati 1711 (Albinonis Musik verschollen) in zentralen Punkten wieder auf Beregan zurück. Pariatis Libretto bildete die Basis für die Giustino-Opern von Vivaldi und Händel, vgl. Reinhard Strohm, Vivaldi’s and Handel’s settings of Giustino, in: Music and Theatre. Essays in Honour of Winton Dean. Hg. Nigel Fortune. Cambridge etc. 1987, 131–158; siehe auch Bossard, Von San Luca nach Covent Garden (wie Anm. 11), 162–165.
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IV Die Anfrage vom bik im Sommer 2005 bezüglich der Schwetzinger Festspiele kam völlig überraschend. Frühere Versuche meinerseits, kompetente Musiker für eine Aufführung des Giustino zu gewinnen, waren erfolglos geblieben. Umso größer war die Freude über ein derart viel versprechendes Projekt wie dasjenige von Thomas Hengelbrock. Selbstverständlich war die Spannung beträchtlich, wie ein Werk klingen würde, das man theoretisch zwar gut kannte und von dem sich durch die intensive Arbeit auch innere Klangvorstellungen entwickelt hatten, das aber, vom eigenen Spielen am Klavier abgesehen, über all die Jahre hinweg stumm geblieben ist. Mir war seit je klar, dass es die eine gültige Lösung, wie Il Giustino konkret zum Klingen gebracht werden soll, nicht gibt; jede Realisierung verlangt den Interpreten etliche grundlegende und – bei aller Orientierung an den verfügbaren Quellen – subjektive Entscheide ab, die sie zu verantworten haben. Dass Musiker ans Werk gehen, die mit der historisch informierten Aufführungspraxis eng vertraut sind, schien mir stets eine conditio sine qua non; das gilt für Sänger und Instrumentalisten. Es ist opinio communis der Forschung, dass in den venezianischen Opernhäusern im späteren Seicento üblicherweise ein fünfstimmig notiertes Instrumentalensemble – Streicher (erste und zweite Violine, Alt- und Tenorviola) plus Basso continuo – im Einsatz stand. Die Continuogruppe bestand aus zwei Cembali (das eine für Rezitative und Arien, das andere für Instrumentalsätze), Violone und Theorbe; je nach Möglichkeiten des Theaters kamen Harfe und Orgel hinzu. Blasinstrumente fehlten, von spezifisch verlangten Trompeten (z. B. für kriegerische Arien) abgesehen.20 Chassebras de Cramailles, der höchst versierte Kommentator der Stagione 1682/83, bringt die Sache auf den Punkt, wenn er ausführt: „La Simphonie [sic] est composée de plusieurs Clavessins, Epinettes, Theorbes & Violons, qui accompagnent les Voix avec une justesse merveilleuse.“21 Auch hinsichtlich der Sänger lässt sich der Zeitzeuge Chassebras heranziehen: „Les Italiens aiment extremement les Voix de dessus, & ne goûtent pas tant les basses.“22 In der Tat überwiegen in Il Giustino – wie in den Opern jener Zeit üblich23 – die Soprane: Es handelte sich bei den Hauptrol-
20 Vgl. Eleanor Selfridge-Field, A New Chronology of Venetian Opera and Related Genres 1660– 1760. Stanford (CA) 2007, 60–61. 21 Mercure Galant, März 1683, 172–173. 22 Mercure Galant, März 1683, 171. 23 Dazu Selfridge-Field, A New Chronology of Venetian Opera (wie Anm. 20), 61.
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len in der Erstproduktion um drei Sopran-Kastraten (Anastasio, Giustino, Andronico), zwei Frauen-Soprane (Arianna, Eufemia), einen Alt-Kastraten (Vitaliano) und einen Tenor (Amantio, kleinere Rolle). Die Buffopartie des Dieners Brillo war, ebenfalls der Norm entsprechend, ein Bass.24 Die historische Vorgabe bezüglich der Sänger eins zu eins umzusetzen, ist aus nahe liegenden Gründen nicht möglich. Giustino, Anastasio und Andronico sämtlich als Hosenrollen zu präsentieren, scheint fragwürdig. Counters zu finden, die die Sopranlage bewältigen, hielt ich lange Zeit für praktisch ausgeschlossen; doch die Aufführungen von Schwetzingen (2007) und Luxembourg (2008) sollten mich eines Besseren belehren: Den Andronico in beiden Produktionen mit Terry Wey zu besetzen, erwies sich, um dies vorwegzunehmen, als ein Glücksfall. Oktavtranspositionen männlicher Sopranpartien in die Tenor- oder Baritonlage mögen für die Bühne optische und psychologische Vorteile bringen (wie es beispielsweise im berühmten Zürcher Monteverdi-Zyklus vor dreißig Jahren im Falle des Nerone in L’incoronazione di Poppea geschah); die Maßnahme ist aber vor allem aus zwei Gründen problematisch: Zum einen spricht ein musikalisch-satztechnisches Kriterium gegen die Transposition der männlichen Sopranpartien; es wird im Fall von Il Giustino greifbar in den drei Duetten (einmal Anastasio/Arianna, zweimal Giustino/ Eufemia). Beide Stimmen sind jeweils im gleichen Klangraum angesiedelt, und keiner kommt Priorität zu. In den Imitationspassagen wechseln sie einander in der Führung ab, und bei Abschnittsenden vereinigen sie sich oft im Unisono. Wird nun der männliche Part transponiert, ergibt sich eine Entstellung des Klangbilds.25 Zum andern war die Präferenz der hohen Stimmlage in Il Giustino nicht lediglich Sache der im Mercure Galant angesprochenen Vorliebe der Italiener; vielmehr widerspiegelt die Verteilung der Rollen auf die Stimmlagen die Hierarchie der Figuren,26 wobei sich dramaturgische und soziale Hierarchie decken: Das Kaiserpaar sowie die drei Brüder Vitaliano, Andronico und Giustino gehören dem Adel an. Im vorliegenden Kontext ist namentlich der Fall des Titelhelden interessant.
24 Zur Besetzung der Erstproduktion Venezia 1683 siehe Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ (wie Anm. 11), 217–221. 25 Zu den Duetten vgl. Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 216–217. 26 Die Hierarchie der Figuren gibt sich auch in der Anzahl der Arien zu erkennen; so muss sich der Tenor Amantio mit lediglich zwei Arien begnügen, und dem Diener Brillo ist keine einzige zugewiesen; zum Vergleich: Giustino singt 18 Arien, Arianna 15, Anastasio 10, Andronico 9, Eufemia und Vitaliano je 7. Nicht eingeschlossen sind hier drei Strophenarien (Eufemia /Andronico, Eufemia /Giustino, Arianna /Anastasio) sowie drei Duette (eines zwischen Arianna und Anastasio, zwei zwischen Eufemia und Giustino).
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Frontispiz des Librettos zu Il Giustino: Nicolò Beregan, Giustino melodrama da rappresentarsi nel celebre Teatro Vendramino di San Saluatore. L’anno 1683, In Venetia, Francesco Nicolini, 1683 (I-Vnm, coll. DRAMM. 956.6). Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis des Ministero per i Beni e le Attività Culturali – Biblioteca Nazionale Marciana. Reproduktion untersagt.
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Dass auch der Ackerbauer, der die Pflugschar mit dem Schwert vertauscht hat, dem Adel entstammt, wird erst gegen Schluss der Oper durch das Eingreifen eines Quasi-Deus ex machina geklärt. Den aufmerksamen Zeitgenossen von 1683 war freilich von Anbeginn klar, dass Giustino aufgrund seiner Stimmlage sich als Angehöriger des ersten Standes entpuppen sollte. Dies deutet der Held selber bereits bei seinem allerersten Auftritt dadurch an, dass er in der Arie, die die Szene eröffnet, Folgendes festhält: „O del Ciel ingiusta legge / Sollevar sovente al Regno / Chi di scettro è reso indegno, / E gettarli il Mondo al piè, / Poi far nascer trà boschi Alma di Rè“. Für diesen bedeutsamen Moment der Handlung wählte Legrenzi eine außergewöhnliche Form: Er vertonte die Arie als einzige in der ganzen Oper als Kanon.27 Im „Argomento“ des Librettos, das wie üblich zum Verkauf angeboten wurde, hatte man im voraus bereits lesen können: „Volle il Cielo, che il traballante Impero per la destra d’un Bifolco ritrovasse la sicurezza; poiche GIVSTINO lasciato l’aratro, colse ne campi di Marte palme si illustri, che meritò d’esser coronato d’Augusto alloro nel Soglio“. In diesem Kontext ist auch auf das Frontispiz des Librettos zu verweisen, das die Göttin Fortuna zeigt, wie sie dem schlafenden Helden im Traum Krone und Szepter verheißt (vgl. Abbildung).28 Nach absolutistischem Verständnis, dem die Oper verpflichtet ist, entspricht die Angehörigkeit Giustinos zur nobiltà einer Notwendigkeit: Herrscher kann nur werden, wer dem ersten Stand angehört. Ergo musste die Rolle des Giustino eine Sopranpartie sein. Sänge der Titelträger Bariton, so stünde dies nach damaligem Verständnis im Widerspruch zu seinem Stand.
V Hinsichtlich der Realisierung von Il Giustino hatte Thomas Hengelbrock keine streng historische Rekonstruktion vor Augen – dies aber durchaus unter Verwendung von Originalklanginstrumenten; er war der Überzeugung, dass aus künstlerischen Gründen von einzelnen historischen Vorgaben abzuweichen sei, nicht zuletzt mit dem Ziel, Legrenzis Oper in der heutigen Zeit eine möglichst große Resonanz zu verschaffen; folgerichtig vermerkt das Schwetzinger Programmheft auf der Titelseite: „Il Giustino […] in der Einrichtung von Thomas Hengelbrock“. Der wesentlichste Ein-
27 Vgl. Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 208–209. 28 Das Frontispiz ist gleichsam eine Illustration zu I.8.
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griff betraf das (mutmaßlich) originale Klangbild. So wurde das Streicherensemble durch Blockflöten ergänzt. Dass hiervon ein betörender Reiz ausging, steht außer Zweifel. Dennoch vertrete ich als Historiker die Position, dass die Instrumentalbesetzung bei Aufführungen in der heutigen Zeit nach Möglichkeit sich an den originalen Voraussetzungen orientieren sollte. Von daher hätte ich es vorgezogen, wenn auf die Blockflöten verzichtet worden wäre.29 Die Frage stellt sich außerdem, ob es nicht eine spannende Herausforderung sein könnte, die Oper auch ohne Flöten erfolgreich zur Wirkung zu bringen, dies im Sinn der Denkfigur in Igor Strawinskys Musikalischer Poetik: Meine Freiheit wird umso größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Wer mich eines Widerstandes beraubt, beraubt mich einer Kraft. Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von Ketten, die den Geist fesseln.30
Der Continuo-Apparat ist für Il Giustino absolut essentiell. Seine Relevanz ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass rund 85% der Arien – das Total der häufig kurzen Stücke beträgt 81 (Duette und kleine Ensembles inbegriffen) – ausschließlich vom Continuo begleitet werden.31 Rund 70% der Continuo-Arien weisen gemäß der Venezianer Hauptquelle ein Ritornello auf. Nun ist aber daran zu erinnern, dass in A die Instrumentalpartien weitgehend fehlen: Von den Ritornelli ist in der Regel lediglich die Basso-continuo-Stimme überliefert; in einigen Fällen findet sich zudem in einem der für die Violinstimmen ausgesparten Systeme ein kurzes Incipit. Erschwerend kommt hinzu, dass A bedeutend mehr Ritornelli aufweist als B und C, die lediglich rund 60% des Venezianer Bestands enthalten. Wer aufgrund des Ziels, eine möglichst große Annäherung an Venezia 1683 zu erreichen, auf die in B/C fehlenden Ritornelli nicht verzichten will, muss diese auf der Basis der jeweiligen Generalbassstimme in A rekonstruieren; dies erfordert Vertrautheit mit dem Stil des späten Seicento im Allgemeinen, 29 Es entspricht freilich einer nicht selten geübten Usanz, das originale Klangbild zu erweitern; so verwendete bereits Nikolaus Harnoncourt für die späten Venezianer Opern Monteverdis praktisch das gleiche opulente Instrumentarium wie für L’Orfeo, obwohl ausgeschlossen werden kann, dass diese Art Ensemble, die in der höfischen Kultur der Spätrenaissance wurzelt, in einem öffentlichen Venezianer Theater um 1640 zum Einsatz gelangte. 30 Igor Strawinsky, Musikalische Poetik. Übers. Heinrich Strobel. Mainz 1960, 45 [Originalausgabe Poétique musicale sous forme de six leçons (The Charles Eliot Norton lectures for 1939/40). Cambridge (Mass.) 1942]. 31 Zehn Arien sind Streicher begleitet, eine davon mit zusätzlicher obligater Trompete, und in drei Continuo begleiteten Arien kommt die mit der Singstimme konzertierende Trompete hinzu.
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mit Legrenzis Idiom im Speziellen. Für Schwetzingen /Luxembourg nahm Michael Behringer die Rekonstruktionsarbeit mit hoher Kompetenz wahr.32 Welche Continuo-Instrumente wo exakt zu verwenden sind, ist – wie üblich in der Zeit – in keiner der Giustino-Partituren festgelegt. Das betrifft selbstverständlich nicht nur die Arien, sondern auch die von Legrenzi mit großer Sorgfalt gestalteten Rezitative und Cavaten (arie cavate).33 Die Ausführung des Continuos stellt demzufolge höchste Ansprüche an die Interpreten. Dies gilt für die spezifische Verwendung der Instrumente wie auch für die Aussetzung des Generalbasses und – selbstredend – für das Musizieren. Den Continuo-Apparat vis-à-vis des sinnvollerweise klein gehaltenen Streicherensembles (je 2 Violinen und Violen plus Cello) reichhaltig zu besetzen, wie es in Schwetzingen/Luxembourg geschah, leuchtete mir sehr ein; ein farbiges Instrumentarium kommt Legrenzis Musik außerordentlich entgegen. Zusätzlich zu Violone, Theorbe, Harfe, den beiden Cembali und der Orgel kamen – je nach dramaturgischer Situation häufiger oder seltener – Gambe, Lirone, Violone, Gitarre und Regal zum Einsatz.34 Generell verstärkten beide Aufführungen – in Schwetzingen dirigierte Thomas Hengelbrock, in Luxembourg (vom Cembalo aus) Michael Behringer – meinen anhand des Partiturstudiums gewonnenen subjektiven Eindruck, dass zahlreiche Arien, namentlich die ausdrucksvollen im Tempo Adagio, einschließlich der Duette, von berührender Schönheit sind und dass von einigen der rascheren ein zündender Drive ausgeht; das ist vitale Musik ohne jede Verstaubtheit. Außerdem bestätigten sich drei analytische Befunde: Zum ersten manifestierte sich die hohe Qualität der Rezitative. Zum zweiten wurde die grundlegende Bedeutung des ariosen Bereichs zwischen Rezitativ und Arie für den Stil Legrenzis aufs überzeugendste demonstriert; dies betrifft in besonderer Weise die Cavaten, die gebührend zur Geltung kamen. Zum dritten wurde deutlich, dass Legrenzis Musik, nicht nur die Rezitative, sondern auch die Mehrheit der Arien, die Handlung trägt und transportiert. So gab es in beiden Produktionen nicht einen einzigen Moment von dem, was man im Jargon „Durchhänger“ nennt. 32 In vereinzelten Fällen waren auch Instrumentalteile in streicherbegleiteten Arien zu ergänzen; auf Behringers Arbeit ist zurückzukommen; siehe dazu IX. 33 Zu den beiden musikalischen Gestaltungsmitteln siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 66–67, 80–85 und 111–159. 34 Dazu Bossard, Il trionfo del Giustino [Schwetzinger Festspiele 2007] (wie Anm. 10), 3, und Bossard, Il Giustino [Luxembourg 2008] (wie Anm. 10), 4. Die Gitarre in gewissen Situationen wie in der Ball-Arie der Allegrezza in der Schlussszene des I. Aktes den „swingenden“ Rhythmus betonen zu lassen und das Ganze mit äußerst virtuosen Figurationen der Blockflöten anzureichern, ist vom (puristischen?) Standpunkt des Historikers kaum zu rechtfertigen; der Effekt allerdings war stupend.
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Die Neigung des Komponisten zu einer gewissen Formelhaftigkeit in vielen Arien wurde nie spürbar;35 im privaten Gespräch relativierte Hengelbrock die Nachteile einer solchen Stereotypie wie auch jene einer gewissen Simplizität einzelner melodischer Prägungen; völlig zu Recht wies er auf die ausgeprägte Fähigkeit Legrenzis hin, wirkungsvolle Theatermusik zu schreiben. Zweifelsohne hängt ein entsprechendes Resultat in hohem Maß von den Interpreten ab: Sowohl Thomas Hengelbrock als auch Michael Behringer, zwei durchaus unterschiedliche musikalische Temperamente, setzten sich mit bedingungslosem Engagement und größtem künstlerischem Erfolg für Il Giustino ein und weckten die Hoffnung, dass die Oper ihren Platz im Repertoire finden könnte; Entsprechendes wurde auch in zahlreichen Pressekommentaren vermerkt.36
VI Wie wurde das Problem der ursprünglichen Kastratenrollen angegangen? Der Antwort sei folgende Bemerkung vorausgeschickt: Weil es sich beim vorliegenden Text nicht um eine Rezension handelt, wird auf die sängerischen Leistungen nur insoweit eingegangen, als es aus der Sicht des Historikers relevant erscheint; so bleiben die durchwegs erfreulichen Leistungen der Sängerinnen und Sänger der weiblichen Sopranpartien und der originalen Tenor- und Basspartien unkommentiert.37 In Schwetzingen verkörperte die renommierte Sopranistin Elisabeth Kulman den Titelhelden hervorragend;38 in Luxembourg sang der polnische Tenor und Counter Jacek Laszczkowski den Giustino, bedauerlicherweise nicht ohne Probleme.39 35 Die angesprochene Stereotypie [siehe dazu Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 218] wurde auch von Winton Dean in seiner Besprechung der britischen GiustinoProduktion nach Bettarini von 1984 vermerkt; siehe Dean, Reports (wie Anm. 9), 519. 36 Vgl. Internet-Hinweise unten, Anm. 38 und 39. 37 Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Partie des Dieners Brillo nicht von einem professionellen Sänger, sondern von einem singenden Schauspieler bestritten wurde, was dem buffonesken Charakter der Figur durchaus zuträglich war. 38 Siehe http://archiv.kulman.info/archiv07/oper/giustino.html#pressestimmen (letzter Zugriff 10.12.2010) mit Auszügen von Pressekommentaren zur Schwetzinger Produktion insgesamt; auf die Angabe weiterer Internet-Quellen wird angesichts der unproblematischen Zugänglichkeit verzichtet. 39 Zu den Problemen anlässlich der Aufführung vom 14. November 2008 siehe auch Richard Letawe, Il Giustino de Giovanni Legrenzi à Luxembourg, 8.12.2008, http://classiqueinfo. com/article.php3?id_article=298&lang=fr (letzter Zugriff: 29.12.2010), einschließlich Würdigung der Luxemburger Produktion insgesamt; auf weitere Internet-Hinweise wird angesichts der leichten Zugänglichkeit verzichtet.
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Restlos – in technischer und stilistischer Hinsicht – zu überzeugen wusste, wie bereits erwähnt, Terry Wey als Andronico (Schwetzingen und Luxembourg); er meisterte auch schauspielerisch seinen Part vorbildlich (namentlich in der Verkleidung als Kammerzofe der kaiserlichen Schwester Eufemia). Ausgezeichnet setzte sich ebenfalls der Alt-Counter Peter Kennel in Szene, der den Aggressor Vitaliano darstellte (Schwetzingen und Luxembourg). Die Partie des Anastasio wurde für beide Produktionen von der Sopran- in die Baritonlage transponiert: So gut Georg Nigel an sich den Part meisterte, blieb doch die weiter vorne angesprochene Problematik bestehen.
VII Für die Aufführungen von Schwetzingen und Luxembourg wurden Kürzungen der Oper vorgenommen; auf die fatale Streichung der Schlussszene in Schwetzingen, verursacht durch den Regisseur Nicolas Brieger, ist später zurückzukommen. Die übrigen Kürzungen erfolgten aus grundsätzlich einsehbaren pragmatischen Gründen.40 Bei allem Verständnis hierfür gibt der Verzicht auf einzelne Arien dem Historiker Anlass zum Bedauern, und zwar weil die betreffenden Stücke besonders aussagekräftig für Legrenzis Stil sind. Stellvertretend sei hier ein Fall besprochen; er betrifft die interessante Arie „Ti lascio l’alma in pegno“ (Schluss von I.3): Anastasio verabschiedet sich von Arianna, bevor er ins Schlachtfeld gegen Vitaliano zieht; er hinterlässt ihr seine Seele als Pfand. Legrenzi hat hier ein spezielles Kompositionsverfahren angewandt, das der Textinterpretation dient. Einerseits lässt sich die strenge Ostinato-Struktur, kombiniert mit einer ausgeprägt kontrapunktischen Faktur, als adäquate musikalische Umsetzung der unerschütterlichen Gattentreue begreifen; andererseits wird das Wort „pegno“ durch die Musik als Schlüsselbegriff gedeutet: Der entsprechende Quintfall (T. 10) ist in der ganzen Arie präsent; „pegno“ ist bereits am Ende der ersten Phrase des ersten Ostinatodurchgangs im Basso continuo präfiguriert (T. 4). In der Metrik wird die auch sonst in der Oper präsente Neigung zu Großtakten erkennbar: dreimal drei Einzeltakte fügen sich (von einer einzigen Ausnahme abgesehen, T. 34–37) zu einem Großtakt.41 40 Im Schwetzinger Programmheft ist nicht nur der integrale Libretto-Text in deutscher Übersetzung wiedergegeben, sondern es werden sämtliche Streichungen kenntlich gemacht – ein vorbildliches Verfahren (siehe dazu Programmheft Il Giustino, Schwetzinger Festspiele 2007, 52–101). 41 Die Arie ist publiziert und ausführlich analysiert in Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), Notenbeispiele: Anhang 16, 295–296, Analyse: 173 und 205–207; vgl. auch
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Notenbeispiel: „Ti lascio l’alma in pegno“, Arie des Anastasio (I.3): I-Vnm, Ms. It. IV 426 (= 9950), fol. 7'/8; I-Nc, Ms. Rari 6.5.4, fol. 37–39; I-Rc, Ms. 2572, fol. 10'/11. Die Übertragung der Arie erfolgt nach I-Vnm, Ms. It. IV 426, jene des Ritornells nach I-Nc, Ms. Rari 6.5.4.
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Bossard, I viaggi del Giustino (wie Anm. 11), 509–511. Zu weiteren Ostinato-Arien in Il Giustino siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 205–208. Von den in Schwetzingen und Luxembourg gestrichenen Arien sei außerdem auf das interessante „Scherza e ride“ des Titelhelden in III.1 verwiesen; es handelt sich dabei um eine groß angelegte Da-capo-Arie mit Koloraturen, welche die Unbeständigkeit des Schicksals trefflich illustrieren, siehe Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), Notenbeispiele: Anhang 23, 311–313, Analyse: 186–188.
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VIII Die Streichung der Schlussszene in der Schwetzinger Produktion auf Veranlassung des Regisseurs Nicolas Brieger halte ich aus verschiedenen Gründen für völlig verfehlt:42 Der ärgerlichste liegt darin, dass wertvolle Musik verloren geht, darunter die prächtige Aria con tromba „Con l’aura sonora“ des Giustino, mit welcher die Oper endet.43 Nicht nur entfällt damit ein Juwel, sondern es geht auch die zwingende Abrundung des Plots verloren.
42 Es kann hier nicht um eine Gesamtwürdigung von Briegers Regiearbeit gehen; von der Position des Historikers aus beschränke ich mich auf diesen einen Punkt. 43 Dazu Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), Notenbeispiele: Anhang 8, 282–284, Analyse: 178–179, 203; Wiedergabe der Arie auch in Bossard, I viaggi del Giustino (wie Anm. 11), 1994, 503–508.
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Rudolf Bossard
Exakt dies hält Brieger für überflüssig; das „lieto fine“ habe sich bereits zuvor abgezeichnet; dem glücklichen Ende komme in einer Barockoper ,,mehr eine formale, nicht so sehr eine inhaltliche Berechtigung zu“. Wer sich einem Stück inhaltlich nähere, müsse „solche formalen Gegebenheiten zwangsläufig in Frage stellen“. Diesbezüglich sei – und hier zieht Brieger Mozarts Così fan tutte zum Vergleich heran – „zu viel passiert“: „Die Unschuld ist verloren gegangen. Es ist ein gebrochenes Ende.“44 Von daher hält er den Schluss mit dem „Verstellungskünstler“ Andronico für „sehr schön“; dieser verweise auf Amor, „der Tausende von Frauen hatte, aber es mit keiner wirklich ernst meinte“.45 Briegers Argumentation ist zu widersprechen: Bei Il Giustino kann keine Rede sein von einem „gebrochenen Ende“. Inhalt und Form lassen sich nicht auseinander dividieren. Hinter dem Vergleich mit Così fan tutte steckt ein Anachronismus: Die Individualisierung der Figuren durch die Musik, wie Mozart sie erreicht hat, ist in einer Oper von 1683 schlicht undenkbar. Geht es in Così fan tutte um eine individualpsychologische Durchdringung der Protagonisten, so dienen in Il Giustino die typenhaften Figuren als Projektionsflächen für bestimmte Affekte und bestimmte Verhaltensmuster. Von daher hat die Versöhnung zwischen Arianna und Anastasio nichts gemeinsam mit jener der Paare in der Mozart-Oper.46 Ariannas Treue gegenüber dem Gatten wird in der ganzen Oper nie in Frage gestellt – sie ist fürwahr keine Fiordiligi! Kein Schatten des Zweifels fällt auch auf die Liebe zwischen Giustino und Eufemia. Es entspricht der werkimmanenten Logik, dass der Held als Lohn für seine ruhmreichen Taten zum einen die kaiserliche Schwester zur Frau erhält und dass er zum andern in der Schlussszene den großen Triumph feiert. Schließlich gilt Andronicos Fazit in seinem letzten Auftritt (mit dem Brieger die Oper enden lässt) nicht generell für den Plot, sondern nur für ihn selber: Er vertritt den Typus, der primär sexuelle Ambitionen hat und der, um sein Ziel zu erreichen, nicht vor Gewalt zurückschreckt; ein solches Verhalten begegnet in den venezianischen Opern der Zeit ziemlich oft, ebenso die List der Verkleidung als Mittel zum Zweck.47 44 Dazu Programmheft Il Giustino, Schwetzinger Festspiele 2007, 29; das ganze Interview ebenda, 26–29. 45 Briegers Paraphrase der Arie ist ungenau; Andronico sagt, wer die Liebesfreuden genießen wolle, solle tausend Frauen vor Augen, aber keine im Herzen haben („Ch’il dolce vuol goder / Di quel bendato arcier, / Ch’è Pargoletto, / Porti mille negl’occhi, e niuna in petto“), vgl. Programmheft Il Giustino, Schwetzinger Festspiele 2007, 100. 46 Anastasio hat seiner Gemahlin aufgrund der Intrige Amantios zu Unrecht Ehebruch mit Giustino vorgeworfen. 47 Dazu Paolo Fabbri, Il secolo cantante. Per una storia del libretto d’opera nel Seicento. Bologna 2003, 217–218, und Bossard, „… prendendo quasi ogni sera il divertimento delle opere in musica …“ (wie Anm. 11), 220–221.
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Zusammengefasst kommt mir die Streichung der Schlussszene so vor, als wenn bei einem Puzzle das letzte, entscheidende Teil fehlt. In der halbszenischen Produktion des Grand Théâtre de Luxembourg unter der überzeugenden Regie von Alexander Schulin wurde die Schwetzinger Amputation außer Kraft gesetzt.48 Dies erfolgte ohne Zweifel im Sinn von Thomas Hengelbrock, der für die Radio-Übertragung des Südwestfunks vom Sonntag, 29. April 2007, neben Giustinos Schlussarie auch die ihr vorausgehenden Auftritte der allegorischen Figuren der Gloria und der Eternità (letztere mit einer außerordentlichen Cavata)49 eigens im Rokoko-Theater hatte nachspielen lassen. Diese notwendige Ergänzung betrifft auch den unverkäuflichen Schwetzinger CD-Live-Mitschnitt.
IX Im Rückblick auf die Wiederaufführungen von Il Giustino bleibt – auch aus der Distanz einiger Jahre, die seit der Schwetzinger Premiere vergangen sind – eine gewisse Irritation darüber haften, dass weder in den Programmheften noch in den Rezensionen, soweit sie mir bekannt sind, auf die konkrete Begegnung zwischen Wissenschaft und Praxis hingewiesen wurde; dementsprechend fehlen Hinweise auf mein Editionsmanuskript als Basis für die beiden Produktionen.50 In diesem Zusammenhang kann ferner nicht unerwähnt bleiben, dass die Informationen durch die Verantwortlichen während Jahren widersprüchlich waren: In den Programmheften konnte man Folgendes lesen: „Diese Aufführung basiert auf der kritischen Neuausgabe des Werkes, die im Rahmen der Edition Balthasar Neumann (herausgegeben von Thomas Hengelbrock) erschienen ist. www. kulturprojekte.com.“51 Im Internet fand sich im Anschluss an die GiustinoAufführungen der erstaunliche Hinweis: EBN 21. Giovanni Legrenzi (1626–1690), Il Giustino, Venezianische Fassung. Praktische Ausgabe (urheberrechtlich geschützt) mit musikalischen Ergänzungen, vorgelegt von Rudolf Bossard […]. Partitur und Stimmen-Leihmaterial auf Anfrage.52 48 Zur Luxemburger Produktion insgesamt siehe auch den Internet-Hinweis oben, Anm. 39. 49 Dazu Bossard, Giovanni Legrenzi: Il Giustino (wie Anm. 1), 149–151. 50 Dies gilt namentlich auch für die (zu) stark auf Inhalt und Inszenierung ausgerichtete Besprechung der Schwetzinger Premiere von Martina Wohltat, Vom Bauern zum Samurai, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. April 2007, 24. 51 Bossard, Il trionfo del Giustino [Schwetzinger Festspiele 2007] (wie Anm. 10), 3, und Bossard, Il Giustino [Luxembourg 2008] (wie Anm. 10), [3]. 52 http://www.balthasar-neumann.com/267-0-ebn-26.html (bis 11.1.2011).
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Der Verweis auf meine Person, in dieser Form selbstverständlich nicht korrekt, war ohne mein Wissen erfolgt. Ich hatte zwar einen Beitrag zum Vorwort der Edition beigesteuert, bekam aber keine Einsicht in den Verlauf des Unternehmens. Auf die zitierte Fehlinformation wurde ich erst während der Arbeit am vorliegenden Text aufmerksam. Auf meine Intervention wurde am 11. Januar 2011 folgende Berichtigung vorgenommen: „mit musikalischen Ergänzungen von Michael Behringer auf der Basis des wissenschaftlichen Manuskripts von Rudolf Bossard“.53 Nun erhielt ich aber unmittelbar nach meiner Intervention die nicht minder erstaunliche Auskunft, die Arbeit an EBN 21 sei noch gar nicht abgeschlossen. Meiner darauf folgenden Bitte, den Hinweis auf die Edition ganz vom Netz zu entfernen, wurde umgehend entsprochen. Damit scheint eine Wende zum Guten in die Wege geleitet:54 Mittlerweile bin ich im Besitz einer Kopie von Behringers Partitur, und seit Mitte Februar 2011 stehen wir in fruchtbarem Gedankenaustausch. Der Herausgeber orientiert sich nach dem Vorbild meines Manuskripts ohne jede Kürzung an Venezia 1683; das heißt, er ediert grundsätzlich nach A, bezieht aber, wo erforderlich, die Informationen von B und C ein. Hinsichtlich der Instrumentalpartien hält er sich an die fünfstimmige Notation von B. Nach dem Vorbild der Quellen lässt er jedoch die Instrumentalstimmen mit Ausnahme der originalen Hinweise auf die Tromba unbezeichnet.55 In den wenigen Fällen, in denen man lediglich auf C mit seiner vierstimmigen Anlage zurückgreifen kann, hat er den entsprechenden Part (Tenorviola) ergänzt. Dies wie auch die Rekonstruktion der in B und C fehlenden Ritornelli sowie des Instrumentalparts einer nur in A existierenden Arie erlauben Aufführungen in größtmöglicher Annäherung an Venezia 1683. Aus Gründen der Transparenz sind sämtliche Zutaten des Herausgebers kenntlich gemacht. Die in den Quellen spärliche Bezifferung hat Behringer stillschweigend erweitert; er hat jedoch auf die Aussetzung des Generalbasses ebenso verzichtet wie auf konkrete Vorschläge, welche Continuo-Instrumente an welchen Stellen zum Einsatz kommen sollen. Der prinzipielle Verzicht auf Instrumentenangaben ist zu begrüßen; denn dadurch wird jegliches Präjudiz vermieden: Die konkrete Besetzung obliegt allein der Verantwortung der Interpreten. In diesem Sinn versteht sich auch das Unterbleiben der Aussetzung des Generalbasses.
53 http://www.balthasar-neumann.com/267-0-ebn-26.html (bis 12.1.2011). 54 Ich danke an dieser Stelle Frau Katrin Wolff, der jetzigen Dramaturgin und Verantwortlichen des bik für Öffentlichkeitsarbeit, für ihre Kooperation. 55 Dabei wird die weiter oben genannte Streicherbesetzung als Standard vorausgesetzt (vgl. IV).
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Geplant ist nun die Veröffentlichung der Partitur im Internet (Edition Balthasar Neumann), versehen mit einem inzwischen abgeschlossenen Begleitkommentar von mir; der Digitaldruck wird ausschließlich auf Bestellung erfolgen.56 Aus rechtlichen Gründen darf die Publikation nicht als Kritische Edition, sondern lediglich als praktische Ausgabe vorgelegt werden.57
X Ein lieto fine also nicht nur für Il Giustino, sondern auch für die im vorliegenden Text geschilderte Begegnung zwischen Wissenschaft und Praxis: Was im Innern geklungen hat, kam zum wirklichen Klingen. Die Produktionen von Schwetzingen und Luxembourg haben verdeutlicht, dass Il Giustino ein auch im 21. Jahrhundert aufführungswürdiges Stück ist. Das Verdienst der Sänger, des Balthasar-Neumann-Ensembles, des BIK als Ganzes, vor allem aber jenes von Thomas Hengelbrock und Michael Behringer, die wohl bedeutendste Oper Legrenzis in praxi wieder zum Leben erweckt zu haben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mit dem bevorstehenden Erscheinen der Partitur verbindet sich die Hoffnung auf weitere Aufführungen in der Zukunft. Abschließend sei nicht verschwiegen, dass den Autor die Genugtuung darüber erfüllt, das Seine zur Wiedererweckung von Il Giustino beigetragen zu haben. Das ist eine Erfahrung, die nicht zum Alltag des Historikers gehört.
56 Mitteilungen von Katrin Wolff (14.2.2011 und 28.6.2011): http://www.kulturprojekte.com; http://www.thomas-hengelbrock.com; http://www.balthasar-neumann.com. 57 Die Veröffentlichung einer Kritischen Ausgabe von Il Giustino durch das bik ist von der Verwertungsgesellschaft (VG) Musikedition nicht gestattet worden; die Begründung liegt im Vorhandensein der Edition von Bettarini (siehe oben, Anm. 2). Zu VG Musikedition siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Verwertungsgesellschaft_Musikedition.
Itinéraires d’un musicien européen: l’autobiographie de Michel Farinel (1649–1726) Catherine Massip
Le nom de Farinel (en français) ou Farinelli (en italien) évoque tout naturellement un certain nombre de personnalités qui ont marqué la vie musicale en Europe aux XVIIe et XVIIIe siècles. Nous écartons de notre propos le plus fameux d’entre eux, Carlo Broschi, detto il Farinello, pour scruter l’itinéraire d’autres Farinel, originaires d’une région à la croisée des courants musicaux français et italiens, la Savoie. Le plus célèbre d’entre eux Michel Farinel est déjà connu pour avoir œuvré en France, en Espagne, au Portugal, en Angleterre, alors que son frère Jean-Baptiste faisait carrière dans le Nord de l’Europe auprès de la cour de Hanovre et de celle d’Osnabrück. L’autobiographie de Michel Farinel, souvent évoquée dans les travaux du début du XXe siècle mais depuis réputée perdue, est réapparue jointe à un volume acquis au cours de la quatrième vente de la collection de la comtesse Geneviève Thibault de Chambure en 1997 et intitulé «Abregé des concerts choisis de M. F…D. C…en VIII Livres. Basse Continüe. (d’une autre main) Contenant toutes les simphonies, les concerts du premier volume et les ouvrages pieux du second.» En tête de ce volume est insérée une double feuille imprimée portant le titre: «Les concerts choisis de M. Farinelly de Cambert conseiller du Roy recueillis par l’auteur. 1707». Cette feuille explicite le «M. F....D. C.» (Monsieur Farinelly de Cambert) et présente un texte qui offre une image beaucoup plus complète de la biographie de Michel Farinel, certes musicien originaire de la ville de Grenoble en Dauphiné, mais surtout grand voyageur. La liste des pays qu’il visita s’enrichit du Danemark et de la Suisse. Une lecture parallèle de cette autobiographie, document unique dans l’historiographie musicale en France, comparée au recueil de ses œuvres, dessine la carrière mouvementée d’un musicien européen avant l’heure qui revendique avec énergie un certain nombre d’innovations dans le langage instrumental du temps. L’autobiographie de Michel Farinel dont nous donnons la transcription en annexe donne une vision assez complète de sa vie, du moins jusqu’en 1707 et vient en complément d’autres documents connus, notamment ceux issus des archives grenobloises. On notera l’insistance avec laquelle Michel Farinel relève les noms des protecteurs nobles qu’il a rencontrés au cours
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Catherine Massip
de sa carrière, noms qui tissent un réseau complexe de relations liées en particulier à la Savoie et dont il usera une bonne partie de sa vie. Il est évident que la protection initiale de la maison de Savoie puis de celle des Orléans ont joué un grand rôle. La protection des Orléans s’exerce plus ou moins directement par l’intermédiaire de personnages qui croisent la destinée de Farinel. Son beau-père, Robert Cambert qui mourra à Londres en 1677, fut avec Pierre Perrin, introducteur des ambassadeurs de Gaston d’Orléans, frère de Louis XIII, l’un des initiateurs des premiers opéras représentés en France. Henri Guichard, intendant des bâtiments de Philippe d’Orléans, poète à ses heures, est surtout connu pour ses démêlés avec Lully à propos du privilège qui permettait de faire représenter des opéras à Paris: le long procès qui s’ensuivit en 1676 n’empêcha pas qu’il fut chargé trois ans plus tard de mener en Espagne une troupe de musiciens.1 Avant d’atteindre ces milieux parisiens ouverts aux innovations stylistiques, Michel Farinel a bénéficié d’un fort ancrage musical qui fait partie d’une tradition familiale.
Les ancêtres et autres Farinel Selon l’autobiographie de Michel Farinel, les Farinel originaires de Grèce puis de Naples seraient arrivés en France sous le règne de Henri IV. Le grand-père de Michel Farinel, Gabriel Farinel ou Farinelli, meurt en 1596 de la grande peste qui ravage le Nord de la France et laisse un fils Robert, formé à l’art musical par son oncle qui le présente à la duchesse de Savoie, Christine de France. Robert Farinel2 demeure à Turin jusqu’en 1646 puis se retire à Grenoble où il épouse Charlotte Rémond, nièce d’un personnage issu d’une noble famille génoise qui aurait terminé son existence comme curé de l’église de Saint-Egreve, village proche de Grenoble où avait été fondé un hôpital. De ce mariage sont nés deux fils Michel et Jean-Baptiste3 qui fera une bonne partie de sa carrière à la cour de Hanovre et à celle d’Osnabrück avant de mourir à Venise vers 1725.4 Un acte de mariage du
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Jérôme de La Gorce, Jean-Baptiste Lully. Paris 2002, 224–239. Jean-Gabriel Prod’homme, Les Musiciens dauphinois, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 7/1 (1905), 70. Jean-Baptiste est baptisé dans la paroisse le 30 janvier 1655, âgé de 15 jours; parrain Jean de Chepelin, marraine Martianne de Bergerand (ont signé). Voir Grove Music Online, Oxford University Press, 2005 par Marcelle Benoit et Eric Kocevar. En outre, Dictionnaire de la musique en France aux XVIIe et XVIIIe siècles. Éd. Marcelle Benoit. Paris 1993.
Itinéraires d’un musicien européen: l’autobiographie de M. Farinel (1649–1726)
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19 décembre 1673 révèle qu’ils eurent aussi une sœur, Claudine Farinel, qui épouse François Mandrin, fils de Moïse Mandrin, originaire de Beaulieu (en Isère) grâce à diverses dispenses.5 Les pièces d’archives retrouvées à Grenoble par le premier historiographe des Farinel, Edmond Maignien6 et reprises dans l’article de Prod’homme indiquent d’autres origines moins illustres. Le premier Farinel connu est François, maître joueur d’instruments, originaire d’Auvergne, qui épouse en 1620 Anne Chapaty, en présence d’Antoine Lanet, maître musicien de la cathédrale de Grenoble (on notera l’analogie avec le Monsieur Lavet de l’autobiographie). Son frère, Robert Farinel, épouse Charlotte La Violette, fille de Léon Raymond dit La Violette, un joueur d’instruments, ayant travaillé pour le maréchal duc de Lesdiguières et marié à une femme appartenant à une famille de peintre-verriers protestants; elle vivait encore en 1664. Une troisième voie est ouverte par les recherches de Jules Ecorcheville sur les musiciens de la cour de Turin appelés Farinel ou Farinelli7 confirmées par les travaux de Marie-Thérèse Bouquet8. Une première mention d’un Roberto Farinelli detto il piccolo date de 1635: il appartient bien à la musique de Madame Royale, Christine de France. Il reçoit des paiements de gages jusqu’en 1649. Un Francesco Farinel o Farinello figure en 1646 comme «primo musico di corte» aux gages de 1275 livres par an, paiement qui se poursuit jusqu’en 1671. Appelé Francesco Farinello il Grande pour le distinguer de Roberto il Piccolo, il reçoit un paiement pour ses compositions musicales en 1641–1642. A partir de 1665, un Agostino Farinello reçoit 700 lires de gages par an jusqu’en 1701; il décède en 1703. Un Stefano Farinelli figure dans les comptes de la chapelle ducale pour 400 lires par an. On le trouve mentionné pour la dernière fois en 1690. Enfin un Domenico Farinelli entre à la chapelle ducale en 1694 parmi les «musici di camera» avec des gages de 300 lires. La biographie des deux frères devient plus claire; François Farinel, d’une part, père d’Agostino et Stefano, qui accomplit toute sa carrière à la cour de Turin et y meurt en avril 1674, et Robert Farinel, père de Michel et Jean-Baptiste, d’autre part, qui revient à Grenoble et épouse Charlotte Reymond. On notera que, dans son autobiographie, 5
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Sa mère est alors décédée mais, semble-t-il, pas son père. Aucun membre de sa famille n’est présent. La signature de la jeune femme (C. farinel) est de facture élégante. Archives départementales de l’Isère, Archives municipales de Grenoble, GG 77, Registre de la paroisse Saint Hugues Saint-Jean (en ligne). Edmond Maignien, Les Artistes grenoblois. Grenoble 1887. Bibliothèque nationale de France, département de la Musique, Dossier Farinel, Papiers André Tessier. Marie-Thérèse Bouquet, Turin et les musiciens de la cour 1619–1775. Vie quotidienne et production artistique. Thèse Université de Paris IV, 1987.
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Catherine Massip
Michel Farinel, soucieux d’asseoir son assise sociale, se donne un grandpère paternel d’origine noble et oublie d’évoquer aussi bien son oncle François, musicien de Christine de Savoie, que son grand-père maternel, joueur de violon à Grenoble, ou même sa sœur, pour mettre en valeur un grandoncle curé de Saint-Egrève.
La carrière de Michel Farinel Michel, baptisé le 23 mai 1649 en la paroisse Saint-Hugues Saint-Jean de Grenoble,9 compose selon ses dires dès l’âge de 11 ou 12 ans. Il n’y a pas trace dans l’autobiographie de l’assertion selon laquelle il aurait été à Rome l’élève de Carissimi. Celle-ci provient d’une note de Nuitter et Thoinan10 qui se réfère à un mémoire de 1695: «Raisons qui prouvent manifestement que les compositeurs de musique n’ont jamais esté et ne peuvent estre de la Communauté des anciens jongleurs et menestriers de Paris». Ce mémoire cité également par Jules Ecorcheville, situe Farinel parmi les illustres violonistes aux côtés des Mazuel et Brulard.11 En 1667, il est attaché à la maison d’Henriette d’Angleterre, «Madame» (1644–1670), fille de Charles Ier d’Angleterre, élevée en France, épouse en 1661 Philippe d’Orléans, frère de Louis XIV. Il a bénéficié de la protection de César Du Plessis-Pralin, duc de Choiseul, qui fut ambassadeur à Turin de 1632 à 1635. Brillant chef de guerre, fait maréchal en 1645, fidèle au roi et à la Régente Anne d’Autriche, il devient gouverneur de Monsieur; en 1670, il assistera Madame au cours de son ambassade auprès de Charles II. Les liens avec la Savoie et avec les Orléans peuvent expliquer comment ce
9 Prod’homme, op. cit. (note 2), 74. et Archives départementales de l’Isère, Registres de baptême en ligne. Fils de «honneste Robert Farinel et de Charlotte Rémond. Il a pour parrain «honneste Michel Raymond» et pour marraine «honneste Jeanne Raymond» (ont signé). 10 Charles Nuitter & Ernest Thoinan, Les origines de l’opéra français d’après les minutes notariales. Paris 1886, 310. 11 Jules Ecorcheville, Vingt suites d’orchestre du XVIIe siècle français, 1640–1670 publiées pour la première fois d’après un manuscrit de la Bibliothèque de Cassel et précédées d’une étude historique. Paris 1906, tome I, 28 et 32: «C’est en vain qu’ils s’écrieront: “Les joueurs de clavecin devraient se faire honneur de céder aux Srs Mazuel, Farinel et Brulard, joueurs de violon, dont ils empruntent les ouvrages pour obtenir de la réputation auprès de leurs élèves”», phrase à laquelle la partie adverse rétorque: «le mérite de ces illustres n’a jamais excédé les bornes de quelques bransles et courantes pour danser, qui ont été ensevelis avec leurs auteurs, et dont il ne serait aujourd’hui aucune mémoire sans la mauvaise foi des dits jurés.»
Itinéraires d’un musicien européen: l’autobiographie de M. Farinel (1649–1726)
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jeune musicien de vingt-deux ans se retrouve protégé par la première maison princière de France. La princesse le confie au chevalier de Bouillon avec lequel il se rend à Lisbonne en 1668 et donne un concert devant la reine de Portugal, une princesse de la maison de Savoie, Marie-Françoise de Savoie-Nemours, qui avait épousé Alphonse VI puis, après sa destitution, son frère Pierre II. Protection de courte durée puisque le chevalier de Bouillon, Constantin-Ignace (1646–1670), fils de Frédéric-Maurice de La Tour d’Auvergne, duc de Bouillon, général des galères de Malte, est tué en duel en 1670. La mort de ses deux protecteurs en 1670, l’incite à revenir à Grenoble où il trouve un poste de maître de musique du monastère de Montfleury, abbaye dominicaine ou monastère royal, situé près de Grenoble à La Tronche au pied du massif de la Chartreuse.12 La vie quelque peu mondaine que l’on mène dans ce monastère, refuge des jeunes filles de la noblesse locale, provoque en 1683 une tentative de réforme de la part de l’évêque de Grenoble Etienne Le Camus, tentative qui échoue. La préface des vers d’Henri Guichard que nous donnons plus loin incite à penser qu’en 1696, les religieuses du monastère n’ont renoncé ni à leurs concerts ni à leur maître de musique. Celui-ci revendique pour ces années certaines innovations stylistiques, préludes luthés, sonates, bruits de tempête, tremblants et fugues. Malheureusement, il ne reste rien des livres de tribune évoqués dans l’autobiographie.13 Pourtant, Michel Farinel retourne à Paris en 1672, il se lie avec Guillaume Dumanoir, roi des violons et premier des vingt-quatre violons. En 1674, il suit la cour pendant la campagne de Franche-Comté et fait jouer à Dijon un «petit opéra latin sur l’Histoire du chaste Joseph». Chargé par Dumanoir de la lieutenance du roi des violons pour le Languedoc, il met divers psaumes en musique, notamment sur la paraphrase des psaumes par Godeau. Les détails qu’il donne sur les modalités d’accession à cette lieutenance et sur les personnes qui se portent caution sont précieux mais les dates peuvent être précisées. Farinel aurait reçu une première lieutenance pour Montpellier en 167314 puis une seconde pour Nîmes le 21 janvier 1676.15 A 12 Abbaye dominicaine ou monastère royal, situé près de Grenoble à La Tronche, dans le massif de la Chartreuse, fondé en 1347. En 1683, Etienne Le Camus, évêque de Grenoble, tenta en vain de réformer le monastère qui semble ne pas avoir observé strictement la règle. 13 A la Bibliothèque Inghimbertine de Carpentras est conservé un Recueil des meilleures pièces de symphonie de M. Jean-Baptiste Lully et des autres meilleurs auteurs [Charpentier, Campra, Gautier, Labarre, Farinel, Dupin, Girard] de ce temps, Ms., XVIIIe s. 202 p. 14 Jules Ecorcheville, Vingt suites d’orchestre, op. cit. (note 11), 23. Cité par Bernard Bardet, Les violons du roi sous Louis XIV (1643–1715). Thèse Ecole des Chartes. A paraître. 15 Bernard Bardet, Les violons du roi sous Louis XIV (1643–1715). Thèse Ecole des Chartes. A paraître. Contrat passé à Paris, Archives nationales, Minutier central, C, 327.
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Catherine Massip
Montpellier, il rencontre «milord» Insiguin 16 qui le recommande à Charles II. Il se rend à Londres en 1675 où le roi le gratifie d’une pension. Un petit concert joué à Windsor devant Charles II témoigne de cette époque. En 1678, il épouse à Londres Marie-Anne Cambert, fille de Robert Cambert. Il refuse de prêter le serment de suprématie. L’acte de suprématie datant de 1563 exigeait la reconnaissance de l’autorité du souverain anglais sur toutes les affaires temporelles et spirituelles. En 1678, on y adjoignit une déclaration contre la transsubstantiation qui avait pour but d’empêcher les catholiques d’occuper une charge publique. Ce refus met un terme à un séjour de trois ans en Angleterre. L’une des traces musicales les plus évidentes de ce séjour demeure les variations sur le thème de la Folia dont la mémoire perdure jusqu’à l’époque de Hawkins qui les insère dans son histoire de la musique.17 Le poète et dramaturge Thomas d’Urfey leur avait donné une forme de popularité en les préconisant pour un texte de 1682 «The health king» (la santé du roi) qui sera publié en 1719 avec le recueil Pills to purge Melancholy. Charles II d’Angleterre le recommande alors à sa nièce Marie-Louise d’Orléans, fille d’Henriette d’Angleterre, qui part épouser le roi d’Espagne Charles II. L’épisode du voyage en Espagne est bien connu grâce à une série de conventions passées devant notaire découvertes par Marcelle Benoit. L’ambassadeur espagnol, le marquis de Las Balbases a, en effet, engagé une troupe de trente-quatre musiciens conduits par Henri Guichard,18 gentilhomme de l’entourage du duc d’Orléans, et avec lequel Farinel restera en relations. Guichard poursuit sa modeste carrière de librettiste avec Ulisse de Jean Féry Rebel (Académie royale de musique, 1703) et se signale par une critique vive du livret d’Houdar de La Motte, Le Triomphe des Arts, mis en musique par Michel de La Barre en 1703, lui aussi l’un des musiciens de l’aventure espagnole. La convention initiale prévoit que Michel Farinelly, cy devant gentilhomme pensionnaire du Roy d’Angleterre et damoiselle Marie Anne Cambert sa femme […] composera toute la musique, sinfonie et dances qui seront ordonnez pour le divertissement de leursdites Majestez Catholiques, et lad. Farinelli jouera et accompagnera du clavessin.
16 Nous n’avons pas pu identifier ce personnage. Un M. Insiguin est cité dans deux lettres de Saint Vincent de Paul en 1659. Vincent de Paul, Correspondance. Éd. Pierre Coste. Paris 1921, tome VIII. 17 John Hawkins, A General History of the Science and Practice of Music. London, printed for T. Payne, 1776, tome V, 473. Dans la réédition London, Novello, 1875, 701, le ground est attribué à Jean-Baptiste Farinel, ce qui est contredit par l’Abrégé des concerts. 18 Voir Marcelle Benoit, Les musiciens français de Marie-Louise d’Orléans, reine d’Espagne, in: Revue musicale 226 (1953–54), 48–60 et supra note 1.
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Une rémunération de 440 livres est prévue ainsi que la prise en charge des voitures jusqu’à Madrid, de la nourriture et un défraiement de 3 livres par jour. Deux œuvres composées par Farinel à cette occasion se trouvent dans l’Abrégé des concerts, le Chant de la paix joué à Fontainebleau et une Sérénade exécutée le 7 septembre 1679 au Palais Mazarin. Les Chants de la paix ont retenu l’attention du journal le Mercure galant mais beaucoup plus tard que la date indiquée par Farinel dans son autobiographie. En effet, en novembre 1701, le journal en publie les paroles avec une annonce élogieuse: Quoy que nous soyons en temps de guerre, les Connoisseurs en Musique n’ont pas laissé de gouter les Chants de la Paix, composez par Mr Farinel, conseiller du Roy, Controlleur des gages du Parlement de Grenoble, cy devant Pensionnaire de Charles II Roy d’Angleterre, et Surintendant de la musique et des Balets de Marie Louise d’Orléans, reine d’Espagne.19
D’autre part, La Vallière dans Ballets, opera, et autres ouvrages lyriques, par ordre chronologique depuis leur origine, avec une table alphabétique des ouvrages et des auteurs,20 mentionne à la date de 1704 non seulement une édition des Chants de la Paix21 mais aussi L’Union de la France et de l’Espagne; musique du sieur Farinel, paroles anonymes, livrets édités tous deux à Lyon chez Thomas Amaulri. Il est tout à fait possible que Farinel ait profité du nouveau rapprochement franco-espagnol (l’installation du petit-fils de Louis XIV qui devient Philippe V sur le trône d’Espagne) pour émettre des pièces de circonstance. Il existe bien une pièce au titre similaire22 mais elle date de 1701, ne porte pas le nom de Farinel, est due à un autre éditeur lyonnais. Bien que son exécution devant l’Académie de Lyon la rapproche d’un épisode lié à la vie de Farinel, on ne peut franchir le pas et la lui attribuer. Le nom de Farinel apparaît déjà en 1700 chez La Vallière pour le titre suivant: Concert divisé en deux parties (deux actes) et précédé d’un Prologue; paroles anonymes, musique de Farinel, in-4°.23 L’achevé d’imprimé de ce livret datant du 7 septembre 1679, celui-ci peut être aisément rapproché de la «Sérénade exécutée au Palais Mazarin le 7 septembre». En effet, on a une 19 Nous remercions Benoit Michel de nous avoir signalé cette annonce. 20 Paris, Cl. Jean-Baptiste Bauche, 1760, 135. Références déjà citées dans Nuitter et Thoinan, op. cit. (note 10). 21 Un exemplaire conservé à la Bibliothèque nationale de France sous le nom Sarinel [cote: 8 Th 3003 (A)]. 22 L’Union de la France et de l’Espagne, prologue en musique, représenté par l’Académie royale de musique de Lyon, en présence de Mgr le duc de Bourgogne et Mgr le duc de Berry. [Avec une épître dédicatoire de Leguay]. Lyon: F. Barbier, 1701. 23 La Vallière, op. cit. (note 20), 125. Conservé à la Bibliothèque nationale de France (cote: Yf 752). Numérisé.
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idée du contenu de ce petit opéra grâce au livret et à ce qui subsiste de la musique dans l’Abrégé. On remarque la présence de violons et de flûtes, l’alternance de récits et de chœurs, un découpage très parcellaire des séquences musicales et une grande mobilité de la basse. Néanmoins, les nombreux incipits (33) que Farinel appose systématiquement en guise de rappel sur la partie de basse chiffrée montrent, d’une part, que l’ordre des pièces indiqué par le livret n’est pas identique et que, d’autre part, environ une dizaine ne figurent pas dans le texte imprimé. Par exemple, le prologue commence par le chœur des Zephirs et des Divinitez champestres «Publions la victoire» et non par le récit de Vénus «D’un jene cœur». Le nom du seul rôle indiqué dans la musique est aussi différent (le «dialogue Lysandre Vous m’aviez tant» dans l’Abrégé correspond à l’air de Lycidas sur le même incipit dans le livret). La mémoire du scripteur semble parfois en défaut: «Que César» peut bien être «Que ces arbres» et «Point de cœur», «Pour un tendre cœur». Ces indices laissent à penser que Farinel a bien collationné tardivement cette pièce ou bien qu’elle a été exécutée avec des variantes à d’autres reprises. Pour revenir à l’aventure espagnole, un «Petit concert de Burgos présenté à Leurs Majestés Catholiques» en novembre 1679 marque aussi cette période. On sait que cette troupe de musiciens ne reste guère au-delà de 1680 ce qui donne une date éventuelle pour le départ de Farinel vers l’Italie à la suite du duc de Molfetta, gendre du marquis de Los Balbases auprès duquel il demeurera «six à neuf ans». Un Farinel apparaît dans le récit anonyme d’un voyage en Allemagne accompli en 1681.24 L’auteur accompagne le duc de Hanovre et sa suite au cours d’un voyage le long du Rhin; non loin de Mayence, le 8 mai, on lui donne l’agrément d’un divertissement On se promena pendant que les Trompettes et les Timbales redoublerent leurs fanfares, qui continuerent jusques à ce qu’on eut servi le repas. Il y eut une agreable Symphonie. Farinel la conduisoit. Depuis quelques mois il s’était donné au Duc, après avoir quitté le service du Roy de France, ne pouvant durer lontemps dans un lieu.
L’auteur ne manque pas de mentionner que les Allemands dansent au son des chansons. Il s’agit probablement de Jean-Baptiste (la date correspond aux 28 ans de l’autobiographie) mais la petite pointe à propos de son instabilité pourrait tout aussi bien convenir à son frère aîné.
24 Voyages faits en divers temps en Espagne, en Portugal, en Allemagne, en France et ailleurs par Monsieur M. Amsterdam, J. Gallet, 1699, 245. En ligne sur Gallica.
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Une carrière française? A la mort de Lully en 1687, Farinel aurait tenté de trouver un poste dans la musique royale, épisode qu’il ne mentionne pas dans l’autobiographie. En témoigne l’acte d’achat d’une charge de violon auprès d’un notaire de Versailles, pour la somme de 2808 livres.25 Fonction probablement éphémère puisque son nom n’apparaît pas dans les Etats de la musique du roi.26 En 1689, Michel Farinel retourne à Grenoble et, en 1691, il acquiert l’office d’assesseur en l’élection de Grenoble pour la somme de 5400 livres. La levée de boucliers suscitée par cette accession à une charge qui rapportait 300 livres de gages a été précisément retracée par Marcelle Benoit.27 Farinel ayant dû accumuler les arguments en faveur de ses compétences et mérites indispensables pour obtenir la charge, on le voit déjà s’exercer à la construction d’une autobiographie «honorable». Au reproche d’enseigner à chanter et à danser dans diverses maisons religieuses, il oppose qu’il a abandonné depuis longtemps la profession de maître à danser et qu’il n’a jamais fait profession de chanter. Il reconnaît simplement avoir dirigé des concerts «chez des personnes de la première qualité». Enfin le 2 septembre 1691, il produit un mémoire qui conduira à la confirmation de son poste par le Parlement de Grenoble. Outre les faits déjà connus, il prétend avoir contribué à «l’explication de plusieurs lettres en langues etrangeres trouvées aux passants qu’on soupçonnoient d’estre espions.» En 1696, il met en musique les vers spirituels d’un personnage que nous avons déjà évoqué, Henri Guichard, sieur d’Hérapine, intendant des bâtiments de Louis XIV et de Monsieur. Selon le titre28 et la préface publiée 25 Découvert par Marcelle Benoit, Les musiciens français de Marie-Louise d’Orléans, reine d’Espagne, op. cit. (note 18), 54. Achat à Jean Le Roux, 26 juin 1688. Etude de Me Tessier, Versailles. Farinel s’intitule «ci-devant surintendant de la musique et des ballets de la reine d’Espagne». Jean Le Roux était l’un des petits violons du Cabinet du roi mais un Jean Roux figure en 1688 parmi la bande des 24 violons. 26 Marcelle Benoit, Musiques du roi, Chambre, Chapelle, Ecurie. Paris 1971. 27 Marcelle Benoit, Versailles et les musiciens du roi, Paris 1971, 377–379. 28 Recueil de vers spirituels sur plusieurs passages de l’écriture et des pères pour être acommodez [sic] au chant présenté aux Dames du Royal monastère de Montfleury par Me Henri Guichard, sieur d’Herapine, conseiller du Roy en ses conseils. Grenoble, J. Verdier, 1696, 49 p. BM Grenoble. Ce recueil n’a pas été commenté par Thierry Favier, Le Chant des Muses chrétiennes. Cantiques spirituel et dévotion en France (1685–1715). Paris 2008, 101–102 qui donne par ailleurs une analyse de quelques pièces de l’Abrégé des concerts. Prod’homme relève les éléments de contenu suivants grâce aux titres imprimés: «Pour un Air avec un double. – Pour – un Recitatif varié d’Air. – Pour un Air à deux parties. – Pour un Air de Menuet. – Pour un Air de Sarabande. – Pour un Air – de Gavotte. – Pour un Air de Bourrée. – Pour un Air de Gigue, etc.» Il ajoute: «une imitation du Cantique des Cantiques remplit le cinquième du volume (de la page 9 à la page 17); c’est un véritable petit oratorio».
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par Prod’homme, cette musique était clairement destinée non seulement aux concerts du couvent des dames de Montfleury mais aussi à Farinel: AUX DAMES du ROYAL MONASTERE de Montfleury. MES DAMES, J’ay fait ce Reciieil l’Année dernière, sur la fin d’une maladie qui m’obligea de garder le lit pendant deux mois. La diminution de mes maux ayant rendu à mon esprit toute sa liberté, je me servis de celle de la Poësie, pour me faire un amusement innocent & chercher dans ces Vers le relache que j’y ay trouué .... M. Farinel ayant trouvé ceux-là du sien (ces vers de son goût) m’a témoigné qu’il seroit bien aise de les mettre en Musique, pour les faire servir, .MES DAMES, à vos recreations Spirituelles, & exercer les voix qu’il conduit dans votre Maison. J’ay pris sur cela le party de vous les presenter par avance, & d’y ajouter quelques autres paroles que j’ay accommodées de petits Airs, pour leur donner d’abord auprés de Vous celuy de la nouveaute, qui pourra se souttenir dans la suite par la composition de cet Homme illustre. Je voudrois qu’ils fussent plus dignes de Vous par eux-memes; mais la forme dont il doit les relever, les rendra plus supportables, & la matiere quoique mal employée, supléra toujours à ce qui manque à l’ouvrage.29
En 1697, voici Michel Farinel maître de chapelle de la cathédrale SaintEtienne de Toulouse, épisode pendant lequel il croise la trajectoire de Jean Gilles. Les délibérations capitulaires conservées nourrissent un peu cet intermède.30 Le 11 janvier 1697, il est noté que «le Sr Farinel, controlleur des gages du Parlement de Grenoble a composé et fit hier chanter sa musique dans le chœur pour obtenir la maîtrise de la chapelle du chapitre». Le voici donc engagé jusqu’à la Toussaint puis pour trois années supplémentaires. C’est sans compter avec les sollicitations qui encouragent les humeurs de cet éternel instable? Le 17 novembre, il demande un congé d’un mois pour «aller faire chanter au commencement de la tenue des Estats» à Montpellier.31 Ceci confirme les bonnes relations du musicien avec un personnage important, le cardinal Pierre de Bonzi (1631–1703), alors archevêque de Narbonne et de fait président des Etats du Languedoc, qui avait été archevêque de Toulouse de 1669 à 1673. La fonction pour laquelle Farinel est requise est assez lourde. En effet, la première séance des Etats se tenait un jeudi et selon l’Histoire générale du Languedoc:32 «Durant une partie du dix29 Guichard, op. cit. (note 28), non paginé. 30 Michel Prada, Un maître de musique en Provence et en Languedoc Jean Gilles (1668–1705). L’homme et l’œuvre. Béziers 1986, 32–34. Episode cité par François-Joseph Fétis, Biographie universelle des musiciens et Bibliographie générale de la musique. 2e éd. tome 3, reprint Paris 2001; article Jean Gilles. 31 Les Etats du Languedoc composés de députés-nés (donc non élus) appartenant aux trois ordres, clergé, noblesse et tiers-état, se réunissaient au moins une fois par an au cours de sessions qui duraient en principe au maximum quarante jours et qui avaient lieu en automne à Montpellier. 32 Dom Claude de Vic et Dom Vaissete, Histoire générale du Languedoc continuée et commentée jusqu’en 1830 par le chevalier Du Mège. Toulouse, J.-B. Paya, 1840–1846, tome 10, préface p. XLII (en ligne Gallica).
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septième siècle, une troupe de violons faisaient entendre une symphonie au commencement de la séance.» Après plusieurs jours consacrés à la vérification des pouvoirs, le dimanche suivant on faisait dire une messe du Saint-Esprit: «tous les membres des Etats assistaient à une procession où on portait le Saint-Sacrement. Les violons gagés par la province, contribuaient à la pompe de cette solennité, et chaque jour ils se faisaient entendre durant la messe que l’on disait avant l’ouverture de la séance.» La dernière intervention musicale se situe à la fin de la dernière séance des Etats: «les violons entraient, et après que l’on avait remercié Dieu, le président de l’assemblée qui était toujours un archevêque ou un évêque, bénissait l’assemblée.» Le registre de 1643 cité dans ce texte précise que l’on a chanté un Te Deum, coutume encore en vigueur en 1789! La suite de l’histoire appartient plutôt à la biographie de Jean Gilles. Selon son premier biographe, le Père Bougerel, Farinel remet sa démission en sa faveur, démission entérinée par le chapitre de Toulouse le 14 décembre 1697: puisque le sieur Farinel «ne reviendra point en cette ville», le poste de maître de musique vacant sera remis à Jean Gilles. Bien que Farinel ait produit quelques pièces de musique religieuse, il ne possédait pas comme Gilles l’expérience d’un compositeur élevé au sein d’une maîtrise. D’ailleurs, la double activité de Farinel comme maître de musique et comme titulaire d’un office judiciaire figure parmi les reproches que lui ont adressés les confrères du Parlement de Grenoble lors du procès de 1691. En réponse, il se défend d’exercer son métier de compositeur à titre lucratif. Estce l’une des raisons qui expliquent aussi l’absence de publication de ses œuvres musicales? En 1703, il est à Lyon pour prendre en charge l’Académie.33 Léon Vallas a fourni les pièces de cette brève aventure dans le monde de l’opéra sur laquelle Farinel émet quelques remarques amères. Celui-ci s’associe avec Auguste Tiffon, bourgeois de Lyon et Nicolas Ranc, maître à danser à Lyon, pour exploiter le privilège de l’opéra à Lyon jusqu’au 1er mars 1709. Chacun apporte 2000 livres dans la perspective de partager les profits. Espoir vain, en avril 1704, acteurs et employés assignent Farinel et Ranc en justice pour obtenir le paiement de leurs appointements et trois mois plus tard, Farinel abandonne à Ranc la direction de la troupe et tous les objets, habits, décorations et machines. A l’exception d’une représentation de Bellérophon, rien n’est connu des œuvres jouées pendant cette période. On peut émettre l’hypothèse que la tragédie Apollon transcrite dans l’Abrégé aurait pu être destinée à cette scène. 33 Léon Vallas, Un siècle de musique et de théâtre à Lyon (1668–1789). Reprint Genève 1976, 74–80.
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Après cet échec, les pérégrinations de Michel Farinel se poursuivent: en route pour le Danemark, peut-être pour rejoindre son frère, il s’arrête à Berne. La dernière date indiquée dans l’Abrégé des concerts est 1708. Michel Farinel sera inhumé à La Tronche, près de Grenoble, le 18 juin 1726, en l’église Saint-Ferjus,34 apparemment sans famille proche, son épouse étant décédée deux ans auparavant. Il semble avoir consacré ses dernières années à conduire un procès à l’encontre de son frère Jean-Baptiste, la contestation ayant pour objet le remboursement d’un prêt de 780 livres que lui avait octroyé Jean-Baptiste en 1709 pour le rachat de la Paulette35 de son office de contrôleur des gages. L’un des Mémoires rédigés à cet effet évoque les relations entre les deux frères:36 Ces deux frères ont eu un père qui leur laissa fort peu de bien. Ce fut sur Michel l’aîné que roula tout le soin de l’éducation de la famille, il éleva son frère et le mit par son aplication en état de se faire admirer dans son art, ce qui ne se fit point sans dépense, c’est un fait connu de tout Grenoble, il peut même dire avec la sincérité qui lui est si naturelle que toutes ses avances sont devenues un pur don gratuit en faveur de JeanBaptiste Farinel et sans retour de sa part.37
«Le charme de la tranquillité»: Farinel et la Suisse Selon l’Abrégé, deux pièces ont été composées en Suisse: le psaume Domine ne in furore à deux voix, deux violons et basse continue en ré majeur, à Fribourg le 24 mars 1708 et le psaume 32 en français «Justes avec plaisir, louez le tout puissant» à voix seule composé au château de Landshut aussi en 1708, siège d’un bailliage qui appartenait à la ville de Berne. Farinel souligne l’accueil qu’il y a reçu «charmé de la tranquillité qui y règne». On se plait à imaginer qu’il a profité de la quiétude de ce séjour pour réunir ses œuvres. Selon le document tardif examiné plus haut, ce séjour s’est 34 Isère, Archives départementales, La Tronche, Registres d’état-civil (consulté en ligne): «Ce 18e juin 1726 a été inhumé dans l’église de St Ferjus Sr Michel Farinel, controleur des gages de nosseigneurs de Parlement, après avoir reçu tous les sacremens, agé de soixante-dix huit ans présence de Anthoine Faucher et de François Cheval illettrés ainsi a cette fin Jullien curé.» 35 Impôt établi sous Henri IV qui prévoyait le paiement annuel d’un soixantième du prix de la charge et qui en permettait la transmission. 36 «Réponse du sieur Michel Farinel, Conseiller du Roy, Controlleur des Gages de Officiers du Parlement aux griefs proposés contre la Sentence rendue par le Vicebailly de Graisivodan». Copie: Bibliothèque nationale de France, département de la Musique, Papiers André Tessier. Dossier Farinel, p. 2. 37 «Réponse du sieur Michel Farinel», op. cit. (note 36), 2–3.
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peut-être prolongé au moins jusqu’en 1709. Ceci apparaît quand il évoque les différences de change monétaire: pour le rachat de la Paulette, son frère lui envoie «d’Hannover à Berne soixante Louis, qui ne passaient que pour 11 livres 10 sols, mais ils furent pris en France en payement de la Paulette pour 780 livres, c’est-à-dire au prix de 13 livres pièce».38 Ces transferts provoquent un litige qui occupe les deux frères au moins jusqu’ en 1722. En conclusion de son autobiographie, Farinel se revendique comme novateur, précurseur de Lully et de Corelli. S’il cite Phaeton pour le premier, ce n’est peut-être pas un hasard: un livret édité en 1688 par Thomas Amaulry qui publiera trois livrets de Farinel, témoigne de la représentation de cet opéra à l’Académie royale de musique de Lyon.39 Il regrette luimême de n’avoir pas fait imprimer ses œuvres dont il ne reste actuellement que de minces témoignages, ses variations sur La Folia reprises dans The Division Violist et popularisées par John Hawkins mais sous le nom de son frère, des pièces isolées dans des recueils manuscrits40 et enfin la seule partie de basse de ses œuvres (avec chiffrages) dans l’Abrégé des concerts. Ce recueil – considérons jusqu’à preuve du contraire qu’il s’agit d’un manuscrit autographe – est constitué de trois cahiers reliés ensemble dans un volume pourvu d’une couverture en fort carton gris qui porte le titre du recueil écrit à l’encre.41 Le premier (50 pages dont 47 paginées) contient les symphonies, le second (24 pages) les œuvres «scéniques», ballets, divertissements, cantates, le troisième enfin (40 pages) les œuvres d’inspiration religieuse en langue profane ou latine parmi lesquelles on trouve les paraphrases des psaumes de Godeau. Divers renvois lient entre eux le contenu de ces trois cahiers. Ainsi le Carillon du premier cahier (p. 24) doit être utilisé dans le Concert sur la naissance du Sauveur du troisième cahier (p. 32). Bien avant François Couperin dont on trouve très curieusement la Sicilienne transcrite anonymement à la page 30 du premier cahier (mais d’une autre main), le relevé des titres doit être mis en rapport avec la biographie du compositeur. Ainsi une longue pièce en la majeur «La Nolet» fait probablement référence à Monsieur de Nolet père, trésorier de France, mort en 1713, qui fut nommé par Louis XIV, mainteneur de l’Académie des Jeux floraux de Toulouse. Son éloge funèbre évoque: 38 Ibid., 2. En outre, Jean-Baptiste fournit à son frère 1 200 livres sous forme de trois lettres de change, ce qui laisse à Michel 80 livres destinées à l’enregistrement des lettres de naturalité de son fils né à Venise. Jean-Baptiste est alors commissaire du roi d’Angleterre à Venise. 39 Lyon, Bibliothèque municipale. 40 Carpentras, Bibliothèque Inghimbertine, Recueil de pièces, op. cit. (note 13). 41 Description détaillée du contenu dans le Catalogue général de la Bibliothèque nationale de France (www.bnf.fr).
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ce beau génie, ce parfait académicien, […] cet homme qui sut joindre à la finesse, à l’enjouement et à la délicatesse d’esprit une grâce, une disposition merveilleuse pour tous les exercices du corps, heureux assemblage qui le rendit et l’admiration de son temps, et les délices des personnes avec lesquelles il était en société.
M. de Nolet qui, selon Farinel le fit venir à Toulouse en 1697, était aussi un fin musicien qui aurait renoncé à l’art des sons, peu compatible avec son rang social, pour celui de la poésie et des belles-lettres: Décidé par un goût de famille, ou peut-être saisi par un goût presque’insurmontable il se tourna vers cet art enchanteur, qui sous l’expression figurée du chant d’Orphée et d’Amphion, a fait dire que la science mélodieuse des sons était au-dessus de toutes les autres, comme étant la figure de l’accord et de l’harmonie que l’auteur de la nature a établi sur toutes les choses créées. Malgré la noblesse de cet art, que M. de Nolet aima presque jusqu’à l’excès; malgré les grands progrès qu’il y faisait tous les jours, il ne laissa pas de craindre que ce ne fût une tâche dans sa vie, d’en faire son unique occupation.42
L’Insiguin, nom cité dans l’autobiographie, est une pièce en ré mineur (p. 15) où Farinel a précisé «notes esgales»; elle est proche de la Dragonne: s’agit-il d’une allusion aux dragonnades, triste épisode de l’histoire du Languedoc avant la révocation de l’édit de Nantes? Une pièce la Marianne porte le prénom de sa chère épouse Marie-Anne de Cambert. On peut considérer comme des «suites» les symphonies du premier cahier au nombre de vingt car le regroupement des pièces se fait par tonalité. La plupart commencent par une ouverture à la française. Farinel montre une prédilection pour les chaconnes et passacailles. Si l’on peut aisément rapprocher le psaume 148 de la période languedocienne, il est plus difficile de déterminer dans quel contexte Farinel a composé sa tragédie Apollon. En conclusion, la collecte de documents divers donne une image beaucoup plus variée d’une personnalité que l’on réduisait volontiers à un violoniste itinérant. La palette de ses compositions embrasse la plupart des genres pratiqués à l’époque, sonates, petits opéras de chambre, pièces religieuses sur paroles latines et sur paroles françaises. Ils font appel à des effectifs variés, solistes, chœurs, ensemble instrumentaux. Il reste à souhaiter que l’on retrouve un jour les six livres manquant à l’Abrégé des concerts. Mais Farinel n’a-t-il pas contribué lui-même à la construction de cette image fausse en abandonnant peu à peu ses «habits de musicien» pour une illusoire ascension sociale qui l’installait croyait-il dans le milieu de la petite noblesse de robe mais l’attachait enfin durablement à sa ville d’origine? 42 Philippe-Vincent Poitevin-Peitavi, Mémoire pour servir à l’histoire des jeux floraux. Toulouse, M.-J. Dalles, 1815, 68–70. En ligne sur Gallica. Le fils de M. de Nolet fit également partie de l’Académie des Jeux floraux.
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Annexe Mes predecesseurs estoient Grecs d’Origine, et conduisirent une Colonie au Comté de Solito dans le Royaume de Naples ou leur nom se rendit assez fameux. Gabriel Farinelly passa en France sous le Regne d’Henry Le Grand pour y faire la proffession d’Ecuyer, et dans le temps de la grande Peste on le trouva mort a genoux ayant expiré en faisant sa priere.43 Il laissa Robert son Fils tres jeune entre les mains de son beau frere Monsr. Lavet, qui avoit esté élevé Page de Madame la Marquise de Chateau Morand.44 Comme il entendoit parfaitement la Musique, et qu’il excelloit a jouer de divers instruments, il prit soin de former luy même son Nepveu a ces exercices, en suite il le presenta à Madame Christine de France qui le reçeut a son service et le conduisit à Turin45 ou il demeura jusques à l’an 1646 qu’il se retira à Grenoble, et épousa Mademoiselle Charlotte Reimond, Niepce et heritiere de Monsieur Odon issu d’une Noble famille de Genes, lequel apres avoir longtemps porté les armes avec honneur se fit Ecclesiastique, et mourut curé de St. Egrêve,46 dans la pratique constante des œuvres les plus charitables Medecin gratuit des Corps comme des ames. De ce Mariage il ne reste que mon frere qui dépuis environ 28 ans est a la Cour de S.A.E. d’Hannover avec une bonne pension, et moy, qui des l’Age d’Onze a douze ans ay Composé divers ouvrages qui m’ont acquis quelque reputation. L’an 1667, je fus presenté a Madame Henriette Duchesse d’Orleans47 par Monsr le Comte de Maugiron Gendre de Monsr. le Mareschal Duc du Plessisprâlin. S.A.R. me recommanda a Monsr. le Chevallier de Bouillon qui me fit faire sur mer la Campagne de l’An 1668. Nous fûmes a Lisbonne, ou je fis entendre mes premiers Conçerts a la Reine de Portugal. Quelque temps apres nôtre retour Madame mourut, Mons. le Chevallier fut tué par Monsr. le Marquis de Laroche Courbon, et je vins a Grenoble, où les Illustres Dames du Royal Monastère de 43 Une épidémie de peste a frappé le Nord de la France en 1596. 44 Il existe trois marquis de Châteaumorand au XVIIe siècle, le premier étant Jean-Claude de Lévis, seigneur de Chateaumorand, marié le 25 octobre 1625 avec Catherine de La Baume, mort en 1663. (sites internet: geneanet.org et geneall.fr). Aucun ne semble correspondre à la période évoquée soit le règne d’Henri IV. 45 Née à Paris en 1606, décédée à Turin en 1663, fille du roi Henri IV et de la reine Marie de Médicis, épouse en 1619 le duc Victor-Amédée de Savoie ce qui situerait le départ de Robert Farinel pour la Savoie à cette date. 46 Petite ville au Nord-Ouest de Grenoble. Une église fondée au XIe siècle reçut les reliques de Saint Agrève. 47 Henriette d’Angleterre (1644–1670), épouse Monsieur, duc d’Orléans, frère de Louis XIV en 1661. Elle mourut brusquement après avoir accompli en Angleterre une ambassade auprès de son frère Charles II.
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Monnfleury me donnerent la direction de leur Conçert. Ce fût dans les années 1669, 1670 et 1671 que je composay les premiers preludes Luthés qui ont parû en France, et plusieurs Simphonies qu’on a ensuite appellez Sonnates, et l’on peut voir dans les ançiens livres da [sic] la Tribune de ces Dames, des bruits de Tempestes, des Tremblants, des fugues battues, et des Basses obstinées qu’on adu de puis souvent imitées dans les Operas. L’an 1672 je revins à Paris, où je composay plusieurs pieces pour Monsr. Dumanoir Roy et Maistre des Maitres à dancer, et Joueurs d’Instruments de france. Lors que le Roy fit la Conqueste de la Franche Comté,48 je me rendis a Dijon où la Reine, et Monseigneur s’arresterent pendand la Campagne, et ce fut là que je Composay un petit Opera Latin, sur L’histoire du Chaste Joseph. En suite je descendis en Languedoc, où en vertu de la Lieutenance que Monsr. Dumanoir m’avoit donnée, je fis passer la Maîtrise de nos exercices dans la Generalité de Montpellier, on fit mes enquestes de vie, Mœurs etc. Mes deux témoins Ecclesiastiques furent Monsr. Nicolaï, Chanoine de St. Pierre, et Monsr Gabriel Prestre habitué de la méme Eglise, Mes deux témoins Gentils-hommes furent Monsr Le Comte de Brissac la Roquette et Monsr. de Vitrac Ecuyer du Roy, Monsr. de Miremant pour lors Juge Mage me reçeut, et ce fut dans ce temps que je composay divers Pseaumes de la Paraphrase de Monsr. De Godeau, et plusieurs motets françois qui sont parfaitement dans le goût des Cantates d’aujourd’huy. Pendant mon sejour a Montpellier, Milord Insiguin y vint, qui me favorisa d’une singuliere amitié, et a son retour en Angleterre me procura l’honneur d’estre appelé, par ordre du Roy Charles 2, à Londres, où je me rendis l’an 1675. S. M. me mit dans ses Pensionnaires et ce fut l’an 1678, que j’épousay ma Chere Marianne de Cambert Unique heritiere de son illustre famille, qui s’éteignant en elle m’a obligé de joindre son Nom au mien. L’an 1679 je refusay de prester le serment de suprematie, que le parlement exigeoit,49 et le Roy mon maitre, eut la bonté de m’envoyer à sa Niepce, qui épousoit le Roy d’Espagne, Elle me donna la sur intendance de sa musique et de ses Ballets, et je composay les divertissements qu’on luy presenta a Fontainebleau, la serenade que Monsr. le Marquis de Losbalbases luy donna dans L’Hotel Mazarin le 7 septembre 1679,50 Le Concert que Monsieur luy donna 48 La seconde conquête de la Franche-Comté par Louis XIV a lieu entre février et juillet 1674. En août-septembre 1678, les traités de Nimègue mettent fin à la Guerre de Hollande et rattachent la Franche-Comté à la France. 49 L’acte de suprématie (1563) exigeait la reconnaissance de l’autorité du souverain anglais sur toutes les affaires temporelles et spirituelles. En 1678, on y adjoignit une déclaration contre la transsubstantiation qui avait pour but d’empêcher les catholiques d’occuper une charge publique. 50 Le 1er octobre 1679 Michel Farinel et sa femme habitant rue du Chantre, paroisse SaintGermain-l’Auxerrois donnent procuration à Jean Guyon, avocat au Parlement pour traiter
Itinéraires d’un musicien européen: l’autobiographie de M. Farinel (1649–1726)
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dans le Palais Royal la veille de son départ, et je la suivis a Madrid ou je la servis jusques à ce que Monseigneur Le Duc de St Pierre, Prince de Molfetta, Souverain de Sabionnette51 etc. Me fit l’honneur de me prendre pour son Gentill’homme, je passay avec luy en Italie, et le servis en cette qualité jusques a l’an 1689, que je me retiray a Grenoble, et pris l’Office de Conseiller du Roy, Assesseur, premier Eleu de cette Generalité, et l’année suivante, j’entray dans celuy que je possede encore apresent au Parlement de Dauphiné,52 ce qui n’a pas empéché que l’an 1697 estant allé visiter Monsr. de Nolet a Toulouse, je n’aye emporté au concours la Maîtrise de L’Eglise Metropolitaine de cette Ville, et que l’an 1703 je n’aye relevé l’Academie Royale de Musique a Lion, mais la misere du temps jointe a la mauvaise foy de ceux qui me servoient me dégouterent bien tôt de cette entreprise, et m’obligerent a la quitter afin de prevenir ma ruïne totale; Resolû de m’éloigner des lieux ou je venois d’éprouver tant de sujets de déplaisirs, je prenois la route de Danemark, ou j’ay l’honneur d’estre connû tres particulierement de Monseigneur le Prince Frere du Roy,53 mais passant par Berne, charmé de la tranquilité qui y regne, et honoré par les Seigneurs de la premiere distinction de L’Estat d’une amitié dont le souvenir me sera éternellement precieux, je resolus d’y passer le temps que je destinois à estre hors de chez moi. Tout ce que j’avance ici est trop connû pour estre contredit. Qu’on examine les temps où mes ouvrages ont estez composez et l’on sera convaincû que je n’ay point imité Monsr. de Lully; par exemple mon chœur de la serenade de la Reine fut fait deux ans avant Phaëton, et il en est de même de diverses autres choses. Mes preludes, mes Sonnates, ma Marianne, ma Dragonne, ma Daphné, mon Ismène, mes folies d’Espagne et d’Angleterre, etc. Ont parû avant les piecces de Monsr Corelli, il est vray que comme je n’ay jamais souffert qu’on ait imprimé ma Musique, elle est moins commune que celle des autres Auteurs, mais elle n’en est pas moins estimée de mes amis, qui sont les seuls à qui je la consacre, ainsi il est tres constant que mes compositions sont la pure production du genie qu’il a plû a Dieu de me donner. Omnis spiritus laudet Dominum. une affaire concernant 100 livres de rente (Bibliothèque nationale de France, département de la Musique, Papiers André Tessier). 51 François-Marie Spinola, duc de San Pietro, grand d’Espagne, (1659–1727) était le gendre du marquis de Los Balbases. (Saint-Simon, Mémoires, tome 18, chap. XVI et tome 3, chap. XXII; site rouvroy.medusis.com). 52 Sur le procès soulevé par cet achat de charge, voir Marcelle Benoit, Musique à Versailles. Paris 1971, 377–379. 53 Probablement, en raison de la date supposée, le frère du roi Frédéric IV de Danemark (roi de 1699 à 1730), Charles de Danemark (1680–1729).
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Among those distinctive traits forming the unique phenomenon of Venice, its climate and meteorological conditions must rank as one of the most important. Sited in the middle of a lagoon facing the Adriatic Sea, Venice is regulated by thermal profiles markedly different from those on the mainland or other sections of the peninsula. Meteorological and atmospheric conditions in the Gulf of Venice are characterized by Alps-sea interactions and by cold outbreaks through particular gaps of the Alps chain. The weather in Venice and its nearby region is determined by winds whose direction varies in the origin and dynamics of the immediate air masses; their general fluctuation is in turn dependent upon unequal thermal conditions in the mountains and adjacent low-lying regions. Apart from the dramatic impact of these meteorological factors on the hydrodynamics, water level in the lagoon, tides and weather, they profoundly affect all aspects of Venetian lifestyle and culture. The prevalent air regimes dominating Venice include the regional Sirocco (scirocco) wind, and the strong and gusty local Bora (borea, a föhn wind, from the Latin ventus favonius).1 The Bora blows in from either the north (Alps) or from the west (the Balkans), raising temperatures and lowering humidity; it is typically accompanied by low clouds and reduced visibility.2 1
2
See Giuseppe Crestani, La Laguna di Venezia. Venice 1930; Friedrich Defant, Local winds, in: Compendium of Meteorology. Ed. Thomas F. Malone. Boston 1951, 655–73; Dario Camuffo, Francesco Tampieri and Giulio Zambon, Local mesoscale circulation over Venice as a result of the mountain-sea interaction, in: Boundary-Layer Meteorology 16 (1979), 83–92; Sabino Palmieri, Considerations on cyclonic development cases in the Mediterranean, in: Rivista di meteorologica aeronautica 37 (1977), 301–309; Dario Camuffo, Fog and related diffusion potential at Venice: two case studies, in: Boundary-Layer Meteorology 18 (1980), 453–471; Dario Camuffo, Fluctuations in wind direction at Venice, related to the origin of the air masses, in: Atmospheric Environment 15/9 (1981), 1543– 1551, and Dario Camuffo and Luigi Cavaleri, Oscillations on pollutant concentrations occurring in cold offshore flows over Venice, in: Atmospheric Environment 14/11 (1980), 1255–62. Bora winds are often associated with illnesses ranging from migraines to psychosis, and to accidents and even suicides. See Giuseppe Berrelli, Giovanni Leuzzi and Roberto Purini, On storm surges induced by the Bora wind in the Lagoon of Venice, in: International Journal of Environment and Health 1/3 (2007), 462–472.
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The Sirocco is a southeasterly to southwesterly Mediterranean wind originating over North Africa; it normally occurs within the warm zone of a cyclone passing either north or west of the region, bestowing heavy cloud cover, fog and humidity.3 The most dramatic conditions occur where those two forces either interchange or conflate. Pictorial and verbal representations of gusty and turnover winds abound in local culture. The very word “wind” (vento) in Venetian dialect is semantically rich and susceptible to subtle idiomatic combinations.4 Local literature and poetry abound with reference to personified winds, originating from their representation in classical mythology under different names (the Greek deities Anemoi and their Roman counterpart Venti). Winds are also popular symbols in Venetian painting, appearing in animated form in such varied genres as landscape or urban view, history and allegory. For example, a well-known woodcut plan of Venice Veduta Prospettica a 1516(1500) by Jacopo de’Barbari (ca. 1445– volo d’Uccello della città 1445 di Venezia 1516) depicts eight personified winds furiously blowing over the city.
Fig. 1: Jacopo de’ Barbari. Veduta Prospettica a volo d’Uccello della città di Venezia, woodcut (1500), Museo Correr, Venice.
Allegoric representation of winds remained common in Venetian painting of later periods. On an etching from Giovanni Battista Tiepolo collection Scherzi di fantasia, the two winds become a part of the painter’s paraphrase on biblical subject. 3 4
See Camuffo, Fluctuations in wind direction at Venice (as note 1), 1543–1544. For example: “vento da Levante, vento da mezzo zorno, vento da ponente, vento da tramontana, venti da mar, vento da tera, mezzo vento, quarto de vento, vento chef a tirar el fià, vento da piova, vento da mal tempo, vento maestro, etc.” See Dizionario del dialetto veneziano di Giuseppe Boerio. Venice 1829, 1465–1568.
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Fig. 2: Giambattista Tiepolo (1696–1770), Scherzi di fantasia (ca. 1743–57), etching, No. li: Fuga in Egitto, Giuseppe adora il bambino fra le braccia di Maria sull’asinello. Metropolitan Museum of Arts, The Elisha Whittelsey Collection. The Elisha Whittelsey Fund. Dodge and Pfeiffer Funds; Joseph Pulitzer Bequest. Gift of Bertina Suida Manning and Robert L. Manning, 1976.
The portrayal of wind was to become one of the most characteristic aspects of Venetian music. This essay aims to explore possible implications of meteorological and atmospheric conditions on Venetian cultural tradition, examining the musical incarnations of the winds within vocal and instrumental works by Antonio Vivaldi (1678–1741) and other Venetian composers of his generation. Vivaldi’s instrumental compositions, especially those with programmatic implications abound with musical illustrations of winds and their rhetorical satellites. Three out of his four famous solo violin concertos which make up Le Quattro Staggioni (1725) feature winds as protagonists controlling both the imagery of the attached sonnets and the music itself.5 A storm 5
Antonio Vivaldi, 12 concertos Opus 8, Il Cimento dell’armonia e dell’inventione (Amsterdam: Roger, 1825), nos. 1–4. See Paul Everett, Vivaldi. The Four Seasons and other concertos, Op. 8. Cambridge 1996. For an additional discussion of these programmatic elements see Lucca Zoppelli, Tempeste e Stravaganze: fattori estetici e ricettivi in margine alla datazione dei concerti “a programma”, in: Nuovi studi vivaldiani. Edizione e cronologia
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is depicted in the solo episode from the opening movement of La primavera (Op. 8 no. 1) “E Lampi, e tuoni ad annuntiarla eletti” (bars 45–60), with the agitated tremolo of ripieno thirty-second notes – the thunder – alternating with the arpeggiated violin solos imitating flash of lighting. Furthermore, one of the middle solo episodes in the opening movement of L’estate’ (Op. 8 no. 2) illustrates a dialogue between two winds: “Zeffiro dolce spira, mà contesa//Muove Borea improviso al suo vicino” (bars 78–110). Here Vivaldi elaborates on similar tone-painting devices: repetitive gentle triplets (zeffiro) as opposed to dotted rhythms, tempestuous passages and scales, and martellato throbbing octaves in thirty-second-notes performed by the ripieno (associated with borea and its attributes). Given that the whole episode depicts such a dynamic image, it is perhaps surprising that it is tonally stable, and even harmonically static, deploying a slow harmonic rhythm and repetition of the same minor dominant triad (as a local tonic). Its tonalharmonic retardation contrasts vividly with the following solo of the violin (bars 116–54) depicting the lamentations of the countryman over a lost harvest in summer thunderstorms (“E piange il Pastorel, perché sospesa // teme fiera borasca, e ‘l suo destino”). This episode modulates from the dominant D minor to the subdominant C minor in the clumsiest and most circuitous fashion. First, the bass rises by a leap of an augmented fourth (D-G#). Then two series of chromatic descents are employed, harmonized by modulatory elliptic progressions: G#-D# reaches a transient repose (resolution to the E minor triad in bar 124) and a second chromatic descent commences one tone higher: A#-D. In addition, this audacious progression employs enharmonic double interpretations of a chromatic chord (over Eb-D#, in bars 122–23).
critica delle opere. Ed. Francesco Fanna and Giovanni Morelli. Florence 1988, 801–810, and Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, 5 vols. New York 2010, vol. 2, 226–231.
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Ex. 1: Antonio Vivaldi. Violin concerto L’estate, Op. 8 no. 2 (RV 315), I movement, bars 116–144.
The entire Presto finale of the same concerto conjures up a fierce storm, with lashing rain, thunder and flashes of lighting: “Tuona e fulmina il Ciel e grandioso // Tronca il capo alle spiche e a’ grani alteri”. Along with the overt tone-painting devices in the solos, the depiction of the thunderstorm contains an intermediate ripieno (bars 251–269) circumscribing the subdominant minor key (C minor) by the falling fifth sequence. The opening Allegro non molto of the L’inverno (Op. 8 no. 4) depicts wild winds (“d’orrido vento”), and the Finale illustrates a conflict between warm and cold winds (“Sirocco, Borea, e tutti i Venti in guerra”), with typical rhythmic agitation, tempestuous solo violin passages and tremolo of the ripieno over harmonic retardation. For all these and many additional “wind” instrumental pieces, Vivaldi employs similar tone-painting accessories: rhythmic tumult and a quick motion in thirty-seconds, arpeggio, and changes of register. It is worth emphasizing that the “wind” tableaux are tonally stable and deploy a surprisingly leisurely pace of harmonic change. Single chord prolongations as well as more elaborate harmonic progressions that reinforce tonal stability serve to amplify the picturesque rhythmic outbursts and virtuosic passagework of the solos. One particular device, prevalently linked to “wind” imagery, is a harmonic progression with the bass in falling fifths, adorned by melodic sequences. The present essay aims at exploring the coalescence of such illustrative and rhetorical elements with the syntactical
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and harmonic function of this progression in the music of Vivaldi and his colleagues. The “wind” imagery with its picturesque paraphernalia is equally typical of Vivaldi’s vocal pieces, especially of the operatic simile arias where the protagonist’s emotional state is conveyed via analogy with natural forces and situations. In contrast with his instrumental tableaux with their prevalence of descriptive and illustrative elements, the wind metaphors in vocal compositions are more sophisticatedly elaborated within the dramatic, scenic and emotional characteristic of the personages. Here the music conveys deeper semantic and sensory meaning, going beyond the metaphorical into more expressive associations and feelings. In Venetian drama per musica during the second half of the Seicento, and especially in the new type of opera following the Arcadian reform, the imagery and symbolism of winds and other natural forces appear as a standardized allegory linked to the whole spectrum of the characters’ emotional state. Vivaldi’s operatic librettos are especially abundant in such allegorical keywords and rhetorical interplay. Winds and breezes, along with other stereotypical concetti – symbolic representation of animals (lion, hind, snake), various birds (goldfinch, nightingale, swallow), and butterflies – abound in his operatic arias.6 Wind imagery is especially prominent in the solo pieces, such as “Agitata da due venti” (Griselda 1735 II.2, Adelaide 1735 I.17 and Demetrio 1737 I.14); “Agitata da venti dall’onte // Ma cessato il rigore de’venti” (Armida al campo d’Egitto 1718 and 1738 III.5); “Amor è qual vento” (Orlando 17–32 III.5); “Son due venti infesti all’alma” (Orlando finto pazzo 1714 II.1), “Da due venti un mar turbato” (Ercole sul Termodonte 1723 II.1) and many others. Often the direct verbal use of “wind” is substituted with its rhetorical alternatives such as tempest (tempesta), thunder (tuono), storm (borasca), air vortices (vortici), flashes and lightings (lampi), high sea wave (onda), clouds (nuvole) and others. Examples abound: “Non tempesta che gli alberi sfronda” (La fida ninfa 1732 II.11), “Di Cariddi li vortici ondosi” (Arsilda, regina di Ponto 1716 III.3), “Dopo un’orrida tempesta” (Griselda 1735 III.6), “Fra l’orror della tempesta” (Siroe, re di Percia 1727 I.17), “Tuona terribile” (Semiramide 1732 III.9), “Disperato in mar turbato” (Demetrio 1737 II.13), “Ma del mare al fin tra l’onde” (Catone in Utica 1740 II.8) and “L’onda dal mar divisa” (Orlando furioso 1738 I.2). 6
See Anna Laura Bellina, Bruno Brizi and Maria Grazia Penza, I libretti vivaldiani. Recensione e collazione dei testimoni a stampa. Florence 1982, Reinhard Strohm, The operas of Antonio Vivaldi. Florence 2008. Such a depiction of human qualities via an analogy with birds and animals goes back to a rich literary and rhetorical tradition of bestiary. See Florence McCulloch, Medieval Latin and French Bestiaries. Chapell Hill (NC) 1962, Un bestiario barocco: quadri di piume del Seicento milanese: catalogo della mostra. Ed. Carlo Violani. Milan 1988, and Bestiari medievali. Ed. Luigina Morini. Turin 1996.
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The fact that most of Vivaldi’s operatic libretti were provided or adapted by local writers suggests that the wind was a symbol common to the entire Venetian tradition. Reinhard Strohm states that although libretto writing declined drastically in Italy during Vivaldi’s career, there are nine poets who prepared 15 librettos especially for Vivaldi’s music.7 Vivaldi’s compatriot librettists included such celebrated men of letters as Apostolo Zeno [Teuzzone 1718, L’Atenaide 1729, Griselda 1735, and L’oracolo in Messenia (Merope) 1738]; the poet Giovanni Palazzi (Armida al campo d’Egitto 1718); the patrician and poet Alvise Giusti (Motezuma 1733); the professional librettist Antonio Maria Lucchini (Tieteberga 1717; Dorilla in Tempe 1726–34 and Farnace 1727–38); the erudite Marchese Scipione Maffei of Verona (La fida ninfa 1732); and Count Enrico Bissari from Vicenza (La Silvia 1721). Local adaptors (including Carlo Goldoni) arranged such pre-existing libretti as Dorilla in Tempe (1734), Olimpiade (1734), Griselda (1735) and Feraspe (1739). The main type of poetic-dramatic representation in Vivaldi’s operas is a simile aria – a solo piece addressed to the audience conveying a character’s emotional or mental state via metaphorical comparison with a natural phenomenon. Marita McClymonds adds that the dramatic function of such solo piece is “to trope the action imagistically rather than forming a direct part of it”.8 Reinhard Strohm defines such imitation of nature and tone-painting as the main vehicle for emotional expression in Baroque opera in general: “The expression of the ‘affections’, human emotions, in art was the same as the imitation of nature. Therefore, tone-paintings would have the same aesthetic status or value as expressions of inner emotions.”9 Strohm further emphasizes Vivaldi’s particular predilection for tone-painting, stating that his operatic music shows a general tendency towards the imitation of nature at the expense of the presentation of human beings. […] Vivaldi often chooses a description of the visual word over that of a passion or emotion. He also chooses it over that of personality or character.10
Although this author fails to see any overall consistency in Vivaldi’s metaphoric language, we may still be able to discern some musical devices in most of his “wind” pieces that convey similar pictorial and emotional characteristics. One of these – the falling fifths sequence – represents a particularly felicitous expression of allegorical content, echoing similar type of imagery in his instrumental compositions. 7 Strohm, The Operas of Antonio (as note 6), 41–44. 8 Marita P. McClymonds, “Aria 4 (i). http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/43315?q=Aria&search. 9 Strohm, The Operas of Antonio Vivaldi (as note 6), 102. 10 Ibid., 104.
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The first (original) setting of Cisardo’s nature aria “Qual’è à l’onte de venti sol monte” from Arsilda, regina di Ponto on Domenico Lalli’s libretto (1716 II.13–14) describes the hero’s bewilderment. The violins concertante and two oboes symbolize the attack of the mountain winds, resulting in protracted melismas over falling fifths progressions.11 Similarly, the volatile sea winds are depicted in Cisardo’s opening aria “L’esperto nò chiero nel mare incostante” (I.1) where the falling fifths passage symbolizing the turbulent sea is included within the ritornello material (see example 2). The main protagonist’s opening aria “Se il cor guerriero” from Tito Manlio on a libretto by Matteo Noris (1719 I.2) also utilizes the falling fifths pattern (here within the G-minor ritornello) to illustrate gush and impetuosity. Ex. 2: Antonio Vivaldi. Arsilda, regina di Ponto (1716), Cisardo’s aria “L’esperto nò chiero nel mare incostante” (I.1), I-Tn Foà 35, f. 9, bars 1–24.
11 See Ibid., 187; Livia Pancino, “Arsilda, regina di Ponto”: per una ricostruzione della versione primitiva, in: Informazioni e studi vivaldiani 15 (1994), 51–73. In the later setting (G minor, Allegro, C) the text describes the “strong” tree and its heroic resistance against the storm.
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In Vivaldi’s late opera Griselda (1735) on Apostolo Zeno’s libretto of 1701 (revised by Carlo Goldoni in order to showcase Anna Girò’s dramatic abilities), emotional expression via nature is especially noteworthy.12 No fewer than six out of its nineteen arias are display pieces, with four boasting texts describing windy storms and shipwrecks.13 One such simile aria, Costanza’s “Agitata da due venti” from the second act, characterizes the heroine’s confounding inner struggle between love and duty (“Dal dovere e dall’amore combattuto questo core”) through a comparison with a wave buffeted by conflicting winds: “Agitata da due venti // “Freme l’onda in mar turbato”. The falling fifths bass pattern elaborated by a virtuosic melisma conveys the verbal image of “naufragar” – the frightened steersman. Wind allegory conveyed through the circular bass module of falling fifths also proves a favourite rhetorical device in Vivaldi’s non-operatic vocal works. The magnificent aria “Agitata infido flatu” illustrates this usage in the context of the Latin oratorio Juditha triumphans (1716) on Jacopo Cassetti’s text. This piece, allotted either to Holofernes or Juditha, conveys bewilderment alternating between despair and hope and is represented by an unhappy swallow tossed by the inconstant wind (“Agitata infido flatu // Dui volatu vagabundo // Maesta hirundo / It plorando / Boni ignara.”) Having established the tonic G minor, the orchestral ritornello initiates a protracted syncopated motion over the falling fifths in the bass, harmonized by a chromatic chain of unresolved seventh chords. The avoidance of articulation reflects the restless flight of the swallow. Similarly, in Vivaldi’s chamber cantatas the falling fifths sequence is firmly associated with the allegory of stormy winds, vortices and whirl12 See John Walter Hill, Vivaldi’s Griselda, in: Journal of the American Musicological Society 31/1 (Spring 1978), 53–82. 13 See Eric Cross, The Late Operas of Antonio Vivaldi 1727–1738, 2 vols. UMI Research Press 1981, vol. 1, 178, and Strohm, The Operas of Antonio Vivaldi (as note 6), 575–583.
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pools, additionally projecting the allegory of circular motion.14 In Amor, hai vinto RV 683, the cantata for alto and strings (composed between 1726 and 1731), the first aria depicts the hero’s endless wandering on a tempestuous sea: “Passo di pena in pena… // Ch’in questa e in quell’altr’onda // Urtando, urtando va.” The recurring ritornello material (as shown in example 3) deploys falling fifths harshly harmonized by suspended ninths. Michael Talbot notes that the exceptional dissonant treatment and anguished harmonization of the falling fifths progression in this aria result from the fugal design of the subject, adding that the fugal subject’s walking bass, progressing slowly by steps, eloquently expresses the word “passo,” while an inclusion of an augmented second amplifies the rhetorical message of pain (pena).15 The B section of the aria deploys a thunderstorm depiction accompanied by typical musical-rhetorical figures discussed above: Il ciel tuona e balena, // Il mar tutt’è in tempesta, // Porto non vede o sponda, // Dove approdar non sa. Ex. 3: Antonio Vivaldi, Cantata for alto and strings Amor, hai vinto RV 683, Foà 27, ff. 53–61, First aria “Passo di pena in pena” (bars 6–11).
14 Michael Talbot, The Chamber Cantatas of Antonio Vivaldi. Woodbridge 2006, 47, analyses the word-music relationships in Vivaldi’s cantatas, discerning keywords that Vivaldi perceptively transforms into figures of his musical rhetoric. 15 Ibid., 158.
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Similar description of a loop motion returning to its starting point (“partire-tornare”) in terms of the falling fifths progression is found in the first arias of the soprano cantata Nel partir da te, mio caro, RV 661 (1719) and from the alto cantata Care selve, amici prati RV 671 (“a cercar ritorno in voi”). In the second aria from the alto cantata Qual per ignoto calle RV 677 (“Qual dopo lampi e turbini”) the lover is likened to a pilgrim travelling at night along an unfamiliar path (“e il pellegrino timido ritorna a consolar”). In this piece, the brief arioso within the opening recitative also deploys the falling-fifths pattern depicting “Terribile tempesta” and “Di spessi tuoni e lampi”. The circle of fifths is widely recognized as Vivaldi’s favorite – even overused – harmonic gesture, appearing with near-annoying frequency in both vocal and instrumental non-programmatic compositions.16 Although the bass-module of falling fifths had a substantial pedigree since the early Baroque and had attained recognition elsewhere in Italy, it gradually became the foremost hallmark of works by Vivaldi, Benedetto Marcello and other Venetian composers of their time. Daniel Harrison explains its provenance and early usage by the local tradition – as a descendant of antiphonal cori spezzati technique. Peter Allsop has traced the lineage of these effects in the early-Seicento Venetian instrumental 16 Vivaldi’s over-occupation with this pattern has been repeatedly criticized by various authors. Daniel Heartz, Music in European Capitals. The Galant Style, 1720–1780. New York 2003, 198, bewails that “Even the most pathetic and touching pieces [that] include many lovely melodic ideas […] are marred at some point by mechanical sequential treatment.” Similarly, Daniel Harrison objects “Vivaldi’s quick-tempo music seems constantly either to be playing out cadential formulas or breaking into sequence.” See Daniel Harrison, Rosalia, Aloysius, and Arcangelo. A Genealogy of the Sequence, in: Journal of Music Theory 47 (2003), 1–68, quote 29.
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music back to Giovanni Gabrieli, Giovanni Battista Ricci, Dario Castello and their compatriots. It is worth to note that in Venetian polychoral canzonas and sonatas the falling-fifths progression is normally distributed between two groups of different instruments and registers.17 In describing the textural ideal of the Venetian sonata, Allsop observes that “much of the rhetoric of the Venetian sonata a2 [i. e., two solo instruments and supporting basso continuo] actually has its origins in ‘echo’ compositions,” adding that this type of composition is “essentially antiphonal rather than polyphonic.”18 Such an antiphonal nature endows additional weight to the above description of Vivaldi’s rhetorical interpretation of the falling fifths as a “dialogue” of two winds. Falling fifths bass progressions increased in popularity throughout the entire seventeenth century, becoming almost habitual, while their rhetorical usage loaded with metaphorical meaning may be traced in many vocal pieces. For example, Richard Taruskin refers to the earliest curious example of circle of fifths in a motet Passibus ambiguis (1553) by German composer Matthias Greiter. In this piece an open-ended flatward circular motion for seven moves (from F to Fb) is exploited for overtly figurative, even mannerist, purposes as symbolizing the inexorable “wheel of Fortune.” A century later, as Taruskin observed, is the full diatonic circle of fifths functioning as ostinato bass pattern in an aria “Come presto nel porto” from the third act of L’Aldimiro (1683) by Alessandro Scarlatti. Here the image of a death blow (“Vibrera colpo mortale”) is conveyed via the eightfold turnover of falling fifths that embraces every scale degree of the A-minor mode.19 Despite its wide use in the seventeenth century, the general characteristic of these falling-fifths progressions was the tonal ambiguity and centrifugal purpose, resulted from an unfixed number of sequential transpositions and an uncertainty of goal. Carl Dahlhaus considers that, within the seventeenth-century context, it was a metrically ambiguous, “aimless compositional schema,” since it lacked the definiteness of a fixed beginning and ending.20 17 Harrison, Rosalia, Aloysius, and Arcangelo (as note 16), 5. See as well Rudolf Rasch, Circular Sequences in Mozart’s Piano Sonatas, in: Tijdschrift voor muziektheorie 11/3 (2006), 178–203. Rasch examines this pattern in Mozart’s piano sonatas as both a harmonic progression and a contrapuntal voice-leading procedure, virtually ignoring their rhetorical implications. 18 Peter Allsop, The Italian ‘Trio’ Sonata: From its Origins until Corelli. Oxford 1992, 87. 19 Taruskin, The Oxford History of Western Music (as note 5), vol. 2, 178–184. 20 Carl Dahlhaus, Studies on the Origin of the Harmonic Tonality. Transl. Robert O. Gjerdingen. Princeton (NJ) 1990, 103–105.
Sirocco, Borea, e tutti i venti. Wind Allegory in Venetian Music
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Arcangelo Corelli has been unequivocally recognized as the composer who transformed this important technique into the main propeller of harmonic motion and syntactic process in instrumental music. Yet it was Vivaldi and his Venetian colleagues who exploited the capacity of the falling fifths’ to create new and powerful means of controlling tonal flow in order to consolidate the degrees of diatonic octave and to maintain the gravitational pull of the tonal center.21 It is especially important that Vivaldi seems to bestowing stable emotional and rhetorical meaning upon this pattern. The perplexing question is whether he utilized the circle of fifths merely as a habitual tool for syntactical prolongation, or evoked it for overtly rhetorical purposes. I aim to prove that Vivaldi’s proclivity for sequential progression by falling-fifths is not only part of his personal harmonic idiom (along with the evolution of harmonic tonality) but was deeply embedded in the typical emotional context of early Settecento Venetian music. As had been demonstrated, Vivaldi standardizes this bass pattern as a tonally static element – a circular progression through a full circuit of eight steps (metrically subdivided into four pairs where falling fifths and rising fourths alternate) within the given key. At the same time, chord changes certainly create that sense of incessant spinning for which Vivaldi’s sequential obsession has been criticized. Falling-fifths sequences thus adorn and delimit a single tonality, looping it around to its starting point.22 In addition, Vivaldi also extends the pattern through rhythmic augmentation, spreading it over independent syntactical fractions lasting from four to eight full measures. This syntactical expansion enables Vivaldi to propel the pattern from a smooth cadential prefix in the works of Corelli and his colleagues to a self-reliant unit.23 As a result, Vivaldi’s falling-fifths patterns turn large thematic blocks into closed, tonally subordinated fragments, thus encouraging expansive thematic constructions. They are often implanted within tonally closed sections such as ritornellos in arias, 21 For a fuller discussion of the falling-fifths sequence in Vivaldi, see Bella Brover-Lubovsky, Tonal space in the music of Antonio Vivaldi. Bloomington (IN) 2008, 175–184. 22 This bass pattern can be frequently found in the works of Benedetto Marcello who was almost equally prone towards the circular motion on the circle of fifths as a tool for tonal development or as preparation for a closure. Instances abound both in his cantatas and other vocal compositions and his sonatas and concertos. See, for example, 12 solos for a German flute or violin with a thorough-bass, Opus 1 (London: Walsh, no. 419) especially in nos. 1: Adagio and both Allegros; 4, 6, 10, and 12). See an analysis of sequential orbit in the finale from the D-minor oboe concerto in Taruskin, The Oxford History of Western Music (as note 5), vol. 2, 193–194. 23 In comparison, both Albinoni and Corelli usually style this eightfold chain in eighth notes, thus exhausting the full pattern in one common-time measure.
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choral and concerto movements as well as in pre-cadential melismas within arias. Along with the use of rhythmic augmentation, Vivaldi elaborates his basses with throbbing eighths or sixteenths. This combination permits, on the one hand a slow unfolding of tonality and contrapuntal clarity, and on the other rhythmic commotion, vigor and excitement. Thus the full nexus of falling fifths combines tonal stability with dynamic harmonic changes, rhetorically underpinning the wind metaphor. Vivaldi and his generation turned this pattern into a habitual compositional technique and powerful means of controlling tonal flow, linked to a typical rhetoric and imagery. These sequential whirlpools, exaggerated as they may seem, greatly contributed to his astute organization of harmonic spans, simultaneously endowing his Allegros with trademark impetuosity and dashing spirit. Thus the structural and morphological device overlaps with the rhetorical and emotional condition of his music, forming a crucial part of the “secret” of mesmerizing energy, vitality and ceaseless spinning it communicates. This interpretation enables us to approach one of the most overt constituents of Vivaldi’s musical style within the broad holistic ambience of Venetian life and the cultural tradition within which it is deeply rooted.
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Guillaume de Limoges et François Couperin ou comment enseigner la musique hors la Ménestrandise parisienne Florence Gétreau
La confrérie de Saint-Julien des Ménestriers et son hégémonie C’est avec des statuts corporatifs très restrictifs que la Communauté de Saint-Julien des Ménestriers, fondée en 1321, organisée statutairement en 1407, imposa son autorité sur l’ensemble des musiciens de Paris et du royaume pendant plusieurs siècles. C’est ce que nous apprend en détail la réédition de sa réglementation de 1659, imprimée chez Houry fils en 1753: Aucune personne regnicole1 ou étrangere, ne pourra tenir Ecole, montrer en particulier la danse ni les Jeux des Instrumens hauts & bas, s’attrouper ni jour, ni nuit, pour donner Sérénades, ou joüer desdits Instrumens en aucunes Nôces ou Assemblées publiques ou particulieres, ni pour tout ailleurs, ni généralement faire aucune chose concernant l’exercice de ladite Science, s’il n’est reçû Maître, ou agréé par ledit Roi ou ses Lieutenans, à peine de cent livres d’amende pour la premiere fois contre chacun des contrevenans, saisie & vente des Instrumens, le tout appliquable, un tiers à Sa Majesté, un tiers à la Confrairie S. Julien, & l’autre audit Roi des Violons, ou ses Lieutenants, & de punition corporelle pour la seconde […] défenses sont faites, tant aux Maîtres, qu’à toutes autres personnes, de jouër des Instrumens dans les Cabarets et lieux infâmes; Et en cas de contravention, les Instrumens des contrevenans seront sur le champ cassez et rompus, sans figure de Procès […] et les contrevenans emprisonnés pour le payement de ladite amende […].2
Luc Charles-Dominique, dans une étude fondamentale3 qui prolonge les travaux de Bernard Bernhard,4 de Paul Loubet de Sceaury5 et de François 1 2
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Comme l’indique le Trésor de la langue française informatisé (http://atilf.atilf.fr), ce mot désigne l’habitant d’un royaume. Article VI, in Statuts et Reglemens des Maîtres de Danses et Joueurs d’instrumens, tant hauts que bas, pour toutes les villes du royaume, registrés en Parlement le vingt-deuxième Août 1659. Paris, Imprimerie de D’Houry fils, 1753, 9. Luc Charles-Dominique, Les ménétriers français sous l’Ancien Régime. Paris 1994 (Préface de François Lesure). Bernard Bernhard, Recherches sur l’histoire de la corporation des ménétriers ou joueurs d’instruments de la Ville de Paris, in: Bibliothèque de l’École des Chartes, tome 3 (1841– 1842), tome 4, (1842–1843), tome 5 (1843–1844), édité aussi sous forme de fascicule à Paris, chez F. Didot frères, s.d., 28 p. On regrettera que cet opuscule ne cite pas ses sources pour nombre de textes reproduits intégralement. Paul Loubet de Sceaury, Musiciens et facteurs d’instruments de musique sous l’Ancien Régime. Statuts corporatifs. Paris 1949.
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Lesure,6 a donné la mesure des contraintes qui pesèrent sur l’exercice du métier de musicien en France sous l’Ancien Régime. Après avoir exposé comment la jonglerie fut progressivement déconsidérée en raison de son ambulance, il a mis en relief l’avènement du corporatisme des métiers qui soutint la constitution de cette communauté. L’activité ménétrière (ou Ménestrandise), florissante au XVIe siècle, concerne les instruments «tant haults que bas»; elle est pratiquée par des bandes de musiciens poly-instrumentistes (le plus souvent hautboïstes et violonistes), professionnels ou semi-professionnels, qui, par leur jeu sous commandite7 symbolisent le pouvoir civil, religieux ou militaire, le bal étant un moment privilégié où hauts et bas instruments sont mêlés. La pratique ménétrière est principalement orale et s’appuie avant tout sur les instruments monodiques. Le développement des instruments d’harmonie, l’organisation de la musique royale au XVIIe siècle, la considération dont bénéficient les musiciens de la Chapelle et de la Chambre du Roy, l’établissement d’une «Académie royale de Danse» (1661) puis d’une «Académie d’opéra en musique et vers françois» (1669) et enfin celle d’une «Académie royale de musique» (1672) sont autant de raisons qui vont entraîner le déclin de la corporation et sa mise en cause par les musiciens «harmonistes». Un Recueil d’édit, arrêt du conseil du roi, lettres patentes, mémoires et arrêts du parlement en faveur des musiciens du royaume, rédigé par le Corps de la Musique de Sa Majesté, publié par Pierre Robert Christophe Ballard en 17748 par «exprès commandements de Sa Majesté», constitue une véritable chronique sociale et juridique du conflit qui agita de 1662 à 1773 les deux partis en présence. Les raisons qui ont justifié la publication de cet ensemble de pièces à conviction sont explicitées dans son «Avertissement»: Les tentatives réitérées de la Communauté de Saint-Julien des Ménestriers pour obliger les Musiciens à se faire recevoir de cette Communauté, & à lui payer des droits auxquels ils n’ont jamais été assujettis; les Procès sans nombre qu’elle leur a suscités, soit dans la Capitale, soit dans les Provinces du Royaume, le peu de soin que l’on a pris, jusqu’à présent, de les mettre à portée de s’instruire des lois qui assurent l’honneur & la liberté de l’Art Musical, sont les motifs qui ont donné lieu à l’impression de ce Recueil.
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François Lesure, La communauté des joueurs d’instruments au XVIe siècle, in: Revue historique de droit français et étranger 31 (1953), 79–109. De nombreux contrats sont publiés par Madeleine Jurgens, Documents du minutier central concernant l’histoire de la musique (1600–1650). Paris 1967, tome 1; Paris 1974, tome 2. Voir plus particulièrement les chapitres II, «Les associations» et «Les engagements». Ce recueil est conservé à la BnF, sous la cote 8° Z Le Senne 69.17. Un autre exemplaire, intitulé Code des Musiciens ou Recueil d’édits […], sous la cote F. 26.456, a été «Donné à la Bibliothèque du Roi par Mr Besche l’Aîné, de la part du Corps de la Musique du Roy, le 18 juillet 1774».
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C’est en effet bien «la liberté de l’Art musical» qui est en cause. La première escarmouche est le fait de Guillaume Dumanoir (1615–1697), roi des ménétriers, qui s’oppose en avril 1662 à la création de l’Académie de danse. Ses requêtes devant le Parlement suscitent une réponse circonstanciée des nouveaux académistes sous forme d’un mémoire imprimé en 1663 au titre éloquent: Établissement de l’Académie royale de danse en la ville de Paris, avec un discours académique pour prouver que la danse dans sa plus noble partie n’a pas besoin des instruments de musique, et qu’elle est en tout absolument indépendante du violon.9 Les arguments avancés par ses membres les placent d’emblée sur le plan d’une lutte entre la «Noblesse» de certains praticiens face à une sorte de «Tiers État». Après avoir constaté que la danse et ses instruments avaient vécu en bonne entente pendant plusieurs siècles, qu’elle avait voulu aussi «conserver cette égalité qui fait et qui maintient les sociétez», les académistes s’opposent au fait que «le violon, enflé d’orgueil de se voir introduit dans le cabinet du plus grand des rois et de se voir favorablement écouté dans tous ses divertissemens, a voulu se donner une supériorité inouïe […] que le luth ny pas un des autres instrumens n’avoit jamais prétendue sur la danse». Trouvant «étrange» que les violons s’érigent en rois et maîtres de la danse, ils donnent le premier assaut en brocardant les violonistes de la corporation sans ménagement. L’opposition de classe est consommée en des termes qui utilisent la satire. L’affront est lancé, qui, pour la première fois, crée un amalgame dégradant entre les musiciens mendiants et ambulants de la rue, sans statut, et les ménestriers maîtres de la communauté: S’il falloit parler des qualitez nécessaires aux personnes qui dansent et à celles qui jouënt du violon, il ne seroit pas difficile de faire voir que les danseurs ont tout l’avantage, car ils doivent estre bien faits du corps. Les joueurs de violon n’ont pas besoin de cela, ils peuvent estre boîteux, aveugles et bossus sans que personne s’en scandalise; il ne leur faut que l’oreille et les bras pour bien jouër […].
Ces principes sont explicites dans un célèbre tableau de Georges de La Tour intitulé La rixe des musiciens mais dont l’interprétation iconographique a toujours été incomprise même par les meilleurs spécialistes du peintre:10
9 Paris, Pierre le Petit, 1663. De larges extraits de ce texte ont été publiés sans référence par Bernhard, op. cit. (note 4), 267–269, et repris de cet auteur par Charles-Dominique, op. cit. (note 3), 256–257, également sans précision de source. Loubet de Sceaury les avait également publiés en précisant la cote des deux exemplaires conservés, op. cit. (note 5), 82–86. 10 Malibu, The J. Paul Getty Museum (1625–1630 ou plus tôt). Voir Jean-Pierre Cuzin et Pierre Rosenberg, Georges de La Tour. Paris 1997, 104, n° 12.
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le sujet de cette bataille pour occuper la rue doit être compris comme l’attaque d’un aveugle mendiant vielleux au statut illicite, par trois ménestriers (hautbois, violon, et joueur de cornemuse, tous des hauts instruments) forts de leur monopole comme membres de la corporation.11 À la provocation par le mépris et le burlesque, Dumanoir répond aux académistes par un ouvrage intitulé Le mariage de la musique avec la dance.12 Dans un premier factum, où il décline fièrement tous ses titres («joueur de violon du Cabinet de sa Majesté, membre de sa Grand’bande, roy des joueurs d’instruments et maître à danser de France, maître de la communauté de Saint-Julien»), il démontre que les maîtres de danse donnent presque tous leurs leçons avec un violon, que l’enseigne placée à l’entrée de leur salle a pour symbole un violon, que les joueurs de violon ne sont admis dans la corporation que parce qu’ils sont «versés dans l’art de la danse», enfin que beaucoup de ses membres sont fils de maîtres de danse et d’instruments. Un deuxième texte (La plainte et les sentimens de la musique contre les entreprises et contre le livre de la Prétendue Académie de danse), inséré dans ce même ouvrage, fait apparaître la mauvaise foi des adversaires académistes, mais aussi la faiblesse des arguments de Dumanoir et sa posture sans issue. Il appelle ses opposants des «cabalistes», accordant un faux respect à ces Messieurs les «docteurs», les «précieux», les «incomparables»; il leur reproche d’avoir été les premiers à faire «bande à part», considère leurs arguments comme «inventez à plaisir» au seul «prétexte de rompre mal à propos» avec la communauté. Il manie la satire à son tour en montrant qu’il est impossible à un maître à danser de pratiquer sans la participation des instruments de musique, cette prétendue indépendance étant constamment démentie, même «par le moyen des airs que vous […] composez et que vous […] bégayez quelques fois de la langue au deffaut de poche».13
11 Florence Gétreau, La rue parisienne comme espace musical réglementé (XVIe–XXe siècle), in: Les Cahiers de la société québécoise de recherche en musique 5/1–2 (décembre 2001), «Rumeurs urbaines», 11–12, fig. 1. 12 Le mariage de la musique avec la dance, contenant la réponse au livre des treize prétendus Académistes touchant ces deux Arts. Paris, Guillaume de Luynes, 1664. La même remarque qu’à la note 7 est valable pour cet ouvrage utilisé par Bernhardt, op. cit. (note 4), 269– 273, et Charles-Dominique, op. cit. (note 3), 258–260. 13 Il faut comprendre «lorsque la poche, ou pochette, ou violon de poche, leur fait défaut».
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Déclin et déroute des ménestriers devant les harmonistes Guillaume Dumanoir perd son procès le 30 août 1662. Lorsque dix ans plus tard l’Académie royale de musique est établie14 et qu’elle exempte les Maîtres de danse de l’Académie des formalités de la maîtrise, son fils Michel Guillaume Dumanoir, qui lui succède dans toutes ses fonctions, tente de faire admettre que les académiciens soient tenus de présenter leurs lettres de maîtrise et d’en payer les droits d’enregistrement pour pouvoir jouer moyennant salaire en dehors de l’Académie, par exemple dans les bals, noces et concerts. Lully prend alors la défense de ses musiciens et un arrêt du conseil leur donne gain de cause. Les ménétriers n’ont désormais plus le monopole de la musique publique et de divertissement. Forts de cette décision, les maîtres de danse obtiennent le monopole de l’enseignement de la danse le 28 avril 1682. Michel Guillaume Dumanoir ne pouvant voir échapper les maîtres de danse à sa corporation, il attaque l’Académie de danse et obtient après dix ans de procès (arrêt du 2 novembre 1691) que les ménétriers puissent, concurremment avec l’Académie, attribuer des brevets de maîtrise et donner des leçons de danse. Dans la Déclaration du roy du 2 novembre 1691 qui met fin temporairement à ces chicaneries,15 il est établi que personne ne peut «montrer danser dans la Ville & Faubourgs de Paris» qu’il n’ai été reçu maître, à l’exception des treize membres de l’Académie de danse qui peuvent exercer et montrer l’art de la danse en toute liberté. Avant même que cette déclaration n’ait été connue et imprimée, Dumanoir, usé par ces querelles incessantes, avait démissionné de ses fonctions et de ses revenus de roi des ménétriers et avait été remplacé par quatre jurés.16 C’est eux qui engagent une nouvelle procédure, cette fois contre les professeurs de clavecin, les compositeurs et les organistes de la Chapelle du Roi qui refusent de se soumettre à la maîtrise et aux droits d’enregistrement. Leur nombre va croissant si l’on en juge par la liste imprimée par
14 Permission pour tenir Académie Royale de Musique en faveur du sieur Lully, mars 1672. Texte reproduit dans Loubet de Sceaury, op. cit. (note 5), 95–98. 15 Déclaration du roy, portant Reglement pour les Fonctions des Jurez Syndics en titre d’Office de la Communauté des maîtres à danser, & joüeurs d’Instrumens tant hauts que bas, hautbois de la Ville & Faubourgs de Paris [...], Donné à Versailles le 2 Novembre 1691. Registrée en parlement, Paris, Estienne Michallet, 1692. 16 Il s’agit dans un premier temps de Thomas Duchesne, Vincent Pesant et Jean Auber, appartenant aux vingt-quatre joueurs de violon ordinaires de la Chambre et de Jean Godefroy, maître à danser.
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Abraham Du Pradel en 1692.17 Le 16 juin 1693, ils obtiennent que «défenses soient faites à tous Particuliers d’enseigner à toucher du Clavessin sans auparavant se faire passer Maître de la Communauté».18 Mais la réponse ne se fait pas attendre. Le 10 juillet 1693, les professeurs de clavecin auxquels se sont joints Nicolas Lebègue, Guillaume Gabriel Nivers, Jean Buterne et François Couperin,19 contre-attaquent. Ils s’interrogent en effet sur le statut de leur «science» au regard de ce qui n’est pour eux qu’un «métier»: Quel raport peut-il y avoir, entre les Professeurs de Clavecin, qui sont purement des Compositeurs de Musique et des Joüeurs de Violon qui ne sont que les exécuteurs de cette musique? Quel raport aux Danseurs dont les Opérations ne regardent que la dextérité du corps; au lieu que les Compositeurs renferment dans l’esprit tout leur travail et que le Clavecin ne leur sert que d’organe pour agir, étant proprement ce que le corps est à l’âme […]. Mais encore, quelle apparence de mettre un Art libre sous un titre servile? Quelle entreprise téméraire de ces nouveaux Jurez de vouloir faire tomber la science en roture de métier? Quelle idée peut-on se former d’un Juré danseur, joüeur de violon, qui ne sçait pas seulement les premiers éléments de la composition, et qui ne connoit les Notes que par rapport à ses cordes et lignes tirées, [et veut] visiter tous les trois mois, examiner, approuver ou censurer un Compositeur de Musique dont il n’entendra pas seulement le langage en faisant expérience de sa capacité; dont l’Instrument lui sera aussi étranger dont les Règles lui seront aussi inconnues que les espaces imaginaires? Ce seroit le commencement et le vray moyen d’anéantir toutes les Sciences et les Beaux-Arts […].20
La querelle fut virulente durant deux années encore et toucha au vif deux «classes» de musiciens. Les harmonistes estimaient que les ménétriers n’étaient que «gens ramassez dont la cohue nombreuse se nommait la Ménestrandie, lesquels faisaient sauter les singes dans des cercles», le terme 17 Abraham Du Pradel, Le livre commode contenant les adresses de la ville de Paris et le trésor des almanachs pour l’année bissextile 1692. Paris, Chez la veuve de Denis Nion, 1692, reprint Minkoff, Genève 1973, 61: «Maîtres pour l’Orgue & pour le Clavecin. Messieurs le Begue, ruë Simon le Franc, Taumelin, rue de la Verrerie, Couprin, prés saint Gervais, Dandrieux, rue saint Loüis du Palais, Nivert, prés saint Sulpice, Danglebert, rue sainte Anne, Marrin, rue de l’Echelle, le Roux, rue Buterne, prés saint Paul, Montalan, rue du Cimetiere saint André, Ossu l’aîné, rue saint Denis, Ossu le cadet, Cloître saint Jacques de l’Hôpital, Garnier, rue Traversine, la Lande, Cour du Palais.» Seize autres professeurs mentionnés sont seulement Maîtres pour le Clavecin. 18 Voir Recueil d’édits, op. cit. (note 8), 1774, 2. 19 On remarquera que le jeune François Couperin ne porte pas encore officiellement le titre d’organiste de la Chapelle royale, puisqu’il ne l’obtiendra par brevet que le 26 décembre 1693 à la suite du décès de Jacques Thomelin et d’un concours organisé par Louis XIV. Cf. Marcelle Benoit, Musiques de Cour. Chapelle, Chambre, Écurie. Recueil de documents. Paris 1971, 136, O1 37, Secrétariat de la Maison du Roi, 26 décembre 1693. 20 Requête […] à nos seigneurs du Parlement, pour Jacques-Denis Thomelin, Nicolas Le Bègue, Guillaume-Gabriel Nivers et autres professeurs de clavecin, compositeurs de musique, prenant fait et cause pour leur communauté contre les jurés, maîtres à danser, joueurs de violon, Signé: Caland, 10 juillet 1693, in fol. Paris, BnF, f° Fm. 16215. Reproduit partiellement par Loubet de Sceaury, op. cit. (note 5), 105–106.
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ménétrier étant synonyme de «bateleur, de farceur et de charlatan». Symptomatique de l’exaspération des deux camps, la polémique s’empara des termes jouer et toucher, ce dernier ne convenant que pour le clavecin, le luth et l’orgue «pour la raison que l’action d’en tirer l’harmonie se fait en posant les doigts sur les touches». En mai 1695, un «Arrêt définitif de la Cour» est pris en faveur des «Compositeurs de Musique, Organistes & Professeurs de Clavessin contre les Jurés de la Communauté». Ces derniers sont déboutés de leur demande.21 C’est sans doute la fin annoncée de la Ménestrandise. Le savoir académique ne veut plus être confondu avec le savoir acquis et pratiqué par tradition orale.
Les Fastes de la grande, et Anciénne Ménestrandise Cette première victoire des organistes-clavecinistes a dû concerner le jeune François Couperin autant que ses collègues chevronnés. Et leur anoblissement en 1696 est une consécration certaine dans cette bataille pour la liberté artistique. Remarquons qu’Evrard Titon du Tillet ne touche mot, dans sa biographie de François Couperin,22 de l’engagement du jeune compositeur pour la défense d’un nouveau statut d’artiste. Seules les biographies modernes en comprendront la portée, à l’heure où l’histoire sociale de la musique ne se borne plus à celle des grands compositeurs. Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise (les voyelles manquantes, dans l’édition imprimée de Couperin, sont une parade transparente contre d’éventuelles représailles juridiques) ne prennent leur véritable signification qu’à la lumière de cette longue querelle statutaire. L’analyse de la pièce fameuse de Couperin prend alors toute sa signification.23 Pièce à programme, mais surtout véritable manifeste, elle brocarde avec férocité cette confrérie qui a lutté avec tant d’acharnement contre les clavecinistes. Elle est construite comme une pièce de théâtre burlesque, formée de cinq actes. Le premier (Ex. musical 1) est une marche «sans lenteur» qui met en scène «Les Notables et Jurés [de la] Ménestrandise». Le rythme binaire régulier a la solennité mesurée des déplacements officiels urbains qu’imposent les obligations d’une telle communauté. La basse un peu trop appuyée et régulière met déjà l’auditeur sur le chemin de l’humour surtout lorsque, au moment de la petite reprise, la pompe semble rompue par une raison extérieure au cortège. 21 Recueil d’Edits, op. cit. (note 8), 1774, 1–4. 22 Le Parnasse françois dédié au Roi, Paris, Jean-Baptiste Coignard fils, 1732, 664–665, CCLXI. 23 Voir Philippe Beaussant, François Couperin. Paris 1980, 84–92; 412– 415 et CharlesDominique, op. cit. (note 3), 267–268.
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Ex. 1: François Couperin, Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise, 1er Acte. Les Notables, et Jurés – Mxnxstrxndxsx, in: Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, 68.
Dès le second acte, l’affront est sans ménagement puisque les ménestriers font communauté avec les musiciens mendiants: ceux qu’ils réprouvent eux-même et qui sont généralement pourchassés par le Lieutenant général de police de Paris. Cet acte mêle les Viéleux et les Geux. Le premier air de vielle à roue, avec à la main gauche le bourdon continu accentué par les tours de manivelle, sonne en mineur selon une mélodie répétitive qui rap-
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pelle les airs des musiciens «routiniers» (Ex. musical 2). Le deuxième air de vielle, perché dans l’aigu, imite le son strident de cet instrument de rue et se termine par une sorte de ritournelle qui évoque le frottement continu de la roue, son archet mécanique (Ex. musical 3). Ex. 2 et 3: François Couperin, Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise, Second Acte. Les Viéleux, et les Gueux. 1er Air de Viéle; Second Air de Viéle, in: Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, 69.
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Le troisième acte est franchement divertissant lorsque «Les Jongleurs, Sauteurs; et Saltimbanques: avec Les Ours et les Singes» font leur entrée «Légèrement», et sur le mode majeur (Ex. musical 4). Couperin montre qu’il connaît l’histoire de la Ménestrandise, mais surtout qu’il utilise les formulations qui ne cesseront d’être employées par les «harmonistes» dans leur «effort pour anéantir totalement un hydre qui se reproduit sans cesse». En 1750, à nouveau en butte aux exigences du dernier «roi» des violons, Jean-Pierre Guignon, les organistes et maîtres de clavecin avaient imprimé un énième mémoire24 dans lequel on retrouve des notations qui font étrangement penser aux tableaux de Couperin. Les compositeurs indiquent en effet qu’ils se contenteront «pour mettre leur droit dans toute son évidence, de rappeler au Roi des Ménestriers quelques fastes25 de son Empire». Ils citent ensuite les Antiquités de Paris du père Dubreuil et rappellent que lors de la fondation de la corporation en 1331, Ces jongleurs ménestriers composoient une cohue nombreuse qu’on nommoit la Ménestrandie. Leur emploi étoit de faire des tours de gibeciere, de faire sauter des singes & d’exercer dans les cercles ou devant la populace, les autres fonctions de Bateleurs au son des Vielles dont ils se faisoient accompagner […]. Les Jongleurs & Appointeurs de Vielle ayant fait divorce avec les Singes après l’érection de leur Confrérie, firent des Réglemens en 1397, sous le titre de Ménestrels.26
Évoquant ensuite leur précédant conflit (il avait surgi en avril 1707, lorsque les Maîtres de danse et joueurs d’instruments, obtenant du Roi de racheter les nouveaux offices de jurés, ils déposèrent des lettres patentes qui les autorisaient aussi à «enseigner à jouer de tous les instruments de musique et tablature, de quelque espèce que ce puisse être, sans aucune exception, et notamment dans le droit d’enseigner à jouer du Clavessin, du Dessus et de la Basse de viole, du Théorbe, du Luth, de la Guitarre, de la Flûte Allemande et Traversière, non obstant tous Arrêts et Jugemens à ce contraire»), les harmonistes parlent des «Suppôts de la Confrérie de Saint-Julien» et de leur «troupe légère»,27 expression réutilisée aussi par Couperin.
24 Mémoire pour les organistes du roi & autres organistes & compositeurs de musique faisant profession d’enseigner à toucher le clavessin & les instrumens d’harmonie contre le sieur Guignon, Roi & Maître des ménestriers & les Maîtres à Danser, Joueurs d’Instrumens tant hauts que bas & hautbois. Paris, Delaguette, avril 1750, BnF, f° Fm 12131. 25 C’est nous qui soulignons. 26 Idem, 61 et 65. 27 C’est nous qui soulignons.
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Ex. 4: François Couperin, Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise, Troisième Acte. Les Jongleurs, Sauteurs; et Saltinbanques: Avec Les Ours, et les Singes, in: Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, 70.
Le quatrième acte de la pièce de Couperin devient franchement grotesque puisque «Les Invalides, ou gens Estropiés au Service de la grande Ménestrandise» avancent selon un rythme boiteux et faussement grave (la main droite évoque Les Disloqués, selon un rythme de croches pointées et de doubles croches tandis que Les Boiteux sont à la main gauche, frappant lourdement les premiers temps et le dernier quart du dernier) (Ex. musical 5).
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Ex. 5: François Couperin, Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise, Quatriéme Acte. Les Invalides: ou gens Estropiés au Service de la grande-Mxnxstrxndxsx, in: Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, 71.
Le cinquième tableau est consacré au «Désordre et déroute de toute la troupe, causés par les Yvrognes, les Singes et les Ours». Noté en 4/8, cet acte doit se jouer «Très vite». La main droite, avec son incessant mouvement ascendant et descendant, décrit la fuite des ménestriers, tandis que la basse monotone et claudicante ne permet pas d’oublier qu’il s’agit d’une
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bande lamentable (Ex. musical 6). Lorsqu’on écoute les Fastes de Couperin en les mettant en rapport avec les textes si virulents qui ont émaillé ce long conflit entre musiciens, on reste étonné de la capacité de persiflage du compositeur: la proximité verbale entre les didascalies de son «programme» et la rhétorique des procès est frappante. Ex. 6: François Couperin, Les Fastes de la grande et Anciénne Ménestrandise, Cinquième Acte. Desordre, et déroute de toute la troupe: Causés par les Yvrognes, les Singes, et les Ours, in: Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, 72.
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Appartenant au Second livre de pièces de clavecin publié en 1717 (fig. 1), cette satire musicale conclut le onzième ordre et n’a pas de rapport avec les pièces qui la précèdent. On peut supposer en tout cas qu’elle a été composée durant les années 1693–1695, à moins qu’elle ne date de la crise de 1707.
Fig. 1: François Couperin, Second Livre de pièces de Clavecin. Paris 1717, page de titre.
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Le gaillard Boiteux fait la nique aux plus grands Maîtres de Musique Souvent considérée comme unique en son genre, l’œuvre précédente peut cependant être rapprochée d’une autre pièce curieuse de Couperin: Le Gaillard-Boiteux. Figurant au Dix-huitième ordre et publiée dans le Troisième livre en 1722 (fig. 2), elle doit s’interpréter «dans le goût Burlesque». Gigue à la française, elle est notée à 2/6 mais doit plus vraisemblablement être jouée à 6/8.
Fig. 2: François Couperin, Troisième Livre de pièces de Clavecin. Paris 1722, page de titre.
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Les sauts d’octave sont maintenant à la main droite et les rythmes pointés aux deux mains amplifient le grotesque du personnage ainsi croqué (Ex. musical 7). Couperin ne nous donne-t-il pas ici un vrai portrait? Tout le laisse penser. Ex. 7-1 et 7-2: François Couperin, Le Gaillard-Boiteux, in: Troisième Livre de pièces de Clavecin. Paris 1722, 56–57.
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La surprise est alors grande de découvrir que Gérard Audran (1640–1703), l’un des graveurs les plus célèbres du XVIIe siècle, membre de l’Académie royale de peinture et sculpture, parmi une œuvre consacrée à l’histoire religieuse, aux Batailles d’Alexandre d’après Lebrun et aux portraits historiques, a laissé un unique portrait burlesque, celui d’un gaillard Boiteux, chanteur du Pont neuf.28 Cette splendide eau-forte (fig. 3) de grand 28 Roger-Armand Weigert, Bibliothèque nationale. Département des estampes. Inventaire du Fonds français. Graveurs du XVII e siècle. Paris 1939, tome 1, 139, n° 78.
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format (49,8 × 33,1 cm), non datée, signée maladroitement et de façon provocante mais fort à propos «Odran»,29 porte un titre éloquent: Voicy le Portrait et l’Eloge De ce chantre fameux Nommé Guillaume de Limoge Autrement le gaillard Boiteux
Ce chanteur de rue est assis sur le parapet du Pont neuf où il a appuyé ses deux béquilles. Ce mur est couvert de graffitis et de scènes de la rue pleines d’humour (on lit par exemple l’inscription «Malin»). Guillaume tient des feuilles volantes de chansons à la main. De sa besace dépassent des livrets imprimés sur lesquels on déchiffre: A le bon vin et Bouteille et mon amour. Ces dernières paroles sont celles d’un air rendu célèbre par une chanson à boire qui donna son timbre à plusieurs reprises au cantique «Ô Jésus mon Amour». Plusieurs recueils de Noëls imprimés au XVIIIe siècle comportent cet air bacchique.30 La lettre de cette estampe, grâce au texte de son quintil (qui fut peutêtre chanté), permet de rapprocher ce portrait de la querelle que nous avons longuement évoquée car Guillaume de Limoge, comme chanteur des rues, brave autant les ménestriers que les harmonistes: Ce Gaillard Boiteux fait / la nique / Par ses gestes et ses / façons / Aux plus grands Maitres / de Musique/ Quand il entonne ses / chansons // La Bourgeoise et La / Demoiselle / LArtizan et l’homme / de Cour/ S’il chante une Chanson/ nouvelle/ Viennent L’entendre / tour à tour // Ce chantre est bien Le / plus commode / Que l’on ait jamais / pratiqué, / Son Livre d’Airs et sa / Metode / Ne valent pas un sou / marqué // Sa conduite est assez / subtile / Cet homme a plus d’Es-/prit qu’un Boeuf / D’enseigner a toute / une ville/ Sans jamais sortir du / Pont Neuf // Qui seroit assez /temeraire / Pour oser médire / de Luy / Puis que jadis le docte / homère / Faisoit ce qu’il fait / aujourd’huy.
Sous l’Ancien Régime, les chanteurs de rue, s’ils n’étaient pas assujettis à la corporation des Ménestriers, étaient considérés comme des colporteurs et marchands ambulants.31 Ils étaient cependant tenus de ne vendre (et chanter) que des livrets et feuilles volantes imprimés par des libraires membres d’une autre corporation. Le texte de leurs chansons devait être approuvé par le Lieutenant général de police avant d’être imprimé. 29 En signant à l’envers et sans respecter l’orthographe de son nom, le graveur officiel tente-t-il de cacher son identité car un portrait satirique risque de lui faire perdre sa crédibilité? Ou bien veut-il ainsi renforcer le piquant de son portrait? 30 Voir par exemple au Musée national des Arts et Traditions populaires La Grande Bible renouvelée ou Noëls nouveaux. Troyes, Garnier le Jeune, vers 1728, 1° R 19 (3). 31 Joseph Le Floc’h, Chanteurs chansonniers sous l’Ancien Régime, in: catalogue d’exposition Musiciens des rues de Paris. Dir. Florence Gétreau. Paris 1997, 34–40.
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Fig. 3: Gérard Audran (1640–1703), Guillaume de Limoge autrement le gaillard Boiteux, eauforte, Paris, Bibliothèque nationale de France, Ed. 66 a, rés.
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Si le Gaillard Boiteux fait la nique aux plus grands maîtres de musique, c’est qu’il transmet son savoir musical par l’oralité, comme les ménestriers. Le texte imprimé des chansons (sans la musique mais avec la mention «Sur l’air de …», car les timbres étaient connus de tous) constitue un aide mémoire équivalent aux tablatures d’instrumentistes mélodistes. Au second plan de notre image, placés bien en évidence derrière le chantre du Pont neuf, la présence du Louvre et du Collège des Quatre-Nations (achevé en 1680) rappelle le pouvoir des jeunes Académies. Tous ces éléments ne peuvent que renvoyer au portrait musical de François Couperin:32 en pleine bataille pour la liberté d’enseigner la musique, ce héraut de la musique populaire parisienne a probablement accroché, un jour qu’il passait sur le Pont-neuf, le regard du compositeur dont l’orgue de Saint Gervais était à trois ponts de là. L’estampe date en tout cas de la première cabale des musiciens, celle de 1693–1695, car Gérard Audran meurt en 1703.33 En nous donnant un double portrait de Guillaume de Limoges, pour lequel aucune donnée biographique et aucun recueil de chansons n’est parvenu jusqu’à nous, Couperin, comme Audran, le font passer à la postérité. Et c’est aussi la deuxième fois que Couperin brocarde, sans le dire explicitement ici, les prétentions des musiciens populaires qui contestèrent la liberté d’exercice aux «Musiciens du royaume».
32 Nous devons au claveciniste Olivier Baumont la découverte de cette relation lors de notre exposition Musiciens des rues de Paris au Musée national des Arts et Traditions populaires, en 1997. Voir notre catalogue, op. cit. (note 30), 38 et 114, n° 41. Pour une analyse plus détaillée, voir notre article «Street Musicians of Paris: Evolution of an Image», Music in Art XXIII/1–2 (1999), 69 et «La rue parisienne comme espace musical réglementé (XVIIe–XXe siècle)», op. cit. (note 11), 13 et 22. 33 Roger-Armand Weigert, Bibliothèque nationale. Département des estampes. Inventaire du Fonds français. Graveurs du XVIIe siècle, op. cit. (note 28), 124–149, et 139, n° 78.
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La recherche d’une salle de musique ou les tribulations d’une société de concert au XVIIIe siècle Marie-Claire Mussat
«Cherche salle pouvant accueillir société de concert.» Cette petite annonce aurait pu figurer dans les journaux de bon nombre de villes de France au XVIIIe siècle. Si le salon de musique a fait alors son apparition dans les châteaux et hôtels urbains, témoignant de l’importance donnée à la pratique privée, le concept de la salle de concert reste encore à inventer dans la France de l’Ancien Régime vieillissant. Lorsqu’au lendemain de la création à Paris du Concert Spirituel (1725), les sociétés de concert fleurissent en province (Dijon en 1725, Lille en 1726, Caen et Troyes en 1728, ClermontFerrand en 1731, Moulins en 17361), le problème du lieu d’accueil et de son adéquation se pose, souvent avec acuité. Les solutions trouvées le sont au cas par cas. A Nantes, première ville de Bretagne à fonder, à l’initiative de son maire, Gérard Mellier, une Académie de musique en 1727, c’est une salle de la Bourse, au premier étage, qui accueille les gagistes, les Académiciens, amateurs ou simples souscripteurs, et leurs invités.2 Qu’en est-il à Rennes, capitale politique de la province, résidence du commandant en chef et siège du Parlement?
Un refus de principe La mention dans le registre de capitation de 1730 de trois «musiciens du Concert» permet de faire remonter la création de cette société à 1729 ou 1730. La décision est donc prise au lendemain de la venue à Rennes, en 1727 et 1728, de détachements de musiciens nantais pour la tenue des 1
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Il y eut, toutefois, quelques sociétés de concert créées avant la formation du Concert Spirituel, tels en province à Lyon (1713), Marseille (1717), Aix-en-Provence et La Rochelle (1719) ou Béziers (1723). Cf. François Lesure, Dictionnaire musical des villes de province. Paris 1999. Lionel de La Laurencie, L’Académie de Musique de Nantes à l’Hôtel de la Bourse (1737– 1767). Paris 1906.
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Etats,3 une initiative appréciée mais bien vite apparue comme une solution provisoire. Aucun document ne nous permet malheureusement de savoir dans quelle salle ces premiers concerts eurent lieu et où s’installa, à sa création, la Société du Concert. L’incendie qui ravagea le centre de la ville en décembre1720, avait, bien entendu, réduit l’offre. On aurait pu penser qu’elle avait été hébergée à l’Hôtel de Ville, il n’en est rien, comme le prouve la lettre écrite, le 27 août 1732, par l’Intendant de Bretagne, Gallois de la Tour, en charge de l’organisation de la proche tenue des Etats, aux édiles municipaux pour leur demander la mise à disposition de la grande salle de l’Hôtel de Ville car «on l’a assuré qu’il y a dans l’hôtel de ville une salle qui conviendrait pour le concert sans causer d’incommodité».4 Elle conférerait, évidemment, un certain lustre à un divertissement fort prisé des nobles qui se pressent, pour l’occasion, en très nombre dans la capitale de la province. L’Intendant reviendra sans succès à la charge. La Communauté de Ville qui entend bien rester maître des lieux et en disposer à sa guise, oppose un refus catégorique, arguant «que les hôtels de ville n’ont jamais été établis pour y tenir des divertissements publics ni des spectacles», et que la vétusté des poutres, des soliveaux et des planchers ne présente pas les garanties nécessaires en matière de sécurité. Enfin, elle tente de se décharger du problème en aiguillant l’Intendant vers le jeu de paume servant de salle de spectacle: Le Concert se peut tenir beaucoup plus gracieusement dans le jeu de paume de la poulaillerie où il y a un théâtre et un orqueste [sic] tout fait. Et comme le concert ne se tient que deux fois la semaine et que les comédiens qui y sont présentement ne représentent pas tous les jours de la semaine, Mrs les directeurs du Concert pourraient s’arranger avec le maître de la Comédie qui s’y tient présentement, sur les deux jours de la semaine qu’il leur céderait ce jeu de paume.5
La Société du Concert de Rennes ne s’est donc installée, à sa création, ni dans les locaux de l’Hôtel de Ville, comme ce fut le cas à Lille, ni dans le jeu de paume de la Poulaillerie, à cette date salle de spectacle «officielle». A-telle été hébergée dans un hôtel particulier? Nous l’ignorons. Le flou qui enveloppe ses premiers pas et le refus de la Communauté de Ville de l’ac3
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Les Etats, ou assemblée provinciale, rassemblaient un très grand nombre de nobles, des membres du haut clergé et des délégués de quarante-deux villes bretonnes. Après 1632, leur tenue fut bisannuelle et à partir de 1732, c’est essentiellement à Rennes que les Etats se réunirent. Chaque tenue était l’occasion d’organiser de grandes réjouissances, des spectacles et concerts. Madame de Sévigné en parle à plusieurs reprises dans ses lettres. Sur les musiciens retrouvés dans les registres de capitation et sur les détachements nantais, cf. Marie-Claire Le Moigne-Mussat, Musique et Société à Rennes aux XVIIIe et XIXe siècles. Genève 1988, 69–95. Arch. mun. Rennes, L 530, reg. de délib. de la Communauté de Ville. Ibid.
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cueillir témoignent des difficultés rencontrées par la jeune société. Cette quête l’a fragilisée et amenée à ne pouvoir se maintenir après quelques années d’existence. Une situation banale. A Nantes, l’Académie de musique dut aussi interrompre ses activités à plusieurs reprises.6
Une affaire d’Etat Lorsque la Société du Concert se reconstitue en 1761 à l’initiative de plusieurs citoyens, «chefs des principales familles», qui désirent fixer dans la ville des musiciens de talent, capables de jouer un rôle pédagogique actif «comme maîtres essentiels d’éducation de la jeunesse»,7 elle est accueillie par le président de Robien, soit Paul-Christophe, marquis de Robien, fils du célèbre collectionneur, né à Rennes en 1731, et, comme son père président à mortier au Parlement. Celui-ci met à sa disposition un grand pavillon dénommé le Trianon, situé au bout du jardin de son hôtel et orné de grands plafonds peints de Jouvenet. Mais dès 1763, le succès de ces concerts est tel que le lieu devient trop étroit pour contenir tous les souscripteurs. En 1765, les réparations étant urgentes, il faut évacuer le Trianon. C’est alors que «n’ayant pu se procurer un lieu commode à l’instant qu’elle se réunit»,8 la Société du concert revient vers la municipalité. La Communauté de Ville a, certes, une fois installée dans le nouvel Hôtel de Ville ( inauguré en 1743 ) construit sur la place aux arbres par l’architecte Jacques Gabriel, réaffirmé sa position et arrêté, entre autres, le 21 avril 1756 «que qui que ce soit ne pourra s’ingérer de donner des concerts, de faire des représentations dans la salle de l’Hôtel de ville sans une délibération, et l’express consentement de la Communauté.»9 Mais, divine surprise, en avril 1765, le doyen des échevins formant le Bureau Servant, un certain Bonamy, reprenant à son compte les arguments avancés par les commissaires du Concert, donne sans en référer à l’assemblée de la Communauté de Ville, son accord pour la mise à disposition «d’un appartement de l’Hôtel de Ville pour y tenir le concert».10 L’affaire semble donc réglée. C’est oublier que dans cette ville, capitale politique de la province, les pouvoirs de police sont 6 Les activités sont interrompues de 1734 à 1736, de 1743 à 1751 puis après 1767. Cf. La Laurencie, op. cit. (note 2). 7 Arch. mun. Rennes, L 545 B, délib. du Bureau Servant du 26 avril 1765. Cette délibération retrace l’histoire de la société depuis sa recréation. 8 Ibid. 9 Ibid., délib. du 21 avril 1756. 10 Ibid., délib. du 26 avril 1765.
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doubles et s’exercent au nom de la Communauté de Ville mais aussi au nom du roi, et ce sans obligatoire convergence. Sur remontrance faite le jour même (21 avril 1765) par le Procureur du roi, le tribunal de police du 29 avril suivant interdit de mettre la salle à disposition du Concert ou de tout autre société pour quelque représentation que ce soit «si ce n’est pour des expériences exigées et permises pour les facultés de médecine ou de la chirurgie, ou pour quelqu’autre cause ou concernant le Bien public, comme dans les cas d’incendie, de logement des bagages de troupes ou disette de grains et farines».11 Un arrêté du Parlement confirme l’interdiction le 23 décembre 1765. Quatre ans plus tard, à la fin de 1769, la Société du Concert revient à la charge car elle n’a pas renoncé à son projet d’utilisation de la grande salle et trouve le Bureau d’administration, plus couramment appelé Bureau Servant, dans les mêmes bienveillantes dispositions à son égard.12 Cette fois, l’affaire remonte jusqu’à Versailles: un arrêt du Conseil du roi en date du 20 janvier 1770 casse définitivement toutes les délibérations prises tant en avril 1765 qu’en décembre 1769 en faveur de la Société du concert et confirme l’interdiction.13 Le Concert de Rennes est devenu par la force des choses une affaire d’Etat! Elle s’inscrit, en effet, au centre d’un conflit de pouvoirs et subit, d’autre part, par ricochet le climat délétère engendré par l’Affaire dite de Bretagne qui n’est pas toujours pas réglée.14 On le voit, les tensions restent fortes.
Jeu de paume et concerts L’arrêt du roi est toujours en vigueur lorsqu’en 1784 le Bureau Servant décide de passer outre à toutes les oppositions et d’autoriser directement l’utilisation de la grande salle pour la tenue d’une redoute ou bal. Il prend, toutefois, la précaution de faire contresigner cette autorisation par l’Intendant de Bretagne le 7 janvier 1784.15 En 1785 et 1786, ces accords seront renouvelés. La Société du Concert est-elle à l’origine de cette demande? Y 11 Ibid., L 375, Titres concernant la police, 1765. 12 Ibid., R X 44 R 8 / 4, extr. des registres du greffe de la Ville et Communauté de Rennes du 30 novembre 1769; extr. du registre de la Société du Concert du 11 décembre 1769. 13 Ibid., L 547 B. Cet arrêt du roi est notifié au Bureau Servant le 8 février 1770. 14 Par Affaire de Bretagne, il faut entendre le conflit qui opposa de 1764 à 1771, le procureur général du Parlement de Rennes, Caradeuc de La Chalotais, au duc d’Aiguillon, commandant en chef de la province. 15 Arch. mun. Rennes, R X 44 R 8 / 4 .
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a-t-elle vu un moyen de s’introduire dans les lieux, au moins à titre exceptionnel? L’hypothèse mérite d’être formulée. Une redoute n’est toutefois pas un concert et il semble bien que la Société du Concert n’a eu d’autre solution pour mener à bien ses activités purement musicales que de se tourner vers la salle de spectacles. A partir de 1748–1750 et jusqu’en 1785, c’est à nouveau l’ancien jeu de paume du Pigeon, rue Haute Baudrairie, qui sert de salle de spectacles, une fonction qu’il a déjà occupée de 1693 à 1720, date à laquelle l’espace a été réquisitionné pour installer les bouchers qui avaient vu leurs halles disparaître dans l’incendie de la ville. Le plan dressé par l’ingénieur Forestier en 1726 permet d’appréhender ses dimensions: 31 m 80 de long sur 8 m 75 de large, soit une surface au sol de 278 m2.16 Selon Louis Desjobert qui assista, le 13 avril 1780, à une représentation des Femmes vengées, un opéra-comique de Philidor, la salle est «petite, misérablement construite».17 La mise à l’alignement de la rue de Coëtquen sur laquelle elle débordait à l’arrière, entraîna en 1785 sa fermeture. La Comédie, comme on l’appelait, retrouva alors la salle de la Poulaillerie, rue du Champ-Jacquet. Cette salle vétuste, en bois et qui par miracle ne brûla point, d’une capacité de 800 places, demeura jusqu’en 1836, date de l’inauguration officielle du théâtre, face à l’Hôtel de Ville, la salle officielle de spectacles de Rennes. Les projets de construction d’un théâtre digne de la capitale de la Bretagne lancés en 1784– 1788 n’avaient, en effet, pu aboutir pour des raisons financières.18 La Révolution déplaça ensuite, pour un temps, les priorités.
Apprivoiser l’espace convoité La Révolution rendit caduc l’arrêt du Conseil du roi. La Société du Concert put, enfin, s’installer à la reprise des plaisirs, à la fin de1796, dans la salle si convoitée de l’Hôtel de Ville devenu la Maison Commune. Il fallut, toutefois, vaincre quelques réticences citoyennes soucieuses de ne pas voir cette maison confisquée «à l’agrément de la partie aisée de ses habitants» et l’on institua une sorte de compensation: les vingt-quatre livres de location de 16 Sur les salles de jeu de paume à Rennes, cf. Marie-Claire Mussat, Les salles de spectacles à Rennes avant 1836, in: L’Opéra de Rennes, Naissance et vie d’une scène lyrique. Dir. MarieClaire Mussat. Paris 1998, 11–21. 17 Louis Desjobert, Notes d’un voyageur en Bretagne effectué en 1780, in: Revue de Bretagne et de Vendée et revue historique de l’Ouest réunies, 41–42 (12/1909), 190 –200 et 43–44 (12/1910), 38–47. 18 Arch. mun. Rennes, L 1006–1018. Sur ces projets de constructions, cf. Le Moigne-Mussat, op. cit. (note 3), 107–110.
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la salle par concert furent affectés aux «Secours des indigents».19 La Société du Concert put alors faire aménager la salle, de manière fixe, dans un esprit et une configuration proches du projet déposé en 1769, accompagné d’un plan conservé par les archives municipales. Ce plan montre que la salle, rectangulaire, est divisée en trois espaces: l’un est réservé à l’orchestre, un autre au public, le troisième consiste en un dégagement de 20 pieds de long sur 28 pieds de large, soit une surface d’environ 70 m2. Une formation musicale, à la fois instrumentale et vocale, sans doute couramment utilisée à Rennes, est dessinée dans la partie réservée à l’orchestre: les premiers et seconds violons enserrent deux flûtes et un cor, tous groupés autour du clavecin, symbole concret de la basse continue, peut-être doublée ici d’une basse d’archet comme le laisse supposer la présence de deux tabourets devant le clavecin. L’ensemble instrumental, rassemblant traditionnellement gagistes et amateurs, reste donc modeste. Le fond de la scène est occupé par des chanteurs. Les voix sont précisées: hautecontre, tailles, basses. L’espace réservé au public se présente comme «un retranchement à claire-voix ou grillage de la hauteur de six pieds» où il sera placé «des bancs, chaises ou banquettes, soit à égale hauteur, soit en gradins, lesquels seront disposés comme la société le désirera et de la manière qui lui sera la plus commode.» Le concert est déjà conçu comme un spectacle. La mise en scène de l’orchestre (surélévation, encorbellement, marche d’accès) est renforcé par une demande spécifique: «le bureau voudra bien prêter à la dite société une grande toile de décoration, qui est dans les magasins, laquelle paraît propre à fixer et orner le point de vue du retranchement.»20 Le projet de 1769 est réactualisé en 1797. Parmi les nouveautés, la pose d’un parquet qui se substitue aux grands carreaux existant, et des lambris. La scène proprement dite a gagné en ampleur à en juger par les détails fournis par l’architecte de la Ville, Binet, dans une lettre adressée à l’un des commissaires du Concert, Lorin fils: «Toutes les charpentes du plancher de l’orchestre, sa devanture à hauteur d’appui, les portes, les escaliers ont été faits aux frais de la Société ainsi que le grand gradin au-dessus, et le petit théâtre à coulisses qui y est adhérent.»21 L’espace a donc été sinon agrandi, du moins optimisé, et son aspect scénique renforcé. C’est un véritable «théâtre», en dépit de sa modestie, que l’on a cherché à installer. Les préoccupations acoustiques, même si elles ne font l’objet d’aucune remarque, transparaissent dans le choix du matériau privilégié dans l’aménagement: le bois. 19 Arch. mun. Rennes, 1 D 1 / 12, 3 frimaire an V (23 novembre 1796). 20 Ibid., R X 44 R 8 / 4, procès-verbal de rencontre du 14 décembre 1769 entre les commissaires du Bureau et les représentants de la Société du Concert. Le plan de la salle est joint à ce p. – v. 21 Ibid., lettre du 13 thermidor an X (15 août 1802) de l’architecte Binet à Lorin le jeune.
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Quatre ans plus tard, en 1801, la ville faisant valoir la nécessité dans laquelle elle se trouvait de transformer la grande salle en bureaux, pria la Société du Concert, alors dénommée Société Philharmonique, de trouver une autre asile.
La salle de Blossac Dans une ville où l’absence d’espaces culturels se fait cruellement sentir, cette éviction n’est pas sans poser un problème. Par chance, la Société Philharmonique va trouver refuge, non loin de la mairie, à l’Hôtel de Blossac, un bel édifice achevé à la fin des années 1720 pour servir de résidence au Commandant en chef de la province. C’est là qu’habita le duc d’Aiguillon, titulaire de cette fonction de 1753 à 1768 et marié à une bretonne LouiseFélicité de Bréhan, fille du comte de Plélo. Son goût pour la musique est bien connu et sa bibliothèque musicale fournie. Il entretenait à son service une bande de musiciens dont la présence est attestée à Rennes, et invitait à son «Concert» l’élite de l’aristocratie rennaise. Nul doute qu’il ait constitué pour la noblesse un modèle à suivre. A-t-il soutenu la société du concert? Même si aucun document ne l’atteste, l’hypothèse est fort plausible. Le duc d’Aiguillon n’est pas à l’origine de la construction de la salle qui hébergea la Société Philharmonique de 1801 à 1808. Il faut en attribuer l’initiative au duc de Penthièvre à l’occasion de son second séjour à Rennes en 1774 où il présida les Etats.22 Située dans la cour d’entrée, dans le prolongement des communs, cette salle servit de salle à manger avant d’être exclusivement réservée aux concerts. Sur le plan de l’Hôtel de Blossac que dresse en 1808 l’architecte de la Ville, Binet, elle est désignée avec la mention «grande salle de musique». On distingue clairement au fond de la salle, à l’est, une scène ou «théâtre», puis, à l’arrière, un passage ou corridor donnant accès à une salle servant de coulisses, enfin des «lieux» d’aisance.23 Ce plan et son descriptif permettent d’appréhender la surface au sol propre à chaque partie: la «grande salle de musique», partie clairement désignée comme réservée au public, mesure 15 mètres de long sur 5 de large, soit une surface de 75 m2; la scène ( avec ses marches d’accès bien visibles de chaque côté ) ou «théâtre» destiné aux musiciens, 5 mètres sur 5, soit 25 m2 et Binet note dans son rapport qu’il s’agit là d’un aménage22 Cf. Marie-Claire Le Moigne-Mussat, La salle de musique de l’Hôtel de Blossac et la Société Philharmonique au début du XIXe siècle, in: Bulletin et Mémoires de la Soc Archéologique d’Ille-et-Vilaine LXXXVI (1984), 39–57. 23 Arch. Nat., F 3 / 11, Ille-et-Vilaine 9, ministère de l’Intérieur, administrations communales.
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ment de la Société Philharmonique; le passage et la salle arrière occupent une surface de 6 m 75 sur 5, soit 33 m2 75. La surface totale de la salle de musique, hors coulisses, est donc de 100 m2: c’est une petite salle. Un inventaire de 1808 des biens de la dite société donne des indications précieuses tant sur sa capacité d’accueil que sur le nombre d’exécutants. On y trouve, en effet, mention pêle-mêle de: 230 chaises et 4 petits tabourets 1 grande chaise pour M. Dufresne 20 pupitres 2 terrines à feu 1 pot de chambre 12 porte-bougies quelques vieux lustres en fer blanc 1 balustrade en bois 20 quinquets 1 grande armoire 1 fanal 1 petite table noire 2 timbales avec leurs baguettes 1 contrebasse, sa boîte, clefs 1 grande malle 1 arraignoir La musique 2 petites échelles à bras L’orchestre, le parquet et les décorations de la salle de Blossac.24
Deux cent trente chaises ne signifient naturellement pas que la salle pouvait contenir autant d’auditeurs. Une partie d’entre elles est, d’ailleurs, réservée aux musiciens dont nous ne pouvons qu’extrapoler le nombre: vingt, trente, voire quelques unités de plus, si l’on se réfère aux vingt pupitres et quinquets. La capacité de cette salle semble raisonnablement être plus proche du chiffre de cent quarante places annoncé dans les statuts de la Philharmonie en 1819. La mention de la balustrade, de l’orchestre, du parquet et des décorations parmi les biens de la Philharmonie laisse à penser que ces éléments ont fait partie du déménagement de la société de l’Hôtel de Ville à Blossac. Ils personnalisent et particularisent le lieu, tant le rapport salle / scène que les préoccupations acoustiques. La société du concert de Rennes a donc trouvé refuge dans une petite salle: elle y est, en quelque sorte, confinée, sans possibilité réelle de développement et d’ouverture. Une situation indigne d’une ville comme Rennes. Les solistes de passage ne s’y précipitent guère, assurés qu’ils sont d’une médiocre recette et plus d’un préfère se faire entendre dans la salle de la 24 Arch. mun. Rennes, R X 44 R 8 / 4.
La recherche d’une salle de musique au XVIIIe siècle
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Poulaillerie. Ce n’est sans doute qu’un pis aller et Guibert, le propriétaire de cette Poulaillerie l’a bien compris. Entrepreneur de métier, il forme le projet, en 1806, de construire près de cette salle de spectacles une salle propre pour y recevoir la Société Philharmonique et autres concerts.25 Ce projet qui avait fait naître de grands espoirs, n’aboutira pas. Ni la ville ni la préfecture ne proposent de prendre le relais ou du moins d’étudier sérieusement la question: ils restent persuadés que le concert est l’apanage d’une élite et ne saurait engager les deniers publics.
Un transfert obligé La Société Philharmonique continue donc d’être ballottée d’un lieu à l’autre au gré des décisions et des humeurs des responsables politiques. En 1808– 1809, l’Hôtel de Blossac, ensemble prestigieux, est convoité par le préfet et l’évêque soucieux de mieux s’installer. La Société Philharmonique demande alors à retourner dans la grande salle de l’Hôtel de Ville, ce qui lui est accordé, et se lance dans quelques investissements destinés à répondre aux exigences musicales dans le respect de son public. Mais le maire, qui a pourtant donné sa parole, change d’avis et renvoie la Société Philharmonique à Blossac en la fragilisant. Devant la menace de liquidation, l’Etat, en la personne du préfet Bonnaire, s’inquiète et intervient auprès du maire: pour la première fois, les pouvoirs publics se posent la question de l’existence et même du rôle social d’une société de concert dans la ville de Rennes. La réponse du maire au préfet, en date du 19 janvier 1809, revêt donc une importance particulière: J’espère alors que la ville de Rennes verra de nouveau se former des concerts aussi intéressants pour maintenir le goût de la musique que pour réunir les citoyens et confondre les opinions et les sentiments dans un bon esprit, fait pour maintenir l’harmonie sociale et mériter sous ce rapport la bienveillance du Gouvernement.26
L’appel est sans équivoque: la Ville ne saurait cheminer seule dans l’aide qu’elle peut apporter au Concert. Ce parrainage tardif fut pourtant insuffisant pour sauver durablement la Société Philharmonique. Elle se reconstitua une nouvelle fois au début de 1819, dut à nouveau s’installer à Blossac avant de retrouver autour de 1830 la salle de l’Hôtel de Ville tant convoitée. Pour la première fois alors, elle va faire entendre à Rennes des symphonies de Beethoven et rassembler jusqu’à quatre cents auditeurs. 25 Ibid., R 123 R 11 / 4, lettre de Binet père à Lorin, maire, du 2 juillet 1806. 26 Arch. dép. Ille-et-Vilaine, 4 T 4.
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La Monarchie de Juillet instaure un nouveau climat politique et social. La bourgeoisie qui prend les rênes du pouvoir, lance dès 1831 la construction, rejetée par la Restauration, d’un théâtre dont la réalisation est confiée à un jeune architecte de trente et un ans, Charles Millardet.27 Il sera inauguré le 29 février 1836 par un concert, ô combien symbolique, du Cercle musical, nouvelle appellation de la société du concert installée à l’Hôtel de Ville. Elle y demeurera jusqu’en 1876, date de la création de la société des Concerts Populaires: elle s’installe alors au théâtre.28 En effet, ayant pour objectif d’élargir le public, d’attirer les couches populaires, la nouvelle société ne pouvait continuer à œuvrer dans la salle de l’Hôtel de Ville qui n’était, somme toute, qu’un salon agrandi. L’écriture musicale avait aussi évolué; les œuvres nouvelles exigeaient un orchestre beaucoup plus important qui ne pouvait trouver sa place dans la salle de la mairie. Dès 1868– 1869, on avait certes cherché d’autres lieux susceptibles de coïncider avec les nouveaux objectifs. Le désastre acoustique fut tel que ces tentatives furent vite abandonnées.29 Un seul lieu existait donc à Rennes où l’on pouvait faire de la musique dans des conditions acoustiques convenables, le théâtre, sachant néanmoins qu’il avait été construit pour y accueillir des ouvrages lyriques ou dramatiques et non des concerts. La solution adoptée à Rennes est une solution de repli bien française, toutefois assez incompréhensible dans une ville qui fut capitale politique de la Bretagne sous l’Ancien Régime, et qui, au lendemain de la Révolution, rêve de devenir autre chose qu’une capitale administrative: une capitale artistique. Mais la ville ne s’est jamais donné les moyens de son imaginaire culturel. Même le théâtre fut mollement soutenu par les édiles à l’exception de Le Bastard, grand maire s’il en fut, qui redressa, en partie, la situation en créant notamment, en 1880, le Conservatoire de musique. Maintes fois annoncée, la salle de concerts n’a jamais été construite. La situation actuelle résulte donc d’une situation historique dont il convient de tirer les leçons car les choix culturels sont plus que jamais des choix politiques. Partie intégrante de programmes électoraux récents, la construction d’une cité de la musique et d’un auditorium a été abandonnée. La salle (1000 places) du futur centre des congrès, au coeur de la ville, devrait permettre à l’Orchestre de Bretagne de rencontrer de meilleures conditions de travail et un cadre acoustique adapté. Une façon peut-être pour la ville de se réconcilier avec l’histoire. Il est, en tout cas, permis de rêver. 27 Jean-Yves Andrieux, Le théâtre de Charles Millardet (1831-1836), du projet au procès, la genèse d’un modèle, in: L’Opéra de Rennes, op. cit. (note 16), 23–45. 28 Le Moigne-Mussat, op. cit. (note 3), 254–256. 29 Ibid., 251–252.
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Johann Mattheson als Kirchenmusiker Das Oratorium Der liebreiche und geduldige David von 1723 Beat A. Föllmi
Einleitung Johann Matthesons Bedeutung als Komponist ist bis heute nur marginal gewürdigt worden. In der Musikwissenschaft stand sein Name lange für einen scharfzüngigen Beobachter und Kritiker und für eine unerschöpfliche Quelle für Biografie und Werk seiner Zeitgenossen. Seine Bedeutung als Komponist wurde allenfalls als die eines „Vorläufers“ bzw. „Wegbereiters“ der großen Komponisten (Händel, Keiser, Telemann) zur Kenntnis genommen. Leider hat die ungünstige Quellenlage (ein Großteil seiner Werke galt vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1998 als Kriegsverlust) bis vor wenigen Jahren verhindert, dass seine Kompositionen überhaupt studiert werden konnten. Die seither erschienenen Neuausgaben der Werke und die musikwissenschaftlichen Studien darüber lassen erahnen, dass Mattheson in den ersten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts sowohl im Bereich der Oper als auch der Kirchenmusik wichtige Beiträge zum Hamburger Musikleben geliefert hatte. Das apodiktische Urteil in der neuen Ausgabe der Musik in Geschichte und Gegenwart, dass „Matthesons musikhistorische Wirkung eindeutig nicht auf seinem Komponieren, sondern auf seiner Publizistik“ beruhe,1 wird so kaum aufrecht erhalten werden können. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit Matthesons Wirken am Hamburger Dom zwischen 1715 und 1728 – vierzehn Jahre, in denen 27 Oratorien zu überwiegend biblischen Themen für die Festmusik am Dom entstanden. Im Besonderen soll das bisher noch nie diskutierte Oratorium Der liebreiche und geduldige David von 1723 näher besprochen werden.
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Hans-Joachim Hinrichsen und Klaus Pietschmann, Artikel „Mattheson, Johann“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. Ludwig Finscher. Kassel usw. 2004, Personenteil, Bd. 11, 1347.
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Mattheson und die Kirchenmusik Matthesons Karriere war keineswegs von Anfang an auf die Kirchenmusik ausgerichtet.2 Seine Ausbildung begann am Johanneum, der Ausbildungsstätte des Hamburger Bürgertums, wo zur gleichen Zeit Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) und viele andere, später berühmte Gelehrte und Autoren zur Schule gingen. Nach dem Erlass von 1635, der zu Matthesons Schulzeit noch in Kraft war, übten sich die Schüler in Kirchenmusikstücken vorab des 16. Jahrhunderts, sowohl choraliter als figuraliter. Zweifellos hatte Mattheson diesen Unterricht besucht, er erwähnte ihn allerdings in den autobiografischen Passagen mit keinem Wort. Bedenkt man, dass der auch für das Johanneum zuständige Stadtkantor damals Joachim Gerstenbüttel gewesen war,3 versteht man, wenn der junge Mattheson am Johanneum keine prägenden musikalischen Eindrücke erfahren hatte. Bereits als Neunjähriger trat Mattheson als Chorsänger und später in Nebenrollen an der Hamburger Oper am Gänsemarkt auf, wo er Unterricht beim damaligen Kapellmeister Sigismund Kusser, einem versierten, kosmopolitischen Komponisten, der bei Lully gelernt hatte, erhielt. Matthesons erfolgreiche Karriere als Opernsänger dauerte nur sieben Jahre, von 1699 bis 1705. Während dieser Zeit soll er in 65 Opernproduktionen gesungen haben.4 Parallel dazu glänzte er als Opernkomponist, erstmals 1699 mit seinem Singspiel Die Plejades.5 1705 fand seine sängerische Laufbahn, offensichtlich wegen zunehmender Gehörprobleme, ein vorzeitiges Ende. Er galt zu diesem Zeitpunkt als geschätzter Sänger und Opernkomponist, war aber noch bei keinem Anlass als Kirchenmusiker in Erscheinung getreten. Umso mehr mag es erstaunen, dass sich Mattheson gegen Ende seiner Opernkarriere um kirchenmusikalische Ämter bemühte. Er reiste 1703 mit Händel nach Lübeck, um 2
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Zu Matthesons Biografie siehe Beekman C. Cannon, Johann Mattheson. Spectator in Music. New Haven (CT) 1947, Hans Joachim Marx, Johann Mattheson (1681–1764). Lebensbeschreibung des Hamburger Musikers, Schriftstellers und Diplomaten. Hamburg 1982, und Hinrichsen und Pietschmann, Artikel „Mattheson, Johann“ (wie Anm. 1). Joachim Gerstenbüttel (1650–1721), Kantor der fünf Hauptkirchen Hamburgs von 1675 bis 1721, war Verfechter eines strengen und einfachen kirchenmusikalischen Stils, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Christoph Bernhard (1628–1692), Kantor bis 1674, der den italienischen Stil in die Hamburgische Kirchenmusik einführte. So Mattheson im Handexemplar von Der musicalische Patriot (1728/1729); dazu Siegfried Schmalzriedt, Johann Matthesons Passionsoratorium Das Lied des Lammes (Hamburg 1723): Zur Einführung, in: Ausdruckformen der Musik des Barock. Passionsoratorium – Serenata – Rezitativ (Bericht über die Symposien der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 1998 bis 2000). Hg. Siegfried Schmalzriedt. Laaber 2002, 13. Im Werkverzeichnis von Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 147, Nr. 1.
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sich um die Nachfolge Buxtehudes als Organist zu bewerben, und im folgenden Jahr spielte er an der Pfarrkirche von Harlem vor. Ferner soll er in seiner Heimatstadt 1705 auf Aufforderung des Rates ein Probespiel für die Organistenstelle an der Katharinenkirche gegeben haben.6 Keine der Stellen nimmt er jedoch an – einmal waren die Bedingungen nicht akzeptabel, das andere Mal fehlte jede Begründung; im Falle der Hamburger Stelle meinte Mattheson lapidar: „weil auch, die Wahrheit zu sagen, Mattheson sich zu etwas anders, als einem Organisten, aufgelegt zu seyn befand.“7 Dieses „andere“ war die diplomatische Laufbahn, was ihm dank seiner guten Verbindungen zu der Hamburger Bürgerschaft auch gelang. 1706 wurde er Sekretär des englischen Gesandten John Wich und stieg 1741 zum Legationssekretär und 1744 zum Legationsrat des Herzogs von Holstein auf. Während des Jahrzehnts, nachdem Mattheson von der Oper ausgeschieden war, komponierte er weiterhin, entweder Kammermusikalisches (wie Cembalostücke und weltliche Kantaten) oder Werke für repräsentative Anlässe (wie eine Ouvertüre für General Schulenburg8 oder eine Serenata für den englischen König Georg I.9). Sogar zwei Opern entstanden in dieser Zeit, darunter das jüngst wieder beachtete Werk Boris Goudenow von 1710, das allerdings zu Matthesons Lebenszeit nie aufgeführt wurde.10 Nach diesem Werdegang ist es tatsächlich merkwürdig, dass Mattheson 1715 zunächst die Anwartschaft, dann 1718 das Kantorat am Hamburger Dom annimmt. Diese etwas plötzliche Hinwendung zu einem kirchenmusikalischen Amt könnte durch zwei Gründe motiviert gewesen sein. Zum 6 Die Umstände dieses Vorspielens sind unklar. Reincken behielt die Organistenstelle an der Katharinenkriche bis zu seinem Tod im Jahr 1722. In den Akten wird die Einladung Matthesons zum Vorspiel nirgends erwähnt; Matthesons Erwähnung in der EhrenPforte ist die einzige Quelle. Siehe Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste etc. erscheinen sollen. Hamburg 1740. Originalgetreuer Neudruck, Berlin 1910, 194. Dazu auch Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 29–30. 7 Mattheson, Ehren-Pforte (wie Anm. 6), 194. 8 Ouverture avec sa Suite, pour les Hautbois de Mr. le General de Schoulenbourg; dazu Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 149, Nr. 9. Noch Marx konnte den Widmungsträger nicht identifizieren (vgl. Hans Joachim Marx, Unbekannte Kompositionen aus Johann Matthesons Nachlaß, in: New Mattheson Studies. Hg. Georg J. Buelow und Hans Joachim Marx. Cambridge 1983, S. 223–226). Es handelt sich ohne Zweifel um Johann Matthias Graf von der Schulenburg (1661–1747), der 1705 in polnischen Diensten stand. Er zeichnete sich im Besonderen bei der Verteidigung von Korfu im Dienst Venedigs aus (1716). Vivaldi hat zu diesem Anlass das Oratorium Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie (RV 644) komponiert. 9 Die Frohlockende Themse wurde zur Feier der Krönung von Georg I. mit großem Pomp in Hamburg aufgeführt; Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 159, Nr. 31. 10 Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 152–153, Nr. 19. Die erste Aufführung fand 2005 in Hamburg (konzertant) und in Boston (szenisch) statt.
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einen war Mattheson zwar wegen seines zunehmenden Gehörleidens eine vollamtliche Tätigkeit an der Oper verwehrt, einer nebenamtlichen musikalischen Tätigkeit jedoch, wie das Domkantorat es bot, erlaubte ihm gleichermaßen die finanzielle Sicherheit eines nicht-musikalischen Hauptberufes (die Diplomatie) und eine befriedigende musikalische Nebentätigkeit. Zum anderen unterschieden sich die Verhältnisse am Dom grundlegend von denen der fünf Hauptkirchen, wo (bis zur Berufung Telemanns im Jahr 1721) der konservative und charakterlich schwierige Gerstenbüttel als Kantor tätig war. Am Dom konnten prinzipiell die auf der Opernbühne erprobten Neuerungen auch in die Kirche übernommen werden. Das machte sich der ehemalige Opernkomponist Mattheson denn auch zunutze.
Die Musik am Hamburger Dom Der Hamburger Dom, die Marienkirche, hatte im Gegensatz zu den fünf Hauptkirchen die Besonderheit, nicht dem Rat der Stadt Hamburg unterstellt zu sein. Der Dom gehörte ursprünglich zum Bistum Bremen. Nach dessen Säkularisierung gelangte er unter die Verwaltung des Erzherzogtums Bremen, das wiederum im Westfälischen Frieden zunächst zu Schweden und dann 1715 zum Kurfürstentum Hannover kam. Wegen der Personalunion des Hannoveranischen Kurfürsten mit dem englischen König (Georg I. im Jahr 1716) war der Hamburger Dom in der Wirkungszeit Matthesons eine englische Enklave. Das Domkapitel bestand aus zwölf Domherren, die nicht durch ihre Herkunft, sondern „durch eine Art von Negoce“ gewählt wurden.11 Dem Dom unterstand kein Pfarrbezirk, und er hatte keine Gemeindemitglieder. Der dort wirkende Pastor war vom Geistlichen Ministerium völlig unabhängig. Einen eigenen musikalischen Leiter besaß der Dom bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts nicht.12 Es gab zunächst nur einen Organisten, der allerdings nur ein Teilzeitamt innehatte.13 Neben der gewöhnlichen Gottesdienstmusik gab es in jedem Quartal eine festliche Figuralmusik – zunächst an vier, später an sechs Terminen: am dritten Weihnachtstag, am 11 Ludwig von Griesheim, Die Stadt Hamburg in ihrem politischen, ökonomischen und sittlichen Zustand. Hamburg 1760, 34. 12 Zum Dom und seiner politischen und musikalischen Organisation siehe Joachim Kremer, Das Norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert. Untersuchungen am Beispiel Hamburgs (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft XLIII). Kassel 1995, 97 ff. 13 Zum Domorganisten siehe Liselotte Krüger, Die Hamburgische Musikorganisation im XVII. Jahrhundert. Zürich 1933, Baden-Baden 21981, 174–176 und 182.
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Palmsonntag oder an Jubilate eine Passionsmusik, am dritten Ostertag, am Sonntag vor Johannis (24. Juni) und am Sonntag vor Michaeli (29. September). In der Amtszeit von Christoph Bernhard (1664–1674) übertrug das Domkapitel die repräsentative Aufgabe der großen Festmusik dem Hamburgischen Hauptkantor, während die weniger bedeutende, alle vierzehn Tage durchgeführte ordinäre Kirchenmusik von zwei alternierenden Musikdirektoren versehen wurde.14 Die Beziehungen zwischen den Musikdirektoren am Dom und dem städtischen Kantor blieben in der Folge nicht ohne Spannungen. Einer der Domkantoren, Dietrich Becker, erhielt nach dem Weggang von Bernhard (1674) die gesamte Dommusik übertragen und behielt dieses Aufgabe auch, als Joachim Gerstenbüttel ein Jahr später sein Amt als Kantor der fünf Hauptkirchen antrat. Trotz mehrerer Eingaben konnte Gerstenbüttel nicht in den Besitz des Kanonikats am Dom gelangen. Der Domkantor blieb allein für die Musik im Dom verantwortlich, und der städtische Kantor hatte fortan keinerlei Einfluss mehr auf die Gestaltung der Dommusik. Das blieb auch nach dem Weggang Gerstenbüttels so. Der Hintergrund dieser Auseinandersetzung lag allerdings weniger in dem bescheidenen Domkanonikat bzw. dessen Einnahmen als vielmehr in der Feindschaft, die Gerstenbüttel der Hamburger Oper gegenüber hegte. Er bekämpfte, seit 1678 vom Pastor an St. Jakobi sekundiert, mit Vehemenz die Teilnahme von Opernsängern an der Kirchenmusik. Wenn sich solche Verbote an den städtischen Kirchen – teils unter Androhung der Verweigerung des Abendmahls – einigermaßen durchsetzen ließen, konnte der Musikdirektor des Domes Sänger und Musiker nach eigenem Gutdünken engagieren; Friedrich Nicolaus Brauns und sein Nachfolger Mattheson haben solches auch getan. Letzterer ging sogar noch einen Schritt weiter. Als Mattheson nämlich 1715 am Dom sein Debüt als Komponist gab, führte er zwar ein in kompositorischer Hinsicht traditionelles Weihnachtsoratorium auf,15 ließ jedoch dabei erstmals Sängerinnen der Hamburger Oper im Dom auftreten, im Jahr darauf sogar die bekannte Hamburger Opernsängerin Margaretha Susanna Kayser.16 Mattheson war sich durch-
14 Zu dieser Auseinandersetzung siehe Krüger, Das Norddeutsche Kantorat im 18. Jahrhundert (wie Anm. 13), 240–244. 15 Die Heilsame Geburt Und Menschwerdung Unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi, siehe Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 161, Nr. 37. Die Datierung des Textesbuches lautet 1705, was Cannon als Schreibfehler korrigiert. Scheitler hingegen hält es für möglich, dass das Oratorium tatsächlich bereits 1705 erstmals in einer Hamburger Nebenkirche aufgeführt worden sei. Dazu Irmgard Scheitler, Deutschsprachige Opernlibretti von den Anfängen bis 1730 (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik 12). Paderborn usw. 2005, 305. 16 Die Sängerin Kayser war die Frau des Violinisten und Ratsmusikers Johann Kayser. Sie übernahm 1729–1737 die Direktion der Gänsemarktoper; dazu Johann Friedrich
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aus bewusst, dass es sich hier um eine Provokation handelte, wie der Eintrag in der Ehren-Pforte beweist: [Er] führte Madame Kayser aufs Chor, welches, ausser obigem Exempel, zuvor in keiner hamburgischen Kirche geschehen war, daß ein Frauenzimmer mit musiciret hätte; hinführo aber im Dom allemahl, bey seiner Zeyt geschah.17
Im Vollkommenen Capellmeister berichtete Mattheson im Einzelnen von den Mühen, die es ihn gekostet hatte, Frauen in der Kirche singen zu lassen.18 Auch im David-Oratorium von 1723 wird eine Sängerin verlangt: Die eigentliche Hauptfigur, neben David, ist die Meditatio, die von einem Sopran gesungen wird. Als Dommusikdirektor leitete Mattheson also die sechs Festmusiken pro Jahr. Da er von Weihnachten 1715 bis April 1728 für die Dommusik verantwortlich war,19 fanden in dieser Zeit 75 Festmusiken statt. Von Mattheson sind aber in diesem Zeitraum nur 27 Oratorien bekannt (von sieben davon ist die Musik verloren).20 Es ist nicht anzunehmen, dass ein Verlust von zwei Dritteln besteht, zumal Mattheson in der Ehren-Pforte eine nicht unbeträchtliche Zahl der uns bekannten Oratorien aufzählt, aber keines, das wir heute nicht kennen. So können wir davon ausgehen, dass die Zahl seiner Oratorien für die Dommusik kaum höher gewesen war. Somit hatte Mattheson in der Regel zwei bis drei neue Oratorien pro Jahr komponiert. Einige seiner Oratorien wurden in mehreren Jahren gespielt, dazu sind vermutlich auch Werke anderer Komponisten getreten.21
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Schütze, Hamburgische Theatergeschichte. Hamburg 1794, 183–190, und Ernst Otto Lindner, Die erste stehende deutsche Oper. Berlin 1855, Bd. 1, 138. Mattheson, Ehren-Pforte (wie Anm. 6), 203. „Ich weiß, was mirs für Mühe und Verdruß gekostet hat, die Sängerinnen in der hiesigen Dom Kirche einzuführen. Anfangs wurde verlangt, ich sollte sie bey Leibe so stellen, daß sie kein Mensch zu sehen kriegte; zuletzt aber konte man sie nie genug hören und sehen.“ Johann Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739. Faksimile, hg. Margarete Reimann. Kassel 31991, III.26 §19, 482. Die offizielle Entlassung wurde vom Domkapitel erst am 9. September 1728 beschlossen; dazu Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), 60. Dazu Anhang 1. Nicht mitgerechnet wurden: Das fröhliche Sterbelied (Libretto von Mattheson), 1760 komponiert und nach dem Tod des Komponisten in der Michaelikirche am 25. April 1764 aufgeführt [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 189]. Dazu vier Oratorien zu privaten [Trauungen, Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 46 und 55] bzw. öffentlichen Ereignissen [zum Tod des schwedischen Königs 1719, Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 63, und zum Tod von Georg I. von Großbritannien, 1727, Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 103]. Hinzu kommt noch die „Cantata per chiesa“ Zion und die PassionsAndacht von 1717, dazu Scheitler, Deutschsprachige Opernlibretti (wie Anm. 15), 303. Dazu auch Scheitler, Deutschsprachige Opernlibretti (wie Anm. 15), 302.
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Oratorium oder Kantate: zur gattungsgeschichtlichen Einordnung Matthesons für den Dom komponierte Werke stellen einen wichtigen Beitrag zum eigenständigen Oratorium lutherischer Prägung dar, das aus der Passionsvertonung hervorgegangen ist. Während Thomas Selle (Kantor von 1641–1663) sich stark mit der Vertonung von Passionen beschäftigt hatten, leisteten seine Nachfolger Christoph Bernhard und Joachim Gerstenbüttel keine nennenswerten Beiträge zur Gattung. Die ersten Passionen, die um 1700 in Hamburg entstanden und sich oratorischer Stilmittel bedienten, erhielten wichtige Impulse von der Oper. Vermutlich kurz vor 1700 entstand eine Johannes-Passion, deren Libretto von Christian Heinrich Postel (1658–1705) und die Musik vermutlich von Christian Ritter (ca. 1650–1725) stammen.22 Einen Schritt weiter in Richtung Oratorium gingen 1704 Reinhard Keiser und der Librettist Christian Friedrich Hunold (genannt Menantes, 1681–1721) mit Der blutige und sterbende Jesus (dessen Musik heute verschollen ist); darin fällt die erzählende Rolle des Evangelisten vollständig weg. Ein Jahrzehnt später veröffentlichte der Theologe und Dichter Barthold Heinrich Brockes seine freie Umdichtung der Passionsgeschichte unter dem Titel Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus (1714, verfasst bereits 1712). Über ein Dutzend Komponisten werden dieses Libretto in der Folge in Musik setzen, angefangen mit Keiser, gefolgt von Telemann, Mattheson und Händel. Mit Mattheson begann sich das protestantische Oratorium ab 1715 vom Passionsstoff zu lösen. Unter seinen Oratorien nehmen die Passionen mit drei Werken nur einen geringen Raum ein,23 obschon die Passionszeit doch eine der sechs Daten für die Festmusik am Dom war. Die meisten seiner Oratorien bedienen sich Stoffen aus dem Neuen Testament, insgesamt 14 Oratorien (ohne die Passionen). Fünf Oratorien behandeln dogmatische oder moralische Themen, wobei in vier davon auch neutestamentliche Figuren vorkommen. Fünf Oratorien beruhen auf alttestamentlichen Stoffen, wobei in zwei Fällen die biblische Erzählung fast ganz oder sehr stark
22 Sie wurde lange Zeit Händel zugeschrieben und so auch in die Hallische Gesamtausgabe aufgenommen; dazu Günther Massenkeil, Oratorium und oratorische Passion in Norddeutschland, in: Die Geschichte der Musik. Hg. Matthias Brzoska und Michael Heinemann. Bd. 1: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock. Laaber 2001, 333. 23 Brockes-Passion (1718) [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 58]; Der Blut-rünstige Kelter-Treter (1721) [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 74]; Das Lied des Lammes (1723) [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 84].
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in den Hintergrund tritt.24 Im Zentrum der verbleibenden drei Oratorien stehen: David, Daniel und Joseph. Diese Wahl ist kein Zufall, denn alle diese drei Figuren des Alten Bundes wurden in der christlichen Tradition im Sinne der Typologisierung als Vorausnahme Christi interpretiert. So wurde Josephs Barmherzigkeit gegenüber seinen bösen Brüdern exemplarisch in Hinsicht auf die christliche Nächsten- und Feindesliebe verstanden; seine Standhaftigkeit gegenüber der Verführung durch Potiphars Weib und die darauf folgende Bestrafung des Unschuldigen haben ihre Parallele in Jesu Schuldlosigkeit und dessen Passion. Daniels Hinuntersteigen in die Löwengrube und seine unversehrte Rückkehr verweisen traditionell auf Christus, der zwischen Kreuzestod und Auferstehung in die Unterwelt gestiegen sein soll, um dort die Gerechten des Alten Bundes zu befreien. David schließlich wird als Sänger (der Saul heilt) zur Vorausnahme von Orpheus-Jesus, dem Sänger des Neuen Bundes. Ferner verweist Davids Königtum auf das messianische Königreich. Die christologische Ausrichtung von Matthesons Oratorienstoffen hat ihren Grund darin, dass seine Oratorien, die ja im Rahmen der festlichen Dommusik stattfanden, liturgisch eingebunden sein und der Perikopenordnung entsprechen mussten. Damit stellt sich allerdings die Frage, ob diese Werke nicht der Kantate näher stehen als dem Oratorium: Liturgische Funktion, Zugehörigkeit zum Proprium, Abhängigkeit von der Tagesperikope sowie die Kirche als Aufführungsort charakterisieren gewöhnlich die Kirchenkantate. Das Oratorium hingegen zeichnet sich durch die Distanz zum liturgischen Geschehen aus: Es wird eher außerhalb der Kirche und unabhängig von kirchlichen Festdaten gespielt. Wenn wir dazu Mattheson selbst befragen, ergibt sich ein differenziertes Bild. Dieser nämlich definierte das Oratorium in erster Linie nach dem verhandelten Gegenstand,25 indem er also zwischen Passionen (einfacheren und „poetischen“ Passionen „nach der rechten oratorischen Weise“), Hochzeitsstücken, Trauermusiken, Siegesgesängen und so weiter unterscheidet. Somit ist für ihn das Oratorium keine ausschließlich kirchenmusikalische Gattung; im Gegensatz zur Oper habe das Oratorium allerdings stets eine moralische Ausrichtung: „Ein Oratorium ist also nichts anders, als ein Sing-Gedicht, welches eine gewisse Handlung oder tugendhafte Begebenheit auf dramatische Art verstellet.“26 Ferner hält Mattheson fest, dass das Oratorium nicht „dürres Gespräch“ oder bloße Erzählung sei, 24 Der Siegende Gideon (1717) [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 56], und Der Undanckbare JEROBEAM (1726) [Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2), Nr. 99]. 25 Mattheson, Capellmeister (wie Anm. 18), II.13 § 62, 220. 26 Ibid.
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sondern dass es aus bewegten Sätzen unterschiedlicher Art bestehe: Choräle, Chöre, Fugen, Arien, Rezitative. Als Personen können sowohl reale Personen als auch allegorische Gestalten auftreten. Ziel des Oratoriums sei es, die Gemüter der Zuhörer sowohl „zur Andacht und heiliger Furcht, als auch zum Mitleiden und andern Regungen, vornehmlich aber zum Lobe Gottes und zur geistlichen Freude“27 zu bewegen. Das geistliche Oratorium unterscheide sich vom weltlichen durch „weit ernsthaftere Ausdrückungen und Gedancken“. Das Oratorium sei zwar eigentlich nichts anderes als „eine geistliche Oper“, unterscheide sich aber durch die ernstere Anlage: „Bey Opern ist alles Scherz; In Kirchen ist alles Ernst“, wobei er sogleich die Warnung hinzufügt, dass die geistliche Handlung es verdiene, „daß man sie nicht schläfrig ausarbeite.“28 Die Kantate definiert Mattheson im Sinne der Kammerkantate: eine Abfolge von Rezitativen und Arien, wobei der Gesang nur von Bass und Continuo-Instrument begleitet wird.29 Er präzisiert allerdings, dass es, je nach Thema, weltliche und geistliche Kantaten geben könne. Unter letzterer versteht er nur den Kantatentypus von Erdmann Neumeister, wie dieser ihn in den Geistlichen Cantaten von 1705 vorgestellt hatte. Mattheson kannte selbstverständlich die späteren Mischtypen, die Neumeister beispielsweise in den Jahrgängen Geistliches Singen und Spielen (1711) und Geistliche Poesien (französischer Zyklus, 1714) veröffentlicht hatte. Für Mattheson handelte es sich bei solchen Kirchenstücken, in denen weitere Instrumente sowie Chöre, Choräle, Fugen etc. vorkommen, aber nicht mehr im strengen Sinn um Kantaten, sondern um eine Vermischung verschiedener Stile. „Bey solchem Verfahren werden wir wenig systematisches aufweisen können.“30 Konsequenterweise tragen Matthesons Musikmanuskripte nur dann die Bezeichnung „Cantata“, wenn es sich um italienische (weltliche) Kammerkantaten handelt. Das Erstaunliche an Matthesons systematischer Klassifizierung der Gattungen Oratorium und Kantate ist jedoch, dass er den Begriff des Liturgischen nicht ins Spiel bringt. Wir würden heute die Trennlinie zwischen Kirchenkantate und Oratorium gerade in der liturgischen Funktion setzen, die bei ersterer vorhanden ist, bei letzterem fehlt. Dass Mattheson auf diesen Aspekt nicht eingeht, hängt damit zusammen, dass in den Hamburger Kirchen beide, die Kirchenkantate (im Sinn der verschiedenen Typen Neumeisters) und das Oratorium innerhalb des lutherischen Gottes27 28 29 30
Ibid. Idem, II.13 § 64, 221. Idem, II.13 § 25, 214. Idem, II.13 § 30, 215.
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dienstes ihren Platz hatten. Unser moderner Begriff der Liturgie ist demnach im Hinblick auf die Hamburger Verhältnisse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts problematisch. Dennoch scheint es in Hamburg durchaus eine Unterscheidung zwischen dem Oratorium und der Kantate im Hinblick auf die liturgische Verwendung gegeben zu haben: Die Kantate (wenn sie auch selten so genannt wurde) hatte ihren Platz in den regulären Sonntagsgottesdiensten, wie sie in den fünf Hauptkirchen stattfanden. Das Oratorium hingegen war in der Regel außergewöhnlichen und damit festlicheren Anlässen vorbehalten.31 Deshalb erstaunt es nicht, wenn am Dom eben Oratorien zur Aufführung kamen – diese allerdings genauso im Rahmen der gottesdienstlichen Veranstaltung und genauso in diese eingebunden wie die Kirchenkantate im regulären Sonntagsgottesdienst.
Das Oratorium Der liebreiche und geduldige David von 1723 a) Die Quellenlage Das Oratorium Der liebreiche und geduldige David ist in einer autographen Niederschrift des Komponisten vollständig überliefert. Die Handschrift kam bei Matthesons Ableben 1764, auf seinen Wunsch, in die Hamburger Stadtbibliothek. Im Zuge der Auslagerung von Bibliotheksbeständen während der Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg gelangte Matthesons Nachlass nach Eriwan. Erst 1998 wurden die Archivalien wieder nach Hamburg zurückgebracht. Die Partitur des David-Oratoriums befindet sich heute in der Hamburger Universitätsbibliothek unter der Signatur D-Hs: ND VI 144. Neben Titelblatt und Personenverzeichnis besteht das Manuskript aus 59 Notenseiten; auf der letzten Seite steht als Abschlussdatum der 10. August 1723.32 Der Titel lautet: Der / Liebreiche und Geduldige / DAVID / in ein / ORATORIO / gebracht, / und auf den / XVIII. Trinitatis Sonntag / gerichtet, gesetzet und / aufgeführet / von / Mattheson. / Hamburg. 31 Dazu Annemarie Clostermann, Cantata – Serenata – Passion – Oratorium. Gattungsspezifika und ihre Funktion im Hamburgischen Musikleben zur Amtszeit Telemanns, in: Telemanns Auftrags- und Gelegenheitswerke – Funktion, Wert und Bedeutung (Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anlässlich der 10. Magdeburger Telemann-Festtage. Telemann-Konferenzberichte). Hg. Wolf Hobohm et al. Oschersleben 1997, 20–21. 32 Siehe auch die moderne Notenausgabe von Jörg Jacobi (Johann Mattheson, David, Oratorium für Soli, Chor und Orchester. Hg. und bearb. Jörg Jacobi. Bremen 2005).
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Die Aufführung fand am 26. September 1723, dem Sonntag vor Michaeli (29. September), statt. b) Die Autorschaft des Librettos Der Autor der Textvorlage ist nicht bekannt, so wie dies für die meisten von Matthesons Oratorien der Fall ist. Auf dem Titelblatt der autographen Partitur steht „auf den XVIII. Trinitatis Sonntag gerichtet, gesetzet und aufgeführet von Mattheson“. Könnte damit gemeint sein, Mattheson wäre Librettist („gerichtet“), Komponist („gesetzet“) und Dirigent („aufgeführet“) gewesen? Auf den meisten autographen Titelblättern fehlen explizite Hinweise zu Librettist und Komponist; Mattheson begnügte sich zumeist mit dem Hinweis, dass er das besagte Werk aufgeführt habe. Selbst beim einzigen Werk, wo seine Autorschaft als Librettist nachgewiesen ist (Der Undanckbare Jerobeam, 1726), fehlt der explizite Hinweis auf dem Titelblatt;33 Matthesons Autorschaft des Textes ergibt sich dort einzig aus einer Notiz in der Ehren-Pforte.34 Könnte das Wort „gerichtet“ also das Verfassen des Librettos meinen? Tatsächlich verwendete Mattheson, wenn von der musikalischen Komposition die Rede ist, Ausdrücke wie „componiert“35, „musicalisch gesetzet“36 oder „musicalisch vorgestellt“37, aber niemals „gerichtet“. Dieser Ausdruck findet sich nur noch einmal, und zwar bei der Glücklich-streitenden Kirche (1718): „auf den achten Sonntag nach Trinitatis gerichtet und componirt von Mattheson“. Auch hier ist der Textdichter unbekannt. Der Ausdruck „auf den XVIII. Trinitatis Sonntag gerichtet“ könnte also nicht bloß die liturgische Ausrichtung des Textes meinen, sondern die Redaktion des Librettos selber. Eine Zuschreibung des Librettos an Mattheson aus stilistischen Gründen ist jedoch äußerst problematisch, da wir wenige Libretti von Matthesons Hand als Vergleichstexte kennen. Der Herausgeber der modernen Notenausgabe des David-Oratoriums, Jörg Jacobi, hat eine solche Zuschreibung für möglich gehalten; seine Argumente bleiben jedoch vage.38 Die 33 „Auf Den vierzehnten Sonntag nach dem Feste der Heiligen Dreyfaltigkeit gedeutet, Und in einem ORATORIO vorgestellet Von MATTHESON.“ 34 „Den 22. Sept. führte Mattheson wiederum ein neues Oratorium in besagter Kirche auf, und zwar den undankbaren Jerobeam, davon er auch die Worte selbst gesetzet hatte.“ Mattheson, Ehren-Pforte (wie Anm. 6), 210. 35 Göttlichen Vorsorge (1718). 36 Der Verlangte Und Erlangte Heiland (1716). 37 Frucht des Geistes (1719). 38 Siehe das Vorwort der Ausgabe von Jörg Jacobi (wie Anm. 32), II.
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Tatsache allein, dass Mattheson das Libretto für ein anderes Oratorium und für eine Oper (Boris Goudenow) geschrieben hat, ist kein Beweis für weitere Zuschreibungen.39 c) Die Gattung Nach Matthesons eigener Klassifikation ist sein David – genauso wie alle seine übrigen geistlichen Werke für den Dom – zweifellos ein Oratorium; so steht es auch auf dem autographen Titelblatt. Würde man das Werk aber nach heute geläufigen Kriterien einordnen, gehörte es in die hybride Gattung der Kantaten-Oratorien, wozu auch Telemanns Kantaten aus dem „oratorischen“ Jahrgang von 1730/31 auf Texte von Albrecht Jacob Zell (1701–1754) zu rechnen sind.40 Matthesons David ist wie eine Kirchenkantate in die Liturgie eingebunden. Nicht nur, dass die beiden Teile vor und nach der Predigt erklangen, das Libretto bezieht sich auf auch die Tagesperikope (Mt 22,34–46) und ist somit als eigentliches Proprium inhaltlich eng mit dem liturgischen Geschehen verzahnt. d) Textliche Vorlage41 Dem David-Oratorium liegt die Erzählung vom Aufstand Absaloms gegen seinen Vater, König David, aus dem zweiten Buch Samuel zu Grunde. Diese sich über die Kapitel 15 bis 19 erstreckende, ausführlich abgehandelte Episode beginnt mit der Intrige Absaloms und endet mit der Niederschlagung des Aufstandes. David ist gezwungen, mit seinen Getreuen aus Jerusalem zu fliehen und sich jenseits des Jordans zurückzuziehen, wo ihn Absalom weiter verfolgt. Nach vielen dramatischen Szenen kommt es in
39 Will man sich auf stilistische Parallelen einlassen, könnte man auf die aus der Schifffahrt entlehnten Metaphern hinweisen, die sich sowohl im David-Oratorium („die Segel streichen“ in Nr. 2) als auch im Oratorium Der reformirende Johannes finden, allerdings stammt letzteres von Johann Georg Glauche; siehe dazu Werner Rackwitz, „Der reformirende Johannes“, ein Oratorium von Johann Mattheson auf einen Text von Johann Georg Glauche, in: Händel-Jahrbuch 42–43 (1996 –1997), 188. 40 Dazu Ute Poetzsch, Ordentliche Kirchenmusiken, genannt Oratorien – Telemanns ‚oratorische’ Jahrgänge, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft [Bericht über den Internationalen Kongress für Musikforschung Halle (Saale) 1998]. Hg. Kathrin Eberl und Wolfgang Ruf. Kassel 2000, Bd. 2, 317–324. Es bleibt auf die Rolle von Matthesons „oratorischen Kantaten“ auf Telemanns Kompositionen dieser Gattung hinzuweisen. Denn Telemann hätte seit Sommer 1721 immerhin elf Werke im Dom hören können. 41 Siehe auch Anhang 2.
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einem Wald bei Ephraim zur Entscheidungsschlacht, in der Absalom ein schmähliches Ende findet: Er bleibt mit seinem langen Haar im Geäst einer Eiche hängen, während sein Maultier weiterläuft. Trotz gegenteiligen Befehls wird Absalom von Davids Soldaten getötet. Als der König die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhält, schließt er sich ein und stimmt eine ergreifende Klage an. In Matthesons Oratorium kommen nur ganz wenige Episoden dieser bewegenden Geschichte vor. Diese sind zudem so lose aneinander gereiht, dass sich ein durchgehender Handlungsstrang nur dem erschließt, der die biblische Erzählung bereits kennt. Großen Raum nehmen Erörterungen und Reflexionen über moralische und soteriologische Themen ein. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich tatsächlich zwei parallel verlaufende und an jedem Punkt des Librettos ineinander greifende Ebenen: eine vordergründige Handlungsebene (David flieht vor Absalom) und eine hintergründige theologische Ebene (Christus als Sohn und Herr). Diese beeindruckende Hermeneutik verweist wiederum auf die hybride Stellung der Komposition zwischen Oratorium und Kirchenkantate. Sie zeigt zudem, wie weit Matthesons Oratorien – im Hinblick auf ihre Funktion genauso wie durch ihre Hermeneutik – von den Oratorien Händels entfernt sind. Auf der Handlungsebene finden wir drei Szenen aus der biblischen Erzählung. Die erste Szene handelt von der Flucht Davids und seiner Getreuen aus Jerusalem (2Sam 15,13–23) und gliedert sich in drei Unterszenen: der Aufruf zur Flucht, die Treuebezeugung des Ithai und das Wehklagen der Flüchtenden. Die zweite Szene zeigt die Beschimpfung Davids durch Simei (2Sam 16,5–12). Die dritte Szene, die den ganzen zweiten Teil des Oratoriums einnimmt, handelt vom Tod Absaloms (2Sam 18,1–19,9): die Entscheidungsschlacht, die Überbringung der Nachricht vom Tod Absaloms, Davids Wehklage über Absalom. Eine sofort ins Auge springende Auffälligkeit dieses Handlungsstrangs ist die Abwesenheit von Absalom. Nicht nur, dass dieser als dramatis persona nicht vorkommt, sein Name wird überhaupt nur äußerst selten genannt: am Anfang (Nr. 3: „Mein Absalom, mein Sohn, reißt mich von Kron und Thron“), ganz am Schluss, als die Nachricht von seinem Tod überbracht wird (Nr. 35: „Es hat mit Absalom nicht Noth.“) und vor allem in der ergreifenden Klage Davids: „Ach Absalom, mein Sohn, mein Sohn!“ (Nr. 36). Damit beraubt sich Mattheson der dramatischen Gegenüberstellung von Vater und Sohn und vor allem der effektvollen Szene, wie Absalom an der Eiche hängt und von den Soldaten totgeschlagen wird – Szenen, die einen versierten Opernkomponisten doch hätten besonders interessieren müssen.
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Aber Mattheson verzichtete ganz bewusst auf diese vordergründigen dramatischen Effekte und liefert auch eine Begründung dafür: Es haben aber die Oratorien, wenn sie geistliche Dinge abhandeln, ein anders und höheres zum Vorwurff, als sonst: nehmlich Gott und seine grosse Thaten, die freilich weit ernsthaftere Ausdrückungen und Gedancken geben, auch wichtigere Wirckungen bey den Zuhörern thun, als die verstellten oder gefärbten Affecten des weltlichen Schauplatzes.42
e) Die Auslegung der Tagesperikope Das eigentliche Thema von Matthesons Oratorium ist indes nicht der Aufstand Absaloms (sonst könnte man dem Autor zu Recht vorwerfen, er hätte sein Thema verfehlt), sondern dieses ergibt sich aus der Perikope zum 18. Sonntag nach Trinitatis. Die Evangelienlesung besteht nämlich aus Matthäus 22,34–46, einem Gespräch zwischen einem Schriftgelehrten und Jesus. Darin werden zwei Themen verhandelt: Welches das höchste Gebot sei (was Jesus mit dem jüdischen Gebet Shema Israel 43 und dem Zusatz „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ beantwortet) und die Frage nach dem Messias (Christus ist der Sohn Davids und gleichzeitig sein Herr). Diese beiden Themen werden innerhalb des Oratoriums abgehandelt: Im ersten Teil das Thema nach dem höchsten Gebot, im zweiten Teil jenes nach der doppelten Rolle Christi. Mattheson bringt die beiden unterschiedlichen Themen der Evangelienlesung durch die Identifikation von David mit Jesus zusammen. Der erste Teil des Oratoriums stellt ein theologisches Gespräch zwischen David (als praefiguratio Christi) und verschiedenen Gegnern dar, einerseits mit biblischen Gestalten aus der Erzählung des Absalom-Aufstandes (Ithai und Simei), andererseits mit einer allegorischen Frauengestalt, der Meditatio, die neben David zur eigentlichen Hauptfigur wird. Damit erinnert Matthesons Oratorientyp an das italienische, gegenreformatorische Oratorium, wo allegorische Figuren auftreten und moralische Themen vorgestellt werden. Jede der drei biblischen Szenen des ersten Teils entspricht auf der theologischen Ebene einem Diskussionspunkt, der parallel zum Handlungsverlauf verhandelt wird. Es findet also keine Trennung zwischen der „historisch-narrativen“ und der „theologisch-diskursiven“ Ebene statt. In der
42 Mattheson, Capellmeister (wie Anm. 18), II.13 § 63, 220. 43 „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen.“ Dt 6,5.
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ersten Szene werden die Nachricht vom Aufstand und die überstürzte Flucht Davids und seiner Getreuen zum Anlass einer Reflexion über Verbrechen und die Notwendigkeit von Strafe. Die zweite Szene vom „Fremdling“ Ithai, der treu zu David hält, thematisiert die Frage nach der bedingungslosen Nachfolge Christi. In einem Intermezzo symbolisiert das Wehklagen der flüchtenden David-Anhänger die Unbeständigkeit des irdischen Daseins. Die letzte Szene des ersten Teils funktioniert bereits als Scharnier zum zweiten Teil des Oratoriums: Die Beschimpfung Davids durch Simei verweist auf die Notwendigkeit, Spott und Hohn geduldig zu ertragen – und damit auf das Leiden Jesu Christi, das im zweiten Teil thematisiert wird. f ) Christus ist Davids Sohn und Herr: die Passionsgeschichte Der zweite Teil beginnt mit einer Arie der Meditatio (Nr. 26), die gleich zu Anfang das Thema und damit die Perspektive vorgibt: Christus als „Davids wahrer Sohn und Herr“ hat das Höchste schon vollbracht, nämlich durch sein Leiden und Sterben. Somit erzählt der zweite Teil – parallel zum Fortgang des Absalom-Aufstandes – die Passionsgeschichte. Die Worte zu Beginn der Arie („O seelge Stund! erwünschter Ort“) deuten auf den Beginn der Passion: „Siehe, die Stunde ist hier“ (Mt 26,45). Die Musik, die mit der konzertierenden Violine an das italienische Solokonzert erinnert, bildet hier den inneren Kampf im Garten Gethsemane ab. Auf ein kurzes Rezitativ („das süße Leiden“, Nr. 27) folgt ein eindrucksvolles Chorstück mit Solisten (Nr. 28). Unter martialischem Hörnerklang ruft der Chor zur Schlacht, die hier je nach Perspektive die militärische Niederwerfung des Aufstandes oder den geistlichen Kampf der Passion meint. Dementsprechend bittet David um Schonung „meines“ Sohnes (Absalom), die Meditatio um die „seines“ Sohnes (Christus) – damit entspricht die Szene der Bitte Jesu „den Kelch vorübergehen“ zu lassen (Mt 26,42). Das anschließende Streitgespräch zwischen David und seinen Getreuen (Nr. 29) erinnert an den Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern: „denn ob wir gleich verdürben“, sagt Abisai, „und wenn ich mit dir sterben müsste“, ruft Petrus (Mt 26,35). Das erregte und musikalisch virtuose Duett zwischen Ithai und Abisai (Nr. 30) lässt sich inhaltlich nur mit Mühe innerhalb der Handlung der Absalom-Erzählung erklären: Es ist Gott, der über uns wacht, und die irdische Obrigkeit bezieht ihre Macht von Gott. Das entspricht aber innerhalb der Passionsgeschichte dem Verhör Jesu vor Pilatus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben her gegeben wäre“ (Joh 19,11).
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Das Duett mit verschobenen Einsätzen unterstreicht die Situation des Streitgesprächs zweier Personen. Trotz der bevorstehenden Schlacht wird David im folgenden Rezitativ (Nr. 31) als „waffenlos“ dargestellt – als ein Opferlamm, das alleine den Feinden gegenübertritt und damit gewonnen hat. Diese Siegesgewissheit wird im anschließenden Choral (Nr. 32) wieder aufgenommen: Der Chor trägt Luthers Ein feste Burg ist unser Gott unisono (in einem fast tänzerischen 6/8-Rhythmus) vor, die Meditatio kommentiert zwischen den Zeilen. Das Stichwort „Sieg“ bezieht sich hier sowohl auf den Ausgang der Schlacht gegen Absalom als auch auf den Sieg am Kreuz. Die Leiden, die David während der Schlacht aussteht, sind doppelter Art: als „Herr“ (Vater) bangt er um seinen Sohn, als „Sohn“ (Christus) erleidet er die Passion. Die Musik des Obligato (Nr. 33) könnte ohne weiteres in einem Passionsoratorium stehen: pochende Bassfiguren, punktierte Rhythmen in der Singstimme, verminderter Septakkord – alles Ausdruck von Angst und Todesfurcht. Daran schließt sich eine lange Arie (Nr. 34) von David (Jesus) an, in der die Todesfurcht weiter ausgeführt (mit dem für Hamburg einleuchtenden Motiv des in wilden Wellen zappelnden Fisches) und gleichzeitig Gottvertrauen ausgedrückt wird. Die Szene, als der Bote Chusi dem ängstlich wartenden König die Botschaft vom Tod Absaloms überbringt (Nr. 35), gehört zunächst ganz in den Handlungsablauf der alttestamentlichen Geschichte. Aber auch an dieser Stelle webt der Librettist in subtiler Weise das Passionsgeschehen ein: Während für David der Tod Absaloms ein Sieg sein sollte (Niederwerfung des Aufstandes), ist er in Wahrheit eine Niederlage (Tod des Sohnes) – und genau umgekehrt: Während Jesu Tod auf dem Kreuz in den Augen der Welt eine schimpfliche Niederlage ist, wird er in Gottes Heilsplan zum triumphalen Sieg.44 Der ergreifende Klagegesang Davids (Nr. 36) über den Tod seines Sohnes entspricht musikalisch einer reichen Tradition von Absalom-Klagen. Im Rahmen der Passion wird hier das Thema des stellvertretenden Todes angesprochen: „Warum kunt ich für dich, nicht mit viel größerm Rechte sterben!“, fragt David, und die Passionsgeschichte gibt die Antwort: Jesus stirbt am Kreuz an unserer Stelle – allerdings unschuldig, während Absalom sich sehr wohl schuldig gemacht hat. Gleichzeitig hadert David mit seinem Schicksal, er klagt Gott an, was dem verzweifeltem Ruf des Gekreuzigten in der Todesstunde entspricht: „Mein Gott, mein 44 Solche Reflexionen über den paradoxen Charakter des Kreuzes hatten in den oratorischen Passionen durchaus ihren Platz, man denke etwa an Johann Sebastian Bachs Arie „Es ist vollbracht“ (Nr. 30) aus der Johannes-Passion mit dem kontrastierenden Mittelteil: „Der Held aus Juda siegt mit Macht“.
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Johann Mattheson als Kirchenmusiker
Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Das folgende Rezitativ Davids (Nr. 37), das am Schluss im Arioso den Klagegesang noch einmal aufnimmt, bringt den Gedanken des Opfertodes in Zusammenhang mit dem Königtum: Durch das Blut seines Sohnes Absalom kann David seinen Thron wiedergewinnen – durch das Blut seines Sohnes Jesu Christi errichtet Gott sein Königreich. Dass dieses Doppelspiel zwischen David und Jesus keine bloße Zutat des Exegeten ist, belegt das ausführliche Accompagnato der Meditatio (Nr. 38), das als eigentliche „christologische Heimholung“ bezeichnet werden kann. Die Handlung des Absalom-Aufstandes ist hier endgültig verlassen; sie dient nur noch als Exempel für die eigentliche Handlung: der Liebestat Christi am Kreuz. Die beiden Tugenden, die Christus hier zugeschrieben werden – „O Liebe, o Gedult“ – stehen ja auch im Titel als jene des „liebreichen und geduldigen David“. Der Schlusschor (Nr. 39) beruht auf dem bekannten Kirchenlied Wie schön leuchtet der Morgenstern von Philipp Nicolai.45 Mattheson verwendet nur die sechste Strophe, die er zudem charakteristisch abgewandelt hat: J. Mattheson
Ph. Nicolai
Zwingt die Saiten in Cythara Und laßt die süße Musica Ganz freudenreich erschallen. Es will der Held aus Davids Stamm Der mein geliebter Bräutigam Mit mir in Liebe wallen. Singet, Klinget, Laßt die Töne wunderschöne Schertzen streiten, Gottes Liebe auszubreiten.
Zwingt die Saiten in Zithara Und laßt die süße Musica Ganz freudenreich erschallen, Daß ich möge mit Jesulein, Dem wunderschönen Bräut’gam mein, In steter Liebe wallen! Singet, springet, Jubilieret, triumphieret, Dankt dem Herren! Groß ist der König der Ehren!
Auf den ersten Blick scheint die Wahl dieses Kirchenliedes deplatziert, da die Absalom-Geschichte doch mit der tiefen Trauer Davids endet. Es bestätigt sich aber hier noch einmal, dass die David-Geschichte nicht das eigentliche Thema der Oratorium-Kantate ist, sondern die Frohbotschaft vom Heil bringenden Tod Jesu. Tatsächlich ist es Mattheson (bzw. seinem Librettisten) auf glückliche Weise gelungen, David und Christus hier noch ein letztes Mal zusammen zu bringen: Das Spiel der Cythara verweist auf Davids Spiel vor Saul (1Sam 16,14–23). David gibt durch seine Musik Kunde von der Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus Heil bringend verwirklicht hat.
45 Freudenspiegel des ewigen Lebens, Frankfurt 1599.
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unbekannt
Der Verlangte Und Erlangte unbekannt Heiland, Zur Bezeugung Gottgewidmeter WeynachtsFreude, Sammt angehängtene Zwey-Chörichten MAGNIFICAT Der Siegende Gideon Glauche47
CHERA, Oder die Leidtragende und getröstete Wittwe zu Nain
26.9.1717
27.12.1716
27.9.1716
2.6.1716
27.12.1715
unbekannt
Die heilsame Geburt Und Menschwerdung unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi Nach dem Evangelisten LUCAS Die Gnädige Sendung Gottes des Heiligen Geistes, Zur Erwickung Christlicher Andacht unbekannt
UA
Librettist
Titel
46 Cannon, Johann Mattheson (wie Anm. 2). 47 Johann George Glauche.
Cannon Nr.46 37
D-Hs: ND VI 144 119, 119a
(AT)
NT, Lk 2; Lk 1,46-55
NT, Lk 7,11-18
NT, Pfingstwunder
NT, Geburt Jesu, Lk 2
Thema
Anhang 1: Johann Matthesons Oratorien für den Hamburger Dom (1715–1727).
nur Anspielung auf Gideon, tatsächlich ein Lobpreis Jahwes (zur Feier des Sieges von Prinz Eugen über die Türken und der Einnahme Belgrads am 16. August 1717)
alle Sänger sind dramatische Personen (Jesus, Petrus, Heiliger Geist, Chor der Jünger etc.) auch kontemplative Figuren wie „Der Glaube“, „Die Andacht“; Wiederaufführungen 1719 und 1722 Oratorium mit folgendem Magnificat
Das Titelblatt trägt fälschlich das Datum „ANNO 1705“
Bemerkungen
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Glauche
Die Frucht des Geistes Christi Wunder-Wercke Bey den Schwach-gläubigen Die durch Christi Auferstehung bestätigte Auferstehung aller Todten
Die Göttliche Vorsorge über Alle Creaturen
Die glücklich-streitende Kirche
Luthers Wirken gegen die Alte Kirche
Personen sind Lutheraner, dazu treten biblische (Johannes der Täufer, Messias) sowie typologische Figuren auf (Glaube, Liebe, Hoffnung) Passionsoratorium
NT, Auferstehung typologische Figuren (Rache, Furcht und Glaube, Hoffnung) diskutieren unmittelbar vor Christi Auferstehung
NT, Passionsharmonie 28.4.1718 NT, Auferstehung relative lose Szenenfolge nach den 4 Evangelien 7.8.1718 Dogmatik 1. Teil: Dialog zwischen der Seele und Christus, Andacht und Kirche; 2. Teil: die Seele wird vergeblich von falschen Propheten verführt 1722? Dogmatik Partitur datiert mit (15. Sonntag 4. September 1718 nach Trinitatis) Handlung: Kampf zwischen Laster und Tugend 30.5.1719? NT, Gal 5,22-23 undramatische Form 9.7.1719 NT, Mk 1,16-17
16.4.1718
31.10.1717
Weichmann52 2.4.1720?
Neumeister50 Hoefft51
König49
unbekannt
Der Für die Sünde der Welt Brockes48 Gemarterte und Sterbende JESUS Der aller-erfreulichste TRIUMPH unbekannt
Der reformirende JOHANNES
Barthold Heinrich Brockes. Johann Ulrich von König. Erdmann Neumeister. G. D. Hoefft Christian Friedrich Weichmann.
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48 49 50 51 52
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Johann Mattheson als Kirchenmusiker
211
Die Freuden-reiche Geburt und Menschwerdung unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi nach dem Evangelisten Lucas Der Unter den Todten gesuchte, Und Unter den lebendigen gefundene Sieges-Fürst Das Grosse in dem Kleinen Oder GOTT in den Herzen eines gläubigen Christen Das Lied des Lammes
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87
143
53 Christian Postel.
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81
Das irrende und wieder zu recht gebrachte Sünden-Schaaf
26.5.1722 ?
21.3.1723 ?
Postel53
7.4.1722?
27.12.1721?
29.6.1721
6.4.1721?
unbekannt
unbekannt
unbekannt
unbekannt
unbekannt
27.12.1720?
unbekannt
Das Gröste Kind
Der Blut-rünstige Kelter-Treter Und Von der Erden erhöhete Menschen-Sohn
UA
Librettist
Titel
75
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Cannon Nr.46 72
142
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D-Hs: ND VI 144 140
NT, Passion
Dogmatik
NT (Ostern)
NT, Lk 2
Dogmatik
NT, Passion
NT, Lk 2
Thema
Passionsoratorium
Dialog Christi mit dem Christlichen Herz
Musik verloren
neben den üblichen Figuren der Weihnachtsgeschichte auch typologische Figuren wie Christi Braut, Die Andacht etc. Musik verloren; Passionsgeschichte, ohne Evangelist, keine biblischen Zitate, keine Choräle Weltlust und Gottesfurcht versuchen, sich das Sündenschaf anzueignen, nur das Eingreifen Jesu rettet das Sündenschaf Musik verloren; Erweiterung von Die Heilsame Geburt (Cannon Nr. 37)
Bemerkungen
212 Beat A. Föllmi
Das durch die Fleischwerdung des ewigen Wortes erfüllte Wort der Verheissung Wend56
105
Schubart
27.12.1727 ?
6.7.1727 ?
27.12.1725 ? 22.9.1726
1725
Schubart54
Neumeister Mattheson55
11.4.1724 ?
26.9.1723
unbekannt
unbekannt
Der gegen seine Brüder barmherzige JOSEPH
Daniel auf Ostern (Der Aus dem Löwen-Graben befreyte, himmlische DANIEL) Das Gottseelige Geheimniss Der Undanckbare JEROBEAM
Der Liebreiche und Geduldige DAVID Der überwindende Immanuel
104
96 99
95
90
88
54 Christian [Tobias?] Daniel Schubart. 55 Johann Mattheson. 56 Christoph Gottlieb Wend.
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145
144
NT Lk 2 (Weihnachten)
Musik verloren
NT, Auferstehung Musik verloren; Text identisch mit Der aller-erfreulichste TRIUMPH (Cannon Nr. 59) AT Partitur datiert vom 15. Mars 1725; evt. für den Michaelstag (29. September) NT, Lk 2 Musik verloren AT 1Kön 12–14; Musik verloren; die Geschichte Ps Jerobeams wird nur erzählt (von einer Figur namens „Sacra Scriptorum); es folgen Psalmverse AT, Gen 37 dramatische Erzählung von Ausschnitten der Josephserzählung
AT, 2Sam 15–19
Johann Mattheson als Kirchenmusiker
213
214
Beat A. Föllmi
Anhang 2: Aufbau von Johann Matthesons Oratorium Der liebreiche und geduldige David (1723). ȱ
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Text und Musik, ihr wenig geklärtes Verhältnis in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen Bernhard Billeter
In deutschen Vokalwerken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ist bekanntlich die Textausdeutung durch musikalisch-rhetorische Figuren von grosser Bedeutung. Viel zu wenig ist dabei bedacht worden, dass dies auf Orgelchoräle merkwürdigerweise nicht zutrifft. Selbst der Ausdruck von Freude, Hoffnung, Glaubenszuversicht einerseits, Schmerz, Niedergeschlagenheit, Klagen anderseits, oder auch heftige Regungen wie Jubel oder Erschrecken finden selten ihren Niederschlag in pathopoeia-Figuren (Ausdrucksfiguren), mit Ausnahmen etwa bei Dieterich Buxtehude in seinen kurzen Orgelchorälen mit coloriertem Cantus firmus im Sopran. Ähnlich verhält es sich in den frühen Orgelchorälen von Johann Sebastian Bach bis zu seiner Berufung als Hoforganist nach Weimar 1708. Seit dem Fund der so genannten Neumeister-Sammlung 1985 können wir diese viel genauer überblicken. Was den Affektausdruck betrifft, so hat der junge Bach sich, offensichtlich einer Familientradition folgend, an Orgelchorälen von Johann Michael Bach orientiert, von denen ebenfalls manche in der Neumeister-Sammlung vertreten sind, einem Repertoire, das laut Jean-Claude Zehnder den Clavierunterricht beim ältesten Bruder Johann Christoph in Ohrdruf ab 1695 spiegelt.1 Werner Breig hat auf einige Stellen aufmerksam gemacht, zum Beispiel:2 In Herzliebster Jesu (BWV 1093) sind chromatische Gänge auf- und abwärts (passus duriusculi) in den Begleitstimmen auffällig. Im Zwischenspiel vor der dritten Verszeile (T. 18 ff.) steigern sich Vorzeichenwechsel in komplementären Rhythmen (figura corta), und die Chromatik bemächtigt sich sogar der vierten Verszeile (T. 32 ff., Notenbeispiel). Die Affektdarstellung durchwirkt das ganze Stück, bezieht sich also nicht auf einzelne Worte des Textes, sondern allgemein auf das Leiden Christi, das nicht einmal in der ersten Strophe geschildert ist. 1
2
Jean-Claude Zehnder, „Des seeligen Unterricht in Ohrdruf mag wohl einen Organisten zum Vorwurf gehabt haben […]“. Zum musikalischen Umfeld Bachs in Ohrdruf, insbesondere auf dem Gebiet des Orgelchorals“, in: Bach und die Stile. Hg. Martin Geck. Dortmund 1999, 169–195. Werner Breig, Textbezug und Werkidee in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen, in: Musikkulturgeschichte. Festschrift für Constantin Floros zum 60. Geburtstag. Hg. Peter Petersen. Wiesbaden 1990, 167–182, insbes. 298.
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Bernhard Billeter
Gelegentlich stossen wir jedoch auf einzelne Textworte, die Bach mit einer Bewegungsfigur (hypotyposis) umschreibt. Ein Beispiel: Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf (BWV 1092) steht im Zusammenhang mit Jesu Darbringung im Tempel (Matthäus 2, 22–35). Bach verleiht den prophetischen Worten des greisen Simeon, seiner Sehnsucht nach einem besseren Jenseits, eine eindrückliche Darstellung mit Generalpausen und echo-artigen Motivwiederholungen von Ausschnitten der Choralmelodie nach Böhm’scher Manier. Der ausgiebige passaggio in Zweiunddreissigsteln am Ende malt bildhaft den „Lauf“, den nicht die letzte Zeile, sondern die Wiederholung des Stollens ausspricht: Ich hab vollendet meinen Lauf, des sich mein Seel sehr freuet. Da im Text „vollendet“ steht, ist es ja sinnvoll, den Lauf ans Ende des Stücks zu setzen.
Text und Musik in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen
217
Vergleichen wir diese Darstellung mit dem gleichnamigen OrgelbüchleinChoral BWV 617, so springt der Unterschied in die Augen: Dort „läuft“ die linke Hand im Umfang von zweieinhalb Oktaven von Anfang bis Schluss in sich weitgehend wiederholenden Figurationen, die Pedalpartie malt den wankenden Gang des Simeon, und der durch eine unthematische zweite Stimme begleitete Cantus firmus trägt entscheidend zur analytisch schwer nachzuweisenden Stimmung des ganzen Satzes bei, die, typisch für Bach, als mystische Meditation zum Eingehen ins Paradies umschrieben zu werden verdient. Solches ist ein extremes Gegenstück zu Bachs Lebensfreude, Sinnlichkeit und Vitalität.
Ähnliche Beobachtungen könnten wir in weiteren Jugendwerken Bachs anstellen, zum Beispiel in der Partitenreihe Ach was soll ich Sünder machen (BWV 770), die vielleicht 1703 während des kurzen Gastspiels in Weimar entstanden ist: Ein Indiz dazu bietet der in der Partita IX einmal vorkommende Ton Cis (T. 41), der um 1700 auf Orgeltastaturen beinahe nie vorkam, in der Schlosskirche von Weimar nach der Vermutung Zehnders jedoch bereits damals vorhanden war.3 Das Indiz, auch anzuwenden auf den Neumeister-Choral Ach Gott und Herr (BWV 714) und die Fantasie in h-Moll BWV 563, ist allerdings schwach, da die manualiter zu spielenden Partiten trotz der Bezeichnungen Oberwerk und Rückpositiv in Partita X nach damaliger Praxis auch auf besaiteten Tasteninstrumenten oder Hausorgeln zur häuslichen Andacht gebraucht wurden.
3
Jean-Claude Zehnder, Auf der Suche nach chronologischen Argumenten in Bachs Frühwerk (vor etwa 1707), in: „Die Zeit, die Tag und Jahre macht“: Zur Chronologie des Schaffens von Johann Sebastian Bach (Bericht über das Internationale wissenschaftliche Colloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Alfred Dürr, Göttingen, 13. – 15. März 1998). Hg. Martin Stähelin. Göttingen 2001, 150; von Zehnder widerrufen in: Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs: Stil – Chronologie – Satztechnik. Basel 2009, 138. Zehnder befürwortet aus stilistischen Gründen eine Entstehung „um 1704“.
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Bernhard Billeter
Am Orgelbüchlein hatte ja Albert Schweitzer Bachs bildhafte Tonsprache in „Tonsymbolen“ dinghaft gemacht. Spätere Forscher haben seine semantische Deutung durch die Wiederentdeckung der Figurenlehre in der musikalischen Rhetorik der Barockzeit bestätigt. Wie aber und wann kam beim jungen Bach dieser eigentliche Paradigmenwechsel bei Orgelchorälen zustande? Bach hat das Orgelbüchlein gemäss den nur in Einzelheiten umgestossenen Forschungsergebnissen von Heinz-Harald Löhlein4 im Kirchenjahr 1713/14 angelegt. Die Reinschriften von 13 der 45 Stücke im Autograph zeigen, dass diese früher entstanden sein können, nach Vermutung von Christoph Wolff und Russell Stinson ab 1708.5 Zum gleichen Ergebnis gelangen Léon Berben und Sven Hiemke.6 Hiermit ist jedoch erst ein Zeitpunkt für den Umschwung gewonnen. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden, da keine Auskünfte von Bach selbst oder aus seiner Umgebung bekannt sind. Eine bisher nicht in Betracht gezogene Hypothese soll im Folgenden dargestellt werden. Wenn wir die vier Partitenreihen Bachs miteinander vergleichen, so fällt auf, dass die drei andern, BWV 766/767/768, massive Beziehungen zum Choraltext zeigen, denen Albert Clement nachgegangen ist.7 Das beginnt bereits bei der Anzahl Partiten, die der Anzahl Strophen des betreffenden Chorals entspricht, was bei der obgenannten Reihe BWV 770 nicht der Fall ist. Clement hat daraus voreilig den Schluss gezogen, BWV 770 könne nicht von Bach stammen. Die Autorschaft Bachs ist jedoch quellenmässig gut gesichert und wird in der heutigen Bach-Forschung allgemein akzeptiert. Die von Clement geltend gemachten Textbezüge der übrigen drei Partitenreihen Bachs sind nicht unwidersprochen geblieben. In der Tat ist Clement zu weit gegangen und hat mehr in Bachs Musik hinein interpretiert, als zur Stütze seiner Forschungshypothese nötig gewesen wäre. Insbesondere hätte er die canonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch, da komm 4 5
6
7
Herausgeber der Faksimile-Ausgabe des Orgelbüchleins Leipzig 1981 (ausführliches Vorwort) und des entsprechenden Bandes der Neuen Bach-Ausgabe IV/1 1983. Christoph Wolff, Zur Problematik der Chronologie und der Stilentwicklung des Bachschen Frühwerkes, insbesondere zur musikalischen Vorgeschichte des Orgelbüchleins, in: Bericht über die Wissenschaftliche Konferenz zum V. Internationalen Bachfest der DDR in Verbindung mit dem 60. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft. Leipzig 25. bis 27. März 1985. Hg. Winfried Hoffmann und Armin Schneiderheinze. Leipzig 1988, 449–455; Russell Stinson, The Compositional History of Bach’s Orgelbüchlein, in: Bach Perspectives [Bd. 1]. Lincoln (NE) und London 1995, 43–78 und Russell Stinson, The Orgelbüchlein. New York usw. 1996. Léon Berben in: Bachs Klavier- und Orgelwerke. Hg. Siegbert Rampe. Laaber 2007, 511– 531 und Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach: Orgelbüchlein. Kassel usw. 2007, 36–48, Tabelle 232 f. Albert Clement, O Jesu, du edle Gabe. Studien zum Verhältnis von Text und Musik in den Choralpartiten und den canonischen Veränderungen von J. S. Bach. Diss. Universität Utrecht 1989.
Text und Musik in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen
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ich her (BWV 769), eines der allerspätesten Werke ohne jeden Bezug zur Gattung der Partitenreihen, besser weggelassen. Wenige Beispiele sollen hier genügen aus Christ, der du bist der helle Tag, BWV 766, der frühesten der drei Partitenreihen, wo Clement ins Schwarze getroffen hat und wo nicht. Der Choral bittet um Schutz in der Nacht, in der zweiten Strophe um Bewahrung vor dem Teufel, den die linke Hand in Form einer Schlange darstellt. Solche Darstellungen Satans sind bei Bach häufig. Am bekanntesten ist sie in der Arie aus der Matthäuspassion Blute nur BWV 244/8. Wir finden sie auch in Bachs Kantate BWV 71 für den Ratswechsel in Mühlhausen am 4. Februar 1708. Im sechsten Satz lautet der Text: Du wollest dem Feind nicht geben die Seele deiner Turteltauben. Violoncello und Fagott stellen den „Feind“ dar:
Im ersten Satz der ebenfalls in Mühlhausen (1707) entstandenen Kantate BWV 131 Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir hören wir flehende Motive, die denjenigen der rechten Hand in der zweiten Partita ähnlich sind, vor allem in den Takten 88 ff.:
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Bernhard Billeter
Greifen wir eine entsprechende Stelle aus der Partita II heraus, T. 6 ff.:
Der Text lautet: Ach lieber Herr, behüt uns heint, in dieser Nacht fürm bösen Feind, und laß uns in dir ruhen fein, daß wir fürm Satan sicher seyn. [letzte Zeile wiederholt]
Das siebenmalige Ansetzen der vierten Choralzeile mit den Tonwiederholungen ist in der Tat auffällig (Notenbeispiel). Solche Modellspiele hat Bach vor allem bei Georg Böhm kennen gelernt.8 Die Zahl 7 hat ja eine besondere symbolische Bedeutung als erste transzendente Zahl: Siebenecke lassen sich nicht mehr zu Polyedern zusammenfügen. Die Grenze liegt bei den Sechsecken, die sich wie Bienenwaben zweidimensional ausbreiten können. Nicht ohne tiefere Bedeutung ist auch, dass in unseren Tonsystemen von Pythagoras bis in die Neuzeit der siebente Teilton, die „natürliche Septime“, keine Rolle spielt, wenn wir von ethnomusikalischen Verwendungen, etwa bei Alphorn, absehen. In Märchen (z. B. „Die sieben Raben“ bei den Gebrüdern Grimm), im Alten Testament (Schöpfungstage) und im Neuen (Öffnen der sieben Siegel in der Offenbarung) kommt die Zahl 7 häufig vor. Ob diese Zahl hingegen das in der zweiten Strophe verwendete Wort „ruhen“ ausdrücken soll, kann offen bleiben. Clement meint: In der Bibel wird die Zahl 7 mit der Ruhe in Beziehung gebracht. Bereits in der Schöpfungsgeschichte lesen wir, dass Gott am siebten Tag ruhte von all seinen Werken, die er gemacht hat. (1. Mose 2, 3) Ferner ist an das Sabbatjahr und an den Sabbat zu denken. […] Wenn man nun auf die Textidee der vierten Zeile achtet, ist nicht auszuschließen, dass der Komponist die Zahl 7 hier bewusst angebracht hat.9 8 9
Jean-Claude Zehnder, Georg Böhm und Johann Sebastian Bach. Zur Chronologie der Bachschen Stilentwicklung, in: Bach-Jahrbuch 1988, 73–110. Idem, 34.
Text und Musik in Johann Sebastian Bachs frühen Orgelchorälen
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Die letzte Strophe schliesst mit einer Doxologie: So schlafen wir im Nahmen dein, dieweil die Engel bey uns seyn, du heilige Dreyfältigkeit, wir loben dich in Ewigkeit.
An sich könnte hier, wie Clement10 es tut, das dreimalige Ansetzen der vierten Choralzeile mit der Trinität in Zusammenhang gebracht werden. Nur leuchtet dann nicht ein, dass in der Partita II die Zahl 7 durch sechsmaliges Ansetzen und die vollständige vierte Zeile zusammen zustande kommt, hier hingegen durch dreimaliges Ansetzen, also ohne die vierte Zeile. Vollends bedenklich wird bei Clement das Zählen in der Partita V: An derselben Stelle der Strophe setzt der Cantus firmus in der Mittelstimme viermal an, das vierte Mal jedoch nur zwei Viertel lang, und die Zahl 5 soll erklärt werden mit den fünf Wunden Jesu, die im Text keineswegs angesprochen sind. Ist es notwendig, hier aussermusikalische Bezüge zu bemühen? Wo in der Partita III, Takt 10, Synkopen des Cantus firmus auftreten, leuchtet eine Beziehung zum Text ein: daß wir nicht falln in Sünd und Schand. 10 Idem, 49.
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„Die syncopatio gibt hier als Verstoss gegen die Taktordnung wohl die Aktivität des Widerstandes gegen die Sünde wieder und betont damit die Bitte.“11 So wechselt bei Clement Einleuchtendes und an den Haaren Herbeigezogenes ab, was der Glaubwürdigkeit seiner Hypothese schweren Schaden zufügt.
Der Blick auf die Partitenreihen unterstützt unsere Vermutung, gerade hier, wo die Texte verschiedener Strophen dazu einladen, sie in Variationen mit musikalischen Mitteln darzustellen, sei bei Bach der obgenannte Paradigmenwechsel zu suchen. Dazu passt die Beobachtung von Christoph Wolff, dass die neue Kurzform des Orgelbüchlein-Chorals, nämlich die zwischenspiellose Durchführung eines Cantus firmus mit einer Begleitung in gleich bleibenden Figurationen, verwandt sei mit derjenigen der einzelnen Partiten. Es fehlt aber noch ein Glied in der Indizienkette: Wie kam Bach die Idee, in Partitenreihen die in der Vokalmusik übliche Textdarstellung anzuwenden? Hier müssen wir uns den frühesten Kantaten Bachs zuwenden. Der bereits mit achtzehn Jahren berühmte Orgelvirtuose und Orgelsachverständige hatte bei seiner ersten kirchlichen Anstellung in Arnstadt an der nach einem Brand neu errichteten Bonifaziuskirche mit ihrer vom Mühlhäuser Johann Friedrich Wender 1701–1703 errichteten „modernen“ (nicht mehr mitteltönig gestimmten) Orgel zwar nebenbei auch vokale Kirchenmusik aufzuführen, aber keine Verpflichtung, solche zu komponieren. Für die Aufführung stand ihm nur ein qualitativ unzureichender und undisziplinierter Schülerchor zur Verfügung, der dritte und schlechteste der Kantorei an der einzigen Lateinschule in Arnstadt, was zu den bekannten Spannungen führen musste. Die Orgel stand auf der obersten Empore, ohne Sichtkontakt zu der Schülergruppe auf der Chorempore. Die von Bach improvisierten üblichen Zeilenzwischenspiele der Choralbegleitung und die ausgefallenen Harmonien verwirrten die Gemeinde und die Schülergruppe.12 Dass gar nichts „musiciret“, d. h. keine Kantaten 11 Idem, 37. 12 Konrad Küster, Der junge Bach. Stuttgart 1996, 143–146.
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aufgeführt wurden, wie das Konsistorium Bach vorhielt, ist unter diesen Umständen begreiflich.13 Die frühesten Kantaten Bachs, die in der älteren Form ohne Rezitative und in ihrer Besetzung mit doppelten Bratschen die Erlebnisse Bachs während seines Besuches bei Dieterich Buxtehude in Lübeck (1705/06) spiegeln, sind vom Jahre 1707 oder 1708 an zu datieren. Auch in Mühlhausen und in Weimar bis 1714 gehörte das Komponieren von Kantaten für „normale“ Sonntagsdienste nicht zu Bachs Amtspflichten; seit der Ernennung zum Konzertmeister war es eine Kantate pro Monat. Bei der Kantate BWV 106 Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (Actus tragicus), einer Begräbnismusik, ist der Anlass nicht bekannt. Vermutlich handelte es sich um Bachs am 10. August 1707 in Erfurt verstorbenen Onkel Tobias Lämmerhirt. Man muss sich vorstellen, dass bei der rasch erfolgten Grablegung die weit verzweigten Familien Lämmerhirt und Bach mehrheitlich nicht anwesend sein konnten, aber sich etwas später zu einer Trauerfeier im privaten Kreis einfanden. Nach Josef Mertin14 ist so die intime Instrumentierung mit zwei Blockflöten, zwei Viola da Gamba, Basso continuo (mit Laute?) und vier Solostimmen zu erklären. Die Trauungskantate 196 Der Herr denket an uns wird am wahrscheinlichsten für die Hochzeit des Pfarrers Johann Lorenz Stauber und Regina Wedemann zu Mühlhausen am 5. Juni 1708 entstanden sein. Dieser Pfarrer hatte acht Monate früher Johann Sebastian und Anna Barbara Bach in Dornheim getraut. Die bereits erwähnte Kantate BWV 131 (1707) trägt am Ende den autographen Vermerk „Auff begehren Tit: Herrn D: Georg: Christ: Eilmars in die Music gebracht.“15 Der Pfarrer Eilmar, Mühlhausen, hatte keine dienstliche Verbindung mit Bach, war aber mit ihm befreundet. Bei der Kantate BWV 150 Nach dir, Herr, verlanget mich mit unbekannter Bestimmung ist die Datierung noch unsicherer: um 1708–1710 (oder früher?).16 Die Kantate BWV 223 Meine Seele soll Gott loben wurde von Philipp Spitta in Langula entdeckt,17 ist aber verschollen, so dass Bachs (oder Händels?) Autorschaft nicht überprüfbar ist. Genau bekannt hingegen ist die Bestimmung der Kantate BWV 4 Christ lag in Todesbanden, nämlich für die Bewerbung in Mühlhausen am 24. April 1707. Es ist eine Kantate für den 1. Ostertag mit einer kurzen Sinfonia,
13 Bach-Dokumente (Supplement zu Johann Sebastian Bach „Neue Ausgabe sämtlicher Werke“). Kassel usw. 1963–2008, Bd. 2, 21. 14 Mündlich in seinem Unterricht an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst, Jahr 1959 oder 1960. 15 Bach-Dokumente (wie Anm. 13), Bd. 3, 638. 16 Nach BWV2a, 1998. 17 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach. Leipzig 1873, Bd. 1, 339-340.
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die in 14 (Zahl des Namens BACH) Takten die erste Choralzeile anklingen lässt, und sieben Vokalsätzen, die die sieben Strophen von Luthers Übersetzung der Ostersequenz Victimæ paschali laudes auf charakteristische, textbezogene Weise vertonen. Die Singstimmen werden ad libitum von einem Cornetto (Zink) und drei Posaunen verdoppelt. Daneben sind lediglich Streicher und Basso continuo besetzt, so dass Bach diese Kantate später mehrmals wieder aufführen konnte. Es sind sechs Cantus-firmus-Sätze in der Art von Johann Pachelbel18 und Bachs wohl frühester Choralsatz der fortan beibehaltenen Art ohne Zwischenspiele, mit den üblichen Achtelbewegungen. Versus 1 ist ein Chorsatz mit Cantus firmus in breiten Notenwerten im Sopran. Alt und Tenor werden durch die zwei Bratschenstimmen verdoppelt. Die Todesbande könnten durch die komplementären figuræ suspirantes der beiden Violinen in Sechzehnteln dargestellt sein:
Sie herrschen vor bis T. 38, wo sie lebhaften durchlaufenden Figuren und der figura corta, Albert Schweitzers „Freudenrhythmus“, Platz machen (fröhlich sein). Im Kontrast dazu steht bei der zweiten Textzeile der passus duriusculus in Alt, Bass und Tenor von Takt 8 an: für unsre Sünd gegeben. Von weiteren Textdarstellungen nennen wir nur noch folgende: in Versus 4 den „wunderlichen Krieg“ zwischen erster und zweiter Zeile in einer einzigartigen Doppelfuge mit Cantus firmus im Alt, die vier Stimmen nur vom Continuo begleitet:
18 Friedhelm Krummacher, Traditionen der Choraltropierung in Bachs frühem Vokalwerk, in: Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs: Kolloquium veranstaltet vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Rostock, 11.–13. September 1990. Hg. Karl Heller und HansJoachim Schulze. Köln 1995, 230 und Friedhelm Krummacher, Bachs Zyklus der Choralkantaten: Aufgaben und Lösungen (= Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 81). Göttingen 1995, 15.
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Das Osterlachen, eine heute noch in orthodoxen Kirchen gepflegte Sitte, nimmt Luther mit folgenden Worten auf: Die Schrift hat verkündiget das, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden. Den Spott lässt Bach sich in einer drastischen, Hoquetus-artigen Schilderung nicht entgehen. In Versus 5, einer streicherbegleiteten Bass-Arie, lockt folgender Text zu musikalischem Gemälde: Das Blut zeichnet unser Tür, [Anspielung auf den Aus-
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zug aus Ägypten] das hält der Glaub dem Tode für, [sehr langer tiefster und höchster Ton eines andauernden verminderten Septakkordes] der Würger [sehr langer hoher Ton des Basses zur Figur des Erschreckens in der Violine 1] kann uns nicht, [Pause] nicht, [Pause] nicht, [Pause] nicht schaden. In allen Strophen gibt das abschliessende Halleluja Gelegenheit zum Jubel, in Versus 1 ausgedehnt, auch mit Taktwechsel alla breve. Mit diesen wenigen ausgewählten Beispielen soll es sein Bewenden haben. Wer weitere Beispiele sucht, findet sie in meinem Buch über Bachs Klavier- und Orgelmusik.19 Ist nicht anzunehmen – so die Hypothese –, dass die frühe Choralkantate BWV 4 mit sieben Strophen eines Choraltextes im jungen Bach das Verlangen ausgelöst hatte, die Textdarstellung auch auf Choralpartiten und von da aus auf die übrigen Choralbearbeitungen für Orgel anzuwenden?
19 Bernhard Billeter, Bachs Klavier- und Orgelmusik. Winterthur 2011.
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Fraglicher Schluss, kein trauriges Ende: Das Finale von Joseph Haydns Sinfonie in H-Dur Nr. 46 Joseph Willimann
Jubiläen bieten glücklicherweise auch Gelegenheit, vermeintlich Vertrautes neu zu sichten. Dies gehörte zu den Zielen meiner Vorlesung an der Hochschule für Musik Freiburg im Breisgau über Joseph Haydn, die 2009 den 200. Todestag des Komponisten zum Anlass nahm, sein höchst innovatives Schaffen zu thematisieren.* Dabei war auch eine jüngere Arbeit von Hans-Josef Irmen in manchen Belangen hilfreich.1 Stutzig machen darin allerdings die Hinweise auf die Deutung des Finales von Haydns H-DurSinfonie Nr. 46 (1772),2 die wohl kurz nach der Fis-Moll-Sinfonie Nr. 45 („Abschiedssinfonie“, 1772) entstand und mit jener u. a. das Merkmal eines außergewöhnlich gestalteten Schluss-Satzes teilt. Beide Stücke zählen so zu mehreren Sinfonien des Zeitraums von 1768 bis 1772,3 an denen Haydns intensive Exploration ungewohnter Problemstellungen und Lösungen besonders deutlich zum Ausdruck kommt, in diesen beiden Fällen betrifft dies vornehmlich die Finale-Experimente. Während das im Presto und fis-Moll einsetzende Finale der Sinfonie 45 schließlich in einem FisDur-Adagio immer mehr ausgedünnt und mit einem sehr leisen und kurzen Fis-Dur-Sextakkord der ersten beiden Violinen soli endet, wird im HDur-Finale der Sinfonie 46 – es ist mit seinem übermütigen rondo-haften Thema von Haydn mit „Presto e scherzando“ überschrieben – kurz vor Schluss die vorwärts treibende Bewegung einmal mehr unterbrochen, und es tritt eine völlig unerwartete, ausführliche Reminiszenz ans Menuett auf (30 Takte, im langsamen Menuett-Tempo), wonach der Satz wiederum in eigenwilliger Weise mit dem Presto-Thema geschlossen wird (vgl. Notenbeispiel am Schluss dieses Beitrags). Die Details dieser Eigenwilligkeit – einige werden noch zur Sprache kommen – verstärken die Irritation eines *
Im Nachgang zur Vorlesung erschien eine erste Version dieses Textes im internen Jahrbuch der Hochschule für Musik Freiburg i. Br. 8/9 (2009), 107–122.
1 2 3
Hans-Josef Irmen, Joseph Haydn. Leben und Werk. Köln etc. 2007. Ibid., 167–168. Zur Gruppierung und Chronologie der Sinfonien vgl. Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie. München 1996; dort zur einschlägigen „Gruppe IV“, 155–181.
228
Joseph Willimann
solchen Sinfonieschlusses. Ihr begegnet Irmen nun erstaunlicherweise so, dass er die Umschreibung eines Editors als „gay and humorous“ vollkommen zurückweist4 und bezüglich der Stimmungslage des Finale-Schlusses angebliche Indizien für das „genaue Gegenteil“5 namhaft macht. Es bleibt kein Zweifel: Irmen hält diesen Schluss für ein trauriges Ende (auch wenn er sich vorsichtig genug gibt, den vermeintlichen Sachverhalt vor allem mit rhetorischen Fragen zu suggerieren und letztlich von einem „Geheimnis“6 zu sprechen). Damit steht Irmen in der Literatur aber so ziemlich allein und verzichtet zudem auf nähere Erläuterungen, wie sich seine Sicht zu Haydns Überschrift „scherzando“ genau verhalte. Die Sachlage reizt zur Klärung und dient nicht zuletzt als prägnantes Beispiel dafür, dass die aktualisierte Deutung musikalischen Gehalts zwar immer eine Auswahl aus mehreren Deutungsmöglichkeiten darstellt, dass sich aus diesen aber mehr oder weniger plausible ein- bzw. ausgrenzen lassen.7 Und es zeigt sich an diesem konkreten Beispiel, wie sich selbst ungenaue Bestandesaufnahmen von Indizien in unterschiedlichen Kommentaren im Laufe der Zeit verselbständigen und schließlich zur Unterstellung eines doch wohl irreleitenden „heimlichen Programms“8 führen können. Die behaupteten Indizien sind allen voran: vermeintliche musikalische Seufzer und angeblich eine biographische Krise des Komponisten, wobei letzteres Argument noch mit einem großen Zeitsprung operiert.
Vermeintliche Seufzer Im Allegretto-Menuett der Sinfonie 46 (3. Satz) treten im zweiten Teil (ab T. 15) mehrmals absteigende Achtel-Ketten auf, die jeweils für einen Takt eine Reihung von drei Appoggiaturen bieten: paarige Sekundfall-Reihen, in denen – und das wird entscheidend sein – ohne jeden Unterbruch das nächste 4
5 6 7
8
Irmen verweist auf das Vorwort von Gwilym Beechey in einer Partitur-Ausgabe bei Eulenburg [Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 168]. Das Vorwort konnte vom Verfasser nicht eingesehen werden. Die mir zur Verfügung stehende Eulenburg Taschenpartitur [Symphony No. 46 B major by Joseph Haydn, Edition Eulenburg, No. 528 (= Hinrichsen Edition No. 27a), London o. J.] ist ohne Vorwort publiziert. Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 168. Idem. Vgl. Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Hg. Alexander Becker und Matthias Vogel. Frankfurt/M. 2007; darin besonders der Beitrag von Nicholas Cook [Musikalische Bedeutung und Theorie, 80–128; wo von „potentieller“ und „aktualisierter“ Bedeutung (109) die Rede ist]. Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 168.
Das Finale von Joseph Haydns Sinfonie in H-Dur Nr. 46
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Paar vom vorher erreichten Ton weiter fällt (vgl. Notenbeispiel, T. 153, am Schluss dieses Beitrags). Diese Achtelgänge – und von ihnen ausgehend gleich auch die in ähnlicher Weise aufsteigenden Achtelgänge im ersten Teil des Menuetts – wurden in der Literatur mit angeblich typisch barocken Seufzerfiguren in Verbindung gebracht. So behauptet H. C. Robbins Landon 1978 in der kurzen Besprechung der Sinfonie im zweiten Band seines wahrhaft monumentalen fünfbändigen Werks über Haydns Leben und Schaffen9, das Menuett sei geprägt von „Seufzer“-Folgen.10 Die Einschätzung ist allerdings nicht triftig, denn sie übersieht den entscheidenden Punkt, dass das Wesentliche an der barocken Figur der „suspiratio“ eine Pause jeweils zu Beginn ist.11 Haydn wusste an andern Stellen diese barocke Figur und ihre Affektlage durchaus zu nutzen: so als wiederholter Halbtonfall im dramatischen ersten Satz der Sinfonie 46 in einem Auflösungsfeld gegen Schluss der Exposition (T. 45 ff., zuerst 2. Vl.); oder – um ein weiteres Werk der gleichen Sinfonie-Gruppe zu wählen – etwa gleich nach Beginn der EMoll-Sinfonie Nr. 44 (T. 3), wo neben der symptomatischen Artikulation auch noch der besonders intensivierende Halbton-Anstieg und -Fall vorkommen.12 (Die Sinfonie 44 trägt nicht von ungefähr den Beinamen „Trauer“-Sinfonie.) Hier im Menuett der Sinfonie 46 aber sind die Appoggiaturen-Treppchen viel eher galante Spielfiguren in einem vorherrschend entspannten Ton13. Sie verfügen allenfalls gerade noch über eine stark stilisierte und damit 9 H. C. Robbins Landon, Haydn at Eszterháza 1766–1790 (= Haydn: Chronicle and Works 2). London 1978, 303–304. 10 Ibid., 304: „The Menuet, a slowish and graceful movement, is marked by ‚sighing‘ sequences, an old Baroque device of proceeding upwards or (usually) downwards in a pattern such as the passage illustrated.“ (Landon gibt als Bsp., Vl.1, T. 15–18, vgl. hier im Bsp. T. 153–6, Vl.1.) 11 Johann Gottfried Walther charakterisiert die Seufzer-Figur etwa in seinem Lexikon (1732): „Figura suspirans […] an statt der vorderen längeren Note [einer sog. Figura corta], eine halb so grosse Pause, und darauf eine den andern beyden gleiche Note hat.“ (zit. nach Dietrich Bartel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber 2004 (4. Aufl.), 248; vgl. dort auch andere übereinstimmende Zeugnisse etwa von Athanasius Kircher u. a., 247–248); entsprechend und auch mit Beispielen etwa der kurze Artikel „Suspiratio“ im Sachteil von Riemann Musik-Lexikon, 1967, 920; oder innerhalb einer umfassenden Aufstellung rhetorischer Figuren auch in bereits zurückliegenden Auflagen des New Grove Dictionary of Music and Musicians, etwa die Aufl. von 1980 im Artikel „Rhetoric and music“, unter „§ 3: Musical figures, G. Figures formed by silence (Rests)“ (New Grove Dictionary of Music and Musicians. Hg. Stanley Sadie. London 1980, Bd. 15, 800). 12 Ludwig Finscher stellt die Anfänge von Nr. 46 und 44 einander direkt gegenüber, um ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu zeigen: Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2002 (2. Aufl.), 276–277. 13 Finscher charakterisiert das Menuett wie folgt: „Das Menuett erinnert mit seiner (bescheidenen) Vorhalts-Kontrapunktik ebenfalls an das fis-Moll-Werk, ist aber im Ton entspannter, in der Faktur einfacher und näher am Tanzmenuett.“ (Ibid., 278).
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bloß schwache Verwandtschaft zu Seufzerfolgen, was sie vielleicht als galante Spielfigur besonders beliebt machte. Schon eine ziemlich zufällige Stichprobe führt jedenfalls auf mehrere Stellen diverser Stücke mit solchen Treppchen.14 Die Einschätzung der entsprechenden Achtelfolgen im Menuett der Sinfonie 46 als „Seufzer“ begegnet dann bei James Webster wieder in dessen höchst anregendem Buch über die „Abschieds“-Sinfonie und die Idee des klassischen Stils, wo auch das Finale der Sinfonie 46 zur Sprache kommt.15 Es ist hier zunächst vor allem Websters Verdienst hervorzuheben, mit Nachdruck auf musikalische Gemeinsamkeiten und komplementäre Kontraste zwischen den beiden bemerkenswerten Sinfonien 45 und 46 hingewiesen und sie als aufeinander bezogene Schwesterwerke in den Blick gerückt zu haben. Das gilt unabhängig davon, ob man seinen „programmatischen“ Erklärungen folgt oder nicht. Wir werden ihnen noch begegnen. Was die einschlägigen Achtelgänge des Menuetts betrifft, fällt einerseits auf, dass die falsche Gleichung „Appoggiatura-Figur“ gleich „Seufzer-Motiv“ wiederkehrt,16 andererseits, wie genau Webster die harmonischen Verhältnisse der einzelnen Achtel bespricht – die harmoniefremden Achtel können je nach Stellung als Vorausnahmen oder Vorschläge (Appioggiature) gewertet werden –, um so das Maß ihrer unterstellten Wirkung als angebliche Seufzer zu qualifizieren. Da wird dann für die aufsteigende Achtelfolge im ersten Teil ein Widerspruch zum „seufzenden“ Affekt konstatiert, während bei den fallenden Achteln (ab T. 15) die „Seufzer in den Vordergrund“ träten, da es sich nun um einen „dying fall“ 14 So in einem Stück Haydns für die Flötenuhr (1793) für Fürst Nikolaus Esterházy (6/8Allegretto in G, T. 3 und T. 23, jeweils in ununterbrochener 16tel-Bewegung), ediert als Nr. 27 in: Joseph Haydn, Werke für das Laufwerk (Flötenuhr) (= Edition Nagel 802). Hg. Ernst Fritz Schmid. Kassel 1954, 40–41. Haydn hatte dieses Stück auch separat als „Allegretto per il Clavicembalo o Piano Forte“ 1794 bei Artaria in Wien drucken lassen (ibid., VI). Auffällig gehäuft als Achtel-Ketten im D-Moll-Trio der unvollständig überlieferten Sonate Nr. 28 (Hob. XIV/5) in D (1765/66?), wobei hier der Einsatz jeweils auf dem zweiten Achtel eines Taktes (T. 41 f.) tatsächlich der Seufzerfigur entspricht, was im Folgenden noch durch explizite Pausensetzung bestätigt wird (ab T. 54 mehrmals hintereinander) [Joseph Haydn, Sämtliche Klaviersonaten, Bd. 1 b (= Wiener Urtext Edition 50027). Hg. Christa Landon. Wien 1973 (5. Aufl.), 137–138]. Wieder in durchgehender 16tel-Bewegung im A-Dur-Andante (2. Satz) der Sonate Nr. 30 (Hob. XVI/19) in D (1767) (T. 19; T. 82, hier gleich anschließend auch aufwärts) (ibid., 160 und 162). 15 James Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony and the Idea of Classical Style. Through-Composition and Cyclic Integration in his Instrumental Music. Cambridge etc. 1991. Im zweiten Teil dieses Buches („Cyclic Organization in Haydn’s Instrumental Music“) wird die Sinfonie 46 unter den Einzelbeispielen diskutiert (ibid., 267–287). 16 „The melodic material of the minuet is based largely on a two-note appoggiatura figure – that is, a sighing motive.“ (ibid., 283; Hervorhebungen durch den Autor dieses Beitrags).
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handle.17 Websters Differenzierung der harmonischen Konstellationen mag hilfreich sein, um die schillernden klanglichen Valeurs der Achtel-Treppchen auf und ab bewusst zu machen und damit ihren keineswegs simplen Einsatz durch Haydn zu erläutern. Aber um barocke Seufzerfiguren handelt es sich trotzdem nicht. Weder Landon noch Webster lassen sich allerdings von ihren Seufzer-Eindrücken für die gesamte Beurteilung des Finales von Sinfonie 46 – wo die Achtelketten mit dem Menuett ja wiederkehren – soweit bestimmen, dass sie einen traurigen Affekt am Ende für vorherrschend erklären würden. Vielmehr sprechen sie insgesamt von Witz und Komik des Satzes.18 Für Irmens diametrale Abwendung von dieser Einschätzung brauchte es noch eine biographische Krise, sowie ein Autograph, wo am Ende der Platz knapp wurde.
Angebliche Krise, mit eingebautem Zeitsprung Es zählt zu den immer wiederkehrenden Topoi der Haydn-Rezeption, dass für die Häufung von Moll-Sinfonien und für weitere in der Tat exzentrische Aspekte der Kompositionen in den späten 1760er und frühen 1770er Jahren auch persönliche Umstände des Komponisten in Rechnung zu stellen seien. Vom Grad der Differenziertheit solcher Überlegungen hängt es ab, ob sie erhellende Möglichkeiten oder biographische Trivialisierungen für die Sicht der Werke bieten. Stark wirksam ist dabei offensichtlich der Sog der viel zitierten Anekdote in Bezug auf die „Abschiedssinfonie“ (Haydn hätte im Herbst 1772 mit der komponierten Auflösung des Ensembles im Finale dem Fürsten im weit abgelegenen Schloss Eszterháza zu verstehen gegeben, dass die Musiker endlich zu ihren Familien nach Eisenstadt zurückkehren wollten, und hätte damit Erfolg gehabt).19 Ihren Beinamen bekam die Sinfonie allerdings erst 1784 anlässlich einer Aufführung in Paris, und die fürstliche Kapelle scheint in jenem Herbst 1722 –
17 „In m. 15, however, the sighs come to the fore: the two-bar phrase is a ‚dying fall.‘“ (ibid.) 18 Landon, Haydn at Eszterháza 1766–1790 (wie Anm. 9), 304: „It is a witty, ‚joking‘ (as the title implies) movement, with a flair for the grotesque.“; Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15) beurteilt die Coda als: „a good joke“ (275) und spricht später genereller von „the joking finale“ (287). 19 Erstmals erzählt von dem mit Haydn befreundeten Zeitzeugen Georg August Griesinger in Georg August Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn (1809/1810). Hg. Franz Grasberger. Wien 1954, 18–19; auch referiert in Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 273.
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zumindest teilweise – für weitere Aufgaben in Eszterháza geblieben zu sein. 20 Unbestritten ist Eszterháza ein abgelegener Ort, und er war damals noch von Sümpfen umgeben. Das mögen gute Gründe sein, weg zu wollen. Dass die existentielle Dringlichkeit dieses Wunsches im Herbst 1772 für Haydn selbst nun aber mit Briefen aus dem Jahr 1790 belegt und also zurückprojiziert werden könnte und dann gleich noch als zentrales Movens für die experimentelle Gestaltung nicht nur der Sinfonie 45, sondern auch der Sinfonie 46 vermutet würde, ist doch einigermaßen überraschend. Beobachten wir drei Stationen auf dem Weg der Genese eines solchen wirklich sehr „heimlichen Programms“. Symptomatisch für den Versuch biographischer Erklärung – wenn auch noch relativ unverfänglich – ist das Vorwort zur 1966 erfolgten Edition der einschlägigen Sinfonien in der Haydn-Gesamtausgabe. Schon hier ist aber der Zeitsprung bereits impliziert, fällt doch ein Hinweis auf Frau von Genzinger, die erst 1789 mit Haydn in Kontakt trat.21 Webster hat dann auf der Suche nach dem psychologischen „Programm“ einer „programmatischen Interpretation“ der Sinfonie 45 u.a. einen der inzwischen berühmtesten Briefe Haydns an Genzinger ausdrücklich zitiert.22 Es ist der Klagebrief vom 9. Februar 1790 aus Eszterháza, wohin Haydn eben gerade wieder von Wien zurückgekehrt war, wo er sich einsam und verlassen fühlt und nun von seiner „Einöde“ schreibt.23 Die Hilfskonstruktion ist klar: Ganz offensichtlich fehlt ein zeitnäheres Dokument für das Jahr 1772, welches die Unbill des Ortes Eszterháza aus Haydns Sicht belegen könnte und somit eine psychologische Situation des Künstlers explizit machen würde, ohne deren konkrete Erfahrung man ihm offenkundig kaum solche Normverstöße zutrauen möchte. Da drängt sich doch die Frage auf: Braucht es diese Konstruktion mit Zeitsprung, um den musikalisch-dramaturgischen
20 Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn (wie Anm. 19), 18–19. 21 Im Vorwort heißt es: „Die geist- und gefühlsbetonte Entwicklung im Charakter seiner Musik dieser Zeit darf man vielleicht mit rein menschlichen Bedingungen in Zusammenhang bringen. Welches diese inneren Ursachen gewesen sind, können wir nicht genau feststellen. Wir wissen jedoch aus Haydns Briefen (besonders denjenigen an Frau von Genzinger), dass er in der Tiefe seiner Seele auch einen melancholischen und fast pessimistischen Zug verbarg.“ [ Joseph Haydn, Sinfonien 1767–1772 (= Haydn Werke, Reihe I, Bd. 6). Hg. C.-G. Stellan Mörner. München etc. 1966, VIIb]. Zu Marianne Genzinger vgl. Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 82. 22 Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15): „Here I sit in my wasteland“ (116). 23 Haydns Brief Nr. 142 der Edition von Dénes Bartha beginnt nach der Anrede mit: „Nun – da siz ich in meiner Einöde – verlassen – wie ein armer waiß – fast ohne menschlicher Gesellschaft – traurig – voll der Erinnerung vergangender Edlen täge – ja leyder vergangen – […]“, Joseph Haydn, Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Hg. Dénes Bartha. Kassel etc. 1965, 228.
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Affektverlauf der Sinfonie 45 als Resultat einer originellen kompositorischen Idee und deren Ausarbeitung zu erklären? Die dritte Station wird eröffnet mit Irmens Zusammenfassung von Websters These zur Sinfonie 45 und lehnt zunächst einsichtigerweise die Auffassung einer realistischen musikalischen Schilderung ab.24 In der Tat ist die Auflösung und der Morendo-Schluss in Fis-Dur am Ende der „Abschiedssinfonie“ wohl von kaum zu überbietender Melancholie, gerade in der Spannung zwischen dem Zustand idyllischer Versöhnung, wie sie der ruhige Adagio-Fluss in Fis-Dur (eben nicht mehr fis-Moll!25) zu schaffen anschickt, und dem doch unaufhaltsamen Vergehen im allmählichen Verstummen. Die Augenblicke vergehen, seien sie noch so schön … (Oder waren sie nur ersehnt und gar nie da?) Ob sich im Übrigen die oberflächlich lustige und kalauernde Trivialisierung dieses Schlusses beim Wiener Neujahrskonzert des Haydn-Jahres 2009 – inklusive Pantomime nicht nur abgehender Musiker, sondern auch des zärtlich einen der verbleibenden Streicher tätschelnden Dirigenten – noch wird überbieten lassen?26 Man darf gespannt sein. – Wenn man also Irmens erneuten Hinweis auf den alles andere als lustigen Schluss der „Abschiedssinfonie“ gerne einmal mehr zur Kenntnis nimmt,27 verlieren dann aber seine anschließenden Überlegungen zur „inhaltlich“ verwandten Sinfonie 46 in H-Dur an Plausibilität. Ihr Presto-Finale sei eben ein trauriger Schluss. Als Indizien dienen die angeblichen Seufzer des wieder aufgenommenen Menuetts und ein jetzt ausführliches Zitat aus Haydns Klagebrief an Marianne Genzinger. Daraus wird eine trostlose Atmosphäre vermutet, die „Haydn von Anfang bis Ende in Eszterházy [sic] häufig umgab“28. Deswegen scheint für Irmen die suggestive Frage angebracht: „Lesen sich die 24 Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 167: „Also doch eine Reisebeschreibung als Programm einer Sinfonie, wie Carpani behauptet? Keineswegs! Haydns Sinfonie spiegelt die Reise nicht wider, betont Webster, keine pittoreske Szenerie, keine wiehernden Rosse, weder ein im Morast feststeckender Wagen noch Grüße von glücklichen Weibern und Kindern. Die Sinfonie stellt eine psychologische Entwicklung dar, die korrespondiert mit unseren Gefühlen von einer verzweifelt ersehnten Heimreise – ein sehr angemessenes Thema für eine musikalische Illustration. Und eines wird schließlich deutlich: Das ‚happy ending‘ der Abschieds-Sinfonie existiert nur in den Geschichten über sie.“ 25 Irreführend ist Michael Walters Hinweis auf ein „fis-Moll“ am Ende der Sinfonie (Michael Walter, Haydns Sinfonien. München 2007, 50); man möchte einen Druckfehler annehmen, wobei die Feststellung gleich zweimal fällt (ibid.). 26 Live-Übertragung am Fernsehen durch ORF 2 am 1.1.2009; privater Mitschnitt auf DVD. 27 Zeugnisse von der melancholischen Wirkung des Schlusses gibt es auch von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann: „[…] auch lachte Niemand dabei, da es gar nicht zum Lachen war.“ (Schumann), zit. nach Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 275; dort auch die Angaben zu Mendelssohn. 28 Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 168.
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zitierten brieflichen Konfessionen nicht wie ein heimliches ‚Programm‘ der Sinfonie Nr. 46?“ Immerhin hält Irmen von seinen fraglichen Vermutungen fest: „Lauter Fragen, die sich stellen, die aber nicht zu beantworten sind!“ Schließlich wird die vermutete existentielle Not des Komponisten noch mit einem Hinweis auf eine Besonderheit des Autographs vertieft: Zwar beginnt es mit dem für Haydn üblichen Vermerk „In Nomine Domini“, doch fehlt am Ende das sonst ebenfalls übliche „Laus Deo“ (Lob [sei] Gott). Mochte also der schwer geprüfte Komponist hier Gott für einmal kein Lob zollen (obschon in seinem Namen komponieren)? Dieser von Irmen suggerierte Eindruck dürfte trügen. Denn wenn man mit Landon ins Autograph von 1772 blickt – es ist auf Papier mit einer kommerziellen zehnzeiligen Rastrierung statt der sonst üblichen 14zeiligen Esterházy-Rastrierung geschrieben29 –, erweist sich, dass fürs „Laus Deo“ auf der letzten Seite schlicht der Platz gefehlt hat.30 So möchte man also doch auf die angeblich unbeantwortbaren Fragen Irmens vorerst mindestens folgende Einwände erheben: Die Seufzer sind keine solchen; und wie sich Haydn im Herbst 1772 fühlte, ist nicht bekannt (auch nicht hinsichtlich einer Trübung seiner religiösen Befindlichkeit). Und entgegenhalten: Völlig unabhängig davon ist für die Wirkung des Finales der Sinfonie 46 das Zusammenwirken von Presto und Menuett entscheidend, sowie das Zusammenspiel mit den vorausgehenden Sätzen. Also auch: Dass das Presto schließlich das letzte Wort hat und dass dessen bisweilen und auch am Ende „von langen Pausen gehemmte(r) Fluss“ und der „Strudel des musikalischen Geschehens“31 mitsamt seinen Unterbrüchen eben musikalische Spannungsmomente per se sind, die – selbst wenn die „Abschiedssinfonie“ in zeitlicher Nähe entstand – nicht mit (inexistenten) Seufzern und (rückproijezierten) existentiellen Nöten des Komponisten verdeckt werden müssen.
Das „Psychologisch Programmatische“ der Schwesterwerke Sinfonie 45 und 46 nach James Webster Die außerordentliche musikalische Affekt-Dramaturgie der beiden Sinfonien 45 und 46 muss nicht „programmatisch“ – im Sinne außermusikalischer Bezüge – begründet werden, um ihren Besonderheiten in einer nach29 Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774 (wie Anm. 3), 157. 30 Landon vermerkt: „Because of cramped space there was no room for A[utograph]’s usual ‚laus Deo‘.“ Joseph Haydn. Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, Bd. IV, Nr. 41–49 (= Philharmonia 592). Hg. H. C. Robbins Landon. Wien 1967, XXXVIII. 31 Irmen, Joseph Haydn (wie Anm. 1), 168.
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vollziehenden sprachlichen Interpretation Ausdruck zu geben. Man kann auch von wechselnden Affektlagen im Sinne innerer psychologischer Prozesse sprechen. Auf die zweite Möglichkeit zielt Websters Interpretation, zu deren Veranschaulichung er von der „Abschieds“-Anekdote ausgeht (und am Ende doch erstaunlich konkret bei ihr verbleibt). Vergegenwärtigen wir uns hier seine wichtigsten Resultate noch einmal (in Übersetzung), um damit auch weitere kompositorische Details der Stücke zu erinnern und erneut die Spannung zwischen melancholischem Finale von Nr. 45 und „Scherzando“-Finale von Nr. 46 hervorzuheben, die ja für Webster außer Zweifel steht: Haydns Sinfonie [Nr. 45] stellt nicht die Reise dar. […] Vielmehr verkörpert sie einen psychologischen Prozess, der mit unseren Gefühlen bei einer verzweifelt ersehnten Heimreise übereinstimmt – ein weitaus angemessener Gegenstand für musikalische Illustration. Wie wir hören, ist das Konzept die Situation von Abwesenheit […]. Deswegen ist der Schluss so hoch und ohne Fundament. (Und deswegen ist der Beiname unlogisch; die Sinfonie hat nichts mit „Abschied“ zu tun. […] Mit Blick auf das Programm und den Charakter des letzten Satzes wäre es angemessener, sie die „Abwesenheits“-Sinfonie zu nennen oder die „Sinfonie der Sehnsucht“ […].)32
Und für die H-Dur-Sinfonie resümiert Webster: Haydns meta-musikalische Reminiszenz verschmilzt Vergangenheit und Gegenwart, Menuett und Presto, in eine komplexe Darstellung der zugrundeliegenden Idee der Sinfonie Nr. 46. Welches ist diese Idee? […] Haydn muss die Aufführung der beiden Werke in einer bestimmten Reihenfolge beabsichtigt haben. […] Kam das H-Dur-Werk an zweiter Stelle? Evoziert seine leicht vertrautere Tonart und sein Dur-Geschlecht das Leben zurück in Eisenstadt, mit den Moll-Stellen im Vivace [1. Satz] und den Balkanismen im Trio [des Menuetts] als Erinnerungen an die „Einöde“ von Eszterháza, die nun glücklich zurückgelassen ist? Suggeriert das witzige Finale, dass „sie fortan alle glücklich lebten“ auf der Tonika, nach dem Kummer auf der Dominante? Oder kam es an erster Stelle? Ist es ein Bild des Lebens in Eszterháza (Moll-Tonart; Balkanismen); ist die bitter-süße Menuett-Reminiszenz eine Erinnerung an glückliche, geordnete Zeiten in Eisenstadt, noch immer vergangen, noch nicht wieder erreicht? […] Solche Fragen können nicht beantwortet werden.33 32 „Haydn’s symphony [No. 45] does not represent the journey. […] Rather, it engenders a psychological progression that corresponds to our feelings about a desperately longedfor journey home – a much more appropriate topic for musical illustration. As we listen, the setting is the condition of absence […] That is why, the ending is so high and without foundation. (And that is why the nickname is illogical: the symphony has nothing to do with a ,farewell‘ […] In view of the program and the character of the last movement, it would be more appropriate to call it the ,Absence‘ Symphony, or the ,Symphony of Longing‘ […].)“ Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 119. Übersetzung vom Autor dieses Beitrags. Hervorhebungen im Original. 33 „Haydn’s meta-musical reminiscence conflates past and present, minuet and Presto, into a complex presentation of the underlying idea of Symphony No. 46. What is that idea? […] Haydn must have intended the two works to be heard in a definite order. […]
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Interessanterweise wertete Sonja Gerlach dann im Anschluss an Webster die relative Plausibilität einer Abfolge von Sinfonie 45 (mit offenem FisDur-Ende) und 46 (mit deutlich im Presto kadenzierenden H-Dur-Ende) und im Rekurs auf die außerordentlichen kompositorischen Maßnahmen (eines menuetthaften D-Dur-Einschubs in der Durchführung von Satz 1 in Nr. 45 einerseits und andererseits einer Menuett-Reminiszenz im Finale von Nr. 46) auch als ein Indiz für die Entstehungs-Chronologie: zuerst Nr. 45 und dann Nr. 46. Doch ist selbst eine innere „programmatische“ Affektdramaturgie in keiner Weise ein Argument für die Chronologie der Werkgenese. Das gilt auch, wenn Haydn tatsächlich ein explizites Stichwort zur vermuteten „Programmatik“ der beiden Stücke gegeben hätte, wie es Gerlach vermisst. Denn auch so käme etwa eine gleichzeitige Konzeption in Frage. Und überhaupt hieße es, die Phantasie des Komponisten allzu gering einzuschätzen, wenn man ihm in der Ausführung seines Werks nicht auch Sprünge zutrauen würde. Gerlachs abschließende Bemerkung verknüpft dennoch die „Programm“-Frage und die Entstehungs-Chronologie in einer Weise, als wäre die Entscheidung über beide kaum zu trennen: Damit würde sich das von Webster favorisierte „Programm“ für Sf. 46 als Leben nach der Heimkunft in Eisenstadt (mit Rückblicken) und die Reihenfolge Sf. 45 – Sf. 46 bestätigen. Dass Webster über beides keine endgültige Entscheidung wagt, belegt einmal mehr, dass sich ein außermusikalisches Programm ohne ein literarisches Stichwort nicht sicher erfassen lässt.34
Musikalische Explorationen: Rhetorik – Einheit – „Witz“ Auch ohne Rekurs auf ein so genannt „außermusikalisches Programm“ lassen sich Erklärungen für die Besonderheiten der beiden Sinfonien finden, falls man sich nicht der simplen Gleichung anschließt, je nachhaltiger ein Normverstoß ausfalle, desto eindeutiger verweise er auf „außermusi-
Did the b-major work come last? Do its slightly more familiar key and major mode invoke life back in Eisenstadt, with the minor mode of the Vivace and the Balkanisms in the middle reminders of the ,wasteland‘ of Eszterháza, now happily left behind? Does the joking finale suggest that ,they all lived happily ever after‘ in the tonic, after tribulations in the dominant? Or did it come first? Is it an image of life at Eszterháza (minor mode; Balkanisms); is the bittersweet minuet-reminiscence a reminder of happy, ordered times in Eisenstadt, still past, not yet regained? […] Such questions cannot be answered.“ Ibid., 287. Übersetzung vom Autor dieses Beitrags. Hervorhebungen im Original. 34 Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774 (wie Anm. 3), 180.
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kalische Assoziationen“.35 Wobei die hier vertretene Gegen-Position unterstellt, dass die Deutung musikalischer Sachverhalte im Sinne einer AffektDramaturgie mit Letzterer eben nicht auf „Außermusikalisches“ rekurriert, sondern auf Ausdruckswerte im Innern der Musik. Und dort auf Außerordentliches, ja gar Exzentrisches zu treffen, kann ganz und gar dem Willen des Komponisten zugeschrieben werden, solches eben in seiner Musik zu explorieren. Die fis-Moll Sinfonie Nr. 45 bringt insgesamt einen musikalischen Form- und Ausdrucksprozess zum Erklingen, der am Ende das Scheitern der Versöhnung der im Zyklus aufgebauten Spannungen erfahrbar macht, indem die Versöhnung zwar anklingt, aber zugleich allmählich verstummt. Dieser Morendo-Schluss bleibt offen. Dagegen geht die Sinfonie in H-Dur Nr. 46 einen andern Weg (vgl. Notenbeispiel am Ende dieses Beitrags). Nach der Menuett-Reminiszenz im Finale, die den vorantreibenden Bewegungsimpuls des rondohaften „scherzando“ Presto nun nicht ein weiteres Mal nur mit Stille bricht, sondern mit einer Rückerinnerung an einen gemächlichen Zeitfluss und an überschaubar geordnete Verhältnisse, tritt das Presto wieder ein. Doch seine Bewegung wird allmählich zum Stillstand gebracht und scheint ebenfalls morendo ins Offene zu gehen. Und erneut wird auch diese Erwartung überraschend gebrochen: Eine achttaktige Presto-Periode erklingt pianissimo mit leicht variiertem Thema, als wäre endlich seine eigentliche Gestalt gefunden, worauf aber gleich mit zwei forte kadenzierenden Akkorden das Ganze heftig abgeschlossen wird. Damit ist sowohl die Reminiszenz ans Menuett wie das vorläufige Morendo des Presto nachhaltig verabschiedet. Aber dieser Schluss ist behauptet, nicht kontinuierlich herbeigeführt, er dürfte die Erinnerung an die eben noch erklungenen Kontraste nicht auslöschen können und damit die Spannung noch eine geraume Weile aufrecht erhalten mit der mehr oder weniger bewussten Frage, was denn nun gerade geschehen sei … Ein fraglicher Schluss also, der über die notierte Musik hinaus weiter beschäftigt. (Haydn notiert auch am Ende noch Generalpausen für insgesamt einen letzten Viertakter inklusive der beiden Akkord-Schläge! Das ist natürlich nicht zuletzt für die anschließend geforderte und eigentlich nicht verzichtbare Wiederholung auch des zweiten Teils dieses Finales ent35 In diese nicht plausible Richtung scheint Websters Formulierung zu gehen: „So unique an abrogation of normal generic procedures surely implies extramusical associations.“ [Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 267] Wenn allerdings damit weniger die Ebene der kompositorischen Produktion als jene der Rezeption gemeint ist, bestätigen einige der seither fassbaren Äußerungen zu den beiden Sinfonien die Aussage hinsichtlich der Wirkungs-Ästhetik. Aber auch diese muss nicht zwingend unter der behaupteten Prämisse stehen.
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scheidend.36) Mit einer derartigen kompositorischen Maßnahme nutzt Haydn ein in der Rhetorik geläufiges Prinzip („Finis coronat opus“), über das 1986 Jürgen Neubacher aus der Sicht von Haydns Werk ein wichtiges Buch beisteuerte.37 Das Prinzip, dass eine besondere Gewichtung des Schlusses dem ganzen Werk starke Nachhaltigkeit verleiht, ist ein eminent künstlerisches Mittel, auch jenseits jeder Programmatik. Und den speziellen Fall des Finales von Sinfonie 46 diskutiert Neubacher unter der Kategorie „dubitativer Schluss“38. Wobei die ausgelösten Zweifel über das nach dem Morendo (T. 198) zu Erwartende zunächst hinsichtlich der Tonika mit dem Eintreten des tiefen Tonika-Orgelpunktes H in den Hörnern (T. 201) geklärt werden sowie schließlich – nach der geschilderten pianissimo Schluss-Periode – mit den fortissimo Kadenzschlägen. Insofern ist diese Art „dubitativer Schluss“ genauer als ein „negierter morendoSchluss“ zu qualifizieren.39 In jedem Fall aber ist damit der „eigentliche Zweck“ solcher Schlussgestaltungen erreicht, „nämlich die Wirkung des Schlusses auf den Hörer zu potenzieren“.40 Nicht berücksichtigt wird von Neubacher die Frage, welche Rolle der Wiederkehr des Menuetts im Blick auf die ganze viersätzige Anlage zukommt. In dieser Hinsicht erweisen sich die fünf von Ethan Haimo herausgearbeiteten kompositorischen Prinzipien der formalen Gestaltung in Haydns Sinfonien als aufschlussreich,41 36 Sowohl eine ältere wie eine neuere Einspielung (im Rahmen von Gesamteinspielungen) verzichten leider auf die Wiederholung: Philharmonia Hungarica, Ltg. Antal Dorati (Decca 1972, 2009 neu ediert CD Decca 4781221); Austro-Hungarian Haydn Orchestra, Ltg. Adam Fischer (1990), CD 13 der Haydn Edition Brillant 93782/13. Die Wiederholung wegzulassen, widerspricht nicht nur der Aufzeichnung, sondern beraubt die Zuhörenden der sicher vom Komponisten gewünschten Möglichkeit, beim zweiten Zuhören mit den Erfahrungen des ersten Mals wieder neue und andere „Schlüsse“ (!) zu ziehen; beraubt also die Musik eines für sie typischen Merkmals des Diskursiven. 37 Jürgen Neubacher, Finis coronat opus. Untersuchungen zur Technik der Schlussgestaltung in der Instrumentalmusik Joseph Haydns, dargestellt am Beispiel der Streichquartette. Mit einem Exkurs: Haydn und die rhetorische Tradition. Tutzing 1986. Zu Haydn und der Rhetorik vgl. auch jüngst: Haydn and the Performance of Rhetoric. Hg. Tom Beghin und Sander M. Goldberg. Chicago etc. 2007. 38 Neubacher, Finis coronat opus (wie Anm. 37), 235–236. 39 Ibid., 244. 40 Ibid., 239. 41 Ethan Haimo, Haydn’s Symphonic Forms. Essays on Compositional Logic (1995). Oxford etc. 2001. Vgl. hier insbesondere das erste Kapitel „Introduction: Principles of Form“ (ibid., 1–11). Haimo nennt die bei Haydn in besonderer Ausprägung beobachteten fünf Prinzipien „five fundamental compositional principles“ (S. 3): (1) „sonata principle“ (wichtige thematische Ereignisse in einer Tonart außerhalb der Tonika müssen entweder wieder auf der Tonika erklingen oder zumindest in nähere Beziehung zur Tonika gebracht werden, bevor der Satz endet; gilt für alle Formen, nicht nur für die Sonate; S. 3); (2) „unity principle“ (spätere musikalische Ereignisse innerhalb eines Satzes sind mit vorausgehenden verbunden durch Wiederholung, Transposition, Ableitung oder Variation;
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insbesondere das Prinzip der Einheit („unity principle“) und das normative Prinzip („normative principle“).42 Die Tatsache, dass das Menuett der Sinfonie 46 im Finale erneut erscheint, und zwar nicht mit seinem Beginn einsetzend, sondern mit den um eine Quarte von fis'' nach cis'' fallenden Achtelgängen (T. 15 ff. des Menuetts), entspricht insofern dem „unity principle“, als Haydn damit eine kompositorisch außerordentlich vielschichtige Demonstration der Tatsache vorführt, dass im riesigen Kontrast zwischen Menuett und Scherzo zugleich auch die Einheit beider aufgehoben ist. Ihre Thematik ist deutlich verwandt im fallenden Quartgang fis''-cis''. Und die scharf kontrastierende Menuett-Reminiszenz setzt genau dort ein, wo man den Anfang des Presto-Themas einmal mehr erwartet, nun mit einer Variante seines Kopfmotivs, eben des fallenden Quartgangs fis''-cis'', und drängt so diesen Zusammenhang zwischen monothematischem Presto und Menuett just im gleichen Augenblick ins Bewusstsein, in dem auch die große Überraschung eines diametralen Wechsels von Charakter und Zeitfluss in der Rückerinnerung ans Menuett geschieht. Diese umständliche verbale Bestandesaufnahme des Sachverhalts soll hier auch deutlich machen, wie wichtig die vom Komponisten vorgeschriebene Wiederholung auch des zweiten Teils dieses Finales eben ist: Zur Diskursqualität von Haydns Musik gehört die Möglichkeit, einen solchen Prozess ein zweites Mal zu erfahren und – nach der zunächst vielleicht vorherrschenden Überraschung über den gänzlich ungewohnten Normverstoß eines erneuten Wechsels vom Presto ins bereits davor erklungene Menuett – nun beim zweiten Hören sich des außerordentlichen „Witzes“ dieser kompositorischen Überraschung bewusster zu werden, d. h. der gewitzten Raffiniertheit Haydns, mit der er hier enormen Kontrast und musikalische Einheit dialektisch ineinander aufhebt. Dieser Umstand und die angedeuteten Implikationen sind im Blick, wenn in einem jüngeren Haydn-Companion bei der Sinfonie 46 vor allem von der Ähnlichkeit zwischen dem Material des Presto und des Menuetts die Rede S. 4); (3) „redundancy principle“ (S. 5), genauer „verdict of redundancy“ (S. 6; Verbot von Redundanz) (mehrfaches Auftreten von gleichen oder annähernd gleichen musikalischen Ereignissen betrachtet Haydn als potentiell redundant und vermeidet es, mehr oder weniger konsequent je nach Kontext: je nach Länge des Satzes, Ausdehnung der Phrase oder des Themas, Distanz der möglichen Wiederholung, Position des Satzes im mehrsätzigen Zyklus; ibid.) (4) „variation principle“ (je länger, je näher und je ausführlicher eine potentielle Wiederholung sein könnte, umso eher wird sie einer Variation unterworfen; S. 7); (5) „normative principle“ (eine den Normen entsprechende Abfolge von Ereignissen verlangt keine spezielle Reaktion, keine weitere Antwort; eine signifikante Übertretung von Normen verlangt dagegen eine Art kompensatorische Reaktion, eine Maßnahme, welche die vom Normenverstoß verursachten Ungleichgewichte auflöst; S. 7/8). 42 Vgl. (2) und (5) in Anm. 41.
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ist.43 Wenn also die geschilderte Demonstration der motivischen „unity“ mittels Norm sprengender Kontrastbildung als wesentliches kompositorisches Moment der Menuett-Reminiszenz berücksichtigt wird, erweist sich auch dieses Finale von Sinfonie 46 als prägnantes Beispiel dafür, wie Haydn die Rezeption seines Werks zum Gegenstand der Komposition selbst macht, indem er mit besonderen kompositorischen Maßnahmen auch Kriterien zur bewussten Wahrnehmung – und damit zur Beurteilung – ihrer Faktur ästhetisch erfahrbar macht. Zugespitzt formuliert: Haydn kommentiert Musik mit Musik. Und dies eben nicht erst in seinen späten Sinfonien für ein öffentliches Publikum, was David P. Schroeder eindrücklich etwa für Haydns Sinfonie 103 unter dem Stichwort „Aufklärung“ demonstriert hat.44 – Die Perspektive von „unity“ auf der Basis von Themenverwandtschaft war auch für Charles Rosen zentral,45 als er gerade Haydns H-Dur-Sinfonie 46 beizog, um zu belegen, dass Haydns „Frühstil“46 keineswegs nur durch dramatische Effekte geprägt gewesen sei, sondern auch durch kompositorische Konsistenz. Rosen betont: „Es soll hier keinesfalls der Eindruck entstehen, dass Haydns Musik um 1770 nichts als Gefühl, Drama und Effekt war, sie besaß auch damals schon ungeheure intellektuelle Kraft.“47 Diese sieht Rosen wirksam in thematischen Bezügen, die auch über die einzelnen Sätze hinausgehen: Nicht nur ist die um eine Quarte fallende Achtelkette des zweiten Menuett-Teils eben mit dem monothematischen Presto-Finale verwandt, sondern dieser zweite Menuett-Teil kann zu Beginn als freie Umkehrung des Menuett-Anfangs gelten, als eine „Rückwärtsform des ursprünglichen Menuettanfangs, wenn nicht auf dem Papier, so doch fürs Ohr“48. Wobei hier das gerade gefallene Stichwort „frei“ speziell im Auge zu behalten ist: Der „freye“ Satz gilt gegenüber dem strengen kontrapunktischen Satz als zeitgemäße Form einer Komposition, welche alte (kontrapunktische) und neue (galante) Elemente integriert, wie dies unter der zentralen Kategorie „freye Nachahmung“ auch in der zeitgenössischen Musiklehre etwa des bisher nur wenig beachteten und zur Entstehungszeit dieser Werke in Wien publizierenden Autors Johann Fried43 David Wyn Jones, Haydn. Oxford etc. 2002, 392 (im „Symphony“-Kapitel von Simon McVeigh); vgl. auch The Cambridge Companion to Haydn. Hg. Caryl Clark. Cambridge etc. 2005, 72, wo vom Finale der Sinfonie 46 die Feststellung „joking about closure“ fällt. 44 David P. Schroeder, Haydn and the Enlightenment. The Late Symphonies and their Audience. Oxford etc. 1990; zur Sinfonie 103 besonders 190–194 und zur Sinfonie 46 vgl. 79–80. 45 Charles Rosen, Der klassische Stil. Haydn – Mozart – Beethoven, Deutsch Traute M. Marshall. München, Kassel etc. 1983 (engl. Originalausgabe London 1971). 46 Ibid., 165. 47 Ibid., 163. Die folgenden Ausführungen nach Rosen, Der klassische Stil (wie Anm. 45), 163–164, wo sich auch entsprechende Notenbeispiele finden. 48 Ibid., 164.
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rich Daube explizit zu greifen ist.49 Neben diesen menuett-internen Bezügen und solchen zum Presto sieht Rosen zudem die Verwandtschaft „diese(r) Gestaltungen“ mit dem Beginn der Sinfonie: Die dort zum lauten Unisono-Beginn kontrastierenden Piano-Takte 3/4 bieten einen melodischen Abstieg, in welchem Elemente der späteren „Gestaltungen“ bereits vorkommen, so dass diese „direkt vom dritten und vierten Takt des ersten Satzes inspiriert“50 scheinen. Auch wenn sich solche Bezüge zwischen verschiedenen Sätzen nicht auf Kompositionen Haydns beschränken, so fällt bei ihm auf, dass sie nun „stärker als früher dramatisch pointiert werden.“51 Und eines der prägnantesten Beispiele dafür bietet eben gerade der Einsatz der Menuett-Reminiszenz im Finale der Sinfonie 46. Unter dem weiteren Blickwinkel des „normativen Prinzips“ lässt sich zunächst die außerordentliche Fortsetzung des Finales nach der MenuettReminiszenz einordnen. Denn die in der Tat signifikante Abweichung von der Norm durch die Wiederaufnahme des Menuetts kann als Begründung für die weitere Fortsetzung im Sinne einer kompensatorischen Reaktion gesehen werden. Die Wiederkehr des Presto (also des eigentlichen Themas dieses Schluss-Satzes) restituiert zunächst die gewohnte Ordnung, verstärkt sie aber auch noch, indem sie in einer im ganzen Satz kaum je so deutlich erfolgten Kadenz auf die Grundstellung der Tonika geführt wird, und das gleich viermal (T. 189 ff.). Dass dann das Morendo im motivischen, dynamischen und rhythmischen Auslaufen des Quartfalls wie schon am Ende des ersten Teils wiederkehrt, aber hier auf der Tonika, während es dort auf der Dominante geschah, entspricht auch dem „sonata principle“.52 Verbunden mit diesem relativen Ausgleich wird nun aber durch zusätzliche Verlangsamung des Quartfalls (T. 197 f.) und längere Stille (T. 199 f.) erneut eine offene Situation geschaffen. In Reaktion auf sie erfährt sowohl die Tonika eine Bestärkung (T. 201, Orgelpunkt H der Hörner) wie auch das Presto-Thema, indem es nun in neuer Variante als geschlossene 8taktige Periode eine feste Gestalt mit – trotz interner Differenzierung – klaren Tonika-Kadenzen aufweist (4 Takte: Vorhalts-Kadenz V–I in T. 206; + 4 Takte: Vollkadenz auf Tonika in T. 210). Noch hält ihre pp-Dynamik das „dubitative“ Moment aufrecht, doch die beiden abschließenden Forte-Schläge bestärken erneut die Tonika, allerdings so abrupt, dass sie wohl eher wieder
49 Vgl. dazu jüngst Felix Diergarten, „Anleitung zur Erfindung“. Die Kompositionslehre Johann Friedrich Daubes, in: Musiktheorie 23 (2008), 299–318; zur „freyen Nachahmung“ insbesondere 312–313. 50 Rosen, Der klassische Stil (wie Anm. 45), 164. 51 Ibid., 165. 52 Vgl. das bei Haimo, Haydn’s Symphonic Forms (wie Anm. 41), 3–4, referierte 1. Prinzip.
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Erwartung durchbrechen als einlösen.53 Zuletzt bleibt erneut Stille. Der Kunstgriff einer Ambivalenz von ausgleichenden und öffnenden Merkmalen wird somit bis zum Schluss beibehalten. Das „normative Prinzip“ scheint jeweils zugleich erfüllt, wie auch erneut in Frage gestellt. Der Aspekt des „normativen Prinzips“ könnte im Übrigen auch die – verglichen mit dem ersten Auftritt – formal einfachere Gestalt des Menuetts bei seiner Reminiszenz erklären: Während das Menuett in seiner Form im dritten Satz noch eine ungewöhnliche Asymmetrie aufweist, kehrt es nun – wie Ludwig Finscher festhält – im Finale in „gleichsam normalisierter Form“ wieder, in einer Gruppierung von nun 12 + 6 + 12 Takten.54 Unter diesem Blickwinkel betrachtet erscheint das „normative Prinzip“, gemäß welchem eine außerordentliche Gestaltung mit einer späteren korrespondierenden Maßnahme beantwortet wird, auch über Satzgrenzen hinaus wirksam, also auch in einem eminent „zyklischen“ Sinn relevant.
Der zyklische Kontext des Finales der Sinfonie 46 Das Stichwort des mehrsätzigen Zyklus führt schließlich auf die immer wieder angesprochene Tatsache, dass die außerordentliche Wiederkehr von Abschnitten des dritten Satzes im Finale auch wieder in Beethovens 5. Sinfonie zu beobachten sein wird.55 Während einige Kommentare diesen Umstand im Sinne einer – durchaus verdienstvoll gemeinten – „Vorwegnahme“ Haydns einer zyklischen Finalegestaltung werten, wie sie dann durch Beethoven und andere im 19. Jahrhundert etabliert worden sei,56 wurde in jüngerer Zeit vermehrt darauf aufmerksam gemacht, dass die Beurteilung von Haydns innovativem Komponieren als „Vorwegnahme“ zuwenig angemessen ist,57 53 Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 278: „[…] die achttaktige Periode verlangt nach einer Fortführung, aber zwei Akkordschläge schließen den Satz ab.“ 54 Ibid.; es sind hier die Abschnitte C B C, während das Menuett als dritter Satz die Gruppierung A B C mit 8, 6 und 12 Takten aufweist. 55 So bei Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 267 und 286–287. 56 Etwa Karl Geiringer formulierte es so: „Ebenso modern wirkt es, dass im Finale von Nr. 46 vor der Coda eine Reminiszenz an den vorangehenden Satz – das Menuett – gebracht wird. Dieser Rückblick auf das Frühere kurz vor dem Ende sollte für die Romantik von großer Bedeutung werden.“ (Karl Geiringer, Joseph Haydn. Der schöpferische Werdegang eines Meisters der Klassik. Mainz 1959, 225–226). 57 Vgl. Anton Haefeli, „Keiner kann alles und alles gleich gut als Haydn“. Eine Würdigung Franz Joseph Haydns zu dessen zweihundertstem Todestag, in: Schweizerische Musikzeitung 5 (Mai 2009), 5–12: „Nein, Haydn ist kein Vorläufer von Beethoven, sondern dieser sein Nachfahre, und Sentenzen wie ‚Hier nimmt Haydn Beethoven vorweg‘ […] sind in jeder Hinsicht falsch und ärgerlich! Wenn schon, dann ist es umgekehrt: Haydn
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und dass die Parallelisierung der beiden einschlägigen Finalegestaltungen bei Haydn und Beethoven problematisch ist. Was Letztere betrifft, spielen die Reminiszenzen in den Schluss-Sätzen je eine andere Rolle und sind nur bedingt vergleichbar.58 Hilfreiche Kategorien der Unterscheidung bietet Bernd Sponheuer, der aus Haydns Sicht grundsätzlich das „Gleichgewichtsfinale“ vom „Apotheosenfinale“ Beethovenscher Prägung differenziert.59 In der Tat zählt bei Beethoven die Wiederkehr von Material des C-Moll-Allegro (es ist kein Scherzo!60 III., T. 19 ff.) innerhalb des C-Dur-Finales (IV., T. 153 ff.) zu den Mitteln, mit denen der erneute apotheotische Durchbruch zur Reprise des Finale-Themas (T. 207 ff.) zunächst retardiert und damit umso wirkungsvoller inszeniert ist; er dauert dann auch noch gewichtig lange an. Dagegen ist die Reminiszenz in Haydns H-Dur-Finale in der formalen Dramaturgie kurz vor Schluss episodischer und dient – wie bereits angedeutet – sowohl der gewitzten Demonstration von Einheit im Kontrast wie auch einem besonders ausführlichen und von Konflikten freien Unterbruch des fortdrängenden PrestoBewegungsimpulses, bevor dieser wieder an- und ausläuft. Während die Affektdramaturgie des Finales bei Beethoven wohl ohne Übertreibung mit heroischer Überwindung umschrieben werden kann,61 drängt sich dagegen bei Haydn der Eindruck von Übermut auf, der gelegentlich von nachdenklichen Momenten unterbrochen wird. Dieser Eindruck von Haydns Finale nährt sich nicht zuletzt aus dem Kontrast zu den vorangehenden Sätzen.62 Im Ganzen führt die Sinfonie 46 vom dramatischen Ernst des Beginns zum nachdenklichen Übermut am Ende, wie im Folgenden zu erläutern ist.
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spricht aus vielen Kompositionen Beethovens […] zu uns.“ (7). – Zu problematischen Konstanten der Haydn-Rezeption vgl. auch Michael Spitzer, Haydn’s reversals: style change, gesture and the implication-realization model, in: Haydn Studies. Hg. W. Dean Sutcliffe. Cambridge 1998, 177–217, wo das entsprechende „narrative scheme“ ‚HaydnBeethoven‘ kritisiert wird (ibid., 182). Vgl. etwa die entsprechenden Feststellungen bei Jones, Haydn (wie Anm. 43), 392; oder auch bei Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 267, 286–287, der vermutet, dass Beethoven Haydns Sinfonie 46 nicht gekannt haben dürfte (267). Bernd Sponheuer, Haydns Arbeit am Finaleproblem, in: Archiv für Musikwissenschaft 34 (1977), 199–224; zum angesprochenen Sachverhalt vgl. 203–204. Vgl. Rainer Cadenbach, [Beethovens] 5. Symphonie c-Moll op. 67, in: Beethoven. Interpretationen seiner Werke. Hg. Albrecht Riethmüller et al. Laaber 1994, Bd. 1, 486–502; zum dritten Satz ibid., 490–491. Cadenbach spricht von „sieghafter Erfüllung“, ibid., 501. Vgl. dazu Landon, Haydn at Eszterháza 1766–1790 (wie Anm. 9), 303–304; Neubacher, Finis coronat opus (wie Anm. 37), 235–236; Schroeder, Haydn and the Enlightenment (wie Anm. 44), 79–80; Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 267–287; Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 275–279. Spitzer, Haydn’s reversals (wie Anm. 57), 182–207, konzentriert sich auf Aspekte von Satz 1; hervorzuheben sind seine Bemerkungen zur musikalischen Rhetorik (183), sowie kritische Einwände zu Rosen (206) und Webster (216–217).
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Im ersten Satz (Vivace) überwiegt dichte thematisch-motivische Arbeit und dramatischer Ernst: Er beginnt mit einem typischen Fugenthema (T. 1/2), das dann auch in der Dominante Fis-Dur mit einem Achtel-Kontrasubjekt verbunden wird (T. 22 ff.). Der dramatische Ernst des Satzes wird mit einer in fis-Moll einbrechenden Version (T. 36 ff.) eines zweiten Hauptsatz-Gedankens (T. 13 ff.) akzentuiert, worauf nicht von ungefähr im anschließenden Auflösungsfeld die deutlichsten Seufzerfiguren dieser Sinfonie auftreten (2. Vl., T. 45 ff.). Die Durchführung beginnt mit kurzen „freyen“ Engführungen des Fugenthemas, die tatsächliche Reprise63 (T. 105) geht schon nach vier Takten in erneut verdichtete thematische Arbeit über, indem sie Engführung des Themas und Kontrasubjekt kombiniert (T. 109 ff.). Der zweite Hauptgedanke bleibt auch in der Reprise in Moll (h-Moll in T. 128 ff.). – Dieses h-Moll bewirkt auch im zweiten Satz (Poco adagio) der insgesamt „monotonalen“64 Sinfonie (alle Sätze in H-Dur oder h-Moll), dass das italianisierende Siciliano keine ungebrochene idyllische Wirkung verströmt. Gegenüber dieser Gebrochenheit bietet das H-Dur-Menuett sowohl erneut Aufhellung als auch einen vorwiegend tänzerisch-entspannten Ton, allerdings wiederum kontrastiert von einem H-Moll-Trio, das u. a. abrupte dynamische Kontraste aufweist und an Musik des Balkans anzuklingen scheint.65 An den Forte-Schluss des Menuetts schließt nun piano das rondohafte „Presto e scherzando“ des Finale in H-Dur zunächst nur zweistimmig an. Der Bewegungsimpuls treibt vorerst so glatt und ungestüm voran, dass man einen vollkommen konfliktfreien Kehraus erwarten könnte: Forteilende Bewegung in überwiegend parallelen Terzen und Sexten (1. und 2. Vl.), wenig später eingekleidet in einen einfachen Tonsatz verstärken den Eindruck des Harmlosen. Doch wird solch scheinbar ungestörte Bewegung schon bald durch stockende General-Pausen aufgehalten: ein erstes Mal (T. 29/30) ausgerechnet nach einem ersten Forte-Viertakter. Nach dem leichtfüßigen Beginn völlig überraschend hallt nun nach dieser Stockung der Ernst des ersten Satzes in dieser Exposition des Finales doch noch deutlich nach: Es folgt eine Fis-Moll-Verarbeitung von thematischem Material (T. 31 ff.), kombiniert mit der Augmentation des eröffnenden Themenkopfs (fallender Quartgang fis''-cis''; T. 35), dann im Dominantbereich (Cis-Dur) eine „freye Nachahmung“ des Themas in den Außenstimmen (Oboe T. 44, Cello und Bass T. 45), worauf die Exposition nach Fis-Dur zurückkehrt 63 Der erste Wiedereintritt des Themas auf der Tonika (T. 70) erfolgt schon 10 Takte nach Durchführungsbeginn, so dass an der Wirkung (und Absicht) einer Scheinreprise gezweifelt werden darf [vgl. Haimo, Haydn’s Symphonic Forms (wie Anm. 41), 110]. 64 Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 280. 65 Landon, Haydn at Eszterháza 1766–1790 (wie Anm. 9), 304, spricht vom „strangely Balkan flavour“.
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und schließlich ein erstes Mal morendo in Stille ausläuft (T. 66 ff.). Nach sehr kurzer Durchführung (die mit dis-Moll [!] die Region der DominantParallele berührt) ist für die fast unmerklich eingeführte Reprise (T. 96) entscheidend, dass sie das Geschehen zusammendrängt und so die in der Exposition vollzogene Stockung durch Generalpause mit anschließender Moll-Verarbeitung überspringt.66 Stattdessen führt sie die Bewegung nun unaufhörlich bis zu einer Schlussgruppe auf der Dominante weiter: Der Bewegungsimpuls hat sich vorerst durchgesetzt. Und bezeichnenderweise folgt jetzt auf die erneute, nun gar ungemessene Stockung (mit einer Fermate auf der Generalpause!) eine ganz andere Antwort als noch in der Exposition, eben die Reminiszenz des Menuetts in ihrer schillernden Vieldeutigkeit: als in dieser Form unerwartete erneute „Reprise“, als Rückerinnerung an gemütliche Bewegung in jetzt neuer Ordnung, als Verweis auf Einheit im Kontrast. Auch am Ende ist dieses musikalische „Es war einmal“67 – aber auch „Es ist hier noch immer in anderer Form da“ – mit einer Fermate abgehoben, bevor das „Jetzt“ des Presto mit weiteren bereits geschilderten Unvorhersehbarkeiten zum fraglichen Schluss geführt wird. Das Finale von Sinfonie 46 wendet mit seinem nachhaltigen Schluss den Zyklus zu einer Art launischen Übermuts mit nachdenklichen Zügen, zum „Witz“ frappanter Überraschungen. Wenn man „Humor“ und „Witz“ nicht entsprechend unserer Gewohnheit ausschließlich mit dem Bereich des Komischen in Verbindung bringt,68 sondern mit Andreas Ballstaedt gerade für Haydn die breitere Bedeutung der Begriffe im Sinne noch des 18. Jahrhunderts in Rechnung stellt,69 lassen sie sich hier durchaus adäquat anwenden und führen zu Formulierungen, die nur auf den ersten Blick widersprüchlich scheinen: „Humor“ (auch „Laune“) als besondere Ausprägung einer Gemütsstimmung, eines Charakters; und „Witz“ als geistreicher Umgang mit originellen Ideen.70 In dieser Bedeutung verstanden ist der besondere Humor des Finales der Abschiedssinfonie am ehesten die Melan66 Dies im direkten Übergang vom piano-T. 111 (analog zu T. 15) zum forte-T. 112 (Brücke zu T. 115 ff., zur analogen Variante von T. 35 ff.). 67 Webster interpretiert die durch Pausen abgesetzte Reminiszenz als musikalische „Erzählung“ vergangener Ereignisse [„narrative“, Webster, Haydn’s „Farewell“ Symphony (wie Anm. 15), 284], und in ihrem Kontext als „Erzählung innerhalb eines Dramas“ (narrative „within a drama“, ibid., 285). 68 Vgl. Sponheuer, Haydns Arbeit am Finaleproblem (wie Anm. 59), 222: „Humor ist eine Erscheinungsweise des Komischen, unter dem wir mit Hegel folgendes verstehen: […]“ (folgt ein Zitat aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik). 69 Andreas Ballstaedt, „Humor“ und „Witz“ in Joseph Haydns Musik, in: Archiv für Musikwissenschaft 55 (1998), 195–219; zu den Resultaten für „Humor“ insbesondere 201– 202, zu „Witz“, 202–205. 70 Vgl. dazu auch die entsprechenden Hinweise bei Walter, Haydns Sinfonien (wie Anm. 25), 19.
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cholie und sein Witz das allmähliche Verstummen des Satzes (und beides ist eben hier überhaupt nicht lustig!). Der Humor der H-Dur-Sinfonie dagegen scheint am Ende von nachdenklichem Übermut geprägt, und der Witz des Finales gleich mehrfach potenziert: durch die Ideen von mal gestockter, mal auslaufender Bewegung, von Menuett-Reminiszenz sowie schließlich von negiertem dubitativem Schluss. Während das Ausfransen der Sinfonie 45 als wohl „radikalstes“ Finale-Experiment Haydns gelten kann71 und bei ihm offenbar keine Wiederholung fand, erwies sich jenes der Sinfonie 46 für Haydn als „zukunftsträchtiger“.72 Man denke nur an den durchaus mit diesem H-Dur-Finale vergleichbaren gewitzten Schluss von Haydns Es-DurStreichquartett op. 33, Nr. 2, das den Beinamen „The Joke“ bekam.73 Wenn abschließend eine Begründung für solche Experimente – unter ausdrücklichem Verzicht auf allenfalls bloß zu vermutende biographische Episoden oder außermusikalische Programmatik – gegeben werden soll: Dann scheint für Haydn zuallererst und nicht minder existentiell eine kompositorische Programmatik zu gelten, nämlich die Exploration der enormen Möglichkeiten seines Komponierens voranzutreiben, seiner im genauen Wortsinn außer-ordentlichen Möglichkeiten, welche die Normen sprengen und damit zugleich neue zu setzen in der Lage waren. Genau dies jedenfalls ist die Bedeutung von „original“ in Haydns Zeit und in seinem einschlägigen Diktum: Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so mußte ich original werden.74
Dass uns dieses Diktum allerdings vom gleichen Georg August Griesinger überliefert ist, der auch die Abschiedsanekdote für Sinfonie 45 erzählt,75 ist hier eine nicht beabsichtigte Pointe. Aber sie ändert nichts daran, dass es von der Sache her angemessener ist als jene. Und für die so von Haydn geschilderte kompositorische Arbeit scheint es keineswegs eine notwendige Bedingung zu sein, selbst so frappante Normverstöße durch außermusikalisch „Programmatisches“ beglaubigen zu müssen. Die Deutung der 71 Vgl. etwa Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit (wie Anm. 12), 272. 72 „Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist die H-Dur-Sinfonie ein weit zukunftsträchtigeres Werk als ihr ‚Zwilling‘ in fis-Moll.“ (ibid., 278). 73 Schon Neubacher stellte die Besprechung des „dubitativen“ Schlusses der Sinfonie 46 und des Quartettes op. 33, Nr. 2 in Es-Dur nebeneinander [Neubacher, Finis coronat opus (wie Anm. 37), 235–239]. 74 Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn (wie Anm. 19), 17. 75 Ibid., 18–19.
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entsprechenden Ergebnisse in Haydns Werk mag in der Tat mehreren Möglichkeiten offen stehen. Auch insofern bietet das Finale der Sinfonie 46 einen fraglichen Schluss, aber doch wohl kaum ein trauriges Ende. Beispiel: Joseph Haydn, Sinfonie in H-Dur Nr. 46 (1772), 4. Satz, Finale: Presto e scherzando; Schluss: T. 153 (L’istesso Tempo di Menuet [Allegretto]) bis T. 214; aus: H. C. Robbins Landon (Hrsg.), Joseph Haydn. Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, Bd. IV, Sinfonien 41–49 (= Philharmonia No. 592), Wien 1967, 195/196.
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So wichtig Bearbeitungen von Kompositionen, sei es durch den Komponisten selbst oder durch einen Arrangeur auch für die Kenntnis, für die Verbreitung und für das praktische Musizieren und Studieren der Kompositionen war, so wenig positiv stand man ihnen seit der Klassik gegenüber, selbst wenn sie große Popularität erreichten. Ein wichtiges Zeugnis liefert dazu kein geringerer als Ludwig van Beethoven, der in der Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung dazu Stellung nahm: Ich glaube, es dem Publikum und mir selber schuldig zu sein, öffentlich anzuzeigen, dass die beiden Quintette aus C- und Es-Dur, wovon die eine (ausgezogen aus einer Sinfonie von mir) bei Herrn Mollo in Wien, das andere (ausgezogen aus dem Septett von mir, op. 20) bei Herrn Hoffmeister in Leipzig erschienen ist, nicht Original-Quintetten, sondern nur Übersetzungen sind, welche die Herren Verleger veranstaltet haben. – Das Übersetzen überhaupt ist eine Sache, wogegen sich heutzutage (in unserm fruchtbaren Zeitalter – der Übersetzungen) ein Autor nur umsonst sträuben würde; aber man kann wenigstens mit Recht verlangen, dass die Verleger es auf dem Titelblatte anzeigen, damit die Ehre des Autors nicht geschmälert und das Publikum nicht hintergangen werde.1
Beethoven rekurriert hier auf die bekannte Tatsache, dass Bearbeitungen oftmals auf die Initiative von Verlegern zurückgehen, die aus ökonomischen Gründen für solche Ausgabe sorgen. Bemerkenswert ist besonders die Bezeichnung der Bearbeitung als „Übersetzung“, wodurch der Vergleich mit der Literatur und der Aneignung von Texten fremder Kulturen und Sprachen gegeben ist. In einem Brief erwähnt Beethoven auch die besondere Schwierigkeit, Klaviersonaten für Streicher zu bearbeiten, die Notwendigkeit „gantze Stellen“ müssten „gäntzlich wegbleiben und umgeändert werden“, oder man müsse auch „hintzuthun“.2 Um derartige von Beethoven gerechtfertigte Bearbeitungen ausführen zu können, müsse man ein Meister sein oder wenigstens über die „Gewandtheit und Erfindung“ eines solchen verfügen. 1
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Zitiert nach Ludwig Finscher, „Das macht mir nicht so leicht ein anderer nach“, Beethovens Streichquartettbearbeitung der Klaviersonate opus 14 Nr. 1, in: Divertimento für Hermann J. Abs. Hg. Martin Staehelin. Bonn 1981, 11. Brief Beethovens an Breitkopf & Härtel vom 13. Juli 1802, in: Beethovens Sämtliche Briefe. Kritische Ausgabe mit Erläuterungen von Dr. Alfr. Chr. Kalischer. Leipzig 1909, Bd. 1, 86.
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Sinfonien wurden aus verschiedenen Gründen für reduzierte Besetzungen bearbeitet, wobei die für Streichsextett, -quintett, oftmals auch mit Flöte, für Streichquartett und für Harmoniemusik die häufigsten sind. Die im 18. und frühen 19. Jahrhundert entstandenen Reduktionen von Sinfonien für Streichquartett waren kaum Kompositionen für den großen Konzertsaal zu Werken für das Musizieren in Salons, in Adelskreisen und bürgerlichen Häusern und für die Ausbildung von Musikern umfunktioniert. Eine besondere Bewandtnis hat es mit den von Castil-Blaze erwähnten Sinfonien Mozarts „réduites en septuors par [Giambattista] Cimador“3, die entstanden, „nachdem das Orchester des Haymarket Theatre diese als zu schwierig abgewiesen hatte und nicht aufführen wollte“4. Choron und Fayolle sprechen voller Respekt von diesen „réductions“ und halten deren Erfolg für wohl verdient.5 Die Terminologie für verschiedene Bearbeitungen von originalen Werken wechselt am Ende des 18. und des 19. Jahrhunderts in Frankreich und Italien zwischen „réduction“ oder „arrangement“. Castil-Blaze unterscheidet „arranger“ und „réduire“. Seine Definition von „arranger“ lautet: C’est mettre à la portée d’un ou de plusieurs instrumens ce qui a été composé pour un ou plusieurs instrumens d’une nature différente. Il signifie encore resserrer le dessin harmonique dans ses formes et ses moyens, pour que les exécutants puissent rendre en sextuor, en quatuor, ou simplement sur le piano, la harpe et même la guitare, une symphonie ou un accompagnement destinés pour le grand orchestre.6
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François Henri Joseph Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne. Paris 1825 (4. Aufl.), Bd. 2, 202. Er erwähnt auch die Reduktion von Sinfonien Haydns (für Flöte, Streichquartett und Pianoforte ad libitum) durch Johann Peter Salomon. Rodney Slatford, Art. „Cimador“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (2. Aufl.). Hg. Ludwig Finscher. Personenteil, Bd. 4, 1125. Diese „réductions“ von Cimador erschienen auch in Paris und in Hamburg: Trois Grandes Simphonies Composées par W: A: Mozart Arrangées pour Deux Violons, Deux Altos, Basse, Contrebasse et Flûte La Flute Obligato ou Ad-libitum. ou Deux Violons, Deux Altos, Deux Basses et Flûte La Flute toujours Obligato ou Ad-libitum. par J: B: Cimador …, Paris, Janet et Cotelle (KV 425, 504, 550). Auch Johann August Böhme brachte sechs Bearbeitungen Cimadors heraus: Six Grandes Simphonies Composèes par W. A. Mozart. Arrangées pour Deux Violons, Deux Altos, Basse, Contrebasse et Flûte. La Flûte Obligato ou Ad-libitum. ou Deux Violons, Deux Altos, Deux Basses et Flûte. La Flûte toujours Obligato ou Ad-libitum par J. B. Cimador. Alexandre Étienne Choron, François Joseph Fayolle, Art. „Cimador“, in: Dictionnaire historique des musiciens. Paris 1810, Bd. 1, 141–142: „Il en [Sinfonien Mozarts] arrangea douze des plus belles en sextuor, avec une septième partie ad libitum. Cette collection très-intéressante a eu le succès le plus mérité.“ Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne (wie Anm. 3), Art. „arranger“, Bd. 1, 38, Art. „réduire“, Bd. 2, 201–202. In der Encyclopédie méthodique von Framery, Ginguené und Momigny, Paris 1818, wird nur der Artikel des Dictionnaire de musique von JeanJacques Rousseau bezogen auf den gregorianischen Choral wiederholt.
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Nur der Aspekt der Vereinfachung „à la portée de tout le monde“ – unterscheidet ihre Definition von „arranger“ von der von „réduire“, ein Artikel, in dem wichtige Formulierungen aus dem Eintrag „arranger“ übernommen sind.7 Die bei Castil-Blaze fehlende ästhetische Stellungnahme erschien den Brüdern Escudier, die zunächst in fast gleichem Wortlaut die Definition von Castil-Blaze übernehmen, sehr wichtig: Il [das Wort arrangieren] signifie encore resserrer le dessein harmonique dans ses formes et ses moyens, pour que les exécutants puissent rendre en sextuor, en quatuor, ou simplement […] une symphonie […]. L’arrangement peut avoir son utilité; mais, en général et au point de vue de l’art, il est presque toujours une insigne trahison à l’égard du compositeur.8
Während sie von missbräuchlicher Praxis des Arrangements durch Virtuosen ihrer Epoche sprechen, widmet Michel Brenet den verschiedenen Phänomenen und Problemen von Bearbeitungen vier Artikel („adaptation, arrangement, réduction, transcription“9), stellt die ökonomische Überlegung an, „l’intérêt des éditeurs, qui exploitent le succès commercial“10. Die Differenzierung der Idee des Arrangements bei Michel Brenet setzt Gesine Schröder11 in ihrem Artikel „Bearbeitung“ fort, in dem sie unter dem gleichen Stichwort die verschiedensten Phänomene von „Arrangements“ – über Brenet hinaus auch den „rechtlichen Aspekt“ – und ihre Implikationen behandelt. Parry hatte 1900 seinen Artikel fast vollständig
7 Massimo Vissian, Dizionario della musica. Milano 1846, 170, erwähnt „ridurre (réduire o arranger). Adattare un componimento di uno o più strumenti ad uno o più strumenti di natura diversa“. Er wiederholt seine Definition beim Eintrag „arranger (ridurre)“ in französischer Sprache, ibid., 212, und fügt im Artikel „réduction“ hinzu: „Musique à grand orchestre, arrangée pour le piano ou pour un petit nombre d’instrumens. Au lieu de réduction on dit quelquefois arrangement,“ ibid., 289. August Gathy führte in seinem Musikalischen Conversations=Lexikon, Leipzig, Hamburg und Itzeho 1835, zwei Stichworte ein: „Arrangiren, ein Tonstück für ein anderes Instrument oder für andere Instrumente einrichten, als für welche es ursprünglich geschrieben ist. Heut zu Tage wird Alles arrangirt und potpourrirt, und auf das sinnvollste reduzirt“ (20), und „Reduziren, Réduire (frz.). Die Harmonie auf weniger Instrumente zusammenziehen“ (292). Hermann Mendel, Musikalisches Concersations-Lexikon, Berlin 1870, Bd. 8, 263, beschränkt den Sinn von „Reduzieren“ auf die Verkleinerung der Instrumentation eines Orchesterwerks für ein Ensemble, in dem gewisse Instrumente nicht besetzt sind (wenn etwa ein viertes Horn fehlt). Im Dictionnaire de la musique en France au XIXe siècle, sous la dir. de JoëlMarie Fauquet, Paris 2003, 1042, wird noch im Artikel „transcription“ auf „réduction“ verwiesen. 8 Dictionnaire de musique, Paris 1854, 68. 9 Michel Brenet, Dictionnaire pratique et historique de la musique. Paris 1926, Art. „adaptation“, 10, „arrangement“, 24–25, „réduction“, 383, und „transcription“, 447. 10 Ibid., 65. 11 Dazu Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 4), Sachteil, Bd. 1, 1321–1331.
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auf Arrangements eigener Werken durch die Komponisten fokussiert, die er, vermutlich von Beethoven angeregt, mit der Übersetzung literarischer Werke verglich.12 Malcom Boyd führt erneut den ästhetischen Aspekt ein und deutet die moralisch-ethische Perspektive: „Few areas of musical activity involve the aesthetic (and even the moral) judgment of the musician as much as does the practice of arrangement.“13 Die Verbreitung und Rezeption von Sinfonien Haydns in Gestalt von Bearbeitungen für Streichquartett hat die Neugierde der Musikwissenschaftler bisher mit Ausnahme der Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, die in Haydns Originalversion für Orchester (1785), für Streichquartett (1787) und als Oratorium (1796) vorliegen,14 nicht erweckt. Bezüglich der Reduktion non Werken Haydns in größerer Besetzungen hat Georg Feder allgemein angemerkt: „Neben Aufführungsstimmen kamen immer zahlreichere Arrangements für kleinere Besetzungen zum Privatgebrauch auf.“15 In seinem thematischen Katalog verzeichnet Anthony van Hoboken fünf Editionen von Sinfonien Haydns durch Gombart, Hummel, Pleyel und Sieber.16 Im RISM sind solche von La Chevardière17, Artaria, Sieber, Sieber et fils, Le Duc, Gombart und des Musikalisches Magazins de Braunschweig ergänzt.18 Die erste Folge der Londoner Sinfonien erschien in Paris im Stimmendruck bei Imbault 1796, die zweite beim gleichen Verleger 1801(?).19 Pleyel und Sieber publizierten die hier berücksichtigten Bearbeitungen der Sinfonien aus der ersten Folge 1798 und Sieber aus der zweiten Folge 1801–1802, d. h. jeweils im zeitlichen Abstand von einem bis zwei Jahren (siehe Anhang 1). Während Pleyel auf der Titelseite nicht erwähnt, dass es sich um Bearbeitungen von Sinfonien handelt – bei Pleyel
12 C. Hubert H. Parry, Art. „arrangement“, in: A Dictionary of Music and Musicians. London 1900, Bd. 1, 89–95. 13 Malcolm Boyd, Art. „Arrangement“, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Hg. Stanley Sadie. London 1980, Bd. 1, 631. 14 Zuletzt erörtert von Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000, 325. 15 Georg Feder, Art. „Haydn“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 4), Personenteil, Bd. 8, 1045. In der Literatur über die Streichquartette Haydns blieben diese Arrangements ausgeklammert. 16 Antony van Hoboken, Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Mainz 1957, Bd. 1, 461: Gombart, RISM A/I/4, H 4156, und Hummel, H 4155, die Sinfonien Nr. 99, 104 (der 2. Satz ist der von Sinfonie Nr. 101) und 102, Pleyel die Nr. 94, 96 und 95 (PlNr. 73, H 4149) und 99, 104 und 102 (PlNr. 185, H 4150) und Sieber Nr. 100, 99, 101 (PlNr. 1509, 1512, H 4147) und 102, 104, 103 (PlNr 1798, fehlt in RISM). 17 La Chevardière publizierte Sinfonien unter dem Titel Six Simphonies ou Quatuors Dialogués, Pour deux Violons Alto Viola & Basse obligés, Paris (ca. 1772), ohne PlNr. (H 4139). 18 RISM A/I/4, H 4139, 4143–4158. 19 Feder, Art. „Haydn“ (wie Anm. 15), 998, 1000.
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haben die Sinfonien Nr. 94, 96, 95 die Opuszahl 85, bei Sieber die Sinfonien Nr. 97, 98 und 93 die Opuszahl 86 und bei Sieber die Sinfonien Nr. 102, 103, 103 die handschriftlich eingetragene Opuszahl 90 –, informiert Sieber korrekt: „… Quatuors… en Simphonies et Réduites en Quatuors.“ Nur auf der Titelseite des Sieber-Drucks mit den Sinfonien 97, 98 und 93 wird der Name des Bearbeiters, C…… angegeben, der schon in RISM (H 4151) als Giuseppe Maria Cambini identifiziert ist. Angesichts der Menge der Bearbeitungen für Streichquartett, die bei Verlagen verschiedener Länder erschienen und deren Bearbeiter oftmals nur vermutet werden können, ist hier die Beschränkung der Untersuchung auf die Spezifik einiger in Frankreich erschienener Drucke notwendig. Am Beispiel der Sinfonie Nr. 93 werden dann exemplarisch die schon von Beethoven genannten Verfahren aufgezeigt (Weglassen oder Ändern von Passagen, neue hinzufügen). Die Änderungen der Form bzw. der Struktur, wie sie in Anhang 2 dokumentiert sind,20 betreffen in ihrer überwiegenden Mehrzahl in den Kopfsätzen den Epilog der Exposition, den letzten Teil der Durchführung und den Epilog bzw. die Coda der Reprise, in denen Abschnitte durch neue, manchmal etwas längere Teile ersetzt werden, in denen die Violine 1 mit virtuosem Passagenwerk brillieren kann. Die Übertragung von Bläserpassagen auf die Streichinstrumente, besonders in Violine 1 ergibt sich zwangsläufig, aber des Öfteren werden reine Bläserpassagen, aber auch längere Abschnitte gestrichen. In den Sinfonien Nr. 96, 97 und 104 (dort nur Varianten) sind die Durchführungen von formalen Veränderungen ausgespart. Einen Sonderfall der hier berücksichtigten Bearbeitungen stellt die der Londoner Sinfonie Nr. 103 dar, in der das Menuett einschließlich des Trios in den Kopfsatz integriert ist: nach T. 112 unterbricht ein Adagio von 21 Takten die Durchführung (die ersten sechs Takte davon stimmen mit den Takten 3–8 der langsamen Einleitung überein), dann erklingen Menuett, Trio, Menuett gefolgt von sieben Takten im 6/8-Takt (identisch mit den T. 160–166 der Reprise Haydns) und sieben weiteren Takten. Man könnte diese Lösung sogar als Vorläufer der „Wandererfantasie“ oder anderer Sonatensätze der Romantik wie der h-Moll Sonate von Franz Liszt ansehen, in denen allerdings alle vier Sätze in einem Sonatensatz integriert sind. Diese Reduktion, in deren langsamer Einleitung die Violine 1 bereits eine neue Melodik erhalten hat, ist mit der Streichung von 88 Takten der Durchführung und der Reprise und der
20 Hier wurde die Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, hg, H. C. Robbins Landon, Wien, UE 1966, zugrunde gelegt.
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Integration von Menuett mit Trio in den Kopfsatz ein Sonderfall. In der Sinfonie Nr. 102 dagegen betreffen die Veränderungen in der Durchführung nur Kürzungen. In den langsamen Sätzen sind erhebliche, die Struktur betreffende Eingriffe seltener, nicht aber in jenen der Sinfonien Nr. 94, 95, 97 und 103, wo sich einzelne Striche befinden. Meist handelt es sich um Varianten des originalen Notentexts. In den Menuetten sind die Struktur betreffende Eingriffe relativ selten. Das Menuett der Sinfonie Nr. 97 durch die Kürzung um 23 Takte und die Sinfonien Nr. 102 und 103 mit Erweiterungen um einige Takte, stellen exponierte Sonderfälle dar. Wie in den Kopfsätzen prägen virtuose Veränderungen vorhandener Passagen oder eingefügte virtuose Passagen für die Violine 1 ausnahmslos alle Finali. Die Einfügungen sind etwas häufiger als die Kürzungen. Offenbar kommt es Cambini darauf an, in den Außensätzen den Glanz und die Virtuosität des Primgeigers besonders herauszustellen. Zu den stilistischen Eingriffen sind die Tempo- bzw. Charakterbezeichnungen zu rechnen, die in nicht weniger als 18 Sätzen des ausgewählten Korpus verändert sind, davon sind diese in zwei Menuetten (Allegro und Allegretto) entfallen, vier Mal präzisiert (durch die Ergänzung von „scherzando“, „scherzoso“, „comodo“, „cantabile“), neun Mal ist das Tempo rascher (in Kopfsätzen: Allegro assai versus Allegro, Vivace assai versus Vivace, Allegro moderato versus Allegro vivace, Allegro vivace versus Vivace; in Finali: Presto ma non troppo versus Presto, Presto assai versus Presto, Spiritoso versus Presto; in einem langsamen Mittelsatz: Adagio versus Larghetto; in Menuett: Allegretto versus Allegro) und drei Mal langsamer (in Menuett: zweimal Allegro versus Allegretto; in Finali: Presto versus Allegro assai). Diese Art der Veränderungen sind so zahlreich, dass sie nicht als zufällig zu bezeichnen sind. Betroffen sind in erster Linie die Kopfsätze und Finali, deren Tempo in der Quartettfassung oftmals rascher ist. Nur für je ein Menuett und ein Finale wird ein langsameres Tempo gefordert. Bezeichnend für Frankreich ist, wo eine große Sensibilität für Tanzsätze traditionell vorhanden ist, dass bei sieben Menuetten präzisere Vortragsbezeichnungen oder Veränderungen, dagegen nur fünf bei Kopfsätzen und vier bei Finali vorgenommen werden. Zudem ist das rasche Tempo der Kopfsätze besonders wichtig, denn in keinem Fall wird dessen Tempo in den Quartettreduktionen verlangsamt. Man könnte annehmen, spezifische Eigenarten der Artikulation und der Dynamik zumindest in den Streichern der Pariser Stimmdrucke der Sinfonien seien in den Streichern der Quartettreduktionen gleich, aber der Vergleich mit dem bei Imbault erschienenen Druck der Londoner Sinfonie Nr. 104 (wie auch anderer Sinfonien, etwa Nr. 102 und 103) zeigt sehr viele
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Abweichungen: Die Bogensetzung,21 die Staccato-Angaben,22 die dynamischen Eintragungen23 sind vielfach verschieden, gelegentlich auch der Notentext,24 ohne dass hier von immer spezifischen Veränderungen für die Quartettbesetzung gesprochen werden kann, handelt es sich diesbezüglich doch nach bisherigem Kenntnisstand kaum um systematisch durchgeführte Veränderungen. Aber es ist sicher lohnend diese Phrasierungen in der Praxis auszuprobieren und aufzuführen. Die Violine 1, die in hohe Lagen geführt (d'''' in der Sinfonie Nr. 98, c'''' in Nr. 97 und h''' in Nr. 93 sowie 103), ist oftmals technisch sehr anspruchsvoll. In einigen Fällen übernehmen die Bratsche (z. B. im vierten Satz der Sinfonie Nr. 98) oder das Violoncello (Nr. 96, Trio des Menuetts, die Stimme der Oboen im Trio im Violinschlüssel G2 notiert) den Violinpart der entsprechenden Orchesterstimme. Exemplarisch werden hier einige wichtige Veränderungen in der Reduktion der Sinfonie Nr. 97 aufgelistet (verglichen mit der Ausgabe von Robbins Landon). Erster Satz: Art der Einfügungen: Violine 1, vier Takte nach 27 wird das Motiv von T. 26–27 auf g' und f' wiederholt; neun Takte nach T. 96 durchgehende Triolenbewegung und Wechsel zwischen D7- und G-Dur Akkord; nach T. 106 eingefügte sechs Takte modulierend nach E-Dur, a-Moll und G-Dur; T. 214 Fermate auf drittem Achtel, dann entfällt der Pausentakt 115; nach T. 222 vier Takte mit Wechsel zwischen C- und G-Dur; T. 227–234 ersetzt durch vier Takte Triolenbewegung; T. 276–293 ersetzt durch neun Takte Triolenbewegung (Akkordbrechungen und Skalen), es folgen entsprechend T. 97–100 (dolce), drei Takte Skalen bis zum c'''' und Sprung zu g, acht Takte entsprechend T. 103 ff., zuletzt wie T. 282 ff. Phrasierung: in T. 8 der Violine 1, die punktierte Achtel mit Sechzehntel mit Bindebogen; in T. 41 und 43 staccato; in T. 48 und 50 Sechzehntel mit Bindebogen; T. 52–53 ab zweitem Achtel staccato; in T. 87 und 88, ebenso in der Reprise, anstelle der beiden Achtel punktierte 21 In T. 24 der Violine 1 des Kopfsatzes sind bei Imbault alle drei Töne mit Bindebogen versehen, bei Sieber nur die ersten beiden, im Andante, T. 4 die Töne 2–4, bei Sieber die Töne 1–4; im Trio des Menuetts T. 55–60 sind jeweils die ersten beiden und die letzten vier Achtel gebunden, bei Sieber alle sechs Achtel zusammen, in den T. 61–62 die ersten drei gebunden, die darauf folgenden drei mit Staccato, T. 63 mit Bindung der ersten beiden und Staccato der vier folgenden, bei Sieber weiterhin alle sechs Achtel gebunden; im Finale sind bei Imbault in den T. 3–4 alle Noten unter einem Bogen gebunden, bei Sieber nur die ersten beiden. Im Imbault-Druck der Sinfonie Nr. 103 sind die letzten vier Sechzehntel von T. 41 nicht gebunden, bei Sieber gebunden. 22 U. a. stehen bei Imbault in der Violine 1 in T. 19 und 124 des Kopfsatzes vier StaccatoPunkte, bei Sieber sind diese mit einer Schlangenlinie versehen. 23 In der langsamen Einleitung des Kopfsatzes T. 12 ist bei Sieber crescendo zu lesen, nicht aber bei Imbault, im Menuett Auftakt zu T. 9 P bzw. PP, T. 17, letztes Viertel keine Angabe bzw. sfz. 24 Bei Imbault spielt die Violine 1 in den ersten beiden Takten zwei übergebundene Halbe d' im P, bei Sieber pausiert sie.
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Achtel und Sechzehntel; jeweils ganze Takte 125, 126, 130, 132, 137–142 mit Bogen; T. 145, 147–150 staccato; T. 154–156 und T. 204–206 ab zweitem Achtel staccato; T. 220 anstelle der Bindung von jeweils zwei Achteln hier Bindung von drei Achteln und die folgenden drei Achtel staccato; Triolen ab T. 235 ohne Bindebogen; Dynamik und Vortragsbezeichnungen: T. 9 dolce; Auftakt zu T. 24 dolce; T. 170 P, 172 crescendo, 174 F; Instrumentation: in den T. 23–24 wechselt die Violine 1 zwischen Violin- und Flötenstimme, in T. 25 in die Oboenstimme; in T. 83 führt Violine 1 die Stimme des Violoncellos aus; Zweiter Satz: Phrasierung: Auftakt zu T. 20 bis zum ersten Viertel von T. 22 jeweils zwei Viertel gebunden, danach zweites bis viertes Viertel, dasselbe in T. 25–26; T. 48, 55 erste Triole ohne Bindung; in T. 55 letzte Triole, in T. 59 erste Triole ohne Bindung; in T. 72 Bindung von jeweils zwei Vierteln anstelle der Bindung aller Viertel; in den T. 70, 81 und 82 die Viertel mit gewellter Linien und Staccato-Punkten; T. 85–90 staccato; in T. 91 Bindung von zwei anstelle von vier Sechzehnteln; T. 92 staccato; Dynamik: auf letztem Viertel von T. 18 crescendo; T. 24 fehlt PP; T. 56, 57 letzte Triole F anstelle von sfz; T. 80 Halbe mit sfz; T. 92 letztes Viertel dolce; Auftakt zu T. 147 PP; Instrumentation: T. 98 spielt die erste Violine den Part der zweiten Violine der Sinfonie; T. 99– 102 virtuose Ausschmückung in Violine 1; T. 105–107 octavo. Finale: Art der Kürzungen und Einfügungen: ersetzt sind T. 200–235 (Reprise des Themas) durch 12 Takte: davon neu T. 200–203 mit Kadenz in G wie in der Sinfonie, neu T. 204–207, T. 208–211 Sequenz mit Kadenz in C-Dur; T. 270–289 durch 23 T. ersetzt (davon T. 280–288 in Oboen und Fagott), davon in den T. 270–278 und 284–288 ornamentierte Version; neue Version anstelle von T. 309–329 mit Trugschluss in As (vier Takte), dann Kadenz mit Septakkord mit tiefalterierter Quint, aufgelöst in G7, gefolgt von 4 Takten, die mit dem Beginn des ersten Themas identisch sind und eine Fortspinnung und das Repetitionsmotiv in der Gestalt von T. 41–42 darstellen, jedoch mit abschließendem Terzgang aufwärts; die T. 330–333 fast identisch; Phrasierung: T. 19 Auftakt und die vier Achtel zusammen gebunden, die gleiche Figur in T. 21 und 23 ohne Bindung; T. 45–47 staccato; T. 52, 56 anstelle der Bindung der ersten drei Achtel Bindung der ersten beiden und die nächsten beiden Achtel staccato; T. 240–244 staccato; Dynamik: T. 21 P; T. 23 crescendo; T. 33, 34 Takteins mit sfz; T. 50 (Klammer 1.) mit Vorschlag und dolce; T. 75 2. Achtel FF; T. 76 drittes Achtel sfz; T. 259 sfz; T. 260 P, 261 F; Instrumentation: T. 25 spielt die Violine 1 den Part des Horns; weitere Veränderungen: T. 26 Triller und Doppelschlagfigur in 1/16 mit sfz, dasselbe T. 28 ohne sfz; T. 30 chromatische Umspielung von a'' mit sfz und Triller; T. 78–80 Sekundgang ausgeziert; T. 266–267 octavo.
Diese Aufzählung belegt, wie intensiv sich Cambini mit der Musik auseinander gesetzt und wie er seine eigene Vorstellung in die Reduktion zu einem „Quatuor concertant“ eingebracht hat.
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Als Paradigma seien hier die Eingriffe in die Substanz der Londoner Sinfonie Nr. 93 am Notentext dargelegt. Die Abweichung der Anzahl der Takte zwischen der Sinfonie und der Quartettreduktion lässt bereits erkennen, wo die wichtigsten Eingriffe vorgenommen wurden: 1. Satz bei Haydn 262, in der Quartettfassung 285 T.; 2. Satz unverändert; 3. Menuett 46, Quartettfassung 47 T., Trio unverändert; 4. Satz 312, Quartettfassung 318 T. Abgesehen davon, dass die Verteilung der Stimmen, insbesondere der Bläserstimmen eine Notwendigkeit bei der Reduktion auf den Streichquartettsatz ist, hat Cambini erhebliche Eingriffe vorgenommen. Diese Sinfonie, die in den Trois Quatuors […] en Simphonies et Réduites en Quatuors par C…… bei Sieber (1798) erschien, wurde wie die anderen, hier behandelten Sinfonien französischer Ausgaben von Cambini in eine Art „Quatuor concertant“ transformiert, ein Typus des Streichquartetts, der in Paris besonders erfolgreich war. Cambini stand durch die Publikation zahlreicher seiner Werke bei Sieber mit diesem Verleger in enger Beziehung und war als Komponist von „Quatuors concertants“ profiliert. Die Ähnlichkeit der Bearbeitungsmanier in der zuvor erschienenen Edition Pleyels der Sinfonien Nr. 94, 96, 95 nährt die Vermutung, dass Cambini die bei Pleyel erschienenen Quartettreduktionen unter Berücksichtigung der gleichen Manier und Stilistik bereits zuvor arrangiert hat. Offensichtlich wurde der Respekt vor dem originalen Werk der Anpassung an Erwartungen an das „Quatuor concertant“ untergeordnet. Exempel 1 zeigt die Quartettversion des Epilogs (in der Sinfonie beginnend mit T. 95, dort weitgehend Achtelbewegung aller Streicher, ab T. 101 auch der Flöte, und Kadenzharmonik zum Anschluss auf der Dominante). Im T. 94 gibt Cambini der ersten Violine anstelle eines Viertels gis einen ganztaktigen Triller auf gis'' (analog dazu in der Durchführung ein ganztaktiger Triller auf cis). Nach dem Abschnitt mit paariger Triolenbewegung, harmonisch im Bereich A-H-E (4 T.) folgen 11 T. mit einer bis a''' geführten Triolenbewegung in Violine 1, begleitet von zwei verschiedenen Kontrapunkten (einer davon paarig in zwei Instrumenten). Danach stimmen die drei Unterstimmen des Quartetts mit dem Notentext Haydns fast vollkommen überein (bei Haydn T. 95–111), während die Violine 1 darüber eine neue Melodie und danach ein Sechzehntelfigurenwerk ausführt. Der Notentext der Klammer 1 ist abgesehen von der Oktavierung des h in beiden Violinen und dem Staccato der Skala gleich. Während die Triolenbewegung auch in der Sinfonie an früherer Stelle (T. 66–69) vorhanden war, ist das erwähnte melodische Element neu. Cambini hat die T. 95–109 von Ex. 1 neu komponiert. Haydn lässt in den Takten 122–127 der Durchführung die Streicher mit den beiden Oboen, dann mit den beiden Flöten und zuletzt mit den bei-
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den Oboen und Fagott dialogisieren. Die Stimmen der Bläser sind in der Quartettreduktion (Ex. 2) in die Bratsche und in das Violoncello übertragen, und die Violine 2 erhält als Unterstimme ihrer Terzen die Bratschenstimme des Orchesters. Eine ähnliche Lösung liegt in Exempel 3 aus der Durchführung vor (T. 154 –157), wo die beiden Violinen aus dem Orchestersatz beibehalten sind, aber mit Keilen und Staccato auf andere Art zu artikulieren sind, und die beiden Flötenstimmen wiederum auf Bratsche und Violoncello mit dem Zusatz „dolce“ übertragen sind. In Exempel 4 aus der Durchführung, das mit dem noch gemeinsamen T. 178 beginnt, sind acht Takte anstelle der T. 179–180 eingefügt, in denen Cambini die Figuration Haydns aus T. 157–158 und die auftaktige Bläserfigur in Vierteln (in Bratsche und Violoncello) wieder aufnimmt. Zunächst analog zum Epilog der Exposition ist die Neugestaltung des Epilogs in der Reprise des Kopfsatzes (Ex. 5): drei Phrasen (bis T. 262), dann sechs neue Takte in absteigender Bewegung der Violine 1, das Aufgreifen der Figur aus Haydns T. 256–258 in fünf Takten und schließlich die Triolenbewegung in allen Streichern zum Abschluss des Satzes. Dieser Epilog hat mit Haydn nur wenig gemeinsam.
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Sinfonien Haydns von Cambini als „Quatuors concertants“ arrangiert
269
Im Finale dieser Sinfonie hat der Bearbeiter die Takte 74–80 eines auskomponierten E-Dur Septakkords durch eine virtuose Passage mit Spielfiguren und Akkordbrechungen ersetzt (Ex. 6), mit denen die Violine 1, mit wenigen Akkorden begleitet, brillieren kann. Harmonisch wird E-Dur durch fisMoll und H-Dur bereichert. Die Takte 98–117, in der Sinfonie ein Wechsel zwischen aufsteigenden Dreiklangsbrechungen und einer abwärts gerichteten Spielfigur, die in Tremolotakte der beiden Violinen münden und sich harmonisch im Bereich der Dominante bewegen, sind durch 30 neue Takte ersetzt (Ex. 7), in denen zwei Elemente, die Synkopierungen der beiden Mittelstimmen und die Tonwiederholungen im Violoncello beibehalten sind, aber die Violine 1 mit virtuosem Passagenwerk bis zum h''' aufwärts geführt wird. Im gleichen Satz werden nach dem gemeinsamen Takt 284 mit dem Sprung g-h'' in der Violine 1 die letzten 28 Takte (285–312) durch eine um einen Takt verlängerten Schlussteil ersetzt. In der Sinfonie folgt auf acht Tutti-Takte ein Wechsel zwischen Bläsern einschließlich Trompeten und Pauken mit den Streichern und danach der Flöte von sechs Takten und 14 Schlusstakte wiederum im Tutti, alles im FF. Im Gegensatz gestaltete Cambini einen kammermusikalischen Schluss (Ex. 8), abwechslungsreich in seiner Dynamik, „dolce“ und P in den Mittelstimmen, dann auch in der Violine und erst acht Takte vor Schluss ein Crescendo, das zum Mezzoforte und schließlich zum Forte führt. Zunächst begleiten die Unterstimmen eine virtuose Violine 1 mit Skalen und Dreiklangsbrechungen, die bis zum a''' führen, bei der Cambini bei der Schlusssteigerung alle Instrumente an der Skala aufwärts beteiligt. Der Schlussakkord setzt nicht dreimal auf die Takteins ein, sondern wird in dreimaligen Viertelschlägen deklamiert und der Klangbereich der ersten Violine durch das d''' der Flöte ergänzt. In seinen Transkriptionen von Konzerten Vivaldis „korrigierte“ Bach die Kompositionen, verdichtete den harmonischen Rhythmus und die Kontrapunktik, um daraus Clavierkonzerte zu schaffen. Cambini passte Haydns Sinfonien der Stilistik der Gattung seiner „Quatuors concertants“ an und „verbesserte“ gleichzeitig auch Haydns Kompositionen in seinem Sinne. Obwohl Cambini die Mühe auf sich nahm, die Sinfonie in Streichquartette zu transformieren, wobei er besonders der Artikulation, der Phrasierung und der Dynamik große Aufmerksamkeit schenkte, und die erste Violine technisch anspruchsvoll gestaltete, dass sie bestenfalls von sehr versierten Liebhabern zu spielen waren, fanden die Arrangements von Sinfonien für Streichquartett offenbar keinen Eingang in Programme von Konzerten. Joël-Marie Fauquet, der beste Kenner der Kammermusik im Frankreich des 19. Jahrhunderts, sind keine Programme der Pariser Kammermusikgesellschaften bekannt, auf denen eine Quartettreduzierung erschien. Nach
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seiner Kenntnis spielten Baillots und die ihm nachfolgenden Streichquartette stets originale Haydn Quartette, aber in keinem Fall solche Arrangements.25 Dagegen, so teilt er mir mit, wurden neben originaler Kammermusik Reduktionen von Sinfonien für Streicher in der Ausbildung von Streichern, oftmals auch im privaten Unterricht im Fach „musique d’ensemble“, etwa in den Kursen von Léopold Deledicque musiziert, in dem der Lehrer die erste Violine und die Schüler die anderen Stimmen ausführten. Diese Praxis war vermutlich älter als das Aufkommen des Begriffs „musique d’ensemble“ in den 1840er Jahren.
Anhang 1: Hier untersuchte Bearbeitung für Streichquartett Trois/QUATUORS/Pour/deux Violons, Alto, et Violoncelle./PAR/J. HAYDN./ŒUVRE 85e./Enregistré à la Bibliothéque Nationale./Prix 9ll./A PARIS/Chez PLEYEL, Rue neuve des Petits champs, no. 24,/entre la Rue Ste. Anne et celle de Chabannais./Propriété de l’Editeur./Ecrit par Ribiere. PlNr. 73 (1798); RISM H 4149; Sinfonien Nr. 94, 96, 95; F-Pn Vmg. 18712 Trois/QUATUORS/Pour/Deux Violons Alto et Basse/Composées/PAR/J. HAYDN/en Simphonies et Réduites en Quatuors par C……/Œuvre. 86 Prix [en manuscrit 7lb 10]/A PARIS./Chez Sieber Musicien rue honore la Porte Cochere entres les rues/des Vieilles Eluves et D’orleans No 85 Signatur Sieber, PlNr. 1471 (1798); RISM H 4151; Sinfonien Nr. 97, 98, 93 Trois QUATUORS/Pour/Deux Violons Alto et Basse/Composes Par/J. HAYDN./en Simphonies et Réduites en Quatuors/Œuvre [ms. 90] Prix. 7lb. 10s./A PARIS/Chez SIEBER Musicien rue Honoré la porte Cochère entres/les Rues des Vieilles Eluves et celle d’orléans. No. 85./Enregistré à la Bibliothèque conformement au décret du 19 Juillet 1793./1509. 1512 PlNr. 1512 (1801 oder 1802);26 RISM H 4154; Sinfonien Nr. 102, 104, 103
Anhang 2: Ergänzungen und Streichungen von Takten Sinfonie Nr. 93 1. Satz Allegro anstelle von Allegro assai T. 95–108 (mit 4 T. im ersten Schluss), d.h. 18 T. ersetzt durch 32 T. nach T. 158, 1 T. eingefügt nach T. 178, 9 T. anstelle der T. 179–180 eingefügt (Ex. 2) T. 237–262, 26 T. ersetzt durch 42 T. (Ex. 3) 3. Satz, Menuetto, Allegretto anstelle von Allegro nach T. 85, 1 T. eingefügt 25 Ich danke Joël-Marie Fauquet sehr herzlich für sein E-Mail, in dem er mir seine Kenntnis und seine Vermutungen zur Verwendung der Arrangements mitteilte. 26 Zwar stehen auf dem Titelblatt zwei Plattennummern, aber die vier Stimmen haben alle die Platten-Nr. 1512.
Sinfonien Haydns von Cambini als „Quatuors concertants“ arrangiert
271
4. Satz Presto anstelle von Presto ma non troppo nach T. 38 ein Takt eingeschoben anstelle von T. 74–80 hier neue 14 Takte T. 98–117, neue Version die T. 277–280 der Bläser sind entfallen T. 285–312, neue Version der 30 T. (um 2 T. erweitert) Sinfonie Nr. 94, die Quartettfassung erschien bei Pleyel27 1. Satz Adagio cantabile anstelle von Adagio, Vivace anstelle von Vivace assai T. 49–52, 63, 75 neue Version T. 86–93, neue Version T. 99–107 ersetzt durch 15 T. davon 5 identisch mit solchen der Sinfonie T. 176–181, 228–235, 239 neue Version (Violine 1 spielt oftmals den Part von Violine 2) nach T. 249 12 T. eingefügt, Schluss mit den variierten T. 250–257 2. Satz T. 75–82, neue Version T. 99–106 gestrichen T. 115–130, 131–134 ornamentierte Version 3. Satz ohne Tempoangabe Allegro molto 4. Satz T. 58–71, stark ornamentierte Version T. 91–94, ornamentierte Version anstelle von T. 181 3 neue T. T. 199, 205, 242, 249, Varianten der Figuration anstelle von T. 249–253 neue Version (Erweiterung um 3 T.) Sinfonie Nr. 95 1. Satz Allegro vivace anstelle von Allegro moderato T. 46–47 Triolen durch Halbe, eine punktierte Viertel mit Achtel ersetzt T. 50–61 ersetzt durch 25 neue virtuose T. (14 T. eingefügt) T. 88–99 ersetzt durch 12 neue T. (1 T. mehr) nach T. 119 2 T. eingefügt T. 146–150 ersetzt durch 19 neue virtuose T. (15 T. eingefügt) T. 155–158 stärker ornamentierte Violine 1 2. Satz T. 25–30, Violine 1 mit dem Part von Violine 2 T. 52–58, Variante T. 65–70 ersetzt durch 6 neue T. 4. Satz Allegro di Motto anstelle von Allegro molto T. 9–16, Wiederholung des Themas, Violine 1 spielt Part der Violine 2 Wiederholung der T. 9–32, Violine 2 mit Part der Violine 1 octavo T. 62–75 ersetzt durch 24 neue T. (10 T. eingefügt) T. 94 neue Version T. 144–177 ersetzt durch 28 neue virtuose T. (um 5 T. reduziert) Sinfonie Nr. 96 1. Satz T. 17, Solokadenz in Violine 1 notiert (verschieden von jeder der Oboe der Sinfonie) 27 Anstelle von „Allegro molto“ hat das Finale die Bezeichnung „Allegro di Motto“; weitere zahlreiche orthographische Fehler wie etwa „Violino Scecondo“.
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Herbert Schneider
T. 32 Wiederholung des Themas, Violine 2 mit Part von Violine 1 T. 39–43 neue Version in Violine 2 T. 75–81 neue Version anstelle von T. 168–170 5 neue T. (um 2 T. erweitert) anstelle von T. 198–203 neue Version von 16 T. (10 T. eingefügt) 2. Satz Andante commodo e Echerzoso [sic! in Violine 1 und 2 für scherzoso] anstelle von Andante nach T. 88 1 T. eingefügt 3. Satz ohne die Angabe Allegretto Trio T. 53–60, 69–84 Part der Oboe von Violoncello gespielt 4. Satz nach T. 75 8 T. eingefügt T. 111–114 Variante T. 135–140 neue Version T. 179–209 ersetzt durch 9 T. (Kürzung um 21 T.) nach T. 217 20 T. eingefügt Sinfonie Nr. 97 1. Satz nach T. 27 vier T. eingefügt T. 61–69 fehlen T. 83–90, Violoncello von erster Geige gespielt nach T. 96 9 neue T. eingefügt nach T. 106 6 T. eingefügt nach T. 182 3 Takte neu anstelle von T. 183 T. 214 mit Fermate auf die letzte Viertelpause, Pausentakt 215 entfiel nach T. 222 4 neue T. eingefügt anstelle der T. 227–234 4 neue T. T. 276–293 ersetzt durch 34 T. (18 T. ersetzt, davon nur T. 281–284 gemeinsam) 2. Satz ein T. vor T. 67 eingefügt (die 7 ersten Takte des Mollteils sind damit zu einem Achttakter erweitert) T. 99–102 virtuose Ausschmückung in der ersten Violine, 105–107 octavo gestrichen sind die T. 115–128 3. Satz Trio des Menuetto, Viola und Violoncello „Trio scherzoso“; in T. 69–84 und bei der Wiederholung dieses Teils spielt das Violoncello die Melodie der ersten Violine, die erste Violine eine ganz neue Stimme; T. 101 „dolce“ T. 93–110 entfallen (Wiederholung des Triothemas) 4. Satz T. 25–26, 28–31, 78–80 Variante T. 83–91, 97–99, 127–140, 151–154, 171–176 in Violine 1 ausgeschmückte Version T. 200–235 ersetzt durch 12 T. (Kürzung um 23 T.) T. 270–289 ersetzt durch 22 neue T. (1 T. mehr) T. 309–329 ersetzt durch 22 neue T. (1 T. mehr) Sinfonie Nr. 98 1. Satz T. 71–74, Triolen neu nach T. 74 und 81 Ergänzung eines T. T. 122–131 ersetzt durch 21 T. (Ergänzung von 12 virtuosen T.)
Sinfonien Haydns von Cambini als „Quatuors concertants“ arrangiert
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T. 150–151 neue Version T. 167–190 ersetzt durch 10 neue T. (mit Triolen, Kürzung um 13 T.) T. 255–256 virtuosere Version T. 277–320 ersetzt durch 23 neue T. (mit Triolen, virtuos, Kürzung um 20 T.) 2. Satz T. 27–28 Sextuolen ersetzt durch eine Halbe und Viertel 3. Satz Allegro ersetzt durch Allegretto T. 5–6 vereinfacht 4. Satz Presto ersetzt durch Presto assai T. 9–15 Solostimme in der Bratsche T. 24–33 gestrichen T. 77–102 gestrichen T. 124–147 ersetzt durch 32 T. (die letzten 4 T. sind identisch; um 9 T. erweitert) nach T. 164 1 T. eingefügt T. 180–181, 183–185, 187–189 ornamentierte Version T. 194–203 ersetzt durch 6 neue T. (Kürzung um 4 T.) nach T. 208 1 T. eingefügt (Verlängerung des Orgelpunkts) nach T. 231 2 T. eingefügt T. 276–281 gestrichen T. 307–386 (inklusive des Più moderato) ersetzt durch 41 virtuose T. (Kürzung um 38 T.) Sinfonie Nr. 102 1. Satz Vivace anstelle von Allegro vivace T. 43ff. Variante, verschiedene Artikulation T. 69–71 Variante T. 83–84, 89–91 neue Version anstelle der T. 108–110 15 virtuose T. (Ergänzung von 12 T.) T. 113–115, 120, 126, 129–132, 165–167, 172–175, 184 Varianten T. 192–218, gleiche Harmonik, aber ansonsten neue Version nach T. 225 1 T. eingefügt T. 263–266 Variante T. 298–311 ersetzt durch 23 T. (9 T. eingefügt) 2. Satz Larghetto anstelle von Adagio T. 38, 55–56 Variante anstelle von T. 60 Einfügung von 5 T. 3. Satz ohne Tempoangabe Allegro Violon 1 wechselt zwischen Part der Violine, der Oboe und der Flöte 4. Satz Rondo, Allegro assai anstelle von Presto T. 107–109 ersetzt durch 5 virtuose T. T. 113–115 Variante nach T. 117 1 T. eingefügt anstelle von T. 227 7 virtuose T. eingefügt (6 T. neu) nach T. 271 4 T. eingefügt Sinfonie Nr. 103 1. Satz Allegro anstelle von Allegro con spirito T. 1 verdoppelt T. 2–5, 8–11, 35–37 neue Melodie T. 44–47, 62 Varianten T. 74–94 ersetzt durch 18 neue T. (Kürzung um 3 T.) T. 113–201 gestrichen
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T. 202–206 neue Version anstelle von T. 213 11 T. Adagio (Ende des Satzes) T. 214–229 gestrichen Minuetto hier in den Satz integriert, Tempobezeichnung Allegretto eingefügt Trio T. 56 Auftakt neu Menuetto anstelle von T. 48 7 T. eingefügt (Takte einer neuen Überleitung) es folgen die T. 160–166 des 1. Satzes und 7 neue T. 2. Satz T. 51–66 ersetzt durch 16 neue T. T. 85–92 neue virtuosere Version (ohne Wiederholung); es folgen die T. 93–100 T. 101–103 neue Version T. 104–108 neue Version T. 109–116 ohne Wiederholung T. 139–154 gestrichen T. 170–172 neue Version nach T. 194 Ergänzung der T. 193 und 194 4. Satz schwieriger Part der Violine 2 von Violine 1 übernommen T. 83–85 gestrichen T. 86–87 beide Takte wiederholt T. 99–100, 105–106, 120–130 Varianten T. 124–127, 232–234 Violine 1 mit Pausen T. 235–240, 247–251, 286 Violine neue Version nach T. 307 2 T. eingefügt T. 308–309 Variante T. 314–316 Violine neue Version T. 317–322 Violine 1 pausiert T. 327–329 Violine 1 pausiert T. 330–340, 372–386 Varianten Sinfonie Nr. 104 1. Satz T. 38–39 gestrichen T. 92–96 Variante nach T. 96 1 T. eingefügt T. 101–103 ersetzt durch 3 neue T. T. 116–117 Variante T. 120–123 ersetzt durch 10 neue T. (6 T. eingefügt) T. 138–144 Variante T. 211–216 gestrichen T. 260–261 Variante T 277–294 ersetzt durch 20 T. (2 T. eingefügt) 2. Satz T. 44, 49, 53–55, 72–73 Varianten T. 117 vereinfacht 3. Satz Allegretto anstelle von Allegro T. 72 Variante 4. Satz Presto anstelle von Spiritoso T. 19–22 Halbe anstelle von 2 Vierteln T. 217–218, 221–227, 249, 253, 267–268 virtuosere Version T. 269–292 Takte der Bläser gestrichen T. 301–326 ersetzt durch 26 neue virtuose Takte
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Ein Skizzenblatt Mozarts in Tokio Ryuichi Higuchi
Während meiner langjährigen Tätigkeit als Vorsitzender von RILM Japan war es mir stets ein Anliegen,1 auf internationaler Ebene über den Stand der japanischen Musikforschung zu berichten. In diesem Zusammenhang fiel mir eines Tages auf, dass viele ausländische Kollegen nach wie vor unzureichend über die zahlreichen europäischen Musikhandschriften informiert sind, die in japanischen Bibliotheken und Archiven aufbewahrt werden. Deshalb habe ich anlässlich der Jahresversammlung der Musicological Society of Japan 2005 an der Meiji Gakuin University das ergebnisreiche Symposion zum Thema „Musical Sources in Japan“ veranstaltet. Heute bemühen wir uns, d. h. die Musicological Society of Japan, IAML Japan2 und die Music Library Association of Japan, die gemeinsame Kommission Musical Sources in Japan zu gründen.3 Bereits am internationalen Symposion Die Popularität von Wolfgang Amadeus Mozart, das ich – ebenfalls an der Meiji Gakuin University in Tokio – mit Gernot Gruber im November 2006 organisiert hatte, wies ich darauf hin, dass es auch zu Mozart in Japan mehrere Quellen gibt.4 Über eine dieser Quellen, ein Skizzenblatt aus einem kleinen Tokioter Archiv, soll hier eingehender berichtet werden.5 Im Westen Tokios steht einsam neben dem Komaba-Park das SonkeikakuArchiv. Es war einst das Hausarchiv der Fürsten-Familie Maeda (Mayeda),
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RILM = Répertoire International de Littérature Musicale. IAML = International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centres. Als eigene Tätigkeit in diesem Zusammenhang wären die folgenden Beiträge zu nennen: Ryuichi Higuchi, Musikhandschriften der europäischen Musik in japanischen Bibliotheken, in: Festschrift Otto Biba zum 60. Geburtstag. Hg. Ingrid Fuchs. Tutzing 2006, 665–670, sowie Ryuichi Higuchi und Franz Ziegler, „Fürchte Gott! und wandle den Weg der Tugendt”. Das Stammbuch Edmund von Webers als biographische Quelle, in: Weberiana. Mitteilungen der internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft 18 (2008), 5–32. Dazu Shinka suru Motsuaruto [Mozart in der Entwicklung]. Hg. Ryuichi Higuchi. Tokio 2007. Dieser Beitrag stellt eine erweiterte Version meines 2009 an der IAML/IMS Konferenz in Amsterdam gehaltenen Refarats dar. Für den fruchtbaren Meinungsausstausch danke ich Herrn Dr. Wolf-Dieter Seiffert, München, ganz herzlich.
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Ryuichi Higuchi
die in der Edo-Zeit eine der reichsten Familien war. Diese umfangreiche Sammlung umfasst wertvolle alte Bücher, Kunstschätze, Waffen usw. Besonders erwähnenswert ist eine der ältesten Quellen der japanischen Geschichtsschreibung, das Nihon-Shoki aus dem 11. Jahrhundert, sowie die älteste und wahrscheinlich schönste Abschrift des Tosa-Nikki, des Tosa-Tagebuches – zwischen 934–935 geschrieben und im Jahre 1235 von Fujiwara no Teika kopiert, dem berühmtesten Kalligrafen der japanischen Geschichte. Toshinari (1885–1942), der 16. Fürst aus dem Hause Maeda, absolvierte der Familien-Tradition gemäß eine Militärkarriere. Abseits seiner Offizierspflichten war er als leidenschaftlicher Sammler alter Bücher und Kunstschätze bekannt und einer der wichtigsten Mäzene des japanischen No-Theater. Er war es auch, der im Jahre 1926 die Maeda-Ikutoku-KaiStiftung gründete, die heutige Trägerin des Sonkeikaku-Archivs. Im Jahre 1913 reiste Fürst Maeda nach Europa, besuchte zunächst Berlin und Dresden, wurde dann aber mit Ausbruch des 1. Weltkriegs nach England versetzt, wo er erste Erfahrungen mit der Luftwaffe machte, dem damals modernsten Mittel der Kriegsführung. In London schloss er Freundschaft mit Fürst Yoriaki Tokugawa. Dieser hatte in Cambridge Musikwissenschaft studiert und 1917 die berühmte Cummings Collection aufgekauft. 1920 wurde Maeda als Beobachter zur Pariser Friedenskonferenz beordert. 1923, nachdem seine Frau Namiko in Paris einer schweren Krankheit erlegen war, kehrte er nach Japan zurück, wo er 1924 seine zweite Frau Kikuko, die Tochter des Grafen Sakai, heiratete. Bereits 1927 brach Maeda erneut nach Europa auf. Bis 1929 war er als Militärattaché, von 1929–30 als Komiteemitglied der Abrüstungskonferenz in London tätig. Aus dieser Zeit stammt der Grossteil seiner europäischen Sammlung. Sie enthält insgesamt 212 Autographe berühmter Persönlichkeiten von 35 Staatsmännern (wie Tsar Pyotr I., Napoleon, Lincoln), 61 Persönlichkeiten aus dem Militär, 25 Politikern, 30 Dichtern, 17 Wissenschaftlern bzw. Erfindern sowie von 24 Komponisten bzw. Musikern (von Bach über Mozart, Schubert, Chopin usw.). Der musikalische Teil der Sammlung entstand gewiss mit Zutun seiner zweiten Frau Kikuko, die eine große Musikliebhaberin gewesen sein soll. 1930 kehrte das Ehepaar Maeda mitsamt der Autographen-Sammlung nach Tokio zurück.6 Heute befinden sich folgende Musikautographen in der Sammlung: Johann Sebastian Bach (1685–1750), Choral „Aus der Tiefe“ Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791), Skizze für das Klavierkonzert D-Dur KV 537 usw.
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Dazu Maeda Toshinari and Sonkeikaku Library. Ausstellungskatalog Ishikawa Prefectural Museum of Art. Kanazawa 1998.
Ein Skizzenblatt Mozarts in Tokio
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Ludwig van Beethoven (1770–1827), Skizze Franz Schubert (1797–1828), Lied Die verfehlte Stunde D 409 Fryderyk Chopin (1810–1849), Mazurka C-Dur op. 33, Nr. 3 (Abschrift von Julian Fontana) Jules Massenet (1842–1912), Oper Hérodiade, 2. Akt 1. Szene, Duetto Sergej Rachmaninow (1873–1943), Prélude cis-Moll op. 3, Nr. 2
Zudem befinden sich in der Sammlung zahlreiche Komponisten- und Musikerbriefe.7 Fürst Toshinari Maeda leistete im 2. Weltkrieg als Kommandant auf der Insel Borneo in Südostasien Dienst und starb dort 1942. General Maedas Flugzeug kehrte von einem Aufklärungsflug nie zurück. Unter Maedas Autographen ist das Skizzenblatt von Wolfgang Amadeus Mozart eines der interessantesten.8 Es kann wichtige Informationen über die kompositorische Tätigkeit Mozarts nach der ersten Prager Reise 1787 liefern. Nach Sidney Newman wurde diese Handschrift am 12. Oktober 1929 im Leo Liepmannssohn Antiquariat versteigert (Auction 55, no. 28).9 Den Zuschlag erhielten die Maggs Brothers aus London, welche die Skizze dann an Fürst Maeda verkauften.
Inhalt des Skizzenblatts Recto (10 Systeme) 1.–2. S. Skizze des Themas zum 2. Satz des Klavierkonzerts in D KV 537 3.–4. S. Thema in As mit Generalbassbezifferung (Sk 1787b) 5. S. Melodieskizze in g (Sk 1787c); (Urform der Symphonie in g KV 550?, und im Zusammenhang mit dem Klavierkonzert in C KV 467) 6. S. Thema zum 4. Satz des Streichquintetts in g KV 516 7.–8. S. a 2-stimmige Skizze in Es (Sk 1787d) 7.–8. S. b 2-stimmige Skizze in D mit Generalbassbezifferung (Sk 1787e)
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Von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn, Fryderyk Chopin, Robert Schumann, Franz Liszt, Richard Wagner, Charles François Gounod, Jacques Offenbach, Johann Strauss (Sohn), Johannes Brahms, Camile Saint-Saëns, Jean Gilbert, Geor¡ ajkovskij, Arthur Sullivan, Jules Massenet, Edvard Grieg, Giacomo ges Bizet, Pëtr Il’ic¡ C Puccini und Claude Debussy. Eine Faksimilie-Ausgabe findet sich in: Neue Mozart-Ausgabe, X/30/3: Skizzen. Hg. Ulrich Konrad. Kassel usw. 1998. Dazu Sidney Newman, Mozart’s G minor Quintet (K. 516) and its Relationship to the G minor Symphony (K. 550), in: The Music Review 17 (1956), 287–303, und Ders., A Mozart Sketch-Sheet, in: The Music Review 18 (1957), 4–7.
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Außerdem kann man folgende Eintragungen erkennen: am rechten, oberen Rand auf S. 1 auf S. 3 auf S. 6 Verso (10 Systeme) 1.–2. S. 3.–7. S. 6. S.
Beide Seiten von Mozart und seiner Handschrift. Heinr. Henkel. No 76 des ged.[ruckten] Cat.[alogs], in der Hand von André unbekannt (André?) No. 56 d.[es] g.[edruckten] C.[atalogs]
„Idées pour l’opera serieuse“ (Sk 1787); (links) „ho risoluto“, Presto“; (rechts) „Choro“ Anfang eines Satzes in Es für Klarinette und Streicher KV 516d Notierung eines dorischen Cantus firmus (Sk 1787g)
In seiner umfangreichen Untersuchung über Mozarts Skizzen und Entwürfe beschrieb Ulrich Konrad dieses Skizzenblatt als bestes Beispiel für ein Sammelblatt und datierte es auf „1787 (erste Jahreshälfte?)“.10 Tatsächlich ist die Handschrift weniger flüchtig und besitzt eine gewisse Struktur bei der Platzierung der Einzeleintragungen, die sogar gelegentlich Überschriften aufweisen, wie beispielsweise „Idées pour l’opera serieuse“. In den nachfolgenden Erörterungen werden die Skizzen ausführlicher gewürdigt, auch mit Blick sowohl auf ihre Beziehungen zu vollendeten Werken Mozarts als auch Aspekte die Chronologie betreffend.
Skizze des Thema zum 2. Satz des Klavierkonzerts in D KV537 Abgesehen von den verzierungsartigen Änderungen in der Skizze und der anderen Überschrift „Romance“ in der Skizze gegenüber „Larghetto“ gibt es keine wesentliche Unterschiede zwischen der Skizze und der Endfassung des Klavierkonzerts in D, das am 24. Februar 1788 vollendet wurde. Doch lässt sich die Skizze auch als eine verzierte Variante des Themas deuten.
10 Ulrich Konrad, Mozarts Schaffensweise. Studien zu Werkautographen, Skizzen und Entwürfen. Göttingen 1992, 375.
Ein Skizzenblatt Mozarts in Tokio
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Melodieskizze in g (Sk 1787c) Über die Melodieskizze in g wurde schon viel diskutiert. Ernst Fritz Schmid deutete sie als Vorform des G-Dur Themas des 4. Satzes des Streichquintett in g-Moll.11 Newman nannte sie „the original conception“ der g-Moll Symphonie KV 550 (25. Juli 1788).12 Konrad steht dieser Annahme eher skeptisch gegenüber.13 Wenn man Konrad folgend eine Melodie mit ähnlichem Duktus des Klavierkonzerts C-Dur KV467 (9. März 1785) heranzieht, zeigt sich, dass die Melodie in g nicht – wie Konrad vermutet – eine Zwischenphase darstellt, sondern eher eine entwickelte Variante.
Thema zum 4. Satz des Streichquintetts in g KV 516 Konrad vermutet, dass das Fragment des Streichquintetts wegen des reinschriftlichen Charakters erst nach der Komposition entstand. Allerdings gibt es einen frappanten Unterschied zwischen beiden Fassungen.14 Die Verbindungsstelle zwischen dem Vorder- und Nachsatz ist durch die Kombination der aufsteigenden und sinkenden Melodieführungen sowie den dazwischen geschalteten Sextensturz in der Partitur viel charakteristischer gestaltet. Man darf auch nicht übersehen, dass das Fragment im Skizzenblatt wohl von Mozart selbst gestrichen wurde. Bedeutet dies, dass das Fragment nach der Komposition des Streichquintetts sozusagen als eine Variante nicht mehr brauchbar war?
„Idées pour l’opera serieuse“ Die „Idées pour l’opera serieuse“, also zwei Gedanken für eine Opera seria, auf der verso-Seite lassen sich auf die geplante Opern-Aufführung in London beziehen. Mozarts Schüler Thomas Attwood besuchte ihn am 26. Februar 1787 mit Nancy Storace, ihrer Mutter, ihrem Bruder Steven 11 Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg. Serie VIII Kammermusik, Werkgruppe 19, Abteilung 1 Streichquintette, vorgelegt von Ernst Hess und Ernst Fritz Schmid, Kassel usw. 1967, X. 12 Newman, Mozart’s G minor Quintet (wie Anm. 9), 296. 13 Konrad, Mozarts Schaffensweise (wie Anm. 10), 405. 14 Idem, 181.
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sowie dem Sänger Michael Kelly, um sich von ihm zu verabschieden. Attwood sollte für Mozart einen Opern-Vertrag in London organisieren. Leopold Mozart schrieb in diesem Zusammenhang an seine Tochter in St. Gilgen am 2. März 1787: In betref deines Bruders hab erfahren, daß […] er, wie bemerkte, nach Engelland Reisen will, allein daß sein Scolar ihm vorhero in London etwas gewisses ausmachen soll, näm: den Contract eine opera zu schreiben, oder ein Subscriptions Concert etcetc.15
Vielleicht bezieht sich auch der dorische Cantus firmus auf den Unterricht für Attwood.
Anfang eines Satzes in Es für Klarinette und Streicher KV 516d Unterhalb der Gedanken zu einer Opera seria befindet sich der Anfang eines Satzes in Es für Klarinette und Streicher KV 516 d mit den Überschriften „Andante“ und „Rondo“. Die Besetzung lautet: „Clarinetto in B“, „Violini“, „Viola“ und „Bass“. Es handelt sich folglich um eine Skizze für Klarinettenquintett-Besetzung. Man erinnere sich in diesem Kontext an Mozarts Prager Reise vom 8. Januar bis 12. Februar 1787, auf die er nicht nur den Klarinettisten Anton Stadler, sondern auch die Geiger Franz de Paula Hofer, Maria Anna Antonia (Marianne) Crux und Kasper Ramlo mitnahm? Vermutlich handelt es sich hierbei um Mozarts Lieblingsbesetzung für die Kammermusik im Frühjahr 1787. Er hatte die erwähnte Skizze aber leider nicht weiter verwendet. Das Klarinettenquintett in A KV 581 wurde später komponiert und am 29. September 1789 vollendet. Man kann aber vermuten, dass Mozart schon im Frühjahr 1787 – vielleicht auf seiner ersten Prager Reise mit Stadler – die Idee für dieses Klarinettenquintett entwickelte.
15 Zitiert nach Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Hg. Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch. Band IV: 1787–1857. Kassel usw. 1962, 28.
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Einige Überlegungen zur Chronologie der Eintragungen auf dem Skizzenblatt Wie Newman vermutet hat, könnte die verso-Seite früher als die rectoSeite benützt worden sein, und zwar im Frühjahr 1787.16 Allerdings zeigt der dorische Cantus firmus einen ganz isolierten Charakter. Er ist blass geschrieben und befindet sich ganz am rechten Rand. Mozart könnte dieses Notat als Gedächtnisstütze niedergeschrieben haben. Die „Idées pour l’opera serieuse“ könnten im Februar 1787, möglicherweise zwischen der Rückkehr aus Prag am 12. und dem Abschiedsbesuch Attwoods am 26. Februar entstanden sein. Ende März erkrankte Leopold Mozart in Salzburg schwer. Im Brief vom 4. April an den Vater äußert sich Wolfgang über den Tod: […] da der Tod: genau zu nemmen: der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes!17
Leopold Mozart starb am 28. Mai. Während Mozarts Vater auf dem Sterbebett lag, vollendete Wolfgang nur zwei Werke: das Streichquintett CDur KV 515 am 19. April und das Streichquintett g-Moll KV 516 am 16. Mai. Mozart konnte sich in dieser Zeit offenbar nicht so gut konzentrieren, um – wie sonst – mehrere Werke hintereinander zu komponieren. Wenn wir annehmen, dass die drei oben erwähnten Eintragungen auf der recto-Seite, und zwar von oben nach unten betrachtet, in dieser Zeit als Vorrat entstanden sind, dann sind ihre chronologische Beziehungen mit den Endfassungen nicht plausibel. Denn Mozart komponierte das Streichquintett in g am 16. Mai 1787. Er vollendete anschließend das Klavierkonzert nach knapp einem Jahr (24. Februar 1788), welches er im Herbst 1790 nach Frankfurt am Main mitnahm. Die g-Moll-Symphonie schließlich wurde am 25. Juli 1788 als Kern der späten Symphonie-Trilogie vollendet. Falls die traurige und wehmutige Melodie in g, die viel ausdrucksvoller als die der Symphonie gestaltet ist und deswegen vielleicht als deren entwickelte Variante zu betrachten wäre, dann könnte man das Skizzenblatt frühestmöglich auf den 25. Juli 1788 datieren. Die Vergleiche der Skizze des Themas zum 2. Satz des Klavierkonzerts in D KV 537 und des Themas
16 Newman, A Mozart Sketch-Sheet (wie Anm. 9), 4. 17 Zitiert nach Bauer, Mozart. Briefe und Aufzeichnungen: 1787–1857 (wie Anm. 15), 41.
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zum 4. Satz des Streichquintetts in g KV 516 mit den jeweiligen Endfassungen dokumentieren ebenfalls, dass beide Skizzen später als die drei endgültigen Fassungen entstanden sind. Wenn das Skizzenblatt also ein Vorrat für den Komponist Mozart gewesen sein sollte, dann müsste die zeitliche Reihenfolge umgekehrt sein. Möglicherweise handelt es sich bei der Skizze also nicht um einen Vorrat an musikalischen Ideen, sondern vielmehr um Aufzeichnungen (eine Art Dokumentation) vollbrachter Leistungen. Abschließend stellt sich noch die Frage, was die übrigen unbekannten Eintragungen bedeuten: Thema in As mit Generalbassbezifferung, 2stimmige Skizze in Es sowie 2-stimmige Skizze in D mit Generalbassbezifferung. Wozu brauchte Mozart solche Bezifferungen? Für seine eigene Komposition gewiss nicht. Denkbar wäre – wie bereits erwähnt – für den Kompositionsunterricht. In diesem Sinne liesse sich die 2-stimmige Skizze in Es, für welche Wolfgang Plath übrigens eine Nähe mit T. 84f. des zweiten Satzes aus dem Violinkonzert in A KV 219 festgestellt hat,18 als ein Unterrichtsbeispiel für die Engführung deuten. In ähnlicher Weise könnte man die „Idées pour l’opera serieuse“ und den Anfang eines Satzes in Es für Klarinette und Streicher KV 516d als Kompositionsbeispiele beider Gattungen anführen. Der Reinschriftcharakter der Seiten des Skizzenblatts unterstützt diese Annahme. Die hier ausgeführten Beobachtungen zur Chronologie gingen davon aus, dass das Skizzenblatt nach Konrad um „1787 (erste Jahreshälfte?)“ zu datieren sei.19 Meine Erwägungen konnte indes zeigen, dass die Quelle wahrscheinlich später als Sommer 1788 entstand. Nicht nur die recto-Seite, sondern auch die verso-Seite bringt Beispiele für Mozarts Kompositionsunterricht. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Eintragungen nicht nach den Vorlagen, sondern direkt nach dem Gedächtnis notiert wurden.
18 Dazu Konrad, Mozarts Schaffensweise (wie Anm. 10), 273. 19 Idem, 375.
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Who did William Tell? Early musical settings in Switzerland and beyond Chris Walton
Back in the late 1980s when the present writer first moved to Switzerland, listeners to the main classical radio channel were treated on afternoons to a programme entitled “Swiss music”. Anyone tuning in who expected a couple of hours of Volkmar Andreae, Hermann von Glenck or Meyer von Schauensee was to be disappointed however, since the fare on offer tended to comprise works on Swiss topics such as Rossini’s overture to Guillaume Tell, chamber works that Brahms wrote when on holiday by the banks of Lake Thun or other, largely undemanding works with a connection to something Swiss, be it ever so tenuous. Switzerland’s own composers have produced more than enough good music to fill an afternoon radio slot every day for several years, though admittedly not much of it was on record back in the 1980s. Nor can we deny that many significant works of art created in Switzerland – musical or otherwise – have been by those from elsewhere, and that these have long dominated the attention of the interested public (Brahms’s chamber music as mentioned above, Wagner’s Tristan, Stravinsky’s Rite of Spring, then Joyce’s Ulysses, Thomas Mann’s Joseph in Egypt, Turner’s various technicolor Rigis, and so forth). Switzerland is probably the only country to have a “national opera” that is decidedly non-native: Rossini’s Tell, written in French by an Italian composer, based loosely on the work of Friedrich Schiller, a German playwright who never set foot on Swiss soil. At least we know that Rossini did pop into the country now and then – if only because it is difficult to avoid Switzerland when travelling from Italy to Paris and back. To the present day, Schiller’s play is even more popular than the opera based upon it. Every summer, “Tell Festivals” across Central Switzerland put on largescale productions, often in the open-air, with live horses and all. Schiller and Rossini were not the first men to put Tell on stage. Switzerland itself was the point of origin of the first dramatized version of the story, namely the anonymous Ein hüpsch Spyl … von dem frommen und ersten Eydgenossen Wilhelm Thell genannt, first performed in Altdorf in Canton Uri in 1512.1 The earliest known opera on the topic was by André-Ernest-Modest 1
Anon., Ein hüpsch Spyl, gehalten zu Ury in der Eydgnoschafft von dem frommen und ersten Eydgenossen Wilhelm Thell genannt. Ed. Karl Iten. Dietikon-Zürich 1978.
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Chris Walton
Grétry (1741–1813), who although Belgian was at least briefly resident in Geneva in his twenties and so has a claim to a Helvetic connection. His Guillaume Tell, to a libretto by Michel-Jean Sedaine, was first performed in Paris in April 1791 when Grétry was busy negotiating with aplomb the transition from monarchy to republic. The tale was well suited to the ideals of the Revolution, with its peasant hero defeating the forces of aristocratic Austrian oppression (let us not forget that France’s unpopular queen, Marie Antoinette, was Austrian too). The next operatic treatment of the legend came in another new republic, five years after Grétry, when one Benjamin Carr (1760–1831), a former pupil of Charles Wesley and an English emigrant to the USA, put on two comic operas based on it.2 The Archers, or Mountaineers of Switzerland was an original ballad opera to a libretto by William Dunlap (1766–1839) and first performed in New York on 18 April 1796. William Dunlap’s libretto was published and has survived,3 though it seems not much of the music has. We have the air “Why huntress, why?”, which appeared in one of the various musical miscellanies that the Carr family published at the turn of the 18th and 19th centuries and was later reprinted in Oscar Sonneck’s Early Opera in America4. Then there is a piano arrangement of a “Rondo from the overture to the opera of the Archers, or Mountaineers of Switzerland”, published by the Carrs in Baltimore in 1813, of which a copy survives in the library of the University of Pennsylvania.5 The history of Carr’s “second” Tell opera, The Patriot, or Liberty Obtained is much murkier. The text was by one of Carr’s former colleagues, William Bates, and premièred in Baltimore on 3 September 1796, with music by Carr. But there had been another Patriot opera, performed in New York 2
3 4 5
For information on Carr, see e. g. Virginia Larkin Redway, The Carrs, American Music Publishers, in: The Musical Quarterly 18/1 (Jan. 1932), 150–177, and Stephen Siek, Benjamin Carr’s Theatrical Career, in: American Music 11/2 (Summer 1993), 158–184. The libretto has been reprinted along with three others in Musical works of William Dunlap. Ed. Julian Mates. Delmar (NY) 1980. Oscar Sonneck, Early Opera in America. New York etc. 1915, 98. Baltimore: printed for J. Carr, [1813?]. Shelf mark in the University of Philadelphia Library: Folio M1.A13 K4 Box 2, no. 20. The piece is only three pages long. It was reprinted over a century later in A Program of early American piano music. Ed. John Tasker Howard. New York 1931. There also exists a duet, entitled “Happy Tawny Moor … from the Mountaineers”, which was published on p. 66 of the Gentleman’s amusement No. 7: for the flute or violin, selected and arranged by R. Shaw and B. Carr. S.l. [1796]. Shelf mark in the University of Philadelphia Library: Folio M1.A13 K4 Box 3, no. 5. But with its characters of Agnes and Zadi, the description of the former as a “Spanish lady” and its repeated mention of guitars as opposed to alphorns, it seems that this had little or nothing to do with The Archers, despite the title of this latter work continuing as “or the Mountaineers of Switzerland”. Perhaps there was another, different “Mountaineers” on the theatrical scene too?
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just two years before on 6 June 1794, apparently also based on the Tell legend. The composer was one James Hewitt (1770–1827), also from England and who (to confuse matters further) had earlier lived near Carr in London. We do not know just who wrote how much text or music of which Patriot, though Stephen Siek is probably correct in guessing that the text might have been the same for each, and that Carr’s contribution to the Patriot of 1796 was most likely a rehash of his music for The Archers.6 Hewitt’s opera is lost entirely, and but for one number published in one of Carr’s miscellanies, nothing of the latter’s patchwork Patriot seems to have survived either.7 As in France, the American popularity of the legend of William Tell had political origins, for any story of foreign oppressors overcome by the righteous lower classes was bound to strike a chord just over a decade after the winning of the War of Independence. Switzerland might have been long independent, but it did not really exist at all until the founding of the modern federacy in 1848. Before then, it comprised a loose confederation of separate statelets with different constitutions, different tax laws, different education systems, different postal services and different currencies. Even Napoleon’s attempts after the French invasion of 1798 to create a single, centralized Swiss state with a single parliament proved unworkable, as he himself later acknowledged. Nevertheless, the mid-18th century saw the development of a powerful, overarching, undeniably “Swiss” identity that was founded not least on a common history of wresting republican freedom from outside monarchical powers. This was symbolized potently by William Tell. He became the most popular carrier of a possible national identity during the Swiss Enlightenment and there was a veritable boom in retellings of his story. Some were in prose, some in poetry and others in dramatic form. He is mentioned in Albrecht von Haller’s seminal poem Die Alpen of 1729, which later attracted the attention of Johann Wolfgang von Goethe. More significant, however, was the publication in Basle in 1734–1736 of Aegidius Tschudi’s Chronicon Helveticum by Johann Rudolf Iselin, for it was Tschudi’s version of the Tell 6 7
See Siek, Benjamin Carr’s Theatrical Career (as note 2), 183, note 84. The present writer has found what seems to be one song from it, published in 1796 on p. 87 of the Gentleman’s amusement mentioned in note 5 above. It is entitled “Whilst happy in my native land, sung by Mr Darley in The Patriot”. Given Carr’s involvement in its publication, we are assuming that it does not belong to Hewitt’s slightly older Patriot. But it also seems to be of still older provenance (thus not by Carr either, but presumably pilfered by him as part of his patchwork score) and it is found in other databases, not always under the title assigned to it in Carr’s publication. See, e. g., Richard C. Simmons’ website at the University of Birmingham, Eighteenth Century (1701– 1790): Cheap Print: A Finding Aid and scroll down to “The Freedom of Englishmen”. http://www.18ccheap-print.bham.ac.uk/, accessed Feb. 2011.
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legend that became Schiller’s principal source. Of the Swiss versions of the Tell legend written in the mid-18th century, the most notable was perhaps Grisler ou l’Helvétie delivrée (“Grisler, or the deliverance of Switzerland”) by the Bernese author, sometime librarian, army officer and would-be political reformer Samuel Henzi (1701–1749), who was executed by his native city on charges of subversion after what was essentially a show-trial. Although German was his mother tongue, Henzi wrote primarily in French. His Tell drama, named after its anti-hero (here Frenchified from the usual German “Gessler”), was published posthumously in 1762 as Grisler ou l’ambition punie (“Grisler, or ambition punished”) and is notable because Henzi makes Tell’s son into a daughter, “Edwige”, and gives her a lover in the form of Grisler’s son Adolphe. While both Schiller and Rossini’s librettists later kept to the original male gender of Tell’s offspring, they too introduced in each case a pair of star-crossed lovers across the Swiss/Austrian divide (in Schiller they are Rudenz and Bertha, in Rossini Arnoldo Melchthal and the Habsburg princess Matilde). Henzi was well connected in literary circles. He corresponded with Johann Jakob Bodmer, the then leading figure in the Zurich Enlightenment, and his fate was reported upon at length in the foreign press and commemorated by none other than Gotthold Ephraim Lessing in his dramatic fragment Samuel Henzi, published in 1753.8 Nearly thirty years after Henzi’s death, the Swiss Tell tradition was continued – this time in German – by Joseph Ignaz Zimmermann of Lucerne (1737–1797), who published Wilhelm Tell. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen (“Wilhelm Tell. A Tragedy in Five Acts”) in Basle in 1777.9 Zimmermann was born in 1737 in Schenkon, joined the Jesuits in 1755, and at the time of the order’s dissolution in 1773 he was working as a teacher at the Jesuit grammar school in Lucerne. He retained his post at the school, as did many of his brethren, and he became widely known as a playwright of patriotic plays that were still being performed for many years after his death in 1797.10 Unlike Zwinglian Zurich to the north, where all theatre had long been banned as Popish sinfulness, Catholic Lucerne had developed a rich theatrical tradition, albeit largely centred in the local schools and run by the church. Lucerne’s musical traditions were just as strong, with the Catholic Church again playing a dominant, but beneficent role.
8 See Manfred Gsteiger, Nachwort zu Samuel Henzi: Grisler ou l’ambition punie, in: Telldramen des 18. Jahrhunderts. Ed. Peter Utz. Berne, Stuttgart 1985, 87–100. 9 Joseph Ignaz Zimmermann, Wilhelm Tell. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Basle 1777. 10 His Wilhelm Tell is even mentioned in Le droit d’être un homme. Anthologie mondiale de la liberté. Ed. Jeanne Hersch. Paris 1990 (2nd ed.).
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Local composers such as Franz Xaver Dominik Stalder (1725–1765) and the German-born immigrant Constantin Reindl (1738–1799) were writing orchestral works in Lucerne that were comparable in quality to those being produced elsewhere in western Europe at a time when most composers in Zurich, hampered by years of antagonism to their art, were still writing four-part, foursquare hymns. It was in Lucerne that the first-ever German Swiss opera was composed: Hans Hüttenstock (1769) by Franz Leonti Meyer von Schauensee, also a Catholic priest. Zimmermann also dabbled in libretto-writing on occasion, as with his singspiel Die kleine Aehrenleserinn (“The little Gleaner”), performed in Lucerne in 1778, with its libretto published in the same place and year (sadly, we do not know who wrote the music). Thus it should not surprise us that it seems to have been in Lucerne that the Tell legend was first put on stage with music, in a Very new opera pantomime in three acts, called: Willhelm [sic!] Tell, presented by the young actors under the direction of Mr Felix Berner; the music to the ballet has been composed by a music lover and worthy patron of the theatre in Lucerne.11
However, since the text is only eight pages long and the musical part (long lost) was perhaps confined to the ballet, we still seem to be a good way from finding a proper musico-dramatic treatment of the topic. Tell did not just take to the stage, but was celebrated in verse too. It was the poetic version of the tale by Johann Caspar Lavater (1741–1801), published among his Schweizerlieder (“Swiss songs”) in 1767, that perhaps achieved the greatest currency at the time. It tells in some twenty strophes the story of Tell’s refusal to bow to Gessler’s hat, the shooting of the apple, Tell’s leap from the boat in which he was held prisoner, and the death of Gessler. The collection of patriotic texts in which it appeared soon became immensely popular across the land, prompting in turn what seems to have been the first musical setting of Tell’s story. The composer was Johannes Schmidlin (1722–1772) from Wetzikon in Canton Zurich. He had already set words by Lavater to music, and in 1769 published his Schweizerlieder mit Melodien (“Swiss songs with melodies”), which included a setting of Lavater’s “Wilhelm Tell”. It is only four bars long (in 12/8) and, as is typical for the songs in this collection, it is strophic (see Example 1). This would
11 “Eine ganz neue Opera Pantomime in drey Aufzuegen, genannt: Willhelm Tell /vorgestellt von den jungen Schauspielern unter der Direction des Herrn Felix Berner; die Musik zum Ballet ist von einem Musikfreund, und wuerdigen Goenner des Theaters in Lucern componirt worden […].” Shelf mark of the Zentralbibliothek Luzern: Tresor BB. 1962.8 (K3).
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presuppose immense patience on the part of any audience, though in fact the songs were probably for private consumption. In 1775, the Zurich publisher David Bürkli brought out a new edition with extra voices added by Schmidlin’s former pupil Johann Heinrich Egli (1742–1810) so that they could be performed as vocal trios or quartets with keyboard accompaniment. This edition enjoyed several new printings over the ensuing years, and these Schweizerlieder proved so popular that in 1787, Bürkli even published a second set, this time composed by Egli, with a bust of Tell on the title page along with Lavater’s name prominently displayed. In smaller type, however, are the words “by various authors” – for the texts were not by Lavater at all. The publisher’s ruse worked, for this collection went into its fourth edition before the end of the century. This second collection also included a “Wilhelm Tell” song, to a text by one “L. Meister”, which covers the same ground as Lavater’s earlier poem. Ex. 1: The Lavater/Schmidlin “Wilhelm Tell” in Egli’s arrangement. 4th ed. Zurich: Bürkli, 1796.
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This “Wilhelm Tell” was not Egli’s first musical treatment of the legend. He was an active member of the Musikgesellschaft ob dem Musiksaal (“Music Society at the Music Room”), one of Zurich’s two music societies (the other being the “Music Society at the German School”). According to a long, annual tradition, each of these societies published a piece of vocal music for distribution at New Year, usually religious but occasionally nationalist in import. For several years, Egli composed these pieces for both societies, and in 1779 his “Neujahrsgeschenk” (“New Year’s Gift”) for the Music Room Society was a mini-cantata about William Tell (see Example 2). Ex. 2: Title page of Johann Heinrich Egli’s Tell cantata, 1779.
There is a recitative telling of the apple-shooting; there follows a duet commenting on the respective feelings of Tell senior and junior; then a second recitative offers the rest of the story – Tell’s capture, his escape from a boat in the middle of a storm and his assassination of Gessler. A final chorus (presumably to be sung just by the three soloists) celebrates freedom “rising from out of the blood of tyrants” (“Und aus dem Blut der Tyrannen erhebt / Die Freyheit sich stralend und preisend und lebt!”):
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Wilhelm Tell Rezitatif Weg von des Knaben Schädel, schrie, Den Apfel, der Tyrann; Tell hört’s und bebt und bog sein Knie – Nicht vor dem Blut-Tyrann; Bog’s nur vor Gott und schweig’ und spannt’ Den Bogen mit brennender Hand! Zielt – fest und kühn, zielt und drückt ab, Und dem rollenden Apfel nach eilte der Knab! Duett 1) Vater Tell! Wie war dir! Da Dein Aug den Knaben frey, den Apfel rollen sah? 2) Knabe Tell! Wie war dir! Da Dein Blick den Vater froh, den Pfeil im Apfel sah? Beyde Wie wallet die Freude vom Herzen ins Herz! Wie ward im Triumfe verwandelt der Schmerz! Rezitatif Noch sod des Landvogts Tieger-Grimm! Er rief mit donnernder Stimm: Gebunden sey Tell! – Gebunden ist Tell – Da stürmt der Sturm! Und Tell ergriff Das Ruder im windumgeschleuderten Schiff, Entrann an’s Gestad, und mit flammendem Blick Stiess Er mit dem Schiffe Vogt Gessler zurück! Harrt sein im Gebüsch – und zielet – und nieder Sinkt vor ihm der Wütrich; Ihm zucken die Glieder! So stürzet Gott Tyrannen-Wuth, Stürzt und tränkt sie mit ihrem Blut! Chor Und aus dem Blut der Tyrannen erhebt Die Freyheit sich stralend und preisend und lebt! Und Himmel und Erde sind frölich, und seh’n In ihrem Triumfe die Glückliche geh’n!
What the text lacks in poetic diction it gains in concision, and Egli’s musical setting is charming. Only “Cembalo” is mentioned for the accompaniment, though it would be perfectly conceivable for a melody instrument or instruments (such as a violin) to play along, plus a cello or other bass instrument. The harpsichord part is written out most of the time, though the bass is also figured for much of the piece. The storm is depicted effectively, with shifting tempi and even swifter alternations of piano and forte such as are impossible on a harpsichord (perhaps this is proof that other instruments were intended to participate). The harpsichord part itself is
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not always straightforward, particularly in the “storm” with its rapid demisemiquaver figurations (see Example 3). Egli’s music has recently received deserved attention thanks to two CD recordings.12 While any serious comparisons with leading contemporary composers active across the border in Austria or Germany would be to his detriment, he was nevertheless a more than competent composer whose music deserves an occasional airing. His Tell cantata – apparently the first-ever “musico-dramatic” treatment of the topic – would certainly be worth performing. Ex. 3: The “storm scene” in Egli’s Tell cantata.
Egli’s contribution to the reception history of the Tell legend could have been greater still. In the archives of Johann Conrad Ott (1739–1819), held by the Manuscript Department of the Zentralbibliothek Zürich, there lies a hitherto forgotten William Tell libretto that Ott wrote a full four years before 12 See the CDs Zurich, Arise! (GMCD 7175) and Sacred Vocal Music from 18th Century Switzerland (GMCD 7248), both published by Guild Music.
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Grétry.13 It is entitled Guglielmo Tello ovéro L’Elvezia Liberata (“William Tell or Switzerland Liberated”). Ott was the son of a prominent Zurich family and by profession a captain in a local artillery regiment.14 For thirty years he was also involved in politics as a member of the Great Council of Zurich, as was his father before him. Although German was his mother tongue, Ott’s libretto is in Italian throughout; the mention he makes next to his own name of an affiliation to an “Academy” in Turin remains, however, obscure. The title page states that the libretto is dedicated to General Zurlauben, “Per il Carnavale A[nn]o. 1788” (“For Carnival 1788”; see Example 4). Ex. 4: Title page of Johann Conrad Ott’s Tell libretto.
13 Ott’s libretto gets a brief mention – with its date and its author’s initials wrong – in Franz Heinemann’s Tell-Bibliographie (Berne 1907, 79), but seems not to have been noticed otherwise, before or since. 14 In certain of his papers, Ott refers to himself as a ‘Major’, though in the autobiographical notes he made shortly before his death, he describes himself as a ‘Haubtmann’ (sic!), i. e. a captain.
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Beat Fidel Zurlauben (1720–1799) had long been in the service of the French king, had been promoted to Maréchal de Camp, but had become known primarily as a scholar and was the author of numerous books including an eight-volume history of the Swiss military in France. By the time he retired to Zug in the 1780s – just a few kilometres from Zurich – he possessed one of the biggest private libraries in the country. Perhaps his status as soldier-scholar was one that Ott himself aspired to. Ott’s title page also gives us the name of the composer intended to provide the music for his opera: “La musica sarà Composta del’celebre Signo: Egli di Zurigo” (“The music will be composed by the famous Mr Egli of Zurich”) – none other than Johann Heinrich, though he was hardly “celebre” (“famous”) anywhere outside his native Canton. A perusal of the libretto leads one swiftly to the most likely reason why it was never set to music: it is not very good. It was obviously written by a man unaccustomed to writing any kind of drama, let alone for the operatic stage. The plot, cast in a single act, offers the bare bones: Gessler’s hat, Tell’s son, the apple, the death of Gessler and the freedom of the Swiss. The language itself is hackneyed operatic stuff, with much lamenting of “Elvezia desolata” (“Desolate Switzerland”), just as much imploring of “Giusti Dei!” (“O just gods!”), condemnation of “il Tiranno” (“the tyrant”) and joyous expectation of “la Libertà” (“freedom”). There is no division into separate scenes. The libretto begins and ends with a chorus (see Example 5), and there are seven singing characters in total (their names are given in their Italianized form): Guglielmo Tello, Wernero di Stauffacher, Arnoldo an der Halden, Edewiga (Tell’s wife), Gualtero Tello (Tell’s son), Gesslero and Meinhardo (Gessler’s right-hand man). Ott has in each case already assigned singers to the roles (see Example 6). Since only their surnames are given in full, we cannot be sure of who they all are, with the obvious exception of Tell (“J. C. Ott”) and Meinhardo (“Egli: Componist”). If giving his chosen composer a role was intended to lure him into collaboration, it did not work (perhaps Ott should have given Egli’s character more than just a few lines). There are in total sixteen pages of text with an average of thirty lines a page. There seem to be some eleven arias (most of them, but not all, are marked “Aria”, and it is sometimes difficult to be sure what musical form the text was to take). Five are for Tell himself (i. e. for Ott), then there are two arias for Arnoldo and one each for Wernero, Gesslero, Gualtero and Edewiga. Many have eight lines and are marked “da capo”, though there are also arias with six or even five lines of text. Tell also dominates the ensembles, for these comprise a duet for Tell and his wife, plus a trio for Tell, Wernero and Arnoldo.
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Ex. 5: The first page of Ott’s libretto.
We cannot know why Ott chose Egli for his composer. There was another active in Zurich at the time who already had experience of writing music for the stage – Philipp Christoph Kayser (1755–1823), a friend of Goethe’s who had set his Scherz, List und Rache (Joke, Cunning, and Revenge) to music in 1785.15 But Kayser was a notoriously difficult character and was in the late 1780s on the verge of abandoning composition altogether. Ott and Egli will have been acquainted with each other (Zurich was a small city, so anyone involved in literature or music will have known just about everyone else), and given the relatively small amount of music published in the city, we can assume that Ott also knew Egli’s existing cantata on the Tell legend 15 The opera has been published in piano score, ed. Hermann Dechant. Vienna [2000].
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Ex. 6: Reverse of the title page of Ott’s libretto, with the cut-out frontispiece from the “Neujahrsgeschenk” 1780 of the “Music Society at the Music Room”.
(Ott cut out the “Rütli oath” frontispiece of Egli’s 1780 “Neujahrsgeschenk” and pasted it into his manuscript libretto, so he will surely have seen Egli’s cantata from the year before). Apart from Kayser, this made Egli the closest thing in Zurich to a dramatic composer, so Ott’s choice was the best possible under the circumstances. Ott’s title page further states that his libretto is “tradotto della Prosa del Illsto. Professor di Zimmermann S. Jesu di Lucerna” (“translated from the prose of the illustrious professor Zimmermann of the Society of Jesus of Lucerne”), a reference to the play by Zimmermann already mentioned above.16 Yet there is little correlation between the play and the libretto, 16 Zimmermann, Wilhelm Tell (as note 5).
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except for the introduction of the character of Meinhart (as he is called by Zimmermann). A letter from Zimmerman of 4 January 1788 survives in Ott’s papers, thanking him for a copy of the libretto that he had been sent, though admitting that he is unable to understand Italian. Since Zimmermann, a sometime “professor in rhetoric” had excellent Latin and French, he will surely have had enough of an Italian smattering to judge Ott’s libretto as the shoddy work it was. So perhaps he just needed a convenient excuse to avoid hurting Ott’s feelings. Despite its evident weaknesses, Ott’s libretto is historically of some interest. It appears to be the earliest ever libretto on the tale of Tell; and it is even more remarkable that a leading politician and military man from one of Zurich’s most prominent families should want to write an opera at a time when his peers still forbade the performance of any opera in the city. It suggests that Zurich’s Zwinglian anti-operatic intransigence was coming under some internal strain and was no longer the fixed edifice that one might suppose it to have been (indeed, a concert performance of the opera Partenope by the later Zurich resident Ernst Häussler would be given just a decade later in the city, apparently without any major outcry).17 There is one more matter pertaining to our uncomposed libretto that is admittedly tenuous, but fascinating nonetheless. When they were boys, Ott and his brother received private tuition from none other than Christoph Martin Wieland, who was staying in Zurich at the time. Wieland made a great, lasting impression on the boys, and the title page of Ott’s libretto even features a quotation from him. Since Wieland in later life enjoyed a close association with Schiller in Weimar, he thus offers us a direct connection between Tell’s first librettist and his tale’s most famous telling. Schiller and Ott might have been worlds apart in the degree of their literary gifts, but at least a certain sense of honour in matters of primacy can be restored to Swiss music history. The finest tales of Tell might be by foreigners, but at least the first (semi-)dramatic treatment in music – Egli’s cantata – and the first libretto on the topic – by Ott – can be confirmed as having been undeniably Swiss. A pity, perhaps, that they are different works by different people. But one can’t have everything.
17 See Chris Walton, Richard Wagner’s Zurich: The Muse of Place. Rochester (NY) 2007, 13.
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Ein verlorenes Repertoire Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815 Gabriella Hanke Knaus
Die Musikaliensammlung des Benediktinerklosters Mariastein, das seit 1648 sowohl Sitz der Benediktinermönche von Beinwil wie auch ein bis heute viel besuchter Marienwallfahrtsort ist, hat durch die wechselvolle Geschichte des Klosters vielfache Veränderungen erfahren.1 Im Zuge der seit 2010 in Angriff genommenen Reorganisation der Bibliothek wird in ersten Ansätzen deutlich, dass um 1815 in Mariastein ein einzigartiges instrumentales Repertoire gepflegt wurde.2 Darauf deutet der Catalogus Musici Chori Petra Mariana hin, der 1816 vom Mariasteiner Konventualen Bruder Trupert Fehr (1784–1820) niedergeschrieben und vom späteren Bibliothekar Pater Ignaz Stork (1799–1855) ergänzt wurde.3 Die Niederschrift des Catalogus Musici Petra Mariana fällt in die Amtszeit von Abt Placidus 1
2
3
„Um 1100 gründeten lokale Adelige in Beinwil am Passwang ein Benediktinerkloster mit Mönchen aus dem Reformkloster Hirsau. Nach einer kurzen Blütezeit verarmte das Kloster und starb 1554 aus. 1589 erneuerte auf Bitten der Stadt Solothurn Einsiedeln, später Rheinau das benediktinische Leben daselbst. 1636 übernahmen die Beinwiler Mönche die Betreuung des seit dem Ende des 14. Jahrhunderts bestehenden Marienwallfahrtsortes Mariastein, wohin sie 1648 das Kloster verlegten. 1798 wurde das Kloster aufgehoben und geplündert: 1804 wieder hergestellt.1 874/75 aufgehoben, mussten Abt und Konvent ins Exil: Sie waren 1875–1901 in Delle F, 1902–1906 auf dem Dürrnberg bei Hallein A, 1901–1946 im St. Gallusstift in Bregenz. Von 1906–1981 betreuten Mariasteiner Mönche das Kollegium Karl Borromäus in Altdorf. Der 1941 von den Nazis aus Bregenz vertriebene Konvent durfte sich in Mariastein niederlassen, wo trotz Aufhebung stets einige Benediktiner die Wallfahrt betreut hatten. 1970/71 wurde das Kloster staatsrechtlich wiederhergestellt.“ [P. Lukas Schenker], in: Benediktinische Gemeinschaften in der Schweiz – 400 Jahre Schweizerische Benediktinerkongregation 1602–2002. Hg. Schweizerische Benediktinerkongretation. Gossau 2002, 64. Die Musikbibliothek des Klosters Mariastein ist zum grössten Teil ungeordnet und nicht erschlossen. Die 2010 begonnene Reorganisation umfasst daher die Erschliessung, Massnahmen zur Bestandserhaltung und die Vermittlung für die zukünftige Nutzung. Der vorliegende Text beruht auf ersten Erkenntnissen zur Musikgeschichte Mariasteins, die aus der laufenden Reorganisation des Bestandes gewonnen wurden; eine umfassende Würdigung des Bestandes von Mariastein wird erst nach Abschluss der Reorganisation der Musikbibliothek möglich sein. Auf die Mitarbeit von Pater Ignaz Stork verweist der vollständige Titel des Catalogus; der spätere Klosterbibliothekar von Mariastein wird als Autor des Supplementums mit dem Kürzel „Spl“ gekennzeichnet.
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Ackermann (1804–1841), der nach der Wiederherstellung des Klosters 1804 für den Ausbau der Musikaliensammlung entscheidende Impulse gab: „Eine Musikbibliothek versah er mit den besten zeitgenössischen Werken.“4 Verfasser des Catalogus Musici Chori Petra Mariana ist der 1784 in Rottenburg geborene Bruder Trupert Fehr, der ursprünglich als Laie im Kloster St. Trupert im Südschwarzwald tätig war und erst am 3. Juli 1816 in Mariastein feierliche Profess ablegte. Als sehr guter, taktfester Violinist spielte er die zweite Geige. Er gab darum auch den Studenten Musikunterricht (1814–1820), wofür er viel Geschick besaß; doch war er, wie Musikanten gerne sind, sehr empfindlich.5
Abb. 1: Catalogus Musici Petra Mariana, (f.1v), © Kloster Mariastein.
Der Catalogus Musici Chori Petra Mariana wurde mit brauner Tinte (Eisengallustinte) auf Papier ohne erkennbares Wasserzeichnen niedergeschrieben. Er umfasst 58 Blätter, die nur auf der recto-Seite bezeichnet sind und hat mit den Massen 19,8 × 25 cm (H × B) ein Format, das auf den Zweck der Niederschrift des Katalogs hinweist – er soll eine einfach handhabbare Übersicht zum musikalischen Repertoire sein. Der Catalogus Musici Chori Petra Mariana trägt einen Doppeltitel: f.1r enthält die Kurzform und den Namen des Autors Catalogus Musici / Chori Petra Mariana / Trupert Fehr; auf 4
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Professbücher der Benediktinerabteien St. Martin in Disentis, St. Vinzenz in Beinwil und U.L. Frau von Mariastein, St. Leodegar und St. Mauritius im Hof zu Luzern, Allerheiligen in Schaffhausen, St. Georg zu Stein am Rhein, Sta. Maria zu Wagenhausen, Hl. Kreuz und St. Johannes Ev. zu Trub, St. Johann im Thurtal. Bearb. Rudolf Henggeler. Zug [1955], 168. Idem, 237–238.
Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815
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f. 1v folgt der vollständige Titel Catalogus Musici / Chori Beinwilensis / ad / Petram B: M: Virginis / ano Millesimo octingendesimo / decimo sesto / par Fr. Trup Fehr Profess. / Spl: Joh. Nep: Storck / O. A.M. D. Gl, mit welchem der Autor des Katalogs Bruder Trupert Fehr die historisch korrekte Benennung des Klosters als Abtei von Beinwil (zum heiligen Diakon und Blutzeugen Vinzenz)6 in Mariastein niederschreibt. Nach der Aufzählung der Werke des Stiftsorganisten Ambros Stierlin7 und der Auflistung von 25 Sÿmphoniae verschiedener Komponisten,8 enthalten die folgenden 43 Blätter ausschliesslich Eintragungen zu Manuskripten und Sammeldrucken von Messen und Offiziumsgesängen. Auf dem letzten Blatt (fol. 58r–f. 58v) finden sich die Titelangaben von 14 Kammermusikwerken für Streicher (Streichquartett, Streichtrio, Duett für 2 Violinen). Mit Ausnahme der letzten drei Blätter (fol. 55r–fol. 58v), die von Pater Ignaz Stork ergänzt wurden, listet Trupert Fehr das 1816 bestehende Repertoire in einer umfassenden bibliographischen Notiz mit den Rubriken „Name des Komponisten“, „Gattung“, „Besetzung“, „Opuszahl“ und „Notenincipit“ (zumeist der 1. Violine) auf.9 Auf die Wiedergabe der vollständigen Titel (diplomatische Titel) verzichtet der Autor. In dieser Form der Dokumentation unterscheidet sich der Catalogus Musici Chori Petra Mariana von früheren Katalogen klösterlicher Musiksammlungen schweizerischer Provenienz wie beispielsweise dem Verzeichnis der Musikalien im 1661 entstandenen Gesamtkatalog der Bibliothek des Zisterzienserklosters St. Urban – Bibliotheca S. Urbani (CH-Lz, Pp Msc 11) und dem 1696 durch
6 7
8 9
Dazu Benediktinische Gemeinschaften in der Schweiz (wie Anm. 1), 64. Catalogus Musici Chori Petra Mariana, fol.2r–fol.11r. Vergleiche hierzu auch die Biographie von P. Ambros Stierlin in: Professbücher (wie Anm. 4), 229: „P. Ambros (Franz) Stierlin von Säckingen. Geboren den 21. April 1767 als Sohn des Ratsherrn Franz Stierlin. Er studierte in Mariastein, wo er am 1. November 1783 eingekleidet wurde. Da er aber österreichischer Untertan war, durfte er erst mit 22 Jahren, am 1. November 1789 die Profeß ablegen. Seit 1792 wirkte P. Ambros als Professor für Philosophie und Theologie. Er war ein vorzüglicher Musiker, vor allem Organist und betätigte sich auch als Komponist. Durch ihn wurden die großen Meister Mozart und Haydn, in Mariastein eingeführt. Als die Franzosen einbrachen, war P. Ambros zunächst in seiner Heimat Säckingen, ging dann mit zwei Fratres nach St. Märgen, wo er mit diesen den Unterricht fortsetzte. Kaum konnte man wieder nach Mariastein zurück, so bat er, heimkehren zu dürfen. Mit P. Beda Sütterlin wurde er am 6. Juni 1804 zurückberufen. Abt Joseph von St. Märgen gab den Beiden das beste Zeugnis mit auf den Weg. Nach der Rückkehr leitete er die im Pilgerwirtshaus eröffnete Schule für die Kinder der Umgebung, auch erteilte er Musikunterricht. Er starb schon am 21. September 1806.“ Catalogus Musici Chori Petra Mariana, fol. 11r–14r. Ab Folio 55 fehlen im Catalogus die Notenincipits. Dieser Teil stammt aus der Feder von Pater Ignaz Storck (1799–1855), der im vollständigen Titel des Catalogus als Joh. Nep. Storck verzeichnet ist.
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Gabriella Hanke Knaus
den Chorherrn Bernhard Späni in Beromünster begonnenen Verzeichnis Bono Ordo Musicus (CH-BM, StiA Bd. 1206).10 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Verzeichnissen klösterlicher Musiksammlungen in der zweiten Hälfte bzw. am Ende des 17. Jahrhunderts und dem 1816 angelegten Catalogus Musici Petra Mariana zeigt sich im Hinblick auf die Pflege der Instrumentalmusik in klösterlichen Zentren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nunmehr fest etabliert ist:11 Umso bedauerlicher ist der Umstand, dass diese Zeugnisse einer spezifischen Pflege der Instrumentalmusik in Mariastein die Wirren der Klosteraufhebung 1874/1875 nicht überstanden haben; das gesamte von Trupert Fehr notierte Repertoire ist verloren gegangen. Die bis anhin mögliche Identifizierung der symphonischen Werke des Catalogus Musici Petra Mariana weist auf einen Werkcorpus hin, der auf wenige Komponisten fokussiert ist und der in seiner zeitlichen Ausrichtung retrospektiv und nicht das von Rudolf Henggeler erwähnte „zeitgenössische“ Repertoire umfasst, sondern die Mannheimer-Schule und ihren Umkreis.12
Abb. 2: Catalogus Musici Petra Mariana, (f.11r). © Kloster Mariastein. 10 Vgl. http://inventories.rism-ch.org. (Zugriff vom 1. Juli 2011). 11 In den Katalogen von St. Urban und Beromünster sind lediglich zwei Sonaten verzeichnet; vgl. http://inventories.rism-ch.org/standard_terms. (Zugriff vom 1. Juli 2011). 12 Dazu Professbücher (wie Anm. 4).
Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815
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Die folgende tabellarische Übersicht stellt den Eintrag im Catalogus Musici Petra Mariana den bis anhin publizierten bibliographischen Informationen des Répertoire International des Sources Musicales (RISM) gegenüber.13 Sÿmphoniae ¡ȱȱǻȱȱ ǼȱȦȱȱ ȱ
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13 Die Tabelle berücksichtigt in erster Linie die RISM Serie A/II Musikhandschriften nach ȱdzȱǯȱŞǯȱǰȱ ȱ ȱ ã£ǰȱǚǯȱŗşȱ 1600, weil nur sie einen Vergleich der Notenincipits zulässt. Bei einer vorhandenen Referenz zur RISM Serie A/I ist dies speziell vermerkt. ȱȦDZȱȱŗśŜŖȱ 14 Titelangaben gemäss den RISM Serien A/I und A/II. ȱ
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Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815
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ȱ 15 Marianne Reißinger, Die Sinfonie Ernst Eichners (1740–1777). Frankfurt/Main 1970. ǰȱȱ ǻŗŝŚŖȮŗŝŝŝǼȱ ŗŘȱ
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16 Jean K. Wolf, Christian Cannabich. Thematic index, in: The Symphony 1720–1840: a comprehensive collection of full scores in sixty volumes. Serie C, Bd. III. ŘŘǯȱ¤ȱŘȱDZȱŘȱDZȱ ǽǯǾȱ¥ȱŞǯȱȩȱǯȱȩȱ¥ȱȩȱŘǯȱȱȩȱȱ ȱ Hg. Barry S. Brook. New York 1984, 126–141. ŘǯȱȱȩȱŘǯȱȱȩȱȱȩȱ¸ȱȩȱǯȱȩȱȱ ŘȱDZȱȱȱȦȱ ȱ ȱȦȱȱǯȱȦȱ £ȱ
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Instrumentalmusik im Benediktinerkloster Mariastein um 1815
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Die Auflistung der Sÿmphoniae im Catalogus Musici Petra Mariana von 1816 zeigt auf, dass in Mariastein um 1815 das von Hugo Riemann als „Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule“17 bezeichnete Repertoire gepflegt wurde, welches im höfischen Kontext der Kurfürsten Karl Theodor (1724–1799) in Mannheim (Carl Stamitz und Ernst Eichner) und Clemens August I. von Bayern (1700–1761) in Bonn (Joseph Touchemoulin) entstanden ist. Auf welchen Wegen die Mariasteiner Mönche Kenntnis dieses symphonischen Repertoires erhalten und in welcher Weise sie dieses Repertoire gepflegt haben, lässt sich aufgrund des vollständigen Verlustes der im Catalogus Musici Petra Mariana aufgelisteten symphonischen Werke nicht mehr nachvollziehen. Nur bei den Werken von Joseph Touchemoulin ist aufgrund der Besetzungsangabe im Catalogus der Beleg vorhanden, dass die beiden Symphonien nicht in der Originalbesetzung aufgeführt wurden, sondern für die Aufführung im Sakralraum adaptiert wurden: Beide Eintragungen schreiben eine instrumentale Besetzung mit 2 Violinen, Viola und Orgel vor. Der tabellarische Vergleich mit existierenden Quellen (Manuskripte und Drucke) zeigt jedoch auch, dass in Mariastein um 1815 ein spezifisches instrumentales Repertoire vorhanden war, das in anderen Musiksammlungen der Schweizerischen Benediktinerkongregation (Einsiedeln, Engelberg, Disentis), zu der Mariastein seit 1647 gehört, nur marginal (Einsiedeln) oder überhaupt nicht (Engelberg, Disentis) gepflegt wurde.18 Der Catalogus Musici Petra Mariana verweist somit auf eine, im klösterlichen Kontext der Schweiz einzigartige Musikpflege zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
17 Vgl. die Veröffentlichungen der Werke durch Hugo Riemann in den Denkmälern der Tonkunst in Bayern, Alte Folge, Leipzig, Breitkopf & Härtel: Bd. 4, Jhg. III (1902/03), Bd. 1: Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule [Mannheimer Symphoniker]. Johann Stamitz (1717–1757). Franz Xaver Richter (1709–1789). Anton Filtz (ca. 1725–1760); Bd. 13, Jhg. VII (1906/07), Bd. 2: Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule [Mannheimer Symphoniker]. Zweiter Teil, erste Hälfte. Johann Stamitz (1717–1757). Franz Xaver Richter (1709–1789). Anton Filtz (ca. 1725–1760). Ignaz Holzbauer (1711–1783). Giuseppe Toeschi (1724– 1788); Bd. 15, Jhg. VIII (1907/08), Bd. 2: Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule [Mannheimer Symphoniker]. Zweiter Teil, zweite Hälfte. – Christian Cannabich (1731–1798). Karl Stamitz (1746–1801). Franz Beck (1730–1809). Ernst Eichner (1740–1777). 18 Quellen zu Werken von Carl Stamitz und Ernst Eichner (Ms.) finden sich in der Musikbibliothek des Klosters Einsiedeln, im Repertoire von Engelberg und Disentis fehlen diese Namen vollständig.
Fétis fustigateur des «monstres acoustiques» bruxellois* Henri Vanhulst
Lorsque François-Joseph Fétis (1784–1871) est nommé directeur du Conservatoire royal de musique de Bruxelles en avril 1833, il est animé par de grandes ambitions, comme le révèle son Plan d’organisation de la musique dans le royaume de Belgique qui était avant tout censé démontrer ses aptitudes à diriger l’institution.1 Puisque le Conservatoire de Paris lui sert de modèle qu’il entend même dépasser à certains égards, il n’est nullement étonnant que l’un de ses objectifs primordiaux concerne l’organisation de concerts, car il a écrit à plusieurs reprises dans la Revue musicale qu’il les croit indispensables dans le processus de formation des élèves.2 À ce propos, Fétis se heurte néanmoins à un problème de taille: le Conservatoire de Bruxelles ne dispose d’aucun lieu susceptible de les accueillir, les cours se donnant, du moins à l’origine, au domicile même du directeur. S’il a fallu recourir à des solutions de fortune, il n’en reste pas moins que Fétis dirige le premier concert du Conservatoire dès le 21 décembre 1833 – moins de trois mois après le début de la première année scolaire de son directorat – et qu’il donne le dernier le 12 mars 1871, soit deux semaines avant sa mort. En février 1842, la Société de la grande Harmonie inaugure sa nouvelle salle de concert dont l’acoustique se révèle immédiatement défaillante. Berlioz en fait l’expérience lorsqu’il y dirige en septembre 1842 l’exécution de plusieurs de ses compositions, comme il le raconte avec une savoureuse ironie dans le chapitre LI de ses Mémoires. La Commission administrative du Conservatoire, qui est chargée de la gestion quotidienne de l’institution et aux réunions de laquelle Fétis n’est pas autorisé à assister, voit néanmoins de nombreux avantages à y transférer les concerts. La salle de la Société de la Loyauté – au second étage de la Maison du roi, située en face *
Nous tenons à remercier très chaleureusement Olivia Wahnon de Oliveira, bibliothécaire du Conservatoire royal de Bruxelles, pour son aide efficace et son infinie patience.
1
Robert Wangermée, François-Joseph Fétis, musicologue et compositeur. Contribution à l’étude du goût musical au XIX e siècle. Bruxelles 1951, 288–299. Cf. Henri Vanhulst, Le Conservatoire royal de musique de Bruxelles: ses origines et le directorat de François-Joseph Fétis (1833–1871), in: Le Conservatoire de Paris, 1795–1995. Des Menus Plaisirs à la Cité de la Musique. Dir. Anne Bongrain et Yves Gérard. Paris 1996, 201–217.
2
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Henri Vanhulst
de l’hôtel de ville sur la Grand-Place – où les séances se donnent depuis 1838, est en effet trop exiguë pour offrir un minimum de confort au public. Le 5 décembre 1843, trois membres et le secrétaire de la Commission rencontrent trois représentants de la Grande Harmonie au ministère de l’Intérieur, l’autorité de tutelle du Conservatoire, et ils rédigent une convention qui stipule dans son premier article: «La grande salle de concert de la Société de la Grande Harmonie est mise à la disposition du Conservatoire tout arrangée et chauffée, et de plus éclairée, lorsque les concerts ont lieu le soir.» En contrepartie, les administrateurs et les membres tant effectifs qu’honoraires de la Grande Harmonie «ont leur entrée gratuite» (article II), mais la Société s’engage à acheter «200 cartes de dames ou de fils de membres âgés de moins de 21 ans» par concert pour le prix total de 400 francs et elle pourra même «se procurer en sus 50 cartes au prix de 2 francs» (article III). Le douzième et dernier article précise que la convention «sera considérée comme définitive et valable pour un an» dix jours après le premier concert «qui aura lieu à titre d’essai».3 Lors de sa réunion du 7 décembre 1843, la Commission administrative approuve la convention et cinq jours plus tard elle en envoie une copie à Fétis. Dans la lettre d’accompagnement, elle lui rappelle qu’il a lui-même entrepris récemment des démarches auprès de la Société de la grande Harmonie au sujet des concerts du Conservatoire4 et lui annonce que ceux-ci auront dorénavant lieu dans «un nouveau local dont la beauté et la commodité augmenteront beaucoup l’attrait de nos matinées musicales».5 Étant donné que les concerts ne génèrent guère de bénéfices, la Commission insiste longuement sur les avantages financiers offerts par l’arrangement trouvé avec la Grande Harmonie, tout en reconnaissant que l’on devra désormais diminuer le nombre de billets gratuits. Le lendemain du concert du 6 janvier 1844, Fétis répond à la Commission qu’il déconseille l’emploi de la salle et demande un délai pour la signature de la convention. Le 17 janvier, il lui annonce qu’il fera un nouvel essai dont on peut supposer qu’il ne se révéla pas plus concluant car c’est seulement en décembre 1844 que la convention est finalement signée. En décembre 1847, le ministre de tutelle nomme L. Rauwet, vice-président de la Société de la grande Harmonie,6 membre de 3 4
5 6
B-Bc, Correspondance, annexe à la lettre n° 497 (voir la note 4). Ce fonds n’a pas de cote. Daté du 27 ou du 29 novembre 1843, le courrier de Fétis ne se trouve pas dans le fonds Correspondance de la bibliothèque du Conservatoire royal de Bruxelles. Il en va de même pour le reste du courrier relatif à cette affaire. Sauf mention contraire, nous ne connaissons que le résumé des lettres tel qu’il figure dans le Dépouillement général de la correspondance du Conservatoire (B-Bc, ARC-008). B-Bc, Correspondance, n° 497. Ce magistrat est également membre du conseil communal de la ville de Bruxelles.
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la Commission administrative. Il officialise en quelque sorte une collaboration qui durera jusqu’à la fin de 1860, lorsque les concerts du Conservatoire déménagent au Palais ducal dont la salle sera l’année suivante équipée d’un grand orgue. En octobre 1847, il avait cependant été question d’une autre solution pour les concerts du Conservatoire et il est curieux que Fétis soit le premier à y faire allusion dans sa lettre à la Commission administrative7 qui ne semble pas avoir jugé opportun de le consulter au sujet d’une proposition dont elle ne voulait manifestement pas. Cette dernière émanait pourtant des autorités communales de Bruxelles qui sont depuis toujours représentées au sein de ladite Commission, le bourgmestre de la ville en étant même le président d’honneur à partir de 1838. DIRECTION
Bruxelles, le 25 Octobre 1847.
DU
Conservatoire Royal DE
MUSIQUE. N° 399. Messieurs, L’époque des concerts annuels du Conservatoire royal de Musique étant arrivée, je pense qu’il serait nécessaire d’être fixé sans délai sur le lieu où ils seront donnés. Vous savez que par les nouveaux arrangemens de l’administration Communale avec la direction des théâtres, la salle du Parc8 a été réservée pour que le Conservatoire puisse y donner ses concerts. J’ai pris connaissance de ce local et je l’ai trouvé très convenable, moyennant certains arrangemens peu dispendieux pour le placement de l’orchestre. Veuillez, Messieurs, me faire connaître le résultat de vos délibérations à ce sujet le plutôt [sic] possible, afin que je puisse faire commencer les études d’orchestre, auxquelles sont attachées [sic] tous les progrès de l’école. Agréez l’assurance de ma parfaite considération. Le Directeur du Conservatoire Fétis à Messieurs les Membres de la Commission administrative du Conservatoire royal de Musique
7 8
B-Bc, Correspondance, n° 399. Construit en 1782, le théâtre du Parc est l’œuvre de l’architecte Louis-Joseph Montoyer (1749–1811) qui fut également actif à Vienne. Il doit son nom à sa situation au bord du parc de Bruxelles, en face du Parlement. Sous le régime hollandais, le Parc devient, tout comme le théâtre de la Monnaie, la propriété de la ville de Bruxelles. Ils sont placés sous la même direction et l’un sert de scène d’appoint à l’autre, que l’on qualifie à l’époque de «grand théâtre». Après l’indépendance de la Belgique (1830), le Parc et la Monnaie restent des théâtres municipaux, mais leurs répertoires se scindent: la comédie va au premier et le domaine lyrique au second. Cf. Cécile Vanderpelen-Diagre, Le théâtre royal du Parc: un lieu de sociabilité bruxellois (de 1782 à nos jours). Bruxelles 2008.
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L’affaire en reste là et il n’est pas impossible que l’absence de réaction de la part de la Commission décide Fétis à suspendre les concerts après la séance du 12 décembre 1847, qui a lieu à la grande Harmonie. Le 29 mars 1848, la Commission lui demande de revenir sur sa décision et le directeur du Conservatoire consent à reprendre «ces exercices utiles à divers titres aux intérêts de l’établissement et des élèves».9 Le second et dernier concert de la saison, qui en comprend normalement au moins quatre, est donné le 14 mai – toujours dans la salle habituelle. En 1849, l’idée du déménagement au théâtre du Parc est relancée, mais cette fois elle ne concerne plus uniquement la nécessité de trouver un local adéquat pour les concerts. La ville de Bruxelles propose à la Commission administrative de céder le théâtre du Parc et ses dépendances au Conservatoire dont elle récupérerait les locaux pour y installer l’athénée, c’est-àdire l’école d’enseignement secondaire. Après une visite sur place, la Commission administrative se déclare favorable à l’offre. Elle décide de faire procéder à une étude plus approfondie qui donne lieu à un rapport. Comme ce dernier confirme la première impression, Fétis est à son tour invité à donner son avis:10 COMMISSION ADMINISTRATIVE
Bruxelles, le 19 8bre 1849.
DU
CONSERVATOIRE ROYAL DE MUSIQUE.
N° 254. Monsieur le Directeur, Il y a quelque temps, lorsque la Commission examinait en séance la question relative à une salle de concerts pour le Conservatoire, Monsieur le Bourgmestre de Bruxelles qui était présent à cette séance fit entrevoir la possibilité d’obtenir de la ville qu’elle mît à la disposition de cette école, pour y établir sa salle de concerts en même temps que ses divers autres services, le théâtre du Parc avec ses dépendances, si par contre le Conservatoire cédait à la Commune le local qu’il occupe actuellement et dont on pourrait tirer parti en l’appropriant pour l’athénée. Cette combinaison nous ayant paru de nature à être prise en sérieuse considération, nous acceptâmes l’offre que nous fit Monsieur le Bourgmestre d’aller visiter le théâtre avec lui et l’architecte de la ville Monsieur Schmidt, munis des plans de ce local et de ses dépendances. Après ce premier examen, la Commission estimant que l’on pourrait tirer de ces bâtiments un parti avantageux pour le conservatoire, chargea une Commission spéciale d’examiner la chose en détail et de lui faire un premier rapport. D’après ce rapport qui nous a été soumis dans notre séance d’hier nous sommes portés à croire qu’il y a lieu de donner suite au projet qu’il concerne. Mais au préalable, monsieur le Directeur, nous désirerions connaître vos idées sur ce point et nous avons l’hon-
9 B-Bc, Correspondance, n° 86. 10 B-Bc, Correspondance, n° 254.
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neur de vous soumettre la pièce dont s’agit avec prière de nous la renvoyer accompagnée de votre avis. Veuillez agréer, Monsieur le Directeur, l’assurance de nos sentiments distingués. La Commission administrative Le Secrétaire Le Président J.-B. de Gerlache Thé. Fallon
Datée du 24 novembre, la réponse de Fétis ne laisse aucun doute: l’échange de locaux n’est envisageable qu’à la condition expresse que la salle du théâtre convienne pour les concerts et cela n’est nullement le cas:11 DIRECTION
Bruxelles, le 24 Novembre 1849.
DU
Conservatoire Royal DE
MUSIQUE. N° 651 Messieurs, J’ai l’honneur de vous renvoyer le rapport que vous m’avez communiqué concernant le projet de faire usage du théâtre du Parc pour y donner les concerts du conservatoire, et de transporter l’école dans des bâtiments attenant à ce théâtre. Il ne m’est pas possible de vous donner en ce moment mon avis motivé sur l’ensemble ni sur les détails de ce projet, parce qu’il est tout entier subordonné à la supposition de la possibilité de donner les concerts du conservatoire dans la salle du parc, et parce que, avant toute chose, j’ai dû m’occuper de l’examen de cette salle, sous le rapport de la résonnance [sic!]. Les expériences acoustiques auxquelles je me suis livré sur les lieux m’ayant conduit à la recherche des causes de la surdité absolue de cette salle, en prenant pour base de la propagation des ondes sonores le centre du théâtre, dans l’axe de la salle, j’ai découvert le vice mathématique et irrémédiable de la construction de ce théâtre, et j’ai fait de cet objet, et des lois ignorées des conditions acoustiques des salles de concert et de spectacle, le sujet d’un travail scientifique que j’ai lu à l’Académie, parce qu’il intéresse mes confrères les architectes, membres de cette société. Les lumières de MM. Quetelet et Timmermans12 m’étaient d’ailleurs nécessaires pour m’assurer qu’aucune erreur ne s’était glissée dans ma théorie des angles de propagation des vibrations, en raison de la courbe du plan d’une salle. Il me serait difficile de vous rendre compte dans une lettre des résultats auxquels je suis parvenu; mais je corrige en ce moment les épreuves de mon travail, qui sera imprimé dans les premiers jours du mois prochain, et j’aurai l’honneur d’en envoyer un exemplaire à chacun des membres de la Commission. Je me bornerai à dire que ces résultats sont tels, qu’il est maintenant démontré qu’aucune amélioration ne peut être faite à la salle du Parc, sous le rapport de la résonnance [sic!], et que cette salle n’est pas plus ou moins mauvaise, comme la plupart des locaux de ce genre qui se trouvent à Bruxelles, mais que son usage est impossible pour un orchestre placé sur le théâtre, et à plus forte raison pour celui du Conservatoire; car, par une singularité inouïe, le son le plus intense est celui qui s’éteint le plus vite sur ce théâtre. 11 B-Bc, Correspondance, n° 651. 12 Il s’agit de deux membres de l’Académie. Adolphe Quetelet (1796–1874) est un mathématicien et statisticien qui fut le fondateur de l’Observatoire royal de Belgique. Professeur à l’Université de Gand, Jean-Alexis Timmermans (1801–1864) est également un mathématicien.
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L’effet est absolument celui d’une peau de timbale sur laquelle on pose la main, après qu’elle a été mise en vibration. J’ai fait une multitude d’observations par lesquelles je pourrais combattre victorieusement le projet sur lequel je suis appelé à donner mon avis; mais il me paraît inutile de les énumérer en ce moment, la base du projet s’écroulant d’elle-même. Je saisis cette occasion, Messieurs, pour vous faire remarquer que deux mois sont déjà perdus depuis la rentrée pour les études d’orchestre, à défaut de local, et que tous les progrès et les succès du Conservatoire reposent sur ces études, tant pour les professeurs eux-mêmes que pour les élèves; car les uns et les autres font des efforts à raison de mes exigences. Il est d’autant plus urgent de se préparer pour les concerts, que le répertoire a besoin d’être renouvelé en partie. Veuillez, je vous prie, prendre à ce sujet une prompte décision et me la faire connaître. […] Agréez, Messieurs, mes très humbles salutations. Le Directeur du Conservatoire Fétis à Messieurs les Membres de la Commission administrative du Conservatoire royal de musique.
Suite à l’opposition de Fétis, le projet d’échange de locaux est abandonné. Quant au «travail scientifique» auquel il fait allusion dans la lettre, il le présente effectivement lors de la séance du 8 novembre 1849 de la classe des Beaux-Arts de l’Académie royale de Belgique.13 Cette communication s’appuie sur des expériences auxquelles Fétis s’est livré in situ, sur des lectures et des souvenirs de voyage et sur les avis de membres de l’Académie qu’il a consultés pour leurs compétences dans des matières qui ne lui sont pas familières. L’ampleur de l’exposé incite à penser que son auteur a pu entamer ses recherches avant que la Commission ne lui demande son avis. Fétis commence par une affirmation surprenante car en contradiction totale avec son avis de 1847: «Il est généralement reconnu que la salle du Parc est très-mauvaise pour la musique.» Peut-on imaginer qu’il ne visait deux ans plus tôt qu’à susciter des tensions au sein de la Commission avec laquelle il a été pendant toute la durée de son directorat en conflit quasi permanent? Fétis note que l’on a cru améliorer l’acoustique «en faisant de la scène un salon fermé avec des planches de sapin recouverte[s] de peinture ou de papier, pour y placer l’orchestre du Conservatoire». Bien qu’il soit «au premier coup d’œil» convaincu que la solution «ne contribuerait en aucune manière à l’amélioration de la salle»,14 il se rend au théâtre et s’y livre à une série d’expériences. Il place un instrumentiste et un chanteur, à propos desquels il ne donne aucune précision, à différents endroits de la 13 François-Joseph Fétis, Note sur les conditions acoustiques des salles de concert ou de spectacle, in: Bulletins de l’Académie royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique XVI/2 (1849), 517–530. 14 Ibid., 518.
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scène et constate que tout son s’éteint aussitôt qu’il est produit. À son avis, la salle est «si absolument sourde, qu’il est de toute évidence que sa forme oppose une résistance invincible à la propagation des vibrations sonores». Tout comme dans sa lettre du 24 novembre, il fait la comparaison avec la main posée sur la peau de la timbale qui en étouffe immédiatement le son.15 Après quelques autres expériences qui confirment ses premières constatations, Fétis procède à l’examen des plans de salle et relève que «les règles les plus élémentaires de l’acoustique ont été violées».16 Il souligne l’incompatibilité de la forme de la salle et avec celle de la scène, tout comme il blâme le plafond «à peu près plat», «qui semble avoir été calculé pour que la colonne d’air n’y pût circuler».17 Les transformations que l’on a effectuées depuis 1782 au Parc et que Fétis connaît seulement par le témoignage d’un «vieil employé» du théâtre de la Monnaie, ont modifié le plan originel de la salle sans en corriger l’acoustique – ce qui lui semble d’ailleurs impossible à réaliser: La musique n’a jamais eu d’effet satisfaisant dans ce local, et l’on s’est vu forcé de renoncer aux concerts qu’on avait voulu y donner. La question qui se présente aujourd’hui de la possibilité de son amélioration ne peut être résolue que négativement; car la salle étant une courbe irrégulière tronquée, qui n’a pas de foyers communs entre l’emplacement de l’orchestre sur la scène et l’intérieur de la salle, les rayons sonores sont rompus, et la communication acoustique ne peut être qu’excessivement défectueuse.18
La «clôture complète en matière élastique» déjà évoquée,19 ne permet pas davantage de résoudre le problème. S’appuyant sur les études relatives à la réverbération du son – il cite Prony, Arago, Matthieu, von Humboldt, Gay-Lussac et Bouvard sans donner aucun détail à leur propos20 –, Fétis affirme de manière péremptoire: Me résumant, je ne crains pas d’affirmer que l’amélioration de la salle du Parc, en ce qui concerne l’acoustique, est impossible, et qu’elle ne doit pas être tentée par des tâtonnements, qui ne conduiraient à aucun résultat satisfaisant; enfin, je suis certain que l’orchestre du Conservatoire y trouverait l’anéantissement de sa puissance.21
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Ibid., 519. Idem. Ibid., 520. Ibid., 521. Idem. Parmi ces auteurs, seul Prony figure dans le Catalogue de la bibliothèque de F. J. Fétis acquise par l’État belge. Paris, Firmin-Didot – Bruxelles, Muquardt, 1877. 21 Fétis, op. cit. (note 13), 522.
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La suite de la communication se veut plus générale et traite de l’ensemble des salles de spectacle et de concert à Bruxelles qui «ont toutes des défauts considérables, sous le rapport des conditions acoustiques».22 Fétis commence par contredire l’auteur d’un traité anonyme, Exposition des principes que I’on doit suivre dans I’ordonnance des théâtres modernes, que l’on attribue aujourd’hui au chevalier de Chaumont ou à Monginot, qui préconisait en 176923 la forme semi-circulaire parce qu’il avait mal compris la théorie de Descartes selon laquelle «les rayons sonores agissent par un mouvement circulaire, c’est-à-dire, en retournant sur eux-mêmes».24 Après une brève allusion à Taylor, d’Alembert, Euler et Bernouilli, Fétis en vient aux «expériences très-ingénieuses» de Wilhelm Weber25 qui ont révélé que «la forme générale des ondes sonores tend à celle de l’ellipse». Il en conclut «que la forme d’une salle de concert ou de spectacle la plus favorable à la propagation des sons est celle qui répond précisément aux tendances des ondes vibratoires, et conséquemment qu’elle doit être elliptique».26 Afin d’anéantir tout doute à ce propos, il se livre à une démonstration théorique à laquelle il ajoute même un dessin. Fétis passe ensuite au crible une bonne vingtaine de salles qu’il divise en groupes en fonction de leur forme. Celle du Conservatoire de Paris est la meilleure qu’il connaisse; il la qualifie de «boîte sonore […] d’une forme qui approche beaucoup de l’ellipse».27 Alors qu’il ne dit pas un mot du théâtre de la Monnaie, il donne une appréciation au sujet d’une série de scènes lyriques italiennes, qu’il a probablement eu l’occasion de visiter au cours de la mission qu’il a effectuée en 1841 dans le pays. Le grand théâtre de Turin et celui d’Imola lui semblent quasiment de la même qualité que la salle du Conservatoire de Paris. Quant à la Scala de Milan, le Carlo Felice de Gênes et «d’autres [théâtres] de l’Italie», ils «ont plus de tendance vers l’ovale, à cause de leur immense étendue, que vers l’ellipse pure; mais ils rachètent ce défaut par la légèreté et 1'élasticité des matériaux employés dans leur construction». Comme «aucune forme géométrique ne possède les propriétés de l’ellipse», l’ovale présente nécessairement quelques défauts: dans une telle salle, «il est des points où le son n’arrive pas directement, et conséquemment n’y parvient qu’affaibli».28 22 Ibid., 523. 23 Fétis date l’ouvrage de 1767. À en juger d’après le catalogue de sa bibliothèque, il n’en possédait pas d’exemplaire. 24 Fétis, op. cit. (note 13), 523. 25 Wilhelm Weber, Akustik (tirage à part de l’Universal-Lexicon der Tonkunst, 1835). Catalogue de la bibliothèque de F. J. Fétis, n° 7042. 26 Fétis, op. cit. (note 13), 524. 27 Ibid., 525. 28 Ibid., 526.
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Fétis constate que «la forme en fer-à-cheval est la plus généralement adoptée pour les grands théâtres de l’Italie». D’après lui, c’est «le vieux théâtre San Benedetto, de Venise» qui a servi de modèle notamment à la Fenice de Venise, au San Carlo de Naples et à l’Argentina de Rome. Un tel plan lui semble se justifier uniquement pour des salles de théâtre parce qu’il permet «un large développement de la scène» et donne «plus de profondeur aux loges pour y mettre un plus grand nombre de spectateurs». Fétis le rejette, en revanche, catégoriquement pour tout autre usage: «Une salle de concert construite sur ce plan serait très-défectueuse, car elle n’aurait pas les mêmes motifs d’excuse.»29 L’auteur en vient ainsi à l’architecture des salles de concert et note que l’on adopte généralement la forme rectangulaire. Il en dénonce les défauts qui sont encore aggravés par la présence de colonnes «soit pour rompre la monotonie du coup d’œil, en partageant le rectangle en plusieurs travées, soit par des motifs de solidité».30 Limitant la suite de son exposé à Bruxelles, Fétis cite à titre d’exemple – non sans une évidente ironie – le local même où se donnent les concerts du Conservatoire: «La salle de la société de la Grande-Harmonie de Bruxelles,31 où d’ailleurs tous les défauts acoustiques sont accumulés, présente un exemple remarquable des inconvénients inséparables de ce mode de construction.»32 Et ce n’est même pas tout, puisque l’orchestre y est installé dans «une sorte de niche terminée par une courbe semi-circulaire» située à l’une des extrémités de la salle. Ce défaut se retrouve au Grand Concert, où le Conservatoire donna ses séances à ses débuts,33 et aux Augustins, une église désaffectée qui a notamment servi pendant quelques décennies aux manifestations musicales réunissant un nombre élevé d’exécutants et d’auditeurs.34 Il en résulte que «les vibra-
29 Ibid., 527. 30 Idem. 31 Une lithographie représentant la salle est reproduite dans le catalogue de l’exposition François-Joseph Fétis et son temps 1784–1871. Bruxelles 1971, planche XXXIV. Le local de la Société de la grande Harmonie, situé rue de la Madeleine, avait été construit sur le site de l’hôtel d’Angleterre, où la famille Mozart avait logé en 1763. 32 Fétis, op. cit. (note 13), 528. 33 La salle de la Société du grand Concert était située rue Ducale. 34 Le local était situé sur l’actuelle place de Brouckère. Il accueille la distribution des prix du Conservatoire, les festivals ou autres commémorations de l’indépendance de la Belgique et les séances publiques de la classe des Beaux-Arts de l’Académie, au cours desquelles sont créées les cantates couronnées lors du Grand concours de composition musicale, communément appelé le Prix de Rome belge. Berlioz, qui y donne en septembre 1842 son second concert, apprécie la salle aussi peu que celle de la Société de la grande Harmonie (cf. la note 3). Voir le catalogue de l’exposition François-Joseph Fétis et son temps, pl. XXXI, pour la reproduction d’une aquarelle représentant la salle au cours d’un concert.
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tions sonores ne peuvent se propager sur les côtés du carré qui avoisinent l’orchestre», mais Fétis y remédie en «faisant prolonger l’emplacement de l’orchestre jusqu’à la première colonne».35 À la Grande Harmonie, il y a un problème supplémentaire: «la calotte hémisphérique qui recouvre l’orchestre» ajoute «aux échos produits qui retentissent dans la salle […] la redondance de certains instruments», de sorte que «l’harmonie de l’ensemble» s’en trouve altérée.36 Passant à la hauteur des salles et à la forme de leur plafond, Fétis dresse un bilan tout aussi négatif. Ses multiples critiques à l’adresse du local de la Grande Harmonie, en particulier, ne peuvent manquer de surprendre, quand on se souvient de ses démarches auprès de la Société à la fin du mois de novembre 1843. Un plafond trop élevé, eu égard à 1'étendue du local, donne lieu à des retentissements anormaux qui troublent l’audition de la musique. À ce trouble s’ajoutent presque toujours des effets d’échos, si le plafond est en forme de voûte. C’est ce qu’on remarque dans la plupart des églises, et c’est pour cela que le local des Augustins est très-défavorable à la musique qu’on y fait entendre; enfin, ce défaut est un des plus considérables de la salle de la Grande-Harmonie.37
Alors que la coupole est également à proscrire, Fétis préconise «une courbe légèrement inclinée vers le fond de la salle et vers la scène ou l’orchestre, et surboisée sur les côtés comme dans le fond d’environ lm,30» car il convient «de faire ce plafond en bois élastique et léger, sur lequel la peinture est appliquée, et de l’isoler de la charpente des combles.»38 Dans sa conclusion, Fétis se révèle amer et résigné: […] les architectes, appelés à tracer le plan des salles de spectacle ou de concert à Bruxelles, n’ont produit que des espèces de monstres acoustiques, où l’on trouve réunis tous les défauts qu’il eût fallu éviter. Depuis plus de seize années, mes réclamations sur cet objet important ont été sans résultat, et l’orchestre du Conservatoire, cet orchestre qui a conquis par ses succès une renommée européenne, a été contraint jusqu’à ce jour, à défaut d’une salle spéciale réclamée en vain de la munificence de l’État, à se faire entendre dans les conditions désavantageuses de locaux d’emprunt, et de lutter contre d’insurmontables obstacles qui le privent de ses plus beaux effets. J’ai cru devoir saisir cette occasion pour tenter un dernier effort en sa faveur.39
C’est seulement en 1868 que le ministre des Travaux publics envisage de doter le Conservatoire d’une salle de concert. Il demande à Fétis de lui
35 36 37 38 39
Fétis, op. cit. (note 13), 528. Idem. Ibid., 528–529. Ibid., 529 Ibid., 529–530.
Fétis fustigateur des «monstres acoustiques» bruxellois
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fournir les plans de celle du Conservatoire de Paris, l’immuable référence en la matière.40 Finalement il faudra attendre la construction des bâtiments de la rue de la Régence, toujours en usage à l’heure actuelle, pour que le Conservatoire de Bruxelles dispose de locaux adéquats, et notamment d’une salle de concert qui sera inaugurée en avril 1876. Dans la communication qu’il lit à l’Académie en 1849, Fétis rappelle, comme il en a l’habitude, tout ce que le Conservatoire et sa société de concerts lui doivent, mais il vise en premier lieu à se forger l’image d’une autorité dans le domaine de l’acoustique des salles. Il s’appuie sur la caution que lui fournissent deux confrères de la classe des Sciences et sur les travaux de plusieurs spécialistes, dont on peut se demander s’il les a tous lus. S’y ajoutent surtout ses multiples expériences personnelles qui vont des enseignements qu’il a tirés de son séjour à Paris et de son voyage en Italie, passent par ses activités de chef d’orchestre qui s’est produit dans plusieurs salles de concert à Bruxelles, et s’achèvent par les essais auxquels il s’est livré au théâtre du Parc. Il se croit dès lors habilité à donner des conseils aux architectes et à critiquer vertement l’inaction du gouvernement. Dans un tel contexte, les mérites de Fétis s’en trouvent d’autant plus mis en évidence que c’est lui seul qui empêche la Commission administrative de prendre des décisions dont il démontre qu’elles vont à l’encontre des intérêts du Conservatoire. Le lecteur de la Note ignore évidemment que Fétis avait, à l’origine, recommandé le théâtre du Parc pour les concerts et qu’il avait probablement été favorable, quelques années plus tôt, à leur transfert dans la salle de la Société de la grande Harmonie. Si Fétis avait voulu manipuler la Commission administrative, il ne s’y serait pas pris autrement.
40 Cf. Henri Vanhulst, Le Conservatoire royal de Bruxelles à l’époque de Fétis d’après le Dépouillement général de la correspondance, in: Revue belge de Musicologie LXII (2008), 163– 179, en particulier 164.
Franz Liszt – Musik in sozialer Verantwortung Volker Kalisch
Als Kant sich 1790 in seiner Kritik der Urteilskraft der Fundierung wahrnehmungsbasierter Erfahrungen und darauf beruhender Urteile zuwandte, verfolgte er gleichzeitig die Absicht, die Begründung der Ästhetik letztlich allein durch Rückführung auf menschliche Leistungen zu bewerkstelligen.1 Dem Schönen versuchte er dabei seine Bedeutung durch eine Abgrenzung vom bloß Angenehmen zu sichern. Und insofern rangierte Kant die Musik – er sprach von der Musik, meinte aber vor allem die Instrumentalmusik – unter die „bloß angenehmen Künste“, verdächtigte sie „mehr Genuß als Cultur“ zu sein, weil ihr das Wesentliche aller schönen Kunst fehle, nämlich jene Formbestimmtheit (§ 52), die, wenn überhaupt noch erkennbar, doch nur schwach oder ungenügend ausgeprägt sei (§ 53). Als das Produkt menschlichen Tuns, nämlich des Herstellens und Machens von „Werken“, zeuge Musik von einer dem Menschen eigentümlichen „Geschicklichkeit“, von einem mehr „praktischen“ denn „theoretischen Vermögen“ (§ 43), durch „lauter Empfindungen“, doch „ohne Begriffe“ „sprechen“ zu können (§ 53). Ähnlich des „Spielens“ als einer „Beschäftigung, die für sich selbst zweckmäßig“ sei – insofern auch „selbstbezweckt“ und „frei“ sein müsse (§ 43), liege der „Reiz“ der Musik darin, „daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinne desselben angemessen“ sei (§ 53) und der jetzt in Form gebracht dazu diene, „die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen … auszudrücken“ (§ 53). Mit solchen und weiteren Sätzen lenkte Kant die damalige ästhetische Debatte um die Musik weg von ihrer Wirkung und hin zur Betrachtung ihrer im Ton bzw. in der Verbindung zwischen Tönen verwirklichten Struktur. Er ebnete so einer dann mehr als 100 Jahre andauernden, leidenschaftlich geführten musikästhetischen Debatte den Boden, die letztlich in dem bewusst provokativ ausgebrachten Kernsatz von den „tönend bewegten Formen“ als dem einzigen und alleinigen „Inhalt und Gegenstand der Musik“ seine wohl griffigste Formulierung fand.2 1 2
Im Folgenden zitiert nach der im Reclam-Verlag, Leipzig o. J., von Karl Kehrbach besorgten Ausgabe. Zu Recht hat gerade Carl Dahlhaus auf die Unzulässigkeit des Kurzschlusses verwiesen, Kants und Hanslicks ästhetisches Denken „im gleichen Gedankenzuge“ miteinander in direkte Verbindung zu bringen. An deren nur anscheinend naheliegende Differenz sei hier von Anfang an erinnert; vgl. ders., Musikästhetik (= TB Nr. 255), Köln 1967, 50–51.
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Als Franz Liszt 1811 geboren wurde, konnte dieser Kant kaum kennen lernen, weil erstens Kant bereits tot war – Kant starb 1804 –, weil zweitens für Liszt kaum Grund und Anreiz bestanden, sich den nur schwer les- und noch schwerer verstehbaren Untersuchungen Kants auszusetzen, und weil drittens Liszt, was in gewisser Hinsicht zum außerordentlich literarisch fundierten 19. Jahrhundert konträr stand, von seiner Herkunft her nun nicht gerade über jene Bildung verfügte, die aber das literarisch basierte 19. Jahrhundert nun umgekehrt mit nahezu größter Selbstverständlichkeit voraussetzte. Zu lesen und sich mit der geistig-geistlichen Welt auseinanderzusetzen begann Liszt recht eigentlich erst in Frankreich, genauer in Paris, also zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, in den er mit seinem Vater im Alter von 12 Jahren übergesiedelt war, um erstens die durch die Großmutter erfahrene französische – was damals so viel hieß wie internationale – Erziehung zu vertiefen und zu verfeinern und um zweitens am bereits berühmten Pariser Conservatoire de Musique zu studieren, was aber wohl nicht den erwarteten Eindruck und diesen schon gar nicht prägend auf den jungen Liszt hinterließ. Stattdessen reisten die Liszts – und zwar so richtig tournée-mäßig –, mal nach England, dann nach Südfrankreich, wieder nach England und gleich noch einmal nach Südfrankreich, zwischendurch in die Schweiz; und von Auftritt zu Auftritt steigerte sich die gespendete Anerkennung schließlich zur enthusiastischen Bewunderung, und Liszt setzte schließlich zum Sprung an, jener Tastenlöwe zu werden, den auch die Nachwelt später so unbedingt in ihm sehen wollte. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Während der junge Liszt sich durch die Strapazen und Überforderungen seiner Reisen in Krankheit begab, um sich dann schon bald wieder auf den Weg der Genesung zu begeben, starb Liszts Vater unerwartet im August 1827. Das hatte für Franz mindestens zwei unangenehme Konsequenzen: zum einen musste er selbstständig Geld verdienen, was er als hochgeschätzter und fleißig umworbener Klavierlehrer in den höheren Pariser Gesellschaftskreisen leicht realisieren konnte, und zum zweiten zwang ihn die völlig veränderte äußere Situation, sich mit sich selbst zu beschäftigen – und das war denn schon weniger lustig. In einem offenen Brief an George Sand vom Januar 1837 schrieb Liszt rückblickend über diese seine Zeit und Erfahrungen: Später, als der Tod mir den Vater geraubt und ich allein nach Paris zurückgekehrt war und zu ahnen begann, was die Kunst werden könnte, was der Künstler werden müsste, war ich wie erdrückt von den Unmöglichkeiten, welche sich auf allen Seiten dem Wege entgegenstellten, den sich meine Gedanke vorgezeichnet hatte. Überdies nirgends ein sympathisches Wort des Gleichgesinntseins findend – nicht unter den Weltleuten und noch weniger unter den Künstlern, die in bequemer Gleichgültigkeit dahinschlummer-
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ten, die nichts von mir und nichts von den Zielen wussten, die ich mir gestellt, nichts von den Fähigkeiten, die mir zuertheilt waren – überkam mich ein bitterer Widerwille gegen die Kunst, wie ich sie vor mir sah: erniedrigt zum mehr oder minder einträglichen Handwerk, gestempelt zur Unterhaltungsquelle vornehmer Gesellschaft. Ich hätte alles in der Welt lieber sein mögen als Musiker im Solde großer Herren, patronisirt und bezahlt von ihnen wie ein Jongleur oder wie der weise Hund Munito. Friede seinem Gedächtnisse! (II, 127 f.)3
Dass Liszt sein erstes Problem schließlich recht gut bewältigt hat, daran hegt heute niemand Zweifel und dafür steht seine bunt schillernde, gewiss nicht von Rückschlägen und insbesondere von komplizierten Affären freie, letztlich aber doch „Erfolgsbiografie“ ein. Ich möchte sie hier nicht weiter rekapitulieren und ausbreiten, ist sie doch hinlänglich bekannt, zumal aus dem Blickwinkel des Maßstab setzenden Pianisten und späteren Ziehvaters ganzer Schülergenerationen. Dieses Liszt-Bild legt jedenfalls die Mehrheit der ihm geltenden biografischen Darstellungen des späteren 19. und noch gut 2/3 des 20. Jahrhunderts zugrunde. An diesen Faden anknüpfend war die darauf aufbauende Lisztrezeption jedenfalls schon bald darum bemüht, nicht nur die einzelnen Rezeptionsschubladen zu zimmern, sondern sie darüber hinaus zu ordnen und sie in eine gerichtete Abfolge zu bringen: Der Werdegang Liszts führe von komplizierter Brillanz zu introvertierter Einfachheit, die ein Publikum zu erübrigen scheint, umspanne also den virtuos-brillanten frühen Stil, der nach äußerem Glanz strebe, und ziehe sich schließlich in den asketischen, aus heutiger Sicht zukunftsweisenden Spätstil zurück. Wenn Liszts kompositorischer Ertrag insbesondere für das Klavier auch Extreme durchmessen habe, so erweise sich wenigstens die Publikumsreaktion darauf als relativ konstant, nämlich als polarisiert, von grellen Wechselchören mit „Hosianna“- und „Kreuzige ihn“-Rufen begleitet. Dabei fällt ein merkwürdiger Missstand auf. Denn Liszts pianistisches Vermächtnis ist im Vergleich zur euphorischen Ausgangs- und dann tatsächlich erfolgten Rezeptionslage heute erstaunlich nur arg ausschnitthaft bekannt; und das, wo sich doch sozusagen für alle pianistischen Lebenslagen, Anlässe und Auftritte die „passenden“ Kompositionen wiederfinden
3
Zitiert nach Franz Liszt, insbesondere Artikelserie Zur Stellung des Künstlers. Sechs Artikel (1835) sowie Über zukünftige Kirchenmusik. Ein Fragment (1834), in: ders., Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst (= Gesammelte Schriften II). Leipzig 1881. Reprint: Hildesheim, New York und Wiesbaden 1978, 1–54 bzw. 55–57 sowie ders., Berlioz und seine „Harold-Symphonie“ (1855), in: ders., Aus den Annalen des Fortschritts. Konzertund kammermusikalische Essays (= Gesammelte Schriften IV). Leipzig 1882. Reprint Hildesheim, New York und Wiesbaden 1978, 1–102; diese und alle weiteren Liszt-Quellen werden jeweils unter Band- und Seitenangabe der alten Gesamtausgabe zitiert.
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lassen, welche gerade gebraucht und „mit gutem Effekt“ vorgetragen werden könnten – atemberaubend virtuose Stücke, doch gegenläufig sogleich wieder als oberflächlich-theatralisch eingestuft; einschmeichelnd-gefühlvolle Überraschungswerke, denen schnell ihre auf hoch vollendeter Technik basierende Fähigkeit zur Blendung angekreidet wird; ausgesparte, andeutungshaft-zurückgenommene Klangumrisse, deren allerdings experimenteller Charakter auch schon irritiert hat; poetische Tongebilde voll lyrischer Anmut, die angeblich aber zu sehr an ihrem tief schürfenden Wollen von beinahe philosophischer Tiefe litten; unzählige Fantasien, Paraphrasen, Transkriptionen, Bearbeitungen usw. für das Klavier, in denen man aber so etwas wie ein sicheres Anzeichen für den Mangel an eigenen Einfällen erkennen wollte. Leitete Liszt dabei zunächst die Absicht, die als bedeutend erkannten Werke einem größeren Publikumskreis bekannt zu machen, so spielte dann gewiss auch der Wunsch mit, die von ihm selbst erweiterten klang- und spieltechnischen Möglichkeiten auf dem Klavier für eine schlagende Darbietung „älterer Werke“ zu nutzen, deren wie die eigene Wirksamkeit zu erhöhen. So widersprüchlich sich die Liszt-Rezeption im Ganzen darstellt, so durchgängig lässt sie sich auf einen Faden fädeln, nämlich auf der Überzeugung, es ließen sich die am Klaviervirtuosen herausgebildeten Urteilsklischees auch gleichzeitig und gewissermaßen 1:1 zur Kennzeichnung auf den Komponisten Franz Liszt übertragen. Doch will ich erst noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehren, um mich dann verstärkt mit dem Komponisten Liszt zu beschäftigen. Ich war bei Liszts Situation in Paris um 1827 stehen geblieben. Als ein „Phänomen“ selbst aus der Schar der gut aufgestellten Pianisten und Pianistinnen des 19. Jahrhunderts auf den Konzertpodien Europas ließe sich Franz Liszt unstrittig noch einmal heraus- und abheben. So wollte etwa die ihn gleichermaßen begleitende wie ihm vorauseilende, geradezu ekstatische Begeisterung des Publikums keine Grenzen kennen. Diesem Bild steht gewissermaßen so ganz die als zweite Konsequenz angesprochene, und mit Liszt selbst belegte depressive Sinnkrise entgegen. Die Introversion sollte folgen… Und sie folgte in Gestalt jenes Heilsmittels, zu dem jemand griff, der es als ein Star des Pariser Salonpublikums gewohnt war, in besseren Kreisen zu verkehren und von ihnen hofiert zu werden, obschon und gerade weil er vielleicht noch nicht einmal bildungsmäßig zu ihnen gehörte. Franz Liszt begann zu lesen und sich dadurch neue gesellschaftliche Wirkungsmöglichkeiten und -kreise zu suchen. So begann Liszt mit den in Paris der Zeit üppig vertretenen Schriftstellern und Intellektuellen zu „verkehren“ (Hugo, Balzac, Heine, George Sand, Musset, Gautier, Dumas, Sainte-Beuve, Lamartine, Lamennais), lernte in
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diesen Jahren Paganini, Chopin, Rossini, Bellini, Meyerbeer, Berlioz und die Maler Delacroix und Ingres kennen und näherte sich den Zirkeln der sozial-religiösen Lehren z. B. eines Saint-Simons. Liszt wandte sich – mit anderen Worten – von den adligen Salons ab und richtet sich neu auf die bürgerliche Intelligenz, deren Sichtweisen, politisch-kulturellen Deutungen und Werte aus. Die genannten Personen waren alles andere als beliebig austauschbare Abenteurer, auch wenn mit Blick auf den Grafen Saint-Simon nun auf diesen die Bezeichnung am ehesten zuträfe. Platz und Blickwinkel verbieten es mir freilich, auf Saint-Simon näher einzugehen, nur diese wenigen Bemerkungen zur groben Charakterisierung. 1760 in Paris geboren und 1825 dort gestorben, war Saint-Simon gewissermaßen ein „Schüler“ d’Alemberts. Um 1800 fing Saint-Simon an, seine – nennen wir sie mal – sozialkritischen Ansichten zu publizieren. Unter dem Eindruck der sich bereits abzeichnenden industriellen Revolution, beabsichtigte er die Gesellschaft neu zu organisieren. 1820 erschien sein großes Werk L’Organisateur, in dem er eine Lanze brach für eine mit dem späteren Marxismus allerdings nur sehr bedingt verwandte einheitlich planende Wirtschaftslenkung. Interessant für seine Zeit wie dann auch für Liszt wurde der Aspekt, die von ihm in Umrissen erkannte industrielle Arbeiterfrage in einer klassenlosen Gesellschaft zu lösen. Den Weg dorthin sah allerdings Saint-Simon im Unterschied etwa später zu Marx im Beschreiten einer sittlich-religiösen Erneuerung, die zwar Eigentum akzeptiert, Kapital und Arbeit hingegen sozialethisch rückbindet. Saint-Simon zählt zum Kreis der Gründungsväter der Sozialwissenschaften, prägte er doch den Begriff von der science politique. Und ersetzt man den Begriff politique durch sociologie, dann gelangt man gleichsam fließend zu den Hauptgedanken seines „Schülers“ und Freundes Auguste Comte. Saint-Simon vertrat u.a. solche Thesen wie: Wissenschaft dürfe nicht mit Kunst verwechselt werden, die Wissenschaften müssten wegen ihrer beständig zunehmenden Wissensakkumulation einerseits und Erkenntnisdifferenzierung andererseits sorgfältig klassifiziert und – heute würde man sagen: – untereinander „vernetzt“ werden. Die jüngste Wissenschaft, die science politique, müsse dabei an der Spitze stehen und ihr käme so etwas wie eine Leitungs- und Bündelungsfunktion zu. Der Beförderung und Durchsetzung des Fortschritts wäre die neue Wissensorganisation verschrieben und so stünde sie als eine Art Geburtshelferin an der Wiege einer neuen Gesellschaft, die als eine neu zu gründende Gemeinschaft die Entwicklungsphasen des theologischen, metaphysischen und schließlich „positiven“ Zeitalters zu durchlaufen hätte. Dies zu erreichen bedürfe es einer neuen wirtschaftlich-technischen Organisation, eines neuen politischen Systems und eines auf brüderlicher – heute freilich auch geschwister-
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licher – Grundlage geeinten Europas. Dieses politische Programm fasste Saint-Simon 1825 in seiner Schrift Le Nouveau Christianisme zusammen.4 Liszt hat freilich Saint-Simon nicht mehr persönlich kennen lernen können, ist ihm damit auch nicht jener charismatischen Faszination erlegen, die ihm nachgesagt wurde. Gleichwohl pflegte Liszt Kontakt zu den sich immer mehr sektenähnlich zusammenschließenden Saint-Simonisten, bald schon unter der Führung des nicht minder opaken neuen Führers „Père“ d’Enfantin. Selbst aus heutiger Sicht gewiss noch bemerkenswert, wandte sich z. B. „Père“ d’Enfantin gegen die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau und die Herabsetzung alles Körperlichen durch das Christentum und forderte nicht nur die Gleichstellung der Frau in jeglicher Hinsicht, sondern auch die Anerkennung eheähnlicher Verbindungen ohne den Segen der Kirche.5 Entsprechungen und Überschneidungen zwischen den Theorien der Saint-Simonisten, den Programmen anderer oppositioneller und so genannter frühsozialistischer Gruppen und Ideen einzelner Persönlichkeiten sind zahlreich.6 Liszt hat mit vielen von ihnen in Verbindung gestanden. Der folgende Text von 1834 etwa, einer der frühesten Textpublikationen von Liszt überhaupt, belegt beispielhaft die saint-simonistische Verknüpfung religiöser und politischer Motive, die für Liszts Denken über Musik und Gesellschaft zu dieser Zeit bestimmend war und durch alle Wandlungen und Änderungen hindurch auch in späteren Jahren fortwirkte. Er erschien unter dem Titel Über zukünftige Kirchenmusik und adressierte gleichwohl eine Musik, die sich jedenfalls von der Institution Kirche lossagte: […] Wir meinen eine Erneuerung der „religiösen Musik“. Zwar bezeichnet man mit diesem Ausdruck gewöhnlich nur diejenige Musik, die in der Kirche während der Feier des Gottesdienstes aufgeführt wird, doch verwende ich ihn hier in seiner weitesten Bedeutung. […] Heute, da der Altar bröckelt und schwankt, heute, da Kanzel und religiöse Zeremonien den Stoff für Zweifel und Spott abgeben, muß die Kunst notgedrungen aus dem Tempel heraustreten, sie muß sich ausdehnen und draußen weiträumig entfalten. 4
5
6
Vgl. Helmut Schoeck, Geschichte der Soziologie. Ursprung und Aufstieg der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Freiburg i. Br. 1974 (gekürzte und bearbeitete Neufassung), 155–156; auch Saint-Simon, Ausgewählte Texte. Mit einem Vorwort, Kommentaren und Anmerkungen von Jean Dautry. Berlin 1957. Vgl. hierzu Thomas Kabisch, Konservativ gegen Neudeutsch, oder: Was heißt „außermusikalisch“?, in: Funkkolleg Musikgeschichte: Europäische Musik vom 12.–20. Jahrhundert. Studienbegleitbrief 8. Hg. Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen. Weinheim-Basel und Mainz 1988, Bd. 19, 55–109, hier 80. Die wohl umfassendste Aufarbeitung des saint-simonistischen Einflusses auf die Kunstund insbesondere Musikszene des 19. Jahrhunderts hat bisher, soweit ich sehe, Ralph P. Locke geleistet in Music, Musicians and the Saint-Simonians. Chicago und London 1985. Auf diese umfassende, an Material reiche Studie sei hier mit Nachdruck verwiesen.
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Wie einst, ja mehr noch, muß die Musik nach dem Volke fragen und nach Gott; sie muß zwischen dem einen und dem anderen vermitteln; den Menschen bessern, veredeln, trösten, Gott preisen und verherrlichen. Zu diesem Zweck jedoch steht uns die Schöpfung einer „neuen Musik“ bevor, die wesentlich religiös, stark und tätig ist; diese Musik, die wir mangels einer anderen Bezeichnung die „menschheitliche“ (musique „humanitaire“) nennen wollen, wird Theater und Kirche in kolossalen Ausmaßen in sich vereinigen. Sie wird gleichzeitig dramatisch sein und heilig, prachtvoll und schlicht, pathetisch und ernst, feurig und zerzaust, stürmisch und ruhig, heiter und zärtlich. […] Möge doch ein glorreiches Zeitalter anbrechen, wo die Kunst sich vollendet und entwickelt unter all ihren Erscheinungsformen zugleich und sich auf den höchsten Punkt erhebt, indem sie die Menschen in hinreißenden Wunderwerken brüderlich eint. Möge doch die Zeit kommen, da die Inspiration für den Künstler nicht mehr jenes bittere, flüchtige Wasser ist, das er nach langem Wühlen im unfruchtbaren Sande nur mit Mühe findet, sondern sie sich ergießt als eine unerschöpfliche, Leben spendende Quelle. Möge doch, oh möge die Stunde der Befreiung schlagen, wo Dichter und Musiker nicht mehr sagen werden: das Publikum, sondern: das Volk und Gott!7
Der Text ist vom ersten Satz bis zum Schlussmotto bestimmt durch die Referenzparameter Volk und Gott, die als die einzig beständigen und verlässlichen Instanzen in einer Periode allgemeiner Unruhe und Verwirrung erscheinen und zugleich die Pole sind, auf die alle Überlegungen, die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft und der Kunst betreffend, gerichtet sein sollen. Die Rolle des Künstlers als Priester, als Mittler zwischen Volk und Gott, ist hier klar ausgesprochen. „Kurz, allein der Künstler ist durch seine sympathische Kraft, die es ihm ermöglicht, Gott und die Gesellschaft zu umfassen, würdig, die Menschheit zu führen“, formulierte Emile Barrault, der Chef-Ästhetiker der Saint-Simonisten, um das Jahr 1929.8 Mit dem Begriff „musique humanitaire” fasst Liszt seine Idee der Kunst als einer „einigenden Kraft“ zusammen. Die Andeutungen, die der Text über Art und Gattungen der neuen Musik macht, nehmen Vorstellungen auf, die tatsächlich bei den Saint-Simonisten zirkulierten. Zunächst einmal die Überzeugung, Musik sei im wesentlichen Botschaft und habe von sich aus alle Anstrengungen zu unternehmen, die zwei umfassendsten Instanzen Volk und Gott anzusprechen und im Anspruch miteinander zu verknüpfen. Ein führendes Mitglied der Saint-Simonisten, Rodrigues, forderte für das neue religiöse Zeitalter zwei Arten von Musik: [1.] eine neue „Marseillaise“ und andere einfache, aber kunstvolle Gesänge, [2.] große komplexe Werke, die Rossini und Beethoven noch überträfen und, wie Barrault hin7
8
Unter Zugrundelegung der genauen Neuübersetzung vom Französischen ins Deutsche durch Kabisch, Konservativ gegen Neudeutsch (wie Anm. 5), 81–82; vgl. hierzu auch Wolfgang Dömling, Volk und Gott: Musique humanitaire, in: ders., Franz Liszt und seine Zeit (Große Komponisten und ihre Zeit). Laaber 1985, 79–87. Nach Kabisch, Konservativ gegen Neudeutsch (wie Anm. 5), 82.
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zufügte, „die Musik mit Bühnenaktion, Deklamation und Tanz vereinen“9. Und damit solche geforderte Bündelung wie Konzentration aller künstlerischer Anstrengungen überhaupt gelingen könnte, dachte Liszt erst gar nicht versteckt im Taschenformat nach, sondern verlangte ganz unverhohlen im Sinne von Saint-Simons L’Organisateur gleich nach entsprechenden Organisationsformen und Zusammenschlüsse auf Welt-Niveau …10 9 Nach Kabisch, Konservativ gegen Neudeutsch (wie Anm. 5), 82. 10 Es sei nur auf die letzten Seiten seiner Artikelserie Zur Stellung des Künstlers (1835) verwiesen, wo Liszt programmatisch entwickelt (II, 53 f.): „…Um uns übrigens den Vorwurf zu ersparen, diese Worte willkürlich und in einem undeutlichen, unbestimmten Sinne gebraucht zu haben, um außerdem noch die allgemeinen Sympathien, welche die ununterbrochene Wechselbeziehung zwischen dem Fortschritt der Kunst und dem moralischen und intellektuellen Fortschritt der Künstler täglich nur erhöht und anregt, zu einem ergiebigen Resultat zu führen, um endlich nach Kräften die Verwirklichung dieser von allen geahnten, von allen ersehnten Zukunft zu fördern, so fordern wir alle Musiker, alle diejenigen, welche ein weites und tiefes Kunstgefühl besitzen, auf: ein Band der Gemeinschaft, der Verbrüderung, ein heiliges Band zu knüpfen, einen allgemeinen Weltverband zu begründen, dessen Aufgabe darin bestehe: 1. die emporstrebende Bewegung und die unbeschränkte Entwickelung der Musik hervorzurufen, zu ermutigen und zu betätigen; 2. die Stellung der Künstler zu heben und zu adeln durch Abschaffung der Mißbräuche und Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt sind, und die notwendigen Maßregeln im Interesse ihrer Würde zu treffen. Im Namen aller Künstler, der Kunst und des socialen Fortschritts fordern wir: a) die Gründung einer alle fünf Jahre abzuhaltenden Versammlung für religiöse, dramatische und symphonische Musik, durch welche die bestbefundenen Werke dieser drei Gattungen einen Monat lang im Louvre feierlichst aufgeführt und hierauf von der Regierung erworben und auf deren Kosten veröffentlicht werden sollen – mit anderen Worten: die Gründung eines neuen, eines musikalischen Museums; b) die Einführung des Musikunterrichts in die Volksschulen, seine Verbreitung in andere Schulen und bei dieser Gelegenheit das Inslebenrufen einer neuen Kirchenmusik; c) die Wiederherstellung der Kapelle und die Verbesserung des Chorgesanges in allen Pariser Kirchen und in denen der Provinz; d) Generalversammlungen der philharmonischen Gesellschaften nach Art der großen Musikfeste Englands und Deutschlands; e) ein lyrisches Theater, Koncerte, Kammermusikaufführungen, organisiert nach dem im vorigen Artikel über das Konservatorium entworfenen Plan; f) eine Fortschrittsschule für Musik, gegründet außerhalb des Konservatoriums, geleitet von den hervorragendsten Künstlern – eine Schule, deren Verzweigungen sich auf alle Hauptstädte der Provinz erstrecken müßten; g) einen Lehrstuhl für Musikgeschichte und Philosophie; h) eine wohlfeile Ausgabe der bedeutendsten Werke alter und neuer Komponisten seit der Renaissance der Musik bis auf unsere Zeit. Diese Veröffentlichung, welche die Entwickelung der Kunst in allmählicher und geschichtlicher Reihenfolge vom Volksliede bis zur Chor-Symphonie von Beethoven im Großen und Ganzen umfassen müßte, könnte den Titel: ,Pantheon der Musik‘ führen. Die sie begleitenden Biographien, Abhandlungen, Kommentare und erklärenden Beigaben würden eine wahre Encyklopädie der Musik bilden.“
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Wer nun glaubt, bei diesen Sätzen handele es sich um den weltfremden Ausrutscher eines knapp 23-Jährigen, sieht sich getäuscht. Tatsächlich hielt Liszt bis in die späten, die „reiferen“ Lebensjahren hinein den Idealen der 1830er Jahre die Treue.11 Doch selbst dann, wenn sich die Bedeutung saint-simonistischen Gedankenguts für Liszt musikkulturelles Denken nachweisen lässt, so ist damit noch in keinerlei Weise gezeigt, dass dieses auch Einfluss genommen hat auf sein musikästhetisch-kompositorisches Denken, und damit auf sein Komponieren. Was aber ist Liszts Komponieren – lässt es sich denn überhaupt mit wenigen Strichen fassen und charakterisieren, und gibt es darin so etwas wie ein Zentrum oder eine Mitte, aus der heraus sich Liszts musikalisches Denken insgesamt verstehen und rekonstruieren lässt? Ein Etikett dafür scheint schnell gefunden zu sein und scheint zumindest mehreren Rezeptionsgenerationen hindurch auch zur Erklärung und Verständigung ausgereicht zu haben. Die „Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verbindung mit der Dichtkunst“, das von Franz Liszt selbst formulierte Ideal, zugleich das Ideal eines – kurz genannt – „Programmmusikkonzepts“ scheint ins Zentrum seines musikalischres Denkens zu verweisen – die von Liszt selbst so genannten „sinfonischen Dichtungen“ wären dann deren repräsentatives Korrelat. Bekanntlich äußerte sich Liszt gelegentlich einer ins Zentrum gestellten musikästhetischen Reflexion (1855) auf die von Hector Berlioz komponierte Harold-Symphonie (1834) recht ausführlich und dezidiert zu dem, was er selbst später in Weimarer Zeit als „symphonische Dichtung“ komponieren und auch so benennen sollte. Um somit nachzuvollziehen, was Liszt unter „Programm“ überhaupt verstand, ist ein genauer Blick in diese längere Abhandlung notwendig, und dies umso mehr, weil eine schnelle Durchsicht das Verständnis eher verunklart und verstellt als es klärt und erhellt – denn Liszt liefert darin keine lexikalische „Programm“-Definition, sondern einen sich eher in konzentrischen Kreisen bewegenden Essay. 11 Dies belegen z. B. u. a. auch die Randbemerkungen in seinem Exemplar der Biographie von Lina Ramann, deren erster Band 1880 erscheint. Dort schreibt er an den Rand der betreffenden Buchseite (in deutscher Übersetzung): „les 2 maximes principales de St. Simon – Nouveau Christianisme – Toute les institutions sociales doivent avoir pour but l’amélioration morale et matérielle de la classe la plus nombreuse et la plus pauvre – Globe: à chacun selon sa capacité, à chaque capacité selon ses œuvres – L’oisiveté proscrite Felicien David St. Simon (Voyage en Orient).“ „Die zwei Hauptmaximen Saint-Simons – Neues Christentum – Alle sozialen Einrichtungen müssen die moralische und materielle Hebung der zahlreichsten und ärmsten Klasse zum Ziel haben – Grundsatz: Jedem nach seiner Fähigkeit; jeder Fähigkeit nach ihren Werken – Verbot des Müßiggangs – Felicien David Saint-Simon (Reise in den Orient)“. Als Faksimile mit Übertragung und Übersetzung wiedergegeben bei Hedwig Weilguny und Willy Handrick, Franz Liszt. Leipzig 1980 (6. Aufl.), Abb. 39 und 164–165.
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1. Beim „Programm” – und Liszt klärt sofort: „das der rein-instrumentalen Musik zugefügte Programm in Prosa und Versen“ (IV, 21) und wiederholt an anderer Stelle: „ein der rein-instrumentalen Musik in verständlicher Sprache beigefügtes Vorwort“ (IV, 21) – hat man es vor allem mit einem der wortlosen Instrumentalmusik beigesellten Worttext zu tun. Zweierlei Aspekte sind gleich ergänzend mitzudenken: a) zugefügt wird also jener „Instrumentalmusik“ etwas, von der auch Liszt zunächst durchaus gelten lässt, dass sie „die Spitze, die freieste und absoluteste Manifestation unserer Kunst“ sei (IV, 47), und b) mit Blick auf jenen kompositorischen Output, dessen Programmbezogenheit Liszt dann selbst in dem neuen Gattungsbegriff „symphonische Dichtung“ zusammenzieht, recht eigentlich Orchestermusik adressiert. Schwierigkeit: die Liste, der vor allem in Weimarer Zeit (1848–1861) entstandenen Orchesterwerke mit „Programmbezug“, weist durchaus auch solche auf, deren Verbindung auch zu Bildern oder zu anderer Musik (Oper) oder auch zu einem nicht mitgeteilten privaten Anlass besteht.12 Richtig also ist, dass Liszt selbst nicht so sehr an der Qualität „Text” im Wortsinne gelegen ist, als vielmehr, dass das „Programm“ selbst als ein Artefakt genommen wird, das sich einem musikalischen „beifügen“ lässt – „beifügen“ (!) wohlgemerkt, was nicht heißt, dass das Programm einen notwendig kausalen Bezug aufweist, also als „Programm“ sowohl die kompositorischen Entscheidungen im Einzelnen leitet als auch das dabei entstandene „Werk“ im Ganzen bedingt. 12 Wenn man von einer nachgeschaffenen, aus Liszts letzten Lebensjahren absieht, kennt Liszts Werkverzeichnis 12 Symphonische Dichtungen und zwei programmbezogene Symphonien, die alle in die weimarische Periode fallen und stark unter dem inspirierenden Einflusse der Fürstin von Sayn-Wittgenstein stehen: die nach Ce qu’on entend sur la montagne, einem Gedichte Victor Hugos komponierte sog. „Bergsymphonie“; der zur Feier des hundertsten Geburtstages Goethes entstandene Tasso; die im Programm den Lamartineschen „Méditations poetiques“ entnommenen Préludes; der durch eine Neueinstudierung von Glucks entsprechender Oper angeregte Orpheus; die zur Enthüllungsfeier des Herderdenkmals als Ouvertüre zu den Chören aus des Dichters dramatischen Szenen „Der entfesselte Prometheus“ geschaffene, eine Fuge enthaltende fünfte; der abermals nach einem Gedichte Victor Hugos komponierte Mazeppa; die programmlosen, in Hoffnung auf die in vorübergehendem Lichtblicke möglich erschienene Vermählung mit der Fürstin inspirierten Festklänge; die tragische, als Rest der jugendlichen Revolutionssymphonie verbliebene Héroïde funèbre; die durch ein Widmungsgedicht an Liszts „nationalen Genius“ angeregte, im übrigen programmlose, mit dem „Heroischen Marsch im ungarischen Stile“ in Zusammenhang stehende Hungaria; der mit dem berühmten Motto „To be or not to be“ versehene Hamlet; die durch Kaulbachs Gemälde angeregte Hunnenschlacht; die nach Schillers bekanntem Gedichte komponierten Ideale sowie 13. die nach einem Gemälde von Michael Zichy „nachgelegte“ symphonische Dichtung Von der Wiege bis zum Grabe. Vgl. Bruno Schrader, Franz Liszt. Berlin 1917, 70.
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2. Gleichwohl, so klärt Liszt ausdrücklich, hat man sich dieses „Zu-“ oder „Beifügen“ nicht als ganz so beliebig oder etwa willkürlich vorzustellen, wie das die lockere Benennung suggerieren könnte. Mit dem geradezu mahnenden Hinweis, sich bitteschön „stets daran erinnern“ zu wollen, betont Liszt, dass sich die „Hinzu-“ oder „Beifügung“ von „Programm oder Titel“ nur dann rechtfertigen lassen, „wenn sie eine poetische Nothwendigkeit, ein unablösbarer Teil des Ganzen und zu seinem Verständnis unentbehrlich sind!“ Und er wehrt sogleich ab: Dies sei nicht der Fall, „wenn sie nur als eine Verzierung, als ein äußerlicher Schmuck, als eine Lockpfeife des Herausgebers“ figurierten, „wenn sie nur den Firnis für ein Bild sind, daß sich in allem übrigen, in seinem Inhalt und in seiner Anlage, weder durch poetische Auffassung noch durch künstlerische Gruppirung, weder durch seine Schönheitslinien noch durch die Wahrheit seines Kolorits“ auszeichneten (IV, 27 f.). Schwierigkeit: Als etwas Beigefügtes solle ein „Programm“ sich als „unablösbarer Teil des Ganzen“ erweisen, stellt somit also die beschworene „Freiheit“ der „Instrumentalmusik“ in Frage, jedoch offenbar nach Maßgabe „poetischer Nothwendigkeit“, ohne deshalb in ein gerade zurückgewiesenes Kausalitätsverhältnis rückzufallen. Somit also ist auch die vermeintliche Gleichung falsch, die da formelhaft verstehen will: „Programm“ + „Instrumentalmusik“ = „symphonische Dichtung“, denn das wäre zwar „ein Ganzes“, aber eben nicht nach Maßgabe „poetischer Nothwendigkeit“, das seine Wirksamkeit in einem analogischen Verhältnis sucht. 3. Es kommt also ganz offensichtlich darauf an, sich ein rechtes Verständnis von Liszts Vorstellung der „poetischen Nothwendigkeit“ zu verschaffen. An diesem Punkt kann es nicht ausbleiben, nach dem Sinn des Unterfangens im Ganzen zu fragen. Und Liszt antwortet darauf: „Das Programm bezweckt nichts anderes als auf die geistigen Momente, welche den Komponisten zum Schaffen seines Werkes trieben, auf die Gedanken, welche er durch dasselbe zu verkörpern suchte, vorbereitend hinzudeuten.“ (IV, 50) Die „ geistigen Momente“, die Liszt hier im Blick hat, aber sind jene, die dem eigentlichen kompositorischen Akt „vorgelagert“ sind, also gleichsam die ideellen Vorbedingungen des schöpferisch-kompositorischen Akts ins Spiel bringen. Das „Programm“ wäre somit die Thematisierung des eigentlich vorschöpferischen Akts, und griffe somit auf etwas mit seinen Verweismitteln zurück, das das Komponieren umgekehrt nun als den eigentlichen schöpferischen Akt „verkörpert“. Die gerade aufgestellte Gleichung „Programm“ + „Instrumentalmusik“ liefe somit nicht eigentlich im musikalisch „verkörperten“ Ergebnis = „symphonische Dichtung“ zusam-
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men, sondern in der dem schöpferischen Akt vorgelagerten „Idee“. Und konsequent macht Liszt von dieser Prämisse Gebrauch, wenn er deshalb erneut in Sachen der Berliozschen Harold-Symphonie klärt: „Da für Berlioz die – [und ich füge hinzu: speziellere, nach musikalischer Konkretisierung strebende] – musikalische Idee nur der adäquate Ausdruck eines – [und ich füge hinzu: allgemeineren, umfassenderen] – poetischen Gedankens ist, so sind seine Programme, trotzdem sie im ersten Moment vielleicht zu ausführlich erscheinen mögen, doch weit davon entfernt, eine Erklärung aller der Gefühlsvorgänge zu enthalten, welche er dem instrumentalen Idiom anvertraut.“ (IV, 94) – eben, weil sie nur andere Rückverweise sind in jene dem Werk vorausgehende vorschöpferische „Idee“. Schwierigkeit: Wie aber verhalten sich dann die durch den schöpferischen Akt des Komponierens vermittelten vor-geordneten „ästhetischen Idee“ zum kompositorisch realisierten Werk? Oder präziser mit Liszts eigenen Worten gefragt: realisieren sie sich überhaupt als „harmonische Vereinigung“ oder „widerspruchsvolle Verbindung“? (IV, 35) Und hier sprengt Liszt mit der Wucht seiner Programm-Ästhetik das um eigene ästhetische Legitimierung ringende Konzept einer „reinen, absoluten Musik“ und liefert den Auftakt zu einer zwischen ihm und dem Musikästhetiker Eduard Hanslick und missgünstigen Trittbrettfahrern, nur reproduzierenden Adepten, selbst berufenen Vermittlern und der die Suppe am Köcheln haltenden Neuinterpreten heftig ausgetragenen, im Grunde die musikästhetischen Positionen des 19. Jahrhunderts versammelnden, langwierigen Polemik. 4. Liszt ist sich des Kerns des Berlioz nur vorschiebenden ästhetischen Disputs voll und ganz bewußt. Wo aber liegt der Knackpunkt?: „… nicht [die Berliozsche, V. K.] ungewöhnliche Behandlung der Form ist der unverzeihlichste Fehler, den sie [nämlich die Gegner von Berlioz und seiner Musikästhetik; V. K.] Berlioz vorwerfen — ihr gegenüber werden sie vielleicht sogar zugeben, daß er durch neue Wendungen der Kunst einen Dienst erwiesen hat —, sondern, was sie ihm nie verzeihen werden, ist, daß ihm die Form nur eine dem Inhalt nachstehende Wichtigkeit hat, daß er nicht, wie sie, die Form um der Form willen pflegt, [sondern; V. K.] daß er zugleich Denker und Dichter ist.“ (IV, 61) – In der Tat bringt diese Einsicht Liszts den Sachverhalt auf den Punkt! Denn die nach dem Verhältnis lotende Frage zwischen dem schöpferischen Akt des Komponierens einerseits und der vor-geordneten „ästhetischen Idee“ andererseits fördert hier eindeutig zu Tage: im Akt der komponierenden Verwirklichung ist es die vorschöpferische Idee, die letztlich die komponierte Gestalt bestimmt –
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nein, nicht etwa „nur“ die Verwendung der gewählten kompositorischen Mittel, des einen Kunstgriffs hier und der anderen netten, vielleicht sogar satztechnischen oder klanglichen Neuerung dort, sondern hinsichtlich der „Form“! Somit ist also mindestens zweierlei ausgesagt: a) es sei die Idee, die letztlich die Form bestimmt, und es sei sie b) gerade als etwas Vorkompositorisches und damit Außermusikalisches, die etwas zutiefst Musikalisches, nämlich die durch und in Komposition verwirklichte Erscheinungsweise ihrer selbst in der „Form“ lenkt. Schwierigkeit: Was aber daran ist so aufregend? Hier holt uns der ganz zu Beginn meiner Ausführungen vorangestellte Hinweis auf Immanuel Kant wieder ein: so Kant Ästhetik-relevanten Zeitgeist eingefangen und in seiner Kritik der Urteilskraft zur Einsicht philosophierend verdichtet hat, so war die Botschaft doch die, die besagt, in der Kunst und erst recht in der Musik sei es Aufgabe des Schöpferischen – Kant spricht auch von „genialischem“ „Tun“ –, sich gleichsam – um wiederum mit Hanslick zu kokettieren – in „geistfähigem Material“ einzurichten und zwar so, dass sich aus diesem verwirklichenden „Tun“ letztlich auch die zur „Cultur“, und nicht nur zum „Genuß“ fähige „Form“ ergibt. Kant sprach also nicht einer außerkünstlerischen Idee das Vermögen zur Kunstbildung zu, was allerdings umgekehrt der Kantschen Denkrichtung auch nicht widerspricht. In der Nachfolge Kants allerdings, in der freilich auch der belesene Hanslick steht, wurde aus dieser Nicht-Erwähnung dann ein exklusives Ästhetik-Dogma und vor allem die Vorstellung entwickelt, die „Form“, vielmehr ihr Prinzip, sei das Vor-Geordnete, die sich gefäßartig anböte, um in sie halt irgendeinen nicht weiter zu problematisierenden, gar außermusikalisch wieder zu erkennenden oder sogar benennbaren Inhalt einzufüllen. Liszt nennt es treffend: „die Form um der Form willen pflegen“ und stichelt freilich polemisch, indem er noch eins drauf gibt, indem er jene, die solches tun, jedenfalls nicht den Status von „Denkern und Dichtern“ zubilligt, somit die sich ohnehin emphatisch beständig selbst überhöhenden „Künstler“ auf die Ebene der „Handwerker“ herunterholt. Liszts Programmmusik-Ästhetik war und ist also nichts weniger als ein Politikum, die gegen eine andere, konkurrierende Ästhetik anspielt, auch und gerade dann, wenn es zunächst gar nicht politisch danach aussieht.13 13 Inwieweit Liszt tatsächlich gezielt gegen Hanslicks zentrale Streitschrift anschreibt weist nicht zuletzt Detlef Altenburg nach. Vgl. Detlef Altenburg, Vom poetisch Schönen. Franz Liszts Auseinandersetzung mit der Musikästhetik Eduard Hanslicks, in: Ars Musica – Musica scientia. Festschrift Heinrich Hüschen zum fünfundsechzigsten Geburtstag am 2. März 1980 überreicht von Freunden, Kollegen und Schülern. Hg. Detlef Altenburg. Köln 1980, 1–9.
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5. leitet Liszt mit seiner sich alternativ anbietenden Musikästhetik etwas wirklich Neues, Unmögliches, Unerhörtes ein? Ist sie gar der Grabgesang auf alle sich bis dahin in die Autonomie entwickelt habende „freie“ „Instrumentalmusik“, ist sie etwa der Anlass, die Musikgeschichte neu zu schreiben? „Die im Programm enthaltene poetische Lösung der Instrumentalmusik“, schreibt Liszt an zentraler Stelle, „erscheint in unseren Augen mehr als ein von den mannigfachen dieser Kunst noch bevorstehenden Fortschritten bedingtes Ergebnis unserer Zeitentwickelung, denn als ein Symptom ihrer Erschöpfung und Entartung. Es ist unmöglich, anzunehmen, daß sie schon jetzt gezwungen wäre, sich subtilen Kunstgriffen und Verirrungen des Raffinements hinzugeben, um, nachdem sie alle ihre Hilfsquellen erschöpft, alle ihre Mittel verbraucht hat, die Ohnmacht alternder Tage zu verdecken. Wenn bis dahin ungekannte Formen erstehen und durch den Zauber, welchen sie in sich tragen und ausüben, bei denkenden Künstlern und bei dem Publikum Eingang gewinnen, so daß erstere sich ihrer bedienen, letzteres sie aufnimmt, ist es schwer, anticipierend ihre Vortheile und Mißstände so erschöpfend darzulegen, daß sich aus beiden ein Facit ziehen ließe und die Aussichten auf ihre Dauer, sowie die Art ihres Einflusses festgestellt werden könnte. Nichts desto weniger würde es kleinlich und engherzig sein, wenn man sich enthalten wollte auf ihren Ursprung, ihre Bedeutung, ihre Tragweite und ihre Zielpunkte einzugehen, wenn man den Werken des Genies mit einer Geringschätzung begegnen würde, deren man sich vielleicht später zu schämen hat, wenn man einer Erweiterung des Kunstgebietes die schuldige Anerkennung nicht allein versagen, sondern im Gegentheil sie ohne weiteres als Auswuchs einer Verfallsepoche bezeichnen wollte“. (IV, 44) Liszt stellt sich freilich sein von ihm vertretenes (musik-)ästhetisches Denken kaum anders dar als die konsequente Schlussfolgerung aus den sie hervortreibenden Rahmenbedingungen. In der „Ouvertüre“ und nicht in der außermusikalische Sachverhalte illustrierenden Darstellungsmusik früherer Zeiten erblickt Liszt übrigens den unmittelbaren Vorläufer dessen, was musikalisch anzustreben ihm „Programm“ ist. (IV, 23) Ein gänzliches Missverstehen wäre es, in Liszts Programmintention ein irgend geartetes konkretes Abbildverhalten außermusikalischer Sachverhalte mit musikalischen Mitteln vermuten zu wollen, so falsch sogar, dass sich Liszt offenbar selbst dagegen wehrt, nur eine wie auch immer geartete geschichtliche Verbindungslinie zwischen den beiden „Programmmusiken“ ziehen zu wollen. Vielmehr wird die geschichtliche Situation aller, insbesondere aber der Programmmusik in Liszts Sinne durch eine ganz andere Tatsache bestimmt, nämlich dadurch, dass es da jenseits aller vielleicht spitzfindig erscheinender musikästhetischer Debatten in der ge-
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sellschaftlichen Wirklichkeit ein Publikum gibt, das am zeitgenössischen Musikgeschehen mit eigenem Recht zu partizipieren beansprucht. Denn bei allem, was ich bisher an Liszts Programmdenken hinsichtlich Begriff, ästhetischer Funktion, Intention, Bedeutung und seiner Geschichtlichkeit aufgeblättert habe, so ist ein Fragezusammenhang noch gar nicht berührt worden: nämlich der – leicht adornianisch gefärbt – nach der „gesellschaftlichen Relevanz“? Und auch wenn diese Dimension innerhalb der breit geführten Diskussion um das richtige ästhetische Verständnis des lisztschen Ansatzes eher an den Rand gedrängt und übergangen wurde, so ist doch gerade diese fast unüberlesbar präsent. Also, kurz gefragt: wo liegen praktischer Nutzen oder Zweck des „Programms“? Gleich im Auftakt zur ästhetischen Programmerörterung – und ich kehre zum zitierten Ausgangspunkt zurück! – legt Liszt auseinander: Das „Programm” – also irgendein der rein-instrumentalen Musik in verständlicher Sprache beigefügtes Vorwort, mit welchem der Komponist bezweckt, die Zuhörer gegenüber seinem Werke vor der Willkür poetischer Auslegung zu bewahren und die Aufmerksamkeit im Voraus auf die poetische Idee des Ganzen, auf einen besonderen Punkt desselben hinzulenken – ist so wenig von Berlioz erfunden wie von Beethoven und von Beethoven so wenig wie von Haydn, vor dessen Periode wir ihm schon begegnen. (IV, 21)
Mich interessiert in diesem Zusammenhang jetzt der Hinweis darauf, dass das Programm dazu dienen solle, „die Zuhörer gegenüber [d]em Werke vor der Willkür poetischer Auslegung zu bewahren und die Aufmerksamkeit im Voraus auf die poetische Idee des Ganzen […] hinzulenken“. Das Programm soll also einem kommunikativ-explikatorischen Brückenschlag zum Publikum dienen, dadurch dass es die von uns ja bereits in ihrer Bedeutung, Funktion und Stellenwert erfasste vorschöpferische Idee begehbar machen soll. So das Verhältnis zwischen vorschöpferischer Idee und der durch Komposition realisierten konkreten Werkgestalt kein zufälliges ist, kann und darf es Liszt auch kaum gleichgültig sein, ob die in und durch ein konkretes Musikstück hindurchwirkende Idee auch erfasst wird oder ob sie eventuell beliebig assoziativ und damit austauschbar an ein konkretes Musikstück herangetragen wird. Schnell ergäbe sich das Missverständnis, dieses konkrete Musikwerk wolle illustrierend-narrativ einen halt außermusikalischen Sachverhalt abbilden. Seine Musik will aber die „Verkörperung“ von allgemeineren, umfassenderen „poetischen Gedanken“ in der Gestalt von greifbareren, nach musikalischer Konkretisierung strebenden „Ideen“ sein (IV, 94), insofern kann auch jedes einzelne und konkrete Musikstück nicht Beliebiges und schon gar nicht Austauschbares oder gar Gegensätzliches, sich Widersprechendes zur Intentionalität des ideellen Ausgangspunktes aussagen. Dieses Problem ist nur durch die Beigabe
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eines auf die Idee hin-, besser wäre vielleicht rückverweisenden Programms zu lösen, eines Programms, „welches in längerer oder kürzerer Fassung, andeutend oder ausführend den Zuhörer auf bestimmte Gedanken und Bilder hinweist, welche der Komponist vor ihm zu entrollen versucht“ (IV, 21) und deshalb gleich auch am besten vom Komponisten selbst mitgeliefert wird. In diesem – sagen wir mal – kommunikativ-didaktischen Nutzen geht die Programmbeigabe jedoch nicht auf! Denn mit der Hilfestellung durch das beigefügte Programm reagiert Liszt auch auf die […] unabweisbare[n] Notwendigkeiten eines Momentes in unserem gesellschaftlichen Leben und in unserer sittlichen Bildung […], die sich als solche früher oder später Bahn brechen werden. Der Gebrauch, Instrumentalkompositionen ein Programm beizufügen, ist bereits so tief in das Publikum eingedrungen, daß auch die Musiker aufhören, sich gegen dasselbe zu sträuben und es als eines jener nicht mehr zu ändernden Dinge ansehen, die in der Politik mit „faits accomplis” bezeichnet werden. (IV, 57)
Und dieses „Moment in unserem gesellschaftlichen Leben“ trägt – modern gesprochen –, der Erhöhung der Partizipationschancen eines sich beständig verbreiternden, immer anonymer werdenden Publikums in Richtung „Volk“ Rechnung. Wie bekannte sich doch der stark saint-simonistisch angehauchte junge Liszt? „Wie einst, ja mehr noch [heute; V.K.], muß die Musik nach dem Volke fragen und nach Gott; sie muß zwischen dem einen und dem anderen vermitteln; den Menschen bessern, veredeln, trösten, Gott preisen und verherrlichen“ – und Liszts Antwort darauf ist der Entwurf einer auf der Programmidee aufruhenden Musik, musikalisch realisiert als „symphonische Dichtung“. Schwierigkeit: Befindet sich Liszt angesichts der neuen, durch die Publizität der Musik geschaffenen Situation nicht in einem gemeinsamen Boot mit den Vertreten und Anhängern gerade der ihm entgegen gesetzten (musik-)ästhetischen Orientierung? Antwort: ja und nein! Rein äußerlich betrachtet scheint sich die Frage der Publikumsbeteiligung am musikalischen Geschehen unabhängig zu stellen von dem jeweiligen ästhetischen Konzept, dem sich die in der Aufführung zu Gehör gebrachten musikalischen Werke verdanken. Das aber ist nur äußerlich so! Der wirklich politische Charakter des jeweiligen ästhetischen Musik-Vorverständnisses scheint dort auf, wo dieses auf die impliziten Rezeptionsbedingungen befragt wird. Denn die Anhänger einer Ästhetik der „reinen und absoluten Instrumentalmusik“ in der losen Nachfolge Kants setzen auf „Cultur“, also auf den wissend-erkennenden, am ästhetischen Objekt
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sich abarbeitenden Mitvollzugs des gleichsam komponierten, binnenmusikalisch ausgetragenen „Spiels“ der das musikalische Material gestaltenden Setzungen, Manipulationen und Bearbeitungen. Der musikalische Mitvollzug, Rezeption, bleibt somit an genau diese Wissens- und Wiedererkennungsvoraussetzungen gebunden – eine Ästhetik der „reinen und absoluten Instrumentalmusik“ setzt deshalb den Kenner und Könner voraus, richtet sich also auch an diese, ist deshalb bildungsabhängig und erreicht gleichsam nur Eliten. Der Grundgedanke des programmmusikalischen Verständnisses führt hingegen in genau entgegen gesetzte Richtung: das Programm als eine kommunikativ-didaktische Verstehenshilfe einerseits und einer die veränderten Rezeptionsbedingungen zumindest akzeptierende und auf sie reagierende Maßnahme andererseits, greift dort öffnend-weitend in die musikalischen Teilhabemöglichkeiten ein, wo sie die Ästhetik der „reinen und absoluten Instrumentalmusik“ gerade verschließt! Das Programm, so verstanden, ist ein Verstehensangebot an musikalisch Interessierte, das deren musikalische Bildung nur eingeschränkt voraussetzt. In der Tat lässt sich der Griff zum Programm wie die es bedingenden Grundüberlegungen wohl kaum anders erklären als eben mit der Tatsache, dass es Liszt tatsächlich ein Leben lang mit seinem in frühen Jahren gefassten Bekenntnis zu den Lehren Saint-Simons durchaus ernst und somit auch politisch gemeint war. – Liszt war und ist ein politischer Komponist, selbst wenn er keine politischen Texte oder Parteiprogramme vertont hat. Abschließend will ich noch eine naheliegende Frage aufgreifen und sie mit einigen wenigen Bemerkungen an die richtige Stelle rücken. Kommen denn religiös-politische Weltanschauung und deren Realisierung in den „symphonischen Dichtungen“ erst gewissermaßen im zeitlichen Abstand von sagen wir knapp 20 Jahren zusammen? Wie ist es um die Ankündigung jener kompositorischen „Mitte“ bestellt, die auszumachen ich in Aussicht gestellt habe. Zunächst möchte ich Eines gleich noch einmal festhalten: der Bezug zwischen Liszts saint-simonistisch gefärbter Weltanschauung und der „Erfindung“ seiner „symphonischen Dichtungen“ scheint mir evident zu sein. Dieser Zusammenhang wäre selbst dann noch gegeben, wenn er sich eben erst Jahre später in Musik realisierte. Doch hat Liszt eventuell politisches und ästhetisches Denken zunächst vielleicht nicht zusammengebracht – hat er, mit anderen Worten, zunächst anders komponiert als gedacht? Die die Frage bedingende Vermutung scheint mir nicht nur schon in biographischer Hinsicht als wenig plausibel, denn Liszt war auch in jün-
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geren Jahren immer ein und keine zwei Liszts! Vielmehr gilt es auf die Frage selbst und ihre Beantwortbarkeit zu sinnen und gleichsam nach den richtigen, im Sinne „greifender“ Parameter zu fragen. Was auszuführen jetzt der Platz nicht mehr reicht, ist, wie sich Liszts musikalisches Denken analytisch aufweisen und über welche sich von Liszt her anbietende Begriffe nachvollziehen und auseinander legen lässt. Hierzu nur ganz knappe Bemerkungen: Um das „Funktionieren“ der „sinfonischen Dichtung“ am Material und somit im konkreten Stück aufzuweisen liefert uns Liszt einige wertvolle, wenn auch versteckte Hinweise. So führt er u.a. aus: „Die Kunst reproducirt durch die unendliche Mannigfaltigkeit ihrer Formen die unendliche Mannigfaltigkeit der Organisationen und Eindrücke. Es giebt Charaktere und Gefühle, die [z. B.; V. K.] nur in der dramatischen Kunst zu ihrer Entwickelung gelangen können…“ (IV, 61). Aus dieser Bemerkung Liszts gewinne ich die kompositionsästhetischen Begriffe „Charaktere und Gefühle“. Offenbar sucht Liszt nach musikalischen Einfällen, die den Aspekt des „Charakters“ und damit des Bestimmten, Konkreten, Singulären austragen und gleichzeitig dazu dienen „Gefühle“, jedenfalls emotionale Felder oder Verdichtungen zu repräsentieren. Eine zusätzliche Konkretisierungsmöglichkeit der musikalisch gesuchten „Charaktere“ erwächst meinem Verständnis nach dort, wo Liszt ausführt: Durch diese [in seinen verschiedenen Sätzen der Harold-Symphonie; V. K.] von ihm zuerst angewandte Symbolisierung erreichte Berlioz die Möglichkeit, nicht nur die Anwesenheit oder Abwesenheit seines Helden in den verschiedenen Scenen anzugeben, sondern auch mit Hilfe der Modulation, der rhythmischen Wendungen und des harmonischen Ausdrucks alle Erregungen und Biegungen des Gefühls verständlich zu machen (IV, 68).
Musikalische „Entwickelung“ wäre somit etwas in Liszts Verständnis, das auch zur Verdeutlichung von „Charakteren“ bei der Möglichkeit „symbolischer“ Konnotierungen, also zur Schaffung von zusätzlicher Aussagedeutlichkeit durch Hereinnahme (außer-)musikalischer Aufladung eines noch relativ bedeutungslosen musikalischen Materials Anleihe genommen werden kann. Entscheidend dabei aber ist wohl der Umgang mit dieser generierten Deutlichkeit, die u. a. dazu dient, die „Anwesenheit oder Abwesenheit eines Helden in den verschiedenen Scenen anzugeben“ und die jeweilige Zustandsbeschreibung mit Hilfe der gewohnten musikalischen Kompositionstechniken über die „Erregungen und Biegungen des Gefühls“ zu vermitteln. Liszt denkt ganz offenkundig an ein deutlich prozessual verfahrendes Komponieren, dem er seinen Platz im Kontext der Erläuterung der Vorzüge von Oratorium und Kantate zuweist.
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Er schreibt: Die Neigung aber zu beschreiben, haben Oratorium und Kantate mit dem Epos gemein. […] Episode und Anrede nehmen hier wie dort fast dieselbe Stellung ein, und die Wirkung des Ganzen stellt sich bei beiden Kunstarten als die der feierlichen Erzählung eines denkwürdigen Ereignisses dar, dessen Einzelheiten ungetheilt zur Verherrlichung eines einzigen Helden dient. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Oratorium und Kantate auf musikalischem Gebiet das Epos vertreten und dass das musikalische wie das poetische Epos eine in sich fertige und ausgestaltete Form dem poetischen Epos am meisten entspreche, als ein noch zu lösendes Problem betrachten und zu einer Preisaufgabe machen… (IV, 52)
Liszt begibt sich bereits mit der Hinwendung und Komposition von „symphonischen Dichtungen“ auf den Weg zur Lösung der selbst so empfundenen „Preisaufgabe“ und die wird wohl in eine Richtung weisen, deren „Form“ grundlegend narrative, erzählerische Aspekte und Attribute aufzunehmen und zu verwirklichen vermag – eben: als musikalische Prosa. Charaktere bilden – sie in einen Prozess des emotional nachvollziehbaren Anwesend- und Abwesend-Seins verspannen – und damit eine Geschichte erzählen, die als Geschichte eine präexistente (poetische) Idee verflüssigt – so lässt sich ungefähr das Tableaux einer der „symphonischen Dichtung“ angemessenen analytischen Beschäftigung umreißen. Dadurch erhalten wir aber einen noch viel entscheidenderen Hinweis – denn um genau diese Attribute hat Liszt von Anfang an in seinem Komponieren gerungen. Ich blicke noch kurz auf ein gezielt herausgegriffenes Jugendwerk Liszts, das da heißt Malédiction und wahrscheinlich um 1827 als ein konzertantes Werk für Klavier und Streicher komponiert wurde. Dieses Stück trägt bereits überdeutlich charakteristische Züge von Liszts Musik aus. Es gibt Liszt einerseits den gewünschten und gesuchten Raum, sich in kühner, virtuoser Pianistik zu präsentieren, geht aber andererseits offenkundig darin nicht auf. Den Begriff Malédiction wählte Liszt übrigens nicht, um damit sein Konzertstück als Ganzes zu betiteln, sondern um damit den ersten im Stück vorkommenden „thematischen Gedanken“, später dann eben „Charakter“ zu benennen. So folgen im Verlauf des Stückes weitere Hinweise für den bzw. die Interpreten, die in Schlagworten wie eben – deutsch übersetzt – „Verwünschung“, „Stolz“, „Tränen der Angst“, „Träume“ oder „Spass/Spott“ bestimmte Ausdrucksgegenden (‚Emotive’) bezeichnen wollen, ohne deshalb einen erkennbaren Handlungsablauf zu stipulieren. Offenbar übte sich Liszt zunächst in der Komposition von musikalisch profilierten, diskreten „Charakteren“, ohne sie deshalb schon miteinander verknüpfen, auseinander entwickeln oder „narrativ“ vernetzen zu können. Das unvermittelte Nebeneinander von Größe, Klage, Sentiment, Lyrik und exzessiven Gesten verleiht dem Werk etwas Chaotisches
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und Ungezügeltes. Vom dominierenden, technisch ausgefeilten Klavierpart einmal abgesehen, zeigt sich im vor allem harmonisch begleitenden Streichersatz, der ohne wesentliche eigene „thematische“ Beiträge gestaltet ist, in gewisser Hinsicht noch ein Entwurfscharakter, wenn man im Vergleich dazu etwa an die beiden späteren Klavierkonzerte denkt. Charaktere bilden – sie in einen Prozess des emotional nachvollziehbaren Anwesend- und Abwesend-Seins verspannen – und damit eine Geschichte erzählen, die als Geschichte eine präexistente (poetische) Idee verflüssigt; Liszt hat offenbar keine größeren Schwierigkeiten damit, musikalisch die angestrebten charakteristischen, emotional benennbaren Felder zu realisieren. Ungelenk und geradezu plakativ wirkt hingegen das bisweilen arg abgesetzte Nebeneinander dieser Felder. Ihm fehlt es noch an Erfahrungen, sicherlich auch am Handwerk, die Übergänge sowie die Dynamik zwischen diesen zu gestalten. Und gleichwohl ist bereits alles das vorhanden, was ihn auch wieder, und wenn auch in anderer Weise, in und mit seinen „symphonischen Dichtungen“ beschäftigen wird. Ich meine deshalb in der Tat, dass wir mit jener Ästhetik, die Liszts „symphonische Dichtungen“ ermöglicht hat, jenen Schlüssel besitzen, der uns sein ganzes Werk in seinen ästhetischen und politischen Dimensionen zu erschließen vermag. Gerade auch in jener politischen, die auf die Musikbeteiligungswünsche eines immer mehr zum „Volke“ sich wandelnden „Publikums“ reagiert und diesen Anspruch zunächst akzeptiert.
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Vasily Zolotaryov’s Belarusian Period of Creative Work Catherine N. Doulova
While working with the archives of Vasily Andreevich Zolotaryov, People’s Artist of BSSR (Belarusian Soviet Socialist Republic in the USSR period) and Merited Artist of RSFSR (Russian Soviet Federative Socialist Republic), music theorist and teacher, I discovered a number of little-known facts which have proven to be valid as source study for this Soviet composer and of interest to the wider academic community. I present these findings here. Some basic facts of his biography are already documented but merit summary here. Vasily A. Zolotaryov (1872–1964) studied at the Court Chapel in Saint Petersburg, where he was a pupil of Mily Alexeyevich Balakirev, Anatoly Konstantinovich Lyadov and Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakov. In 1898–1900, he was a composition student in RimskiKorsakov’s class at the Petersburg Conservatoire. His name is engraved in golden letters on the Board of Laureates of the Conservatoire. Zolotaryov’s diploma cantata “Paradise and Peri” for orchestra, soloists and chorus was awarded the A. Rubinstein Prize, which had never previously been granted to a composer. Rimski-Korsakov characterized his pupil as follows: “He’s very capable; I suppose a great composer’s talent. He’s very zealous, and achieved great success.”1 All his early compositions were published by Mitrofan Petrovich Belyayev and later by Pyotr Ivanovich Yurgenson. He lived and worked in Petersburg and Moscow, then on to Rostov, Krasnodar, Odessa, Kiev, Sverdlovsk, Minsk, and finally once again in Moscow. Starting with his teaching musical-theoretical disciplines in the Moscow State Conservatoire in 1909, he was engaged in pedagogical activities throughout his life, instructing students in harmony, polyphony, musical form and free composition. At the Belarusian State Conservatoire, Zolotaryov taught a composition class, and in 1933–1936 headed the Composition and Music Theory Division.2 His creative heritage comprises over 400 works in prac1 2
Quoted from the record on the personal card of V. A. Zolotaryov, Bibliographic Division of the N. A. Rimski-Korsakov St Petersburg State Conservatoire, File of Graduates’ Cards. See: Èç èñòîðèè ìóçûêîçíàíèÿ â Áåëàðóñè: Áåë. ãîñ. àêàä. ìóçûêè: 1932–1992 [History of Musical Studies in Belarus. Bel. St. Acad. of Music: 1932–1992]. Ed. G. Glushchenko et al. Minsk 2002, 221.
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tically all genres: symphonies, operas, ballets, concertos, overtures, vocaland-symphonic pieces, chamber ensembles, choruses, arrangements of folk songs, romances, songs, vocal ensembles, etc. It is impossible to list here all Zolotaryov’s awards for composition: from his diploma work of 1900 to the works of the 1960s. He is the author of a number of scientific and educational works and articles of music criticism. The scholarly publications covering Zolotaryov’s creativity are surprisingly unanimous in emphasizing that the Belarusian period of his life and work (1933–1941) was the most fruitful. In his brief autobiographical sketch Zolotaryov writes: My longest period of work – 8 years – took place at the Belarusian Conservatoire in Minsk, during which I graduated two classes of young composers, among them: Bogatyryov, Kroshner, […] Podkovyrov and Efimov. From my second class I should like to note Lucas, Olovnikov, Vainberg, Nisnevich and Abeliovich.3
Among the Zolotaryov documents and records at the Central State Literature and Arts Archive-Museum of Belarus, many are rather remarkable. Let us comment on those which concern his teaching work at the Belarusian State Conservatoire. I believe that all these documents have to do, in some way or other, with today’s, or more precisely, modern problems – both scientific and training-and-methodological. Certainly, in Zolotaryov’s archive I was interested, first of all, in the materials related to his activity as a teacher of composition and musicaltheoretical disciplines. In addition to the proof-reading records of the third edition of his textbook “Fugue”4 with author’s notes, I found his thematic plans and programmes on special courses of polyphony and free composition.5 All these materials are of interest as they show, first of all, what and how Zolotaryov taught in 1920s–1930s student-composers of the Kiev and Minsk Conservatories – many of his pupils later founded their own composer’s schools. Let us examine the documents in detail here. Zolotaryov wrote about the course of polyphony as follows: The final goal of this course is not only in mastering the form of the fugue, which has not lost its values and is met both as independent parts, like, for example, Tchaikovsky’s 3 4
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CSALAM (Central State Arts and Literature Archive-Museum), Fund 119 (SC of Belarus), Reg. 2, 7 (Zolotaryov, V.), fol. 3. Vasily Zolotaryov, Ôóãà: Ðóêîâîäñòâî ê ïðàêòè÷åñêîìó èçó÷åíèþ [The Fugue: Manual to Practical Training]. Moscow 1965 (3rd ed.). Proof-reading sample with author’s notes: CSALAM, Fund 143, Reg. 1, no. 330 (130 fols.), no. 331 (130 fols.). Vasily Zolotaryov, Ó÷åáíûå ïëàíû [Training Plans] (autograph), 24 fols. Kiev, 19–21 December 1928. CSALAM, Fund 143, Reg. 1, Storage Unit 346.
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Suite with Fugue, and as large final parties in the form of fugues, and in the form of fugatos, but, mainly, mastering the technique of multi-voice counterpoint writing, which plays such a great role in modern polyphonic composing. In a word, the fugue section should be a sort of a bridge, logically linking the preceding parts of counterpoint and harmony with the following part of free composition.
The following note made at the bottom of this page is significant: “I teach this subject by my own notes and studies.”6 It is worth remembering that Zolotaryov’s book The Fugue was the first Russian textbook for the practical study of fugue composition as form and genre.7 Zolotaryov’s lecture, primarily focusing on free composition and probably based on the practical composition course of his teacher RimskiKorsakov, is also an interesting source for studies. I quote one of the materials: Programme ‘Class of Free Composition’. Year 1: the aim of the Class is to teach students to correctly narrate their musical ideas by strictly following the established forms; while the young musician’s attempts at composition should be directed and corrected through careful and detailed study of the classic works both of western (mainly Beethoven) and Russian (Glinka, Balakirev, Tchaikovsky and Glazunov) composers. […] Starting from the first year on, the practical study of free composition forms should result in the practical mastering of simplest elements of musical speech, namely: motives, sentences and periods, without restricting oneself (followed by another handwriting) by analytical and formal acquaintance, but by working on them practically in a strict order – from simplest to more complex elements; and only after a most detailed study of these core components of any piece of music, can we pass to mastering the song form, which, in its turn, is a necessary component for the forms of rondo and also for higher forms of musical composition: forms of sonata Allegro and sonata rondo. Year 2: first three forms of rondo. Apart from the brightness and memorability of the main part, frequent return to which being the essence of the form, here, we need to achieve a precise and strictly outlined song form, of which the rondo parts are mainly composed. During the subsequent practical study of passage of variation form (theme with variations), the song form, from the small to the large widespread one, will be exhaustively studied. After such thorough and practical study of the song form, a switchover will look quite natural to a more elaborated and broad composition, used in creating the orchestral scherzo, still in the same song form, so that in the following Year 3 we could pass over to studying the sonata Allegro. Year 3: in parallel with studying fugue in the polyphony class, this academic year is dedicated to studying sonata Allegro form up to complete mastery of the subject, both for writing piano and chamber music and for composing symphonies. Samples here are, first 6 7
Zolotaryov, Training Plans (as note 5), 1. Vasily Zolotaryov, Ôóãà: Ðóêîâîäñòâî ê ïðàêòè÷åñêîìó èçó÷åíèþ [The Fugue: Manual to Practical Training]. Moscow 1932 (1st ed.). As rightly noted by Sima Nisnevich, this work considerably exceeded the scope of materials compared to the widespread translated books by Ludwig Bussler and Ebenezer Praut on the fugue. Sima Nisnevich, V. A. Zolotaryov. Moscow 1964, 66–67.
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of all, Beethoven’s sonatas, string quartets and symphonies; Schubert’s and Mendelssohn’s string quartets and symphonies; Schumann’s sonatas and symphonies, etc. From Russia – Tchaikovsky’s string quartets, trios and symphonies; Taneev’s string quartets and symphony; Borodin’s quartets and symphonies; Balakirev’s symphony; Glazunov’s symphonies […] quartets, etc. The end result of this year is a presentation by students of their symphonic Allegro (or a string quartet). Year 4: during this last year, a student-composer, having got acquainted with the form of polyphony and the forms in homophonic instrumental music, can be entirely engaged in free composition; he will have a chance of getting acquainted, and, as earlier, practically master the opera forms by using mainly the richest Russian heritage of Glinka, Dargomyzhsky, Borodin, Rimski-Korsakov, Musorgsky and Tchaikovsky as samples. Certainly, we should not put aside Italian masters, both of the old school of Belcanto and later Verismo composers (Puccini); the German school (Mozart, Weber, Wagner); and Frenchmen (Gounod, Bizet, Berlioz). […] To graduate from the class of free composition, a student should present a one-act opera or cantata to the offered text.8
In his later plans, Zolotaryov expanded the scope of musical material: the music of Grieg, Franck, Debussy, Ravel, Lyapunov, Rachmaninoff, Vasilenko and Myaskovsky was included.9 In addition, he suggests that teachers make use of their own compositional experience. Certainly, Zolotaryov trained composition students in the fundamentals of musical form in practice and in strict order, from simplest to more complex elements; and only after a most detailed study of these core components of any piece of music, we can pass over to mastering the song form, which, in its turn, is a necessary component for the forms of rondo and also for higher forms of musical composition: forms of sonata Allegro and sonata rondo.10
Similar principles of studying musical forms are a characteristic of many modern textbooks, including chapters on motive, phrase, and on various musical forms, such as simple form, sonata Allegro, concerto-form etc. Zolotaryov also included special considerations on “the forms of vocal music”. As he pointed out, formation should be based on using mainly the richest Russian heritage of Glinka, Dargomyzhsky, Borodin, RimskiKorsakov, Musorgsky and Tchaikovsky as samples. Certainly, we should not put aside the Italian masters of both the old school of Belcanto and the later Verismo composer (Puccini); the German school (Mozart, Weber, Wagner); and Frenchmen (Gounod, Bizet, Berlioz).11
8 Vasily Zolotaryov, (autograph) – 24 fols., CSALAM, Fund 143, Reg. 1, no. 346, fol. 4–4 verso. 9 Fols. 6–8 verso. Fol. 7 has an indication that this course briefing refers to his teaching at the Belarusian State Conservatoire (BSC): “Course of Free Composition in the BSC”. 10 CSALAM, Fund 143, Reg. 1, no. 346, fol. 3. 11 CSALAM, Fund 143, Reg. 1, no. 346, fol. 5.
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Graduation from free composition class required the composition of a oneact opera or of a cantata. The emphasis on vocal forms in Zolotaryov’s teaching concept is not accidental. Being the author of many theatrical compositions, he knew not only the “laws” of musical-theatrical forms and their specifics perfectly well, but also had experience of the “inappropriate” treatment of music when it got into the hands of theatre people such as directors, scene-designers, ballet masters and conductors. The following documents from the Zolotaryov Archive, entitled “A Couple of Farewell Words to My Librettist” and “A Couple of Words to Help Librettists” refer explicitly to specific features of vocal music and the relationships between both text and music and melody and verse.12 Despite the ideological references in both articles, particularly concerning the agenda of the Communist Party (the articles were written in 1948), they reveal fascinating issues about vocal music, the opera and about the relationships among composers: First of all, the librettist should be a music fan and amateur, and an opera expert, while the composer, in his turn, should possess elementary knowledge in the sphere of versification. Borodin wrote completely and Rimski-Korsakov partially librettos for their own operas. It should be resolutely noted what Rimski-Korsakov told his successors: ‘Opera is, first of all, a piece of music’.13
And further: In general, the librettist should reckon with the musical specificities, where, on the one hand, one should not elaborate too much in dialogues, resorting only to what is most necessary and typical to delineate the plot of the play, and, on the other hand, not to create ‘docked’ arias, where the composer quite often lacks the text to fill in the melody. It is also very important to diversify the form and structure of the verse, without falling, however, into motley and frippery.14
Zolotaryov’s first experience in the opera genre was not successful. In 1924, while teaching at Odessa Musical Institute, he composed the opera Decembrists which was staged at the Bolshoi Theatre in Moscow in 1925, commemorating the 100th anniversary of the Decembrist Uprising.15 Boris 12 Vasily Zolotaryov, Ìîåìó ëèáðåòòèñòó íåñêîëüêî íàïóòñòâåííûõ ñëîâ [A Couple of Farewell Words to My Librettist]; Ìîåìó ëèáðåòòèñòó íåñêîëüêî íàïóòñòâåííûõ ñëîâ [A Couple of Words to Help Librettist], 2 articles (autograph typescript with author’s proofreading notes), 1948, CSALAM, Fund 143, Reg. 1, no. 320, 18 fols. 13 Ibid., fol. 14. 14 Ibid., fol. 4. 15 The second edition of the opera appeared under the new name “Kondraty Ryleyev” in 1957.
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Asafiev, after having studying the libretto created by the composer, had harsh words to say, despite taking no account of the performance aspects: The opera ‘Decembrists’ has all the weaknesses inherent to the modern popular opera on a revolutionary plot: general slackness of music, grey orchestral sonority, absence of expressive recitatives, style mottling and continuous indisposition in form and style. […] In places, music pleases with sincerity, but for a heroic and dramatic opera, which requires a broad coverage, brave composing and permanent tension, sincerity only is not enough. Besides, Zolotaryov is greatly hampered – with all his technical mastery – by old-fashioned techniques and dependent material.16
Another reviewer of the opera was referring more to the performance than the music and wrote: A serious failure was the composer’s and librettist’s picture of the uprising on December 14, 1825 […] The content of this scene was voluntarily changed by the Bolshoi Theatre. The director transformed ‘a corner of philistine Petersburg’ into a broad people’s and battle scene. The theatre showed defeat of Decembrists in the Senate Square; the roar of shots deafened the spectators; cavalry and artillery carts ran across the stage, having picked up flaps of their chasubles, with crosses and aslant banderols, clergymen were running, everybody – doorkeepers and messengers, pedestrian and cavaliers, militaries and civilian – were rushing. All this was in sharp contrast with the composer’s concept, since out of the whole symphonic music of this scene only the March of the Preobrazhenskiy Regiment was performed.17
Finally, Valerian Mikhaylovich Bogdanov-Berezovskiy’s repulsion was even more categorical, when declaring that Decembrists played an important and effective role within the efforts of creating a Soviet opera genre.18 A quarter of a century later Zolotaryov again entered into dialog with the theatre. This time not only the librettist was part of this dialog, but also the ballet master and the conductor as mirrored in his essay “Notes for Conductor T. Kolomiitseva”, dated May 18, 1952. These notes were probably written during the preparation of the so-called “new production” of Zolotaryov’s ballet Prince-Lake for a performance in Moscow. The premiere was in 1949 at the Belarusian State Opera and Ballet Theatre.19 In 1953, the ballet was performed under the title Love Story with Alexey Ermolaev (ballet master), Tatiana Kolomiitseva (conductor), and Sergey Nikolaev (dancer). On its 1955 performance it was entitled Ardent Hearts.20 16 Boris Asafiev, Ob Opere [About Opera]. Leningrad 1976, 296. 17 Quoted from Sima Nisnevich, V. A. Zolotaryov (as note 7), 60–61 (italics added by the author). 18 Ibid., 62. 19 Conductor of the premiere was Iliya Gitgarts. He was joined by the ballet master Konstantin Mouller, the stage director Boris Mordvinov and the dancer Sergey Nikolaev. 20 The ballet Ardent Hearts was staged at the State Academic Bolshoi Theatre of the USSR during the Decade of Belarusian Arts and Culture in Moscow in 1955 (ballet master Alexey Ermolaev, conductor Tatiana Kolomiitseva, artist Sergey Nikolaev).
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It is noteworthy that Zolotaryov’s music gradually lost touch not only with the revised plot and script of the ballet, but also to its choreographic realisation with each production aspect weakening the link. In his letter for the newspaper Litaratura i Mastatstva Zolotaryov showed his disgust, pointing out that in the case of a change of dramatic intention – independently from the musical-scenic realisation an improper form of “co-authorship” is created that results in demotion of the artistic value of the work:21 “The ‘Ardent Hearts’ burnt down my soul; and the ‘Love Story’ told about ridiculous, wasteful and anti-artistic searches.”22 Thus, in 1952 before another production of Prince-Lake Zolotaryov wrote to the conductor: You should treat all the author’s notes very carefully. I have not just notes – a whole heading, which (almost for the first time in the sphere of ballet) says: ‘Prince-Lake’ is a choreographic drama. […] A long and saturated overture of completely non-ballet character is an expanded programme and declaration of this drama. […] But meanwhile this essential part of the ballet is omitted, and only the introduction to the overture is performed.23
While insisting on restoring a number of edits, made at the premiere of the ballet, Zolotaryov sneered, referring to the ballet’s plot: “The theatre dealt with my score as the feudal prince treated Nadiika – they raped it.”24 And in addition: “All the numerous edits and grandiose changes in staging the ballet were done by a ‘master’s’ hand, confidently and … not always skilfully, and, anyway, in poor coordination with the author’s wishes and intentions.”25 I would like to quote a couple of Zolotaryov’s illustrative and ironic comments in this respect. For instance, he wrote that the score of the second scene of the ballet clearly and precisely specifies: ‘Room in the tower of the prince’s castle.’ Here you say – castle! In those days there were no castles in Belarus. Why the castle? Omit the castle! Let it be a tent. In ‘Prince Igor’ there was a tent – let it be a tent too, in the ‘Lake’. Let’s admit that the clever director was right in his assumptions. But, in fact, the music was written to depict a stony echoing ancient castle, not a tent of nomads. Down with the
21 The letter is quoted in the edition Ìóçû÷íû òýàòð Áåëàðóñi: 1917–1959 [Musical Theatre of Belarus: 1917–1959]. Ed. Galina Kuliashova et al. Minsk 1993, 350. 22 This V. A. Zolotaryov’s statement is quoted in Sima Nisnevich, Teacher, Artist, Citizen (Vasily Zolotaryov), in: Muzykal’no-kriticheskie stat’i [Musical-critical articles]. Leningrad 1984, 74. 23 Vasily Zolotaryov, Notes for Conductor T. Kolomiitseva (to ballet “Prince-Lake”). Typewriting version with author’s remarks. 18 May 1952 – 23 fols. CSALAM. Fund 143, Reg. 1, no. 322, 2. 24 Ibid., list 11. 25 Ibid., list 13.
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music! And they did it – simply and clearly. […] When the author composed the music, he vividly imagined Nadiika in a huge stony trap, where the prince had put her. Moves of triplets mean the rustle of echoing corridors and rooms of a stony castle, which scare the poor village girl. She is hastening, like a captured little mouse, trying to find a way out of the stony mousetrap. […] It is all realistically presented in the score, and the imposed tent here is “from the evil” – it doesn’t match the music.26
Or with respect to the final scene of the overflowing lake, he stated: The stage is filled with water for a rather long time, and music is composed of two equal pieces giving a choice to change the scenery during a shorter or a longer period. And, nevertheless, there was no due concurrence of scenery change ‘by ear’ and by sight. In the orchestra “the lake coast is growing green”, while the water is still lapping on the stage. Or vice versa: the orchestra is finishing playing “water”, but the coast is already moving on the audience.27
One could easily continue with examples of this kind of interpretation as stated in Zolotaryov’s “Notes”. However, the “Notes” are not interesting or worth reading because of these instances but rather for an entirely different reason. Zolotaryov’s “Notes” addressed to the conductor T. Kolomiitseva are a remarkable document directly referring to such current subjects as the analysis of music-theatre genres. Interrelations of various texts in theatre genres – verbal, choreographic and musical texts – constitute a major scientific field. Within the history of music one can find many instances concerning this close but also sometimes contradictory interplay that also defines the historical dimension of a work. In this respect the problem of authorship becomes evident and it is, therefore, no coincidence that Zolotaryov himself turned his attention to this topic. The primary focus of his ideas is not the concern about his own music and its artistic features but rather the role of the whole in performance and the coordination of the different components of an opera or ballet performance. Trying to save his music from the imposed new visual arrangements, from endless edits and autocratic interventions, the composer brought attention to the important problem of the relationship between the composer’s idea and its realization. Despite Zolotaryov’s efforts to make his “co-authors” listen to him and to take his concerns and wishes seriously, the deformation of his work continued. After one new production version of his ballet, he recorded bitterly in the margin of the first pages of the “Notes”: “The author was too naïve – he had knocked at the wrong gate. But where is the ‘right gate’?”28 26 Ibid., list 14. 27 Ibid., fol. 21. 28 Ibid., fol. 1.
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No matter how history will judge Zolotaryov’s theatrical compositions, it remains a fact that he was extremely serious about composition and the education of composers. Referring to his breach with Balakirev “concerning motives of religious dissent,” Zolotaryov once wrote: In my consolation I can state with a clean conscience that I have always piously kept and keep now the precious legacy of my great teachers. I write each of my compositions thinking of them: And what would Miliy Alexeevich have said? Or how would Nikolai Andreevich have looked at it.29
About Rimski-Korsakov’s achievements as a teacher of orchestral music, Zolotaryov wrote in his memoirs: The whole generation of pupils at the chapel received an incomparable musical training, practical experience and a broad perspective. And it is no coincidence that the orchestral musicians that grew up in the chapel were later to become among the best performers of the best orchestras of St Petersburg.30
It can be assumed that similar attitudes and teaching principles, had also affected Zolotaryov’s own pedagogical experience as mirrored in the certificate issued by Eugeniy Tikotskiy, Chairman of the Board of the BSSR Union of Soviet Composers. This certificate is preserved today in the composer’s fund at CSALAM and expresses the following: As pupil of the great Russian composer-members of the ‘Big Five’, Balakirev and RimskiKorsakov, and follower of their creative traditions, Professor Zolotaryov, V. A., has educed a group of Belarusian composers of the middle generation, armed them with professional mastery and implanted in them the feeling of responsibility for the people and a love of national creativity. The graduates of the class of Professor Zolotaryov are: A. V. Bogatyryov Laureate of Stalin Prize, D. A. Lukas and P. P. Podkovyrov, Honoured Workers of Arts of V. A. Efimov, and M. E. Kroshner and V. V. Olovnikov, Honoured Artists of BSSR.31
The following fact is noteworthy when considering Zolotaryov-as-teacher, here quoting the Belarusian musicologist Sima Nisnevich: In 1936, V. A. Zolotaryov decided, after graduation from the Belarusian State Conservatoire (BSC) of a group of composers whom he trained, to retire. The graduation took place in 1937: A. Bogatyryov, V. Efimov, P. Podkovyrov, M. Kroshner, theorists A. Popov and S. Zorin. He moved to Moscow, but went from time to time to train the BSC
29 Vasily Zolotaryov, Âîñïîìèíàíèÿ î Áàëàêèðåâå [Memoirs about Balakirev], in: Sovetskaâ muzyka 2 (1948), 109. 30 Vasily Zolotaryov, Í.À.Ðèìñêèé-Êîðñàêîâ î Ïåâ÷åñêîé êàïåëëå [N. A. RimskiKorsakov in the Singing Chapel], in: Sovetskaâ muzyka 9 (1948), 56. 31 CSALAM, Fund 119 (Union of Composers of Belarus), Reg. 2, no. 7 (Zolotaryov, V. A.). L. 28.
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students. In this way D. Lukas, V. Olovnikov, musicologists I. Zhinovich and S. Nisnevich joined his class, and since 1939 – L. Abeliovich and M. Vainberg. They graduated on June 21, 1941.32
Later documents also recognise Zolotaryov’s pedagogical talent. We read in one of the articles from the 1960s: During his long and glorious life V. A. Zolotaryov rendered his help to a number of conservatoires in educating highly qualified musicians. To pay tribute to the oldest Soviet composer, the Moscow and Kiev, Odessa and Minsk, and Sverdlovsk Conservatoires sent their delegations of his pupils.33
Finally, in the late 1970s, an article in the magazine Soviet Music made a sort of a conclusion: Zolotaryov made a great contribution to strengthening the Ukrainian and Belarusian composer’s schools. By teaching the whole course of musical-theoretical disciplines in Kiev and Minsk, he brought up his pupils on the best examples of national and foreign culture. Among his pupils are: A. Bogatyryov, V. Efimov, P. Podkovyrov, B. Gibalin, M. Kroshner, V. Olovnikov, L. Abeliovich, M. Vainberg, D. Govorukhin, K. Dankevich and I. Zhinovich.34
The names of Zolotaryov’s pupils in the Belarusian Conservatoire are a galaxy of today’s classic composers; each of them has a composer’s school of his own and their pupils are already defining the fate of Belarusian music at the beginning of the 21st century. The quoted archival materials, related, apparently, to brief episodes of the creative biography and pedagogical activity of Vasily Andreevich Zolotaryov, urge a rethink of a whole range of modern scientific and artistic phenomena. Perhaps, this is the deep sense of our dialogue with the past, which not only asks questions but sometimes also answers them.
32 Nisnevich, V. A. Zolotaryov (as note 7), 87. 33 Georgiy Polyanovskiy, Æèçíü â ìóçûêå [Life for Music], in: Izvestia 113, 14 May 1963, 4. 34 Nataliya Tolstykh, Î Â. À. Çîëîòàðåâå [About V. A. Zolotaryov], in: Sovetskaâ muzyka 8 (1977), 43–44.
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„Es harren die Rätsel der lösenden Kunst“ Hans Hubers Kantate zum Jubiläum der Universität Basel (1910) Dominik Sackmann
Dass Musik darauf angewiesen ist, aufgeführt zu werden, ist eine Binsenweisheit. Dennoch haben sich in der zweiten Hälfte des 20. und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts allzu viele Vertreter der universitären Musikwissenschaft, zumal im deutschsprachigen Raum, davon entfernt, Erkenntnisse liefern zu wollen, welche direkt oder indirekt jenen Musikerinnen und Musikern dienen, die sich um die klingende Wiedergabe von Kompositionen der Vergangenheit und Gegenwart verdient machen. Dies hat folgerichtig auch dazu geführt, dass immer weniger Praktikerinnen und Praktiker nach den Ergebnissen musikwissenschaftlicher Forschung fragen. Konsequenterweise hat die Historische Musikwissenschaft als universitäre Disziplin kaum noch nach dem „Sitz im Leben“ derjenigen Werke gefragt, die sie längst wortreich mit allerlei Deutungen eingedeckt hat. Die Seinsweise von Kompositionen aus den Bedingungen ihrer intendierten Verklanglichung und in ihrer handwerklichen Verfasstheit zu würdigen, wurde die Domäne einer reflektierenden Praxis und der Musiktheorie, welche in letzter Zeit glücklicherweise beide aus dem Schatten der herkömmlichen Musikwissenschaft heraustreten. Mögen die geschilderten Oppositionen auch der Wirklichkeit hierzulande entsprechen, so gibt es dennoch Persönlichkeiten, welche stets zwischen ihnen zu vermitteln trachten. Zu ihnen gehört Dorothea Baumann. Für sie besteht keine Spaltung zwischen ihrer wissenschaftlichen Arbeit und einer musikalisch-praktischen, wenn auch nur privat ausgelebten Begabung. Darum hat sie immer wieder auf Musik hingewiesen, die ausserhalb des „Museums der Meisterwerke“ existiert und ihre Entstehung begrenzten Umständen und Zwecken verdankt. Dass die Erforschung der Musikgeschichte stets auch Erkenntnisse für heutige und künftige Wiedergaben der einzelnen Werke liefern soll, ist ihr ein Anliegen geblieben. Ihre Forschungen auf dem Feld der Raumakustik beispielsweise sind mehr als ein Beitrag zur heute allzu hermetisch betriebenen Interpretations-, Rezeptionsund Institutionengeschichte und zielen stets auf das real Erklingende. Der Titel dieser Festschrift deutet ja genau dies an.
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Dass in diesem Zusammenhang auf eine spezielle Komposition hingewiesen wird, die vor etwas mehr als hundert Jahren aus einem bestimmten Anlass in Basel entstanden ist, hängt mit persönlichen Bezügen zur Jubilarin zusammen. Dorothea Baumann amtet seit Jahrzehnten als Generalsekretärin der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft (International Musicological Society), die am 30. September 1927 in Basel gegründet worden ist und ihren Sitz noch heute dort hat. Ebenfalls in Basel gegründet wurde 1915 die Neue Schweizerische Musikgesellschaft als Nachfolgeinstitution der Landessektion der Internationalen Musikgesellschaft, die zuvor aufgelöst worden war. 1934 wurde die Neue Schweizerische Musikgesellschaft umbenannt – schon alleine dies ein vielsagender Vorgang – in Schweizerische Musikforschende Gesellschaft, die seither aus sechs Sektionen besteht. Die Sektion (damals noch Ortsgruppe) Zürich wurde 21 Jahre lang, von 1986 bis 2007, von Dorothea Baumann erfolgreich präsidiert. Dass ihr Nachfolger ebenfalls aus Basel anreist, mag den problemlosen Austausch zwischen den beiden Schweizer Städten illustrieren, wenn es darum geht, musikwissenschaftliche Erkenntnisse den musikalisch Interessierten zu vermitteln. In diesen Zusammenhang passt auch der nachfolgende Text, der aus der Konzerteinführung im Rahmen der Basler Sektion der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft vom 18. Oktober 2010 hervorgegangen ist. Hierbei bestand das Ziel darin, eine Komposition unter musik- und stadtgeschichtlichen Perspektiven zu betrachten, welche innerhalb des Festkonzerts zu „550 Jahre Universität Basel“ nach gut hundert Jahren erstmals wieder aufgeführt wurde.1
I. Seitdem der Kampf um die Erhaltung des Hans-Huber-Saales im StadtCasino entbrannt ist, kennen auch musikalisch Nicht-Interessierte den Namen dieses Musikers. Zumindest kennt das Basler Telefonbuch – für den etwas neugierigeren Zeitgenossen – die Hans-Huber-Strasse. Wer sich 1
Im „Festkonzert 550 Jahre Universität Basel“, am 18. Oktober 2010 im Stadtcasino Basel (Knabenkantorei Basel, Mädchenkantorei Basel, Männerstimmen Basel, Collegium musicum Basel; Leitung: Markus Teutschbein) sind ausserdem der Festmarsch für großes Orchester (1910) von Ernst Markees (1863–1939), die Akademische Festouvertüre, op. 80 (1880) von Johannes Brahms sowie das Te Deum, WD 122 (1858) von Georges Bizet zur Aufführung gelangt. Die Initiative zur Wiederaufführung von Hubers Kantate zum Jubiläum der Universität Basel war von David Rossel ausgegangen.
Hans Hubers Kantate zum Jubiläum der Universität Basel (1910)
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sogar in den Hof der Musikakademie getraut, wird rechts vor dem Eingang zur Cafeteria von den vom Grünspan bedeckten, kantigen Gesichtszügen einer Huber-Büste begrüsst, und wer tatsächlich sich einmal ins Stadtcasino hineinwagt, geht auf dem Weg zum Hans-Huber-Saal im oberen Foyer an einer Portraitzeichnung des Komponisten vorbei und trifft an der Rückseite des Hans-Huber-Saals auf eine weitere Büste des Namensgebers. Wer sich aber noch einen Stock höher zum Festsaal oder zur Galerie des Musiksaales begibt, begegnet auf der oberen Treppe zwei weiteren Büsten: einer von Hans Huber und einer von Hermann Suter. Schon alleine diese optische Präsenz Hans Hubers in der musikalischen Öffentlichkeit Basels weist darauf hin, dass man in dieser Stadt dem Pianisten, Dirigenten und Komponisten Hans Huber ein ehrendes Andenken bewahrt. Die spezielle Bedeutung, die Huber für Basel hatte, lässt sich ablesen an einer Reihe von Werken, die mit und für Basel entstanden sind. Dazu gehört auch die Kantate zum Jubiläum der Universität Basel, geschrieben für die Feier des 450-jährigen Universitäts-Jubiläums am 24. Juni 1910 im Basler Münster. Diese Komposition liesse sich also leicht als Gelegenheitskomposition abtun. Dass Huber wohl kaum in solchen Kategorien dachte, legt jedoch die Komposition selbst nahe. Sie ist keineswegs nur die Vertonung einer Textvorlage eines akademischen Hobbydichters, sondern ein vielschichtiges Werk, in dem Huber – dies meine These – versucht hat, eine Verbindung zwischen seiner Kunst, der Musik, und der Bevölkerung der Stadt, innerhalb und ausserhalb der Universität herzustellen. Dies ist ihm nach Ausweis der Berichterstattung in den Basler Zeitungen auch durchaus gelungen.2 Den Rahmen bildete, wie gesagt das Universitätsjubiläum am Freitag, dem 24. Juni 1910. Der Tag begann morgens um „halb 9“ mit dem Festakt in der Aula des Museums an der Augustinergasse (im heutigen Naturhistorischen Museum): nach der Begrüssung durch den Rektor, den Physiker Karl Von der Mühll (1841–1912), wurden Glückwünsche des Regierungsrates und verschiedener Abordnungen verlesen oder auch nur erwähnt, worauf die freiwillige Akademische Gesellschaft der Universitätsleitung ein Geldgeschenk von 330’000 Franken überreichte. Die Neue Zürcher Zeitung berichtete weiter: 2
„Der Komponist hat das Ganze in ein farbenprächtiges Gewand gekleidet und mit seinen eigenen, glanzvollen Weisen erfüllt; es ist „Hubermusik“ im schönsten Sinne des Wortes. – Die Aufführung war eine ganz ausgezeichnete, der schwierige Apparat – Orgel, Orchester, gemischter Chor, Knaben= und Männerchor – klappte unter Hermann Suters Leitung trefflich. So endigte der Festakt im Münster mit dieser Kantate, die allen, die sie anhören durften, lange in freudiger Erinnerung bleiben wird. Sie bildete des Festes weihevoller, erhebender Höhepunkt.“ Die 450=jähr. Jubiläumsfeier der Universität Basel (I.), in: National-Zeitung 146, 25. Juni 1910, Erstes Blatt, 2.
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Ein ad hoc komponierter Festmarsch des langjährigen Leiters des Akademischen Orchesters, Herrn [Ernst] Markees, beschloß den in seiner knappen Einfachheit bedeutsamen Festakt in der Aula. An dem Festzug zum Münster, der von 10 Uhr an auf dem Marktplatz sich formierte, nahmen neben den Dozenten, den Behörden der Universität, der Studentenschaft, die Regierung der Stadt, ein Abgeordneter der Regierung von Baselland, der gesamte Große Rat und der Engere Bürgerrat, die Präsidenten aller gelehrten Gesellschaften und akademischen Sammlungen und die sämtlichen Zünfte teil. So entstand ein wahrhaft imposanter Zug, der sich halb 11 Uhr durch die Freie Straße und über den Albangraben zum Münster bewegte … […] Unter Orgelspiel wurde das herrliche Münster betreten, das eine solche Menschenmenge wohl nicht oft beherbergt hat.[…] Im Chor hatten Orchester und Sänger Aufstellung gefunden. Gesangverein und Liedertafel […], sowie ein Knabenchor waren aufgeboten worden zur Aufführung der Kantate, die Prof. Albert Geßler gedichtet und Hans Huber, der Basler Ehrendoktor, komponiert hat. Hermann Suter leitete meisterlich, erst eine majestätische Ouvertüre von Händel, dann zum Beschluß die genannte Kantate, deren Aufführung, um die sich auch die Solisten Maria Philippi, Else Rosenmund, Hans Ernst und Paul Böpple, verdient machten, prachtvoll gelang und alle Schönheiten der Musik, die seine lyrischen Töne so gut findet wie mächtige pathetische Akzente, zur Geltung brachte. Innerhalb dieses vornehmen musikalischen Rahmens stand die Festrede des Theologieprofessors Eberhard Vischer […]3
Diese Rede dauerte eine geschlagene Stunde.4 Um halb zwei Uhr verliess die Festgesellschaft das Münster, und dann heisst es im Bericht der Neuen Zürcher Zeitung weiter: Zum Bankett, das im Musiksaal von 2 Uhr an stattfand, haben wir dem Telegramm im Samstag Morgenblatt nichts beizufügen. Höchstens, daß man, wie bei uns am Tonkünstler=Bankett, glücklich von Tafelmusik verschont blieb. […] Auch in dieser Hinsicht trug die Universitätsfeier, rund und schön in allen Teilen gelungen, echtestes Basler Gepräge.5
Die Kantate von Geßler und Huber bildete somit den Abschluss der zentralen Feier dieses Tages, die im Münster abgehalten wurde. Der Autor des Kantatentextes, Albert Geßler (1862–1917) stammte aus Basel, war als Student auch Schüler von Jacob Burckhardt gewesen, hatte jahrelang am Gymnasium unterrichtet, war ein viel beschäftigter Rezensent der National-Zeitung und anderer schweizerischer und reichsdeutscher Kulturzeitschriften und seit 1902 ausserordentlicher Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität. Zwei Jahre nach dem Universitätsjubiläum erlitt er eine Reihe von Schlaganfällen, die ihn nach und nach seine Beschäfti3 4
5
[T.]: Vom Basler Universitätsjubiläum, in: Neue Zürcher Zeitung 174, 26. Juni 1910, Zweites Blatt, [1]. Sie ist unter dem Titel „Festrede von Prof. D. Eberhard Vischer. Gehalten im Münster, anläßlich der Universitätsfeier“, in der National-Zeitung 147, 26. Juni 1910, Zweites Blatt, 1–3, abgedruckt. Vom Basler Universitätsjubiläum (wie Anm. 3).
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gungen und Anstellungen niederlegen liessen. In Wilhelm Altweggs Nachruf im Basler Jahrbuch von 1918 heisst es über Geßlers Dichtkunst: „Die größere Menge ist geschaffen, um gut baslerischem Gebrauche gemäß festliche Gelegenheiten mit dem geistigen Schmucke der Poesie zu bereichern.“6 „Es ist keine Kunst, die Neues über das Leben offenbart, sondern nur solche, die das Leben schmückt und ziert. Aber es gewinnt der brave, ehrliche Sinn, das schlichte, allem Verstiegenen und Frechen ferne Wesen, das überall, oft rührend treuherzig, aus den Zeilen spricht.“7
II. Der einleitende „Hymnus“ der Kantate zum Jubiläum der Universität Basel beginnt mit einer Fanfare der drei Trompeten, dazu tritt die Orgel im vollen Werk mit einem ausgreifenden Aufstieg über drei Oktaven, welcher dann vom Chor in reduzierter, vokaler Ausgestaltung aufgegriffen wird, nachdem sich F-Dur als Haupttonart des gesamten Werks etabliert hat. Die grossterzverwandten Tonarten Des-Dur und A-Dur werden als Nebentonarten eingeführt, um der Bewegung des Textes Nachdruck zu verleihen: „Schnell und weit hat es gezündet, Geister rührten Geister an.“ Nach einem auf ADur basierenden, ersten Zwischenteil im „Tempo più animato“ wird unter stetiger Anspielung auf die Trompetenfanfare eine Wiederkehr des Vokalthemas, um fis-Moll kreisend, angedeutet. Dem allgemein hymnischen Ton im bewegten 6/4-Takt wird aber sogleich eine kontrastierende Aussage im Gewand eines Trauermarsches gegenübergestellt aus Anlass der Textstelle: „Mancher hat den Tod gelitten“. Nach diesem dreiteiligen Mittelteil wird der Satzbeginn in Originalgestalt wieder aufgenommen zum Text: „Und du, Stadt, zum Schutz berufen, / schirme dieses Geistes Haus, / Dass er kühn von deinen Stufen / schreite in die Welt hinaus.“ Der zweite Satz, überschrieben mit „Laudate pueri“, nimmt sich dagegen wie ein Scherzo aus, eingangs geprägt vom Klang der Holzbläser und des Schlagwerks. Zwei Motive erscheinen gleich zu Beginn miteinander: Drei Piccoloflöten – die Basler Fasnacht lässt grüssen – nehmen das Fanfarenthema des Eingangssatzes auf, Violine 1 und Glockenspiel exponieren eine Melodie, die sogleich vom Knabenchor, zu einer regelmässigen Liedstrophe verwandelt und nach Moll gewendet, aufgenommen wird. Huber schreckte nicht vor platter Nachzeichnung einzelner Worte zurück, etwa 6 7
Wilhelm Altwegg, Albert Geßler, in: Basler Jahrbuch 1918. Hg. August Huber und Ernst Jenny. Basel o. J. [1918], 19. Ibid., 7.
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wenn er zu den Worten „am schimmernden Rhein“ eine auf- und absteigende Akkordbrechung der Harfe setzt. Nach dem Hinzutreten der Trompeten nimmt wieder der hymnische Ton in den Knabenstimmen überhand, wenn sie singen: Und wir sind die Jugend, und sie sind die Lehrer; Sie schaffen und weisen und geben Rat. Auch Euch wird’ ein Danken, Ihr Schöpfer und Mehrer Des Wissens, des Glückes, der künftigen Tat.
Dazu spielen die Hörner eine in der Partitur von Huber entsprechend rubrizierte, lediglich auf den Rhythmus beschränkte „Anspielung auf ‚Gaudeamus’“, womit natürlich das Studentenlied Gaudeamus igitur gemeint ist, das bekanntlich auch Brahms 1880 in seiner Akademischen Festouvertüre op. 80 zitiert hatte. Zum abschliessenden, fortissimo ausgerufenen Wort „Tat“ stimmen die vier Hörner – unisono und in Terz- statt Oktavlage – „Rufst Du mein Vaterland“, die zeitweilige Nationalhymne der Schweiz, an, welche auf die englische Hymne God, save the king zurückgeht. Der auf eine erste Reprise des Satzbeginns antwortende Abschnitt („Molto tranquillo“ in D-Dur) bringt ein neues, absteigendes Motiv zum Text: Alma mater, hoher Tugend, Heut ward Basels Liebe neu. Magna Mater, Basels Jugend ist dir jetzt und immer treu.
Dieses Motiv nimmt auch der fünfstimmig geteilte Männerchor auf. Überdies intonieren die Hörner die aufsteigenden Dreiklangsbrechungen des anfänglichen Glockenspiel-/ Violin-Themas, welche bald zur abschliessenden, stark verkürzten Dur-Reprise des Satzes überleiten. Nach diesen beiden Chorsätzen – einerseits der Festgemeinde, andererseits der Jugend und der Männer – setzt der eigentliche Hauptteil der Kantate ein: die musikalische Vorstellung der vier Fakultäten. Bei der Darstellung der „Theologia“ durch die solistische Bariton-Stimme entfaltete Huber sein kontrapunktisches wie seine harmonisches Können. Etwas befremdlich wirkt dazu der Einsatz des Knabenchors mit der halben ersten Strophe des Luther’schen Psalmliedes Ein’ feste Burg ist unser Gott, einer allseits vertrauten Choralmelodie, welche ebenso für die lutherische Orthodoxie stehen könnte wie allgemein für das protestantische Bekenntnis. Mittlerweile war dieses Lied aber auch zu einer Art Nationalhymne des deutschen Kaiserreichs geworden, als die sie etwa Claude Debussy in En blanc et noir 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, zur Kennzeichnung der Gegner Frankreichs einsetzen wird.
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Hans Huber, Kantate zum Jubiläum der Universität Basel (1910), Autographe Partitur, 2. Satz: „Laudate Pueri“, T. 42–50: „Und wir sind die Jugend, und sie sind die Lehrer“ mit der Rubrik „Anklang an’s Gaudeamus (!)“ zu den Hornstimmen (mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Basel)
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Aus einem Begleitmotiv der „Theologia“ entwickelte Huber das Thema der „Jurisprudentia“, von dem der Männerchor ausgeht. In der ungefähren Mitte des Satzes tritt der Solosopran hinzu, offenkundig als Verkörperung der Göttin Justitia, die um Abnahme ihrer Augenbinde bittet, „denn hell soll sie schauen und lenken und richten der Menschen Geschick“. Dadurch erst findet der Satz zu jenem Ebenmass im ausgeglichenen geraden Takt, das zu Beginn und in der Satzmitte noch gefehlt hat, ja durch eingeschobene ¾-Takte sogar empfindlich in Frage gestellt wurde. Die Darstellung der „Medicina“ beginnt mit der drastischen Konfrontation zum Teil gegenläufiger chromatischer Figuren, bevor die Altstimme in rezitativischer Singweise, sich geradezu gegen die Grundtonart stemmend, eingreift: „Doch Qualen sandte der Leiber, der Seelen ein Schicksal den Menschen“, um danach, endlich angekommen im eingangs angedeuteten c-Moll, zu sinnieren: Da sucht Ihr den Ursprung im Tiefsten der Körper und fragt die Natur nach ihren Geheimnissen und prüft sie und lindert und heilt. Auf tausend Wegen bekämpft Ihr die Krankheit, auf hundert den Tod.
Auf dieses letzte Wort darf das „Dies-irae“-Thema in den Bässen nicht fehlen. Nach der Peripetie des Satzes und der Wendung nach C-Dur verkündet die Altstimme zu einem Violinsolo die Heilung, worauf zur allgemeinen Erinnerung schliesslich das chaotisch-chromatische Orchestervorspiel des Satzes für lediglich drei Takte aufgenommen wird. Zuletzt folgt die „Philosophia“, möglicherweise der interessanteste Satz der Kantate, weil hier nicht nur keine Grundtonart auszumachen ist, das Stück somit harmonisch durchaus als suchend erscheint, sondern weil darin auch verschiedene Konstellationen polyphoner wie homophoner Gestaltung nacheinander gleichsam ausprobiert werden. Der Anschluss an die vorangegangene, medizinische Heilung wird dadurch hergestellt, dass die ersten vier Takte, welche in einem fugenartigen Aufbau das Drehmotiv des Satzes in verschiedenen Gestalten übereinander schichten, noch im geraden Takt des „Medicina“-Satzes formuliert sind. Interessant ist auch, wie in der Darstellung der „Philosophia“, unmittelbar nachvollziehbar, im sechsstimmigen Chorsatz fortwährend – tonartlich wie motivisch – gesucht und verworfen wird und wie schliesslich in der Reprise, erst nach vielfachen Ausweichungen, die vom ursprünglichen C-Dur ausgegangen sind, F-Dur und Des-Dur angesteuert werden und wie schliesslich – einer Aporie gleich – das diametral entfernte fis-Moll erreicht wird zum Text: „Es harren die Rätsel der lösenden Kunst“, bevor der Satz mit einem übermässigen Terzquartakkord der Orgel schliesst, der sich auch auf den nachfolgenden Schlussteil nach F-Dur auflöst.
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Unmittelbar schliesst sich in dieser Tonart der Schlussgesang an. Huber überschrieb ihn mit „Paean“. Unter einem „Paean“ (oder häufiger in der dorischen Form „Paian“ genannt) verstanden die Griechen in vorchristlicher Zeit einen chorischen, feierlichen Bitt-, Dank- oder Sühnegesang, der in Vorbereitung auf einen Kampf oder auch zur Feier eines Sieges gesungen wurde.8 „Paian“ ist auch ein Beiname für Apollon oder Asklepios geworden: „Paian, der Nothelfer“. Damit erfüllt in Hubers Kantate der Schlusshymnus eine doppelte Rolle: Er dient zur Feier des Geleisteten und ist gleichzeitig Bitte um künftiges Gedeihen. Musikalisch ist diese Schlussnummer ebenso Zusammenfassung wie Überhöhung des Vorangegangenen. Selbstverständlich kehren die Fanfare vom Beginn und die aus dem zweiten Satz geläufigen aufsteigenden Dreiklangsbrechungen wieder. Auffällig sind neben den häufig wechselnden tonartlichen Bezugspunkten die enharmonischen Verwechslungen und Septnonenakkorde, welche den Dissonanzen ein deutliches Übergewicht innerhalb des tonalen Umfelds verleihen. Im Mittelteil in As-Dur wird das Quartett der Solostimmen von Solo-Violine und Solo-Violoncello begleitet, unter starker Hervorhebung des Triolenmotivs (aus der Darstellung der „Philosophia“). Aufstiege wie etwa der Orgeleinsatz zu Beginn des Anfangshymnus’, die durch das ganze Stück hindurch eine Rolle gespielt haben, und auch die „Rhein“-Akkordbrechungen der Harfe kehren wieder zum Text: Da nimmst du den Kranz, der so ernst dich umlaubt, und setzest ihn lächelnd der Weisheit aufs Haupt: Dem Fleiße der Lohn und die Kränze dem Geist. Er ist es, der Pfade zum Leben mir weist.
In der Coda wird das Ausgangsmotiv des „Paean“ im Hauptchor mit dem „Alma mater“-Motiv in Knaben- und Männerchor und dem Fanfarenmotiv im Orchester kombiniert. Die Schlussüberhöhung tritt nach einem Trugschluss zum Wort „Segen“ von Des-Dur aus den Rückweg nach F-Dur an, und das Werk schliesst – in Anspielung auf den ersten bzw. zweiten Satz – mit der Trompetenfanfare und den Worten: „Basels Jugend ist dir jetzt und immer treu.“
8
Ulrich Klein Art. „Paian“, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. München 1979 (Taschenbuchausgabe), Bd. 4, 406–407.
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III. Ich habe einige Textzitate eingestreut, um zu zeigen, dass es sich bei Geßlers Dichtung nicht gerade um einen erstklassigen dichterischen Wurf gehandelt hat, sondern eher um das Auftragswerk eines panegyrisch gestimmten Reimeschmieds. Die Textgestaltung hatte für die Vertonung allerdings den Vorteil, dass sie einerseits eine Art Plot bereitstellte, ohne selbst narrativ zu sein. Sie verband den unausgesetzt hymnischen Tonfall mit einem Wechsel des Personals und mit einem Gang durch die damaligen Fakultäten der Universität, also durchaus mit einer impliziten Handlungsfolge – als „klanglich kolorierter Bilderbogen, eher abgeleitet von einer Ästhetik lebender Bilder als von einer dramaturgisch geführten Handlung“,9 am besten wohl vergleichbar mit der Konzeption des Textes in Schumanns Das Paradies und die Peri. Hubers affirmative Vertonung ihrerseits ist eine eigenartige Mischung von plakativen Effekten, scharf gezeichneten Portraits der vier Fakultäten und durchaus vielschichtigem Eingehen auf den Text, dessen Deklamation ausgeleuchtet wird und dessen Wortinhalte gelegentlich in geradezu barocker Figürlichkeit nachgezeichnet werden. Darüber hinaus wird der Textinhalt mittels struktureller Massnahmen verkörpert, wie etwa das umständliche Suchen nach einem tonalen wie metrischen Halt im Abschnitt über die „Philosophia“, das Geßlers Text an dieser Stelle durchaus angemessen ist. Darüber hinaus fallen die vielfältigen Verknüpfungen und Reminiszenzen auf, welche das kontrastreiche Gefüge zu einem grossen Gesamtverlauf zusammenschweissen. Von einem sinfonischen Anspruch zu sprechen, wäre dennoch übertrieben, da die siebenmalige Aneinanderreihung von dreiteiligen Formen mit jeweils verkürzter Reprise eher den traditionsgebundenen Zwang zur Abrundung als formale Innovation verrät. Stilistisch bewegt sich das Ganze manchmal unverkennbar in Brahms’schen Spuren, gelegentlich auch mit instrumentatorischen Effekten, die durchaus an die Orchestersprache von Richard Strauss oder Gustav Mahler erinnern, und an einigen Stellen leuchtet sogar etwas von den harmonischen und kontrapunktischen Kniffen durch, wie sie auch der damals zumal in Basel immer berühmtere Max Reger anwandte.10 Es ist denkbar, dass Huber da und dort bewusst auf ältere Werke Bezug genommen hat, 9 Hansjörg Ewert, Oratorien, in: Schumann Handbuch. Hg. Ulrich Tadday. Kassel 2006, 490. 10 Andrea Wiesli, „Dilettanten ... und zwar sehr gute“. Carl Eduard und Marie BurckhardtGrossmann im Basler Musikleben des Fin de Siècle. Basel 2010, 139–142.
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denn wer denkt beim Solistenquartett im Schlusschor nicht an die ähnliche solistische Steigerung im Finale von Beethovens Neunter Sinfonie oder bei einem seelenvollen Violinsolo, mitten in einem derart hymnischen Werk, nicht an das „Benedictus“ aus Beethovens Missa solemnis? Es wäre zweifellos falsch, dem Werk einen innovativen Anspruch zu unterstellen. Dass Huber auf unterschiedliche Einflüsse rekurriert, zeugt zumindest von seinem Interesse an der musikalischen Weltliteratur. Die Besetzung mit Solisten, gemischtem Chor, Knabenchor und Männerchor mag an die grossen sinfonischen Chorwerke jener Zeit erinnern, etwa an Schönbergs Gurre-Lieder oder Mahlers Achte Sinfonie, die aber Huber beide noch nicht gekannt haben kann.11 Viel näher liegt freilich der Bezug zu den Festspielmusiken, mit denen sich Huber bei früheren Gelegenheiten die Achtung der Stadtbevölkerung verschafft hatte: die Festmusik für die Kleinbasler Gedenkfeier von 1892 und die Festmusik für die Gedenkfeier zum Eintritt Basels in den Schweizerbund von 1901 (beide auf Texte von Rudolf Wackernagel).12 Auch in diesen zwei ganz auf ihre folkloristisch-feierliche Funktion ausgerichteten Werken ist ein ähnliches Arrangement von narrativen Stationen in Form von Solistennummern und pittoresken Chören aller Art zu beobachten. Dies erweist schon der Blick ins Inhaltsverzeichnis des Festspiels Der Basler Bund 1501 von 1901: „Festchor und Solo der Spinnerin“, „Chorgesang in der Kirche“, „Marschlied“, „Chöre der Bäcker und Metzger“, „Prunkvoller Vorbeizug der Adeligen“, „Festchor“, „Szene der Landfahrerin“ bestehend aus „Spielmanns-Lied“, „Lied der Landfahrerin“ und „Bauerntanz“, danach „Viol’s Lied“ etc. Die historischen Festspiele von 1892 und 1901 waren „typisch für die Form der bürgerlichen Repräsentation der Volkssouveränität als Versammlung des Volkes unter freiem Himmel zu festlichem Anlasse“.13 Konkreter noch dienten solche Festspiele, wie sie in der Schweiz von 1886 bis 1905 boomten, „der Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit, d. h. eines offiziellen Erinnerns.“14 Kein Wunder auch, dass bei dem früheren 11 Mahlers Achte Sinfonie wurde erst am 12. September 1910 in München uraufgeführt, Schönbergs Gurre-Lieder wurden sogar erst am 23. Februar 1913 in Wien uraufgeführt. Es ist zu bezweifeln, dass Huber bereits vor diesen Ereignissen Kenntnis von diesen Werken hatte. 12 Zur Basler Festspielkultur siehe u. a. Stefan Hess, Basler Vereine und Festspiele. Mit vereinten Kräften, in: Mimos 1997/4, 27–31, sowie Stefan Hess, Basler Festspiele. Zum Beispiel die Gedenkfeiern 1901, 1944 und das geplante Festspiel 1998, in: Musikstadt Basel. Hg. Sigfried Schibli. Basel 1999, 77–89. 13 Philipp Sarasin, Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft. Basel 1846– 1914. Göttingen 1997, 313 (2. erw. u. überarb. Aufl.) 14 Ibid.
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Festspiel von 1892 1080 Laien-Schauspieler, rund 800 Sängerinnen und Sänger aus Basler Chorvereinigungen, dazu 101 Musiker im Orchester mitwirkten. Auf der eigens dafür gebauten Bühne bewegten sich 1892 gleichzeitig bis zu 500 Personen und 30 Pferde.15 Man gewinnt den Eindruck, dass die ganze Stadt daran teilgenommen hat und dass damit ein Identifikationsbedürfnis aller Beteiligten gestillt worden ist. Jetzt, im Juni 1910, wird der Rahmen enger gesetzt: eine beschränkte Anzahl von Mitwirkenden führte lediglich eine Kantate im Innern des Münsters innerhalb einer zeitlich begrenzten Feier auf. Dennoch spricht schon aus dem Text der Kantate ein grosser Wille oder auch ein Angebot an die gesamte Bevölkerung, repräsentiert durch die anwesende Festgemeinde, sich mit der Stadt und ihrer Universität zu identifizieren. Ja beide, die Stadt als Republik und die Universität als Gelehrtenrepublik, treten in ein enges Verhältnis zueinander: Politische Tat und geistiger Rat verbünden sich im Rahmen der Dichtung: Als aus Geistes Sonnenreichen Leuchten auf uns Niederfuhr. Schnell und weit hat es gezündet, Geister rührten Geister an und die Tat, der Tat verbündet brach durch des Dunkels Bann. [Tempo di marcia funebre] Mancher hat den Tod gelitten, um des Geistes Ritterschaft, noch ist nicht das Ziel erstritten... Hilf uns, Licht und ew’ge Kraft. Und Du Stadt zum Schutz berufen, Schirme dieses Geistes Haus etc.
Im Knaben- und Männerchorsatz an zweiter Stelle („Laudate pueri“) wird sogar nicht mehr unterschieden zwischen innerhalb und ausserhalb der Universität, denn es kommt zu einer Annäherung der Generationen der Lehrer und der Jugend, ja zu einem regelrechten Treueschwur zwischen ihnen: Und wir sind die Jugend, und sie sind die Lehrer; Sie schaffen und weisen und geben den Rat. Auch Euch wird’ ein Danken, Ihr Schöpfer und Mehrer des Wissens, des Glückes, der künftigen Tat. Alma mater, hoher Tugend, Heut ward Basels Liebe neu Alma mater, magna mater, Basel Jugend ist dir jetzt und immer treu.
Danach wird die Nützlichkeit der einzelnen Fakultäten besungen, um schliesslich den Schutz der Gelehrten durch den Staat heraufzubeschwören. 15 Ibid., 314, gestützt auf Basler Vereinigungsfeier 1892. Offizieller Festbericht. Basel 1892, 21, 31 bzw. 34.
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Dabei schwingen stets geschlechterdifferente Untertöne mit: der Staat wird männlich als schützender Vater konnotiert, die Universität weiblich, ausdrücklich als „Alma mater“. Mehr noch: das Verhältnis von Stadt und Universität wird geradezu als eheliche Verbindung suggeriert, die es nun, aus festlichem Anlass, wieder zu beleben gilt. Es ist wahrscheinlich nicht zu hoch gegriffen, die Musik der Jubiläumskantate von Hans Huber als ein Beispiel für politische Musik zu verstehen: Sie bietet den ästhetischen Rahmen dafür, dass in einem festlichen Umfeld zutiefst politische Gedanken geäussert werden können und so zum Ausdruck gebracht werden, dass dieser politisch intendierte Inhalt auch als solcher verstanden werden kann.16 Die Art und Weise der Vertonung, in ihrer unmittelbar sinnfälligen Gestalt, ihre deutlichen Öffnungen für eine jeweils relativ eindeutige hermeneutische Durchsicht und die Bereitschaft, dies alles auch in einigermassen unverhüllter Form – manchmal am Rande der Kunst und dem Klischee schon nahe – auszudrücken, sind die Voraussetzungen dafür, dass in diesem Kontext der gedachte politische Gehalt auch von möglichst vielen Rezipienten als solcher begriffen werden kann.17 Die Integration, die hier beschworen wurde, hatte aber auch ihre Grenzen. Heraufbeschworen wurde ein Bündnis der nach Wissen Strebenden und der Mächtigen der Stadt. Menschen, die sich auf der gesellschaftlichen Skala weiter unten befanden, wurden nicht angesprochen. So gesehen blieb das Identifikationsangebot an die Zuhörenden wissentlich einseitig, damit aber auch frei von unerwünschter Gegnerschaft. Allfällige Bezüge zur Gegenwart oder zur jüngeren Vergangenheit vermieden Textautor und Komponist gekonnt durch den impliziten und deswegen allgemein gehaltenen Rückgriff auf die „gute alte Zeit“. Die Musik passt sich diesen Bedürfnissen durchaus an. Sie pflegt den hymnischen Ton, erlaubt Assoziationen aussermusikalischer Gehalte, rekurriert aber auch immer wieder auf bereits Bekanntes, beispielsweise auf Nationalhymne, Studenten- und Kirchenlied, und schafft auch durch unüberhörbare interne Bezüge einen Raum für die Identifikation der Zuhö16 Rainer Bayreuthers Versuch, das Wesen politischer Musik grundsätzlich zu erfassen, gipfelt in dem Satz: „Der Akt des Musikmachens selbst ist das Politische, sofern der musikalische Akteur eine politische Intention hat.“ Rainer Bayreuther, Überlegungen zu einer Theorie politischer Musik am Beispiel von Händels ‚Ode für the Birthday of Queen Anne’, in: Die Musikforschung 63 (2010), 235. 17 „Die kompositorische Entscheidung für ein bestimmtes musikalisches Merkmal, die der Grund für die Politisierung des Kontextes sein solle, benötigt selbst einen politischen Kontext, damit das musikalische Merkmal ein politisches ist.“ Bayreuther, Überlegungen zu einer Theorie politischer Musik (wie Anm. 16), 235.
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renden mit Stadt und Universität und darüber hinaus ein Fundament für die Solidarisierung der Ausführenden mit dem Publikum, der Bürger mit ihrer Universität, der Universität mit ihren Festgästen und schliesslich auch der Stadt mit dem Umland, ja der gesamten Eidgenossenschaft, innerhalb derer Basel dank seiner ältesten Universität eine gewisse Vorrangstellung beanspruchen durfte. Hans Huber war zweifellos der angemessene Empfänger eines solchen Auftrags – das hatte er bereits als Komponist der früheren Festspielmusiken bewiesen. Seine Fähigkeit zur emotionalen Sammlung vielfältiger Befindlichkeiten mit Hilfe der Musik trug ihm nach seinem Tod einen Nachruf im Basler Jahrbuch von 1924 ein, in dem sein Apologet Edgar Refardt gerade die gesellschaftliche Wirkung von Hubers Tätigkeiten als Kammermusiker, als Direktor der neu gegründeten Berufsabteilung der Musikschule wie als Komponist von bedeutender Musik, seien dies grosse Sinfonien, Kammermusik, Lieder, Chorwerke oder zeitgebundenere Kompositionen, hervorgehoben hat.18 Dabei ist nicht ganz bedeutungslos, dass Huber ein Zugewanderter war.19 Geboren wurde er am 28. Juni 1852 im solothurnischen Weiler Eppenberg, wenige Kilometer westlich von Aarau, aufgewachsen war er im benachbarten Schönenwerd, die Schulzeit verbrachte er in Solothurn, aber mangels geeigneter Ausbildungsstätten in der Schweiz studierte Huber von 1870 bis 1874 am Leipziger Konservatorium bei Carl Reinecke. Danach hatte er vorzügliche Angebote als Universitätsmusikdirektor nach Marburg und sogar als Konservatoriumslehrer nach Chicago. Huber zog es aber vor, sich ins elsässische Wesserling als Klavierlehrer der dortigen Industriellentöchter zurückzuziehen und sich gewissenhaft auf spätere Aufgaben vorzubereiten. Nur zögerlich gelang es ihm ab 1874, in Basel Fuss zu fassen, zunächst als Pianist, danach als Komponist, allmählich als privater Musiklehrer und schliesslich 1889 als Leiter der Fortbildungsklassen für Klavier der Musikschule. 1896 wurde er Direktor der Musikschule, und 1905 gründete er deren Berufsabteilung, das Konservatorium. 1899 bis 1902 leitet er den Basler Gesangverein, und im Jahr 1900 war er massgeblich an der Gründung des Schweizerischen Tonkünstlervereins beteiligt. Gesundheitliche Probleme erzwangen 1918 den Rücktritt von allen Ämtern und
18 Edgar Refardt, Die Bedeutung Hans Hubers für das Basler Musikleben, in: Basler Jahrbuch 1924. Hg. August Huber und Ernst Jenny. Basel o. J., 51–79. 19 Die folgenden biographischen Informationen entstammen zur Hauptsache dem Standardwerk über Hans Huber (Edgar Refardt, Hans Huber. Leben und Werk eines Schweizer Musikers. Zürich 1944), sowie Edgar Refardt, Hans Huber. Beiträge zu einer Biographie. Leipzig-Zürich 1922.
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die Übersiedelung nach Locarno, wo Hans Huber am Weihnachtstag 1921 verstarb. Begraben wurde er in Vitznau am Vierwaldstädtersee, wo er seit 1883 alljährlich den Sommer verbracht hatte. Huber hinterliess neben den beiden populären Festspielmusiken Messen, Chorwerke, fünf Opern, acht Sinfonien, Konzerte: vier für Klavier und zwei für Violine, ein reichhaltiges Kammermusikschaffen, darunter neun Violin- und fünf Violoncellosonaten, zahlreiche Lieder, Duette, Quartette, weltliche und geistliche Chorwerke und unzählige Klavierwerke. Dass Huber seine Kantate anlässlich der Münsterfeier nicht selbst dirigiert hatte, sondern diese Ehre Hermann Suter überliess, ist die Folge einer Entscheidung, die Huber bereits 1902, zum Dienstantritt seines ehemaligen Schülers Suter als Dirigent der Allgemeinen Musikgesellschaft (AMG) gefällt hatte. Damals war er von der Leitung des Gesangvereins zurückgetreten, damit Suter die Direktion von AMG, Gesangverein und Liedertafel in seiner Hand vereinen konnte. Huber selbst hatte fortan – nicht ganz reibungslos20 – auf das Dirigieren verzichtet und sich selbst aufs Komponieren und seine Arbeit an „Musikschule und Konservatorium“21 konzentriert. Wurden bis hierhin ausschliesslich diejenigen verbindenden Momente zwischen Universität und Stadt hervorgehoben, die in der Festkantate zum Ausdruck kommen, so ist darüber hinaus festzustellen, wie sehr erstens die Stadtbevölkerung an der Vorbereitung des Universitätsjubiläums teilgenommen hatte und wie zweitens gewisse Festvorbereitungen selbst bereits auf den Inhalt von Hubers Festkomposition hingewiesen hatten: 1.) Es wäre heute wohl undenkbar, dass die Stadtbewohner positiv auf einen kurzfristigen Aufruf reagieren würden, das eigene Haus aus einem universitären Anlass zu beflaggen. Genau dies scheint 1910 noch problemlos möglich gewesen zu sein; denn erst am 22. Juni, zwei Tage vor dem feierlichen Anlass, stand in der National-Zeitung: An die verehrliche Einwohnerschaft, besonders an die Bewohner der vom Festzug benützten Straßen, ergeht hiemit die freundliche Bitte, am Hauptfesttag des Universitätsjubiläums, Freitag den 24. Juni, ihre Häuser zu beflaggen. Der Festzug, der den Marktplatz, wo er sich versammelt, vormittags halb 11 verlassen wird, macht folgende Route: Marktplatz, Freiestraße, Albangraben, Rittergasse, Münster.22
20 Wilhelm Merian, Herman Suter. Ein Lebensbild als Beitrag zur schweizerischen Musikgeschichte. Basel 1936, Bd. 1, 85–86. 21 Hans Oesch, Die Musik-Akademie der Stadt Basel. Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen der Musikschule Basel 1867–1967. Basel o. J. [1967], 21. 22 „Festzug bei der Universitätsfeier“ unter der Rubrik „Aus Basel“, in: National-Zeitung 143, 22. Juni 1910, Erstes Blatt, 2.
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2.) Wie stark bereits in den Vorbereitungen auf das Jubiläumsfest zum 450jährigen Bestehen der Universität Basel auf die im Entstehen begriffene Kantate Bezug genommen wurde, beweist der folgende Eintrag aus der National-Zeitung vom 23. Juni: Die Medaille zur Jubelfeier der Universität, aus der Künstlerhand Hans Frei’s, ist fertig. Das Exemplar, das wir eben gesehen haben, übertrifft an Schönheit die Photographie des Entwurfes weit. Die Ausführung ist eine überaus feine, weiche, vornehme. […] Unsere Leser kennen Avers und Revers. Dieser trägt die monumentale Legende, jene ist eine feinsinnige Künstlervariante zu den Versen des Schlußchores der Geßler=Huberschen Kantate, wo von Basel gesagt wird: Da nimmst du den Kranz, der so ernst dich umlaubt, Und setzest ihn lächelnd der Weisheit aufs Haupt: „dem Fleiße – der Lohn, und die Kränze – dem Geist; Er ist es, der Pfade zum Leben mir weist!“ Mit Medaille und Festzeichen hat Hans Frei der Universitätsfeier unvergängliche Denkmäler geschaffen.23
IV. Wenn auf die integrierenden und Solidarität stiftenden Momente in Geßlers und Hubers Kantate hingewiesen wurde, so erwiesen sich diese im Juni 1910 als besonders notwendig. Denn die Uraufführung des Werks erfolgte nicht im Rahmen der Universitätsfeier an jenem Freitag, dem 24. Juni, sondern sie hatte zwei Tage zuvor stattgefunden. Am Mittwoch, dem 22. Juni, stand in der National-Zeitung: Es trifft sich schön, dass die Universitätsfeier nun noch Gelegenheit gibt, für die Wassergeschädigten in der Schweiz etwas zu tun; wie gestern mitgeteilt wurde, wird am Mittwoch, abends 7 Uhr, im Münster ein Wohltätigkeitskonzert veranstaltet, das einem weiteren Publikum die Gelegenheit gibt, Hans Hubers Kantate zum Universitätsjubiläum zu hören, und das außerdem mit einem reichen, äußerst anziehenden Programm ausgestattet ist. […] Es steht zu hoffen, daß das Münster bis auf den letzten Platz sich fülle; es wird einem wahrlich nicht schwer gemacht, wohltätig zu sei, wenn solche Genüsse in Aussicht gestellt werden.24
Ab Dienstag, dem 14. Juni, war die Schweiz von derart heftigen Regenfällen heimgesucht worden, dass die Stadt Luzern und in Bern das Matteund Altenbergquartier beinahe einen Meter unter Wasser standen, dass
23 Universitäts=Medaille, in: National-Zeitung 144, 23. Juni 1910, Zweites Blatt, 11. 24 [Korr.], Wohltätigkeitskonzert für die Wassergeschädigten im Münster, unter der Rubrik „Aus Basel“, in: National-Zeitung 143, 22. Juni 1910, Erstes Blatt, 3.
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zahlreiche Bäche, besonders in der Zentral- und Ostschweiz über die Ufer getreten und manche Brücken mitgerissen worden waren.25 Zürich hatte mehr als 24 Stunden gar keine Beleuchtung, weil das Gaswerk in Schlieren überschwemmt worden und infolgedessen funktionsuntüchtig geworden war.26 In Basel musste der Schiffsverkehr eingestellt werden, weil der Pegel bei 4 Meter 02 viel zu hoch über dem Normalpegel von 3 Meter 33 stand usw.27 Die Zeitungen in der Kalenderwoche vor dem Universitätsjubiläum waren voll von Katastrophenmeldungen und Hilferufen. Von der Stadt Basel aus, die sich auf ihren Gemeinsinn etwas einbildete28 und die selbst nicht direkt betroffen war, bemühte man sich sichtlich, mindestens mit finanziellen Mitteln zu helfen. Da kam der Termin einer musikalischen Vorveranstaltung auf das Universitätsjubiläum gerade recht. Dieses Wohltätigkeitskonzert, dessen Termin wohl ursprünglich als Hauptprobe geplant gewesen war, die man kurzfristig aus gegebenem Anlass in eine öffentliche Veranstaltung umwandelte und die somit zur Uraufführung der Jubiläumskantate führte, wurde sogar mit einer veröffentlichten Rezension gewürdigt. Am Freitag, dem 24. Juni, just zum Zeitpunkt, als die Universitätsfeierlichkeiten ihren Höhepunkt erreicht hatten, konnten diejenigen, die daran nicht teilnahmen, in der druckfrischen zweiten Ausgabe der National-Zeitung lesen: Die Allgemeine Musikgesellschaft, der Basler Gesangverein und die Basler Liedertafel haben sich am Mittwoch Abend in sehr verdankenswerter Weise in den Dienst der Wohltätigkeit gestellt; es galt ein Scherflein beizusteuern zur Linderung der Not der Wasserbeschädigten der Schweiz. Ein Appell an die Opferfreudigkeit und den Wohltätigkeitssinn der Bevölkerung verhallt in Basel nie ungehört und wirkungslos. Und wenn nun gar noch musikalische Genüsse schönster und edelster Art in Aussicht stehen, dann darf eine Veranstaltung, wie sie uns die drei großen städtischen Vereine, unter Beiziehung einer Reihe von tüchtigen und bewährten solistischen Kräften im ehrwürdigen Münster geboten haben, eines vollen künstlerischen und materiellen Erfolges sicher sein. Unbestreitbar der Mittelpunkt des Interesses der zahlreichen Konzertbesucher stand die Kantate zum Jubiläum der Universität Basel, Dichtung von Prof. A. Geßler und Komposition von unserem Hans Huber […]29
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Hochwasserberichte, in: National-Zeitung 138, 16. Juni 1910, Erstes Blatt, 1-2. Hochwasser, in: Neue Zürcher Zeitung 164, 16. Juni 1910, Erstes Abendblatt, [1-2]. Vom Rhein, in: National-Zeitung 138, 16. Juni 1910, Erstes Blatt, 3. Philipp Sarasin, Stiften und Schenken in Basel im 19. und 20. Jahrhundert. Überlegungen zur Erforschung des bürgerlichen Mäzenatentums, in: Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert. Hg. Jürgen Kocka und Manuel Frey. Berlin 1998, 192–211. 29 [Tsch.], Wohltätigkeits=Konzert im Münster. Mittwoch, den 22. Juni, in: National-Zeitung 145, 24. Juni 1910, Zweites Blatt, 10.
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Dominik Sackmann
Nach einer ausführlichen Besprechung der einzelnen Sätze der Kantate heisst es dazu abschliessend: Mit Eifer und Begeisterung haben sich sowohl die Chöre wie das Orchester und Herr Hamm, der die Orgel trefflich spielte, unter Herman Suter ’s peinlich sorgfältiger Führung an das schwierige Werk herangemacht; sie alle brachten eine wohlabgerundete Wiedergabe der Kantate heraus, die beim Publikum sichtbar freudige Dankbarkeit auslöste. Um freilich alle intimen Reize und Schönheiten des Werkes, das seinen Schöpfer ehrt, würdigen zu können, müsste man es mehr als einmal mit anhören.30
30 Ibid.
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Serenus Zeitblom: Ich spiele die Viola d’amore Willem de Boer in Thomas Manns Doktor Faustus Hans Schoop
Die Sekundärliteratur zu Thomas Manns Doktor Faustus füllt mittlerweile ein ganzes Regal. Das Musikverständnis des Schriftstellers ist ebenfalls auf vielfältige Weise durchleuchtet und kommentiert worden. Die wichtigsten Beiträge zur Musik sind von Volker Scherliess und Hans Rudolf Vaget: zu den Romanfiguren von Hans Wißkirchen und Thomas Sprecher1 und zum Spezialgebiet der Viola d’amore von David Troutman und Thomas Georgi, beide sind Viola d’amore-Spieler.2 Dazu kommen die Selbstzeugnisse von Thomas Mann. Mein überarbeiteter Vortrag, gehalten am 13. Internationalen Kongress der Viola d’amore Society, 2006, in Rendsburg (Schleswig-Holstein), wird daher nicht für alle Interessierten neue Fakten bringen. Da ich einige der realen Vorbilder, die Teil der Romanfiguren wurden, noch persönlich kannte, gewisse Schauplätze in ihrer früheren Gestalt in Erinnerung habe und die einschlägigen Musikstücke selbst gespielt habe, könnten meine Ausführungen gleichwohl berechtigt sein. Es geht keineswegs darum, Inhalt, Verflechtung und die spezielle Stimmung des Romans zu entzaubern. Das komplexe Gebilde der literarischen Komposition braucht diese Entschlüsselung nicht, sie kann aber die Erlebnisfähigkeit des Schriftstellers auf andere Weise offen legen. Der vollständige Titel des Romans lautet Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Die Jugendjahre der beiden Protagonisten Leverkühn und Zeitblom liegen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Thüringen, in dem altdeutschen Phantasieort Kaisersaschern. Spätere Stationen des Romans sind Halle, Leipzig, München, dann Palestrina bei Rom, Zürich, dazwischen werden Lübeck und Pacific Palisades gestreift. Das hat auch mit der besonderen Zeitschichtung des 1
2
Dazu u. a. „und was werden die Deutschen sagen?“ Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Hg. Hans Wißkirchen und Thomas Sprecher. Lübeck 1997; darin Volker Scherliess, Zur Musik im Doktor Faustus, 113. David Troutman, in: Newsletter of The Viola d’amore Society of America, Nov. 1993, Thomas Georgi, More on the Viola d’Amore in Thomas Mann’s novel Doctor Faustus, in: Newsletter of The Viola d’amore Society of America, Nov. 2005, 12–15.
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Romans zu tun, dessen wichtigste Geschehnisse in die Zeit zwischen 1905 und 1930 fallen. Sie korrespondieren also mit Manns Münchner-Jahren, mit einem Schwerpunkt kurz vor dem 1. Weltkrieg und einem weiteren in den 1920er Jahren. Es ist also der Roman seiner Epoche, „verkleidet in die Geschichte eines hoch-prekären und sündigen Künstlerlebens.“3 Das heisst nun aber nicht, dass sich die mit Realem verbundenen Geschehnisse tatsächlich in dieser Epoche und an dem beschriebenen Ort ereignet hätten. Zudem wirft die Zeit, in welcher der Roman entstanden ist (zwischen 1943 und 1947 in Kalifornien), ihre bösen Kriegsschatten aus der Heimat des Schriftstellers immer wieder ins Geschehen. Auf der untersten Zeitebene erscheint die deutsche Geschichte. Sogar die ältere deutsche Sprache und Figuren aus der Reformationszeit, u. a. Martin Luther und Albrecht Dürer, sind eingeflochten. Dann spielen vor allem Figuren des 19. Jahrhunderts, des Nietzsche-Kreises eine Rolle. Sie werden in der so genannten Montage der Romanfiguren übereinander geblendet. Da es sich um einen Musiker-Roman handelt, ist ein imaginärer Komponist die Hauptperson. Er ist ein kühner Neutöner und schreibt seine Kompositionen in Anlehnung an das Zwölftonsystem. Deshalb sind entsprechende Modelle aus der Musikwelt zentral. Weitere Bezugspunkte und Parallelgeschichten sind mit Mitgliedern von Thomas Manns Familie besetzt: mit seinen Geschwistern, seinen Kindern und dem Enkel Frido sowie mit einem unerhört grossen Bekanntenkreis. Thomas Mann war eher ein Musikliebhaber und passionierter Musikhörer als ein Musikkenner, im Gegensatz etwa zu den Schriftsteller-Komponisten E.T.A. Hoffmann, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Er hatte fast keine praktischen und theoretischen Kenntnisse und verfügte auch nur über spärliches musikhistorisches Wissen. Auch sein Musikhören war einseitig geprägt: vertiefte Kenntnisse finden sich in Hörerfahrungen im Zusammenhang mit Wagners Musikdramen und Beethovens späten Sonaten und Quartetten: sein Lieblingswerk war Beethovens a-Moll Quartett op. 132 mit seiner erzählenden Struktur, „diese(s) höchst(e) Werk, das ich, wie durch Fügung, in den Jahren des Faustus gewiss fünf Mal zu hören bekommen habe“4. Seine Hörerfahrungen lagen also, grob gesagt, zwischen Bach und Pfitzner, entsprechend dem Schwerpunkt des Romans, bei der deutschen Musik. Dem stand ein Mangel an Hörerfahrung mit Neuer Musik gegenüber. Zu ihr hatte er nach eigener Aussage einen „sehr theoretischen 3 4
Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 11. Frankfurt am Main 1960, 169. Ibid., 185.
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Bezug: Ich weiss wohl etwas davon, aber geniessen und lieben kann ich sie eigentlich nicht“.5 Das führte bei der Durchführung des Romanthemas zu einigen Problemen und zu inneren Unsicherheiten, ja Zweifeln, die er mit Hilfe seines Freundes Bruno Walter und weiteren ebenfalls nach Kalifornien emigrierten und sich in seiner Nachbarschaft niedergelassenen Personen (Theodor Wiesengrund Adorno, Arnold Schönberg, Ernst Krenek, Hanns Eisler und Otto Klemperer) teilweise beheben konnte. Mann betrieb in der Vorbereitungsphase zum Doktor Faustus umfangreiche Quellenstudien (zur Faustsage, zum Diabolischen, vor allem zu Nietzsches Philosophie und Biographie) und bildete sich zudem musikgeschichtlich anhand einschlägiger Werke weiter. So war es folgerichtig, dass er manches auf Nietzsches Begriffspaar des Dionysischen und Apollinischen aufbaute.6 Auf diesem Begriffspaar basiert auch die Darstellung der fast gleichzeitig erschienenen Musikgeschichte von Karl Wörner mit dem Titel Musik der Gegenwart, die treffend die Musikanschauung der unmittelbaren Nachkriegsjahre darstellt.7 Wörner war zudem einer der ersten, der 1948 einen Essay über die Musik in Manns Roman veröffentlichte.8 Mann war um 1930 zweifellos die herausragendste literarische Gestalt Deutschlands, vor allem nachdem er 1929 für die Buddenbrooks den Nobelpreis erhalten hatte. Seine Grundhaltung war wertkonservativ, war kulturund kunstorientiert. Seine Umgebung war geprägt von konservativen, nationalen und jüdischen Intellektuellen. Er selbst zeigte sich prägnant antifaschistisch, da er seine Ideale „von einer jämmerlichen Clique usurpiert fand“. Das brachte ihn nach 1933 in Schwierigkeiten, vor allem nach seiner Münchner Rede zum 50. Todestag von Richard Wagner.9 Nach der von Hans Knappertsbusch und Hans Pfitzner angeführten Münchner Protestaktion, folgten zunehmend national-sozialistische Angriffe und Übergriffe, so dass nicht nur er, sondern mit ihm seine ganze publizistisch tätige 5 6
7 8 9
Brief an Hans Heinz Stuckenschmidt vom 19. Okt. 1951, zitiert in Joachim Kaiser, Thomas Mann und der „Ring des Nibelungen“, in: Leben mit Wagner. München 1990, 180. Dazu ausführlicher Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872/86). Kritische Studienausgabe. Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin usw. 1999. Erkme Joseph, Nietzsche im Doktor Faustus, in: „und was werden die Deutschen sagen“ (wie Anm. 1), 90–92. Karl H. Wörner, Musik der Gegenwart, Geschichte der Neuen Musik. Mainz 1949. Karl H. Wörner, Ein Dichter über Musik. Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“, in: Musica 2/5 (1948), 229–237. Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners (Vortrag gehalten am 10. Feb. 1933 im Auditorium Maximum der Universität München, erstmals erschienen in Neue Rundschau, April 1933), in: Im Schatten Wagners, Thomas Mann über Richard Wagner. Hg. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt am Main 2005 (2. Aufl.), 87–143.
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Familie in die Emigration gedrängt wurde, wie auch viele seiner Schriftsteller-Kollegen und Verleger. Zuerst ging es nach Frankreich, dann ab 1934 an den Zürichsee. Für die nächsten fünf Jahre war Küsnacht bei Zürich für die Manns die neue Heimstatt. Diese Jahre sind für das spezielle Thema dieses Aufsatzes belangvoll. Mann und ein Teil der Familie emigrierten dann erneut. Er ging im Herbst 1938 in die USA, zuerst für zwei Jahre nach Princeton, dann nach Kalifornien. Nach der Verschlechterung des politischen Klimas in den Vereinigten Staaten in den Nachkriegsjahren und nach der Kenntnisnahme seiner dauernden Überwachung durch das FBI kehrte er, obwohl inzwischen Bürger der USA, wie nicht wenige seiner emigrierten Freunde in die Schweiz zurück, wo er wieder in der Nähe Zürichs Wohnsitz nahm. Seinen 75. Geburtstag feierte er mit seiner Frau Katia und seinen Kindern Erika, Elisabeth und Michael mit Frau Gret im Zürcher Zunfthaus zum Saffran. Thomas Mann weigerte sich, für immer nach Deutschland zurückzukehren und mit den Leuten der so genannten inneren Emigration gemeinsame Sache zu machen, obwohl er „nie aufhören“ werde, „sich als deutscher Schriftsteller zu fühlen“.10 Der Roman hat neben der Hauptfigur, dem Komponisten Adrian Leverkühn – wie erwähnt – einen weiteren Protagonisten: den Erzähler des Lebenslaufs, den treuen Jugendfreund und Bewunderer des genialen Musikers, dessen Entwicklung er bis zum schrecklichen Ende durch Syphilis aufzeichnet. Sein Name: Serenus. Er steht für klassische Bildung, für eine griechische, eine apollinische Heiterkeit.11 Er ist denn auch Gymnasiallehrer für alte Sprachen und als solcher eine Kontrastfigur zu und zugleich ein Alter Ego, eine korrespondierende Hälfte sowohl von Leverkühn als auch von Mann. Im Kapitel IV grenzt sich Serenus von Leverkühn ab: „Ich bin ein altmodischer Mensch, stehen geblieben bei gewissen, mir lieben romantischen Anschauungen“12 – eine Charakterisierung mit besonderer Nähe zu Mann. Sein Nachname: Zeitblom (Mann wählte bekanntlich die Namen seiner Figuren stets bedeutsam) heisst in etwa: seiner Zeit verpflichtet sein. Als Erzähler kann er auch dem Zeitgeist verfallen sein. Der Name ist wohl von einem Ulmer Maler übernommen, der um 1500 zeitgleich mit Dürer wirkte. 10 Thomas Mann, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: Essays, Bd. 2: Politische Reden und Schriften. Hg. Hermann Kurzke. Frankfurt am Main 1977, 350. 11 Bei diesem Begriff folgt Mann Igor Strawinsky, wenn er dessen Ideen über das Ballett übernimmt: „es sei, als Triumph massvoller Planung über das schweifende Gefühl, der Ordnung über den Zufall, als Muster apollinisch bewussten Handelns, das Paradigma der Kunst.“ Thomas Mann, Doktor Faustus. Frankfurt am Main 1997, Kap. XXVIII, 370. 12 Ibid., Kap. IV, 35.
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Zu Beginn des Romans stellt sich Zeitblom mit folgenden Zeilen vor: Ich bin eine durchaus gemässigte und […] auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur, ein Gelehrter und conjuratus des „Lateinischen Heeres“, nicht ohne Beziehung zu den Schönen Künsten [und dann die Überraschung in Klammern notiert] (ich spiele die Viola d’amore), [ich bin] aber ein Musensohn im akademischen Sinne des Wortes, welcher sich gern als Nachfahre der deutschen Humanisten […] betrachtet.13
Die unerwartete Erwähnung des seltenen Instrumentes, der oft nur dem Namen nach bekannten Viola d’amore im Umfeld der „Antike“ ist wohl als Anrufung Apolls zu verstehen, etwa im Sinne von Raffaels bekanntem Fresko in den Stanzen des Vatikans. Raffaele Santi zeigt den Gott als Musiker auf dem Parnass sitzend, umgeben von den neun Musen und den klassischen Dichtern. Auf die Schulter gelehnt hat er eines der Lieblingsinstrumente der Renaissance, die 7saitige Lira da braccio. Das war eine Vorläuferin der späteren Streichinstrumente und auch der meist 7saitigen Viola d’amore. Da die Kunsthistoriker es selten genau nehmen mit den Namen der Musikinstrumente, wird in älteren Publikationen die Lira da braccio oft als Viola d’amore bezeichnet. So hat es wohl auch Thomas Mann gelesen.14 Vielleicht darf man sich Serenus idealisiert als spielenden Musensohn in ähnlicher Haltung wie Raffaels Apoll vorstellen: mit zur Nachahmung empfohlener perfekter Bogenführung und mit entrücktem Blick den Tönen und ihrem Nachhall folgend. Die enge Verbindung von Viola d’amore und Musensohn lässt vermuten, dass Thomas Mann bei der literarischen Figur Serenus auch an seinen Musikersohn Michael dachte, der wie sein Geigenlehrer die Viola d’amore spielte. Nach dieser frühen Erwähnung der Viola d’amore im Roman wartet man lange auf irgendwelche Präzisierungen, da das Instrument sich eher wie ein Symbol oder Requisit in den Händen von Serenus Zeitblom verhält – das man auch nicht zu üben braucht, weil es ja göttlichen Ursprungs ist – oder eine Art historisierendes Bühneninstrument wie in einigen romanti13 Ibid., Kap. I, 8. 14 Der Grund für die häufige Fehlbenennung liegt wohl bei der deutlich sichtbaren Saitenanordnung von Apolls Lira da braccio. Raffael gibt ihr 7 Saiten plus die für die Renaissance-Lira typischen 2 Bordunsaiten. Die Siebenzahl erreicht er durch die Verdoppelung der beiden oberen Saiten, die auf der Lira ansonsten nicht chorisch bezogen waren. Für Raffael war wohl der symbolische Bezug wichtig. Da aber die Wirbelplatte nur 7 Wirbel aufweist, könnte die Überzahl auch durch eine Restaurierung entstanden sein. Die Entwurfszeichnung, ein Studienblatt Raffaels (vor 100 Jahren noch in der Sammlung Wicar in Lille) folgt übrigens realistisch in Haltung, Saitenzahl (5 + 2) und Wirbel dem anderweitig dokumentierten Instrumententyp der Lira. Nachzeichnung im Katalog Georg Kinsky, Musikhistorisches Museum von Wilhelm Heyer in Köln (Katalog), 2. Bd.: Zupf- und Streichinstrumente. Köln 1912, 388. Dazu auch Antonio Baldassarre, Die Lira da braccio im humanistischen Kontext Italiens, in: Music in Art XXIV/1–2 (1999), 5–28.
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schen Opern. Beispiele dafür sind Meyerbeers Les Huguenots, Massenets Le jongleur de Notre-Dame und die wenigen Takte in Pfitzners „Musikalischer Legende“ Palestrina: Die Abfolge leerer Saiten und die Flageolett-Arpeggien der Terz-Quartstimmung ergeben (auch wenn noch einige Töne dazu gegriffen werden müssen) eine archaisierende Wirkung und damit einen Kontrast zu den spätromantischen Harmonien. Die Viola d’amore ertönt übrigens auch bei Pfitzner in Vertretung der Lira da braccia. Für die Inspiration zur legendären Missa Papae Marcelli des Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina kommt anstelle der Musen um Apollo eine Engelsschar zu Hilfe. Im Zentrum von Pfitzners Palestrina steht der einsame künstlerische Schaffensakt, erlebt in der Inspiration. Wörner meinte dazu: „Wie dionysisch ist diese Lehre vom begnadeten Erhobensein, vom gesteigerten Leben“.15 Mann hat das Werk oft gehört und geschätzt, wie man seiner Schrift Betrachtungen eines Unpolitischen von 1919 entnehmen kann.16 Eine Zusammenschau von Apollo, Viola d’amore, Engel und inspiriertem Komponist wäre für den „Zauberer“ (wie Mann im Familienkreis genannt wurde) nicht ungewöhnlich. Doch zurück zum „Doktor Faustus“: Dort liest man im Kapitel VII bei der Beschreibung des Instrumenten Magazins von Adrians Onkel in Kaisersaschern nach der Besichtigung der Viola da gamba und den Geschwistern der Geige: […] wie denn auch meine eigene Viola d’amore, auf deren sieben Saiten ich mich mein Leben lang ergangen habe, aus der Parochialstrasse stammt. Sie war ein Geschenk meiner Eltern zu meiner Konfirmation.17
Daraus darf man schliessen, dass man sich auf dem Instrument auch üben könnte. Weniger vertraut ist die Idee, die Viola d’amore geschenkt zu bekommen. Das mag eine Bewandtnis mit den wohlhabenden Verhältnissen der Familie Mann gehabt haben und zudem mit Manns Besuch eines Zürcher Hauskonzertes, in welchem der Geigenlehrer seines jüngsten Sohnes Solowerke auf der Viola d’amore spielte. Auf dieses Rezital von Willem de Boer wird später im Zusammenhang mit einem Brief von Thomas Mann nochmals eingegangen. Georgi hat gezeigt,18 dass Michael Mann Instrument und Noten besass und 1939 in die Emigration mitnahm. Allerdings ohne sich „auf deren sieben Saiten sein Leben lang zu ergehen“, wie es im Roman heisst. Da sich fast keine Eintragungen in Michael Manns Notenmaterial feststellen lassen, 15 Wörner, Musik der Gegenwart (wie Anm. 7), 30. 16 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Politische Schriften und Reden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1968. 17 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. VII, 55. 18 Georgi, More on the Viola d’Amore (wie Anm. 2), 12–15.
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darf man auf ein eher beschränktes Interesse schliessen, zumal er auch seine Bratschenaktivitäten als damals bekannter Solist und Orchestermusiker des Pittsburgh Symphony Orchestra 1957 beendet hatte. In der Publikation Georgis findet sich neben einer langen Liste des Viola d’amore-Repertoires auch eine Fotografie des Instrumentes von Thomas Eberle (Neapel 1772), zudem eine Beschreibung auf welchem Weg das Instrument und das Notenpaket über einen Orchesterkollegen des Pittsburgh Symphony Orchestra an ihn gelangten. Der Kollege erinnerte sich der Worte des sich nach Harvard verabschiedenden Michael: „Here, I present you with the Viola d’amore, it’s a nice instrument, but not completely original. You’ll learn it.” Damit ergibt sich die Frage, wo Thomas Mann das nette „Geschenk“ gekauft hatte, von dem er im Roman schreibt. Aus mehr als einem Grund darf man vermuten, dass dieser Kauf 1937/38 entweder durch Vermittlung de Boers oder direkt bei Musik Hug in Zürich erfolgte. Das lockere Interesse Michael Manns an der Viola d’amore scheint immerhin 20 Jahre bestanden zu haben, denn seine Mutter Katia hatte noch im September 1956 einen Saitensatz von Musik Hug nach Kilchberg beordert, da ein solcher wohl in Pittsburgh nicht vorhanden war. Ein solcher Saitensatz bestand damals aus 7 Spielsaiten aus Stahl oder auch 7 Resonanzsaiten geeignet nur für eine D/ d-Stimmung. Zu den Modifikationen infolge des grösseren Saitendrucks auf die alten Instrumente gehörten oft auch etliche Feinstimmer am Saitenhalter. So kann man es auf alten Fotos bekannter Instrumentalisten wie Karl Stumpf, Paul Hindemith, Emil Seiler und Harry Danks aus den 1920er bis 1950er Jahren, ja teilweise bis heute beobachten. Jene Werke in anderen Tonarten, die fast immer eine entsprechende Stimmung verlangen würden, wurden transponiert oder in ein D/d Korsett gezwängt!19 Es scheint, dass Mann bei der Gelegenheit des Instrumentenkaufs auch weitere Abteilungen des Zürcher Musikhauses besichtigte. Speziell interessierte ihn die Sammlung historischer Musikinstrumente der Firma Hug.20 19 Seltene Ausnahme: Die Korrespondenz von Paul Hindemith vom Okt. 1929 aus London meldet, dass er vier Saiten aufgezogen hatte. Er hatte also seine Viola d’amore nach dem Konzert mit der Kleinen Sonate op. 25, Nr. 2, die eine D-Stimmung verlangt, für das nächste Konzert mit Vivaldis a-Moll Konzert umgerüstet. Um 1700 war ein Bezug mit Metallsaiten, damals ohne Resonanzsaiten im Rheinland und in Hamburg üblich. Die gestrichenen Stahlsaiten wurden klanglich sehr konträr beurteilt (dazu Jean Rousseau, Traité de la viole. Paris 1687, und Sébastien de Brossard, Dicionnaire de musique … Paris 1703). Auch der Bezug mit Metall- und Darmsaiten inklusive Resonanzsaiten ist bezeugt (dazu Daniel Speer, Grund-richtiger Kurtz-Leicht- und Nöthiger jetzt Wol-vermehrter Unterricht der Musicalischen Kunst … Ulm 1697). 20 Die Sammlung ist seit 1968 im Kellergeschoss des Museum Bellerive Zürich, Sammlung des Kunstgewerbemuseums, eingelagert. Der Bestand wurde auf nicht handelbare und solche Instrumente reduziert, deren Restaurierung problematisch gewesen wäre.
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Beim ersten Lesen der Kapitel VI und VII des Romans staunt man, wie elegant der Übergang vom Leben der altertümlichen Phantasiestadt Kaisersaschern über eine detaillierte Quartier- und Architekturbeschreibung hin zum „Instrumenten Magazin“ führt. Im Roman besucht Serenus seinen Schulfreund Adrian, der im Haus seines Oheims Leverkühn wohnt: […] eine winklige Gasse ohne Trottoir, nahe dem Dom, in der Nikolaus Leverkühns Haus sich als das stattlichste hervortat. Dreistöckig, […] war es ein Bürgerhaus aus dem 16. Jahrhundert, […] mit fünf Fenstern Front im ersten Stock über dem Eingangstor, und nur vieren, mit Läden versehenen im zweiten, […] und aussen, über dem schmucklosen, ungetünchten Unterbau, die Holzwerkdekoration begann. Selbst die Stiege verbreiterte sich erst nach dem Podest des ziemlich hoch über der steinernen Diele gelegenen Halbgeschosses, so dass Besucher und Käufer – und es kamen solche auch vielfach von auswärts […] – einen nicht unbeschwerlichen Aufgang zu dem Ziel ihrer Wünsche, dem Instrumenten-Magazin hatten […].21
Der Text vermittelt in der Art eines filmischen „Travelling“ zwischen so nicht mehr vorhandenen und auch nicht zusammen gehörenden Gebäuden, die übereinander geblendet werden. Konkret heisst das: Manns Beschreibung ist einerseits beeinflusst von Dürers Wohnhaus in Nürnberg (rekonstruiert nach Kriegsschaden),22 andererseits von einem stattlichen Gebäude vor dem Zürcher Grossmünster, dargestellt auf der farbigen Stadtansicht des alten Zürich von Hans Leu d.Ä., um 1500, seit dem 19. Jh. eines der so genannten „Wettingerhäuser“.23 Die Häuser aus dem alten Nürnberg und Zürich zeigen, welche Anregungen Mann für seine Montage benutzt haben könnte. Die übrige Beschreibung könnte eines der so genannten Münsterhäuser betreffen, in denen sich der Geschäftssitz von Musik Hug noch immer befindet, die aber aussen und innen durch Umbauten verändert wurden. Die winklige Gasse ist vermutlich die um Hausecken geführt Laternengasse, von dort aus ging der Aufgang zur Instrumentensammlung im Mezzanin wie im Doktor Faustus beschrieben.24 Heute ist die Erinnerung an die Sammlung Hug verblasst. Sie war zu jener Zeit eine frühe Förderung des Spiels auf Originalinstrumenten: eine Oboe d’amore war selbst 20 Jahre nach Manns Besuch noch kein privates Instrument. Er berichtete davon anhand von stilgerechten Aufführungen an Bach-Festen noch früherer Zeiten. Auch Viole d’amore für Bachs Johannes 21 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. VII, 52–53. 22 Abb. in Francis Russell, Dürer und seine Zeit. Amsterdam 1967, 97. 23 Dabei handelt es sich um eine Altartafel mit der heute ältesten zuverlässigen Darstellung Zürichs, Sie befindet sich im Schweizerische Nationalmuseum (Zürich); Teilkopie von Alfred Baur von 1937 im Baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich. 24 Ich habe die Sammlung 1957 noch in der ehemaligen Präsentation mit Blick auf den Limmatquai gesehen.
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Passion konnten in den frühen 1950er Jahren noch von Hug geliehen werden. Sogar eine der beiden Trombe marine, die ich 1956 zusammen mit Hindemith in Dufays Gloria ad modum tubae spielte (Seminar der Universität Zürich), war eine Leihgabe der Sammlung Hug; das andere Trumscheit war vom Schweizerischen Landesmuseum, dem heutigen Schweizerischen Nationalmuseum. Bei der Wiederverwendung alter, vergessener Musikinstrumente hat bekanntlich die heutige historisch-informierte Musizierpraxis ihren Anfang genommen. Im Roman – damit die Leserschaft die Viola d’amore nicht gar vergisst – erscheint sie abermals 100 Seiten später, im Umfeld der Hallenser Studenten, einer Verbindung von Theologie-Studenten, die sich gerne als „Musensöhne“ sahen. Leverkühn studierte zuerst Theologie, ein Fach das auch Goethes Faust nicht unbekannt war. Im Roman heisst es Übrigens, und völlig nebenbei gesagt, war es mir angenehm, dass auch ich, [Serenus, stud.phil.I] der Zugelassene von profaner Fakultät, durch mein Viola d’amore-Spiel gelegentlich, wenn man mich dazu aufforderte, zur Unterhaltung beitragen konnte. Die Musik nämlich galt viel in diesem Kreise […].25
Was denn so zur Unterhaltung passend wäre, geht erst aus der nächsten Erwähnung hervor. Aber bis dahin – auf den folgenden 200 Seiten – sind wir durch viele Arten der E-Musik geführt worden, mit fundierten Kommentaren und Analysen eines Musiksachverständigen namens Kretzschmar (alias Theodor W. Adorno), dem Lehrer von Adrian Leverkühn („ein Intelligenzler, der über Musik schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt“).26 Seine zynischen Äusserungen zur Musik in der mutierten Teufelsmaske gehören zum Agressivsten des abgründigen Kapitels XXV, einem imaginierten Zwiegespräch, das Leverkühn mit dem Teufel im latinischen Bergstädtchen Palestrina führte. Nun folgt als Kontrast zum Vorangehenden das Kapitel XXVIII. In ihm kulminieren und enden die Viola d’amore-Bezüge als literarisches Leitmotiv. Es schildert die grotesken gesellschaftlichen Verhältnisse von 1914, unmittelbar vor dem Krieg, man ist quasi an einem Münchner Fasching. Zu bedenken ist, dass der damals fast 40jährige Thomas Mann als Schriftsteller mit von der Partie war. 1949 in der Entstehung des Doktor Faustus bezeichnet er den Inhalt dieses Kapitels als „Die Verwirrungen des Barons von Riedesel“27. 25 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XIV, 155. In diesem Kapitel hat Erika Mann ihrem Vater zu grösseren Kürzungen geraten. 26 Ibid., Kap. XXV, 320. 27 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus (wie Anm. 3), 234.
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Manns Alter Ego Serenus Zeitblom berichtet: Bei Roddes sowohl wie im Schlaginhaufen’schen Säulen-Salon hörte man gern mein Viola d’amore-Spiel, das allerdings der gesellschaftliche Beitrag war, den ich, der schlichte und in der Konversation niemals sehr vive gelehrte Schulmann, vornehmlich zu bieten hatte. In der Rambergstrasse waren es namentlich der asthmatische Dr. Kranich und Baptist Spengler, die mich dazu anhielten: der eine aus numismatisch-antiquarischem Interesse (er unterhielt sich gern mit mir über die geschichtlichen Formen der ViolenFamilie), der andere aus allgemeiner Sympathie für das Unalltägliche, ja Ausgefallene. […] Desto mehr schmeichelte es meiner Eitelkeit (ich leugne das gar nicht), dass die Nachfrage des viel weiteren und gehobeneren Kreises […] nach meiner doch immer nur als Liebhaberei gepflegten Produktion sehr lebhaft war und mich fast immer nötigte, mein Instrument in die Briennerstrasse mitzubringen, um die Gesellschaft mit einer Chaconne oder Sarabande aus dem 17ten Jahrhundert, einem „Plaisir d’Amour“ aus dem 18ten zu regalieren oder ihnen eine Sonate von Ariosti, dem Freunde Händels, oder eines der von Haydn für die Viola di Bordone geschriebenen, aber auf der Viola d’amore wohl spielbaren Stücke vorzuführen.28
Nun, es erstaunt ungemein, inmitten dieses gesellschaftlichen Potpourris, Viola d’amore-Spielern bekannte Arrangements und dazu präzisierende Angaben zu finden. Literarisch wird damit in geziert höfischer Sprache Realität vorgetäuscht, eine konkrete Situation. Sie ist, wie so oft, aus einem anderen Zusammenhang in diese Gesellschaft hinein montiert worden. Bei den erwähnten Kompositionen handelt es sich um Stücke aus dem Programm eines Hauskonzertes, zu dem Mann eingeladen war, das allerdings erst 23 Jahre später in Zürich stattgefunden hatte. Doch nochmals zurück zur grossbürgerlichen Münchner Abendgesellschaft im Roman mit dem Generalintendanten der Oper, Exzellenz von Riedesel, dessen Gönnertum für das alte Instrument und die alte Musik nun freilich nicht, wie bei Kranich, gelehrtantiquarischer Neigung entstammte, sondern rein konservativer Tendenz war. Das ist, versteht sich, ein grosser Unterschied. […] Baron Riedesel also sah in allem Alten und Historischen eine Trutzburg gegen das Neuzeitliche und Umstürzlerische, eine Art von feudaler Polemik dagegen, und unterstützte es in dieser Gesinnung, ohne in Wahrheit irgend etwas davon zu verstehen.29
Daraus ersehen wir, dass die Viola d’amore eine Art Gegenwelt zur neuen Musik repräsentiert. Sie wird zum Instrument gegen den damals hochaktuellen Fortschrittsglauben, ist nun auch nicht mehr Symbol in den Händen Apolls.
28 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XXVIII, 368. Plaisir d’Amour ist ein Stück von Martini il Tedesco (Jean Paul Egide Martini). Beim Viola d’amore-Repertoire stehen den wenigen Originalwerken relativ viele Transkriptionen gegenüber. 29 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XXVIII, 370.
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Doch die bunte Gesellschaft hatte auch dionysische Programmpunkte: So heisst es nun wurde freilich bei Schlaginhaufens viel Wagner produziert, da ja die dramatische Sopranistin […] eine gewaltige Frau, und der Heldentenor […], ein schon dicker Mann mit Zwicker und erzener Stimme, dort häufig Gäste waren. Aber Wagners Werk, ohne das sein Hoftheater auch nicht hätte bestehen können, hatte Herr von Riedesel, laut und heftig wie es war, mehr oder weniger ins Bereich des Feudal-„Graziösen“ einbezogen und brachte ihm Achtung entgegen […].30
Und weiter noch im Text zur Münchner Abendgesellschaft: Es tut wohl unter solchen Eindrücken selbst etwas zur künstlerischen Unterhaltung der Gesellschaft beitragen zu können, und so rührte es mich, wenn danach Exzellenz von Riedesel, sogleich unterstützt von der hochbeinig eleganten Hausfrau, mich ermutigte das […] Andante und Menuett von Milandre (1770) zu wiederholen, das ich schon kürzlich einmal auf meinen sieben Saiten hier zum Besten gegeben.31
Danach verschwindet die Viola d’amore aus dem Romantext. Auch der Gymnasiallehrer und Liebhaber-Musiker Zeitblom verabschiedet sich bald einmal und zieht als einziger, freiwilliger Kämpfer dieses Schwabinger-Kreises, als Wachtmeister in den Krieg, „der der ästhetischen Lebensunschuld der Isarstadt, ihrer dionysischen Behaglichkeit […] für immer ein Ende machte.“32 Zeitblom erweist sich also auch noch als Ritter Georg, als Sieger über das Ungeheuer, so wie ihn Bartholomäus Zeitblom anno 1500 gemalt hatte.33 Was bedeuten nun die präzisen Programmpunkte, deren fast exakte Datierung, sowie die biografischen Zusätze, beispielsweise die problematische Anmerkung im Zusammenhang mit Ariosti als „Freund Händels“?34 Das sind wohl Antworten auf eine Bitte von Mann, einige Programmpunkte zu präzisieren. Eine Anfrage, die nach Aussage eines Schülers von de Boer, einem Brief beigelegt war. Dieser Brief vom 30. Dez. 1937 war an den bereits erwähnten Viola d’amore Spieler beim Zürcher Hauskonzert, Willem de Boer (1885–1962), gerichtet. De Boer war seit 1908 Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters in Zürich, wo er das Musikleben massgeblich mitbestimmte.35 Er war über die 30 31 32 33 34 35
Ibid., Kap. XXVIII, 371. Ibid., Kap. XXVIII, 372. Ibid., Kap. XXIX, 380. Fundstück in Lothar Brieger, Altmeister deutscher Malerei. Berlin, Leipzig 1913, 62. Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XXVIII, 368. Max Frey, Willem de Boer: 40 Jahre Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters Zürich, 1908– 1948. Zürich 1948; Matthias von Orelli, Volkmar Andreae – Dirigent, Komponist und Visionär: ein Kapitel Zürcher Musikgeschichte. Dissertation Universität Zürich 2007.
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Landesgrenzen hinaus als Solist und Lehrer bekannt und wurde als der bedeutendste Schüler von Carl Flesch bezeichnet. Bedeutung erlangte er schon als jugendlicher Konzertmeister, indem er das Publikum früh mit den Kammermusik- und Solowerken für Geige und Bratsche von Max Reger bekannt machte und mit Reger auch als Kammermusikpartner auftrat. De Boer wird während seiner 45 Dienstjahre in 55 Konzerten als Solist der Tonhalle Gesellschaft verzeichnet, beispielsweise 1916 mit dem Tschaikovsky-Konzert unter Ferruccio Busoni.36 Hier von Interesse sind de Boers Nebeninstrument die Viola d’amore, seine Kompositionen für dieses Instrument und die Verbindung zu Thomas Mann. Der beste Zugang zu diesen Themenkomplexen bietet ein Ausschnitt aus der Festrede zum 40. Dienstjubiläum von Willem de Boer von 1948, welche Max Frey, mein Musiklehrer an der Mittelschule, in der Tonhalle gehalten hatte.37 Nachdem Frey de Boers Tätigkeit als Konzertmeister, Quartettgeiger und Pädagoge des Konservatoriums gewürdigt hatte, fuhr er wie folgt fort: Noch vor dem zweiten Weltkrieg war daher sein Unterricht sehr begehrt, und nicht selten kamen junge Geiger und Liebhaber des Geigenspiels aus allen Teilen der Welt nach Zürich, um der Unterweisung des Konzertmeisters der Tonhalle teilhaftig zu werden. Es gehört zum Lebenselement des Künstlers Willem de Boer, nie zu rasten, und mochte ihm die Arbeit fast über den Kopf wachsen, stets ersann er sich wieder neue. Die Wiederbelebung vorklassischer Instrumentalmusik, neben den Strömungen der „Moderne“ typisches Merkmal der zeitgenössischen Musikausübung, verlangte nach einem Aufführungsstil, der durch die Forschungsergebnisse der neueren Musikwissenschaft aktuell wurde. Schon gab es bei uns Spezialisten für das Cembalo- und Gambenspiel, aber es fehlte noch die für den tonlichen Zauber alter Musik so typische Viola d’amore. Da suchte, fand und kaufte Willem de Boer das heute seltene Instrument, stürzte sich mit Feuereifer auf die Erlernung der Spieltechnik, um bald als Solist mit dem zarten Saitenklang die Hörer zu entzücken. Da nur wenig Sololiteratur für das bratschenartige Instrument mit den sieben Griff- und sieben Resonanzsaiten zur Verfügung stand, komponierte er dafür verschiedene Werke, die feinsten Sinn für die Spielart und vollkommene Vertrautheit mit den klanglichen Möglichkeiten der „Liebesgeige“ verraten. Für Thomas Mann bedeutete das Viola d’amore-Spiel von Willem de Boer ein bewegendes Erlebnis, über das er sich spontan in einem Briefe äusserte: Küsnacht-Zürich, Schiedhaldenstrasse 33, 30. XII. 37 Lieber und verehrter Herr de Boer, nach dem gestrigen Abend und seinem schönen Hauskonzert ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen und Ihrer lieben Frau noch einmal zu danken und Ihnen auszusprechen, wie interessant und bewegend, ein wie ganz besonderer und neuartiger Eindruck Ihr Viola-d’amore-Spiel für mich war. 36 Bei einem seiner letzten Auftritte als Konzertmeister 1953 hatte ich ihn erstmals gesehen und gehört. Mein mit ihm befreundeter Musiklehrer hatte mir eine Karte in einer vorderen Reihe verschafft. 37 Frey, Willem de Boer (wie Anm. 35). Max Frey war Musikwissenschaftler, Lehrer, Dirigent und als Mitbegründer der Klubhauskonzerte auch Konzertagent.
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Wenn ich sage „Spiel“, so meine ich den Spieler und das zu Unrecht aus der Mode gekommene und wenig bekannte Instrument! denn diese beiden gehören allerdings zusammen, und man kennt das erstaunliche Instrument nicht und man hat gar keinen Begriff davon, wenn man nicht erfahren hat, was es in den Händen eines Spielers, wie Sie es sind, zu leisten vermag. So kommt es, dass die Meisten sehr schwache und unvollkommene Vorstellungen davon haben, und zu diesen Meisten gehörte auch ich bis jetzt. Ihre Kunst und Virtuosität hat mich ganz für die Viola gewonnen. Welche solistischen Möglichkeiten schlummern in ihrer vielfachen Besaitung! Welcher Klangumfang! Welche Zartheit und Gewalt! Welch ein Register-Reichtum – den Sie zu nutzen wussten, dass sich mir gleich das Wort von der „Streich-Orgel“ auf die Lippen drängte. Es ist wirklich dergleichen in Ihren Händen und mir scheint, Ihr Beispiel müsste nicht nur Schüler und Nachstrebende in der Pflege des Instruments erwecken, sondern auch eine ViolaLiteratur hervorrufen, an der es in beklagenswerter Weise zu fehlen scheint. Allerdings ist die Ariosti-Sonate, die Sie spielten, ein sehr schönes Werk, und Sie selbst haben einiges Bewundernswerte hergestellt, woran die Viola ihre Tugenden glänzend erweisen kann. Ich höre, Sie gehen jetzt auf eine Konzertreise nach Holland mit Ihrem Saitenspiel. Ich glaube, dass vielen Hörern Ihre Produktion etwas wie eine Offenbarung bedeuten wird, und zögere nicht, Sie im Voraus zu dem grossen Erfolg zu beglückwünschen, dessen Sie sich bei dem musikliebenden Publikum ihrer Heimat versehen dürfen. Ihr sehr ergebener Thomas Mann38
Soweit der Ausschnitt aus der Festrede für Willem de Boer. An diesem Hauskonzert wurde Thomas Mann wahrscheinlich von seinem 18jährigen Sohn Michael begleitet, der seit zwei Jahren am Konservatorium de Boers Geigenschüler war. Anwesend waren natürlich auch Max Frey und dessen Frau sowie weitere Persönlichkeiten des Zürcher Musiklebens. Die Zusammensetzung dürfte allerdings von der bunten Münchner Gesellschaft von 1914 bei Schlaginhaufens mit dem Baron von Riedesel, Serenus und Leverkühn recht verschieden gewesen sein. Das Publikum des Zürcher Hauskonzertes wird eher dem Kapitel XXXIX, dem Zürcher Kapitel entsprochen haben. Dieses handelt vom „Après-Concert“ beim Mäzenaten-Ehepaar Reiff an der Mythenstrasse. Es berichtet von der Einladung nach einem Tonhalle-Konzert. Real fand dieses Konzert 1936 statt und es wurde von Wilhelm Furtwängler dirigiert. Mit ihm hatte Mann nachher bei Tisch ein eingehendes Gespräch – es waren nun drei Jahre seit der Münchner Hetze gegen Mann vergangen. Im Roman verlegt Thomas Mann das Zürcher Konzert auf die Jahreswende 1923/24, und ein Schweizer Kammerorchester spielt nun die fiktive Wiederholung der Wiener Uraufführung von Leverkühns Violinkonzert mit der Romanfigur Rudi Schwertfeger als Solisten. Vom Erfolg wird beim „AprèsConcert“ im Beisein von Solist und Komponist gesprochen. Wichtiger erscheint im Roman allerdings die Anwesenheit einer hübschen französischen Bühnenbildnerin, auf die sich das Interesse im Doktor Faustus bald einmal richtet. 38 Frey, Willem de Boer (wie Anm. 35), 23–25.
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Da Mann mit Ausnahme von „Wiesengrund“ die Namen der Modelle von wesentlichen Figuren im Roman konsequent verschweigt, kommt de Boer beim Empfang nicht vor. Hingegen nennt Mann die Namen von Personen, die zur realen Situation passen könnten: „Dr. Andreae, als ständiger Dirigent der Tonhalle und den vortrefflichen Musik-Referenten der Neuen Zürcher Zeitung, Dr. Schuh – alle diese mit ihren Damen.“39 Zudem wird Paul Sacher als Dirigent des fiktiven Konzerts namentlich erwähnt.40 Das ist ein kleiner biographischer Irrtum infolge der Rückdatierung, da Sachers Debut als Dirigent erst drei Jahre später erfolgte. Nach 1930 jedoch war er der landesweit bestimmende Förderer von Alter und Neuer Musik, und als solcher hatte er auch einiges für die Wiedererweckung der Viola d’amore geleistet. Man ist überrascht, vielleicht verwirrt durch die „doppelte Zeit des Romans“ oder wie Mann feststellt: „[…] durch das Unromanhafte, sonderbar real Biographische, das doch Fiktion ist […] Romanfiguren im pittoresken Sinn durften nur die dem Zentrum ferneren Erscheinungen sein […] nicht seine Protagonisten.“41 So Manns Antwort auf die Frage nach realen Modellen seines Romans. Es bleibt noch die Frage, weshalb Mann, für den bekanntlich im Roman die Abfolge und die Wahl der Orte und Geschehnisse offen waren, München im Jahr 1914 und nicht Zürich als Aufführungsort der Viola d’amoreStücke von Serenus Zeitblom, alias Willem de Boer, gewählt hatte. Meine Vermutung ist, dass es Mann um den Umbruch des Zeitalters ging. Die Viola d’amore gehört zum Gegensatz zwischen Konservatismus und Fortschrittsglauben in der Musik und steht stellvertretend sowohl für die gefährdete Partei als auch für den Abschied von der bis dahin gültigen traditionellen Harmonielehre – ein Umbruch, welcher auch Mann bewusst war, trotz aller Begeisterung für de Boers Spiel. Nach Abschluss des Doktor Faustus, welchem 1948 bekanntlich noch der Roman eines Romans mit Die Entstehung des Doktor Faustus folgte, schrieb Mann einen weiteren, unser Thema betreffenden Brief, nun direkt an Max Frey. 1550 San Remo Drive, Pacific Palisades, California 28. Januar 1948 Sehr geehrter Herr Dr. Frey, ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihren Hinweis auf das bevorstehende vierzigjährige Dienstjubiläum Willem de Boers, denn wahrhaft leid wäre es mir gewesen, unter denen zu fehlen, die ihm zu seinem Ehrentage ihre herzlichen Glückwünsche darbringen. 39 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XXXIX, 553–554. 40 Dazu ibid., Kap. XXXIX, 552. 41 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus (wie Anm. 3), 242 und 204. Hervorhebung im Original.
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Wie gern spreche ich es aus, dass dieser um das Zürcher Musikleben so hochverdiente Mann, in seiner Bescheidenheit und seiner natürlichen Würde, mit seinem Ernst, wo es das Ernste gilt, und seinem feinen Humor, zu den liebenswürdigsten Künstlerfiguren gehört, die mir in meinem Leben vorgekommen sind! Längst hatte ich ihn als Konzertmeister beobachtet, ihn gelegentlich auch als Virtuosen, an einem Abend, den er in der Tonhalle gab, bewundert (sein Vortrag des Mendelssohn-Violinkonzerts war exzellent), als mir durch den Umstand, dass er der Lehrer meines jüngsten Sohnes war, die Freude seiner persönlichen Bekanntschaft zuteil wurde. Öfters war er damals bei uns in der Schiedhaldenstrasse, Küsnacht, zu Gast, nicht ohne sein Instrument mitzubringen, und noch heute lacht mir das Herz, wenn ich denke, wie er uns nach Tisch mit der „Teufelstriller“-Sonate verblüffte und uns,zum erstenmal,dem akkordischen Vollklang der sieben-saitigen Viola d’amore lauschen liess, die er zu handhaben wusste wie nicht leicht ein Zweiter. Wenn dies Instrument eine gewisse Rolle spielt in meinem jüngsten Roman, so ist das auf die Eindrücke von damals zurückzuführen. Dachte ich zurück in der Ferne ans alte Zürich, so war gewiss Willem de Boer miteingeschlossen in mein Gedenken; und wie erfreut habe ich meine Hand ausgestreckt,als ich ihn jetzt, Sommer 1947,bei einem städtischen Empfang in dem schönen Bodmer-Hause am See, wiedertraf – fast unverändert in den neun Jahren, ein bisschen weisser geworden vielleicht, sonst ganz der Alte,mit seiner leicht niederländisch getönten Sprechweise! Es gab so viel bewegendes Wiedersehen in jenen Tagen – dies war eines der besten. […] Ihr sehr ergebener Thomas Mann42
Auch dieser Brief zeigt unmissverständlich, wie die Viola d’amore und ihre Literatur in den Roman gekommen sind. Wünschenswert wäre noch ein schriftlicher Beleg für die Programmabfolge des Hauskonzertes. Da die folgenden Kapitel keine weiteren Diskussionen zur konservativen Musikanschauung enthalten, geht es nun um „Das Objektive […], das sich mit Vorliebe die fromme Fessel prä-klassisch strenger Formen auferlegte.“43 Somit verschwindet die Viola d’amore als literarisches Motiv und macht bei der Schlittelpartie mit dem hübschen Besuch aus Paris der Violine Platz. Beim Ausflug zu einem der Schlösser Ludwig II. spielt dann Rudi Schwertfeger – wie einst de Boer bei der Familie Mann in Küsnacht, nach Tisch – Dvor¡ák und Tartinis Teufelstriller-Sonate.44 Auch Michael Mann verändert nach der Emigration in New York sein Musikstudium: Er wechselt zur Bratsche, zudem studierte er Komposition beim ebenfalls emigrierten Zwölftonkomponisten Erich Itor Kahn (1905– 42 Die das Mendelssohn-Konzert betreffende Klammer im Brief möchte ich noch etwas erweitern: auch Michael Mann hat an einer Vortragsübung am Zürcher Konservatorium 1936 als letztes vor seiner Emigration nach New York ebenfalls den 1. Satz dieses Konzertes gespielt. Sein damaliger Mitstudent Edmond de Stoutz vermittelte mir 1955 eine kurze persönliche Begegnung. 43 Mann, Doktor Faustus (wie Anm. 11), Kap. XXXIV (Schluss), 494. 44 Im Kap. XXVIII erwähnt Mann, dass das Violinkonzert Leverkühns (Kap. XL) im Scherzo Tartinis Sonate zitiert.
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1956).45 Später, 1942, hatte Michael mit seiner jungen Familie in der Nähe von San Francisco Wohnsitz genommen. Dort ist ein Besuch seiner Eltern in der Entstehung des Doktor Faustus verzeichnet, bei dem Thomas Mann auch seinem Lieblingsenkel Frido, dem kleinen Nepomuk Schneidewein des Romans, erstmals begegnete.46 Es scheint diese Zeit der Romanvorbereitung der stimmige Moment gewesen zu sein, welcher erlaubte, die im Doktor Faustus erwähnten Viola d’amore-Stücke präziser einzuordnen; Stücke, die im Programm des Hauskonzerts von de Boer erklangen. Die Anmerkungen zum Repertoire könnten damit auf Michael Mann zurückgeführt werden. Zu fragen wäre abschliessend, auf welchem Weg de Boer zum Viola d’amore Spiel gelangte und welche Rückschlüsse sich daraus für das damalige Repertoire ergeben. Die erste Frage wird durch seinen Freund Max Frey beantwortet: das Erlernen verlief wie üblich auf autodidaktischem Weg, jedoch vermutlich unter Beizug der Schule für Viole d’amour von M. L. Goldis.47 De Boer benutzte vorwiegend Ausgaben und Arrangements des eigentlichen Viola d’amore-Pioniers Louis van Waefelghem (1840–1908). Dazu kamen frühe Anregungen durch auswärtige Musiker und Konzerte in der Zürcher Tonhalle, u. a.: – – –
–
1911, Konzert der Pariser Société des concerts d’autrefois; 1914 gab ein gewisser Dr. Niels Vogel ein Viola d’amore-Rezital; in der Saison 1930/31 gab die Société des instruments anciens ein Konzert u. a. mit Henri Casadesus (1879–1947), einem der fruchtbarsten Komponisten für die Viola d’amore und berühmt-berüchtigt für seine Stilkopien von Konzerten des 18. Jahrhunderts;48 der bekannteste Solist auf der Viola d’amore war damals Paul Hindemith, der bereits 1922 in einem Brief an seine Pianistin, Emmy Ronnefeldt, mitteilen konnte: Ich habe einen neuen Sport: Ich spiele Viola d’amour, ein ganz herrliches Instrument, das ganz verschollen ist und für das nur eine ganz kleine Literatur besteht. Das Schönste, was Du Dir an Klang vorstellen kannst, eine nicht zu beschreibende Süsse und Weichheit. Es ist heikel zu spielen, aber ich spiele mit grosser Begeisterung und zur Freude aller Zuhörer.49
45 Kahn war in Frankfurt Mitstudent des Dirigenten Erich Schmid und hatte im Roman in der Figur Leverkühns wohl einige Spuren hinterlassen, da er dem Umfeld Adornos und René Leibowitz’ angehörte. 46 Frido Mann studierte ebenfalls Musik am Konservatorium in Zürich (ab 1959) und schloss das Studium 1964 an der Academia Santa Cecilia in Rom ab. 47 M. L. Goldis, Schule für Viole d’amour: op. 6. Leipzig 1916. 48 Auch die Musikwelt will betrogen sein! Zu einem dieser Stilimitate schrieb sogar Paul Hindemith auf Wunsch des Verlags eine Kadenz. 49 Paul Hindemith, Briefe. Hg. Dieter Rexroth. Frankfurt am Main 1982, 107.
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Ein Brief als hiesse Hindemith Serenus Zeitblom! In der Saison 1929 konzertierte Hindemith mit der Viola d’amore in Vivaldis a-Moll Konzert in St. Gallen, mit Ariosti in Winterthur und Basel.50 Zudem konnte ich Folgendes noch über Jahresberichte und mit Archivstudien in Erfahrung bringen: Willem de Boer hatte am Konservatorium Zürich ab 1935 auch einen Lehrauftrag für Viola d’amore und Quinton. Der Jahresbericht von 1940 verzeichnet nun aber, dass die Nachfrage nach Unterricht in alten Instrumenten nie so stark war, dass sich die Beibehaltung einer besonderen Abteilung gerechtfertigt hätte. Der Unterricht in alten Instrumenten.: Cembalo, Quinton, Viola d’amore, Viola da Gamba, wie auch Stillehre wird auf Wunsch selbstredend weitergeführt.51
Zum Schluss noch ein Hinweis zu de Boer als Komponist: Er hat nur Weniges komponiert, aber die meisten Werke sind – soviel man aus Programmen entnehmen kann – aufgeführt worden: Suitensätze und ein Solowerk für Violine, zwei Konzerte und eine Solosuite für Viola d’amore, auf die auch in Manns Brief vom 30.12.1937 mit den Worten: „und Sie selbst haben einiges Bemerkenswertes hergestellt“ hingewiesen wurde. Später, 1955, entstand noch ein grösseres Orchesterwerk.52 In den stilistisch rückwärts gewandten 1930er Jahren lagen Werke „im alten Stil“, im Stil des Neobarock und der Neoklassik im Trend. Eine Stilrichtung die in Italien und Frankreich gleichfalls erfolgreich war und bei Max Reger schon um 1910 beim Konzert im alten Stil op. 123 aufscheint und die auch bei Richard Strauss und Arnold Schönberg Spuren hinterlassen hatte. Der unmittelbare Vorläufer und Anreger für de Boers Solo-Suite war wohl sein Landsmann Cornelis Kint, der schon 1917 eine Suite im alten Stil für Viola d’amore und Klavier komponiert hatte, die 1932 bei Paul Günther, Leipzig, im Druck erschien und in der Notensammlung von Michael Mann enthalten ist.53 Günthers Verlag war der wichtigste Notenlieferant de Boers. Michael Manns Paket enthielt 29 Exemplare des Verlags auf brüchigem Vorkriegspapier. Eines der Konzerte de Boers wie auch die Solo50 Paul Hindemith, Das private Logbuch. Mainz 1995, 32–33. Die Auslassung von Zürich weist auf ein gespanntes musikalisches Verhältnis zwischen Hindemith und de Boer hin, das bei einer Wiederbegegnung 1950 anlässlich einer Konzertprobe ein amüsantes Nachspiel hatte. Siehe Faksimile des Recitativo aus Haydns Sinfonie Le Midi in der Notation und Textierung von Hindemith, abgedruckt in Fritz Herdi, Also sprach Zürithustra: Zürich anekdotisch. Zürich 1983, 60. 51 Jahresberichte und Konzertprogramme von 1930 ff. des Archivs der Zürcher Hochschule der Künste, Abt. Musik. 52 Die meisten Manuskripte befinden sich in der Bibliothek des Tonhalle-Orchesters. 53 Heinz Berck, Viola d’amore Bibliographie. Kassel 1986, 98.
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suite im alten Stil in d-Moll waren bei Günther zum Druck vorgesehen, konnten aber infolge der politischen und verlegerischen Situation unter der nationalsozialistischen Herrschaft nicht mehr realisiert werden. Die 5sätzige Suite ist ebenfalls in den 1930er Jahren entstanden und liegt in zwei leicht abweichenden Manuskript-Fassungen vor, die beide in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt werden.54 In beiden Fassungen der Suite stehen durchgehend brauchbare Fingersätze und Bogenstriche. Sie wurden, wie bei allen von de Boer bezeichneten Stimmen, mit fettem Bleistift hinzugefügt und für die Kopisten-Abschrift übernommen. Der neobarocke Stil hat eine gewisse Eigenständigkeit, aber die heutige barocke Aufführungspraxis war der Zeit noch fremd. De Boer kannte nicht nur die besonderen technischen Möglichkeiten der „Streich-Orgel“, wie Thomas Mann die Viola d’amore im Brief vom 30.12.1937 nannte.55 Er hat auch einen persönlich gefärbten, etwas pathetischen Stil mit zyklischen Motiven, stufenweise fallenden chromatischen Gängen und einer Harmonik und Agogik, die an Regers Solosuiten erinnern. De Boer bevorzugte auf der Viola d’amore den Tonumfang der Bratsche, während Hindemith und Frank Martin oft hohe Register nutzen. Dichte akkordische Schreibweise war für die 1930er Jahre üblich. Gewiss von Vorteil war die Spielerfahrung des Komponisten. Michael Mann, der die Solosuite und ein Konzert de Boers in einer weiteren Abschrift mit sich führte, hatte die technisch anspruchsvollen Werke seines Lehrers nicht einstudiert, vermutlich wegen des grossen „Übaufwands“. Ihm schien das heitere Andante und Menuett von Milandre, das Serenus wiederholt zur Unterhaltung spielte, eher entsprochen zu haben. Indem er und sein Lehrer, von seinem Vater als Serenus literarisch verewigt, „sich auf deren sieben Saiten (ergehen),“56 hat Thomas Mann der Viola d’amore einen bleibenden Platz auf dem Parnass der Musik bewahrt.
54 Das Concerto für Viola d’amore und kleines Orchester von de Boer gelangte in einem Konzert 2003 in Moutier mit Françoise Pellaton unter der Leitung von Urs Joseph Flury erneut zur Aufführung, die Solosuite 2003 und 2006 in der Interpretation des Autors in Rendsburg. 55 Mann dachte bei dieser Wortwahl wohl an die ausgedehnte Arpeggiostelle der Allemande de Boers. Ähnlich bezeichnete er Violin-Arpeggien beim Konzert von Bronislav Hubermann in Los Angeles am 2.2.1946: „wir hörten von dem hässlichen kleinen Hexenmeister […], Bach (eine Chaconne, bei der er eigentümliche Orgelwirkungen seiner Geige abgewann).“ Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus (wie Anm. 3), 252. 56 Wie Anm. 17.
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Hin und zurück Historische Ortsveränderungen in der Neuen Musik Giselher Schubert
Die Raummetapher im Untertitel dieses Beitrages zu Ehren von Dorothea Baumann ist wohl einem ihrer Arbeitsgebiete geschuldet; doch drückt sie hier prägnant eine Gleichzeitigkeit von „Gegenständen“ oder „Gebieten“ aus, die freilich nicht alle gleich gut von bestimmten Positionen aus erreichbar sind. Konnte etwa Wilhelm Dilthey 1905 seine Sammlung von Aufsätzen zur neueren europäischen Literatur Das Erlebnis und die Dichtung noch mit der fast schon selbstverständlich wirkenden Überzeugung eröffnen, dass in einem gewissen Sinne in jeder Zeit die ganze Fülle der Poesie vorhanden sei,1 so galt das für die Musik des 20. Jahrhunderts seit den 1950er Jahren auffälligerweise kaum mehr. Mit guten Gründen lässt sich vielmehr von Geschichtsvergessenheit, ja sogar von „Vergangenheitsliquidation“2 sprechen, welche die ganze Fülle von Musik absichtsvoll schrumpfen und ausdörren ließ. Das Verhältnis zur „Tradition“, soweit es das aktuelle Komponieren betraf, wurde von Theodor W. Adorno, dem Protagonisten einer maßgeblichen „Philosophie“ der neuen Musik, als „Kanon des Verbotenen“ ausgewiesen.3 Oder Pierre Boulez, dessen Einfluss auf die Musikentwicklung seit den 1950er Jahren kaum zu überschätzen ist, schrieb ausdrücklich einen Beitrag zum „Lobe des Gedächtnisschwundes“.4 Mit aller rhetorischen Wucht und wünschenswerten Deutlichkeit bestimmte er: […] man kann […] der Kenntnis seiner eigenen Kultur nicht entgehen, und heutzutage auch nicht der Begegnung mit der Kultur anderer Zivilisationen – aber wie gebieterisch wird doch die Forderung, sie in Dunst aufgehen zu lassen! Ich lobe mir den Gedächtnisschwund.5
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Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing. Goethe, Novalis, Hölderlin (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 191). Göttingen 1965, 7. Begriff nach Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin 2003 (3. Aufl.), 121. Theodor W. Adorno, Über Tradition (1966), in: Ders., Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1967, 33. Pierre Boulez, Stil oder Idee? (Zum Lobe des Gedächtnisschwunds) (zuerst französisch o. J.), in: Ders., Anhaltspunkte. Essays. Übers. Josef Häusler. Stuttgart 1975, 266–281. Ibid., 281.
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Giselher Schubert
Ruinen und Trümmer von wütenden Traditionszerstörungen säumen denn auch seine weithin beachteten Schriften. Zu Alban Berg notierte er sarkastisch: Denn alles, was diese werten Musiker6 bei Berg an Beruhigendem entdecken, ist just das, was wir am wenigsten schätzen: sein Romantizismus und – man muß es leider sagen – seine Traditionsgebundenheit.7
Schönberg hielt er in einem berühmten Vortrag einen verborgenen „Romantico-Klassizismus“ vor, „an dem“, wie er meinte, „selbst noch der gute Wille abstoßend wirkt. […] Eine reaktionäre Haltung, die all den Überlebtheiten Tür und Tor offen ließ, die man als mehr oder minder beschämend empfinden muß.“8 Dem Neoklassizismus als der herrschenden Stilrichtung seit 1920, dem er ausdrücklich auch die dodekaphonen Werke Schönbergs zuordnete, bescheinigte er eine „widerwärtige Mittelmäßigkeit“ und versicherte, dass jeder Musiker „unnütz“ sei, der die Notwendigkeit der seriellen Sprache nicht erkannt habe.9
Einheit und Vielfalt Solche apodiktischen Urteile, die seit den 1950er Jahren Musikgeschichte machten und schrieben, wurden mit wachsendem Abstand beschwichtigend zeitgeschichtlich als notwendige Distanzierung von einer fürchterlichen Vergangenheit gedeutet, mit der radikal zu brechen war, die gänzlich umgangen und verdrängt werden musste, um ein zeitgenössisches Komponieren überhaupt noch sinnvoll erscheinen zu lassen und ästhetisch-moralisch zu rechtfertigen. Dieses Argument wirkt jedoch absurd; denn es liefert die musikalische Tradition, das „Ganze“ der Musik, den Nazis aus und misst ihnen ästhetisch-kompositionsgeschichtlich eine Bedeutung zu, die sie schlechterdings nicht besaßen; es kann noch nicht einmal von einer spezifisch nazistischen Musikauffassung gesprochen werden.10 6 Gemeint sind die Musiker, die Berg als „Ehrenretter und Wundererscheinung der Zwölftontechnik“ preisen. 7 Pierre Boulez, Missverständnisse um Berg (1948), in: Anhaltspunkte (wie Anm. 4), 218. 8 Pierre Boulez, Schönberg ist tot (1951/52), in: Anhaltspunkte (wie Anm. 4), 293. 9 Pierre Boulez, Möglichkeiten (1952), in: Ders., Werkstatt-Texte. Übers. Josef Häusler, Berlin 1972, 24. 10 Vgl. dazu ausführlich Giselher Schubert, The Aesthetic Premises of a Nazi Conception of Music, in: Music and Nazism. Hg. Michael H. Kater und Albrecht Riethmüller. Laaber 2003, 64–73.
Hin und zurück. Historische Ortsveränderungen in der Neuen Musik
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Zudem verfängt das Argument, das offensichtlich weniger ästhetisch als vielmehr moralisch motiviert ist, kaum bei einem französischen Komponisten; und von der apodiktisch-vernichtenden Aburteilung, wie Boulez sie vorträgt, waren gerade die Komponisten wie Schönberg, Hindemith oder Weill betroffen, deren Musik in der Nazizeit nicht öffentlich gespielt werden durfte oder konnte und die sich sogar zur Emigration aus Nazideutschland gezwungen sahen, während er mit aller Entschiedenheit an Webern kompositionstechnisch anzuschließen versuchte, dessen Einstellung zu den Nazis, aus welchen Gründen auch immer, nicht bloß „fragwürdig“ war. Zum besseren Verständnis von Boulez hätte es eher Nahe gelegen, auf Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen und seine heftige Polemik gegen das „chaotische Durcheinander aller Stile“ zu verweisen,11 doch wäre dann sogleich zu konstatieren, dass Nietzsches Wille zur „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“12 ein repressives Ideal repräsentiert und zu seiner Durchsetzung eben jene totalitären, diffamierenden und ausgrenzenden Maßnahmen bemüht werden müssten, die nach den nazistischen Erfahrungen in Deutschland endgültig hinter sich gelassen werden sollten. Gleichwohl hat sich Nietzsches repressives Ideal stilistischer Einheit in jener Form durchgesetzt, die Adorno ihm gab. Auch er polemisierte einerseits heftig gegen den ästhetischen Pluralismus, der wähnt, so Adorno, „daß alle möglichen Typen von Musik gleichen Rechts nebeneinander herliefen, Schönberg und seine Nachfolger, Strawinsky, am Ende auch Britten.“13 Sein Einwand von 1957 lautet: Die gegenwärtige Mannigfaltigkeit aber ist nicht die des Reichtums kommensurabler, auf gleichem Niveau voneinander sich abhebender Produkte, sondern eine von Disparatem. Sie verdankt sich der Inkonsequenz.14
Das regulative Prinzip der Konsequenz, das Adorno bemüht, soll zu einem wünschenswerten Einheitsstil führen, als ob nicht aus fast schon jeder historisch-stilistischen Konfiguration von kompositionstechnischen Sachverhalten mit gleicher Legitimation glücklicherweise die unterschiedlichsten Konsequenzen gezogen worden wären – erinnert sei nur (um fast schon
11 Friedrich Nietzsche, David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller, in: Ders., Unzeitgemäße Betrachtungen (Werke in drei Bänden), Hg. Karl Schlechta. München 1966 (5. Aufl.), Bd. I, 140. 12 Idem. 13 Theodor W. Adorno, Kriterien der neuen Musik (1957), in: Ders., Klangfiguren (Musikalische Schriften I). Frankfurt am Main 1959, 258. 14 Idem.
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triviale Beispiele zu bemühen) an die Rezeption der 9. Symphonie Beethovens durch Wagner, Mendelssohn, Bruckner oder Brahms, oder diejenige der Zwölftontechnik durch Bartók, Hindemith, Martin, Eisler, Krenek, Strawinsky, Boulez, Henze usw. Adorno lässt andererseits aber nur die Konsequenz gelten, die er in der Musik der Schönberg-Schule gezogen fand und verfügte dann: „Mannigfaltigkeit gibt es nur in der Einheit“15 – eine restriktivere Auffassung von „Mannigfaltigkeit“, die auf ihre Abschaffung hinaus läuft, ist nicht denkbar. Das Boulezsche Lob des „Gedächtnisschwundes“ und der apodiktisch verfügende Tonfall seiner Urteile sind also kaum zeitgeschichtlich zu deuten, es sei denn, man rekonstruiere eine geradezu unheimliche Kontinuität totalitär-ausgrenzenden Denkens seit der Nazizeit. Die Boulezsche Geschichtsvergessenheit erwächst vielmehr aus seiner musikalischen Ästhetik. Boulez zentriert sie um die Idee des schlechterdings „notwendigen Werkes“, das sich Tradition einverleibe und diese nachträglich überhaupt erst als Tradition kenntlich mache und ausweise.16 Aus dieser Tradition ist alles als „unnütz“ entfernt worden, was in dieses angeblich „notwendige“ Werk nicht eingewandert ist. Tradition ist also keine Instanz mehr, vor der das zu schaffende Werk stand zu halten hat, sondern umgekehrt ist das „notwendige“ Werk die Instanz, die entscheidet, was zur Tradition zu zählen ist. Der Charakter der Notwendigkeit solcher „notwendigen“ Werke erschloss sich für Boulez ausschließlich über kompositionstechnische Sachverhalte, die er charakteristischerweise stets aus ihrem jeweiligen historischen Kontext löste. Fand Schönberg zur Zwölftontechnik, um unter den historisch zu verortenden Bedingungen der vollständigen Chromatik, der Atonalität, der Emanzipation der Dissonanz, der motivisch-thematischen Logik und des expressionistischen Ausdrucksprinzips überhaupt noch planvoll und konsequent komponieren zu können, so verallgemeinerte Boulez diese Reihentechnik zum von ihm so genannten „Reihenprinzip an sich“,17 abstrahierte also von ihrer historischen Gebundenheit und baute sie zweckmäßig-rational unabhängig von allen affektiv-emotionalen, ästhetischen, poetologischen oder historischen Momenten ganz im Sinne einer „instrumentellen Vernunft“ aus, indem er das Reihenprinzip auf tendenziell alle Dimensionen des Tonsatzes anwendete.18
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Adorno, Kriterien (wie Anm. 13), 259. Pierre Boulez, Bach als Kraftmoment (1951), in: Anhaltspunkte (wie Anm. 4), 77–78. Ibid., 69. Boulez, Schönberg ist tot (wie Anm. 8), 295.
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Problemgeschichte Diese „instrumentelle Vernunft“, die Boulez leitete und die sich mit etwas anderen Gewichtungen ebenso nachdrücklich vor allem auch beim frühen Stockhausen19 – aber auch bei vielen anderen Komponisten der Zeit – findet, verallgemeinerten Musikhistoriker, die sich diesem aktuellen Komponieren, der „kompositionsgeschichtlichen Lage“, verpflichtet fühlten, zu einem grundlegenden musikhistoriographischen Konzept, das sich weithin durchsetzte und die Auffassung von der Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert nachhaltig prägte: zur „Problemgeschichte des Komponierens“. Nach diesem Konzept wurde die musikhistorische Entwicklung als eine ununterbrochene Folge des Lösens kompositionstechnischer Probleme rekonstruiert, über der die Werke zu Dokumenten eines dem Fortschritt verpflichteten kompositionstechnischen Prozesses schrumpften. Dieser Prozess bildet in den einschlägigen musikhistorischen Darstellungen geradezu stereotyp die folgenden Stadien aus, hinter denen andere kompositionstechnisch-stilistische Entwicklungen nicht bloß als irrelevant verblassten, sondern geradezu aus der Musikgeschichte ausgeschlossen wurden: Erweiterung und Auflösung der Tonalität; Komponieren in der freien Atonalität; Weiterentwicklung der freien Atonalität zur gebundenen Atonalität; Systematisierung der Tonbeziehungen in der gebunden Atonalität durch die Zwölftontechnik; Erweiterung der Zwölftontechnik zum integralen Serialismus; Ergänzung des seriellen Prinzips durch Aleatorik; Überführung der seriellen Aleatorik in ein postserielles Stadium; Anreicherung postserieller Musik durch traditionelle Verfahren; Aufhebung des Postserialismus in der Postmoderne usw. In dieser entwicklungsgeschichtlich scheinbar zwingenden Logik geht das Besondere der jeweiligen Werke im Allgemeinen der kompositionstechnischen Entwicklung gänzlich verloren. Und auf diese Weise wurde die jeweilige kompositionstechnische Faktur – und sei es nur als Gerücht – bekannter als die jeweiligen Werke. Als Kehrseite dieser scheinbar zwingenden historischen Logik ergab sich also nicht nur durch Ausklammerung ein mutwilliger Verlust von Musikgeschichte, sondern ebenso eine Anonymisierung oder doch ein Identitätsverlust der Werke. Das Konzept der Rekonstruktion von Geschichte als „Problemgeschichte“ stammt ursprünglich aus der Soziologie.20 Max Weber gab ihm eine entscheidende Bedeutung in seinem Bemühen, sozialwissenschaftliche und 19 Vgl. hierzu Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. I, Köln 1963, darin besonders: Erfindung und Entdeckung, 222–258. 20 Vgl. hierzu Das Problem der Problemgeschichte 1880 – 1932. Hg. Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2001.
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sozialpolitische Einsichten zu objektivieren. Seinen Überlegungen liegt die Kantsche Erkenntnis zugrunde, dass die Vernunft nur „das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt“.21 Entsprechend sind für Max Weber historische Erkenntnisse keinesfalls voraussetzungslose Abbildungen objektiver Tatsachen, die ein für alle mal feststehen, sondern gedachte Ordnungen oder Konstruktionen von Zusammenhängen. Deshalb bestimmt er: „Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die ‚gedanklichen‘ Zusammenhänge der ‚Probleme‘ liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde.“22 Entscheidend ist dann seine Folgerung, dass die unaufhaltsame Entwicklung der Kultur zu stets neuen Problemstellungen führt, und entsprechend hebt er die Vergänglichkeit einer jeden Problemstellung und die Unvermeidlichkeit immer neuer hervor. Der Abstand der von Musikhistorikern favorisierten Problemgeschichte des Komponierens zu Max Webers problemgeschichtlichen Überlegungen ist erstaunlich – sie scheint sich sogar in den Intentionen geradezu ins Gegenteil verkehrt zu haben. Max Weber vergewisserte sich durch seine Überlegungen der Perspektivität historischer Einsichten, um ihre Grenzen zu erkennen. Das Konzept der Problemgeschichte des Komponierens hingegen sanktioniert einen musikalischen Hauptstrom als die einzig wahre und wirkliche Musikgeschichte und scheidet alle Musik aus, die in diese Entwicklung nicht eingegliedert werden kann. Sie macht sich auf diese Weise mit schlechterdings absurden Konsequenzen geradezu geschichtsblind, von denen einige wenige knapp skizziert werden sollen: Erstens ist die Problemgeschichte des Komponierens, welche die Werke zu Dokumenten einer Entwicklung schrumpfen lässt, in der Regel auch eine Musikgeschichte ohne Komponisten und ohne Gesellschaft. Dass biographische und gesellschaftliche Gegebenheiten das Komponieren gerade auch dann beeinflusst haben, wenn es sich selbst als autonom versteht, wird nicht bloß ignoriert sondern mehr noch als kunstfern-banausisch abgetan. So wenig Kunstwerke jedoch zu den biographischen oder gesellschaftlichen Dokumenten zu zählen sind, so wenig gibt es Kunst ohne denjenigen, der sie schafft und ohne diejenigen, die sie aufnehmen. Zweitens wird Musikgeschichte auf Technikgeschichte reduziert, welche alle verhängnisvollen Züge der „instrumentellen Vernunft“ trägt. Max Horkheimers fundamentaler Einwand gegen diese Vernunft, nach dem das Fortschreiten der technischen Mittel von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet wird und deshalb das Ziel zunichte zu machen droht, 21 Zitiert nach Oexle, Max Weber – Geschichte als Problemgeschichte, in: Das Problem (wie Anm. 20), 18. 22 Ibid., 13.
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das es verwirklichen will,23 findet in der Problemgeschichte des Komponierens eine geradezu drastische Bestätigung. Es wurden kompositionstechnisch musikalische Gebiete erobert, von denen dann sogar Boulez behauptete, sie würden jenseits der „Grenze des Fruchtlandes“ liegen.24 Drittens blendet die Problemgeschichte konsequent alle Fragen der musikalischen Poetik als Vermittlungsinstanz zwischen Kompositionstechnik und musikalischer Ästhetik aus. Sie orientiert sich vielmehr an der Maxime Anton Weberns, nach der das vollendete Kunstwerk keinen Bezug zum Menschen habe außer denjenigen, „dass es ihn übersteht“.25 Für wen und warum, möchte man wissen, wird dann Kunst gemacht? Im Grunde wird in solchen Überzeugungen den Kunstwerken die Notwendigkeit genommen, da zu sein. Viertens schließt die Problemgeschichte unausgesprochen Werturteile ein – durch notwendiges Verschweigen, Ignorieren und Unterdrücken. So werden Komponist wie etwa Milhaud, Honegger, Ibert, Martinu, Prokofiev, Copland, Schostakowitsch oder Britten neben vielen anderen in nahezu allen deutschsprachigen Musikgeschichten geradezu ignoriert, obwohl sie eine Fülle viel gespielter, bedeutender Werke hinterlassen haben. Offenbar werden sie weniger wegen irgendwelcher mangelnden ästhetisch-kompositionstechnischen Qualitäten unterdrückt, sondern weil sie der Problemgeschichte keine Haftpunkte zu bieten scheinen. Fünftens führte die Problemgeschichte zu besonderen Formen der musikologischen Literatur, nämlich der hagiographischen Anpassung an den vermeintlichen Hauptstrom und der mitunter hämischen Ausgrenzung. Als Anpassung wären etwa die Gespräche einzuschätzen, die Robert Craft mit Strawinsky führte und die durch Crafts Fragen eine Nähe zum vermeintlichen Hauptstrom suggestiv unterstellen, die in Wirklichkeit nicht bestand, von Ausgrenzung etwa bei Hindemith, den man unter Kritikern mit der beredten Konvention schweigender Verachtung abstrafte, um sich nicht mit seinen Argumenten auseinander setzen zu müssen. Und Sechstens klafft zwischen den Fragen, auf die sich die Problemgeschichte einlässt, und dem sich tatsächlich vollziehenden Musikleben eine 23 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Hg. Alfred Schmidt. Frankfurt am Main 1974, 13. 24 Pierre Boulez, „An den Grenzen des Fruchtlandes“ (Paul Klee), in: Werkstatt-Texte (wie Anm. 9), 76–91. 25 Zitiert nach Hans Moldenhauer, Weberns letzte Gedanken, in: Melos 38 (1971), 273. Im Text „Gemeinschaftskunst“ von 1928, der sich im Nachlass fand (Sig.: TO1.02), vertrat Arnold Schönberg sogar die Auffassung: „Ich glaube nicht daran, dass der Künstler für andere schafft. Wenn die anderen sich mit dem Kunstwerk in Beziehung setzen wollen, so ist das ihre Sache und es kann vom Künstler nicht verlangt werden, es ihnen zu verwehren. Obwohl er es sollte!“ Die Identifizierung dieses Texts verdanke ich Ulrich Krämer.
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unüberbrückbare Kluft. Fast keine Frage, mit deren Beantwortung sich die Problemgeschichte abmüht – als Beispiel seien nur die fast schon nicht mehr zu zählenden Arbeiten angeführt, die sich dem Übergang von gebundener Atonalität zur Zwölftontechnik widmen –, tangiert die virulenten Probleme des Musiklebens; anders ausgedrückt: die Musik, die tatsächlich weithin aufgeführt wird, das Musikleben fundiert, es zusammenhält und die den Hörern nahe zu bringen wäre, ist kaum die Musik, welche die Problemgeschichte favorisiert. Dass diese grob skizzierte Problemgeschichte Musikgeschichte auf ein sehr eng begrenztes Repertoire an Verfahren schrumpfen ließ, schätzten seltsamerweise selbst die Musikwissenschaftler, die Lehrstühle für Musikgeschichte besetzt hielten, einerseits als Gewinn an Überschaubarkeit, Übersichtlichkeit, Ordnung und Logik, andererseits als notwendige Konsequenz aus dem, wie es schien, aus der Akzentuierung des kompositionstechnischen Verfahrens ableitbaren endgültigen Zerfall des Werkbegriffs ein. Und Adorno als der entscheidende Stichwortgeber warf dann sogar der musikhistorischen Forschung auch noch vor, sie kapituliere vor der Macht der Tatsachen, indem sie das historisch Gewordene sanktioniere, während er selbst, so seine Worte, „sich um nichts in der Welt mit der sogenannten Musikgeschichte im leisesten solidarisieren möchte“26.
Musikgeschichte ohne Geschichte Dieser ebenso begrenzte, blindfleckige wie skeptische Blick auf Musikgeschichte, die man anders zu haben wünschte als sie es offensichtlich war, scheint sich erst mit der Entwicklung des postseriellen Komponierens entscheidend verändert zu haben. Paradoxerweise konnte diese Entwicklung jedoch wieder im Sinne der Problemgeschichte aufgefasst und ausgearbeitet werden, obwohl sie nun in gegensätzlicher Richtung immer tiefer in die Musikgeschichte zurückführte. Charakteristischerweise war nun auch nicht mehr von Fortschritt oder Regression die Rede, die seit der Philosophie der neuen Musik die Einschätzung von Musik fast schon ausschließlich dominierte, sondern nur noch von Veränderung oder von Verlagerung von Interessen.27 Vorbildlich wirkte jetzt die kompositorische 26 Theodor W. Adorno und Ernst Krenek, Briefwechsel. Hg. Wolfgang Rogge. Frankfurt am Main 1974, 137 (Brief Adornos vom 23. August 1941). 27 So dann wieder Boulez in einem Diskussionsbeitrag zu „Wo ist echte Tradition?“, in: Melos 27 (1960), 294.
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Entwicklung Ligetis. Er schloss zunächst ganz auf der fortschrittlichen Höhe der Zeit in Werken wie Apparitions und Atmosphères (1958–59/61) an seriell strukturierte Materialzustände an, denen er jedoch durch einbrechende überraschende Ereignisse, die eine Veränderung in der Bewegungsrichtung der Musik zu bewirken scheinen, einen nachvollziehbaren Ablauf gibt, den die serielle Musik nicht kennt. Im Cellokonzert (1966) verwandelte er dann rhythmisch-metrisch nicht zu identifizierende Texturen in rhythmisch geprägte Konfigurationen, in Lontano (1967) lockerte er die dichte orchestrale Textur durch Harmonien auf, die nicht nur fast schon wieder, zumindest partiell, ein harmonisches Gefälle, also harmonische Spannungsunterschiede auszubilden scheinen, sondern auch den Tonfall musikalischer Spätromantik evozieren. Mit den Orchesterwerken Melodien (1971) und San Francisco Polyphony (1973–74) stellte Ligeti dann bereits mit Werktiteln traditionelle satztechnische Sachverhalte wieder her, und in den 3 Stücken für 2 Klaviere (1976) ist, wie es mit einem der Satztitel heißt, Chopin auch dabei. Konsequent hat Ligeti dann sogar auch sukzessiv sein folkloristisch inspiriertes Frühwerk veröffentlicht, das im seriellen Jahrzehnt der 1950er Jahre auf heftigste Ablehnung, ja Verachtung gestoßen wäre. Über solcher Entwicklung ist tendenziell wieder die gesamte Musikgeschichte zugänglich geworden, die seit Luciano Berios Sinfonia (1968/69) sogar unmittelbar bis hin zur zitierenden Collage des III. Satzes das Material der Werke abgab. Freilich ist diese Musikgeschichte in gewisser Weise endqualifiziert worden; sie ist keine Instanz mehr sondern eben Material, oder, um es paradox auszudrücken, eine Musikgeschichte ohne nachdrückliche Geschichte. Alternative musikhistoriographische Konzepte auf der Folie des hier knapp skizzierten Wandels können sich allenfalls in gröbsten Umrissen abzeichnen.28 Einstweilen gilt es noch, der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) Stand zu halten. Immerhin lassen sich einige historiographisch substantielle Veränderungen skizzieren; und vier solcher Veränderungen sollen abschließend angedeutet werden. Erstens werden nun selbst von den ehemaligen Protagonisten das serielle Komponieren und die Problemgeschichte, die zu ihm führte, gänzlich heruntergespielt. 1988 äußerte Carl Dahlhaus in einem erstaunlichen Rück-
28 Ein Beispiel einer gewandelten Ausarbeitung einer Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wäre etwa: Alex Ross, The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century. New York 2007. Die Distanz seiner musikhistoriographischen Konzeption zur verblassten der Problemgeschichte geht ungewollt drastisch aus einer Rezension dieser Arbeit durch Frank Hilberg hervor, die ignorant ausfällt und sich nur noch durch verbitterte Polemik zu helfen weiß; vgl.: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik 126 (August 2010), 91.
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blick sogar Zweifel, ob die serielle Musik den Hauptstrom der Musikentwicklung ihrer Zeit trug: Von einem „Hauptstrom“ der Entwicklung, an dem man sich orientieren könnte, so daß sich die Fakten scheinbar von selbst in zentrale und periphere ordnen, kann seit dem Zerfall der seriellen Musik um 1960 nicht mehr die Rede sein. Und im Rückblick erscheint es sogar zweifelhaft, ob die Vorstellung, daß der Serialismus in den fünfziger Jahren einen Mittelpunkt bildete, um den sich die musikalischen Ereignisse in Anziehung oder Abstoßung gruppierten, überhaupt jemals triftig war.29
Oder Boulez charakterisierte im September 2009 mit einem Diskussionsbeitrag auf einem ihm gewidmeten Symposium in Frankfurt am Main abwiegelnd den Serialismus, der doch nur wenige Jahre gedauert habe, als einen „Tunnel“, durch den man habe hindurchmüssen, um wieder Licht zu sehen. Als geschichtsvergessener Historiker seiner selbst möchte sich Boulez offensichtlich wieder eine andere Geschichte geben als diejenige, die er entscheidend mitgestaltet hat, und es fällt schwer, der Neigung zu widerstehen, ihn gegen sich selbst in Schutz zu nehmen. Zweitens finden sich bei den Musikhistorikern, welche diese Veränderungen in ihren Arbeiten nachvollzogen, erstaunliche Wandlungen ihrer Urteile, die sie allerdings kaum einmal begründeten sondern nun eher historisierten: nämlich als den mehr oder weniger authentischen Ausdruck der jeweiligen kompositorisch-zeitgeschichtlichen Lage. Die Zeitgebundenheit der Urteile über Komponisten, die etwa Dahlhaus in seinen Schriften bis in die 1970er Jahre fällte, lässt sich mühelos erkennen; sie dokumentieren fast nur noch den Einfluss von Urteilsformen, welche in letzter Instanz der skizzierten Problemgeschichte des Komponierens entstammen und von den apodiktischen Verfügungen Adornos inspiriert waren. Kurt Weill zum Beispiel fertigte Dahlhaus 1962 als einen „Techniker der Musikindustrie“ ab und rügte vehement den „unerträglichen Broadway-Tonfall“, die „verschmierten Akkorde“ und den „Jargon“ dieser Weillschen Musik, die er nicht ernst nehmen konnte.30 Doch 1984 konstatierte er dann, dass noch keine tragfähigen Kategorien und Kriterien für die musikalisch-dramaturgische Analyse von Musicals entwickelt worden wären und meinte: Bedenkt man jedoch, daß es ein halbes Jahrhundert dauerte, bis in dem „Leierkastenmann“ Giuseppe Verdi der musikalische Dramatiker […] entdeckt wurde, so besteht
29 So Dahlhaus in einer Rezension von 1988; hier zitiert nach Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften, Bd. 9: Rezensionen. Hermann Danuser et al. Laaber 2006, 413. 30 So Dahlhaus 1962 in einer Besprechung von Weills Lost in the Stars, zitiert nach Dahlhaus, Gesammelte Schriften, Bd. 10: Varia. Hg. Hermann Danuser et al. Laaber 2007, 417– 418.
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auch für den „jüdischen Verdi“, als der Kurt Weill einmal apostrophiert worden ist,31 einige Hoffnung auf historische Gerechtigkeit.32
„Historische Gerechtigkeit“, wie sie Dahlhaus nun vorschwebte, nimmt offenbar mit der Zeit unterschiedliche Züge an, aber sie mag sich immerhin, in welcher gewünschten Form auch immer, einmal einstellen. Die Veränderung des Urteils über Weill gründet jedenfalls weniger in gewachsenen Erfahrungen und Kenntnissen im Umgang mit der Weillschen Musik – sie waren 1962 nicht anders als 1984 –, als vielmehr in einer über der Entwicklung des aktuellen Komponierens gewonnenen anderen Art von historischer Einsicht, ja: von historischer Vernunft. Forderte, wie erwähnt, Adorno die Musikwissenschaft auf, keinesfalls vor der Macht der musikgeschichtlichen Tatsachen zu kapitulieren, so erkannte dann Dahlhaus, dass sich durch bloßes Bekunden von Gesinnung Musikgeschichte nicht überspringen lasse.33 Drittens ist der problemgeschichtlich fundierte kompositorische Fortschritt seit dem postseriellen Komponieren grundsätzlich fragwürdig geworden. Bereits 1981 hatte Karl Heinz Bohrer den entscheidenden Einwand gegen die entsprechende Geschichtsschreibung formuliert: Diese Übertragung eines technologisch-positivistischen Fortschrittsdenkens auf die Erscheinungsrhythmen der neuen Künste war falsch. Denn formalästhetisch moderne Hervorbringungen müssen nicht notwendigerweise auch eine „fortschrittliche“ Idee in sich schließen.34
Bohrer kommt zu einer gänzlich anderen historischen Bestimmung des jeweils qualitativ Neuen, das sich eben nicht mehr nur als ableitbar oder als Steigerung des Hergebrachten zu erweisen habe. „Das Neue“, so Bohrer, „ist nicht einfach das stilistisch Avancierteste, sondern es ist das dem ‚Augenblick‘ Adäquate.“35 Solche qualitative Bestimmung des plötzlich eintretenden Neuen jenseits kompositionstechnisch ableitbarer Sachverhalte erweist sich als fruchtbar und verhilft zu ganz anderen musikhistorischen Einsichten und ästhetischen Urteilen. Als neu und nicht weiter ableitbar lässt sich dann etwa die freie musikalische Stilwahl des Neoklassizismus verstehen, der einen historischen Stil keinesfalls restauriert, sondern individuell nutzt, 31 Von Ernst Bloch. 32 Dahlhaus, Gesammelte Schriften Bd. 9 (wie Anm. 29), 512–513. 33 Carl Dahlhaus, Ist die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik eine Fiktion? (1984), hier zitiert nach Gesammelte Schriften, Bd. 8: 20. Jahrhundert. Hg. Hermann Danuser et al. Laaber 2005, 143. 34 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main 1981, 76. 35 Idem.
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oder der emotionslose Ausdruck der Neuen Sachlichkeit ohne verkitschte Sentimentalität und expressionistische Intimität als eine gänzliche neue eindringliche Ausdrucksqualität. Viertens schließlich lässt sich die postserielle musikhistorische Öffnung, durch die Musikgeschichte als „Material“ verfügbar wird, auch grundsätzlich mit einem Phänomen in Beziehung setzen, das Hermann Lübbe als avantgardistische Gegenwartschrumpfung beschrieben hat. Danach entspricht gerade der Akzentuierung des musikalischen Fortschritts, der zu immer Neuem zu führen hat, die Aufdringlichkeit des Veraltens: Nichts hat die Musealisierung der Kunst mehr gefördert als die Selbstverpflichtung zur überholenden Überbietung dessen, was soeben erst an die Spitze des Zeitpfeils gelangt ist. Wer heute bereits von morgen sein will, ist übermorgen selber von gestern.36
Als Konsequenz aus dieser Aufdringlichkeit des Veraltens zeichnet sich der Verlust der historischen Eindeutigkeit des musikalischen Materials ab – niemand vermag mehr anzugeben, welche Musik und musikalische Denkformen die „Spitze“ des Fortschritts repräsentieren – und entsprechend nimmt die Gleichzeitigkeit des nach seiner Herkunft Ungleichzeitigen zu. Vergangenes rückt näher an Gegenwärtiges heran und macht es interessanter. Lübbes gewiss erstaunliches Resümee seiner Überlegungen lautet: Avantgardismus hat also in der liberalen Kultur nicht Frontliniencharakter. Er löst ganz im Gegenteil die temporale Homogenität der Kunstszene auf und setzt Beliebigkeit frei. Eklektizismus wird unumgänglich und damit eine zentrale Intellektualtugend des Aufklärungszeitalters rehabilitiert.37
Begriffe wie „Beliebigkeit“ und „Eklektizismus“ provozieren, doch provozieren sie mittlerweile vielleicht doch nur noch einen ästhetischen Fundamentalismus, der nur in den paradoxen Einrichtungen von „Museen“ für Moderne Kunst zu überleben vermag, die Odo Marquard als Altersheime für Avantgarden charakterisierte.38
36 Lübbe, Im Zug der Zeit (wie Anm. 2), 5–6. 37 Ibid., 110. 38 Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgart 2000, 52.
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Ein längerer Blick ins Raritätenkabinett der Musikgeschichte Richard Strauss’ Panathenäenzug und Kurt Leimer Antonio Baldassarre
Nur wenigen ist bekannt, dass Richard Strauss sich in seinen letzten Lebensjahren nochmals mit seinem zweiten Klavierkonzert für die linke Hand op. 74 (TrV 254) auseinandergesetzt hatte. Dieses Konzert mit dem Titel Panathenäenzug. Sinfonische Etüden in Form einer Passacaglia komponierte er in den späten 1920er Jahren für den Pianisten Paul Wittgenstein.1 Dass Strauss kurz vor seinem Tod seine Aufmerksamkeit nochmals dieser Komposition zuwandte, verdankt sich – wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen werden – dem Zusammenspiel zwischen seiner Neigung zu kulturhistorischen Erwägungen am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Bekanntschaft mit dem Konzertpianisten Kurt Leimer. Die Erörterungen schliessen deshalb Erwägungen zu Strauss’ Auseinandersetzung mit der Gattung des Klavierkonzerts, zu seinen „Auftragsarbeiten“ für Paul Wittgenstein sowie zu der für Strauss’ Kompositionsästhetik wichtigen Antikenrezeption ein. Klavierkompositionen nehmen in Strauss’ Schaffen eine untergeordnete Stellung ein und blieben, abgesehen von den beiden Klavierkonzerten für die linke Hand, auffällig auf seine frühe Schaffenszeit bis 1907 konzentriert. Das trifft sowohl für die Solo- als auch die Konzertkompositionen zu. Zudem erweisen sich Strauss’ solistische Klavierwerke als ausgeprägte Gelegenheits- oder Studienkompositionen, im Sinne einer Aneignung von Stilen
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In der ohnehin spärlichen Literatur zu Strauss’ Klavierschaffen findet sich auch in den diesem Themenbereich gewidmeten Studien kaum ein Hinweis auf diese erneute Hinwendung. Dazu etwa Walter Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein. Zu den Klavierkonzerten für die linke Hand „Parergon zur Sinfonia domestica“ op. 73 und „Panathenäenzug“ op. 74, in: Österreichische Musikzeitschrift 54, 7/8 (1999), 16–25. In der von Walter Werbeck verfassten Einführung zum Band Konzerte und Konzertstücke II der Richard Strauss Edition fehlt ebenfalls jeder Hinweis darauf, dass Strauss sich kurz vor seinem Tod nochmals mit dem Panathenäenzug beschäftigt hatte [Konzerte und Konzertstücke II (= Richard Strauss Edition 23). Wien und Frankfurt/Main 1999, vii–x].
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und Techniken.2 Mit ihnen suchte er kaum den Weg in die breite Öffentlichkeit.3 Anders liegt der Fall bei der zwischen 1885 und 1886 und für seinen Förderer Hans von Bülow komponierten Burleske d-Moll für Klavier und Orchester. Da Bülow das Werk aber für unspielbar hielt,4 widmete Strauss es dem ehemaligen Liszt-Schüler Eugène d’Albert, der es unter der Leitung des Komponisten am 21. Juni 1890 in Eisenach mit mässigem Erfolg uraufführte. Die Burleske thematisiert auf parodistische Weise die zeitgenössische Brahms-Wagner-Polemik und konfrontiert dabei die Sphären von Brahms’ beiden Klavierkonzerten mit den Tristan- und Walküre-Klangwelten. Damit erweist sich die Burleske als ein erster wichtiger Beitrag für Strauss’ später so charakteristisches „Komponieren in Musikgeschichte“.5 Nochmals anders verhält es sich mit den beiden Klavierkonzerten für die linke Hand aus den 1920er Jahren. Diese entstanden immerhin zu einer Zeit, in welcher Strauss der Überzeugung war, dass Instrumentalkonzerte im Grunde längst obsolet geworden waren.6 Bekanntlich wird sich Strauss erst in seinen letzten Lebensjahren wieder der Komposition von Instrumentalkonzerten zuwenden,7 allerdings vor einer grundsätzlich veränderten ästhetischen und musikhistorischen Situation. In den zwanziger Jahren befand sich Strauss – auf eine kurze Formel gebracht – auf dem Zenit seines Schaffens und wurde allseits als wichtiger, wenn nicht gar wichtigster Repräsentant der deutschen Instrumental- und Opernmusik betrachtet. In den vierziger Jahren und besonders nach dem zweiten Weltkrieg war Strauss aber nicht nur politisch angeschlagen, sondern er empfand auch sein privates Leben als „zerstört“8 und fühlte sich als Kompo-
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Ausführlicher dazu Siegfried Mauser, Strauss’ Klaviermusik als signifikante Randerscheinung, in: Richard Strauss und die Moderne. Hg. Bernd Edelmann et al. Berlin 2001, 213–225. Selbst die Klaviersonate op. 5 (TrV 103) und die Stimmungsbilder op. 9 (TrV 127) haben mehr die Funktion, Strauss’ Kompositionshandwerk zu demonstrieren. Dazu Mauser, Strauss’ Klaviermusik (wie Anm. 2), 219–220 und 222–224. Nachdem Bülow die Partitur in Händen gehabt hatte, soll er gepoltert haben: „Jeden Takt eine andere Handstellung – glauben Sie, ich setzte mich vier Wochen hin, um so ein widerhaariges Stück zu studieren?“ Zitiert nach Willi Schuh, Richard Strauss: Jugend und frühe Meisterjahre. Lebenschronik 1864–1898. Zürich 1976, 113–114. Dazu Richard Strauss. Briefwechsel mit Will Schuh. Hg. Willi Schuh. Zürich 1969, 49. Dazu Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein (wie Anm. 1), 18. Dabei entstanden das Hornkonzert Nr. 2 E-Dur (TrV 283), 1942, das Oboenkonzert DDur (TrV 292), 1945 (revidiert 1948) und das Duett-Concertino für Klarinette, Fagott, Streicher und Harfe (TrV 293), 1947. Dazu Strauss’ Brief an Manfred Mautner Markhof vom 24. Nov. 1944, in: Richard Strauss Blätter. Neue Folge 5 (1981), 34–47.
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nist von der musikalischen Gegenwart abgeschnitten bzw. „der Musikgeschichte abhanden gekommen.“9 Strauss’ in den zwanziger Jahren geäusserte Skepsis dem Solokonzert gegenüber war indes keine Koketterie. Denn das Solokonzert wurde zu dieser Zeit als höchst problematische Gattung gesehen. Während auf der einen Seite beispielsweise Vincent d’Indy das Solokonzert als „verabscheuenswürdiges Gegenteil“ zu dem von ihm favorisierten Prinzip einer „musique pure“ erklärte,10 tendierten andere im Rahmen des Solokonzerts zunehmend zur Wiederbelebung alter Formen und Kompositionstechniken, mit der Folge einer Abkehr vom symphonischen Solokonzert-Typus, der auf der Grundlage von Mozarts Konzerten entwickelt wurde und sich durch die Konzertkompositionen des 19. Jahrhunderts ausbreitete. Vor diesem kompositionsgeschichtlichen Hintergrund und wegen Strauss’ damaliger finanzieller Unabhängigkeit kann man mit Walter Werbeck in der Einschätzung durchaus einig gehen, dass Strauss mit seinem ersten Klavierkonzert für die linke Hand, dem Parergon zur Sinfonia domestica, mehr Paul Wittgenstein einen Gefallen erfüllte,11 als dass er es aus innerer Notwendigkeit komponierte. Paul Wittgenstein wurde am 11. Mai 1887 in Wien geboren und war das zweitjüngste von insgesamt acht Kindern des Industriellen und Musikmäzens Karl Wittgenstein und von Leopoldine Wittgenstein (geborene Kalmus). Bereits in seiner Kindheit erhielt er wie all seine Geschwister privaten Klavierunterricht. Im Gegensatz zu seinen anderen Geschwistern erwies sich Paul aber als äusserst talentiert.12 Dass er seine Karrierepläne nicht aufgab, als ihm während des ersten Weltkriegs wegen einer Kriegsverletzung der rechte Arm amputiert werden musste, ist vor dem Hintergrund der sozialen und kulturellen Situation sowie angesichts des hohen
9 Nach der Münchner Uraufführung von Capriccio am 28. Oktober 1942, Strauss’ letzter Oper, wird er alle späteren Werke für musikhistorisch unbedeutsam erklären. Tatsächlich ist Capriccio im emphatischen Sinne ein Werk des Rückzugs. Denn das Ereignis „Oper“ realisiert sich nur noch als Illusion. Mit Capriccio – aber auch mit den Metamorphosen (Studie für 23 Solostreicher) von 1945 und den Vier letzten Liedern von 1948 sowie der erneuten Hinwendung zum Panathenäenzug zwischen 1946 und 1948 – verabschiedete Strauss sich gleichsam aus der Musikgeschichte. 10 Dazu Brian J. Hart, Vincent D’Indy and the Development of the French Symphony, in: Music & Letters 87/2 (2006), 237–261. 11 Dazu Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein (wie Anm. 1), 18. 12 Bereits Eduard Hanslick wurde auf das Talent Wittgensteins aufmerksam und prophezeite ihm schon früh eine grossartige Zukunft als Pianist. Dazu Hanslicks Brief vom 11. April 1904 (Meran), Österreichische Nationalbibliothek (Wien), Musikerbriefe, Signatur: 1292/24–1.
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Status’ der Familie Wittgenstein und ihrer tiefen Verankerung im Wiener Bürgertum zu verstehen.13 Die Kriegsverletzung und das fehlende Repertoire veranlassten Wittgenstein, bei vielen namhaften Komponisten seiner Zeit Kompositionen für die linke Hand in Auftrag zu geben.14 Neben Strauss finden sich darunter Benjamin Britten, Paul Hindemith, Sergej Prokof’ev, Erich Wolfgang Korngold, Franz Schmidt, Josef Labor, Hans Gál und Maurice Ravel.15 Mit Ravels Concert pour la main gauche D-Dur, das zwischen 1929 und 1930 komponiert wurde, konnte Wittgenstein einen Welterfolg verbuchen.16 Zwei zentrale Bedingungen des Auftrags bestanden darin, dass die vollständige Partitur und die Orchesterstimmen Eigentum Wittgensteins wurden und dass ihm das alleinige Aufführungsrecht zu Lebzeiten, zugestanden wurde. Diese Bestimmungen waren massgeblich daran beteiligt, dass ein zentraler Werkbestandteil der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts fast nie im Druck erschien und deshalb weder für Forschung noch für Praxis zugänglich war und damit das Vergessen der einzelnen Werke begünstigt wurde.17 Strauss kannte Wittgenstein seit dessen früher Jugend, während welcher Strauss wie so viele andere Musiker und Komponisten, darunter Johannes Brahms, Joseph Joachim, Gustav Mahler, Bruno Walter und der junge Pablo Cassals, im Hause Wittgenstein zu verkehren pflegte. Während dieser Besuche sollen Strauss und der junge Paul auch öfter miteinander vierhändig am Klavier musiziert haben. Vor diesem gesellschaftlichen und freundschaftlichen Hintergrund versteht sich, weshalb Strauss 13 Dazu E. Fred Flindell, Paul Wittgenstein (1887–1961): Patron and Pianist, in: The Music Review 32 (1971), 107–113. Paul Wittgensteins jüngerer Bruder, der Philosoph Ludwig Wittgenstein, hatte die Bedeutung der familiären Situation und deren Situierung im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext Österreichs immer wieder betont. Dazu Allen Janik und Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien. Wien 1998, 315/Anm. 2. 14 Wittgenstein äusserste sich darüber in seinem Vortrag Über einarmiges Klavierspiel, welchen er am 12. Feb. 1958 im Austrian Institute in New York hielt, mit folgenden Worten: „Ich konnte die klassischen Konzerte nicht spielen; ich musste, wenn ich mit Orchester spielen wollte, neue Konzerte haben; ich war auf neue Werke angewiesen.“ Sonderdruck, New York Austrian Institute, 1958. 15 Einen guten Überblick der von Wittgenstein in Auftrag gegebenen Kompositionen geben So Young Kim-Park, Paul Wittgenstein und die für ihn komponierten Klavierkonzerte für die linke Hand. Aachen 1999; Donald L. Patterson, One Handed: A Guide to Piano Music for One Hand. Westport (CT) 1999, und Lea Singer, Konzert für die linke Hand. Hamburg 2008, 459–463. 16 Dazu Flindell, Paul Wittgenstein, Patron and Pianist (wie Anm. 13), 127, und Kim-Park, Paul Wittgenstein (wie Anm. 15). 17 2003 wurde der umfangreiche Nachlass Wittgensteins nach Hongkong verkauft und seither durch die Octavian Society wissenschaftlich aufbereitet.
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den Kompositionsauftrag von Wittgenstein annahm, der am 22. Dezember 1923 juristisch besiegelt wurde und woraus das Parergon zur Sinfonia domestica entstand.18 Für die Erfüllung des Auftrags soll Strauss die Summe von umgerechnet 25‘000 US Dollar erhalten haben,19 welche gewiss seinen stark ausgeprägten Wunsch nach sozialer und finanzieller Sicherheit befriedigte.20 Im Gegensatz zum Parergon liegt für den Panathenäenzug, Strauss’ zweitem Klavierkonzert für die linke Hand, kein expliziter Kompositionsauftrag von Wittgenstein vor. Vielmehr scheint dieses Projekt aus Diskussionen erwachsen zu sein, welche Strauss mit Wittgenstein im Zusammenhang mit dem Parergon führte.21 Diese Diskussionen konzentrierten sich auf das klangliche Gleichgewicht zwischen Klavier und Orchester. Insbesondere war Wittgenstein der Meinung, dass die Orchesterinstrumentation zu stark sei, weshalb er diese mit Einwilligung von Strauss auflockerte. Trotz des ausgedünnten Orchesterparts schien Wittgenstein mit der Komposition dennoch nicht zufrieden gewesen zu sein, obgleich sowohl die Uraufführung in Dresden am 6. Oktober 1925 sowie die Wiener Erstaufführung Ende Februar 1926 vom Publikum und der musikalischen Kritik durchaus positiv aufgenommen wurden.22 Vor diesem Hintergrund kann der Panathenäenzug als Strauss’ Versuch gedeutet werden, die Wünsche Wittgensteins im Rahmen einer neuen Komposition einzulösen. Dafür sprechen auch einige überlieferte Quellen. Vermutlich Anfang März 1926 hatte Strauss mit Wittgensteins Manager Kontakt und berichtet ihm, dass er an einem neuen Stück für Wittgenstein arbeite, um dessen Wunsch nach einem pianistisch brillanteren Konzert zu erfüllen.23 Wittgenstein reagierte auf diese Pläne in einem Brief an Strauss sehr begeistert und äusserte die Hoffnung, bald über das Projekt sprechen
18 Dazu Franz Trenner, Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk. Wien 2003, 447. 19 Dazu O. Schmid, Der „neueste Strauss“ – das Parergon zur Sinfonia Domestica op. 73, in: Zeitschrift für Musik 92/11 (1925), 677. 20 Michael Walter, Richard Strauss und seine Zeit. Laaber 2000, 107–111. 21 Dazu Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein (wie Anm. 1), 18. 22 Die Uraufführung fand mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Fritz Busch statt, während die Wiener Erstaufführung mit den Wiener Symphonikern von Paul Breisach dirigiert wurde. Für Reaktionen der Musikkritik vgl. Die Musik XVIII/3 (Dez. 1925), Reichspost (21. Feb. 1926) und Neue Freie Presse (22. Feb. 1926). Die positive Aufnahme des Parergon wird auch durch einen Brief Wittgensteins an Strauss vom 28. Dez. 1925 und Strauss’ Antwortschreiben vom 1. Nov. 1925 dokumentiert; dazu Kim-Park, Wittgenstein (wie Anm. 15), 128–129. 23 Dazu unter anderem Wittgensteins Äusserungen in Musical Courier 126 (Dezember 1939); zitiert bei Flindell, Paul Wittgenstein, Patron and Pianist (wie Anm. 13), 122.
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zu können.24 Tatsächlich kam es noch im selben Monat zu einem Treffen in Prag,25 wo offensichtlich bereits pianistische Details der neuen Komposition besprochen wurden. Diese Annahme wird durch ein im Nachlass Paul Wittgensteins erhalten gebliebenes Skizzenblatt gestützt, auf welchem Strauss viermal den Passacaglia-Bass des Panathenäenzugs in jeweils leicht veränderter Form und mit wechselnder Harmonisierung notierte.
Abb. 1: Kompositionsskizze von Strauss zu Panathenäenzug.26
Dieses Notizblatt ist am Blattrand mit zwei von Strauss notierten Anmerkungen ergänzt: Links steht „Für Paul Wittgenstein“, während rechts die Worte „Dr. Richard Strauss, Prag, 23. März 1926“ zu lesen sind. Interessant
24 Dazu Wittgensteins Brief aus Bergen (Norwegen) vom 14. März 1926, Richard Strauss Institut. 25 Vom 21. bis 23. März 1926 hielt sich Strauss in Prag auf und dirigierte am 23. März ein Konzert in der Deutschen Gesellschaft. Dazu Trenner, Chronik (wie Anm. 18) 470, und Werbeck, Richard Strauss und Paul Wittgenstein (wie Anm. 1), 20. 26 Abbildung in Flindell, Paul Wittgenstein, Patron and Pianist (wie Anm. 13), Einlage zwischen 112–113.
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an dieser Notiz sind die mehrfachen Abweichungen des Passacaglia-Basses gegenüber der endgültigen Form. Zunächst fällt die metrische Abweichung auf: Das Thema auf dem Notizblatt ist im 3/4 Takt notiert, während es im Konzert dann im 2/4 steht. Das hat insofern Konsequenzen für die drei Schlussakkorde, als Strauss im Konzert aus diesen Vierteltriolen machen wird. Schliesslich fällt auch eine diastematische Veränderung auf, welche die vorletzte Note betrifft. Diese ist auf dem Entwurf noch ein a und wird erst in der letzten Zeile, wie später im Konzert, zu einem as vermindert.
Abb. 2: Endgültige Fassung des Bassthemas.
Abgesehen von diesem Notizblatt weist aber wenig darauf hin, wann genau Strauss mit der Komposition des Panathenäenzugs begonnen hatte. Aus einem Brief an Clemens Krauss vom 15. November 1926 geht hervor, dass er zumindest Ende 1926 daran gearbeitet hatte.27 Die Partitur dieser aus dem Bassthema und zwanzig Variationen bestehenden Sinfonischen Etüden in Form einer Passacaglia war schliesslich am 14. Februar 1927 vollendet.28 In ihrer vierteiligen Struktur29 referiert sie formal auf Strauss’ Symphonische Dichtungen und realisiert in letzter Instanz das durch Franz Liszt vermittelte Prinzip der „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit“.30 Die Uraufführung fand am 16. Januar 1928 in Berlin mit Wittgenstein und den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Bruno Walter statt und war ein Misserfolg. Der Kritiker der Vossichen Zeitung beispielsweise konnte dem Werk nichts abgewinnen und sein Urteil, dass es „ein
27 Dazu Richard Strauss – Clemens Krauss. Briefwechsel. Hg. Günter Brosche. Tutzing 1997, 40. 28 Dazu Trenner, Chronik (wie Anm. 18), 478. 29 1. Teil „Kopfsatz“ (Ziffer 1–21, B-Dur, Maestoso – Mässig bewegt); 2. Teil „Scherzo“ (Ziffer 22–37, A-Dur, Lebhaft); 3. Teil „langsamer Satz“ (Ziffer 38–42, Fis-Dur, Sanft bewegt); 4. Teil „Finale“ (Ziffer 43–66, B-Dur). 30 Dazu ausführlicher Carl Dahlhaus, Liszt, Schönberg und die große Form. Das Prinzip der Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit, in: Die Musikforschung 41/3 (1988), 202–213.
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Nebenwerk“ sei, welches „bald im Schatten der Hauptwerke“ stehe „und vergessen“ sein werde, hat sich bewahrheitet.31 Neben Wittgensteins Interesse an einem zweiten Klavierkonzert von Strauss erscheint für die Entstehung des Panathenäenzugs auch die Erinnerung an ein liegen gebliebenes Projekt eine wichtige Rolle gespielt zu haben, welches Strauss 1922 mit Hugo von Hofmannsthal in Angriff genommen hatte. Als damaliger Co-Direktor der Wiener Staatsoper (zusammen mit Franz Schalk) wollte Strauss den Spielplan des Opernhauses mit möglichst vielen neuen, besonders eigenen Produktionen erweitern. Auf der Suche nach einem neuen Ballett stiess er auf Beethovens Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 (entstanden zwischen 1800 und 1801) und dessen Musik zu Kotzebues Schauspiel Die Ruinen von Athen op. 113 (entstanden 1811). Mit Hofmannsthals Hilfe plante Strauss eine Bearbeitung dieses Stoffes.32 Hofmannsthal zeigte sich am Projekt interessiert und war überzeugt, mit der neu geschaffenen Figur des „fremden Künstlers“ die beiden Stoffe miteinander verbinden zu können. Bereits am 25. Mai 1922 führte er in einem Brief an Strauss seine Vorstellungen genauer aus: Indem ich nämlich den Wanderer oder Fremdling als eine Art Idealgestalt des deutschen Künstlers jener halbvergangenen Zeit auffasse, und ihm jenen Vers „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“ sozusagen zum Leitwort gebe, lasse ich, wie er so auf dem einsamen Athenischen Platz den Trümmern der Vergangenheit nachsinnt, ihn nach Goethes Vorbild von einem prometheischen, bildnerischen, schöpferischen Gefühl durchzuckt sein […], kurz, ich lasse ihn selber zum Prometheus werden, den wieder belebte Geschöpfe des Altertums umtanzen in den Rhythmen jener Ballettmusik, worauf dann zum Schluss die Vision des Panathenäenzugs (Marsch und Chor) als krönendes Stück folgt.33
Die Idee, das Ballett mit dem Panathenäenzug zu beschliessen, ging also auf Hofmannsthal zurück. Das ist insofern aufschlussreich, als Strauss’ vertiefte Beschäftigung mit Themen der griechischen Mythologie entgegen
31 Vossische Zeitung (Berlin), 18. Jan. 1928. Gegenwärtig sind im Handel folgende Einspielungen greifbar: mit Anna Gourari und den Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Karl Anton Rickenbacher (Universal Music, 2007); mit Rudolf Kempe (Leitung), Peter Rösel (Klavier) und der Staatskapelle Dresden (EMI Classics, 1999; Re-edition einer Aufnahme aus den 1970er Jahren); und von Kurt Leimer und Günter Neidlinger (Leitung) mit den Nürnberger Symphonikern (Colosseum Classics, 2005; Re-edition einer Aufnahme von 1972). 32 Dazu Walter Werbeck, Griechische Antike und Mythologie im Werk von Richard Strauss, in: Richard Strauss. Der griechische Germane (Musik-Konzepte 129/130). München 2005, 8–12, und Manfred Hoppe, Hofmannsthals „Ruinen von Athen“. Das Festspiel als „konservative Revolution“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), 325–356. 33 Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel (Gesamtausgabe). Im Auftrag von Franz und Alice Strauss, hg. Willi Schuh. Zürich 1964 (3., erw. Aufl.), 477.
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der weit verbreiteten Vorstellung vom „griechischen Germanen“,34 weniger von ihm selbst ausging, als von anderen, sieht man von dem unvollendet gebliebenen Ballettentwurf Kythere (TrV 201) von 1900 und der Bearbeitung von Beethovens Die Geschöpfe von Athen (TrV 249) ab.35 Von Hofmannsthals ursprünglicher Konzeption wurde in der Bearbeitung, wofür Strauss lediglich das Melodram Hinauf zu deiner Burg, meine Göttin! komponierte, interessanterweise der Panathenäenzug nicht realisiert.36 Damit war die Idee dazu gleichsam zwei Jahre später für das „Wittgenstein-Klavierkonzert“ verfügbar. Dass Strauss in diesem Kontext nochmals auf den Panathenäenzug zurückkam, ist sowohl durch den Inhalt des antiken Panathenäenzugs als auch seiner Verwandlung in Hofmannsthals Konzeption zu sehen. Beim antiken Panathenäenzug handelt es sich um ein religiös-politisches Fest, das auf einem Fries am Athener Parthenon dargestellt ist. Mit diesem Fest feierten die Bewohner des antiken Athens alle vier Jahre jeweils im Hochsommer ihre Schutzgöttin Athene. Den Glanzpunkt des als Panathenäen bezeichneten Festes bildeten der feierliche Aufzug (der Panathenäenzug) der gesamten athenischen Bürgerschaft und das grosse Festopfer mit gemeinsamem Mahl zu Ehren Athenes. In Hofmannsthals Konzeption erscheint der Panathenäenzug als Vision im Rahmen der Verehrung des „fremden Künstlers“. Dass die Figur des „fremden Künstlers“ keineswegs nur auf Goethe referiert,37 sondern ganz allgemein für den deutschen Künstler überhaupt einstand und damit im übertragenen Sinne auch auf Strauss applizierbar war, musste für den Komponisten auf dem Zenit seiner Karriere besonders attraktiv und verlockend gewesen sein. Diese Umstände 34 Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die nicht korrekte Behauptung Kim-Parks, dass „Strauss’ Erinnerungen an seine Reisen nach Griechenland und Ägypten 1892 […] viele seiner Werke“ inspiriert hätten [Kim-Park, Wittgenstein (wie Anm. 15), 139]. Das reale, von Strauss bereiste Griechenland war eigentlich sekundär. Ausschlaggebend war „einzig und allein dessen antike Vergangenheit“ [Werbeck, Griechische Antike und Mythologie im Werk von Richard Strauss (wie Anm. 32), 8]. 35 Den Stoff zu Elektra op. 58 (TrV 223) (1908) lernte Strauss als Theaterstück von Hofmannsthal kennen, Ariadne auf Naxos op. 60 (TrV 228) (1916) und Die ägyptische Helena op. 75 (TrV. 255) (1926) gingen aus Anregungen von Hofmannsthal hervor, das von Joseph Gregor verfasste Libretto zu Die Liebe der Danae op. 83 (TrV 278) (1939) ging auf das Szenarium Danae oder die Vernunftheirat (1920) von Hofmannsthal zurück, während Daphne op. 82 (TrV 272) (1937) sich einer Idee von Gregor verdankte. 36 Die Ouvertüre ist von Beethovens Die Geschöpfe des Prometheus übernommen, die Nr. 1– 5 und 7–16 stammen aus Beethovens Die Ruinen von Athen. Das Melodram Nr. 6 Hinauf zu deiner Burg, meine Göttin! komponierte Strauss in Garmisch am 15. Juni 1924 als Einlage unter Verwendung von Motiven aus Beethovens 3. und 5. Symphonie. Die Bearbeitung wurde am 20. September 1924 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt. 37 Dazu Hoppe, Hofmannsthals ‚Ruinen von Athen’ (wie Anm. 32), 333–335.
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werden dann knapp zwanzig Jahre später, bei der erneuten Hinwendung zum Panathenäenzug belangvoll. Für diese mögliche Identifikation mit der Rolle des „fremden Künstlers“ liefert Strauss immerhin einen musikalischen Hinweis. Denn das Klavierkonzert beginnt auffällig genug mit einem überdeutlichen doppelten Selbstzitat: Eine Unisono-Fanfare, welche Strauss in der Skizze mit „Pallas Athena“ bezeichnet hatte,38 eröffnet den Panathenäenzug und referiert damit unmissverständlich auf das berühmte Agamemnon-Motiv, mit welchem Elektra (TrV 223) beginnt, ebenso wie auf den Beginn des zweiten Akts der Ägyptischen Helena (TrV 255), welche bekanntlich vor dem Panathenäenzug entstanden ist.
Abb. 3: „Pallas Athena-Motiv“ aus Panathenäenzug.
Abb. 4: „Agamemnon-Motiv“ aus Elektra.
Die Selbstidentifikation wurde einerseits mit dem „fremden Künstler“ bei Strauss durch die ausgeprägte Selbstüberhebung befördert, dass beispielsweise all seine Opern „die bedeutendsten deutschen Opernschöpfungen nach Wagner darstellten.“39 Andererseits verbarg sich darin auch ein zu dieser Zeit von vielen Künstlern empfundenes künstlerisches Sendungsbewusstsein, wofür auch Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Wassily Kandinsky ein interessantes Beispiel bieten.40 Dieses Sendungsbewusstsein hatte seine Wurzeln in einer für die Zeit spezifischen Nietzsche-Rezeption, insbesondere seiner beiden Schriften Die Geburt der Tragödie (1872) und Also sprach Zarathustra (1883–1885). Denn nach Nietzsche war der „neue Menschentypus“ im innersten Wesen „artistisch“ bzw. „künstlerisch“.41 Dabei handelt es sich um einen Menschentypus, der eine „der Rationalität
38 Dazu Werbeck, Einführung zu Konzerte und Konzertstücke (wie Anm. 1), viii, Sp. 2. 39 Walter, Richard Strauss und seine Zeit (wie Anm. 20), 110. 40 Dazu Antonio Baldassarre, „Among the best striving today, there are secret relationships“. The Kandinksij-Schoenberg connection reconsidered, in: Music in Art XXIX/1–2 (2004), 235–255. 41 Dazu Johann Mader, Zur Aktualität Nietzsches (= Wiener Vorlesungen im Rathaus 39). Wien 1995, 14–16. Siehe auch Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 1890– 1990. Berkeley (CA) 1992.
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radikal entgegengesetzte Haltung zur Welt“42 hat und erst in der auf „Rasse“ und „Deutschtum“ verkürzten Interpretation der Nationalsozialisten platt rassistisch verstanden und missbraucht wurde.43 Die Uraufführung von Strauss’ Panathenäenzug war – wie bereits erwähnt – kein Erfolg44 und die Komposition geriet nach noch zwei weiteren Aufführungen durch Wittgenstein in Vergessenheit,45 bis sie von Kurt Leimer in den vierziger Jahren wieder „entdeckt“ wurde. Leimer wurde am 7. September 1920 in Wiesbaden geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf.46 Bevor er ins Konservatorium seiner Heimatstadt aufgenommen wurde, genoss er seinen ersten Klavierunterricht bei seinem Vater, welcher nach der Methode von dessen Bruder, Karl Leimer, unterrichtete.47 Eine während Leimers Studienzeit in Wiesbaden unter an42 Dazu Mader, Zur Aktualität Nietzsches (wie Anm. 41), 14–16. 43 Nietzsche selbst äusserte sich gegenüber allen Formen des Antisemitismus’ oder des übertriebenen Deutschtums sehr scharf: „Für das Princip ,Deutschl(and) D(eutschland) über Alles‘ oder für das deutsche Reich sich zu begeistern, sind wir nicht dumm genug.“ Fragment 25 [251], Frühjahr 1884, in: Nachlaß 1884–1885, Kritische Studienausgabe. Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin und New York 1999 (Neuausgabe), Bd. 11, 78. Allerdings war die Umprägung der Gedanken Nietzsches nicht unwesentlich durch die Sympathie beeinflusst, welche viele deutsche Künstler der nationalsozialistischen Ideologie entgegenbrachten – bei Strauss noch unterstützt durch seinen „latenten“, besonders durch seine deutsch-nationale Herkunft vermittelten Antisemitismus, welcher sich aber nie in eine allgemeine „rassistisch gefärbte Feindschaft“ gegenüber den Juden ausprägte [dazu Walter, Richard Strauss und seine Zeit (wie Anm. 20), 79–80]; dazu ganz allgemein: Pamela M. Potter, Strauss and the National Socialists: the debate and its relevance, in: Richard Strauss. New perspectives on the composer and his work. Hg. Bryan Gilliam. Durham-London 1992, 93–113. 44 Neben der bereits erwähnten Kritik aus der Vossischen Zeitung siehe auch die Besprechungen in Allgemeine Zeitung Chemnitz, 18. Jan. 1928; Magdeburger Zeitung, 19. Jan. 1928; Deutsche Zeitung, 4. Feb. 1928 und Kölnische Zeitung; 4. Feb. 1928, Neue Freie Presse, 15. März 1928 sowie Strauss humoristische Reaktion, dass er wisse, „daß der Panathenaenzug [sic!] nicht schlecht ist, aber für so gut, daß er die Ehre einer einstimmigen Ablehnung erfährt, habe ich ihn nicht gehalten.“ Zitiert nach E. Fred Flindell, Dokumente aus der Sammlung Paul Wittgenstein, in: Die Musikforschung XXII/1 (1969), 426 (Hervorhebungen im Original). 45 Ende Februar 1928 hatte Wittgenstein das Konzert in Dresden im Rahmen eines von Friedrich Weißmann geleiteten Konzerts des Wagnerverbandes deutscher Frauen und am 11. März 1928 unter der Leitung von Franz Schalk in Wien aufgeführt. 46 Die nachfolgenden biographischen Informationen beruhen auf Texten des Autors dieses Beitrags, welche er für die Website der Kurt Leimer Stiftung (www.Kurt-Leimer.ch) und die Booklets der CD Sonderedition Kurt Leimer verfasst hat. 47 Dazu Walter Szmolyan, Späte Freundschaft mit Richard Strauss. Zum Gedenken an Kurt Leimer, in: Österreichische Musikzeitschrift 30/9 (1975), 486. Karl Leimer war Klavierprofessor an der Hochschule Hannover, welcher er auch als Direktor vorstand, und unterrichtete dort u. a. den Pianisten Walter Gieseking. Mit Gieseking verfasste er die noch heute wichtigen klavierpädagogischen Schriften Modernes Klavierspiel (Mainz 1931) und Rhythmik, Dynamik, Pedal (Mainz 1938).
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derem von Walter Gieseking, Carl Schuricht und Wilhelm Furtwängler durchgeführte Evaluation bescheinigte Kurt Leimers Klavierspiel höchste Anerkennung.48 Dieser Beurteilung und einem weiteren Stipendium verdankte Leimer wohl die Fortsetzung des Studiums an der Berliner Musikhochschule, wo er zunächst bei Wladimir Horbowsky, dem berühmten Rachmaninoff-Schüler, studierte, bevor er 1939 nach seinem Berliner Debüt (1938) in die Klasse von Edwin Fischer aufgenommen wurde. Bei diesem studierte Leimer bis zu dessen Rückkehr in die Schweiz 1942 Klavier. Gleichzeitig nahm er das Kompositionsstudium beim ehemaligen Reger-Schüler Kurt von Wolfurt auf.49 Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Leimer in den Kriegsdienst eingezogen und geriet in Livorno in amerikanische Gefangenschaft. Während eines Gefechts wurde einem Studienkollegen vor Leimers Augen durch eine Granate der rechte Arm abgerissen, was Leimer dazu bewog – wohl noch ohne vertiefte Kenntnis der Komposition von Strauss –, sein Klavierkonzert für die linke Hand und Orchester zu komponieren.50 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Leimers Karriere als Konzertpianist, welche ihn in alle grossen Konzerthäuser der Welt führte. 1953 wurde er an die Akademie für Musik und Darstellende Kunst Mozarteum in Salzburg berufen, wo er bis zu seinem frühen Tod am 20. November 1974 als Professor wirkte und für die Leitung der Meisterklasse der Salzburger Sommerakademie verantwortlich war. Neben seiner Tätigkeit als weitum geachteter Klavierpädagoge und Konzertpianist trat Leimer auch als Komponist einer beachtlichen Zahl an Klavierkompositionen in Erscheinung,51 insbesondere von vier gewichtigen Klavierkonzerten.52 Diese Kompositio48 Bericht im Nachlass Kurt Leimer, Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Mus NL 134. 49 Pseudonym von Kurt Freiherr von Wolff. 50 Dieses Konzert wurde von Leimer selbst 1948 uraufgeführt. Bereits 1954 folgte die erste Einspielung des Konzerts auf Schallplatte mit Leimer und dem Philharmonia Orchestra London unter der Leitung von Herbert von Karajan (Electrola, EMI F 65 348). Dazu Richard Osborne, Herbert von Karajan. Leben und Werk. Wien 2002, 440. Die Aufnahme des Konzerts ist heute als CD (Colosseum Classics 9200.2) wieder im Handel greifbar. 51 Das Kompositionsmaterial Leimers befindet sich heute im Nachlass Kurt Leimer in der Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Mus NL 134. 52 Die vier Klavierkonzerte Leimers entstanden in enger Zusammenarbeit mit Kurt Overhoff. Der 1902 in Wien geborene Overhoff war 1928/29 Assistent von Furtwängler und wirkte von 1932 bis 1940 als Generalmusikdirektor in Heidelberg. Wegen seiner engen Verbindung mit den Nachkommen Richard Wagners wurde Overhoff 1940 die musikalische Erziehung Wieland Wagners anvertraut; ab 1945 erteilte er auch Strauss’ Enkel Richard Unterricht in Musiktheorie. Von 1947 bis 1951 leitete er den Aufbau des Bayreuther Symphonieorchesters, dem er auch als Generalmusikdirektor vorstand. Nach seiner Tätigkeit als musikalischer Oberleiter des Landestheaters Altenburg ab 1954 und einem längeren Aufenthalt in den USA wurde Overhoff wie Leimer Professor am Mozarteum in Salzburg, wo er von 1962 bis 1973 unterrichtete. Die Zusammenarbeit zwischen Leimer und Overhoff begann um 1949 und konzentrierte sich besonders auf
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nen fanden die Aufmerksamkeit und das Interesse so namhafter Interpreten wie Herbert von Karajan, Leopold Stokowski und Eugene Ormandy und wurden von der zeitgenössischen Kritik durchaus positiv aufgenommen.53 Auf wann genau die Bekanntschaft zwischen Leimer und Strauss zu datieren ist, kann heute nicht mehr genau festgestellt werden. Nachgewiesen ist, dass Kurt Leimers erste Frau, (Emmy) Margit von Opel,54 seit 1946 mit der Familie Strauss korrespondierte. Aufgrund der gesellschaftlichen Stellung Margit von Opels sowie ihres Vaters, dem Fabrikanten und Inhaber der Opel-Werke Heinrich Adam von Opel ist allerdings zu vermuten, dass Kontakte zwischen Strauss und der Familie von Opel schon früher bestanden.55 Zudem ist anzunehmen, dass Leimer, welcher sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Partenkirchen niederliess, in der Zeit vor Strauss’ Ausreise in die Schweiz am 9. Oktober 1945 mit diesem zusammenkam. Möglich ist auch, dass der Kontakt zwischen Leimer und Strauss durch Kurt Overhoff vermittelt wurde,56 welcher 1945 Richard Strauss’ Enkel in Musiktheorie unterrichtete. Leimer selbst hatte um 1949 Strauss’ Enkel Klavierunterricht erteilt, wie ein nicht datierter Brief im Richard Strauss Institut belegt. Aufgrund eines von Strauss verfassten und mit 7. Oktober 1945 datierten Empfehlungsschreibens für Leimer muss die Bekanntschaft aber vor diesem Schreiben erfolgt sein. Bei dieser Gelegenheit hatte Leimer Strauss den Panathenäenzug „durch eine phänomenale Wiedergabe“ vorgespielt.57
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die Instrumentierung der Klavierkonzerte bzw. auf die Anfertigung von Bearbeitungen. So haben Leimer und Overhoff beispielsweise bei der Instrumentierung von Leimers Klavierkonzert für die linke Hand eng zusammengearbeitet, während Overhoff 1955 vom selben Konzert eine kammermusikalische Fassung anfertigte. Overhoff förderte aufgrund seines nicht geringen Einflusses im deutschen Musikleben der Nachkriegszeit Leimers Karriere durch Empfehlungen seiner Werke bei namhaften Persönlichkeiten, wie beispielsweise Wilhelm Furtwängler. Zu Overhoff vgl. Österreichisches Musiklexikon. Hg. Rudolf Flotzinger. Wien 2005, Bd. 4, 1703. Dazu die im Nachlass Kurt Leimer aufbewahrten zahlreichen Rezensionen, Zentralbibliothek Zürich, Signatur: Mus NL 134:Eb1:1–10 und Mus NL 134:Eb2. Leimers Klavierkonzert Nr. 4 von 1955 beispielsweise wurde mit Leopold Stokowski in der Carnegie Hall in New York uraufgeführt und später auch mit ihm auf Schallplatte eingespielt (EMI Electrola, F 65 350; seit 2008 als Re-Edition wieder greifbar, Colosseum). Dabei handelte es sich um die vierte Ehe von Margit von Opel. Zuvor war sie mit Friedrich („Fritz“) Jay, Hans Thieme und Hans Drehnhaus verheiratet. Leimer und von Opel heirateten 1944. Dass Strauss Kontakte zur Familie von Opel pflegte, belegt beispielsweise sein Besuch bei Max von Opel in St. Moritz am 5. August 1947. Dazu Trenner, Chronik (wie Anm. 18), 645. Siehe Fussnote 51. Richard Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen. Hg. Willi Schuh. Zürich 1981 (3. Aufl.), 332.
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In Strauss’ Empfehlungsschreiben heisst es denn auch: „Herr Leimer ist ein Pianist ersten Ranges, dem ich eine glänzende Laufbahn prophezeie und wünsche.“58 Einem mit 10. Dezember 1946 datierten Bericht von Strauss’ Sohn, Franz Strauss, zufolge muss Strauss bei Leimers Spiel gar an den jungen Liszt gedacht haben.59 Der erste Brief des im Richard Strauss Institut erhalten gebliebenen Briefwechsels zwischen Leimer und Strauss stammt vom 26. Dezember 1946 und ist von Margit von Opel an Pauline Strauss gerichtet. Um diese Zeit hielten sich Richard und Pauline Strauss bereits in der Schweiz auf. Dieser Brief ist für den hier zur Diskussion stehenden Gegenstand insofern wichtig, als darin nicht nur die Bemühungen geschildert werden, welche die Leimers unternahmen, um aus Deutschland ausreisen und einen Besuch bei Strauss machen zu können, sondern darin auch berichtet wird, dass Leimer sehr beschäftigt sei, und zwar mit der Einstudierung der Burleske und des Panathenäenzugs, wie ein Brief vom 1. Februar 1947 bestätigt. Darin spricht Leimer Strauss’ Plan eines gemeinsamen Konzerts im Rahmen des Richard-Strauss-Festivals in London an, worüber auch in den nächsten Briefen verhandelt wird.60 Allerdings konnte dieser Plan nicht verwirklicht werden, weil Leimer die dafür notwendigen Ausreisepapiere nicht erhielt, worüber Strauss enttäuscht war, wie ein Brief an Leimer im Strauss-Institut dokumentiert.61 Ebenso wenig kam eine Aufführung des Panathenäenzugs in Salzburg zustande, worüber Strauss mit Leimer und dem Dirigenten, Komponisten und langjährigen Direktor des Salzburger Mozarteums, Bernhard Paumgartner, während eines Besuchs von Leimer und Paumgartner bei Strauss in Lugano am 7. April 1947 gesprochen hatten.62 Strauss berichtete darüber in einem Brief an Willi Schuh:
58 Notariell beglaubigte Abschrift des Schreibens im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich). 59 Bericht von Franz Strauss im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich). 60 Das Richard-Strauss-Festival, an welchem Strauss teilnahm und auch selbst dirigierte, dauerte vom 5. bis 30. Oktober 1947. Dazu Trenner, Chronik (wie Anm. 18), 646–647. 61 Anstelle von Leimer führte der mit Strauss seit 1923 bekannte Pianist Alfred Blumen am 19. Oktober 1947 die Burleske in einem Konzert unter der Leitung des Komponisten in der Royal Albert Hall auf, wozu sich ein Zuhörerschaft von etwa 7‘500 Personen einfand. Dazu Trenner, Chronik (wie Anm. 18), 646. 62 Dazu idem, 644, und Bernhard Paumgartner, Richard Strauss in der Schweiz (mit einem Anhang von Otmar Nussio), in: Österreichische Musikzeitschrift 19/8 (1964), 381. Strauss hielt sich vom 29. März bis 12. Juni in Lugano auf, mehrheitlich im Sanatorium Sanrocco, wo er am 11. Juni 1947 dann eine Art Abschieds- und Geburtstagskonzert mit dem Radio della Svizzera Italiana Monte Ceneri gab, das von Ottmar Nussio vorbereitet wurde. Nach dem Konzert fand bei Nussio eine Geburtstagsfeier statt.
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Kurt Leimer hat soeben Paumgartner vorgespielt und ist von ihm für ein Salzburger Festconzert unter Ansermet mit Panathenäenzug und Burleske und für einen Mozarteumskurs eingeladen worden. Er hat sensationell gespielt.63
Die Salzburger Pläne wurden nach Leimers Meinung, wie Margit an Strauss in einem Brief vom 8. Juli 1947 ausführt, durch ein Komplott vereitelt. Diese Vermutung stützte Leimer auf den Umstand, dass die Partitur des Panathenäenzugs nicht in Salzburg eingetroffen war. Die Partitur, welche sich damals bei Schuh in Zürich befand, hätte durch den Zürcher Bühnenvertrieb M. Kantorowitz nach Salzburg geschickt werden müssen. Hinter alledem vermutete Leimer auch die aktuelle politische Lage. Weitere Versuche einer Aufführung des Panathenäenzugs blieben vorerst ebenfalls fruchtlos. Insbesondere versuchte Leimer ab 1948 das Konzert in die USA zu vermitteln. Denn Leopold Stokowski schien einem Brief Leimers an Richard und Pauline Strauss vom 1. Mai 1948 zufolge an einer Einspielung des Panathenäenzugs interessiert zu sein. So schrieb Leimer nach der Salzburger Enttäuschung: „In Amerika ist man scheinbar mehr an einem noch nicht gespielten Werk von Ihnen interessierter als in England und Salzburg.“64 Ebenfalls erwog Leimer die Möglichkeit, Thomas Beecham, Arturo Toscanini, Otto Klemperer und Fritz Busch für eine Aufführung oder Einspielung des Panathenäenzugs zu gewinnen, weshalb er Strauss um Vermittlung bat. Ende Mai 1948 kam es zu einer durch die Korrespondenz nur lückenhaft dokumentierten Verstimmung im Verhältnis zwischen Strauss und Leimer. Es ging dabei vermutlich um den Erwerb der Partituren von Parergon und Panathenäenzug. Strauss meinte in einem Brief an Leimer vom 31. Mai 1948, dass er – Strauss – der Meinung gewesen sei, dass Leimer und Otto Vetter über diesen Kauf einig geworden seien.65 Ganz offensichtlich schien Leimer von einer solchen Vereinbarung aber keine Kenntnis gehabt zu haben, weshalb Strauss im gleichen Brief Leimer aufforderte, die Partituren an Schuh zu senden und sich aller Abmachungen in Bezug auf die Klavierkonzerte für entlastet zu betrachten. Margit und Kurt Lei63 Richard Strauss. Briefwechsel mit Will Schuh (wie Anm. 5), 122. Paumgartners Plan, Leimer nach Salzburg zu holen, wird durch ein handschriftliches Schreiben vom 7. April 1947 an die Österreichische Botschaft in Bern unterstützt. Kopie des Schreibens, Kurt Leimer Stiftung (Zürich). Schuh selbst machte kurz darauf am 11. April 1947 die erste persönliche Bekanntschaft mit Leimer, worüber er in einem Brief an Strauss vom 13. April 1947 berichtete: „Herrn Leimer habe ich vorgestern kennengelernt und er hat mir sein Klavierkonzert [für die linke Hand] und zwei Sätze des Brahms’schen B-dur-Klavierkonzerts vorgespielt. Ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, einen oder mehrere Dirigenten für ihn zu interessieren.“ [Richard Strauss. Briefwechsel mit Will Schuh (wie Anm. 5), 123]. 64 Kurt Leimer an Richard und Pauline Strauss, 1. Mai 1948, Richard-Strauss-Institut. 65 Otto Vetter hatte am 17. Januar 1937 Gretl von Grab geheiratet, die Schwester von Strauss’ Schwiegertochter Alice.
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mer reagierten auf diese Aufkündigung mit „Bestürzung“ und „Verzweiflung“, wie das Antwortschreiben von Margit Leimer deutlich macht.66 Für die Lösung des Problems bot Margit ein Darlehen in der Höhe von 25’000 Schweizer Franken an Strauss’ Sohn an.67 Damit war die Verstimmung aus der Welt geräumt. Zu einer Aufführung des Panathenäenzugs kam es dann schliesslich am 18. November 1948 in Lugano mit dem Orchester des Radio della Svizzera Italiana unter der Leitung von Otmar Nussio,68 an welchem Strauss nicht anwesend war.69 In dieser Aufführung wie auch in späteren hatte Leimer vermutlich nicht die Partitur gespielt, welche Strauss für Paul Wittgenstein komponiert hatte. Vielmehr ist anzunehmen, dass Leimer bereits damals eine von ihm wesentlich bearbeitete Fassung vorgetragen hatte. Die Eingriffe in den Klavierpart, wie sie in der erhalten gebliebenen Partitur Leimers dokumentiert sind, zeichnen sich vor allem durch eine brillantere und insbesondere spieltechnisch und rhythmisch komplexere Satzstruktur aus, wie ein Vergleich der nachfolgenden Beispiele belegen mag (siehe Abb. 5 und 6). Die Veränderungen im Klavierpart haben insgesamt einen pianistisch virtuoseren Satz zur Folge und konzentrieren sich auf das klangliche Gleichgewicht zwischen Klavier und Orchester. In die originale Satzstruktur selbst greift Leimer dreimal ein. Zum einen komponierte er eine neue Hauptkadenz vor Ziffer 50, welche sich durch eine gesteigerte Virtuosität auszeichnet und welcher er mit einer in der Originalpartitur nicht vorhandenen Generalpause einleitet. Zudem komponierte er vor Ziffer 54 eine weitere, kurze Solokadenz (Abb. 7). Diese ist durch die musikalische Originalstruktur insofern legitimiert, als sie den Beginn des neuen mit „feuriges Marschtempo“ bezeichneten Abschnitts des vierten und letzten Teils pianistisch effektvoll in Szene setzt und dabei dem Auftakt zu Ziffer 54 eine gewichtigere Funktion verleiht. Einen letzten Eingriff in die autographe Struktur nimmt Leimer schliesslich kurz vor dem Schluss des Panathenäenzugs vor. Vier Takte nach Ziffer 66 fügt er zwei zusätzliche Klaviersolo-Takte ein, wie Abb. 8 zeigt.
66 67 68 69
Margit Leimer an Richard Strauss, 1. Juni 1948, Richard-Strauss-Institut. Ibid. Ich danke Herrn Carlo Piccardi für seine Hilfe bei der Recherche dieser Angaben. Trenner, Chronik (wie Anm. 18), 652.
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Abb. 5 Richard Strauss, Panathenäenzug, Ziffer 44, Konzerte und Konzertstücke II (= Richard Strauss Edition 23). Wien und Frankfurt/Main usw.: Verlag Dr. Richard Strauss und C. F. Peters. 1999.
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Abb. 6: Richard Strauss / Kurt Leimer, Panathenäenzug, Ziffer 44, Fotokopie des Autographs im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich); abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Kurt Leimer Stiftung (Zürich).
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Abb. 7: Richard Strauss / Kurt Leimer, Panathenäenzug, Ziffer 54, Fotokopie des Autographs im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich); abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Kurt Leimer Stiftung (Zürich).
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Abb. 8: Richard Strauss / Kurt Leimer, Panathenäenzug, Ziffer 66, Fotokopie des Autographs im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich); abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Kurt Leimer Stiftung (Zürich).
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Die Dehnung um zwei Takte erweist sich auch hier als äusserst kunstvoll. Denn die beiden eingeschobenen Takte brechen die bei Ziffer 66 beginnende regelmässige achttaktige Periode auf und zögern damit effektvoll sowohl den abschliessenden Einsatz des akkordischen Eröffnungsmotivs als auch die Schlusskadenz hinaus. Die Frage, ob Strauss diese Eingriffe – welche sich bezeichnenderweise ausnahmslos auf den Klavierpart bezogen – gebilligt hatte, kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden. Berücksichtigt man aber den Umstand, dass er sich bereits bei Wittgenstein für Änderungsvorschläge offen zeigte und ebenfalls – wie gezeigt – dessen Eingriffe in die Partitur von Parergon akzeptierte, lässt sich vermuten, dass er auch Leimers Änderungen sanktionierte. Ob Strauss allerdings über Leimers Eingriffen bis ins letzte Detail unterrichtet war, lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht feststellen. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass Strauss nach Leimers phänomenalem Vorspiel davon ausging, dass die Partitur sich in professionellen Händen befand. Zudem lässt sich annehmen, dass Leimer bereits in seinem ersten Vorspiel des Panathenäenzugs bei Strauss eine insbesondere den Klavierpart betreffende veränderte Version vortrug. Eine andere Frage ist indes, weshalb Strauss sich in den späten 1940er Jahren nochmals intensiv für die Aufführung des Panathenäenzugs eingesetzt hatte. Immerhin unternahm er, wie erörtert, einige Anstrengungen, um das Werk wieder in den Konzertsaal zu bringen, nachdem sich Wittgenstein nicht mehr gross für den Panathenäenzug interessiert zu haben schien. Zu diesem Einsatz gehörte auch, dass Strauss alle Aufführungsrechte der Komposition für drei Jahre exklusiv Kurt Leimer überliess und durch den Verlag Boosey & Hawkes vertraglich absicherte.70 Freilich mag die erneute Aktualität des Panathenäenzugs zunächst einmal durch Strauss’ Wunsch bestimmt gewesen sein, ein aufstrebendes Talent zu fördern, das er auch nach einem Bericht Paumgartners für eine „grosse, überzeugende Begabung“ hielt.71 Ebenso entscheidend schien aber auch Strauss’ Antikenrezeption gewesen zu sein. Wie ausgeführt entstand der Panathenäenzug zu einer Zeit, in welcher Strauss ein weitum gefeierter und geachteter Komponist war. Zudem enthält das Werk in der Huldigung des „fremden Künstler“ eine Form der Antikenrezeption, welche aufgrund der wenig verschleierten deutschen Provenienz dieses „fremden Künstlers“ 70 Am 1. Januar 1947 vertraute Strauss seinen gesamten Nachlass dem Verlag Boosey & Hawkes an. Eine Kopie des das Aufführungsrecht betreffenden und mit 10. Dez. 1946 datierten Vertrags befindet sich im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich). Mit diesem Vertrag verstiess Strauss eigentlich gegen Wittgensteins alleiniges und lebenslanges Aufführungsrecht, was Strauss aber ganz offensichtlich nicht gross zu beirren schien. 71 Paumgartner, Richard Strauss in der Schweiz (wie Anm. 62), 381.
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auf Strauss selbst anwendbar war. Darauf wird Strauss in seiner so genannten Letzten Aufzeichnung anspielen, welche er am 19. Juli 1949, genau acht Tage vor seinem 85. Geburtstag und knapp drei Monate vor seinem Tod niedergeschrieben hatte. Darin bezeichnete er sich selbst und ohne Ironie als „griechischen Germanen“.72 Die Bedeutung dieser Selbstcharakterisierung erhellt sich im Kontext von Strauss’ berühmtem Brief über das humanistische Gymnasium, welchen er im Sommer 1945 verfasste. Vielsagend heisst es darin: Nach der Erschaffung der deutschen Musik durch Johann Sebastian Bach, nach Offenbarung der von allen Philosophen seit Plato gesuchten menschlichen Seele in der Mozartschen Melodie […] und nach den Prachtpalästen der Beethovenschen Sinfonien hat endlich der dramatische Dichter und musizierende Philosoph Richard Wagner in der Sprache des modernen Orchesters den germanisch-christlichen Mythos in vollendeten musikalisch-dramatische Schöpfung erlösend, eine dreitausendjährige Kulturentwicklung abgeschlossen.73
Wie sehr sich Strauss als Vollender dieser „dreitausendjährigen Kulturentwicklung“ verstand, dokumentiert beispielsweise ein Brief an den Intendanten Heinz Tietjen vom 25. November 1944. Darin heisst es über den dritten Akt der Liebe der Danae: „mein letztes Bekenntnis zu Griechenland und die endgültige Vereinigung der deutschen Musik mit der griechischen Seele.“74 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang schliesslich auch der knapp ein Jahr zuvor an Schuh geschriebene Brief vom 8. Oktober 1943, in welchem Strauss meinte: Ich kann nur in Musikgeschichte denken und da gibt es nur einen ganz schroffen Wagnerschen Standpunkt: die Klassiker von Bach ab bis Beethoven, von da nur die eine Linie: Liszt, Berlioz, Wagner und meine bescheidene Wenigkeit.75
Vor diesem Hintergrund hat der Panathenäenzugs im Kontext der veränderten biographischen und musikhistorischen Situation in den 1940er Jahren nicht eine grundsätzlich neue, aber doch ein veränderte Funktion erhalten. Wie gezeigt, funktionierte die musikalische Darstellung des Panathenäenzugs aufgrund von Hofmannsthals Konzeption der Verehrung des „fremden Künstlers“ in den zwanziger Jahren noch vorab als eine Art der Selbstidentifikation, gepaart mit dem zeittypischen künstlerischen Sendungsbewusstsein. Demgegenüber erscheint der Panathenäenzug und 72 Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen (wie Anm. 57), 182. 73 Idem, 129–130 (Hervorhebung im Original). 74 Der Strom der Töne trug mich fort. Die Welt um Richard Strauss in Briefen. Hg. Franz Grasberger. Tutzing 1967, 431. 75 Richard Strauss. Briefwechsel mit Will Schuh (wie Anm. 5), 49.
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Strauss’ Einsatz für dieses Werk am Ende seines Lebens gleichsam als letzter Versuch, Welt- und Kulturgeschichte verlängert in die eigene Lebensgeschichte abzuschliessen. Denn im Gegensatz zu den Metamorphosen und den Vier letzten Liedern beschliesst der Panathenäenzug mit seinem bewussten Anschluss an die griechische Mythologie tatsächlich weit unmittelbarer eine „dreitausendjährige Kulturentwicklung“. Der Panathenäenzug der vierziger Jahre ist „endgültige Vereinigung der deutschen Musik mit der griechischen Seele“ im Bild des vom „fremden Künstler“ zum „griechischen Germanen“ gewandelten Strauss und erweist sich damit als ein – wenn auch heute vielleicht nicht kompositionsgeschichtlich, so doch – kulturgeschichtlich höchst bedeutungsvolles Dokument, insbesondere mit Blick auf die in ihm gegebene Vollendung des antiken Mythos und auf die von Strauss in Anlehnung an Nietzsche angestrebte Vereinigung des klassischen (apollinischen) und archaischen (dionysischen) Griechenlands:76 im Panathenäenzug, diesem „festlichen Niederschlag seiner [Strauss’] griechischen Seele“,77 sind die Welten Helenas und Elektras – wie gezeigt – nicht nur musikalisch vereint,78 sondern ihre sowohl produktiven als auch zerstörerischen Gegensätze – von einem kulturhistorischen Standpunkt aus interpretiert – zum weltpolitischen Zeitpunkt der abendländischen Nullstunde aufgehoben.
76 Eine ganz ähnliche programmatische Intention, wenn auch ohne expliziten Bezug zur antiken Welt, hatte Leimer im Kontext der Komposition seines vierten 1954/55 komponierten Klavierkonzerts. Dazu Kurt Leimer, Anmerkungen [über das vierte Klavierkonzert], Typoskript (masch.), im Besitz der Kurt Leimer Stiftung (Zürich). 77 Paumgartner, Richard Strauss in der Schweiz (wie Anm. 62), 381. 78 Strauss, Betrachtungen und Erinnerungen (wie Anm. 57), 181.
Suche nach einer Poetik der Oper Othmar Schoecks Opernprojekte mit Hermann Hesse Patrick Müller
Othmar Schoecks und Hermann Hesses Oper Bianca haben mit Richard Strauss’ und Frank Wedekinds Oper Lulu oder Wolfgang Rihms und Hans Magnus Enzensbergers opera buffa über das Politbüro der DDR gemeinsam, dass sie über unterschiedlich weite konzeptionelle Schritte hinaus nie bis zu einer Realisierung vorangeschritten sind. Die Geschichte ungeschriebener oder unvollendeter, mitunter fiktiver Opern wartet jedenfalls noch auf ihre Verfasser – sie würde der klassischen Operngeschichtsschreibung an Umfang indes kaum nachstehen. Werter Herr! Sie haben länger nichts von mir gehört. Ich war fleissig. Seit ich Ihre Musik habe und verstehe, hat mir immer ein Text für Sie vorgeschwebt, wollte aber nicht heraus. Jetzt ist er da, so gut wie fertig, und es ist ein Operntext, und Sie müssen ihn komponieren.1
Das Briefzitat aus Hermann Hesses Musikerroman Gertrud, in dem sich ein gewisser Hans H. an den Protagonisten und Komponisten Gottfried Kuhn richtet, gälte in solcher Geschichtsschreibung wohl als typische Szene: Autor sucht Komponist – wobei sich die bevorzugte Suchrichtung spätestens im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts invertiert haben mag. In Hesses Romans bleibt die Oper namenlos, als „glühende[s] Liebesspiel in Versen“2 steht sie darin wohl für die Gattung Oper an sich, und immerhin wird sie dort, in der fiktiven Welt des Romans, ein Erfolg. In Hermann Hesses eigener Biographie blieben Opernpläne, so sehr er sich für diese Kunstform auch interessiert haben mag, allerdings weitgehend unrealisiert. Und dies, obwohl das biographische Umfeld Hesses demjenigen des Romans eigentümlich ähnlich sah: Dort nämlich wendet sich Hans H. – er trägt immerhin die Initialen des Romanautors – an einen Komponisten, Kuhn, der zuvor bereits einige seiner Gedichte vertont hatte; und bald ist auch ein Mäzen, Imthor, zur Stelle, der die Arbeit fördert und aus einer kunstfreundlichen Industriellenfamilie stammt: Schriftsteller, Komponist, mäzenatischer Industrieller im Roman, Hesse, Othmar Schoeck, die Familie 1 2
Hermann Hesse, Sämtliche Werke. Hg. Volker Michels. Frankfurt am Main 2001–2007, Bd. 2, 352. Idem.
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Reinhart in der Realität. Über den Stellenwert dieses Zusammenhangs zwischen Dichtung und Wahrheit soll hier nicht spekuliert werden. Doch gibt die Konstellation der drei Namen hier die Möglichkeit, den Spuren zu folgen, auf denen sich Othmar Schoeck in einer Art künstlerischer Recherche nach und nach eine Poetik der Oper erarbeitet – und schliesslich mit Erwin und Elmire erstmals in die Tat umsetzt. Zumal der Dialog mit Hermann Hesse scheint dabei zur Schärfung von Schoecks Vorstellungen zum Musiktheater nachhaltig beigetragen zu haben.
Hans Reinhart: Der Garten des Paradieses Vermutlich Anfang 1908 erhielt Schoeck vom Winterthurer Mäzen und Schriftsteller Hans Reinhart (1880–1963) dessen Text Der Garten des Paradieses. Offensichtlich hatte sich herumgesprochen, dass Schoeck auf der Suche nach einem geeigneten Libretto war, mit dem er erste Schritte in Richtung des Musiktheaters unternehmen wollte. Reinhart hatte sich bereits längere Zeit, so 1899 für ein Puppenspiel, mit dem Stoff beschäftigt, der auf das gleichnamige Märchen Hans Christian Andersens zurückgeht. Der Untertitel „dramatische Rhapsodie“, den Reinhart seiner Adaption beigab, macht bereits äusserlich den Raum deutlich, den der Autor der musikalischen Gestaltung seiner für die Bühne vorgesehenen Handlung vorsah. In den Szenenanweisungen ist ein Orchestervorspiel angesprochen, mehrere Wandlungsmusiken sind zwischen den Akten vorgesehen, und dramaturgisch besonders wichtige Stellen sollen durch klangliche Einschübe, die detailliert beschrieben sind (inklusive Angaben zur Instrumentation), akzentuiert werden; für den ganzen letzten Akt schliesslich stellte sich Reinhart ein Melodram vor. Zudem sind zwischen die durchgehend im Blankvers geschriebenen Dialoge einzelne lyrische Formen eingerückt, so etwa ein aus drei vierzeiligen Strophen bestehendes Gebet in fünfhebigen, kreuzweise gereimten Jamben,3 ein „Gesang seliger Geister“ in stark alliterierenden gereimten Trochäen,4 schliesslich, ganz zum Ende, von einem „unsichtbaren Chor“ vorgetragen, ein Sonett.5 Reinhard formt in der auch formal offensichtlich äusserst ambitionierten „dramatischen Rhapsodie“ den Andersen-Stoff zu einem dem Symbolismus nahe stehenden Drama, das sich zudem unverhohlen an Goethes Faust-Stoff anlehnt. Erwin ist darin 3 4 5
Hans Reinhart, Der Garten des Paradieses. Dramatische Rhapsodie aus Andersen. Winterthur 1909, 37. Ibid., 46. Ibid., 54.
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der Protagonist – bei Andersen ist es ein namenloser Prinz –, dem wir zu Beginn im Saal eines alten Schlosses begegnen, Fausts Studierstube durchaus verwandt. Sein Traum vom Paradiesgarten lässt ihn – trotz aller Warnungen von Vater, Mutter und Major Domus Manuel – auf die Suche gehen; mit Hilfe des Ostwindes findet er schliesslich den Garten des Paradieses, den seit der Vertreibung von Adam und Eva kein Mensch mehr betreten hat. An der Hybris seines faustischen Erkenntnisstrebens lässt der Text keinen Zweifel: die Königin der Feen, die sich unter dem Baum der Erkenntnis lagert, verführt ihn zu einem Kuss, damit zu einem zweiten Sündenfall und erneuter Vertreibung aus dem Paradies. Angesichts des Stellenwerts der Musik, die Reinhart als gleichsam handlungsrelevante Protagonistin vorsah, erstaunt es wenig, dass der Autor seinen Text mehreren Komponisten antrug,6 darunter auch Othmar Schoeck. Dessen Antwortbrief auf die Zusendung von Reinharts Manuskript, der vom 30. März 1908 datiert, gibt Zeugnis vom damaligen Stand der Überlegungen zum musikdramatischen Genre des damals zweiundzwanzigjährigen Komponisten: Nun muss ich gestehen, dass mir Ihr Stück sehr grossen Eindruck gemacht hat, zumal das wundervolle Schluss-Sonett, dass aber ich nicht der Mann bin, hierzu Musik zu schreiben. Mir schwebt kein Drama sondern eine heitere, frische Spieloper vor, in der ich den Menschen freudige Gefühle im Herzen wachrufen möchte und dies mit ganz objektiver Musik im Sinne der genialen ältern Italiener. Die Musik braucht deshalb keineswegs leichtfertig zu sein. Sie mögen unter meinen Liedchen manche ernst stimmende Mohnblume gefunden haben. Dies waren eben Früchte von subjektiven Erlebnissen, die meines Erachtens nicht in die Kunst hineingezogen werden sollten. Ich kam damals nur nicht auf anderem Wege darüber weg. Also musste es ein Lied geben, welches in mir wohl ein Gefühl loslöste, mir aber nichts dafür gab, wenigstens nichts rein Beglückendes. Um dies zu erreichen, muss man viel mehr über der Sache stehen, und dies tue ich zum Beispiel im Fall: „Der Garten des Paradieses“ nicht. Und nur mit Hülfe des Talentes „musikalische“ Musik zu schreiben, wie das leider heutzutage sehr viel gemacht wird, dies ist mir wenigstens unmöglich.7
Die etwas schülerhaft wirkenden Aussagen zum Verhältnis von „objektiver Musik“ und „subjektivem Erlebnis“ sowie zum musikalischen Talent mögen unmittelbar vom Unterricht bei Max Reger geprägt sein, unter dessen Einfluss Schoeck zu dieser Zeit stand. Für den vorliegenden Zusam6
7
Ein Exemplar von Der Garten des Paradieses befindet sich auch in der nachgelassenen Bibliothek Arnold Schönbergs; ein Dialog über eine mögliche Vertonung fand zu Beginn der 1920er Jahre statt (vgl. Brief vom 18. September 1922 von Arnold Schönberg an Hans Reinhart (http://81.223.24.109/letters/search_show_letter.php?ID_Number=724 [abgefragt 26.8.2011]); in Felix Petyrek (1892–1951) fand Reinhart schliesslich den Komponisten, der die „dramatische Rhapsodie“ vertonte; sie erlebte 1942 in Leipzig ihre Uraufführung. Peter Sulzer, Zehn Komponisten um Werner Reinhart. Ein Ausschnitt aus dem Wirkungskreis des Musikkollegiums Winterthur 1920–1950. Winterthur 1979–1983, Bd. 2, 199.
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menhang können allerdings zwei Hinweise aus Schoecks Brief festgehalten werden, die sich bis zur Komposition von Erwin und Elmire konstant durchhalten. So mag zum einen der Hinweis auf das Schluss-Sonett – er hätte wohl auch dem lyrischen Gebet Erwins oder dem im Wagnerschen Ton gehaltenen „Gesang der Geister“ gelten können – ein erster Hinweis darauf sein, wie sehr Schoeck die Perspektive des Lyrischen auch auf das musikdramatische Genre zu übertragen suchte. Andererseits deutet der Begriff „Spieloper“ auf die Tradition der deutschen komischen Oper (zumal Lortzings und Nicolais) hin, mit den „ältern Italienern“ ist auf die Opera buffa angespielt; Schoecks eigene Opernpläne sollten also bewusst an Traditionen anschliessen, die vor das Musiktheater Richard Wagners zurückreichten und mit dem komischen Genre weniger vorbelastete Gattungen aufgreifen. Hans Reinhart übrigens interpretierte Schoecks Brief nicht als endgültige Absage. Noch im Frühling 1916 (vielleicht hatte Reinhart vom Abschluss der Komposition von Erwin und Elmire gehört) sendete er das inzwischen im Druck erschienene Stück Der Garten des Paradieses an die Familie Schoeck nach Brunnen – offensichtlich verbunden mit der Anfrage, ob es als Libretto in Frage komme. Erst ein knappes Jahr später nämlich, am 26. Januar 1917, schreibt Agathe Schoeck, die Mutter des Komponisten, zurück und bedankt sich für den Text: „Ich als Laie getraue mich nicht zu beurtheilen, was bezüglich Vertonung seinem (Othmar’s) Talent angemessen ist, od. nicht.“8 Zu diesem Zeitpunkt allerdings war Erwin und Elmire bereits uraufgeführt, der Stoff zu Schoecks zweitem grossen Bühnenwerk, Don Ranudo, gefunden.
Hermann Hesse: Schievelbein Einige Jahre nach Reinhart wendete sich ein anderer Schriftsteller mit einem bestehenden Libretto an Schoeck: Hermann Hesse. Mit Hesse war Schoeck bereits einige Zeit bekannt, möglicherweise bereits seit 1905 (Schoeck soll ihn an Hesses Wohnort in Gaienhofen besucht haben)9 oder seit 1906.10 Für diesen Zeitraum spricht einerseits, dass sich Hesse selbst erinnerte, Schoeck sei ihm als etwa Zwanzigjähriger durch den Zahnarzt 8 Ibid., 206. 9 Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, 653. 10 Chris Walton, Othmar Schoeck und seine Zeitgenossen. Essays über Alban Berg, Ferruccio Busoni, Hermann Hesse, James Joyce, Thomas Mann, Max Reger, Igor Strawinsky und andere. Winterthur 2002, 55.
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und Musikförderer Alfred Schlenker vorgestellt worden;11 andererseits entstanden zwischen Juli 1906 und Januar 1907 insgesamt sieben Lieder auf Texte Hesses. Mit Sicherheit sind sich Schoeck und Hesse Ende Januar 1909 begegnet (Hans Reinhart berichtet in einem Brief an Hermann Haller von einem Zusammentreffen),12 1910/11 schliesslich verstärkte sich der Kontakt und führte zu einer Zusammenarbeit, über dessen Intensität bisher wenig bekannt war. War Reinharts „dramatische Rhapsodie“ noch ohne Dialog mit Schoeck entstanden und lässt sich Schoecks Poetik nur durch den abgrenzenden, im Brief an Reinhart geäusserten Kommentar rekonstruieren, so scheinen Schoeck und Hesse nun gemeinsam an einem Projekt gearbeitet zu haben, das nichts geringeres als die Erneuerung der deutschen romantischen Oper anstrebte. „ Jetzt ist er [der Text] da, so gut wie fertig, und es ist ein Operntext, und Sie müssen ihn komponieren.“13 Mit den eingangs ausführlicher zitierten Worten aus Hesses Musikerroman Gertrud also hätte sich der Schriftsteller an Schoeck wenden können. Dort sind sie unterzeichnet mit „Hans H.“ – tragen also immerhin die Initialen Hesses –, und sie adressieren sich an einen Komponisten (den Protagonisten Kuhn), der bereits einige Lieder dieses Dichters vertont habe. Ob Hesse bei der Abfassung seines Romanes tatsächlich an sich und Schoeck gedacht hat – zumindest prospektiv: der Roman erschien 1910 –, mag dahingestellt bleiben; Tatsache ist, dass sich Hesse im Frühling 1911 in ähnlicher Angelegenheit an Schoeck wandte. Am 8. März schreibt Schoeck als Nachschrift eines Briefes seines Bruders Ralph an die Eltern: „Nächsten Samstag bin ich bei Hermann Hesse am Bodensee eingeladen; er will mir einen Operntext zeigen. Ich freue mich sehr darauf und darüber.“14 Dass der Text, von dem hier die Rede ist, eigens für Schoeck geschrieben wurde, beweist ein Brief Hesses an den Dirigenten und Komponisten Volkmar Andreae von Ende Februar 1911: Ich möchte mit Schoeck über einen Text sprechen, den ich neulich aus Spass an der Viecherei geschrieben habe, eine lustige Sache, von deren Möglichkeit und Komponierbarkeit ich aber gar nichts verstehe. Möglicherweise belästige ich auch Sie noch einmal damit.15
11 Werner Vogel, Othmar Schoeck. Leben und Schaffen im Spiegel von Selbstbezeugnissen und Zeitgenossenberichten. Zürich 1976, 67; die Aussage deckt sich – was den Zeitraum betrifft – mit Schoecks eigener Erinnerung (vgl. Werner Vogel, Othmar Schoeck im Gespräch. Tagebuchaufzeichnungen von Werner Vogel. Zürich 1965, 139). 12 Sulzer, Zehn Komponisten um Werner Reinhart (wie Anm. 7), Bd. 2, 200. 13 Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 352. 14 Othmar Schoeck, Post nach Brunnen. Briefe an die Familie 1908–1922. Mit einem Text von Meinrad Inglin. Hg. und kommentiert von Elisabeth Schoeck-Grüebler. Zürich 1991, 65. 15 Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, 653.
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Am Samstag, 11. März 1911, war Schoeck also bei Hesse in Gaienhofen zu Besuch, und er scheint gleich mehrere Tage geblieben zu sein. Aus dem Dankesbrief Schoecks vom 15. März16 geht hervor, dass über eine Reihe von Texten gesprochen wurde, ohne Zweifel im Hinblick auf ein mögliches Opernlibretto, darunter Hesses Novelle Pater Matthias sowie eine Reihe weiterer Texte aus Hesses Feder, möglicherweise auch Eichendorffs Schloss Dürande,17 dessen Stoff Schoeck zweieinhalb Jahrzehnte später vertonen sollte. Weiter heisst es dort: Verzeihen Sie mir, wenn der prächtige Schievelbein, der mir als Stück kolossal gefiel, mein musikalisches Schwungrad nicht in Bewegung setzte, umsomehr dreht es sich jetzt schon um den bewussten anderen Stoff. Ich habe gestern alle die Kerle auf den Tasten tanzen lassen; es ging oft recht toll zu, und ich glaube, dass Sie dereinst mit mir zufrieden sein werden.
Anders als durchgängig in der Schoeck-Literatur angegeben,18 handelt es sich bei dem erwähnten „Schievelbein“ allerdings nicht um Hesses Novelle Anton Schievelbeyn’s ohnfreywillige Reisse nacher Ost-Indien, sondern um dessen Libretto Der verbannte Ehemann oder Frau Schievelbeins Männer oder die Familie Schievelbein, das auf der erwähnten Novelle basiert – es dürfte sich dabei also um jenen „Operntext“ handeln, den Hesse Schoeck in Gaienhofen vorstellen wollte. Dass es sich dabei um eine „komische Oper“ handeln sollte, mag darauf hindeuten, dass grundsätzliche Überlegungen im Dialog zwischen Hesse und Schoeck bereits angesprochen worden waren – bekanntlich suchte Schoeck nach einer „heiteren, frischen Spieloper“, jedenfalls nach einem Stoff im komischen Genre. Wie stark sich die Interessen von Hesse und Schoeck deckten, mag auch ein Blick in Hesses Gertrud-Roman, der im Jahr zuvor erschienen war, demonstrieren: Bei der Instrumentierung der Oper greift Kuhn immer wieder zu Partituren von Mozart und Lortzing, um musikalisch sinnvolle Lösungen zu finden, und im Haus der Teisers, einer befreundeten Musikerfamilie, wird immer wieder gemeinsam Mozart gespielt, darunter auch Arien aus dem „dramma giocoso“ Don Giovanni.19 Lortzing und Mozart, dies scheinen auch die wichtigen Referenzpunkte für Schoeck gewesen zu sein, wie sich im Brief 16 Vogel, Othmar Schoeck (wie Anm. 11), 68. 17 Hesse habe ihm, Schoeck, den Stoff in Gaienhofen empfohlen [vgl. Walton, Othmar Schoeck und seine Zeitgenossen (wie Anm. 10), 58]; vgl. auch Vogel, Othmar Schoeck (wie Anm. 11), 148. 18 Vgl. unter anderem Vogel, Othmar Schoeck (wie Anm. 11), 68; Walton, Othmar Schoeck und seine Zeitgenossen (wie Anm. 10), 57; Chris Walton, Othmar Schoeck. Eine Biographie. Ins Deutsche übertragen Ken W. Bartlett. Zürich 1994, 64; Chris Walton, Othmar Schoeck. Life and Works. Rochester (NY) 2009, 41. 19 Vgl. beispielsweise Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 2, 356 und 358.
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an Reinhart erahnen lässt. Und auch die Gattungsbereiche, die das Schievelbein-Libretto anklingen lässt, sprechen eine deutliche Sprache: Personenkonstellation (zwei Frauen- und zwei Männerfiguren in überkreuzten Verhältnissen), die Schnürung des dramatischen Knotens und dessen Auflösung in einem einigermassen überraschenden „lieto fine“ darf als handfester Bezug zur Tradition der Opera buffa gelten. Anton Schievelbein, ein ehemaliger Seemann, der auf Kosten seiner zu Wohlstand gekommenen Ehegattin Anna lebt, wird von dieser in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf ein Schiff nach Batavia verfrachtet. Statt nach seiner Heimat Kapstadt zurückzukehren, heiratet er dort allerdings die Muslimin Zemi, von der er sich verwöhnen lässt. Anna, die Anton tot glaubt, heiratet ihrerseits zum zweiten Mal (Ehrler). Nach Jahren allerdings wird Anton seines neuen Lebens überdrüssig, er kehrt nach Kapstadt zurück, Zemi und Ehrler werden finanziell entschädigt, Anna und Anton vereinigen sich wieder in ehelicher Harmonie: „Keiner ist ja ohne Schuld, / Also üben wir Geduld, / Und im Hause Schievelbein / Soll für immer Friede sein.“20
Hermann Hesse und Othmar Schoeck: Bianca Weshalb das Libretto Schoecks „musikalisches Schwungrad“ nicht in Bewegung zu setzen vermochte, lässt sich nicht präzise fassen. Auch formal war es durchaus auf der Höhe seiner Zeit, angelegt für ein durchkomponiertes Musikdrama, die rezitativartigen Passagen in rhythmisierter Prosa gehalten, dramaturgische Höhepunkte in gereimten Ariosi, Duetten, Trios oder auch Ständchen und Liedern akzentuiert. Ein Grund für Schoecks Ablehnung mag gewiss gewesen sein, dass er durch den „bewussten anderen Stoff“, von dem im Brief Schoecks an Hesse die Rede ist, stärker angeregt wurde. Unzweifelhaft handelt es sich dabei um das Libretto zur Oper in drei Aufzügen Bianca, das – wie eine Betrachtung von Hesses autographer Niederschrift zeigt21 – im unmittelbarem Anschluss an Schoecks Besuch vom 11. März 1911 in Gaienhofen entstand. Hesses Angewohnheit, für seine Niederschrift einseitig beschriebene oder bedruckte Makulaturen zu verwenden, erlaubt in diesem Fall einen präzisen Terminus a quo: Beim Entwurf des Handlungsverlaufes trägt ein Blatt rückseitig eine vom 13. März 1911 handschriftlich datierte Eintragung (Blatt 2), bei der offen20 Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, 453. 21 Die autographe Handschrift des Opernlibrettos ist im Besitz der Carl Seelig-Stiftung Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Ms. Z II 580/66).
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sichtlich ersten Niederschrift des eigentlichen Librettos trägt eine weitere Seite (Blatt 32) den Poststempel vom 15. März 1911. Dass sich Schoeck bereits unmittelbar nach der Rückkehr aus Gaienhofen – und gewiss vor dem Abschluss der Niederschrift des Librettos – musikalisch mit dem Stoff beziehungsweise dessen Figuren auseinandersetzen konnte – „ich habe gestern alle die Kerle auf den Tasten tanzen lassen“ –, erklärt sich auch daraus, dass Hesse auch hier auf eine frühere Erzählung zurückgreifen konnte, Die Belagerung von Kremna. Der Kontakt zwischen Hesse und Schoeck nach dem Besuch in Gaienhofen scheint nun sehr eng und intensiv gewesen zu sein: Am 15. März komponiert Schoeck das Hesse-Gedicht Frühling (Op. 24b Nr. 6), das erste nach einer Pause von vier Jahren, am 19. März besucht Hesse die Uraufführung von Schoecks Postillon,22 am 21. März schreiben Hesse und Schoeck an den Dirigenten und Komponisten Fritz Brun mit der Anfrage, ob er sie nicht auf eine Reise nach Italien begleiten wolle, die Mitte April auch tatsächlich stattfand.23 Da der Brief an Brun gleichsam in Form einer kleinen Opernszene verfasst ist (nach vierzeiliger Einleitung folgt eine als „Adagio con Sentimento“ überschriebene, gereimte Paraphrase des Mignon-Liedes aus Goethes Wilhelm Meister), mag sich die Frage stellen, ob das Libretto gar in gemeinsamer dialogischer Arbeit entstand – es ist jedenfalls kaum wahrscheinlich, dass sich Hesse und Schoeck bei ihren zahlreichen Begegnungen nicht über das im Entstehen begriffene, gemeinsame Opernprojekt ausgetauscht hätten. Als Terminus ad quem kann andererseits ein Brief Schoecks an seinen Bruder Paul vom 4. April 1911 gelten, der auch bereits anklingen lässt, dass das „musikalische Schwungrad“ sich auch hier nicht am Laufen hielt: Hermann Hesse hat mir einen Operntext gemacht, der sehr schön ist, ich glaube aber nicht, dass ich ihn komponieren kann, weil er mir zu wenig lyrisch ist. Er handelt im 1400 Jahrhundert [sic] in Italien und ist sehr ernst. Ein Kerl, der sich zum Tyrann aufwirft und wegen einem eifersüchtigen Weib kurz vor dem Erreichen seiner Wünsche zugrunde geht.24
Im Rückblick – aus der Perspektive des Jahres 1936 – hat Hesse die Tatsache, dass es nicht zur Komposition des Librettos kam, milde betrachtet: Ich habe für Schoeck in seinen ersten Jahren unserer Freundschaft, aus dem Bedürfnis des Beschenkten nach Betätigung seiner Dankbarkeit, sogar den Text zu einer romantischen Oper geschrieben, und bedaure weder, dass ich das getan habe noch dass er den Text nicht brauchen konnte.25 22 23 24 25
Vogel, Othmar Schoeck (wie Anm. 11), 72. Ibid., 76. Othmar Schoeck, Post nach Brunnen (wie Anm. 14), 69. Willi Schuh, Othmar Schoeck. Festgabe der Freunde zum 50. Geburtstag. Erlenbach-Zürich 1936, 74.
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Hesses und Schoecks Poetik der Oper Auch wenn also die Arbeit am gemeinsamen Opernprojekt nicht zu einem Abschluss kam, so dürfte die Entstehung des Librettos doch einiges über den damaligen Stand der Überlegungen zum musikdramatischen Genre aussagen – ohne dass sich allerdings die Poetiken Hesses und Schoecks säuberlich voneinander trennen liessen. Bereits die Bezeichnung als „romantische Oper“ mag deutlich machen, dass eine bewusste musikhistorische Verortung beabsichtigt war, die Umarbeitung von Hesses Erzählung Die Belagerung von Kremna zum Libretto Bianca demonstriert zudem, wie zielgerichtet ein eigenständiger Anschluss an die Operntradition gesucht wurde. Die Handlung der Oper ist von der Antike ins ausgehende Mittelalter verlegt und spielt in einem mittelitalienischen Bergort. Der Raubritter Ruggiero versetzt die ihm untergebenen Bewohner durch seine Willkürherrschaft in Angst und Schrecken und wird vom bürgerlichen Rat verbannt und für vogelfrei erklärt. Pantaleone, Ruggieros Freund, bringt seine Braut Donna Bianca in letzter Minute auf das Schloss, wo er sie in Sicherheit wähnt. Doch Ruggiero verliebt sich in Bianca – die Liebe wird erwidert – und verstösst seine bürgerliche Geliebte Margherita. Nachdem Ruggiero in einem Rachefeldzug die Stadt unterworfen hat, braut sich das Schicksal zusammen: Die verschmähte Margherita händigt ihrem Bruder Federigo, Anführer der Republikaner, den Schlüssel zum Schloss aus, gemeinsam mit dem von Ruggiero abgefallenen Pantaleone überfällt er Ruggiero und tötet ihn. Das Schloss wird angezündet; Bianca bleibt in „einem schönen verklärten Liebeswahnsinn“ bei Ruggieros Leiche und stirbt in imaginierter Hochzeitsnacht in den Flammen. Bereits mit der Verlegung der Handlung in das italienische Spätmittelalter (die ursprüngliche Erzählung handelte im spätantiken Kleinasien) spielt Hesse an die romantische Operntradition an. Gewichtiger allerdings wirkt die veränderte Stellung der beiden Frauenfiguren. Neu eingeführt hat Hesse die Figur der verstossenen Geliebten Margherita; einerseits ist damit einer Forderung der Operngattung nach einer zweiten Frauenfigur genüge getan, andererseits ermöglicht er Hesse einen intertextuellen Verweis auf die Opern Mozarts: Die Verwandtschaft Margheritas mit Donna Elvira aus Mozarts Don Giovanni scheint offensichtlich26 und reicht – etwa in den verhöhnenden Worten Ruggieros – bis in die Einzelheiten der Diktion. Die Neukonzeption der Figur Biancas nutzt Hesse nun in aller Deutlichkeit für einen zweiten intertextuellen Verweis: War in der ursprünglichen Erzählung 26 Vgl. auch Peter Huber, Hermann Hesse und das Theater. Würzburg 1991, 126.
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die Frauenfigur nur Spielball zwischen den beiden Kontrahenten Ruggiero und Pantaleone (die dort Lydius und Hephaistios heissen), so werden ihre Konturen nun soweit ausgebaut, dass Bianca zur zentralen Figur des Dramas wird. Als Modell hinter der Figur Biancas, die Pantaleone seinem Freund Ruggiero in Obhut gibt und zum doppelten Betrug führt – „so ist mir [Pantaleone] Braut und Freund geraubt“27 – ist unschwer in der Figur Isoldes aus Wagners Tristan und Isolde zu erkennen. Das Beziehungsdreieck Pantaleone – Bianca – Ruggiero entspricht demjenigen von Marke – Isolde – Tristan, dramaturgisch wird zudem in manchen Details auf Wagners Handlung angespielt: Das Liebesduett im zweiten Aufzug etwa,28 die Überführung des Liebespaars durch Marke bzw. Pantaleone,29 schliesslich Biancas Liebestod über der Leiche ihres Geliebten, die bis hin zu textuellen Verweisen reichen („Nun hab ich den Becher aller Lust / Geleert bis auf den Grund“).30 Die handfeste Kontrafaktur mag erstaunen angesichts der Skepsis, der sowohl Hesse wie Schoeck im Hinblick auf ihre eigene Poetik dem Musikdrama Wagners entgegenbrachten.31 Dass es sich indes nicht um eine Zufälligkeit handelt, mag ein Blick auf ein weiteres Libretto Hesses beweisen, Die Flüchtlinge, das für den Konstanzer Zahnarzt und Komponisten Alfred Schlenker (bereits vor Der verbannte Ehemann und Bianca) entstanden war. Den letzten, vierten Aufzug nämlich hat Hesse überarbeitet – es ist anzunehmen, dass dies in unmittelbarem zeitlichen Umfeld der Entstehung Biancas erfolgte – und dabei geradezu eine Parodie des ersten Aktes von Wagners „grosser romantischer Oper“ Tannhäuser verfertigt.32 Sowohl der Bezug zu Mozart wie auch derjenige zu Wagner darf als poetologische Aussage verstanden werden; es ist sogleich darauf zurückzukommen. Formal allerdings orientiert sich das Libretto eher am Genre der romantischen Oper. Die Dialoge sind dabei in flexibel gereimten Knittelversen gehalten – eine durchaus nicht zeitfremde Versform, man denke an Hofmannsthals Jedermann oder Frank Wedekinds Prolog zum Erdgeist –, an den jeweiligen Höhe- oder dramatischen Wendepunkten kommt es zu 27 28 29 30 31 32
Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, 494. Ibid., 486. Ibid., 492 ff. Ibid., 496. Vgl. Huber, Hermann Hesse und das Theater (wie Anm. 26), 60–63. Man vergleiche etwa die Szenenbeschreibungen und -anweisungen bei Bianca und bei Tannhäuser (die Beschreibung des „hölenartigen Zufluchtsortes“ bei Hesse [S. 512] ist sehr ähnlich zu derjenigen des Venusberges [I, i]; ein junger, schalmeienblasender Hirt hat in beiden Werken seinen Auftritt [S. 512 bzw. I, iii], ebenso Hornrufe bei der Entdeckung des jeweiligen Liebespaares [S. 513 bzw. I, iv]) oder auch einzelne handlungsrelevante Textzeilen (Giulietta bittet ihre Entdecker: „Lasst, liebe Leut, bitt euch schön, / Uns beide ziehen“ [S. 513], Tannhäuer die seinen: „Seid mir versöhnt, und lasst mich weiterziehen!“ [I, iv]).
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lyrischen Formen. So verkündet der Ratsherr sein bürgerliches Urteil über Ruggiero in Blankversen,33 bemüht also die autoritative Versform des klassischen Dramas; die Knittelverse haben bisweilen volkstümlichen Gestus (so etwa in Federigos Begrüssung seiner Schwester Margherita),34 schlagen einen eigentlichen Balladenton an (etwa in Ruggieros Monolog zu Beginn des zweiten Aufzugs)35 oder reichen bis hin zu bewusst altertümlichen Wendungen (Chor des Volkes);36 die beiden Liebesduette zwischen Bianca und Ruggiero schliesslich sind formal als Volksliedstrophen gestaltet.37 Der Verzicht auf ambitionierte Arienformen oder auf eine klanglich beladene Diktion im Sinne Wagners also verweist dabei durchaus auf die romantische lyrische Oper – Hugo Wolfs Corregidor beispielsweise war Hesses und Schoecks „damaliger Liebling“38. Die gleichsam zielgerichtete Aneignung und Anverwandlung der Operntradition, wie sie sich im Libretto zur „romantischen Oper“ Bianca zeigt, dürfte nicht nur Hesses alleiniges Verdienst gewesen, sondern in der Begegnung und im Dialog mit Schoeck entstanden sein. Was in Bianca als „ein Kind der innigen Künstlerfreundschaft“ angestrebt wurde, war ein eigentlicher Entwurf einer erneuerten romantischen Oper – und damit ein Gegenentwurf zum Musikdrama Wagners und dessen Nachfolge zumal bei Richard Strauss, ebenso aber auch zur veristischen Oper, die damals die europäischen Bühnen beherrschte.39 Dieser Gegenentwurf lässt sich nach der Betrachtung des Librettos nun auch genauer beschreiben: Durchaus im Bewusstsein des wagnerschen Musiktheaters (Tristan und Isolde) wird eine Erneuerung der romantischen Oper (man denke zumal an die ausgesprochen lyrische, bisweilen liedhafte Gestaltung des Librettos) erstrebt, dies unter Rückbesinnung auf Mozart (es ist vielleicht auch erlaubt, die „genialen ältern Italiener“40 mitzudenken). Hermann Hesse selbst formulierte es im Vorwort zur Oper Bianca mit folgenden Worten: Diese Dichtung ist ein Versuch, die romantische Oper zu erneuern. Verse und Gesang gehen durch, ohne unterbrechende Prosa, die Höhepunkte sind durchaus liedhaft lyrisch, die Dramatik ruht in der Handlung selbst und im Ton des Dialogs, der teils an die Ballade, 33 Hesse, Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 9, 478. 34 „Ich hatt’ ein Schwesterlein, / Das hab ich nicht mehr, / Die Mutter ist tot, / Mein Haus steht leer.“ Ibid., 475. 35 „Ich liebe mein gutes Schwert. / O Lust, es freudig zu schwingen / Blank in der Sonne Glut / Und meinen Schlachtruf zu singen / Mitten in Staub und Blut!“ Ibid., 482. 36 „Sankt Jörg am Tor, / Du sollst uns führen, / Du sollst uns regieren, / Kein’ andern Herrn brauchen wir, / Da sei Gott vor.“ Ibid., 482. 37 Ibid., 486 und 492. 38 Vgl. Schuh, Othmar Schoeck (wie Anm. 25), 74. 39 Vgl. dazu auch hellsichtig Huber, Hermann Hesse und das Theater (wie Anm. 26), 130–131. 40 Vgl. den oben zitierten Brief Schoecks an Hans Reinhart.
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teils ans Volkslied anklingt. Dass diese Form ungewöhnlich hohe Anforderungen an den Komponisten stellt, sehe ich wohl ein, doch schien mir das kein Grund, den Versuch zu unterlassen.41
Die Vorlage von Bianca war Schoeck dann allerdings „zu wenig lyrisch“42 – ein Vorwurf, der weniger über Hesses Libretto als über Schoecks Erwartungshaltung aussagt: Schoeck mochte unter „lyrisch“ in erster Linie „liedhaft“ verstanden haben. In Goethes „Schauspiel mit Gesang“ Erwin und Elmire, das ihm von seinem Vetter Léon Oswald empfohlen wurde,43 fand er offensichtlich jene Vorgabe, nach der er bereits längere Zeit gesucht hatte – und die gewiss nicht jene „ungewöhnlich hohe Anforderungen an den Komponisten“ stellte, wie Hesses Bianca. Schoeck konnte sich vielmehr auf seine Erfahrungen als Liedkomponist abstützen, einen nicht unwesentlichen Anteil der dramaturgischen Arbeit wurde von den gesprochenen Dialogen Goethes übernommen. Gleichwohl dürfte Erwin und Elmire nicht ein spontaner Zufallsfund gewesen sein – es dürfte deutlich geworden sein, wie intensiv sich Schoeck zumal im Jahr 1911 einen eigenen Standpunkt im Hinblick auf eine Poetik des musikalischen Dramas suchte.44 Doch auch über Erwin und Elmire hinaus: Fasst man die Themenfelder zusammen, die im Frühling des Jahres 1911 zwischen Schoeck und Hesse zur Sprache kamen, so mag es einigermassen erstaunen, wie sehr sie mehrere von Schoecks folgenden Opernprojekten bereits in der einen oder anderen Weise anklingen lassen. Die „komische Oper“ Der verbannte Ehemann weist bezüglich des Gattungsbegriffes auf Don Ranudo; die Auseinandersetzung mit Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild 45 und die Paraphrase von Wagners Tannhäuser in Die Flüchtlinge begegnet im Umfeld von Venus wieder; vom Stoff zu Schloss Dürande schliesslich war damals auch bereits die Rede. Und in Bezug auf die nun folgende erste von Schoeck realisierte musikdramatische Arbeit, Erwin und Elmire, sind der lyrische Charakter, der Bezug zu Mozart – bzw. der Anschluss an vorwagnerschen Traditionen – sowie der letztlich heitere Charakter der Handlung (man erinnere sich an die Rede von der „heiteren, frischen Spieloper“, nach der der Komponist suchte) Motive, die sich leicht an Schoecks und Hesses offensichtlich gemeinsam entwickelte Poetik der Oper zurückbinden lassen. 41 42 43 44
Zitiert nach Huber, Hermann Hesse und das Theater (wie Anm. 26), 129. Schoeck, Post nach Brunnen (wie Anm. 14), 69. Walton, Othmar Schoeck. Eine Biographie (wie Anm. 18), 73. Zur weiteren Entwicklung von Schoecks Selbstverständnis als Opernkomponist während der mehrjährigen Entstehungszeit von Erwin und Elmire vgl. das Vorwort der Werkausgabe (Othmar Schoeck, Erwin und Elmire. Vorgelegt Patrick Müller und Beat Föllmi. In: Othmar Schoeck, Sämtliche Werke. Zürich 2008, Bd. 10). 45 Vgl. Vogel, Othmar Schoeck (wie Anm. 11), 92.
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Abb. Hermann Hesse, autographe Handschrift des Szenarios zur Oper in drei Akten Bianca, Blatt 1 (Archiv Carl Seelig-Stiftung Zürich, Handschriftenabteilung Zentralbibliothek Zürich).
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Abb. Hermann Hesse, autographe Handschrift des Szenarios zur Oper in drei Akten Bianca, Blatt 2 (Archiv Carl Seelig-Stiftung Zürich, Handschriftenabteilung Zentralbibliothek Zürich).
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Schostakowitschs Hindemith: die verbotene Wahrheit Liudmila Kownazkaja
Dieser Beitrag ist meiner hochgeschätzten Kollegin und lieben Freundin Dorothea Baumann gewidmet. An der Arbeit waren zwei meiner Kolleginnen beteiligt, die einst meine Studentinnen waren und die zu Beginn ihrer Tätigkeit von Dorothea Baumann im Rahmen der International Musicological Society (IMS) unterstützt wurden. Es handelt sich um Dr. Christina Strekalowskaja (Sankt Petersburg), die meinen Beitrag ins Deutsche übersetzt hat, und Frau Dr. Olga Digonskaja (Moskau), wissenschaftliche Mitarbeiterin des Schostakowitsch-Archivs, Expertin für Schostakowitsch-Handschriften und Leiterin der Shostakovich Study Group. Auch möchte ich an dieser Stelle Karin Werkhozina und Dr. Antonio Baldassarre danken, die mir neben Dr. Strekalowskaja bei der deutschen Übersetzung behilflich waren.
Mit seiner schnellen, durch Krankheiten und Arthritis noch nicht veränderten Handschrift schrieb Schostakowitsch auf zwei einzelne Notenblätter 38 Takte für Klavier zu vier Händen. Dieses Fragment bricht am Ende der dritten Seite ab und weist weder Titel noch Datum auf. Die Skizze ist mit „Sehr lebhaft“ bezeichnet und trägt die Metronomangabe: q = 120. Diese Skizze, die mir Olga Digonskaja im Staatlichen Zentralen Museum für Musikkultur zugänglich gemacht hat, konnte von mir identifiziert und analysiert werden: Es handelt sich um die vierhändige Klavierübertragung der Exposition (ohne die letzte harmonische Wendung) des ersten Teils der Sinfonie in Es von Paul Hindemith.1 Der abgerissene Rand weist darauf hin, dass es sich um zwei linke Seiten eines traditionell gepaarten vierseitigen Notenheftes handelt. Die Höhe der Blätter beträgt 38 cm, die Breite 25 cm. Die Rückseite des ersten Blattes ist beschrieben, jene des zweiten Blattes ist leer. Die Handschrift umfasst folglich 3 beschriebene Notenseiten. Die erste Seite ist vergilbt und sieht viel älter als die zweite aus. Vermutlich lässt sich dieser Umstand auf eine nicht sachgemäße, offene Konservierung zurückführen. Dasselbe Blatt ist beschädigt: es ist links senkrecht geknickt. Ganz offensichtlich hatte jemand versucht, das Blatt in eine etwas kleinere Mappe zu legen. Die rechte untere Ecke ist eingebogen, ähnlich wie es bei Notenblättern nach mehrmaligem Umblättern während des Musizierens vorkommt. Das zweite Blatt ist in tadellosem, unberührtem Zustand.
1
Staatliches Zentrales Museum für Musikkultur, Fond 32, Bestandseinheit 2277.
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Schriftart und Tinte weisen darauf hin, dass das gesamte Fragment in einem Zug geschrieben wurde. Dabei sind keine Spuren von Eile auszumachen: die Akkorde und die Schlüssel sind sorgfältig ausgeschrieben. Den Eindruck eines „zweiten Durchgangs“ vermitteln drei Takte auf der ersten Seite (T. 11–13), in welchen Schostakowitsch statt des üblichen leicht skizzenhaft den Orgelpunkt Zeichens der Oktav-Erhöhungg auf „E“ der dritten Oktave aufgeschrieben hatte (in der Partitur bei der Flötenstimme). Die Übertragung bereitete Schostakowitsch keine besondere Schwierigkeit, und es kann angenommen werden, dass er sie gleich ins Reine geschrieben hatte (eine Taktgliederung ist nicht vorhanden).2 Für eine direkte Reinschrift sprechen auch kleinere Korrekturen im Text. Der Notentext der Skizze ist mit grüner Tinte geschrieben, welche Schostakowitsch oft nach der Evakuierung in Kujbyschew verwendet hatte.3 Das lässt eine Datierung der Skizze in die Jahre von 1944 bis 1945 wahrscheinlich erscheinen. Bekanntlich hatte Schostakowitsch durch Übertragungen anderer Autoren diejenigen Werke popularisiert, welche auf ihn einen großen Eindruck gemacht hatten und welche er für seine Studenten (sowie für Musiker und gebildete Musikliebhaber, die mit dem vierhändigen Spiel vertraut waren) besonders nützlich hielt. Nach Erinnerungen der Schüler aus der Zeit „der ersten Einberufung”4 wurden im Jahre 1943 in Schostakowitschs Klasse 2
3
4
Zur Taktgliederung mit Bleistift siehe Olga Georgievna Digonskaja, Nezawershjonnye opery Schostakowitch: po neizwestnym awtografam [Unvollendete Opern Schostakowitschs: nach unbekannten Autographen]. Dissertation Kunstwissenschaftliche Abteilung, Konservatorium Sankt Petersburg, 2008, 124–125 (Anm. 199). Ich danke Olga Digonskaja für diese Angaben. 1944 schrieb Schostakowitsch mit grüner Tinte einige Skizzen zum Zweiten Quartett op. 68 (Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Fond 2048, Verzeichnis 1, Bestandseinheit 29), teilweise die Skizzen und die Partitur des Zweiten Trios op. 67 (ebendort, Verzeichnis 2, Bestandseinheit 18; in der Handschrift Sechs Kinderstücke für Anfänger op. 70). 1945 folgen ebenfalls in grüner Tinte Skizzen zur Neunten Symphonie op. 70 (ebendort, Verzeichnis 1, Bestandseinheit 13 – 1. Teil; Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst, Fond 1334, Verzeichnis 1, Bestandseinheit 1054 – 2., 3., 4. Teile), einige Varianten der Hymne der RSFSR (der Russischen Sowjet-Republik) (ebendort, Bestandseinheit 39), eine Skizze und ein Fragment der Reinschrift der unvollendeten Sonate für Violine und Klavier (ebendort, Bestandseinheit 30), die Skizze und die Reinhandschrift des Stückes Der Geburtstag (ebendort, Bestandseinheit 19) und schließlich das kleine Klavierstück Mursilka, welches von Digonskaja entdeckt wurde (siehe Olga Digonskaja, Istorija odnogo zabluzhdenija: o Wtoroj sonate dlia fortepiano [Die Geschichte eines Irrtums: über die Zweite Klaviersonate], in: Dmitrij Shostakovich: Issledowaniia i materialy [Dmitri Schostakowitsch: Studien und Materialien]. Hg. Olga Digonskaja und Liudmila Kownazkaja. Moskau 2007, Bd. 2, 151–156). Evgenij P. Makarow, Dniewnik. Wospominanija o mojom utschitele D. D. Schostakowitsche [Tagebuch. Erinnerungen an meinen Lehrer D. D. Schostakowitsch]. Moskau 1998, 6 und 8.
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viele symphonische Werke vierhändig gespielt, darunter die fünfte Symphonie von Gustav Mahler und die Psalmensymphonie von Igor Strawinskij (in der Übertragung von Schostakowitsch, welche vermutlich um 1940–1941 entstand). Auch von Arthur Honeggers Dritter (Liturgischer) Symphonie fertigte Schostakowitsch eine Übertragung für Klavier zu vier Händen an, nachdem er sie 1947 in einem Konzert des Festivals Prager Frühling gehört hatte. Als der 30jährige Schostakowitsch im Jahre 1937 seine pädagogische Tätigkeit aufnahm, erinnerte er sich gewiss an seine eigenen Studienjahre. In diesem Zusammenhang hatte er sich wiederholt über das Fehlen der zeitgenössischen Musik in den Lehrplänen geäußert. „Sie wurde ohne weiteres Nachdenken“, wie er 1935 meinte, als Markt-Scharlatanerie interpretiert, welche nur auf „Fingergeschicklichkeit“ aufgebaut ist. Zu diesen „Scharlatanen“ gehörten vor allen anderen natürlich Strawinskij, Schönberg, Hindemith.5
Diese Äußerung gehört in eine Zeit, in welcher man in der Sowjetunion wieder verstärkt eine staatlich verordnete Kulturpolitik verfolgte – und in diesem Zusammenhang die Liste der so genannten „Scharlatane“ erweiterte –, nachdem sich das „Fenster nach Europa“ in den 1920er Jahren etwas geöffnet hatte und die „Neue-Musik“-Vereine von der Jugend gleichsam überschwemmt wurden. Der Einfluss, den Hindemith auf den jungen Schostakowitsch hatte, konnte nicht mehr getilgt werden, weshalb viele Forschende, die über Schostakowitschs frühe Schaffensperiode arbeiten, mit Recht diesen hervorheben und würdigen.6 Schostakowitsch selbst hatte in Interviews immer wieder explizit auf diesen Einfluss hingewiesen. 5 6
Dmitrij Schostakowitsch, O wremeni i o sebe: 1926–1975 [Über die Zeit und über mich: 1926– 1975]. Zusammengestellt Michail Jakowlew, hg. Galina Pribegina. Moskau 1980, 55. Von den zahlreichen Arbeiten, die den hier zur Diskussion stehenden Gegenstand behandeln, seien wenigstens die folgenden erwähnt: Wsewolod W. Zaderatzkij beurteilte die Verarbeitung alter Gattungen und Formprinzipien im Schaffen Hindemiths und Schostakowitschs als ein unabdingbares Merkmal ihres kompositorischen Denkens (Wsewolod W. Zaderatzkij, Polifonija kak prinzip razwitija w sonatnoj forme Schostakowitscha i Hindemitha [Polyphonie als Entwicklungsprinzip in der Sonatenform bei Schostakowitsch und Hindemith], in: Woprosy musykalnoj formy [Fragen zur musikalischen Form]. Moskau 1967, Bd. 1, 231–277). Stefan Weiss untersuchte die Geschichte der persönlichen und vielseitigen schöpferischen Beziehungen der beiden Komponisten in deren psychologischen und soziokulturellen Kontexten [Stefan Weiss, „Wind aus dem Westen“: Zur Hindemith-Rezeption des jungen Schostakowitsch, in: Zwischen Bekenntnis und Verweigerung. Schostakowitsch und die Sinfonie im 20. Jahrhundert. Hg. Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken. Kassel 2005, 81–97, und Stefan Weiss, Schostakowitsch … Hindemith: Sechs Relationen, in: Hindemith-Jahrbuch /Annales Hindemith XXXVI (2007), 9–46].
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Zweifellos hatte Schostakowitsch zahlreiche Möglichkeiten, sich ab Anfang der 1920er Jahren mit der Musik Hindemiths auseinander zu setzen, da sie zum Repertoire der Protagonisten der zeitgenössischen Musik gehörte, vor allem der Pianisten Alexander Kamenskij und Michail Druskin. Zudem wurden am Leningrader Zubow-Institut Konzerte für moderne Musik gegeben, die oft mit der Unterstützung der Philharmonie durchgeführt wurden. Die Programmhefte zeigen, dass in diesen Konzerten von Hindemith die Suite 1922 op. 26 (1921), die Cellostücke op. 8 (1917), die Kleine Kammermusik für Bläser und das Quintett op. 24 Nr. 2 (1922) gespielt wurden. Interessant und aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang die Äußerung von Boris Wladimirowitsch Assafjew, dass man beim „Hören der Musik von Hindemith ein sehr starkes Gefühl der Munterkeit, Frische und Neuheit” bekomme.7 Doch auch in Moskau, wohin Schostakowitsch 1924 umzuziehen beabsichtigte, um am dortigen Konservatorium zu studieren, war die Musik Hindemiths präsent. Zahlreiche Moskauer Freunde Schostakowitschs setzten sich für Hindemith ein, darunter Mikhail Quadri, Lev Oborin (zu dessen Repertoire auch Hindemiths Suite 1922 gehörte), Wissarion Schebalin, Mikhail Starokadomskij, Mikhail Tscherjomuchin und Jurij Nikolskij. Einer der bedeutsamsten Verehrer der Musik Hindemiths und ein großer Förderer Schostakowitschs war der Moskauer Alexander Mossolow.8 Er publizierte einen sehr einflussreichen Aufsatz über Hindemith9 und spielte dessen Werke in seinen Konzerten.10 Seine eigene Klaviermusik (besonders das Klavierkonzert Nr. 1 op. 14 von 1927)11 und sein Opernschaffen (etwa die Kammeroper Ãåðîé [Der Held] von 1928)12 zeigen Einflüsse von Hindemith.
7 Igor Glebow (Pseudonym von Boris W. Assafjew), Elementy stilja Hindemita [Elemente des Stils von Hindemith], in: Nowaja musyka [Neue Musik] 2 (1927), 10. 8 Zum Vergleich Schostakowitsch – Mossolow siehe Levon O. Akopian, Dmitrij Schostakowitsch: opyt fenomenologii twortschestwa [Dmitrij Schostakowitsch: ein Versuch der Phänomenologie des Schaffens]. Sankt Petersburg 2004, 49–54, 73–74. 9 Alexander Mossolow, Nowyje kamernyje konzerty P. Hindemitha [Neue Kammerkonzerte von P. Hindemith], in: Sowremennaja musyka [Zeitgenössische Musik] 3/11 (1925), 18–20. Es handelt sich um die Kammermusik Nr. 2, op. 36 Nr. 1 (Klavierkonzert) und die Kammermusik Nr. 3, op. 36 Nr. 2 (Cellokonzert). 10 Alexander Mossolow, Statji i wospominanija [Aufsätze und Erinnerungen]. Zusammengestellt Nina K. Meschko, hg. Inna A. Barsowa. Moskau 1986, 119 (angegeben wird das Programm des Konzertes von Alexander Mossolow und W. Telezhinskaja, in welchem neben der Musik von Bartók, Milhaud und Casella auch Hindemiths op. 18 und 27 gespielt wurden). 11 Ibid., 67–68. 12 Barsowa vermutet, dass Mossolow Hindemiths Oper Hin und zurück gekannt habe (ibid., 100).
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Insgesamt fiel die Begeisterung für Hindemiths Musik in der Sowjetunion mit den erfolgreichen Jahren der Tätigkeit des Vereins für zeitgenössische Musik (Assoziazija sowremennoj musyki, ASM) und dessen Leningrader Zweigstelle (LASM) zusammen.13 Die Bedeutung dieser Vereine ermisst sich vor allem angesichts ihrer internationalen Ausstrahlung sowie darin, dass sie den zeitgenössischen Komponisten und deren Musik in der Sowjetunion zu Ansehen verhalfen. Als die Moskauer Musiker eine regionale Abteilung der Internationalen Gesellschaft für Musik (ASM) organisierten, gab es bereits andere nationale und regionale Abteilungen der ISMC/IGNM.14 Die Tätigkeit der Gesellschaft war damals in der Sowjetunion wie in anderen Ländern zwar außerordentlich intensiv, aber ziemlich kurzfristig. Wie ein Komet entflammte die Gesellschaft in den 1920er Jahren am Horizont, der so genannten „Sturm und Drang“-Periode,15 nahm aktiv am gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Landes teil und vereinigte die besten Komponisten und Interpreten sowie die Vertreter der alten russischen sowie der jungen, sowjetischen Intelligenz, erlosch dann aber schnell unter dem Druck der sich zunehmend verschärfenden sozialen, ideologischen und finanziellen Verhältnisse und gab schließlich ihre Existenz in den 1930er Jahren auf. In der Ahnengalerie der ISCM findet sich bekanntlich neben so illustren Persönlichkeiten wie Igor Strawinskij, Arnold Schönberg, Alban Berg, Ernst Krenek und Paul Becker auch Paul Hindemith.16 Die Welt der Neuen Musik war für die Studierenden des Moskauer Konservatoriums sehr anziehend, besonders wenn sie wie Schostakowitsch unter dem Einfluss von Assafjew standen – und bekanntlich erreichte Hindemiths internationale Bedeutung ihren Zenit um 1926, im Jahr als Schostakowitsch sein Studium am Leningrader Konservatorium beendet hatte.17 13 Liudmila Kownazkaja, LASM – chto eto bylo? [LASM – was war es?], in: Wremion swiazujuschtschaja nit’ [Die Zeiten verbindender Faden]. Sammelband zum Jubiläum von Era S. Barutschewa. Hg. Larisa G. Dan’ko et al. Sankt Petersburg 2004, 139–147. 14 ISCM = International Society for Contemporary Music; IGNM = Internationale Gesellschaft für Neue Musik. Ausführlicher dazu Anton Haefeli, Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM): Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart. Zürich 1982, und Anton Haefeli, Politische Implikationen einer „unpolitischen“ Organisation: Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik zwischen 1933 und 1939, in: Musik im Exil. Die Schweiz und das Ausland, 1918–1945. Hg. Chris Walton und Antonio Baldassarre. Bern usw. 2005, 103–119. 15 Zur Situation in der Gesellschaft siehe das Magazin Der Auftakt, Nr. 5–6, welches vollständig der Neuen Musik und den Mitgliedern der ISCM/IGNM gewidmet ist. 16 Siehe Haefeli, Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (wie Anm. 14), 131. 17 Jurij Sander, der Studienfreund von Schostakowitsch und ein vielversprechender Komponist und Musikwissenschaftler, wurde Leningrader Korrespondent der Zeitschrift für Musik. Seine deutschen Korrespondenzen sind oft mit den Initialen „J. Z.“ gezeichnet. Er berichtete unter anderem über deutsche Musiker, welche in Leningrad ein Gastspiel
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In der LASM, wohin die jungen Musiker der Stadt in Scharen strömten,18 war das Interesse für Hindemith deutlich ausgeprägt, und die Protokolle der LASM zeigen, dass seine Musik in den Konzerten der Gesellschaft aufgeführt wurde.19 Westliche oder im Westen lebende russische Komponisten wurden in der LASM mit Begeisterung empfangen und verehrt, darunter auch Alban Berg, Sergeij Prokofjew, Nikolaij Metner und Arthur Honegger.20 Schostakowitsch selbst führte im Rahmen dieser Konzerte seine Klaviersonate Nr. 1 op. 12 von 1926 auf.21 Besonders auffallend ist, dass die Leningrader Komponisten ein engeres Verhältnis zu Hindemith pflegten als zu anderen westlichen Komponisten. Ausschlaggebend dafür war vor allem der Umstand, dass man in der Beziehung zu Hindemith eine fruchtbare Kunst- und Geschäftsbeziehung sah; man plante etwa, an den im Rahmen der so genannten Deutschen Kammermusiktage durchgeführten Konzerte Hindemiths in Baden-Baden teilzunehmen, welche während der Amtszeit von Ernst Mehrlich von 1927 bis 1928 stattfanden.22 Das ausgeprägte Interesse an Hindemiths Musik widerspiegelt sich auch in den zahlreichen Veröffentlichungen der ASM und der LASM, insbesondere in den Beiträgen über Hindemith in Sowremennaja Musyka [Zeitgenössische Musik 11 (1925)] der ASM sowie in den zwei Sonderausgaben von Nowaja musyka [Neue Musik 2/1–2 (1927–28)] der LASM, in welchen Materialien zu Hindemith publiziert wurden.
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gaben und das Leningrader Musikleben stark beeinflussten, so etwa über Arthur Schnabel und das Amar-Hindemith-Quartett (dazu seine Berichte in Zeitschrift für Musik, 93. Jhg., Bd. 122 (1926), 44, 108, und 94. Jhg., Bd. 123 (1927), 44, 250, 478, 662, passim). Siehe Liudmila Kownazkaja, Schostakowitsch w protokolach LASMa [Schostakowitsch in den Protokollen von LASM], in: D. D. Schostakowitsch. Sbornik statei k 90-letiiu so dnia rozhdeniia. [D. D. Schostakowitsch: Sammelband zum 90. Geburtstag]. Hg. Liudmila Kownazkaja. Sankt Petersburg 1996, 48–67, und Kownazkaja, LASM – chto eto bylo? (wie Anm. 13). Zentrales Staatliches Archiv Sankt Petersburg, Fond 2555, Verzeichnis 1, Akte 1097, Bl. 15, 16 (Protokoll Nr. 9 der Sitzung des Vorstandes der LASM, 25. Okt. 1926), sowie Bl. 17–18 (Protokoll vom 29. Okt. 1926). Ibid., Bl. 1 und 2 (Protokolle vom 19. Nov. und 1. Dez. 1927). Siehe Zentrales Staatliches Archiv Sankt Petersburg, Fond 2556, Verzeichnis 6, Bestandseinheit 3, Bl. 2. Über die nicht zustande gekommenen Begegnungen zwischen Hindemith und Schostakowitsch siehe Weiss, Schostakowitsch… Hindemith (wie Anm. 6), 15–19. In Hindemiths Taschenkalender – aus der Zeit seines zweiten Aufenthalts in Leningrad – findet sich wiederum kein Hinweis auf eine Begegnung mit Schostakowitsch, aber eine Notiz über ein Treffen mit Maria Judina am 31. Dez. 1928. Über Aufführungen Leningrader Komponisten in Deutschland bzw. über deren Teilnahme an westlichen Festivals informieren einige Protokolle (vgl. Zentrales Staatliches Archiv Sankt Petersburg, Fond 2556, Verzeichnis 6, Akte 3, Bl. 8). Dazu sowie zum Umstand, dass die Mitglieder fast jede Möglichkeit verpassten, um an einem westlichen Festival teilzunehmen, siehe Kownazkaja, LASM – chto eto bylo? (wie Anm. 13).
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Unter der Leitung und dem Einfluss von Assafjew verfassten Hindemiths Anhänger auch Texte über moderne Musik, in welchen Hindemith eine bedeutende Rolle spielte. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der von Assafjew unter dem Pseudonym „Igor Glebow“ verfasste grundlegende Beitrag „Hindemiths Stilelemente“. Dieser bietet nicht nur eine fundierte Analyse der Musik des deutschen Meisters, sondern zeichnet sich auch durch präzise Beurteilungen sowie ein tiefes Verständnis für den Kompositionsprozess und das Wesen des musikalischen Materials aus. Doch dieser Beitrag hat auch einen polemischen und aggressiven Ton, der sich gegen andere Vertreter der deutschen Musik richtete. Immerhin beginnt Assafjews Aufsatz mit der apodiktischen Äußerung: „Es gibt jetzt in Deutschland kaum einen Komponisten, außer Hindemith, der dermaßen vollständig und ausgeprägt die besten Eigenschaften der deutschen Musik in seinem Schaffen zum Ausdruck bringt.“23 Solche und ähnliche Formulierungen unterstreichen das hohe Ansehen Hindemiths bei seinen sowjetischen Kollegen und richten sich implizit gegen die Anhänger etwa von Richard Strauss – zweifelsohne einer der einflussreichsten deutschen Komponisten und Dirigenten der Zeit – sowie von Franz Schreker, der zu dieser Zeit als Gast der LASM in der Leningrader Philharmonie auftrat und dessen Oper Der ferne Klang (1925) mit großem Erfolg in Leningrad aufgeführt wurde 24 – eine Aufführung, welche auch von Assafjew nicht unbemerkt blieb, wie sein darüber verfasster Artikel dokumentiert.25 Darüber hinaus verschweigt Assafjew in seinem erwähnten Aufsatz über Hindemith auch Max Reger und Hans Pfitzner, dessen Oper Palestrina als Klavierauszug in den Notensammlungen vieler Musiker zu finden war und dessen Musik 1925 in der Leningrader Philharmonie erklang. Unter den Anhängern der Musik Pfitzners finden sich unter anderen Heinrich Neuhaus und Sergej
23 Demgegenüber meinte Jurij N. Tiulin: „Außer Strawinskij und Prokofjew, die auf den westeuropäischen Boden die eigenartige russische musikalische Kultur übertragen haben und die ihre Weltbedeutung schon bestätigt haben, gehören zu den größten Figuren im Westen, meiner Meinung nach, Krenek und besonders Hindemith”, in: Zhizn’ iskusstwa [Das Leben der Kunst] 8 (22. Feb. 1927), 7–8. 24 Über Franz Schreker in Leningrad siehe Natalja I. Degtiarjowa, O Leningradskoj postanowke „Dal’nego zwona“ [Über die Leningrader Aufführung des „Fernen Klanges“] (nach Materialien der vaterländischen Presse der 1920er Jahre), in: Natalja I. Degtiarjowa, Opery Franza Schrekera i moderrn w musykal’nom teatre Awstrii i Germanii [Die Opern von Franz Schreker und der Jugendstil im musikalischen Theater in Österreich und Deutschland]. Sankt Petersburg 2010, 354–359. 25 Igor Glebow, Semjon Ginsburg, Sergej Radlow, Franz Schreker i jego opera „Dal’nij zwon” [Franz Schreker und seine Oper „Der ferne Klang”]. Leningrad 1925.
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Prokofjew.26 Selbst in Assafjews selbständigen Schriften und Reportagen erscheint der Name Pfitzners mehrmals.27 Vor diesem Hintergrund stellt sich deshalb die Frage, weshalb sich Assafjews ansonsten breite Perspektive auf die zeitgenössische deutsche Musik angesichts von Hindemith gleichsam zu verengen schien. Eine mögliche Antwort liefert Maria Judina, eine zentrale Stimme der russischen „Neue Musik-Bewegung“ der 1920er Jahre. Sie meinte: „[…] Richard Strauss und Max Reger verloren für uns alle ihren Glanz“.28 Als führende Persönlichkeit im Musikleben Leningrads der 1920er Jahre und als unbeirrbare Förderin der Musik Hindemiths spielte Judina eine zentrale Rolle innerhalb des sowjetischen „Hindemith-Bewegung“. Sie führte als eine der ersten Hindemiths Klaviermusik öffentlich und privat auf, etwa in der Wohnung des russischen Regisseurs Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, in der Schostakowitsch zu dieser Zeit wohnte. Hindemith selbst war sich der Bedeutung und des Künstlertums Judinas durchaus bewusst. Während seiner Gastspiele 1927 und 1928 war er bei ihr zu Besuch29 und sie spielte ihm seine Klaviermusik op. 37 vor. Über diese Begegnung schrieb Judina: „Er [Hindemith] selber sagte mir über op. 37 Nr. 1, dass „bei uns“ niemand diesen Zyklus so gespielt hat und spielen wird“.30 Sie setzte sich bekanntlich auch stark für Hindemiths Marienleben ein,31 an deren russischen Übersetzung sie mit Hingabe arbeitete.32 Judinas Bedeutung ermisst sich letztlich im Bekenntnis Schostakowitschs, dass „Maria Weniaminowna […]“ es gewesen sei, die
26 Christina Strekalowskaja, Russkij Pfitzner [Der russische Pfitzner], in: Lebed 464 (2006), http://www.lebed.com/2006/art4498.htm (letzter Zugriff 26. Feb. 2011). 27 Assafjew war ein besonders einflussreiches Mitglied der „künstlerisch-politischen Kommission“ des MALEGOT [des Kleinen Opern- und Baletttheaters] und animierte dadurch das Theater, zeitgenössische deutsche Opern aufzuführen (u. a. Sprung über den Schatten von Ernst Krenek und Der Bergsee von Julius Bittner). Siehe die Annonce in: Rabotschij i teatr [Der Arbeiter und das Theater] 39 (29. Sept. 1925), 18. 28 Maria Weniaminowna Judina, Ob istorii wozniknowenija russkogo teksta (perewoda) „Marienleben“ Rainera Marii Rilke [Über die Geschichte der Entstehung des russischen Textes (der Übersetzung) des „Marienlebens“ von Rainer Maria Rilke], in: Wy spasajetes’ cherez musyku [Durch die Musik werdet ihr euch retten]. Hg. Anatolij M. Kuznetzow. Moskau 2005, S. 171. 29 Judina lebte damals an der Uferstrasse Dwortzowaja naberezhnaja, Haus 30, Wohnung 7. Stefan Weiss zitiert die Notiz von Hindemith über das Treffen mit ihr am 31. Dez. 1928 (Weiss, Schostakowitsch… Hindemith [wie Anm. 6], 8). 30 Maria Weniaminowna Judina, Statji, wospominanija, materialy [Aufsätze, Erinnerungen, Materialien]. Hg. Anatolij M. Kuznetzow. Moskau 1978, 199. 31 Dazu Judina, Ob istorii wozniknowenija russkogo teksta (perewoda) „Marienleben“ Rainera Marii Rilke (wie Anm. 28). 32 Ibid., 170 –179.
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ihn „mit der Klaviermusik von Krenek, Hindemith, Bartók bekannt gemacht hat.“33 Die Vertreter der „Neuen Musik“ äußerten sich immer wieder über die Gründe ihres Interesses an Hindemith. Über die schwierigen Probleme der vaterländischen Schule nachdenkend, würdigten etwa Wladimir Schtscherbatschow, Jurij Tjulin und Piotr Rjazanow Hindemith als Träger eines neuen Weltgefühls, welches der jungen sowjetischen Komponistenschule entspreche. Sie sahen in ihm einen Künstler, der bereit ist, eine neue zukunftsfähige musikalische Sprache zu schaffen. „Ich meine,“ schrieb Schtscherbatschow, dass die musikalische Hegemonie zurzeit mehr als irgendwann den deutschen Musikern gehört. […] Die jungen Deutschen Krenek, Hindemith, Alban Berg, Béla Bartók lassen irgendeinen riesigen Umschwung der musikalischen Evolution erahnen. […] Unsere höchst begabten jungen Leningrader Komponisten begreifen die aktuellen Prozesse deutlich, empfinden als Neuheiten die Werke der Pioniere, die vor 20–30 Jahren und früher komponiert wurden, studieren fleißig die melodische Beweglichkeit der Bach’schen Linie, bewundern Händel und Beethoven und empfinden die jungen Deutschen wie Brüder aus einer Handwerksgenossenschaft.34
Grundsätzlich war der von Hindemiths Musik ausgehende Eindruck sehr tief, umfassend und nachhaltig. Schtscherbatschow beispielsweise war selbstbewusst und zugleich selbstkritisch genug, um seine eigene Erfahrung offen zu bekunden. Am 12. Oktober 1935 schrieb er an seine Frau über ein Treffen mit dem Dirigenten Fritz Stiedry: Gestern nahm ich bei ihm die Partitur von Alban Bergs Lulu – das sind symphonische Fragmente aus seiner Oper – und Hindemiths Suite Mathis der Maler entgegen. Schon das flüchtige Durchschauen dieser Werke versetzte mich in sehr große Verwirrung, und dieser Eindruck beherrschte mich fast den ganzen heutigen Tag, und ich weiß nicht, wer recht hat – wir oder sie, aber ich fühle eine schreckliche Kluft in der Technik, in dem Verhältnis zur Kunst, und, in jedem Fall, muss ich mit Grauen die Tatsache anerkennen, dass meine Musik zutiefst provinziell, epigonal und rückständig ist, obwohl ich ihre Musik zur Zeit gar nicht empfinden und verstehen kann.35 33 Dmitrij Schostakowitsch, O M. W. Judinoj [Über M. W. Judina], in: Leningradskaja gosudarstwennaja konservatorija w wospominanijach [Das Leningrader Staatskonservatorium in Erinnerungen]. Hg. Georgij G. Tigranov. Leningrad 1988 (2., erw. Aufl.), Bd. 2, 71–72. 34 Wladimir W. Schtscherbachow, Jurij N. Tiulin, Piotr Riazanow, O sowremennoj musyke [Über zeitgenössische Musik], in: Zhizn’ iskusstwa [Das Leben der Kunst] 8 (22. Feb. 1927), 7. Die Erwähnung Bartóks in diesem Kontext ist insofern interessant, als er von den sowjetischen Künstlern um diese Zeit vor allem im Kontext seiner Rezeption der Zweiten Wiener Schule gesehen wurde. 35 Wladimir W. Schtscherbatschow, Statji, materialy, pisma [Beiträge, Materialien, Schriften]. Zusammengestellt von Raisa N. Slonimskaja, hg. Andrej Kriukow. Leningrad 1985, 246– 247.
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Schostakowitsch selbst äußerte sich immer wieder positiv über Hindemith,36 und ganz besonders kommt seine Begeisterung in seinen Antworten auf einen Fragebogen über die Psychologie des Schaffensprozesses zum Ausdruck, welchen er für Roman Gruber beantwortete.37 Eine der bemerkenswertesten und frühesten Äußerungen Schostakowitschs in diesem Zusammenhang (er war gerade einmal 20 Jahre alt) findet sich aber in einem Brief vom 21. Oktober 1926 an Boleslaw Jaworskij: Gestern hatte ich großes Vergnügen im philharmonischen Konzert. Gehört habe ich das Brandenburger Konzert von Bach,38 sein Violinkonzert,39 das Violinkonzert von Krenek40 und das Konzert für Orchester von Hindemith.41 Wegen all dem habe ich den Kopf verloren. Hindemith ist ein echtes Genie. Sein Konzert ist etwas Erstaunliches. Noch immer kann ich nicht zu mir kommen. Dirigiert hat Stiedry. Violine spielte Alma Moodie. Ich stehe immer noch unter dem Eindruck des gestrigen Konzerts.42
Das Konzert für Orchester op. 38 von 1925, in welchem Hindemith technisch auf seine frühen Kammermusiken referiert, ließ Schostakowitsch diesem Briefdokument folgend ganz offensichtlich nicht unbeeindruckt. Ohne auf die Kühnheit der gattungsspezifischen Transformationen und Modifikationen der musikalischen Themen zu verzichten, demonstriert Hindemith in diesem Konzert seine klassizistischen Neigungen und seine außerordentliche Kunstfertigkeit in der Anwendung des konzertanten Prinzips (daher auch die verbreitete Bezeichnung des Konzertes als ein zeitgenössisches Concerto grosso). Die drängende Motorik sowie die Affinität für rhythmische Elemente mit Jazz-Einflüssen faszinierten Schostakowitsch damals ebenfalls. Hindemiths Konzert zeigte dem jungen Komponisten, wie man mit rein musikalischen Mitteln, ohne Programm oder Sprachrhetorik, den Geist und den Puls der Gegenwart einfangen und musikalisch 36 Abgesehen von der erzwungenen Antwort, welche Schostakowitsch auf seiner Reise in die USA 1948 in der sowjetischen Botschaft in Washington DC auf die Frage von Nikolai Nabokow über seine Haltung zur Parteikritik der westlichen Musikklassiker des zwanzigsten Jahrhunderts gab. Ausführlich dazu Weiss, Schostakowitsch… Hindemith (wie Anm. 6), 29. 37 Der von mir in Roman Grubers Archiv gefundene Fragebogen (Handschriftabteilung, Glinka-Museum für Musikkultur) von Schostakowitsch (sowie ähnliche Fragebögen von Wladimir Schtscherbachow, Gawriil Popow, Iosif Schillinger, Andrej Paschtschenko, Christofor Kuschnariow, Georgij Rimskij-Korsakow und Nikolaj Malachowskij) ist veröffentlicht (ohne Verweis) in Dmitrij Schostakowitsch w pis’mach i dokumentach [Dmitri Schostakowitsch in Briefen und Dokumenten]. Hg. Irina A. Bobykina. Moskau 2000, 470– 482. 38 Nr. 6, B-Dur, BWV 1051. 39 Nr. 2, E-Dur, BWV 1042. 40 Nr. 1, op. 29 (1924) 41 Op. 38 (1925). 42 Schostakowitsch w pis’mach I dokumentach (wie Anm. 37), 86.
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wiedergeben konnte. Insgesamt klang die Stimme Hindemiths unter den vielen verschiedenen Stimmen der Zeit für Schostakowitsch wie ein segensreicher Ruf. Die musikalische Kritik und die Wissenschaft, die Schostakowitsch aufmerksam beobachteten, entdeckten den Einfluss Hindemiths in seinen neusten Werken sofort. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang ist das berühmte Fugato, welches Schostakowitschs Zweite Symphonie An den Oktober eröffnet. Stefan Weiss deckte später in seinen vergleichenden Analysen die in diesem Fugato enthaltenen „Spuren“ von Hindemiths op. 3843 auf und ging auch Schostakowitschs Annäherung an dasselbe Konzert in der Vierten und Fünften Symphonie nach.44 Richard Taruskin resümierte in diesem Zusammenhang, dass Schostakowitsch den jungen Hindemith idolisierte hätte.45 Freilich war Schostakowitsch darin kein Einzelgänger. Viktor Beliajew, ein kompetenter Gelehrter, Kritiker und Mitglied der ASM, nannte Hindemith einmal die „musikalische Quintessenz unserer Gegenwart“.46 Es waren vor allem Hindemiths „Neue Sachlichkeit“ und seine antiromantische Haltung verstärkt durch das von Hindemiths Musik evozierten positiven Lebensgefühl, welche großen Einfluss auf die jungen Leningrader Komponisten hatten. Judina nannte in diesem Zusammenhang Hindemith und Krenek „lebhafte, freudvolle Geister“.47 Und Assafjews Idee über die „Musik des Alltags”48 traf sich durchaus mit Ideen Hindemiths zur Gebrauchsmusik. In kompositionstechnischer Hinsicht entlehnte man vom frühen Hindemith die konstruktivistischen Tendenzen, welche eine gewisse Verwandtschaft mit der sowjetischen Avantgarde der 1920er Jahre hatte. Andere Dokumente – wie Briefe, Tagebücher und Presseartikel – weisen darauf hin, dass sich die Musiker damals über Hindemiths Talent für die groteske Parodie, dessen „aggressive“ Rhythmen und die Härte der Harmonie sowohl wunderten als auch dafür begeisterten: einst geltende ästhetische Prämissen und „Anstandsregeln” wurden abgeschafft und verborgene
43 Weiss, „Wind aus dem Westen“ (wie Anm. 6), 85–95. 44 Weiss, Schostakowitsch … Hindemith (wie Anm. 6), 44–45. 45 Richard Taruskin, When Serious Music Mattered, in: A Shostakovich Casebook. Hg. Malcolm Hamrick Brown. Bloomington (IN) 2004, 365. 46 Wiktor Bieliajew, Krenek i problema opery [Krenek und das Problem der Oper], in: Nowaja musyka [Neue Musik] 1 (1927), 10. 47 Maria Weniaminowna Judina, O kompositorach [Über die Komponisten]: E. Krenek, P. Hindemith (aus dem Brief an Igor I. Blazhkow vom 4. Januar 1961), in: Wy spasajetes’ cherez musyku (wie Anm. 28), 247. 48 Igor Glebow, Bytowaja musyka posle Oktjabrja [Alltagsmusik nach dem Oktober], in: Nowaja musyka [Neue Musik] 2 (1927), 17–32.
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Kräfte entfesselt. Das von Hindemith wiederbelebte Interesse an der Kammermusik entsprach freilich einer gesamteuropäischen Tendenz. In der Sowjetunion stand ihr besonders Gawriil Popov nahe,49 wovon sein Sextett ein beredtes Beispiel gibt, in welchem er zudem seine Idee einer simultanen Polystilistik realisiert. Die sowjetischen Komponisten der 1920er Jahre empfanden aber auch Hindemiths „Linearität“ nicht nur als eine tragbare und fruchtbare Lösung für die Entwicklung einer modernen und dennoch auf tradierten Modellen basierenden Polyphonie, sondern ganz allgemein als eine Erneuerung der musikalischen Sprache. In der für Hindemiths Musik charakteristischen linearen Polyphonie sahen sie einen gesunden Traditionalismus. Insgesamt wirkte sich der in Hindemiths Orchestermusik realisierte Konzertstil äußerst anregend auf die kompositorische Fantasie der jungen sowjetischen Komponisten aus. In der Einschätzung vieler dieser Komponisten besaß Hindemith auch ein “absolutes Orchestergehör.“50 Sein organisches Gefühl für die klanglichen Möglichkeiten der Instrumente, welche er durch eine originelle Melodik bereicherte sowie „kubistisch“ deformierte, führte zu einer grundsätzlichen Revision des solistischen und konzertanten Stils. Hindemith veranlasst die sowjetischen Komponisten – allgemein formuliert –, ihre Vorstellungen über professionelle und künstlerische Kriterien zu überdenken und zu revidieren. In diesem Zusammenhang ist die Äußerung von Riazanow zu verstehen: „Die technisch-musikalischen Probleme, die sich vor den sowjetischen Komponisten befinden, […] sind mit den Problemen im gegenwärtigen Deutschland identisch.”51 Hindemith kam in die Sowjetunion, nachdem er sich in seiner Heimat und in Europa bereits hohes Ansehen erworben hatte. Im Dezember 1927 sowie von Dezember bis Januar 1928–29 gastierte das Amar-Hindemith-Quartett52
49 B’ as [Assafjew?], G. N. Popow, in: Sowremennaja musyka [Zeitgenössische Musik] 25 (1927), 64–65. 50 Evgenij Mrawinsky, Tridzat’ let s musykoj Schostakowitscha [Dreißig Jahre mit der Musik von Schostakowitsch], in: Dmitrij Schostakowitsch. Zusammengestellt Givi Ordzhonikidze, hg. Lev W. Danilewitsch et al. Moskau 1967, 111. 51 Schtscherbachow, Tiulin, Riazanow. O sowremennoj musyke (wie Anm. 34), 8. 52 Das Amar-Hindemith-Quartett (Licco Amar, 1. Violine, Walter Kaspar, 2. Violine, Paul Hindemith Bratsche und Rudolf Hindemith Violoncello, später Maurits Frank) wurde 1921 gegründet; in den folgenden Jahren (bis 1929) wurde es zu einem der berühmtesten europäischen Quartette. Zur gleichen Zeit feierte in Russland das Leningrader Glasunow-Quartett seine Erfolge. Dieses wurde 1919 gegründet und bestand aus Ilja Lukaschewskij (1. Violine), Grigorij Ginsburg (2. Violine), Alexander Rywkin (Bratsche) und David Mogilewskij (Violoncello).
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im Großen Saal der Philharmonie in Leningrad.53 Beim ersten Gastspiel wurden fünf, beim zweiten vier Konzerte gegeben.54 Diese Konzerte belegen nicht nur das große Interesse für Kammermusik, sondern sie dokumentieren auch die aufgeklärte und progressive Programm-Politik der Philharmonie, insbesondere ihres Direktors Nikolaj Malko55 sowie des Lektors und Repertoire-Beraters Iwan Sollertinskij, ein Freund Schostakowitschs. Malko war ein überzeugter Förderer der Neuen Musik und setzte sich auch für die Aufführung von Schostakowitschs beiden ersten Symphonien ein. Das Programm des Amar-Hindemith-Quartetts bestand aus Kompositionen von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert sowie Strawinskij, Bartók, Zoltán Kodály und Alfredo Casella. Von den Werken Hindemiths wurden verhältnismäßig junge Arbeiten mit enormem Erfolg aufgeführt: die Streichquartette Nr. 2 und 3 (1921 bzw. 1922), zweimal bei jedem Besuch das erste Streichtrio op. 34 (1924) sowie bei jedem Besuch die Sonate für Bratsche solo op. 25 Nr. 1 (1925) und die Stücke für Quartett op. 44 (1927). „Das dritte Quartett von Hindemith mit dem wunderschönen langsamen Fugato im ersten Teil,“ sei nach einer Rezension von Sollertinskij „durch mehrmalige Aufführungen in Leningrad bekannt und fast ,klassisch‘ geworden“.56 Diese zwei philharmonischen Gastspiele konnten einem so leidenschaftlichen Philharmonisten wie Schostakowitsch nicht verborgen bleiben. Auf die breit angekündigten Gastspiele reagierten alle bedeutenden Leningrader Kritiker. Mehr noch: in der Presse erschien ein Gruppenmanifest der Musikkritiker des Komitees für Neue Musik am Institut für Kunstgeschichte.57 Dieses Manifest verdient insofern besondere Aufmerksamkeit, als es ein einzigartiges programmatisches Dokument ist. Der feurige Ton, die Art und Weise, wie die neuen Ideen- und Schaffensprinzipien formuliert wurden, sowie die Namen der Unterzeichner – welche nicht nur die aktu53 Das Quartett gab auch in Riga, Moskau, Odessa, Kiew und Charkiw Konzerte. 54 Die Konzerte in diesem größten Leningrader Konzertsaal fanden an folgenden Tagen statt: 6., 10., 13., 17., 20. Dez. 1927; 26. und 28. Dez 1928; 1. und 3. Januar 1929, wobei die meisten Konzerte im Rahmen der regulären Abonnementskonzerte ausgetragen wurden. 55 Nikolaj Malko leitete die Philharmonie von Herbst 1926 bis Frühling 1929. 56 Iwan I. Sollertinskij, Quartett Amar-Hindemith, in: Zhizn’ iskusstwa [Das Leben der Kunst] 4 (20. Jan. 1929), 7. 57 Die Gruppe der Verfasser setzte sich zusammen aus: Boris Assafjew (Igor Glebow), Walerian Bogdanow-Berezowskij, Andrej Budiakowskij, Julian Weinkop [N. ?] Wolzhina, Pavel Wulfius, Semjon Ginsburg, Semjon Gress, Roman Gruber, Mikhail Druskin, Alexander Krüger, Nikolaj Malkow, Wladimir Muzalewskij, Iwan Sollertinskij. Siehe: B. Assafjew (Igor Glebow) et al., Paul Hindemith i jego Quartett [Paul Hindemith und sein Quartett], in: Zhizn’ iskusstwa [Das Leben der Kunst] 5 (27. Jan. 1929), 14.
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ellen künstlerischen Tendenzen vertraten, sondern auch die öffentliche Meinung aktiv formten – verliehen dem Manifest besonderen Nachdruck. Von besonderem Interesse ist im Zusammenhang mit dem Thema dieses Beitrags aber auch, die in diesem Manifest formulierte kategorische Behauptung, dass das Amar-Hindemith-Quartett (im Vergleich zum Wiener Rosé-Quartett und zum einheimischen Glasunow-Quartett) „das einzige zeitgenössische Quartett“ sei, das über eine angemessene Auffassung über die zu spielende Musik verfüge. Dabei ging es nicht um „Authentizität“ oder „werktreue Interpretation“, sondern um die Frage, wie die „Musik der alten Meister“ zu spielen sei, um die Gegenwart auszudrücken, und wie das Alte für die Gegenwart aktualisiert werden konnte. Denn darin bestand die zentrale Aufgabe des sowjetischen Kulturaufbaus, wie Anatolij Wassiljewitsch Lunatscharskij, der Volkskommissar für Bildung, es in seinen theoretischen Werken ausgeführt hatte. Der größte Teil des umfangreichen Manifests ist aber Hindemiths Anschauungen über die aktuellen Aufgaben der zeitgenössischen Komponisten gewidmet: demnach sollte das Komponieren „unbedingt von einem Ziel ausgehen” und den Bedürfnissen bzw. dem „heutigen sozialen Auftrag” angemessen sein. Die Musik solle wie eine handwerklich angefertigte „Ware” „nüchtern, realistisch und berechnend“ komponiert werden; nötig sei „die Konkretisierung und Aktualisierung der musikalischen Produktion […], deren Mängel jetzt, zur Zeit des sozialistischen Aufbaus, sehr sichtbar sind.“58 Der hier ausformulierte Vulgär-Soziologismus kann die Wucht nicht verbergen, mit welcher die Musik, die Tätigkeit und die Persönlichkeit Hindemiths in das sowjetische Musikleben eindrangen und welche letztlich die Entstehung des Manifest, dieses historisch wichtigen Dokuments stimulierten. Hindemith wurde damit zu einem der wichtigsten Vorbilder für die sowjetische Musik der 1920er Jahren stilisiert, sowohl in theoretischer als auch praktischer Hinsicht. Er stand der neuen sowjetischen Musik nach Auffassung ihrer Vertreter in professionell-künstlerischer, emotional-psychologischer und kultureller Hinsicht nah. Vor diesem kultur- und musikhistorischen Hintergrund sei nochmals die mit grüner Tinte geschriebene Handschrift Schostakowitschs in den Blick genommen. Die Entstehungszeit dieser Arbeit, die vermutlich – wie bereits angemerkt – in die Zeit von 1944 bis 1945 fällt, erklärt, warum sie – im Manuskript nicht beendet worden ist, im Gegensatz zu den Bearbeitungen der Psalmensymphonie von Strawinskij oder Honeggers Dritten Symphonie,
58 Ibid.
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der so genannten Symphonie liturgique. Von Mitte der 1930er Jahren an standen alle drei Komponisten (Strawinskij, Hindemith und Honegger) als Vertreter der westlichen Formalisten auf dem Index. Im Verständnis der kulturpolitischen Verantwortlichen waren die „Vergehen“ Hindemiths um Mitte der 1940er Jahre aber ungleichmäßig gravierender. Er stand nicht nur unter dem Generalverdacht, ein Formalist zu sein, sondern war zudem noch ein Deutscher – ein Umstand, der sich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren noch verschärfte. Insgesamt wurden zu jener Zeit alle deutschen Komponisten (auch längst verstorbene) aus politisch motivierten Gründen geächtet, nicht nur Hindemith, der bekanntlich auch Opfer des nationalsozialistischen Systems war (er verließ Deutschland im Jahre 1938 auf dem Höhepunkt der Hetze gegen ihn). Die Liste der verfemten Komponisten wurde von Richard Wagner angeführt, wegen seiner privilegierten Position im Dritten Reich, und Richard Strauss benötigte einen Fürsprecher, dessen Rolle Ernst Krause mit seinem ins Russische übersetzten Buch übernahm.59 Vor diesem Hintergrund ist bezeichnend, dass die ersten russischsprachigen Publikationen über Wagner und Brahms, die in der Sowjetzeit geschrieben wurden, erst Ende der 1950er Jahre erschienen.60 Und während in den 1920er und 1930er Jahren im dreijährigen Spielplan des Leningrader Kleinen Opernund Balletttheaters61 „zeitgenössische deutsche Opern“ vorkamen,62 deren Hauptvertreter Hindemith und Krenek waren,63 fehlen ab Anfang der 1940er Jahre Hinweise auf Aufführungen von Komponisten deutscher Herkunft. Hindemith selbst wurde in der Sowjetunion bis zur zweiten Hälfte der 1950er Jahre nicht mehr gespielt64 und war nach dem 1928 erschienenen Buch von Mikhail Druskin über die moderne Klaviermusik,65 in welchem Hindemith mehrere Seiten gewidmet waren, für über drei Jahrzehnte auch nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen. 59 Ernst Krause, Richard Straus: Obraz i twortschestwo [Richard Strauss: Gestalt und Werk]. Aus dem Deutschen übersetzt G. W. Naschatyr’; poetische Texte übersetzt von Iwan A. Lichatschow; Vorwort von Boris W. Lewik. Moskau 1961. 60 Mikhail S. Druskin, Richard Vagner [Richard Wagner]. Moskau 1958, und Mikhail Druskin, Iogannes Brams [Johannes Brahms]. Moskau 1959. 61 Malyj teatr opery i baleta, abgekürzt: MALEGOT. 62 Hervorhebung durch die Autorin dieses Beitrags. 63 Hindemith war mit Neues vom Tage in einer unvollendeten Inszenierung von Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold vertreten (dazu Zentrales Staatliches Archiv für Literatur und Kunst (Sankt Petersburg), Fond 290, Verzeichnis 1, Akte 12, Blatt 1), während von Krenek Sprung über den Schatten und Jonny spielt auf gegeben wurden. 64 Siehe ausführlich dazu Tamara N. Lewaja und Oksana T. Leontjewa, Paul Hindemith: zhizn’ i twortschestwo [Paul Hindemith: Leben und Schaffen]. Moskau 1974, 345. 65 Mikhail S. Druskin, Novaja fortepiannaja muzyka: s sistematiceskim obzorom sovremennoj fortepiannoj literatury [Neue Klaviermusik]. Leningrad 1929.
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Diese politische Situation mag erklären, weshalb auch Hindemiths Einfluss auf Schostakowitsch für lange Zeit von der Forschung nicht wahrgenommen oder bewusst unterdrückt wurde – und dies nicht nur in der Sowjetunion:66 auch in den Beiträgen des Kölner Schostakowitsch-Symposiums von 1985, welche sich explizit mit den deutschen Beziehungen und dem deutschen Einfluss auf das Schaffen Schostakowitschs befassten, wird Hindemith merkwürdigerweise nicht erwähnt.67 Diese wissenschaftliche Lücke ist insofern verwunderlich, als Hindemith im sowjetischen Konzertleben nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus wieder präsent war, insbesondere dank der Verdienste von Kurt Sanderling, der etwa am 21. November 1957 mit dem Leningrader Philharmonischen Orchester die 1946 entstandene Orchesterkomposition Symphonische Metamorphosen über Themen von Carl Maria von Weber in Leningrad aufführte.68 Eine Aufführung der Sinfonie in Es ist in der Sowjetunion allerdings nicht nachgewiesen, weshalb sich die Frage stellt, wann und wo Schostakowitsch diese am 21. November 1941 unter der Leitung von Dimitris Mitropoulos in Minneapolis uraufgeführte Komposition kennengelernt hatte – besonders auch, weil zum Zeitpunkt seiner Arbeit auch noch keine Aufnahme greifbar war.69 66 In der sowjetischen Forschung setzte in diesem Zusammenhang eine neue Phase erst seit Mitte der 1970er Jahre mit den Arbeiten von Tamara Lewaja ein. Vgl. dazu Polyfonija w krupnych formach Hindemita [Polyphonie in großen Musikformen bei Hindemith], in: Polyphonie. Hg. Kira Juzhak. Moskau 1975, 141–172; Sootnoschenija gorizontali i wertikali w fugach Schostakowitscha i Hindemitha [Das Verhältnis zwischen Horizontale und der Vertikale in den Fugen von Schostakowitsch und Hindemith], ibid., 228– 248; Polyfonitscheskije wospominanija: iz perepiski s W. P. Bobrowskim [Polyphonische Erinnerungen: aus dem Briefwechsel mit W. P. Bobrowski], in: Zhizn’ musyki [Das Leben der Musik] (Zum 100. Geburtstag von Viktor Petrowitsch Bobrowsky). Hg. Eugenia R. Skurko und Eugenia I. Tschigariowa. Moskau 2009, 39–54. 67 Soobšcenie o Mez ¡dunarodnom Simpoziume, Posvjašcennom Dmitriju Šostakovicu [Bericht über das Internationale Dmitri-Schostakowitsch-Symposium]. Köln 1985. Hg. Klaus Wolfgang Niemöller und Wsewolod Zaderatzkij. Regensburg 1986. Dazu ist anzumerken, dass zu der Zeit des Symposiums die Schriften von Jurij N. Cholopow über Hindemith bereits erschienen waren (Jurij N. Cholopow, Problema osnownogo tona akkorda w teoreticheskoj konzepzii Hindemita [Das Problem des Akkordgrundtones im theoretischen Konzept Hindemiths]), in: Musyka i sowremennost’ [Musik und Gegenwart]. Zusammengestellt Tatjana A. Lebedewa. Moskau 1962, Bd. 1, 303–338; O trioch zarubezhnych sistemach garmonii [Über drei ausländische Harmoniesysteme], in: ibid., Bd. 4, 216– 329), ebenso wie die im vorliegenden Beitrag mehrmals erwähnte Monographie von Lewaja und Leontjewa, Paul Hindemith (wie Anm. 64) und die Aufsätze von Lewaja (dazu Anm. 66). 68 Siehe Lewaja und Leontjewa, Paul Hindemith: Zhizn’ i twortschestwo (wie Anm. 64), 346, sowie 338–347. 69 Die ersten Aufnahmen der Sinfonie in Es haben Otmar Suitner mit der Berliner Staatskapelle und Adrian Boult mit dem London Philharmonic Orchestra gemacht, wobei die Aufnahme von Suitner (LP: Eterna 825843, CD: Denon, COCO 80012) nicht datiert ist
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Deshalb lässt sich auch die Frage nicht abschließend beantworten, welche Notenausgabe Schostakowitsch bei der Umsetzung dieser Sinfonie benutzt hatte: in der privaten Bibliothek Schostakowitschs, welche Krieg und Umzug unbeschadet überstanden hat, findet sich kein Exemplar dieser Sinfonie und in der Notensammlung des Moskauer Komponistenverbandes ist ebenfalls kein Exemplar nachgewiesen. Mein Fund in der Bibliothek des Glinka-Museums für Musikkultur belegt aber, dass die im Mainzer Verlag B. Schott’s Söhne erschienene Studienausgabe der Sinfonie in Es zumindest in Moskau bekannt gewesen sein musste – und vermutlich handelt es sich dabei um die Ausgabe von 1943.70 Zudem war es damals unter Musikern durchaus üblich, Musikaufnahmen und Partituren auszutauschen. Auf diese Weise kursierten in der Sowjetzeit Fotokopien der Partituren der Komponisten der Zweiten Wiener Schule sowie des späten Strawinskij und von Boulez, Stockhausen, Varèse und Xenakis. Aufgrund dieser Praxis waren auch viele Exemplare aus der privaten Notensammlung von Edison Denissow greifbar, weil er darum bemüht war, möglichst vielen jungen Leuten die moderne Musik nahe zu bringen. Ähnlich ging Druskin vor, der seine aus dem Ausland mitgebrachten Partituren moderner Komponisten den Kollegen „zum Wachsen“ (wie er es selbst ausdrückte) zur Verfügung stellte. Zweifellos hatte Schostakowitsch großes Interesse an solchen „Neuerscheinungen“. Bereits 1934 erwähnte er in einem Brief an die Harfenistin Wera Dulowa, mit der er seit den 1920er Jahren71 befreundet war, ein Konzert von Hindemith:72 „[…] das Konzert von Hindemith interessiert mich (siehe http://daphne.fc2web.com/suitner-dis.htm, letzter Zugriff 26. Feb. 2011) und jene von Boult vermutlich 1958 entstand (Everest 6008, 3008), dem Gründungsjahr der Firma Everest (dazu http://www.bing.com/reference/semhtml/Everest_Records#s60, letzter Zugriff 26. Feb. 2011). Angaben in Lewaja und Leontjewa, Paul Hindemith: Zhizn’ i twortschestwo (wie Anm. 64), 438. 70 Siehe: http://www.paul-hindemith.org/content/view/116/142/lang,en/ (letzter Zugriff 26. Feb. 2011). Zur gleichen Zeit, 1943, wurde von Horst Günther Schnell der Klavierauszug der Sinfonie in Es hergestellt, welchen Schostakowitsch offenbar nicht gekannt hatte. In der Sowjetunion erschien der Klavierauszug erst 1976, und zwar im Moskauer Verlag Muzyka. 71 Unter den Bildern von Schostakowitsch gibt es ein Foto (1927, Berlin), auf dem eine Gruppe junger Musiker dargestellt ist: Alexander Knorre, Dmitrij Schostakowitsch, Wera Dulowa (mit einer Puppe in den Händen) und Lev Oborin. Veröffentlicht in: Sofia Chentowa, D. Schostakowitsch. Zhizn’ i tworchestwo [D. Schostakowitsch. Leben und Schaffen]. Leningrad 1985, Bd. 1, 160. 72 Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Konzert (die Konzertmusik) für Klavier, Bläser und zwei Harfen op. 49 von 1930; dabei bleibt aber unklar, ob die Partitur (ED 3248, Franz Willms) oder die Schallplatte (Aufnahme der Deutschen Grammophon 18474 mit Monique Haas (Klavier) und Hindemith als Dirigent) gemeint ist.
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sehr. Ich denke an Ihr Versprechen und bitte Sie, es bis zu meiner Ankunft zurückzuhalten. Ich komme bestimmt bald.“73 Auch versorgte Grigorij Schneerson Schostakowitsch mit Notenmaterial. Zwar taucht der Name „Hindemith“ in dessen Sammlung nicht auf, die seine Familie 2002 der Handschriftenabteilung des Glinka-Museums übergeben hatte, ebenso wenig wie in der umfangreichen Korrespondenz.74Aber meiner Meinung nach ist das insofern nicht von großer Bedeutung, als angenommen werden kann, dass Schneerson aufgrund seiner besonderen beruflichen und gesellschaftlichen Stellung mit Hindemiths Musik und entsprechendem Notenmaterial in Berührung kam.75 Er leitete während Jahrzehnten Abteilungen innerhalb des Komponistenverband der UdSSR, der in direktem Kontakt mit dem Ausland stand.76 Er beherrschte mehrere Fremdsprachen und korrespondierte mit ausländischen Kollegen; alles, was der Komponistenverband der UdSSR aus dem Ausland erhielt, stand ihm deshalb zur Verfügung. Außerdem sah er die dem Komponistenverband zugesandten Rezensionen aus der westlichen Presse durch und übersetzte sie für Schostakowitsch.77 Es lässt sich deshalb vermuten, dass der Verlag B. Schott Söhne Schneerson persönlich (oder der Auslandskommission des Komponistenverbandes) Partitur(en) von Hindemith zukommen ließ. Diese Vermutung wird auch durch den Umstand gestützt, dass Schneerson korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (Ost), Sektion Musik, war, was ihm Zugang zu Notenmaterial anderer europäischer Verlage verschaffte. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass er während einer Begegnung mit Schostakowitsch diesem die Partitur der Sinfonie in Es von Hindemith übergab. 73 Wera Dulowa, „W kazhdoj mojej notje jest’ kaplia mojej zhiwoj krowi” [„In jeder meiner Note ist ein Tropfen meines lebendigen Blutes“]. Briefwechsel zwischen Dmitrij Schostakowitsch und Wera Dulowa (1934–1939). Hg. Elena Dulowa, in: Nashe nasledije [Unser Erbe] 79– 80 (2006), 161–169. 74 Natalia J. Tartakowskaja, Fond G. M. Scheiersona w GZMMK im. M. I. Glinki [Der Fonds von G. M. Schneierson im Zentralen Staatlichen Glinka-Museum für Musikkultur], in: Westnik archiwista [Informationsblatt des Archivisten] 2/68 (2002), 231–234. 75 Schneerson verfasste die ideologisch einseitige und stark „antibürgerliche“ Schrift O musyke zhiwoj i miortwoj [Über lebendige und tote Musik], welche bei mehreren Musikergenerationen verpönt war; er ist aber auch der Verfasser der viel gelesenen Bücher Franzusskaja musyka XX weka [Französische Musik des XX. Jahrhunderts] (Moskau 1964) und Ernst Busch i jego wremia [Ernst Busch und seine Zeit] (Moskau 1971). 76 Beispielsweise die Außenkommission im Komponistenverband der UdSSR (ab 1936), die Unionsgesellschaft der kulturellen Verbindungen mit dem Ausland (WOKS, ab 1936 als Berater, und von 1942 bis 1948 als Leiter der Musikabteilung) sowie die Außenabteilung des Magazins Sowjetskaja musyka [Sowjetische Musik] (1948–1961). 77 Dazu Svetlana S. Martynowa, Schostakowitsch i WOKS [Schostakowitsch und WOKS] (1941– 1958), in: Dmitrij Schostakowitsch w pismach i dokumentach (wie Anm. 37), 351–366.
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Ein ganz anderes Problem ist aber, weshalb Schostakowitsch den von ihm begonnenen musikalischen Satz nicht beendet, sondern gar an einer syntaktisch relevanten Stelle abgebrochen hatte, und zwar im Moment der höchsten tonal-harmonischen, zur Auflösung strebenden Spannung. Die Exposition blieb ohne ihre zweitaktige Abschlusspassage unaufgelöst. Der Gedanke, dass es wenigstens noch ein weiteres, heute verschollenes Einlageblatt gab oder dass der Schluss der Exposition auf einer Skizze zu einem anderen Werk überliefert ist, ist deshalb sehr verlockend.78 Dieser Vermutung widerspricht aber die bereits erwähnte leere Rückseite des zweiten Notenblattes. Und andere Skizzen Schostakowitschs, die auf „halber Strecke“ aufgegeben wurden und in diesen „Krisenjahren“ relativ zahlreich sind, belegen zudem, dass er die Arbeit grundsätzlich in jedem Moment abbrechen konnte.79 Eine andere Frage betrifft die Umstände und Gründe der Klaviertransposition. Vermutlich handelte er aus einem unmittelbaren künstlerischen Impuls heraus, d. h. unter dem frischen Eindruck der Musik selbst, wofür mehrere Gründe sprechen. Erstens entflammte die Bekanntschaft mit dem neuen Werk Hindemiths die in Schostakowitsch seit den 1920er Jahren lebende Begeisterung für die Musik Hindemiths. Zweitens ist es auch möglich, dass Schostakowitsch zu den bereits bestehenden und vielleicht gar geplanten Bearbeitungen von Kompositionen anderer Komponisten (von Strawinskij, Hindemith und später Honegger), welche er – wie gezeigt – um diese Zeit in Angriff nahm bzw. nehmen sollte, gleichsam auch zur Hindemith-Arbeit inspiriert wurde, welche dann aber aus politisch-ideologischen Gründen zur Seite gelegt und, etwas später, vergessen wurde.80 78 Über das Verhältnis Schostakowitschs zum Notenpapier siehe Olga Digonskaja. „…Uzhasnoje oschtschuschtschenije byt’ zawisimym ot notnoj bumagi“ [„…Schreckliches Gefühl, von dem Notenpapier abhängig zu sein“], in: Dmitrij Schostakowitsch w Leningradskoj konserwatorii [Dmitri Schostakowitsch im Leningrader Konservatorium], 2 Bde., 1919–1930. Hg. Liudmila Kownazkaja. Sankt Petersburg 2011 (im Druck). 79 Siehe Olga Digonskaja, D. D. Schostakowitsch. Simfonitscheskij fragment 1945 goda [Das symphonische Fragment von 1945]. Moskau 2008, 5–7, und Olga Digonskaja, O njekotorych njerealisowannych symfonitscheskich zamyslach Schostakowitscha [Über einige nicht realisierte symphonische Ideen von Schostakowitsch] (Nach den Skizzen), in: Pamiati Druskina [Zum Andenken an M. S. Druskin], 2 Bde. Bd. 1: Statji. Wospominanija [Beiträge. Erinnerungen]. Hg. Liudmila Kownazkaja et al. Sankt Petersburg 2009, 408–449. 80 Vergleiche die von mir entdeckte Finnische Suite, die im Dezember 1939 komponiert wurde. Dazu auch Arkadij Klimowitzkij, Suita na finskije tjemy – njeizwestnoje sotschinjenije Schostakowitscha [Die Suite über finnische Themen – ein unbekanntes Werk von Schostakowitsch], in: Schostakowitsch: mezhdu mgnowienijem i wetschnostju [Schostakowitsch: zwischen Augenblick und Ewigkeit]. Hg. Liudmila Kownazkaja. Sankt Petersburg 2000, 308–32, und Olga Manulkina, Zakaz Stalina k wizitu Putina [Stalins Auftrag zu Putins Visite], in: Kommersant 160 (5. Sept. 2001), 10.
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Aber gänzlich vergessen wurde die unfertige Arbeit trotzdem nicht. Sie zeigt vielmehr einen sehr engen Zusammenhang mit anderen um diese Zeit aktuellen musikalischen Projekten „in Es“, d. h. mit dem Trio Nr. 2 op. 6781 und dem Quartett Nr. 2 op. 68.82 Zudem scheint die unbeendigte Arbeit einen unmittelbaren Bezug zu Skizzenmaterial der Neunten Symphonie zu haben,83 wie Olga Digonskaja in ihrer Untersuchung über ein paar nicht ausgeführte symphonische Ideen Schostakowitschs festgestellt hat:84„Der Charakter des musikalischen Materials der Skizzen weist auf eine große symphonische Idee, und diese Idee war 1944 die Neunte Symphonie.“85 Es ist in diesem Zusammenhang deshalb nicht abwegig die hier diskutierte Klavierbearbeitung zu den von Digonskaja erwähnten Skizzen zu zählen und in ihnen eine Art symphonisches Fragment bzw. eine „ProtoNeunte“ zu sehen, auch hinsichtlich der Tonart. Diese Tonart sowie der auffällig willensstarke Charakter der Musik eines schnellen Marsches stellen eine Beziehung zur Sinfonie in Es von Hindemith her. In diese Beziehung fügt sich auch Schostakowitschs Beschreibung des Klaviervortrages der „Proto-Neunten“: Tempo Allegro. In der Musik hört man einen schnellen, nervösen, angestrengten Schritt. Fliegende, starke Sätze laufen zu einem Focus zusammen, alles ist sehr konzentriert und zentripetal. Marsch-Rhythmen und aufgeregter Puls stacheln auf. Kein einziger banaler Takt, kein Kokettieren mit dem „breiten Publikum“.86
Diese Beschreibung, wie auch Schostakowitschs Äußerung gegenüber seinen Studierenden, dass die „Proto-Neunte“ „mit einem großen Tutti“ beginne,87 erinnert eher an die Sinfonie in Es von Hindemith mit ihrer dichten Orchesterfaktur und ihrer schnellen Bewegungsdynamik als an Schostakowitschs Neunte in ihrer endgültigen Fassung von 1945.
81 Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Fond 2048, Bestandseinheit 28. 82 Staatliches Zentrales Museum für Musikkultur, Fond 32, Bestandseinheit 74. 83 Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Fond 2048, Verzeichnis 1, Bestandseinheit 63, Blatt 17 („Vereinzelte Blätter zu verschiedenen Werken“). 84 Digonskaja, O njekotorych njerealisowannych symfonitscheskich zamyslach Schostakowitscha (wie Anm. 79), 428–433. 85 Digonskaja. D. D. Schostakowitsch. Simfonitscheskij fragment 1945 goda (wie Anm. 79), 5. 86 Archiv von Schostakowitsch, Fond 4, Teil 2, Bestandseinheit 1, Blatt 1 (Rückseite), Bestandseinheit 2, Blatt 2 (Rückseite). Ich danke Irina A. Schostakowitsch für die Erlaubnis, das nicht veröffentlichte Tagebuch von Isaak D. Glikman zu zitieren. Ich bedanke mich auch bei Olga Digonskaja, die mir ein Zitat aus dem Tagebuch, an dessen Herausgabe sie zurzeit arbeitet, zur Verfügung gestellt hat. 87 Makarow, Dniewnik. Wospominanija o mojom utschitele D. D.Schostakowitsche (wie Anm. 4), 22.
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Interessant ist in diesem Zusammenhang schließlich auch, dass Schostakowitsch selbst in der endgültigen Fassung seiner Neunten Symphonie auf typische Elemente der Sinfonie in Es referiert. Denn das für Hindemiths Themenbildung charakteristische eröffnende Quarten-Tutti-Motiv und die schnelle Marschbewegung sowie die damit verbundene polyphone Erweiterung der Sonatenform88 scheinen in der Neunten in modifizierter Form auf: der Trompetenruf in Quarten (gestaltet nach der Art Mahlers als ein plötzliches und raues Fortissimo), unterstützt durch Pauken, Triangel und Tamburin sowie durch Akkorde der Streicher im Pizzicato, erscheint in Schostakowitschs Symphonie regelmäßig in den Seitensatzteilen, in welchen sich eine Zäsur einstellt und strukturell ein „Einatmen“ auskomponiert ist, so als ob die Musik Atem für die Marschbewegung holte. Formal realisiert Schostakowitsch aber eine kleinformatige Sonatenform mit einfacher und klarer Faktur, die in nichts an die dichte, eher mit Bruckner verwandte Gestaltung der „polyphonen Sonate“ (Tamara Lewaja) im ersten Teil der Sinfonie in Es von Hindemith erinnert. Zur vierhändigen Umsetzung der Sinfonie in Es von Hindemith lässt sich abschließend noch bemerken, dass sie eng mit einem Wunsch aus den 1920er Jahren verbunden ist: Damals nahm sich Schostakowitsch vor, Hindemiths Konzert für Orchester op. 38 zu arrangieren, welches ihn – wie ausgeführt – in jenen, von ihm selbst als „krisenhaft“ empfundenen Jahren, tief erschütterte und zugleich schöpferisch anregte. Zwanzig Jahre später und in einer nicht minder belastenden Situation musste Schostakowitsch sich gleichsam der befreienden Kraft sowie der schöpferischen Wirkung erinnert haben, welche Hindemiths Musik in ihm einst bewirkte. Es ist deshalb durchaus möglich, dass die Umsetzung der Sinfonie von Hindemith nun abermals eine schöpferische Energie auslöste, welche Schostakowitsch nun aber nicht mehr in die Bearbeitung selbst investieren wollte, sondern in ein neues eigenständiges Werk, nämlich seine Neunte Symphonie op. 75 (1945), welche – wie gezeigt – Hindemiths Werk nahe steht. Vor diesem Hintergrund versteht sich Stefan Weiss’ Beurteilung der 1930–50er Jahre als eine in Schostakowitschs Biographie schwierige Phase, in welcher er den Weg von der Empfehlung an seine Studenten, bei Hindemith zu lernen, bis zum (politisch erzwungenen) Verschweigen des
88 Diese Technik referiert auf den ersten Teil der Sonate Nr. 8 c-Moll op. 13 (der „Pathétique“) von Beethoven. Die Themen der Sonatenform bei Hindemith sind auf dem FanfareMotiv aus der Introduktion aufgebaut.
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deutschen Kollegen zurückgelegt hatte.89 Doch die Hinwendung zu Hindemith als einem verborgenen „Mitautor“ zeigt in dieser kritischen Situation nicht nur Schostakowitschs wahres Verhältnis diesem verehrten Kollegen gegenüber, sondern offenbart in letzter Konsequenz auch die verbotene Wahrheit.
89 Weiss, Schostakowitsch … Hindemith: Sechs Relationen (wie Anm. 6).
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A Mid-war Night’s Dream: Shostakovich’s Lullaby Olga Solomonova
Dmitri Shostakovich’s Lullaby for voice, choir and piano, written to a text by the Soviet poet Mikhail Svetlov (1903–64), is the first of the two songs of opus 72, entitled “Two songs on words by Svetlov”. Here the events of the first phase of the Second World War, in the Soviet territory called the Great Patriotic War (1941–45), are reflected.1 In the complete edition of Shostakovich’s works, we read that the Lullaby and the Song of Flash-light (torch) were written for the theatrical presentation Victorious Spring (scenario by Volpin, Dobrovolsky and Erdman) staged by Sergei Yutkevich for the Ensemble of song and dance in the Dzerzhinsky Central club.2
The performance took place on 8 May 1946. This opus has been ignored so far by Shostakovich scholars.3 One of the reasons is probably the fact that the Ensemble belonged to the odious NKVD (People’s Commissariat for Internal Affairs), whose activity was directly connected with political repression in the 1930s and 1940s. The origin of these songs is obscure, first of all because their autographs are lost.4 Although no further information about Victorious Spring is available, it is quite impossible that these two songs were the only music used in the spectacle for a celebration of the first year of the Victory in 1945. In the Soviet Union, no event of this nature could have been commemorated without solemn and pompous hymns and apotheoses. Since no other compositions by Shostakovich for this occasion exist, my supposition is that the composer was not commissioned to write music specifically for this 1
2 3
4
The English version of this article has been prepared by Elena Abramov-van Rijk, to whom I am indebted for her comments and suggestions as well. I am also grateful to Bonnie Blackburn for her editing. In the text the siege of Moscow during the winter of 1941–42 is mentioned. Lev Solin, Complete Works by Shostakovich. Moscow 1986, vol. 28, 30. In the monographs about Shostakovich by Levon Hagopian, Lev Danilevich, Crzistof Meyer, and Marina Sabinina, it is only listed, and in the most comprehensive Soviet study by Svetlana Khentova it is not mentioned at all (Ñ.Ì. Õåíòîâà, Øîñòàêîâè÷. Æèçíü è òâîð÷åñòâî. –  2-õ òîìàõ. – Ë.: Ñîâ. êîìïîçèòîð, 1985–1986. [Svetlana Khentova, Shostakovich: zhizn’ i tvorchestvo [Life and works]. Leningrad 1999, 2nd ed.]). “The whereabouts of the autographs is unknown” (Somin, Complete Works (as note 2), vol. 30, 6). I am grateful to Olga Digonskaya, the research assistant of the Shostakovich Archive in Moscow, for checking this information.
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presentation, but that the music was a collage of compositions by different composers, perhaps originally written earlier for other purposes and under other circumstances. Textual and musical analysis of the Lullaby reveals that this small work embodies two tendencies that characterized the main trend in Soviet art during the Great Patriotic War. These are the “intimization” of political values and the “heroization” of intimate values. Lullabies are a basic genre of familial folk singing, and they often had a charming and enchanting character. As a genre of a delicate intimacy, manifesting the eternal union between mother and child, the lullaby has never ceased to lose its significance. However, the evolution of the Slavic lullaby under the circumstances of the new era was not simple and linear. Not by chance, ethnomusicologists believed that the lullaby had disappeared in the twentieth century. The pessimistic comment by Yuri Sokolov, an historian of culture of the early Soviet era that “the traditional lullaby either will die out entirely or will be significantly altered both in form and content” is a good example of this concept.5 Whereas theories as to the lullaby’s demise turned out to be exaggerated, the other prognosis came true: in the new reality, the genre acquired new features, some of them controversial, and it lost many of its typical traits. During the Second World War, the process of modifying the Soviet lullaby increased. A new category of lullaby appeared, the so-called military lullaby, whose military-patriotic content was determined by the requirements of the time. Many of the newly written poetic lullabies were immediately set to music, for example Marine Lullaby by Vassilij Lebedev-Kumach (music by Valentina Makarova and Ludmila Shulhina), Leningrad Lullaby by Olga Bergolts (music by Makarova), the lullaby from Tale of a Soldier by Alexej Fatianov (music by Vassilij Solovey-Sedoy), Partisan Lullaby by Leonid Pervomaisky (music by Iliya Vilensky), and many others. Their very titles reveal their politicized outlook. What are the reasons for the fervid attention of Soviet composers to lullabies during the Great Patriotic War, since there would seem to be no active impetus for the function and specific qualities of this genre? One answer was apparently an indispensable quality of lullaby, which became widely sought after during the Soviet period and especially during the war, namely its magical connotations. In this connection the ethnomusicologist Valentin Golovin notes, although without going into the question of the origin and consequences of the phenomenon: 5
Þðèé Ñîêîëîâ, Êîëûáåëüíûå ïåñíè //Ëèòåðàòóðíàÿ ýíöèêëîïåäèÿ: Â 11 ò. [Yuri Sokolov, Lullaby song, in: Literary encyclopaedia, 11 vols.], Moscow 1931, vol. 11, 388–390.
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Soviet ideological culture readily used universal genre models, such as the cradle song, because the influence of this genre was very strong since it originated in folk art and thus was marked with indispensable magical connotations.6
Indeed, the ancient lullabies were means of protection, using the magical power of word and music. They calmed and protected the child. It was believed that they were an efficient spell for a better future: they averted danger and evil and helped to grant wishes. In time, this magical function became less evident, though it continued to appeal to modern people. Among the devices used in the lullaby to bring its psycho-emotional, or better imperative-hypnotic, influence on listeners, are repetitive motives, plain rhythm, rocking melody, etc. In short, complex of means of musical expression penetrate the deepest levels of consciousness.7 It was apparently these characteristics that made the lullaby a favourite genre during the war, when much depended on faith in victory and the necessity of an optimistic mood. To the above-mentioned general features of the cradle song another was added during the Great Patriotic War: the metrical-rhythmic link with the genres of the march and working song (in the new Soviet version), which were actively used and cultivated in Soviet mass art. In the Soviet space, the march achieves the highest status. That it penetrated all aspects of Soviet life down to the most intimate is well demonstrated in the poem Song of the advance guard (1926) by Vladimir Mayakovsky (1893–1930): “We have marches both for love and for fighting.” Not only to go to beloved women but also to sleep sweetly “to the sounds of march” was a normal Soviet attitude. The link between the march and the cradle songs is an unambiguous sign of the spirit of the time, when the march aggressively entered into the lyric sphere. Such a symbiosis with the lullaby rendered the lullaby substantially more heroic, adapting it to the demands of the new socialistic art, with its melodic and rhythmic clichés inculcated by Socialist Realism.8 6
7
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Valentin Golovin, Russian lullaby song in folklore and literature. Sankt Peterburg 2000, 307. See also Felix J. Oinas, The Political Uses and Themes of Folklore in the Soviet Union, in: Journal of the Folklore Institute 12 (1975), 157–175. Konstantin Bogdanov observed in this regard: “folklore is rich in rhythmic texts and the latter have a hypnotic effect on emotions and psychics” (Konstantin Bogdanov, The Right to dream and conditional reflexes: lullaby songs in Soviet culture (1930–1950), http:// magazines.russ.ru/nlo/2007/86/bo1.html (accessed 30.08.2011). //Áîãäàíîâ Êîíñòàíòèí, Ïðàâî íà ñîí è óñëîâíûå ðåôëåêñû: êîëûáåëüíûå ïåñíè â ñîâåòñêîé êóëüòóðå (1930–1950-å ãîäû) // Ýëåêòðîííûé ðåñóðñ: magazines.russ.ru/nlo/2007/86/bo1.html. In Western musicology the topic of Socialist Realism in music is scarcely touched, since it is considered as even less deserving of attention than literature and the arts. Marina Frolova-Walker notes in this regard: “It was not that long ago that Socialist Realism was virtually a taboo topic in Western scholarship. In 1981 Katerina Clark (author of a pio-
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In this way an intimate genre like the cradle song was turned into a kind of patriotic art, which in a certain sense confirmed the feasibility of the idea that cultural values could be “handed down” from above by the authorities. The lullaby became a genre “not only open to politically correct content, but it also radically changed the notions about the confines between the private and the public space.”9 Another reason for the great popularity of the cradle song during the war seems to have been its educational function and its appeal to the younger generation. According to documents of that period, composers who wrote music for children had to bear in mind, first and foremost, its ideological function in bringing up a young communist. In this regard the music pursued a goal of “socializing the individual”.10 Shostakovich’s Lullaby on the text by Svetlov presents a very curious example of such a transformation in the genre of the cradle song. In order to understand the peculiarity of this piece let us first summarize the features of the normal cradle song. A typical lullaby, one of the oldest musical genres, has a set of longestablished qualities in its imagery and poetic-musical language, deriving from its function of lulling and defending the child. Especially important is the unity of music, word, and rhythm, in which the content, motion, and mood are harmoniously combined with each other. This unity results in a specific performance, namely in the tranquil, almost hypnotic, singing in a soft voice accompanied by the rocking in the mother’s arms. The melody usually has a narrow melodic range with alternately ascending and descending motion, performed by soft and low female voice. The monotonous and continuous motion of the rocking cradle dictates the metric-rhythmic structure of the song: in the Slavic lullaby it is in binary rhythm with mostly equal durations and a very long final sound at the end of each phrase. The melody of most folk lullabies is based on the tonic third, frequently approached by the lower fourth and second, sometimes with the alteration of the second degree. (In the “dramatic” lullabies11 there are more expressive intervals, such as diminished fourths and thirds and even tritones.)
neering volume on the Soviet novel) wrote that in the field of Slavic studies, it seemed barely possible to write of Socialist Realist works unless one adopted ‘tones of outrage, bemusement, derision, or elegy’. The same could be said of Socialist Realist music, insofar as it was known at all.” [Marina Frolova-Walker, Stalin and the Art of Boredom, in: Twentieth-Century Music 1/1 (2004), 101]. 9 Bogdanov, The Right to dream and conditional reflexes (as note 7), 9. 10 See, for example, Lisa Kirschenbaum, Small Comrades: Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917–1932. New York 2001, 62. 11 In the Ukrainian, Russian and Belarusian context there were also so-called “lullabies for death”. They were sung to unwanted children in the poor families, especially to girls.
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The strophic structure is simple and clear, often composed of two verselines with paired rhymes; the number of strophes is not determined and, in fact, the song is designed in many cases to end when the baby falls asleep. The softness of the words and the serene mood are typical of the poetics of the lullaby, which usually speaks about goodness, beauty, calm and protected sleep, a safe dwelling, etc. Phonetically, the texts abound in assonances on the vowels a-a-a, e-e-e and contain lulling words, such as “baiu-bai”, “lulli-lulli”. The chthonic image of Sleep (a Slavic equivalent of Morpheus) in its multifarious variants, the images of animals (most often, a cat) and birds, and the members of family are the main protagonists of these songs. Sometimes there are philosophical meditations on life, destiny, the future, etc. Repetitions, rhetorical questions, metaphors and analogies, childish language, and diminutive forms are very typical of cradle songs as well. The cradle song, like any other song, reflects the spirit of the time and adopts its semantics. Furthermore, because of their particular intimacy, in some of the cradle songs set by composers the author’s perception of life is revealed more than in any other genre, as for example in the Macabre-Lullaby by Modest Musorgsky from his Songs and Dances of Death (1875), or in the typically Soviet Lullaby from the movie Circus (1936), very enthusiastic and watchful (“all people around must be asleep, but not in their workplace”). Naturally, the lullabies composed during the Great Patriotic War were adapted to the conditions of the time, and primarily in terms of their content. From this point of view, the Shostakovich/Svetlov Lullaby is a perverted lullaby, as its poetic text shows: Ãóäèò ìîòîð â ìîë÷àíèè íî÷íîì, Íî òû óñíè ñïîêîéíûì, òèõèì ñíîì. Ïðîæåêòîðîâ òðåâîæíûå îãíè; Ìû íå óñíåì, à òû, äèòÿ, óñíè. Óñíè, óñíè, â ïûëàþùåé íî÷è; Íåñóò ñâîè äåæóðñòâà ìîñêâè÷è. Ìû íå óñíåì, à òû ãëàçà ñîìêíè. Ìû íà ïîñòó, äèòÿ ìî¸, óñíè. Íàñòàíåò äåíü, è òðóáû çàïîþò, È íàä ñòîëèöåé çàãðåìèò ñàëþò. Îíè ïðèäóò – ïîáåäû íàøåé äíè. Îíè ïðèäóò, à òû ïîêà óñíè.
The engine roars in the night silence But you must sleep in tranquil dream. The projectors emanate anxious lights; We will not sleep but you, my baby, will. Sleep, sleep, in the fiery night; The Muscovites are on duty. We will not sleep but you must close your eyes. We are at our post, my child, go to bed. The day will come and the trumpets will sound, And above the city the salute will be in the air. They will come – the days of our victory. They will come but you must sleep meanwhile.
The text is far from that of the typical cradle song with its dozing improvisation and slow threading of images. The absence of the usual lullaby words (“baiu-bai”) is telling as well. In this song, which should have sent a child contentedly to sleep, there are frightening counter-sleeping images: a roaring engine, dazzling lights, blaring trumpets and thundering fireworks.
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It is worth noting that Mikhail Svetlov was one of the most ironic and sensitive poets of the USSR who remarked, in 1928, of poor poetry that “It results in something moralizing and anti-artistic, with an indecently unbuttoned official commission”.12 Why then, did Svetlov, the author of fine poems, aphorisms and puns, write such an indigestible text? And why did Shostakovich respond to this extravagant poetic proposal? Is it true that this perfect artistic duo found itself captured by this “indecently unbuttoned official commission”? It is hardly thinkable that the poet and the composer simply fulfilled an official commission in order to gain favour with the authorities. Shostakovich was very sensitive to news from the front and he even took part in some war efforts. His very life in that period was evidence of his soul’s need to be useful to the Fatherland.13 Many other artists shared these feelings. However, the production of art under such conditions was in many instances premature and impulsive. It appears that this Lullaby by Shostakovich/Svetlov was one such instance of a prompt reaction to the terrible events of war, so that the sincerely-felt need to express a patriotic impulse could hardly have avoided the clichés and ritual lexicon of Socialist Realism. The very fact that the Lullaby was designed for a choir explicitly demonstrates its adaptation to the canons of Soviet mass songs. However, for this stylistic choice, by both the composer and the poet, there might be another reason as well: both artists expressed – one through words and the other through music – the paramount idea of the abnormality of war, which turns the normal world upside down. From the point of view of the style and characteristics of the genre, the Shostakovich/Svetlov Lullaby is a kind of oxymoron. Above all, the melody of the song is, in many aspects, that of a march as can be seen from the opening few bars shown in example 1 below: Ex. 1
12 Mikhail Svetlov, Conversations. Moscow 1969, 202. Emphasis by the author of this paper. 13 Shostakovich took part in the fire brigade of the Leningrad conservatory, in concert groups for fronts, etc.
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The cheerful mood of the Lullaby, its enthusiastic major, and the heroic motives are alien to this genre. We see here an iambic upbeat on the ascending fourth in the melody which traces the tones of the second inversion of the tonic chord. It is especially absurd at the beginning of the second strophe, with the words “sleep, sleep”. At the end of the first phrase, the wish to “sleep tranquilly and serenely” is accompanied by the sharp transition into the tonality of the dominant (b. 5). Elsewhere, the words about calm sleep are followed by two triads on the diminished sixth degree, and in other places they are accompanied by a diminished third in descending movement and quite harsh harmonic sequences based on the tritone. These are only few of such examples. The melody of this composition amusingly resembles Robert Schumann’s The Happy Farmer, Returning from Work from the Album for the Young. For the Russian listener, it inevitably evokes associations with the marchsongs by Isaak Dunayevsky from the Soviet movies of the 1930s, and especially the song The Merry Wind from the movie The Children of Captain Grant (1936). However, the most likely source of inspiration for the lullaby melody is to be sought in the works of Shostakovich himself, in his popular hit, Song of the Counter-plan,14 composed in 1932 as shown here in example 2: Ex. 2
The Lullaby can be considered a kind of inversion of the Song of the Counterplan, both musically and textually. The melodic basis in both is the same I6/4 chord with the upper sixth, but the melody of the Lullaby almost exactly mirrors the melody of the Song of the Counterplan: whereas the 14 The counterplans were an important component of Soviet life. Their very idea appeared together with a genuine innovation of the Soviet economy at the end of the 1920s, namely, the general economic five-year plans, which were supposed to regulate the industrial development of the country. It may seem quite illogical that the authorities encouraged the workers to put forward counterplans with much greater data but this practice, usually accompanied by overblown enthusiasm, worked up to the end of the Soviet system.
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latter starts with the motive of the upper sixth and then proceeds down to the lower fourth, the former does the contrary. The text of the Song of the Counterplan calls for waking up in the fresh optimistic morning with the words “don’t sleep, get up!” practically on the same motive that in the Lullaby calls for sleeping. This allows the hypothesis that Shostakovich intended this juxtaposition of the two songs in the mind if not in publication. Even if it is only a supposition, it cannot be denied that the composer could have used an inverted self-quotation. That the Song of the Counterplan was especially significant for Shostakovich can be inferred from the fact that he used it again as a self-quotation in his Poem of the Motherland (1947).15 This research unveils the ambivalent character of Shostakovich’s Lullaby and suggests that a definitive verdict regarding the composer’s intention is hardly feasible. Was it a product of a sincere patriotic impulse and a natural outcome of the time, with its preference for march melodies and rhythms – here, however, spiced with a certain amount of irony? Or, on the contrary, was it an awkward attempt to conform to the demands of the period, resulting in this quickly composed opus, which apparently contradicts the stylistic credo of the composer himself and, therefore, was doomed to oblivion? This question remains open. But it is important, in this case, to show that generic-stylistic ambience is not a stable entity: the distortions within traditional genres, in fact, provide us with invaluable information that shows a more genuine portrait of the epoch and that enables a more authentic perception of the contemporary landscape of culture.
15 As Frolova-Walker observes, in this composition he “tells the history of the Soviet Union through familiar songs dating back to the Revolution, the Civil War, the New Economic Policy, and so on. When the narrative reaches the 1930s, an apparently individualistic element suddenly appears – the quotation of a song written by Shostakovich himself, A Song of the Counterplan.” (Frolova-Walker, Stalin and the Art of Boredom (as note 8), 106.)
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Alberto Ginastera and the many meanings of Bearbeitung1 Malena Kuss
Relevant to the progress of Ginastera’s method in the 53 works with opus numbers he completed between the ballet Panambí, Op. 1 (1934–1937) and the Sonata No. 3 for piano, Op. 54 (1982) is Schoenberg’s concept of the compositional idea as an entelechy, an energy or impulse that is always more than any of its presentations in a specific composition. In Ginastera’s case, an idea would be rekindled in multiple presentations, creating a network of intratextual relationships within the vast canvas of his total œuvre that defies any attempt to stereotype clusters of works under chronologically defined “creative periods.” The process of recomposing materials from one work in another reveals its full complexity only in the intricate roadmap disclosed by the sketches.2 As one of the trademarks of his compositional poetics, Ginastera’s act of “rewriting” can involve a generative element from a previous work or a complete previous enunciation in a metamorphosis, commentary, or arrangement of his own source or sources, rendering each of these specific presentations as a work in progress. One of the most complex cases of interpenetration of materials in works dating decades apart is the recomposition of the first Sonata for piano (1952) in the second (1981), and the latter in the third (1982), his last completed work. Writing as a publisher who hoped that the second sonata would match the marketing success of the first, Stuart Pope quotes a New York Times critic on the earlier work: “Is there not another contemporary sonata 1
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I met Dorothea Baumann at the annual meeting of the Swiss Musicological Society held in honor of Kurt von Fischer’s 70th birthday, which took place in Rapperswill on May 13, 1983. The event was celebrated with a symposium on the terminological scope of “Bearbeitung,” a term whose English translation does not do justice to the multiple meanings it carries in German. At this meeting, I presented my recently completed analysis of the musical dramaturgy of Ginastera’s second opera Bomarzo (1967). More than two decades later, it seems appropriate to celebrate Dorothea Baumann’s lasting contributions to research with a glimpse into Ginastera’s Bearbeitungen. Malena Kuss, Alberto Ginastera: Musikmanuskripte (Inventare der Paul Sacher Stiftung, No. 8). Winterthur 1990. For a complete list of works, see Malena Kuss, Ginastera, Alberto, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Ed. Ludwig Finscher. Kassel and Stuttgart, 1994–2008, Personenteil, vol. 7 (2002), cols. 974–982. (2nd ed.). For relationships among works, see also Malena Kuss, “Alberto Ginastera,” in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 2 (1989), 17–18.
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that pianists could occasionally play other than the Ginastera?”3 In the initial movement of the first sonata, cast in modified sonata-allegro form, Ginastera retains a perfect balance between (1) the octatonic pitch content with modal interaction for the opening rhythmic blocks in parallel thirds of the first section of the exposition (based on model A or 1-2, namely A—Bb—C—Db—Eb—E—F#—G, interacting with the Aeolian mode on A), which evokes the parallel thirds in folk music of Hispanic roots; (2) the anhemitonic pentatonicism of the second theme ([A]—F#—E—D—B) that evokes the tuning of Amerindian flutes; and (3) their fusion in the pentatonic cadential motif in parallel thirds that closes each of the three rhythmic blocks comprised in the first thematic group. Consistent with the foreground pitch organization, the three rhythmic blocks within the first thematic group progress by minor thirds (A—C—Eb), the interval-3 cycle to which both forms of the octatonic scale are referable. Likewise, two of the three statements of the pentatonic second theme progress by “its own interval,” the perfect fifth, to which the anhemitonic pentatonic scale is referable (A—F#—E—D—B = D—A—E—B—F#). Contrast between the rhythmic and melodic thematic groups is emphasized by the prevalence of octatonic (symmetrical) and modal (asymmetrical) pitch organization in each of them, respectively. Moreover, the centric pitches of the movement (A—C—A) confirm both the ambivalence between symmetrical and asymmetrical pitch environments as well as the prevalence of its octatonic sound. Ginastera would have called this movement “polytonal,” the term used in much of the analytical discourse on Stravinsky’s neoclassical works – when not “functional tonality with wrong notes” – before the publication of Pieter C. van den Toorn’s landmark theory of the octatonic basis of Stravinsky’s music.4 In the recomposition of this movement some thirty years later (Sonata No. 2, Op. 53 [1981], first movement), Ginastera systematizes the symmetrical potential of the same materials. The same rhythmic and thematic materials appear as dense, inversionally complementary symmetrical blocks that forego references to sonata-allegro scaffolding for three large sections: (1) the first and third correspond to the first section of the 1952 sonata, creating a consistent macrostructural plan of axial tonalities represented by sums of complementation (congruent with George Perle’s theory of Twelve-Tone Tonality);5 3 4 5
Stuart W. Pope, The composer-publisher relationship: Chronicle of a friendship, in: Latin American Music Review 6/1 (1985), 104. Pieter C. van den Toorn, The Music of Igor Stravinsky. New Haven and London 1983. George Perle, Twelve-Tone Tonality. Berkeley and Los Angeles 1996 (2nd revised and expanded ed.; 1st ed. 1977). (The first formulation of this theory, developed with Paul Lansky, appeared as an Appendix to the 3rd edition of George Perle’s Serial Composition and Atonality, Berkeley and Los Angeles 1972).
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the middle section corresponds to the pentatonic/modal second theme of the 1952 work, now transformed into pentatonic clusters in the white and black keys. Both (1) and (2) have been decontextualized from earlier references to either parallel thirds or Amerindian flutes to become purely constructive elements. The Sonata No. 3, Op. 54 (1982), is a one-movement work in two repeated parts with coda, whose brevity was rationalized as evoking Schumann’s Toccata (1832) with more literal repetitions d’après Domenico Scarlatti, or dismissed, in jest, as “I wrote music until I reached the commission’s modest sum and then stopped.”6 In it Ginastera inverts the intervals of the second sonata’s first movement to create yet another version of its symmetrical blocks. These procedures suggest an intrinsic affinity with Bartók’s tendency to symmetrize the modal basis of folk music and extend principles of symmetrical pitch construction to deep levels of structure.7 Fulfilling the commissions for the second and third piano sonatas was problematical for the composer because he had left this timbric canvas behind: his choice then was to explore the purely compositional potential of symmetries and densities in the earlier work. Ginastera never read van den Toorn’s analytical study of Stravinsky’s music (1983) or the various formulations of Perle’s theory of twelve-tone tonality, published between 1972 and 1996.8 He knew and admired Perle, had read the first edition of Serial Composition and Atonality (1963),9 and had a copy of the first edition of Twelve-Tone Tonality (1977), which he found “difficult” to read.10 The congruence with these theoretical systems in the recomposition of the first sonata for piano in the second, and the latter’s in the third, was a matter of following the tendency of the materials. Ginastera’s String Quartet No. 2, Op. 26 (1958) is a pivotal work. It was commissioned by the Elizabeth Sprague Coolidge Foundation of the Library of Congress and premiered by the Juilliard Quartet at the Coolidge Auditorium on April 19, 1958. Its macrostructure in five movements is modeled after Bartók’s foundational Fourth String Quartet (1928). Unlike Bartók’s work, centered on the famous dirge marked “Non troppo lento,” Ginastera places the “Presto magico” (III) at midpoint, framed by two slow movements (II, “Adagio angoscioso”; and IV, “Libero e rapsodico”) and ostinato-driven outer movements (I, “Allegro rustico”; and V, “Furioso”). 6 Recorded conversations with Malena Kuss, Formentor, Mallorca, August 1980. 7 Elliott Antokoletz, The Music of Béla Bartók: A study of tonality and progression in twentiethcentury music. Berkeley and Los Angeles 1984. 8 See footnote 5. 9 George Perle, Serial Composition and Atonality: An introduction to the music of Schoenberg, Berg, and Webern. Berkeley and Los Angeles 1991 (6th revised ed.; 1st ed. 1963). 10 See footnote 6.
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The “Presto magico” (III), whose hallucinatory mood Ginastera would recreate in sections of many subsequent compositions, suggests an affinity with the “Allegro misterioso” (III) of Alban Berg’s Lyric Suite for string quartet (1925–1926), well known for its cryptic references to a secret program that the first version (1958) of Ginastera’s second quartet also suggests in movements II, III, and IV. Both quartets stand as their respective composers’ first partially twelve-tone works. Ginastera’s third and second movements, composed in that order, are twelve-tone. The central “Presto magico” (III) is built on the basic series, and the “Adagio angoscioso” (II) on a row derived from it. From 1958 onwards, Ginastera’s approach to row derivation will reveal an intrinsic affinity with Berg’s dramaturgically driven process of row derivation in such works as the Lyric Suite and Lulu (1929– 1935). It is well known that, in the “Allegro misterioso” of the Lyric Suite, Berg manipulates row derivation to “unite” his initials (A—Bb) with those of the woman to whom the work is secretly dedicated (H—F, Hanna Fuchs) in the ordered tetrachord Bb—A—F—B and its various permutations. Just as Schoenberg had summoned B—A—C—H in the third tetrachord of the basic series for his first entirely twelve-tone work (the Suite für Klavier, Op. 25 [1923]), Ginastera first incorporated the B—A—C—H motif in his early Toccata, villancico y fuga, Op. 18 (1947), also as an homage. By 1958, in the “Adagio angoscioso” (II) of his second string quartet, and through the same dramaturgically driven process of row derivation Berg used for this “Allegro misterioso,” Ginastera switches pitches to obtain the Bb—A—C—B (= B—A—C—H) as symmetrical boundaries of each hexachord in the derived row for this movement, in the order 1, 6/7, 12 (D—G—Bb—F#—A—C# / E—B—F—Ab—C—D#), carving this tetrachord as a motif carrying the connotation of love. As such it resurfaces in many subsequent works, acquiring special prominence in his operas Don Rodrigo, Op. 31 (1964), which he dedicated to his first wife, Mercedes de Toro11 and Bomarzo, Op. 34
11 For studies of Don Rodrigo, see the following publications by Malena Kuss, Nativistic Strains in Argentine Operas Premiered at the Teatro Colón (1908–1972). Ann Arbor, Michigan 1976; Type, Derivation, and Use of Folk Idioms in Ginastera’s Don Rodrigo (1964), in: Latin American Music Review 1/2 (1980), 176–196; “Don Rodrigo” (1964) by Alberto Ginastera, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Ed. Carl Dahlhaus et al. Munich and Zürich 1987, vol. II, 380–386; The structural role of folk elements in 20th-century art music, in: Proceedings of the XIV th Congress, International Musicological Society: Transmission and Reception of Musical Culture. Ed. Lorenzo Bianconi et al. Torino 1990, vol. III, 99– 120; Identity and change: Nativism in operas from Argentina, Brazil, and Mexico, in: Musical Repercussions of 1492: Encounters in Text and Performance. Ed. Carol E. Robertson. Washington DC 1992, 299–335; and Nacionalismo, identificación y Latinoamérica, in: Cuadernos de música iberoamericana 6 (1998), 133–149.
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(1967),12 as well as in later works dedicated to his second wife, Aurora Nâtola.13 The String Quartet No. 2 (1958), minus its first movement, was arranged for string orchestra as Concerto per corde, Op. 33 (1965); in turn, the changes made by the composer for the string orchestra version were incorporated into the 1967 revision of the quartet. It is significant that, in the revised version, published in 1968, Ginastera cut an overt reference to a folk rhythm in the central “Presto magico” (III), and removed the fleeting quotation of his own “Triste” from the Cinco canciones populares argentinas. Op. 10 (1943) in the ”Libero e rapsodico” (IV), which fulfills the same function as the quotation of Zemlinsky’s “Du bist mein Eigen, mein Eigen” from his Lyrischer Symphonie (1923) in the fourth movement of Berg’s Lyric Suite. Now associated with love, the B—A—C—H motif that drives the “Adagio angoscioso” (II) to its climax, and the nostalgic image of unfulfilled love evoked by the absent text of this “Triste” in the “Libero e rapsodico” (IV) are explicit references to the secret program Ginastera encoded into the original version of this quartet. Unlike the case of the second and third piano sonatas, for which the meaning of Bearbeitung can only be translated as recomposition, the Bearbeitung of the second string quartet as Concerto per corde remains within the boundaries of an arrangement. Adding a string bass, Ginastera deletes the first movement and reorders IV, III, II, and V as I (“Variazioni per i solisti”), II (“ Scherzo fantastico”), III (“Adagio angoscioso”), and IV (“Finale furioso”). The changes, however, are drastic, since the composer removes the quotation from his 1943 setting of a plaintive love poem that alludes to the quartet’s secret program as explicitely as does the Tristan chord Berg weaves into the Lyric Suite’s sixth movement (“Triste es el día sin sol / triste es la noche sin luna / pero más triste es querer / sin esperanza ninguna.”14 Unlike Hanna Fuchs, eventually identified as the object of Berg’s affection, we shall never 12 For studies of Bomarzo, see the following publications by Malena Kuss, Symbol und Phantasie in Ginasteras Bomarzo (1967), in: Alberto Ginastera. Ed. Friedrich Spangemacher. Bonn 1984, 88–102; “Bomarzo” (1967) by Alberto Ginastera, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Ed. Carl Dahlhaus et al. Munich and Zürich 1987, vol. II, 380–386; Das lateinamerikanische Libretto, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Ed. Ludwig Finscher. Kassel and Stuttgart, 1994–2008, Sachteil, vol. 5 (1996), cols. 1196–1203; “Si quieres saber de mí, te lo dirán unas piedras”: Alberto Ginastera, autor de Bomarzo, in: Ópera en España e Hispanoamérica, 2 vols. Ed. Emilio Casares Rodicio and Álvaro Torrente. Madrid 2002, vol. II, 393–411. 13 Malena Kuss, Ginastera’s Cello Sonata (1979), in: Tempo 132 (1982), 41–42; and Homage to Alberto Ginastera, monograph accompanying a concert of his music recorded live at the John F. Kennedy Center for the Performing Arts on October 14, 1981, in celebration of his 65th birthday. Washington DC, 1982 (Inter-American Musical Editions 015). 14 Mournful is a day without sun / mournful a night without moon / but no sorrow can be greater / than to love without hope.
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know who inspired the passionate music Ginastera wrote for movements II, III, and IV of this quartet. The B—A—C—H motif, itself a segment of the chromatic scale or interval-1 cycle, was resignified after 1958, its acquired meaning confirmed by its exact quotation in the pivotal love duet of Don Rodrigo (II/5),15 and throughout Bomarzo (1967), where it identifies the three images of love in the opera (Julia Farnese, the courtesan Pantasilea, and Abul). Other clusters of related works include the early Pampeana No. 2, Op. 21 (1950), recomposed in the Sonata for cello and piano, Op. 49 (1979), which is itself partially transcribed or bearbeitet for orchestra in the Cello Concerto No. 2, Op. 50 (1980–1981) and for which Ginastera wrote a new and masterful first movement. The transference of materials as arrangement, transcription, or recomposition, however, is only one dimension in the progress of a compositional method, which, mirroring the course of 20th-century music, served Ginastera to forge his powerfully original musical language.
15 Piano-vocal score by the composer, Act II, Scene 5. London: Boosey and Hawkes, 1969, 95 (B and H 19549).
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„Ein gesamtkunstwerkähnliches Live-Ereignis“ Zur Musik von Daniel Ott für den Klangkörper Schweiz Thomas Gartmann
Zu sehen und zu hören waren Instrumentalisten, die umherliefen und ihrem Akkordeon oder einem Hackbrett Töne entlockten, die unkoordiniert und fast chaotisch wirkten.1
Die erste, bewusst provozierend gemeinte Reaktion eines Journalisten auf die Musik des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung 2000 in Hannover dürfte sich mit dem ersten Eindruck der meisten Besucher gedeckt haben.2 Ein nach allen Seiten hin offener Pavillon aus gestapelten Balken, der die ganzen 23 Wochen Ausstellungsdauer während täglich 12 Stunden live bespielt wurde: das weckte sofort Neugier und Sympathien von Medien und Besuchern – nicht nur, weil hier dank 50 Eingängen die unbeliebten Warteschlangen wegfielen.
Raum Mit Peter Zumthor hatte man sich für einen Architekten entschieden, der für unkonventionelle Ideen bekannt ist. Unter dem Titel „Projekt Zumthor: mutig, unkonventionell“ schrieb die Schweizer Regierung: Überraschung, unerwartete optische und akustische Eindrücke, Gastlichkeit, Verweilen, Begegnung und Dialog, das sind die Leitideen dieses Projekts. Schweizerische Intensitäten jeglicher Art sollen erfahrbar gemacht werden.3
Wie wenige andere verbindet Zumthor althergebrachte und technisch fortschrittliche Mittel. Auf einem Grundriss von ca. 52 × 56 Meter sind 40’000 Holz1 2
3
Paul Schorno, Klangskulptur im ‚Klangkörper‘, in: Basellandschaftliche Zeitung, 31. Mai 2000, 17. Musik für 6 Akkordeons, 6 Hackbretter und 3 improvisierende Musiker. Davon einzeln aufführbar: Klänge A.-P., 16/9, 22/3, 19/12, 29/1, Musik im Klangkörper Schweiz von Peter Zumthor auf der EXPO 2000 in Hannover, wurde während 153 Tagen vom 1. Juni bis zum 31. Oktober jeweils 12 Stunden täglich aufgeführt. Im August 2002 erschien bei „Musikszene Schweiz“ eine klangkörperklang CD (MGB CD 6190). Botschaft über die Teilnahme der Schweiz an der Weltausstellung „Expo 2000 Hannover“ des Schweizerischen Bundesrates an das Parlament (22. Juni 1998).
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balken in 99 neun Meter hohen Stapelwänden zu einem unregelmässigen rechtwinkligen Gassenmuster zusammengefügt. Es ergeben sich so 70 schmale Gänge, drei nach oben offene Höfe und acht überdachte Innenräume. Dabei stellt der Architekt alle Holzwände senkrecht auf eine schiefe Ebene, die auf zwei Seiten leicht abfällt. Keine Nägel halten die Balken zusammen; alle Hölzer liegen, durch kleine Schifthölzer getrennt, lose aufeinander und werden nur durch eine eigens entwickelte Spannfederverbindung zusammengehalten.4 Mit zunehmender Höhe zeigen sich so bedenklich verzogene Stapel. Die engen Gassen aus Holzbalken vermitteln Geborgenheit und ermöglichen zwischen den einzelnen Balken neugierige Durch-Blicke. Die technisch verblüffende Konstruktion der Wände steht für perfekte Handwerkertradition und technische Innovationskraft. Selber setzt Zumthor nicht zu Unrecht die Ästhetik ins Zentrum.5 Auch wenn der Besucher die Struktur als Labyrinth erlebt, gehorcht diese doch einem klaren Prinzip: windradartig sind die Stapelwände um einen offenen quadratischen Kern gruppiert. Die Grundfigur wird zu einem regelmässigen Gewebe erweitert und generiert so den Grundriss des Klangkörpers, bei dem die 12 Stapelgruppen unterschiedlichste Binnenräume – und damit auch Bühnenräume – schaffen. In diesen Räumen entfaltet sich eine Musik, welche die Ideen der Pavillon-Konstruktion in vielfältigster Weise aufnimmt, weiter führt und kontrapunktiert. Ursprünglich dachte sich der Architekt die Musik als blosse Klanginstallation.6 Im Verlauf zahlreicher Gespräche und der konzeptionellen Arbeit mit dem Komponisten Daniel Ott entwickelte sich die Musik jedoch weiter bis zur künstlerischen Gleichberechtigung: Die Musik ist integraler Bestandteil und als Klangereignis und tönende Skulptur nicht bloss mit konstituierendes Element, sondern von zentraler Bedeutung; der „Schweizer Pavillon (wird) zum klingenden Körper. Er tönt wie ein riesiges, begehbares Instrument.“7 4
5
6 7
Roderick Hönig spricht irrtümlich von Stahlseilen; dazu Roderick Hönig, Die Schweiz als labyrinthischer Klangkörper. Der Auftritt der Schweiz an der Expo 2000 in Hannover, in: Neue Zürcher Zeitung, 15. April 1999, 15. Peter Zumthor, Prospekt-Flyer. Hg. von der Koordinationskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland, datiert 5. August 1999: „Am Anfang der spielerisch ausgelegten und auf Schönheit und kräftigen Ausdruck bedachten Verführungen steht die Architektur, ein labyrinthisch geformtes und gleichzeitig nach allen Seiten hin offen und durchlässig angelegtes Raumgefüge […] Diese […] Freilichtarchitektur […] wird erzeugt durch eine batterieartige Anhäufung von abwechselnd längs- und quergestellten baulichen Einheiten […].“ Telefonische Besprechung mit dem Autor, der als musikalischer Berater wirkte und Zumthor eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Daniel Ott vorgeschlagen hatte. Zumthor, Prospekt-Flyer (wie Anm. 5).
Zur Musik von Daniel Ott für den Klangkörper Schweiz
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Abb. 1: Grundriss Klangkörper.
So poetisch und verführerisch der Name „Klangkörper Schweiz“ auch wirkt, bleibt doch klar, dass dieser nicht selber klingt, ja sogar nur in beschränktem Masse als Resonanzkörper8 dient – aber er wird von Klang erfüllt. Die Architektur wird zu einem „riesigen, begehbaren Instrument“, vorab im übertragenen Sinn des Wortes, teils aber auch in seiner eigentlichen Bedeutung. Die Musik führt das Prinzip der begehbaren Skulptur, bei der Innenund Aussenräume verschmelzen und ein durchlässiges Gefüge mit gewebeartigen, clusterähnlichen Anhäufungen schaffen, konsequent weiter zu einer tönenden Skulptur, in der man sich frei bewegen kann. Wie die Architektur besteht auch die Musik aus verschiedenen Struktur bildenden Grundelementen. Den rechteckigen Stapeln als Fundament und Raster der Architektur entspricht musikalisch ein „Grundklang“. Ott benennt damit einerseits eine Reihe von „(Haupt-)Klängen“ resp. ruhig liegenden leisen Akkorden, andererseits vier verschiedene „(Haupt-)Ausbrüche“: laute, grelle, ungerade, a-periodische Abschnitte. Diesen Grundklang spielen drei Akkordeonisten und drei Interpreten des traditionellen Appenzeller Hackbretts, die jeweils wochenweise verpflichtet wurden.
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Immerhin zeigte sich nach den ersten Versuchen, dass man auf elektronische Verstärkung von Hackbrett und Vokalstimmen verzichten konnte.
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Zu diesen Grundklang-Musikern gesellen sich improvisierende Musiker, die mit verschiedensten Instrumenten (vor allem aber mit Blasinstrumenten) oder auch vokal auf den Grundklang reagieren.
Akkord Die scheinbar labyrinthische Anlage des Pavillons wird mit ebenso klaren wie strengen Proportionen kompensiert: Die Deckenelemente messen 100 × 160 mm; deren Seiten verhalten sich also zueinander in der Proportion des Goldenen Schnittes. Der Querschnitt der einzelnen Balken dagegen beträgt 10 × 20 cm, das Verhältnis ist hier also 1:2. Exakt ausgewogen ist auch die architektonische Horizontal-Vertikalkomposition: Die Hauptbalken sind genau fünfmal länger als hoch, bei den Eckbalken beträgt dieses Verhältnis 3:1; die Länge von Hauptbalken zu Eckbalken verhält sich demnach wie 5:3. Auch die Musik von Ott lebt von der Spannung zwischen strengen Regeln und Freiheit, zwischen Zahlenkorsett und offenen Räumen, zwischen klarer Struktur und scheinbarem Labyrinth. Überall finden sich Proportionen der Architektur wieder, die klaren, geradzahligen Verhältnisse, ebenso der Goldene Schnitt. Ott liebt aber auch die ungeraden Zahlen, die Primzahlen, und speziell die Zahlen der Fibonacci-Reihe (FZ), wie sie etwa auch der arte povera-Vertreter Mario Merz in Kunst umgesetzt hat: 0 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144. Diese Analogien und speziellen Vorlieben führen zu einer häufigeren Verwendung bestimmter Intervalle. Besonders oft erscheint die reine Quinte (Schwingungsverhältnis 2:3), zumal auch die Saiten des Hackbretts in diesem Verhältnis durch die Stege geteilt werden. Auch die (reine) kleine Sexte erklingt auffällig oft: Ihr Schwingungsverhältnis von 5:8 entspricht ja zugleich auch der Proportion des Goldenen Schnitts. Weil die kleine Terz (5:6) sich nicht aus der Fibonacci-Reihe herleiten lässt, kommt dieses Intervall konsequenterweise fast nie vor. Einen Sonderfall stellt der Tritonus dar: Die Proportion 5:7 entspricht zwar weder architektonischen Vorgaben noch der Fibonacci-Reihe; Otts Vorliebe begründet sich vielmehr darin, dass durch dieses Intervall die Oktave halbiert wird. Zählt man nun den Materialvorrat, d.h. die (Grund-)Klänge A-F bezüglich ihrer Intervallstruktur aus, zeigen sich diese Präferenzen deutlich: Je 11mal werden Tritonus und reine Quinte verwendet, 9mal kleine Sexten, 8mal Quarten und nur gerade 5mal die kleine Septime, 4mal die grosse Terz, je 3mal grosse und kleine Sekunde und je 2mal die grosse Sexte und ihr Komplementärintervall, die kleine Terz.
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Notenbeispiel 1: Daniel Ott, Grundklänge.9
Die einzelnen Klänge präsentieren sich dabei sehr unterschiedlich. Im über mehrere Oktaven gespreizten Klang A in quasi (sehr) weiter Lage dominiert klar die Quinte. Insgesamt umfasst dieser Klang 55 Halbtöne, also eine Zahl der Fibonacci-Reihe. Den gleichen Umfang hat der Klang B, der neben der Quinte auch vom Tritonus geprägt wird. Diese allmähliche Verengung der Lage zeigt sich auch bei den folgenden Klängen: Beim Akkord C dominiert die Quarte; der Klang umfasst noch 34 Halbtöne, entsprechend der nächst kleineren Fibonacci-Zahl. Klang D ist noch enger gestal-
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Alle Notenbeispiele siehe Klangkörperbuch, Lexikon zum Pavillon der Schweizerischen Eidgenossenschaft an der Expo 2000 in Hannover. Hg. Roderick Hönig. Basel usw. 2000; © Daniel Ott, www.danielott.com.
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tet, Klang E ist unregelmässiger, fast ein Allintervall-Akkord mit Binnenintervallen von der kleinen Sekunde bis zur kleinen Septim; einzig grosse Terz und Tritonus fehlen hier. Klang F schliesslich wird durch Quart und kleine Sexte geprägt, die Lage ist wieder weiter, und dessen letzter Akkord umfasst wiederum 55 Halbtöne. Diese weiten Akkorde wirken transparent und durchlässig wie die Architektur, bilden die Form und dienen als Gerüste für Improvisationen.
Komponierte Musik Das Gegengewicht zu diesen (durch die Improvisationen allerdings belebten) statisch-vertikalen Abschnitten bilden bewegte horizontale, streng linear verlaufende Interventionen. Es sind unregelmässige SechzehntelGruppierungen, die non legato unisono vorgetragen werden, durch geringe Differenzen der sechs Interpreten aber leicht heterophon „verschmutzt“ – oder bereichert. Man könnte dies als akustische Analogie bezeichnen zum optischen Flirren, das sich ergibt, wenn man durch die Holzstapel von Zumthors Pavillon hindurch sieht und kleine Verschiebungen wahrnimmt. Diese vier unterschiedlichen horizontalen Abschnitte sind die einzigen der ganzen Komposition, die streng ausgeschrieben sind und so massiv dastehen wie die vier Stapelsysteme. Es erscheint deshalb zunächst fast paradox, wenn Ott sie „Ausbrüche“ nennt, denn es sind gerade dies die Refrain-artig wiederkehrenden, dank Unisono-Satz und Fortissimo-Dynamik klar abgegrenzten, gut erkennbaren und somit Form bildenden Elemente: ein Ausbrechen aus der vorherrschenden vertikalen Akkordstruktur. Diese vier Kurzkompositionen, die jeweils als die Eingebung eines Tages ausgearbeitet wurden und meistens auf nicht mehr als zwei, drei kompositorischen Ideen basieren, werden jeweils nach dem Datum ihrer Niederschrift betitelt. In der Rückschau beschreibt Ott Entstehung und Bedeutung: Er begann, einzelne Teile, sogenannte Tages-Werke (z. B. 22/3 oder 16/9) in einem Tag zu komponieren. Während der letzten zwei Jahre entstanden so die verschiedenen Ausbrüche und Interventionen. […] Dazu zwei Einträge aus dem musikalischen Skizzenbuch von Daniel Ott: Tages-Werk vom 22.3.1996: „In Buenos Aires hatte ich die Idee zu einer Raummusik mit mobilen Musikern in einem sich verändernden riesigen Klangraum – und mit schnellen a-periodischen Klangketten auf Zupfinstrumenten – später habe ich diese Idee für die Hackbretter des Klangkörpers ausgearbeitet und für die Klangräume massgeschneidert.“10
10 Klangkörperbuch (wie Anm. 9), 137.
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Notenbeispiel 2: Daniel Ott, „22/3“.
Das kurze, mehrmals zu wiederholende Stück „22/3“ gibt Gelegenheit zu vielseitiger „Erbsenzählerei“. Analysiert man das Stück linear, fällt seine Intervallstruktur auf: Auch wenn es sich vordergründig als geläufige Etüde präsentiert und durch die Verwendung von Hackbrettern die Konnotation Volksmusik erhält, ist die Dominanz von Halbtönen sowie von bestimmten grösseren Intervallen frappant: 15mal wird die kleine Sekunde verwendet, aber dreimal weniger (nämlich bloss fünfmal) die grosse Sekunde; Terzen, Septimen und grosse Sexten erklingen gar keine, dafür 11mal der Tritonus, 7mal die Quarte, je 4mal die Quinte und kleine Sexte. Hier ergibt sich nun eine auffällige Parallele zur Vertikalstruktur des Grundklangs, zu den „Klängen“ genannten Akkorden also, wo wir ebenfalls 11mal den Tritonus angetroffen hatten, dazu die Häufung von Quinte und kleiner Sexte, deren Schwingungsproportionen (2:3 resp. 5:8) sich in der Fibonacci-Reihe wieder finden.
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Vertikale und Horizontale stehen somit auch musikalisch in einer engen Beziehung. Insgesamt sind es übrigens 46 Intervalle, entsprechend der Anzahl von 2 × 23 Wochen (diese Verdoppelung lässt sich dadurch erklären, dass sich die Musiker in jeweils zwei Schichten ablösen). Für das Stück „22/3“ ist die Repetition von Tönen konstituierend. Auch deren Anzahl lässt sich aus Fibonacci-Zahlen herleiten: h erklingt 8,5,1,1,1,3,1, 3,3,2,3 mal hintereinander11, das d2 dreimal, das a2 im Wechsel 3,1,2,1,2,4,1, 2,1,2,1mal. Die viermalige Wiederholung in der Mitte schliesslich ist die einzige Lizenz gegenüber der Fibonacci-Reihe – und eine Referenz an die erste Quadratzahl, an die Zahl der Ausbrüche, Stapelsysteme und Innenhöfe – und ein winziger Ausbruch aus dem sich selbst vorgegebenen System. Der Tonvorrat dieser Intervention ist auffallend klein: Gegenüber 11 verwendeten Tonhöhen fallen nicht weniger als 12 ausgelassene Tonhöhen auf. Der Ambitus umfasst so 22 Halbtöne (entsprechend dem Kompositionsdatum); zählt man den Ausgangston hinzu, erhält man 23 verschiedene Tonhöhen, entsprechend der Anzahl Wochen der Ausstellungsdauer.12 Zur zweiten Intervention „16/9“ notierte sich Ott in sein Skizzenbuch: Tages-Werk vom 16.9.1999: An diesem Tag schrieb ich für eine Klangprobe zum Klangkörper in Zürich eine Musik mit dem Umfang des Appenzeller Hackbretts. Dabei woll-
11 Diese ohrenfällige Häufung des Tons h ist auch als Verweis auf Luciano Berios Sequenza V für Oboe solo denkbar, deren Beginn mit einer Invention auf den Ton h wiederum eine Hommage auf den Widmungsträger Heinz Holliger und dessen Initialen darstellt. 12 Die im Skizzenbuch angesprochene Mobilität bezieht sich nicht nur auf die Aufführungssituation, sondern auch darauf, dass die ursprüngliche Werk-Idee (wenn man von solch einer überhaupt noch sprechen kann) in verschiedene Kompositionen eingeflossen ist: in die Version für Zupfinstrumente und als Raumkomposition für die Kirche St. Petri zu Lübeck (1999). „22/3“ ist dort gleich in zwei Versionen vertreten: als ca. 20 Sekunden dauernde Skizze (1996), die der Klangkörpermusik-Intervention entspricht, und als auskomponiertes Stück (1999). Die Dynamik ist sempre ff, das Tempo Viertel =100 (im Klangkörper auf 80 reduziert, wohl eine Konzession gegenüber nicht so agilen Interpreten auf Akkordeon und Hackbrett sowie der besonderen AusstellungsSituation.) Dabei soll das Saxophon alles vortragen, die Gitarre bloss Auszüge; Kontrabass und Percussion spielen rhythmische Auszüge und Akzente, a-periodisch, streng im Takt. In einem zweiten Durchlauf sind von Perkussion und Gitarre nur mehr rhythmische Extrakte zu hören, vom Saxophon Multiphonics. Der dritte Durchlauf ist als grosses Diminuendo anzulegen („al niente/quasi entfernen“). Das sind wichtige Hinweise zur Interpretation, die in der Klangkörpermusik fehlen resp. dort mündlich durch Komponist und Co-Leiter weiter gegeben wurden: Die „Grundklang“-Musiker wurden jeweils für zwei Wochen an der Expo engagiert und arbeiteten anschliessend ihre Kollegen/Schüler in die Partitur ein. – Die zweite Version von „22/3“ ist dann eine Ausgestaltung desselben Materials, die ebenfalls als Interpretationsanleitung dienen kann, inkl. dem Hinweis „Es wird ausdrücklich empfohlen, während ‚22/3‘ zu ‚gehen‘ und verschiedene Hörpositionen auszuprobieren“. – Mit dem Material von „Neben-Ausbrüchen“ hat Ott weiter gearbeitet bis 2004 („Beschleunigung“ in der Lokhalle Göttingen).
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te ich versuchen, auf die Volksmusik-Aura des Hackbretts anzuspielen, ohne in reaktionäre Fettnäpfchen zu treten. Also nicht in erster Linie bestätigende, affirmative Musik – sondern Klänge, die etwas in Frage stellen, Brüche zeigen, – die durchaus einen Moment Identität stiften, sich wiederholen und im nächsten Moment ihr Gesicht ändern, aus dem bereits sicher gewährten Klangrahmen entgleisen. Wenn ich die Reise des Appenzeller Hackbretts rückwärts über Ungarn, den Balkan, Iran nach Indien zu seinen Ursprüngen verfolge, streife ich verschiedene Volksmusik-Kulturen mit ungeraden, unregelmässigen Rhythmen. Wenn ich diese zur Appenzeller Musik dazu denke, bin ich musikalisch schon beinahe da, wo ich sein wollte.13
Der Ambitus f-a2 von „16/9“ entspricht dem Umfang eines 25chörigen Reise-Hackbretts oder auch des traditionellen Appenzeller Hackbretts.14 Notenbeispiel 3: Daniel Ott, „16/9“.
13 Klangkörperbuch (wie Anm. 9), 137 und 140. 14 Üblicherweise umfasst das 25chörige Instrument die Töne c-d2.
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Im Übrigen ergibt sich die Nähe zu Schweizer Volksmusik aber eher typologisch als real, ebenso die Nähe zu nicht-zentraleuropäischer Volksmusik durch die Vorliebe ungerader Rhythmen. Strenge Konstruktion und (entgegen dem Anschein) regelmässige Periodizität lässt sich in der Phrasenstruktur (in Sechzehnteln) festmachen: 13-13-13-21(7+5+9)-13-13-21(7+6+8). 13 und 21 sind dabei beides Fibonacci-Zahlen, während die Phrasen melodisch sich wie A-A'-A''-B-A'''-A''''-B' verhalten und damit von ferne an eine zweimalige Bar-Form in Abfolge Stollen-Stollen-Abgesang erinnern. In diesem Stück finden sich nur gerade 16 verschiedene Tonhöhen (passend zum Datum der Komposition) bei 13 (FZ!) Lücken; auch hier haben wir also ein Gerüst mit vielen Durchblicken. Musikalisch erweist sich das Stück als etüdenhaftes Perpetuum mobile. Kaum zufällig ist es auch als 16/9 Klangkörperspieldose zu kaufen.15 Als drittes Grundelement des musikalischen Konzepts sind in den Grundklang und die improvisierten Passagen „Fenster“ eingebaut, die den offenen Höfen der Architektur entsprechen, auf denen denn auch musiziert wird: Jeder Grundklangmusiker spielt darin, während 30 Sekunden bis zwei Minuten, wie er „bei sich zu Hause“ spielt. Je nach musikalischem und kulturellem Hintergrund klingen diese Fenster dann entsprechend jazzig, noisig, folkloristisch, individualistisch etc.16
In den Fenstern treten also Musiker unterschiedlichster Sparten auf, gleichsam „Klang-Gäste“, die den Grundklang kommentieren, stören, ergänzen, vergleichbar einem offenen Forum musikalischer Meinungen.17 Vielfalt wurde dabei nicht nur bei den unterschiedlichen musikalischen Hintergründen der beteiligten Musiker berücksichtigt, sondern auch bei der regionalen Auswahl: Die föderalistische Schweiz widerspiegelt sich hier darin, dass Musiker aller vier Landessprachen berücksichtigt wurden. Ott dachte aber auch an die Ausländer, die in der multikulturellen Schweiz einen Fünftel der Bevölkerung ausmachen18, und an ausländische Musiker. 15 Der Klang 16/9 wurde von Daniel Ott für 18 Zungen eingerichtet. Das Gehäuse stammt von Peter Zumthor, das Spielwerk von Reuge SA in St.Croix, Angaben in Klangkörperbuch (wie Anm. 9), 134. 16 Klangkörperbuch (wie Anm. 9), 178. 17 Daniel Ott: „Unregelmässigkeit/Aperiodizität als Mittel, um einfache Hörgewohnheiten zu durchkreuzen, spielten beispielsweise bei Hanns Eisler (die Kunst zu erben) eine Rolle und waren durchaus politisch gemeint: Als Aufforderung, sich ins Gerade/Glatte des Vorherrschenden einzumischen. Im Klangkörper, wo sich die Musikstile und Volksmusiken der verschiedensten Richtungen treffen und in Dialog treten sollten, geht es u. a. in den musikalischen Fenstern darum, Musikfluss zu ergänzen/durchkreuzen, eben sich einzumischen und konstruktiv zu stören.“ (Klangkörperbuch [wie Anm. 9], 140). 18 Heute beträgt deren Anteil 22% (Zahlen des Bundesamts für Statistik von 2009).
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Volksmusik spielt im Klangpavillon eine wichtige Rolle, indessen: Volksmusik „ohne reaktionäre Fettnäpfchen“19, da Volksmusik in der Schweiz jahrzehntelang ideologisch vereinnahmt worden war.20 In den letzten Jahren allerdings hatte sie hier nun einen völlig neuen Stellenwert bekommen, mit einem eigentlichen Revival und neuen Festivals, mit musikalischen Weiterentwicklungen, als „unverschütteter“ Inspirationsquell etwa für Komponisten wie Heinz Holliger21, als Identitätssuche im Zuge der zunehmenden „Glokalisierung“, aber auch als Ethnokitsch und Ausdruck eines Neokonservativismus. Akkordeon und Hackbrett wurden von Ott nicht (oder nicht nur) als Repräsentanten des nationalen Volksgutes, sondern vor allem wegen ihrem vergleichbaren Auftreten in den verschiedensten Kulturen ausgewählt, dazu auch als Repräsentanten einer „unteren Schicht“.22 Die Wahl der Instrumente ist vorab symbolisch: Von der Struktur her bezieht sich die Musik auf Volksmusik-Rhythmen und –Motive im Zusammenhang mit den beiden ausgewählten Instrumenten: Diese Volksmusik-Anleihen sind aber nicht direkt hörbar (stehen quasi „hinter“ den Klängen) – hingegen transportieren Hackbrett und Akkordeon ihre eigene „Aura“, die ganz klar etwas mit Volksmusik zu tun hat. Beide Instrumente spielen in der Appenzeller bzw. Innerschweizer Folklore eine wichtige Rolle, sind aber gleichzeitig Träger von „Welthaltigkeit“ […]: Sie stehen für eine weltoffene Schweiz; deshalb werden auch Interpreten aus möglichst verschiedenen Teilen der Welt gesucht.23
Am stärksten präsentiert sich die Volksmusik in den Fenstern, wo sie auch unverfälscht erklingt. Gerade das Alphorn ist hier wichtige Chiffre und Bild: Volksmusik erweist sich gleichberechtigt neben anderen Musikstilen. (Verworfen hat Ott dagegen die ursprüngliche Idee, auch einen ganzen Liedschatz zu präsentieren; das wäre wohl zu vordergründig gewesen, ebenso wie eine geplante Konfrontation mit Literatur.)24
19 Klangkörperbuch (wie Anm. 9), 137 und 140. 20 Dazu Dieter Ringli, Schweizer Volksmusik von den Anfängen um 1800 bis zur Gegenwart. Altdorf 2006. 21 So etwa im „Alp-chehr“, Geischter- und Älplermüsig fer d Oberwalliser Spillit für Sprecher, kleinen Chor (ad lib.) und Kammerorchester (1991). 22 „The biographical – or ,authentic‘ – side of my interpreters is certainly one of the central aspects of my work; another is my interest in instruments that have had a ,raw deal‘ from the world of ,classical‘ music: bells, castanets, dulcimer, mandolin, etc. – instruments used in folk music and still possessed of a residual echo of a culture of resistance.“ Daniel Ott, Interview mit Roman Brotbeck, in: Contemporary Swiss Composers. Hg. Pro Helvetia. Zürich 1997. 23 Konzept Klangkörper Schweiz, Stand vom 27.11.1998. 24 Rohkonzept Klangkörper Schweiz, Stand 29.9.1998.
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Die Auswahl der Musiker konzentrierte sich dann allerdings schwergewichtig auf Musiker, die der „Neuen Volksmusik“ nahe stehen, von Volksmusik ausgehen, diese aber weiter entwickeln, verfremden und mit weiteren Musikstilen verbinden. Soweit also das musikalische Grundmaterial, das von allen Grundklangmusikern verwendet wurde. Als „work in progress“ entstanden während der Expo-Eröffnungstage und auch noch danach zusätzliche Materialien, die Grundklänge G bis W (Klang K in 29 Varianten) und weitere TagesSkizzen, die nachträglich ausgearbeitet bzw. nochmals überarbeitet wurden.25 In einem Interview fasste Ott diesen musikalischen Baukasten (die Akkorde lassen sich ihrer Bezeichnung und Funktion wegen auch als Alphabet bezeichnen) nochmals pointiert zusammen mit neuer Akzentsetzung: Es gibt eine Dreiteilung: Fürs erste ist da eine Partitur von mir, jazzig, frech, gedacht als Interventionen. Zum zweiten werden Grundklänge im Sinne der Proportionen der Architektur vorgegeben, zu denen die Musiker improvisieren. Ein drittes sind die „Fenster“. Da spielen die Musiker ihrer Herkunft gemäss Klänge und Stücke aus ihrer Heimat, also Volksmusik.26
Dass der Komponist als erstes nun seine eigenen komponierten Interventionen erwähnt, ist aus seiner Sicht verständlich; anteilsmässig machen diese Teile aber weniger als 10% der Spieldauer aus, d. h. der Komponist zieht sich quasi hinter sein Werk zurück. Behandelt wird dieses Material nun als Mobile: Komponist, aber auch die gleichberechtigten Co-Leiter27 stellen daraus (sowie aus selbst komponierten zusätzlichen Stücken) den Ablauf, Gänge und Klangrouten zusammen. Nach dem Klanggitter der Akkorde ergibt sich so ein weiteres gliederndes Gitter: die Zeitstruktur. Von aussen vorgegeben sind die Ausstellungsdauer von 23 Wochen und die tägliche Spielzeit von 12 Stunden. Komponist und Co-Leiter legen dann die Reihenfolge und Minutagen der einzelnen Abschnitte fest. Auch hier finden sich öfters Analogien zur Architektur: Fibonacci-Zahlen bestimmen die Länge der einzelnen Abschnitte. Raum und Zeit beeinflussen sich aber auch durch bestimmte Regeln; so wird ein Stapel zum Zeitlupen-Stapel deklariert mit einer entsprechenden Verlangsamung aller Bewegungen.
25 Siehe E-Mail vom 22. Dezember 2010 an den Autor. 26 Interview mit Paul Schorno, siehe Anm. 1. 27 Jacques Demierre, Mario Pagliarani, Domenic Janett, Hans Wüthrich, Pierre Sublet, Fabian Neuhaus, Christian Dierstein, Stephan Froleyks, Ralph Ollertz, also Vertreter aller vier Sprachregionen der Schweiz, aber auch Ausländer, die teils in der Schweiz wirken.
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Bild Solche theatralischen Ausformungen werden minimal inszeniert von Karoline Gruber nach einem Konzept von Barbara Frey, der heutigen Intendantin des Zürcher Schauspielhauses. Die Musiker bewegen sich nach einem täglich neuen Plan sekundengenau durch die engen Pavillon-Gassen, die an enge Täler erinnern, und bestreiten auch Aktionen, klettern plötzlich Wände hinauf, turnen also auf dem Gerüst herum. Zu Raum und Akkord gesellt sich so das Bild. Beim „Hieronymus-Bosch-Stapel“ agieren die Grundklang-Musiker solistisch und erfinden eigene groteske „Geschichten“ mit ihrem Instrument.28 Beim „Rückwärts-Stapel“ wiederum hatten die Musiker nicht nur rückwärts zu gehen, sondern auch im Krebsgang zu spielen. Um in den Gängen herumkurven zu können, wurden dazu für das Reise-Hackbrett eigens Handwagen konstruiert, gleichzeitig auch eine Reminiszenz an frühere Aktionen von Ott, wo er, gleich einem Wanderzirkus, per Wagen das Publikum aufsuchte.29 Eine der Aktionen ist wiederkehrend und wirkt stark: der „Freeze“ genannte absolute Stillstand. Wie im Märchen „Dornröschen“ bleibt alles stehen, zum Stillleben erstarrt: die Hackbrettschlegel erhoben, die Finger stumm auf den Tasten, der Barkeeper hält den Shaker in die Luft, mitten in seiner Antwort stoppt der Guide. Dieses „Freeze“ ist vielfach zu lesen: Als „Dornröschenschlaf“ oder als Bild für die Erstarrung des politischen Lebens in der Schweiz, als Diktat der Zeit (Schweizer Uhr!) über das Leben. „Freeze“ tritt stündlich zur 39. Minute ein, wobei der Quotient (39:60=1,54) dem Längenverhältnis von Hauptbalken (448 cm) zu Randbalken (290 cm) entspricht. In der Ablaufskizze zum Klangversuch vom 28.3.2000 erfolgt er jeweils nach 3 mal 13 Minuten resp. nach 13 (FZ!) Abschnitten. „Freeze“ ist auch eine Referenz an John Cages Tacet-Stück 4'33''. In die spezifische Klangsituation einer so offenen Architektur und ihrer permanenten mobilen Klang-Installation gehören bewusst auch die Umweltklänge als eigene Klangschicht: Geräusche des Pavillons (Regentropfen auf den Blechdächern, Wind, das Knacken des Holzes bei wechselndem Wetter; Geräusche der Pavillonbesucher und Barkeeper.)30 Besonders stark war dazu der Wasserfall des benachbarten norwegischen Pavillons zu hören. Mit dem Einbezug von Natur- und Publikumsgeräuschen komponierte Ott so auch eine Landschafts28 E-Mail vom 23. Dezember 2010 an den Autor. 29 Jene „Musica povera“ nannte Ott das „Erste und Einzige Wetterwendische Wandertheater“, so im Interview mit Roman Brotbeck, siehe Anm. 22. 30 Rohkonzept Klangkörper Schweiz, Stand 29.9.1998.
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musik im Sinne von John Cage. Schon früher hatte er solche Klanglandschaften konzipiert, vorab für sein eigenes Festival im basellandschaftlichen Rümlingen.31 In Otts aufklärerischem Konzept, das einen erweiterten Musikbegriff umfasst, sind dabei alle Sinne anzusprechen und zu schärfen, ebenso wie das Sensorium für gesellschaftliche Zusammenhänge.32 Dieses Zusammenspiel aller Sinnesreize führt zum Erlebnis eines Gesamtkunstwerks.33 Im Klangpavillon waren auch die Kleidung von Musikern und Service-Personal, das Angebot an Essen, die Projektion von Schriften, die sich mit Schweizer Identität kritisch auseinander setzen, Teil dieses Gesamtkunstwerks. Solch inklusives, integratives Komponieren hatte Ott schon früh angedacht.34 Später führt Ott dieses umfassende Konzept noch weiter. „Hafenbecken I und II“ (2006) ist eine dreistündige Musik für 68 Musiker mit 68 sehr leisen Akkorden mit dem Grundton Es, der als Symbolton des Rheines auf Schumann und Wagner verweist. In 17 Klangstationen, Spielpositionen, Episoden und einer 17-Tonreihe mit Vierteltönen (4 × 17 = 68!) werden auch die Lichtverhältnisse, Sonnenuntergang, Atmosphäre, Farbe des Abendhimmels, Gerüche von Getreide aus Brasilien sowie der ganze soziale Kontext einkomponiert, um das Publikum zu sensibilisieren, locken, steuern und schliesslich zu versammeln.35 31 Markus Fein, Klanglandschaften zwischen Alltag und Poesie, in: Passagen, Zeitschrift für Literatur und Kunst 36 (1996), 55–56. 32 „Neben den vier Grundkategorien Tonhöhe, Dauer, Klangfarbe, Dynamik spielte schon früh in der Musikgeschichte das Verhältnis zum Raum und zur Architektur eine wichtige Rolle. Ein erweiterter Musikbegriff umfasst spätestens seit John Cage alles, was klingt (Geräusche, Klänge, Stille) – seit Mauricio Kagel und Dieter Schnebel auch alles, was nicht klingt, sich höchstens bewegt oder auch nur sichtbar ist („visible music“) – und seit R. Murray Schafer auch alles, was mit dem Geruchs-, Tast-, Geschmacks- und Gleichgewichtssinn erfahrbar ist – und darin eingeschlossen das Verhältnis von Musik z.B. zu Licht, zu Landschaft, zum sozialen Umfeld, zum mittlerweile in Bewegung geratenen Rollenverständnis zwischen Interpret, Komponist, Dirigent etc.“ Daniel Ott, Am Umschlagplatz Klang. Anmerkungen zum Experimentellen in der Musik, in: Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate, Eine Einführung. Hg. Holger Schulze. Bielefeld 2008, 271 (zuerst erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 1, 2008). 33 Zumthor schreibt im Prospekt von einem „Gesamtereignis“ (dazu Zumthor, ProspektFlyer, wie Anm. 5); in seinem Konzept vom 27.11.1999 heisst es: „Vier autonome, künstlerische Arbeiten – Architektur, Gastronomie, Klang, Wort – zentriert auf das funktionale Thema‚ Haus der Gastfreundschaft‘ […] werden zu einem gesamtkunstwerkähnlichen Live-Ereignis gebündelt, das auf Unmittelbarkeit zielt, auf unvermitteltes und sinnliches Erleben.“ 34 „I realized: my composing had to become more lifelike, more ,humane‘! I had to integrate what was important to me into my work again: the theatrical element, the boundarycrossing, multimedia aspect – and I had to include the performer’s personality, his or her entire potential, too.“ Ott im Interview mit Roman Brotbeck (wie Anm. 22). 35 Ott, Am Umschlagplatz Klang (wie Anm. 32), 276.
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Ott wurde schon früh politisiert, durch seine Lehrer Klaus und Nicolaus A. Huber. Er engagierte sich gesellschaftlich, etwa als Mit-Organisator eines 677-Stunden-Dauerkonzertes zur Rettung der alten Aula in EssenWerden. In seinem Akkordeonstück „molto semplicemente“ (1989) für Teodoro Anzellotti beschreibt er das Erstaunen des Akkordeonisten über die Aussetzer seines Instrumentes bis zu dessen völligem Verstummen und parallel dazu die skandalöse offizielle Berichterstattung über eine Katastrophe in einem Basler Chemiewerk. Mit „para Alberto Alarcon“ (1991), einer szenischen Komposition für einen Tänzer mit Kastagnetten, setzt er auf Aufklärung, indem er die Geschichte der Kastagnetten und des spanischen Bürgerkrieg parallel vortragen lässt. In diesen frühen textgebundenen Arbeiten war die politische Botschaft noch explizit; das erwähnte Happening in Essen hatte ein aktuelles Ziel (und ein erfolgreiches Ergebnis). Anders als etwa bei seinem streng dialektisch denkenden Lehrer Nicolaus A. Huber ist Ott eine breite Rezeption wichtig. Darum ist der Komponist, Musiker, Pianist auch als Organisator, Animator und Pädagoge aktiv. Mit Landart-Arbeiten und dem Einbezug von Laien-Musikgruppen sowie mit Event- und Happening-artigen Aktionen spricht er bewusst auch ein breiteres Publikum an. In Rümlingen, einem kleinen Dorf hinter Hügeln an der Peripherie von Basel, präsentiert der Schweizer, der früh aufbricht, um immer wieder heimzukehren, seit 20 Jahren in einem internationalen Experimental-Festival die Richtungen, die ihn prägen. Ott selbst spricht vom „Dreiklang Rümlingen“36 aus Neuem Musiktheater, Hör-Installation in der Landschaft sowie politisch engagierter Musik. Dazu kommt das Engagement für die Dritte Welt: Eislers operatives Komponieren für unterschiedliche soziale Schichten, Klaus Hubers Akt der Kommunikation, interkulturelles und humanes Engagement, die sinnliche Bühnenpräsenz des Instrumentaltheaters von Kagel und Schnebel, Christian Wolffs kritischliberale Campus-Kultur der US-Ostküste, Frederic Rzewskis minimalistische Patterns und soziale Interaktionsformen sowie improvisatorische Unschärfen des kollektiven Spieles, die zur symbolischen Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse führen, Gesellschaftliches reflektierende Musik Südamerikas, Cages Klavierkonzert (gemäss Heinz Klaus Metzger ein anarchistisches Gesellschaftsmodell), die Komposition im Kollektiv …37 In dieser Auswahl wird das Ziel sichtbar, Musik als Angebot und Haltung erfahrbar zu machen. Es gelingt so, auf sinnliche Art Schranken zu durch36 Daniel Ott, Festival Rümlingen, 1990–2005, in: Geballte Gegenwart, Experiment Neue Musik Rümlingen. Hg. Daniel Ott et al. Basel 2005, 24. 37 Dazu Max Nyffeler, In der Wüste Sachfragen sagen. Rückblick auf die politische Musik der letzten Jahrzehnte, in: Geballte Gegenwart, Experiment Neue Musik Rümlingen. Hg. Daniel Ott et al. Basel 2005, 59–62.
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brechen und auch ein Publikum zu interessieren, das bisher kaum Kontakte zu zeitgenössischer Musik hatte. Dies gilt besonders für die Besucher einer Weltausstellung. Musikalisch wird innerhalb des Expo-Pavillons nochmals quasi eine Expo in der Expo, eine globale Welt gezeigt. Global gilt dabei nicht nur für die geografische Herkunft, sondern auch für den Pluralismus von Stilen, Instrumenten, Klangexponaten. Ganz im Sinne einer offenen Schweiz (vgl. die unzähligen Ein- und Ausgänge des Pavillons) werden Schweizer und Nicht-Schweizer vorgeschlagen, um einen Dialog zu lancieren (z.B. Hackbrettspieler aus allen Ecken der Welt) […]. Auch der Blick von aussen auf die Schweiz ist erwünscht; die Kulturvielfalt der Schweiz betonen.38
Nach Präsentationen, wo die Swissness besonders unterstrichen (Vancouver 1986) bzw. negiert wurde („Suiza no existe“, Sevilla 1992), war der Auftritt in Hannover 2000 ein ironisch-luftiger spielerischer Versuch, der von der Schweizer Landesausstellung Expo.02 teils übernommen, teils aber auch mit dem beginnenden neuen Nationalkonservativismus kontaminiert wurde. Was sagt der Klangkörper aus über die Schweiz? Er zeigt ein Land, das ausgeht von seinen Wurzeln, von Holz, Archaik, und dann doch eine neue Schweiz vorstellt, eine weltoffene, stimmungsvolle, einladende, gastfreundliche (50 Eingänge!). Ein Land, das Irritation und Neugier auslöst, zum Denken anregt und sich dem Dialog stellt, Ruhe bietet, die Schweiz als Kunstwerk begreift und den Menschen auf der Strasse anspricht, Identität stiftet und infrage stellt. Und vor allem: keine Ausstellung ist.39 Wie in der Architektur Grundriss und fast unsichtbare Stahlfedern die Konstruktion zusammenhalten, sind es in der Musik die unhörbare „Erbsenzählerei“, das strenge Zahlenkorsett, ein Raum-Zeit-Gitter, welche die in improvisatorischer Vielfalt wuchernden musikalischen Stränge konstruktiv zusammenhalten und ihm ein ebenso unsichtbares Rückgrat aus Zeit-, Raum- und Akkordstrukturen geben: notwendige, selbst verordnete Regeln in spielerischer Anwendung – antiautoritär, aber nie anarchistisch. Daneben wird hier auch ein Konglomerat weiterer Eigenschaften des Schweizers erlebbar, typisch für viele seiner Kunstwerke: Konstruktivismus, Klarheit, Askese, eine konsequente Konzentration und Reduktion der 38 Rohkonzept Klangkörper Schweiz, Stand 29.9.1998. 39 Vgl. dazu das Rohkonzept Klangkörper Schweiz, Stand vom 27.11.1999: „Die Schweiz setzt auf echte Qualität, auf Authentisches, Unvermitteltes, auf die Sinnlichkeit des direkt Erlebbaren […]. Die Schweiz ist stolz auf ihre regionalen Kulturen und ist zugleich weltoffen.“ Als Adjektive werden dabei „anregend, sinnlich, spielerisch, ein bisschen geheimnisvoll, unaufdringlich“ verwendet.
Zur Musik von Daniel Ott für den Klangkörper Schweiz
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Mittel, lakonischer Humor, der auf gewisse Weise „uninformativ“, eigenbrötlerisch wirkt,40 dann aber auch Machbarkeit, Innovationskraft, Multikulturalität. Der Pavillon und seine Musik verkörpern bewusst auch ein aufklärerisches Konzept, ein Modell, eine Utopie. In einem neuen politischen Umfeld sollen später einige Ideen aufgegriffen und weiter geführt werden: in Andres Bosshards Bieler Klangturm zur Expo.02 (teils mit denselben Co-Leitern), im Toggenburger Klangweg, im seit langem geplanten Klangspielhaus von Zumthor. Dazu hat Ott auch mit dem musikalischen Material und verschiedenen Musikern, vor allem Improvisatoren, in neuen Räumen weitergearbeitet (Therme Vals, Museum für Moderne Kunst Frankfurt, Glasbahnhof Sassnitz, Lokhalle Göttingen). Die Arbeit von Zumthor und Ott wurde öfters mit der Bedeutung von Le Corbusiers Phillips-Pavillon (Brüssel 1958) und dem „Poème électronique“ von Edgar Varèse verglichen, manchmal auch mit der Musik von Stockhausen für den Deutschen Pavillon in Osaka 1970.41 Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie spektakulär sind, eigens für Weltausstellungen geschaffen wurden, die Komposition mit der Architektur in einem Atemzug genannt wird und so gleichberechtigt erscheint. Wesentlicher sind die Unterschiede: Architektonisch wie musikalisch handelt es sich bei den genannten Arbeiten um geschlossene Formen und um durchkomponierte Musik, die in eine bauliche Hülle eingepasst wurde. Bei Zumthor-Ott sind es gemeinsam entwickelte offene Formen, die sich dem Rezipienten stets neu erschliessen und ihm eine Vielzahl von Perspektiven ermöglichen, wobei Co-Leiter, Interpreten, Improvisatoren, Publikum (und Umwelt!) dieses Kunstwerks in einem „work in progress“ gemeinsam mitgestalten und dieses Gesamtkunstwerk eine lebendige Eigendynamik entwickelt, ja gleichsam selbst die Regie übernommen hat.42
40 Peter Niklas Wilson, Moment Musical. KlangExponate, in: Du (Oktober 2000), 69. 41 So beispielsweise Peter Bienz, Architektur und Musik. Peter Zumthors Klangkörper Schweiz auf der Expo 2000, in: Neue Zürcher Zeitung, 2.6.2000, 66, und Matthias Kassel, Begehbare Kaleidophone. Schweizer Musikpavillons in Hannover und Biel, in: Positionen 54 (Februar 2003), 36–38. 42 Dazu Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt 1977 (ital. Originalausgabe, Mailand 1962).
Nostalgia and utopia and/in music …hold me, neighbor, in this storm… (2007) by Aleksandra Vrebalov Tatjana Markovic´
My first contacts with Dorothea Baumann started with the Congress of the International Musicological Society held in Budapest in August 2000 when I presented a paper and was a participant of the round table considering the musical culture of former Yugoslav states during the 1990s.1 This was also the beginning of my interest in nostalgia, following the fragmentation of Yugoslavia. For that reason, I am dedicating these thoughts about the Yugo-nostalgia, seen through the string quartet with gusle and tape by Aleksandra Vrebalov, to my dear friend and colleague Dorothea Baumann.2
1
2
Cf. the section Music of the 1990s in the context of social and political change in the ¡ asopis za muzic countries of the former Yugoslavia, ed. Zdravko Blaz ¡ ekovic´, Muzika: C ¡ku kulturu, 5 (2001) including: Albinca Pesek, Slovenian independence reflected in sounds, 13–19; Svanibor Pettan, Music and music research in the context of political changes ¡ avlovic´, Musical life in Bosnia and and war in Croatia during the 1990s, 20–42; Ivan C Herzegovina during the 1990s, 43–48; Tatjana Markovic´, Music and society in Serbia and Montenegro in the 1990s, 49–60; Velika Stojkova, Musical life in Macedonia during the 1990s, 61–66; Ljerka Vidic´ Rasmussen, Cultures in conflict – cultures in exchange: Popular music at the post-Yugoslav crossroads, 67–74; Timothy J. Colley, Musically negotiating history, nostalgia, and nationalism in the former Yugoslavia, 75–87. Due to this interest, the topic of the Tenth International Conference of the Department of Musicology, University of Arts in Belgrade, 2010, was Between Nostalgia, Utopia, and Realities, and a short version of this paper was presented then. In this case, so-called Yugo-nostalgia should be understood in a more complex way than only a sentimental longing for the past, in a way Maruša Pušnik defined it: “What is called Yugo-nostalgia is a broader transference of utopia – the ideal social arrangement, well-being and prosperity, order and safety – into the everyday realities and uncertainties of the present living conditions. The romanticization and idealization of the past overlooks that a desire to return to the Yugoslav socialist past grows with unstable or risky conditions in post-socialist societies; the latter struggle with global economic and cultural flows while positioned between socialist legacy and a sudden confrontation with the neo-liberal capitalist economy. […] Yugo-nostalgia may offer comfort thought a utopian vision of safety, justice, and reassurance, borrowed from the fantasies of past socialist worlds”. Breda Luthar and Maruša Pušnik (eds.), Remembering utopia: The culture of everyday life in Socialist Yugoslavia. Washington DC 2010, 19.
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Tatjana Markovic´
After the French Revolution, views of nostalgia were transformed from a medical disease to a social condition and, as such, became widespread in European culture. Investigating nostalgia and its counterpart utopia became a part of different disciplines, including psychology, sociology, philosophy, as well as musicology. Defined by Janelle L. Wilson as “an intrapersonal expression of self which subjectively provides one with a sense of continuity”, then as “an interpersonal form of conversational play, serving the purpose of bonding”, or as “a form of ideologizing or mystifying the past”, and as “a cultural commodity derived from the experience of a particular age-cohort and transformed into a market segment”, nostalgia clearly invited to provide various approaches.3 Nostalgia and utopia could be understood as synonyms, placed on the opposites of the time. Utopia is nostalgia for the perfect future: nostalgia is utopia of the past, a longing for an idealized past that has never existed or was experienced in the same way when it was present. Nostalgia itself has “a utopian dimension, only it is no longer directed toward the future”4. In that way, nostalgia becomes possible at the same time as utopia. The counterpart to the imagined future is the imagined past. But there is one crucial respect in which the power of the past is different. It has generated objects, images and texts, which can be seen as powerful talismans of how things used to be. Certainly we are not short of such reminders for the volume of text and image available seems to have grown at an almost exponential rate this century.5
Utopia and nostalgia are occasionally overlapping, producing utopian nostalgia, since nostalgia tends to surmount or to ignore the lack of continuity caused by constant change of human life.6 Both terms refer to personal and collective identity. Being related to the past and determined by arbitrarily chosen historical perspectives, both nostalgia and utopia are reflected in cultural memory and concepts of the self-representation, ranging from social behavior and cultural practices to individual artifacts. Starting from this general point, theories of nostalgia 3 4 5
6
Cf. Janelle L. Wilson, Nostalgia: Sanctuary of meaning. Cranbury (NJ) 2005, 19. Svetlana Boym, The future of nostalgia. New York 2001, xiv. Christopher Shaw, Malcolm Chase, The Imagined past: History and nostalgia. Manchester 1989, 9. In addition to that, utopia and nostalgia could be a useful conceptual antinomy: “At one extreme there is an optimistic confidence that the childlike but not infantile can be restored to our public life and to our private experience; at the other end of continuum lies a resignation about our own mortality, and about the irredeemability of our collective structures, which is made slightly more comfortable by the wistful and knowing pessimism of nostalgia.” Ibid., 6. Ibid., 8.
Nostalgia and utopia and/in music
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include further divisions and definitions. Thus Fred Davis differentiates between public and private nostalgia, meaning the public is “the condition in which the symbolic objects are of a highly public, widely shared, and familiar character”, and private would then assume the “symbolic images and allusions from the past which by virtue of their resource in a particular person’s biography tend to be more idiosyncratic, individuated, and particularistic in their reference,” including personal memories.7 One of the main theorists in this area, Svetlana Boym, makes a difference between restorative and reflective nostalgia: “Restorative nostalgia evokes national past and future; reflective nostalgia is more about individual and cultural memory.”8 Musical life is also signified by the given codes of nostalgia and utopia, recognizable and identifiable for a certain society, offering a secure shelter from the Other, especially in periods of crisis or social traumas. It is, therefore, understandable why music and poetry had a very significant role in different revolutions, uprisings, and wars. Considering the musical repertoires, it is also obvious that musical life is always socially explicable in specific cultural and political contexts, reflecting the dominant ideology/ ies. On the personal level, nostalgia is connected with the longing for “our childhood”.9 Consequently, nostalgia is both a cultural phenomenon and a personally subjective experience. In a similar way, utopia joins the public and private perspectives, the (political) visions of an entire community, as well as individual visions expressed in individual work of art, like in Beethoven’s Ninth symphony, or in the musical setting of Schiller’s ode An die Freude, for instance. An idealized image of the future is contextualized by the past seen as well-known and experienced knowledge, assigned as a sublime model. Utopia is thus related to nostalgia, understood as a projection of “a mythic world, which is not only perfect, but also primordial, a world from which everything else unfolds”.10 At the center of considerations of nostalgia/utopia is obviously the relation to the past (personal or collective history), although there are different opinions regarding the question of whether or not nostalgia represents more longing for a certain place or for certain time. Nostalgia involves 7 8 9 10
Fred Davis, Yearning for yesterday: A sociology of nostalgia. New York 1979. Boym, The future of nostalgia (as note 4), 49. Wilson, Nostalgia (as note 3), 30. Andreea Deciu Ritivoi, Yesterday’s self: Nostalgia and the immigrant identity. Lanham (MD) 2002, 34. Similarly, as Mario Jacoby put it, “nostalgic ideas of ultimate happiness are ‘not of this world’ – for this world can never provide salvation, perfect harmony and freedom from conflict. Such images must be grasped symbolically”. Mario Jacoby, Longing for paradise: Psychological perspectives on an archetype. Toronto 2006, 13.
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reconstruction of the past, reached through the way one may recollect it.11 However, bearing in mind that remembrance inevitably assumes selection of what and how one remembers the past, the process is closer to reactivation or resurrection of the past, as Marcel Proust put it. It means that nostalgia cannot provide a return to the past; rather that it brings the past into the present.12 Consequently, nostalgia obtains a particular attitude toward memories, or is “a particular way of ordering and interpreting the various ideas, feelings, and associations we experience when thinking of the past”.13 Thus nostalgia is a strategy of continuity14 or coherence15, including looking to the past to “make sense of present”16. In accordance with what is said, nostalgia can first and foremost be defined as “a perception of the present as history”17. It seems that nostalgia and utopia are especially close to the issue of diaspora, whose identity relies on the frozen cultural memory, including understandably musical memories. After migrations and displacement, nostalgic feelings for the Heimat are being transformed into utopia, remaining often the only connection to the past or “roots” of the own idealized nation. Musical compositions, both classical and popular, folk rites, songs and dances are objects of (national) identification, via experienced or ancestral recollections. In this perspective, displaced people expressed nostalgia “not mainly for antiquity but for recent pasts and earlier stages of their own lives”18. 11 Political theorist Steve Chilton suggests that “nostalgia goes well beyond recollection and reminiscence”, as the latter are “less actively creative”. While recollection and reminiscence require the “selection and ordering of facts”, this is less marked than with nostalgia, which is “more actively (even if unconsciously) myth-making.” Nostalgia demands an emotional valence. Reminiscence and recollection do not involve comparison to the present or a desire to return to the past, while nostalgia embodies both of these characteristics. According to: Jacoby, Longing for paradise (as note 11), 25. 12 Cf. Marcel Proust, Remembrance of things past. Trans. K. Scott-Moncrieff. London 1941. For more detailed analysis of Proust’s and other authors’ attitude to nostalgia, cf. Ritivoi, Yesterday’s self (as note 11). 13 Kimberly Smith, Mere nostalgia: Notes on a progressive paratheory, in: Rhetoric and Public Affairs 4 (2000), 505–527. 14 Ritivoi, Yesterday’s self (as note 11), 30. 15 Shaw/Chase, The Imagined past (as note 5), 29. 16 Robert Hemmings, Modern nostalgia: Siegfried Sassoon, trauma and the Second World War. Edinburgh 2008, 5. 17 Renée Rebecca Trilling, The aesthetics of nostalgia: Historical representation in Old English verse. Toronto and London 2009, 5. 18 The longing for the past, however, is not characteristic only for the first generations of migrants. Their memories, based on personal experience, are usually kept by the followers, as a part of their national and cultural heritage. Shaw/Chase, The Imagined past (as note 5), 20.
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The process of disintegration of Yugoslavia resulted in an extensive (em)migration, and consequently also in the lack of entire generation of the young scholars and artists in Serbia. Among them were also composers born in the 1960s and 1970s, like Aleksandra Vrebalov (born 1970 in Novi Sad) who lives in the United States for more than fifteen years. The life outside of the homeland required adjustment to a new culture, “a dialectics of change and sameness…, a newly discovered perspective on one’s self-identity”19, which Vrebalov confirmed through her opus. Once again in Serbian history, a great diaspora amongst its people has resulted in a new time and place – somewhere between their lost Heimat and the new world they inhabit. This world is marked by nostalgia, and Vrebalov continuously speaks her nostalgic musical Pannonian story. Her returns to Serbia were also related to the Pannonian world: thus her string quartet Pannonia boundless was performed by the Kronos Quartet at the opening of the BEMUS (Belgrade Music Festival) in 2002 and the performance of Orbits for symphony orchestra at the opening ceremony of the NOMUS (Novi Sad Music Festival) in 2005 marked Vrebalov’s official comeback into the Serbian musical life.20 Aleksandra Vrebalov has a succesful international career of some twenty years or more as a composer and teacher.21 The result is an opus consisting of works for instrumental and vocal chamber ensembles, as well as symphonic and stage music. Her compositions have been commissioned by and included in the repertoire of notable ensembles and soloists.22 One of 19 Ritivoi, Yesterday’s self (as note 11), 14. 20 Aleksandra Vrebalov’s piece Orbits, performed by the Vojvodina Philharmony with conductor Berislav Skenderovic´. The performance included in this respected music manifestation was broadcast live on TV and it received a big media attention during the composer’s stay in Novi Sad. 21 After her studies in Novi Sad, Belgrade, and master’s degree in composition from the San Francisco Conservatory of Music in 1996, she received her Doctor of Music degree at the University of Michigan in 2002. Vrebalov taught music theory first at the Novi Sad University (1993–1994, 1997, 1999), as well as at the University of Michigan (2000–2001), and at the City College of the City University of New York, along with composition and orchestration (since 2003). During her education at universities in Serbia and the U.S. and specialization at different European and American institutions, Vrebalov won critical acclaim for work, including numerous commissions and prestigious competitions. The statistics of the American Association of Composers and Publishers (ASCAP), where she is a member, indicate that her compositions were performed in 44 countries during the period 2002–02, and in cities spanning from New York and Hamburg to Osaka. 22 Among them are the Kronos, Sausalito, Onyx string quartets, Utrecht Quartet, Orchestra of the San Francisco Conservatory, the Moravian Philharmonic orchestra (the Czech Republic), the Vojvodina Philharmonic orchestra (Serbia), as well as significant soloists, such as the guitarist Jorge Caballero (the United States), the flutist Robert Aitken (Canada), the violoncellist Ištvan Varga (Serbia/Hungary).
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them, with which Vrebalov has a long and intensive collaboration, is the Kronos Quartet, and the composition …hold me, neighbor, in this storm… is dedicated to them. It was commissioned for the Kronos Quartet by the Carnegie Hall and by the Clarice Smith Performing Arts Center in Maryland,23 and it received its world premiere performance in February 2008 at the Carnegie Hall, two months after the work was written. This was, however, not the first string quartet Vrebalov wrote for the Kronos – namely her early quartet Pannonia boundless (1998) is included on their CD Kronos Caravan (1999). In March 2010, the Kronos Quartet led its second Carnegie Hall Professional Training Workshop, presented by the Weill Music Institute, coaching three emerging ensembles in the new string quartet repertoire Kronos has been commissioning for over thirty-five years. One of the compositions they chose as the representative for the contemporary string quartet was this work by Aleksandra Vrebalov. The composer’s Pannonian music narrative, especially expressed in the …hold me, neighbor, in this storm… for string quartet, gusle, tapan, and tape, should be positioned between reflective and restorative nostalgia, connected above all with Vrebalov’s memories from childhood in Yugoslavia and, as such, with a flavor of Yugo-nostalgia. According to the way Svetlana Boym defines it, restorative nostalgia “evokes national past and future”, and reflective nostalgia is more about individual and cultural memory. The two might overlap in their frames of reference… and can use the same triggers of memory and symbols…, but tell different stories about it.24
It seems that the composer’s Pannonian story reached a more personal and as such more universal level in this work, starting from the title itself. In previous works, the Pannonian world was depicted mainly by quotations of folk and urban songs, referring to the reflective nostalgia.25 Nostalgia was a motivating factor for the various diasporas of the successor states of Yugoslavia during the 1990s waves of war and reconstruction. […] This is especially evident with the evocation of folk music in art compositions… The suggestion of a folk melody or the
23 Moreover, the Kronos Quartet commissioned two additional parts of this work, keeping the …hold me neighbor… as a central part. 24 Boym, The future of nostalgia (as note 4). 25 Since folk songs have had “ideological work to do” in the promotion of a national tradition and national consciousness, it is clear how nostalgia and tradition mingle. Shaw/ Chase, The Imagined past (as note 11), 13.
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timbre of a folk instrument serves as a symbol, a nostalgic symbol from the past yet for the present and future.26
This was precisely Vrebalov’s strategy. In the …hold me, neighbor, in this storm… quartet, this relation is different due to different choice and treatment of the melodies from Vojvodina, introducing a wider dimension of the restorative nostalgia. This time the melodies are embedded into the context of the composer’s re/consideration of the “devastating ethnic wars” (Aleksandra Vrebalov) in the Balkans during the 1990s from the perspective in 2007, which led her to personal memories from her childhood. In other words, at first glance, nostalgia is a longing for a place, but actually it is a yearning for a different time – the time of our childhood, the slower rhythms of our dreams… The nostalgic desires to obliterate history and turn it into private or collective mythology, to revisit time like space.27
These recollections represent not only individual memory, but also anchorage in the Balkan “storm”, the axis of a nostalgic world. At the same time, call to an unnamed neighbor opens a utopian horizon, hope of a better future. The “storm” determines the permanent “conflict, flux, and redefinition” of historical Yugoslavia (1918–1991) in the context of the Balkan history between the Ottoman and the Austrian (Austro-Hungarian) empires, but also the Yugoslav culture as “a dynamic territory for cultural and political exchange among the Yugoslav peoples and the peoples of the Balkans and Middle Europe”28. Vrebalov’s standpoint speaks in favor of the harmony among different Balkan or former Yugoslav ethnic, cultural, religious, musical voices, as not only a possible, but also a much-needed perspective. Her music tells us how. The composition consists of six parts of different character, and they make a kind of cyclical narrative in a freely treated ABA1 form. The parts at the beginning and the end represent the Yugoslav/Balkan “stormy” political, cultural, ethnic, religious polyphony, offering a possibility of their dynamic unity. Inside the “storm” is an oasis of lyric, melancholic character, a picture of Vrebalov’s intimate memories. While restorative nostalgia “gravitates toward collective pictorial symbols and oral culture”, reflective nostalgia “is more oriented toward an individual narrative that savors
26 Colley, Musically negotiating history, nostalgia… (as note 1), 4. 27 Boym, The future of nostalgia (as note 4), xv. 28 Dubravka Ðuric´ and Miško Šuvakovic´, Impossible histories: Historical avant-gardes, neoavant-gardes, and post-avant-gardes in Yugoslavia, 1918–1991. Cambridge (Mass.) 2003, 3.
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details and memorial signs, perpetually deferring homecoming itself”.29 And the juxtaposition in Vrebalov’s composition follows precisely this pattern. On the one hand, restorative nostalgia signifies Balkan oral culture by engaging the gusle (performed by the player of Violin I) in the first and sixth sections marked Epic narrative and Resolute, biting. On the other hand, reflective nostalgia obtains individual narrative with memorial signs symbolizing homecoming through the voice of the composer’s grandmother, singing a folk song. As Vrebalov explained: …hold me, neighbor, in this storm… is inspired by folk and religious music from the region, whose insistent rhythms and harmonies create a sense of inevitability, a ritual trance with an obsessive, dark energy. Peaceful passages of the work grew out of the delicately curved, elusive, often microtonal melodies of prayers, as well as escapist tavern songs from the region, as my grandmother remembers them.30
When nostalgic personal memories reach the highest point of dramaturgy in the composition, their connotations are transformed from personal happiness into the utopian vision about a harmonious future for the Balkans. Vrebalov drives both lines in parallel, successive, overlapping ways, according to her personal recollections from the life in former Yugoslavia, toward the past and toward the future. In that way, “the sentiment of displacement results in a double exposure, or a superimposition of two images – of home and abroad, past and present, dream and everyday life”.31 The narrative of composition, coming from inside and outside, represents personal memories on the backdrop of collective memory. Signifiers of restorative nostalgia include timeless signs of the Balkan realities, embodied mainly via transposition of archaic layers of folk music (so-called old vocal tradition), and intonations of religious music from the region. Thus the panoramic view of the Balkans is constructed from the musical facets of the gusle, the tapan, church bells and the vocal sound, added to the string quartet. The epic, strong, intensive, resolute, raw, and passionate – or, as it is marked in the score dramatic, brutal – sound of the gusle, followed by “wild” exclamations and kicking of the floor of the player himself, all in compound meter is symbolic of Serbian identity (cf. Music example). The choice of gusle can be understood as nostalgia for the heroic past.32 29 Boym, The future of nostalgia (as note 4). 30 Cf. http://www.carnegiehall.org/article/sound_insights/works/commissions/art_ detail_HoldMeNeighborInThisStorm_commissions.html At this website there is a link to the recordings of the composition, performed by the Kronos Quartet. 31 Ibid., xiv. 32 In a very similar way, traditional verse forms were seen, in order to “create metrical memorials to the real-life events recoreded in the late tenth and early eleventh century annals”. Trilling, The aesthetics of nostalgia (as note 17), 26.
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Music example: Aleksandra Vrebalov, …hold me, neigbor, in this storm…, I Epical, narrative, 1–67.
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Commissioned for the Kronos Quartet by The Carnegie Hall Corporation and by the Clarice Smith Performing Arts Center at Maryland with funds from The Leading College and University Presenters Program of the Doris Duke Charitable Foundation. Additional support was provided by The James Irvine Foundation. ©phipress 2007
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