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German Pages 620 [637] Year 2019
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts
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Unter Mitwirkung von
Michael Brenner · Astrid Deuber-Mankowsky · Sander Gilman Raphael Gross · Daniel Jütte · Miriam Rürup Stefanie Schüler-Springorum · Daniel Wildmann (geschäftsführend) herausgegeben vom
Leo Baeck Institut London
Kathrin Wittler
Morgenländischer Glanz Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750–1850)
Mohr Siebeck
Kathrin Wittler, geboren 1985; Freiwilligendienst mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste am Leo Baeck Institut London; Studium der Germanistik und Orientalistik in Berlin und Tel Aviv; 2016 Promotion; wiss. Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin. orcid.org/0000-0003-4466-3343
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-16-156486-4 / eISBN 978-3-16-156487-1 DOI 10.1628/978-3-16-156487-1 ISSN 0459-097X / eISSN 2569-4383 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Minion Pro gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Einband entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: Anonym, Guckkastenbild: Die Neue Synagoge zu Berlin, Berlin ca. 1888, Lithographie, aquarelliert, 32,4 x 40 cm. Jüdisches Museum Berlin, Ankauf durch die Gesellschaft für ein Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jens Ziehe. Printed in Germany.
Danksagung Bei diesem Buch handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Dezember 2016 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt habe. Sie wurde im Oktober 2017 mit dem Sonderpreis der Humboldt-Universität zu Berlin für eine Dissertation zum Thema ›Judentum und Antisemitismus‹ ausgezeichnet und im Juni 2018 mit dem Johannes Zilkens-Promotionspreis der Studienstiftung des deutschen Volkes geehrt. An erster Stelle bin ich den beiden Betreuern dieser Arbeit zu tiefem Dank verpflichtet. Andrea Polaschegg hat mich seit meinen ersten Studiensemestern an der Humboldt-Universität gefördert, indem sie mir immer wieder mehr zutraute als ich mir selbst. Ohne ihre Unterstützung, ihre konstruktive Kritik, ihr Vorbild wissenschaftlicher Rigorosität und ihre Forschungsarbeiten zum Orientalismus wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ernst Osterkamp hat mir als studentischer Mitarbeiterin wie als Doktorandin über Jahre ebenso großes wie stetes Vertrauen entgegengebracht und die Entstehung dieser Arbeit mit wohlwollender Kritik begleitet. Von ihm habe ich lernen dürfen, wie sich literarische Texte durch philologischen Feinsinn aufschließen und würdigen lassen. Ich begegne der Unerschöpflichkeit seines literaturgeschichtlichen Wissens mit Demut. Finanziell ermöglicht wurde diese Arbeit durch ein dreijähriges Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes und ein anderthalbjähriges Minerva Fellowship am Franz Rosenzweig Minerva Research Center der Hebräischen Universität Jerusalem. Besonders dankbar bin ich für die mit beiden Förderformaten verbundenen Gelegenheiten zu fächerübergreifendem Austausch, die mir geholfen haben, meine Gedanken zu präzisieren und in der Forschungslandschaft zu verorten. Ich habe von verschiedenen weiteren Diskussionsmöglichkeiten profitiert, darunter das Forschungskolloquium von Andrea Polaschegg am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität, die Arbeitsgruppe ›Jüdische Geschichte und Geschichtsschreibung‹ am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, der SFB 644 Transformationen der Antike sowie mehrere Sommerschulen und Workshops. Michael Gamper danke ich dafür, dass er mir am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin hervorragende Bedingungen für die Erstellung der Druckfassung schuf. Besonders viel verdankt diese Arbeit der anmutigen Gelehrsamkeit von Annika Hildebrandt, die mir in beflügelnden Gesprächen wertvolle Ideen geschenkt
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Danksagung
hat. Ferner danke ich für fachliche und kollegiale Unterstützung sowie zahlreiche Anregungen und Hinweise Yael Almog, Hannah Altehenger, Alex Alon, Hans-Christoph Aurin, Cornelia Aust, Mirjam Beddig, Tovia Ben-Chorin, Anat Benzvi, Richard I. Cohen, Doerte Bischoff, Andreas Brämer, Vera Bronn, Ulrike Brunotte, Arndt Engelhardt, Sonia Beth Gollance, Cordula Grewe, Raphael Gross, Arnon Hampe, Louise Hecht, Amir Heinitz, Manja Herrmann, Brad Sabin Hill, James Hodkinson, Iris Idelson-Shein, Ofri Ilany, Vera Kallenberg, Carolin Kosuch, Maja Krüger, Jan Kühne, Uta Lohmann, Irmela von der Lühe, Yulia Marfutova, Steffen Martus, Max Mäteling, Markus Nesselrodt, Günter Oesterle, Wolfgang Rasch, Carmen Reichert, Mara Reissberger, Kaspar Renner, Dorothea Salzer, Hillel ben Sasson, Andrea Schatz, Judith Siepmann, Jonathan Skolnik, Martha Stellmacher, Daniel Weidner, Christian Wiese, Werner Treß, Dorothea Warneck und Yfaat Weiss. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsbibliothek zu Berlin für die rapide Erfüllung zahlreicher Anschaffungswünsche und der Fernleihstelle des Grimm-Zentrums für die Erledigung komplizierter Rara-Bestellungen. Einige seltene Bücher und Archivdokumente konnte ich erst in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem einsehen, deren freundlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ich ebenso herzlich danke wie all den Archivarinnen und Archivaren weltweit, die meine Anfragen bereitwillig bearbeitet haben. Ich danke Daniel Wildmann für die Aufnahme dieses Buchs in die Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts. Vor vielen Jahren, als ASF-Freiwillige am Leo Baeck Institut in London, habe ich die Bände dieser Reihe erstmals in der Hand gehabt und in stiller Ehrfurcht erwogen, was sie über die deutsche jüdische Geschichte und deren Erforschung erzählen. Es ist eine Ehre, dass mein Buch sich in die in mehrfacher Hinsicht geschichtsträchtige Schriftenreihe einreihen darf. Ich danke Stephanie Warnke-De Nobili, Martina Kayser und Ilse König für die Betreuung der Buchwerdung im Verlag Mohr Siebeck. Das Korrektorat des Manuskripts hat Chanah Kempin mit Umsicht besorgt. Dafür, dass sie mich auf diesem langen Weg oder einem Stück davon begleitet haben, danke ich Philipp Bode, Rainer Maria Meinicke, Karl Christ, Sebastian Felten, Elka Gotfryd, Amrey Hesse, Annika Hildebrandt, Susanne Jany, Parag Majumdar, Itay Manes, Juliane Müller, Arnold Paucker (1921–2016), Pauline Paucker, Joshua Rogers, Sarah Scheibenberger, Kathrin Seward, Lotan Vollman, Friederike Wenzel, Felix Wiedemann und den Menschen, die sich bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste engagieren. Ich danke meiner Familie, ganz besonders meinem Vater Eckhard Wittler. Seine Großzügigkeit und Selbstlosigkeit sind unfassbar. בירושלים שהראו27 אני מקדישה ספר זה לכל השותפים ולכל האורחים בדירה ברחוב הפלמ“ח . לפרגן:לי מה זה Berlin, Herbst 2018
Kathrin Wittler
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung Der Orientalismus (in) der deutschen jüdischen Literatur . . . 1 1.1 Eine einzigartige Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2 Gebrauchsgeschichte statt Bilderkritik . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3 Selbst- und Fremdorientalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.4 Traditionsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.5 Epochensignaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.7 Kultursemantik literarischer Form . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1.8 »Griechisch schön gebildete Seele« und »orientalische Tournüre« Mendelssohns Diskurspolitik in der Stilkritik . . . . . . . . . . . 49
2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie Jüdische Traditionen im Konkurrenzfeld der Altertümer . . . . 59 2.1 Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.1.1 Streit um die orientalische Schreibart Die hebräische Poesie im literarischen Parteienkampf um 1750 (Gottsched – Lange – Bodmer/Breitinger) . . . . . . . . 63 2.1.2 Griechische, römische, nordische und orientalische Schreibarten Die hebräische Poesie in der Pluralisierung des Altertums (Mendelssohn – Herder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.1.3 Ursprache und Urpoesie im »Allerheiligsten des Orients« Die hebräische Poesie in der Historisierung des Altertums (Lowth – Herder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1.4 Schreib- und Denkarten Historisierung und Individualisierung des Stilbegriffs (Breitenbauch – Gleim – Herder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.1.5 Eigentümlichkeit zwischen den Stylen Positionen und Projektionen jüdischen Schreibens in deutscher Sprache (Ephraim – Behr – Kuh – Ascher) . . . . . 103 2.1.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
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2.2 Bibelübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.2.1 Ästhetik des Erhabenen Die hebräische Poesie in Mendelssohns Übersetzung der Tora (1780–1783) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2.2.2 Dezenter Orientalismus Mendelssohns Übersetzung der Psalmen (1783) . . . . . . . . . . 125 2.2.3 Die Psalmen – morgenländische Oden oder klassische Werke? Friedländers Verortung der hebräischen Poesie im System der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.2.4 »Die heilige Schrift ist ein Tempel« Friedländers Traditionsumbau zwischen Orientalismus und Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.2.5 Morgenländischer Schimmer Friedländers Übersetzungsreflexion Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst (1794) . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2.2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2.3 Altertumswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2.3.1 Das Projekt einer Archäologie der Hebräer Hebräische Antike zwischen Theologie, Altertumswissenschaft und Orientalistik (Michaelis – Eichhorn) . . . . . . . . . . . . . . 163 2.3.2 Ver- und Entschleierungen Hartmanns Hebräerin am Putztische und als Braut (1809/10) . . 170 2.3.3 Heilig, klassisch, orientalisch? Marginalisierung und Negativkanonisierung der Hebräer (Wolf – Boeckh – Saalschütz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.3.4 Orientalisch oder west-östlich? Konzepte hebräischer Poesie und jüdischer Literatur im 19. Jahrhundert (Martinet – Delitzsch – Zunz) . . . . . . . . 190 2.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
3. Zeichensysteme des Orientalismus Transferfiguren im Horizont jüdischer Vielsprachigkeit . . . . 207 Emanzipation als Europäisierung? Mediale Raumordnungen jüdischer Lebenswelten . . . . . . . . 212 3.1.1 Die Bezeichnungspolitik der Emanzipation und ihre Grenzen Debatten über die ›bürgerliche Verbesserung‹ von ›asiatischen Flüchtlingen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.1
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3.1.2 Kaftane, Bärte und andere Relikte der Vergangenheit Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Aschkenas . . . . . . . . 226 3.1.3 Spiegelungen von Aschkenas in Sefarad Raumordnung und Leseradressierung in Euchels Briefen des Meschullam (1790) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3.1.4 Die Morgenländerin Sulamith Eine ambivalente Titelfigur für die erste deutschsprachige jüdische Zeitschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3.1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3.2 Verpflanzungen West-östliche Poetiken bilingualen Schreibens und Übersetzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3.2.1 Morgenländische Blumen im Gewächshaus jüdischer Pädagogik Zur Rezeption von Wesselys Mose-Epos Shirei Tiferet (1789–1805/1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3.2.2 Hebräisch-deutsche, ost-westliche Poesie Cohens Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden (1807) 275 3.2.3 Uranfang im Osten? Zur Semantik des Östlichen im Hebräischen (misrach und qedem) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3.2.4 Poetologie des Ursprungs Cohens restauratives Erneuerungsprogramm . . . . . . . . . . . 294 3.2.5 Bibelübersetzung als west-östliche Vermittlung Arbeit an der Tradition in jüdischen Bibelübersetzungen nach Mendelssohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 3.2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 3.3
Florio- und Arboriographie Die morgenländische Pflanze als Kollektivsymbol . . . . . . . . 310 3.3.1 Wurzeln und Wipfel Silvanationale Deutungsmuster und emanzipationspolitische Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3.3.2 Im Metapherngestrüpp Jacobys poetische Irrfahrten im Kollektivsymbolsystem . . . . . 321 3.3.3 Selamik Die orientalische Blumensprache der Biedermeierzeit . . . . . . 326 3.3.4 Selam an Salem Emanzipationspolitische Selamographie in Wihls West-östlichen Schwalben (1847) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3.3.5 Blütezeiten Verpflanzung als Metapher in der jüdischen Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
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3.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137 Jüdische Positionen im Konkurrenzfeld der Gefühle . . . . . . . 351 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
»Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!« Morgenröten jüdischer Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Jubelklänge der Reform Festgesänge in Synagogen des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . 355 Poetische Erweckung Steinheims Mose-Epos Sinai (1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Glänzende Trümmer und klingende Ruinen Rappaports Gedicht Zionsecho (1860) . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Jüdische Zerrissenheit? Poetische Performanz zwischen Wehmut und Unmut . . . . . . 370 4.2.1 Weltschmerz und Judenschmerz Die Seelenlage der Zerrissenheit in der Biedermeierzeit . . . . . 372 4.2.2 Die west-östliche Ambivalenz jüdischen Schmerzes Heines An/Klagen (1824) und Hebräische Melodien (1851) . . . . 376 4.2.3 »Dein Schmerz? Er ist erheuchelt!« Jacobys Klagen eines Juden (1837) und der Kampf um Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 4.2.4 Verheißung des Westens Steinheims Gesänge aus der Verbannung (1829/1837) und der Affekt der Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 4.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 4.2
Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne Die Multimedialität des 137. Psalms . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4.3.1 Der »orientalische Charakter« im »Reflex nordischer Anschauung« Bendemanns Gemälde Gefangene Juden (1832) und Jeremias (1835) in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4.3.2 Bildwanderungen Bibelillustrationen und lebende Bilder nach Bendemanns ›Trauernden Juden‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 4.3.3 Im Kampf mit den »orientalischen Elementen« Der Emanzipationsdiskurs in Lewalds Roman Jenny (1843) . . . 432 4.3
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4.3.4 Im Treibhaus gefangen, im Gesang befreit Bendemanns Gefangene Juden als lebendes Bild in Lewalds Roman Jenny (1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 4.3.5 Fanny Lewald im Wintergarten Fotografische Stillstellung im Zuschreibungswald . . . . . . . . . 451 4.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
5. Fichtenbaum und Palme Heines deutsche jüdische Poetik der Einsamkeit . . . . . . . . . 457 5.1
Rätsel der Einsamkeit Die Gebrauchs- und Deutungsgeschichte des Gedichts . . . . . . 461 5.1.1 Morgenlandtraum? Zum Irritationspotential des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . 462 5.1.2 Ein Rätselgedicht Aufforderung zur Allegorese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 5.1.3 Deutungsansätze Liebespaar, kosmischer Gegensatz, Orientsehnsucht, jüdische Zerrissenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 5.2 Privationen. Das Gedicht in seinen Publikationskontexten . . . 479 5.2.1 Nord-Süd-Kontraste Das Gedicht in den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 5.2.2 Performanz des Schweigens Das Gedicht im Buch der Lieder (1827) . . . . . . . . . . . . . . . 486 5.2.3 Hängende Harfen Embleme poetischer Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 5.3 Fazit Heines deutsche jüdische Poetologie und die Ästhetik der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
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6. Fazit Morgenländischer Glanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 6.1
Sprachen, Schriften und Schreibweisen des Orientalismus . . . . 503
6.2
Deutsche, jüdische, orientalistische Perspektiven der Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
6.3
Maurischer Styl Orientalismus und Sefardismus im Synagogenbau des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 1. 2. 3.
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
1. Einleitung Der Orientalismus (in) der deutschen jüdischen Literatur Wenn eine Berlinerin im späten 19. Jahrhundert erwartungsvoll an das Fensterchen eines Guckkastens herantrat und hineinschaute, sah sie dort vielleicht einen mit vielfarbigen Ornamenten üppig verzierten Sakralraum, durch dessen große Fenster sich zu beiden Seiten Lichtstrahlen brachen. Vage an ein Kirchenschiff erinnernd, muteten die Kuppelwölbung, die Bogenformen, die Farbgebung und die opulent-arabeske Ornamentik doch entschieden orientalisch an, ähnlich dem Alhambra-Palast, den sie schon einmal in einem anderen Guckkastenbild gesehen hatte. Die Bildunterschrift verriet ihr, dass sie hier, im illusionstechnisch raffinierten Lichtschein des Guckkastens,1 den Innenraum der 1866 eingeweihten Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße sah, deren vergoldete Kuppel im Stadtbild weithin sichtbar war. Sie musste an die Figuren der Bibel denken, an Abraham und Sarah, an Joseph, David und Ruth, an Paläste, Wüsten, Palmen, kostbar schimmernde Stoffe, orientalische Klänge und geschwungene Schriftzeichen, an ihre jüdische Bekannte aus der Nachbarschaft und an die sogenannten Ostjuden im Scheunenviertel. Sie war befremdet, und sie war fasziniert. In diesem Buch gehe ich den Projektionen und Assoziationen nach, die sich in der Phantasie dieser zum Zweck der Anschaulichkeit erfundenen Berlinerin kreuzen und überlagern. Ich werde die Lichtquellen ausfindig machen, die jüdische Traditionen im 18. und 19. Jahrhundert in morgenländischem Glanz erstrahlen ließen, ihren manchmal irisierenden Widerschein in den Blick nehmen, und ihre Schattenzonen erkunden. Damit leiste ich einen Beitrag zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen der jüdischen Geschichte und dem Orientalismus, der seit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt.2 Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar haben 2005 mit ihrem 1
Konrad Vanja: Die Faszination der Bilder. Guckkästner und ihre Welt im 18. und 19. Jahrhundert. In: Nicolas Lancret. Der Guckkastenmann. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Hg. von der Kulturstiftung der Länder. Berlin 2003. S. 41–53. 2 Internal Outsiders – Imagined Orientals? Antisemitism, Colonialism and Modern Constructions of Jewish Identity. Hg. von Ulrike Brunotte u. a. Würzburg 2017; Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache. Hg. von Lena Salaymeh u. a. Göttingen 2017; Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses. Hg. von Ulrike Brunotte u. a. Berlin 2015; Nina Berman: German Literature on the Middle East. Discourses and Practices, 1000–1989. Ann Arbor, MI 2011. S. 12 und S. 154–180; Steven E. Aschheim: The Modern Jewish Experience and the Entangled Web of Orientalism. Amsterdam 2010; Markus Kirchhoff: Erweiterter
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1. Einleitung
bahnbrechenden Sammelband Orientalism and the Jews viele Facetten dieses Zusammenhangs ausgelotet;3 das Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris zeigte 2012 eine umfangreiche Gemälde-Ausstellung unter dem Titel Les Juifs dans l’orientalisme.4 Die wissenschaftlichen Leistungen jüdischer Orientalisten – allen voran Abraham Geigers und Ignaz Goldzihers – sind neu gewürdigt und kontextualisiert worden.5 Das aktuelle Interesse an diesen Zusammenhängen ist durch (Selbst-)Verständigungsbedürfnisse motiviert, die sich aus der Weltlage der unmittelbaren Gegenwart ergeben. Während man im langen 19. Jahrhundert davon ausging, dass die in Europa lebenden Juden – zumindest ihrem Ursprung nach – als Orientalen aufzufassen seien, verlor diese (Selbst‑)Wahrnehmung um die Mitte des 20. Jahrhundert ihre Selbstverständlichkeit: Die Juden und das Judentum galten nun gemeinhin als Teil des Okzidents.6 Diese Neuzuordnung ergab sich aus drei Entwicklungen. Erstens wurden Juden im US-amerikanischen Diskurs seit den 1940er und Orientalismus. Zu euro-christlichen Identifikationen und jüdischer Gegengeschichte im 19. Jahrhundert. In: Jüdische Geschichte als Allgemeine Geschichte. Hg. von Raphael Gross und Yfaat Weiss. Göttingen 2006. S. 99–119; Harvey E. Goldberg: The Oriental and the Orientalist. The Meeting of Mordechai Ha-Cohen and Nahum Slouschz. In: Jewish Culture and History 7:3 (2004). S. 1–30; Felix Wiedemann: Orientalismus. In: Docupedia-Zeitgeschichte 2012, Online-Ausgabe. Vgl. des Weiteren die Themenschwerpunkte Jewish Orientalism der Zeitschrift Shofar 24 (2006) und Jewish-European/ Jewish Oriental Narratives of Identity der Zeitschrift Transversal 7 (2006). Auch in einschlägigen Lexika erhält der Themenkomplex langsam den ihm gebührenden Raum. Zwar wurde in die Neuauflage der Encyclopaedia Judaica (2007) nur Martin Meir Plessners Artikel Orientalists aus der ersten Auflage von 1971/72 unverändert übernommen (EJ 15 (2007). S. 471) und im Handbuch des Antisemitismus (2008–2015) auf einen Eintrag verzichtet. Die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (2011–2016) enthält aber einen Essay zum Stichwort ›Orient‹ (EJGK 4. S. 430–437). 3 Orientalism and the Jews. Hg. von Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar. Waltham, MA 2005. 4 Les Juifs dans l’orientalisme. Ausstellungskatalog Musée d’art et d’histoire du Judaïsme. Hg. von Laurence Sigal-Klagsbald u. a. Paris 2012. 5 The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honour of Bernard Lewis. Hg. von Martin Kramer. Tel Aviv 1999; »Im vollen Licht der Geschichte«. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung. Hg. von Dirk Hartwig u. a. Würzburg 2008; John M. Efron: Orientalism and the Jewish Historical Gaze. In: Orientalism and the Jews. Hg. von Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar. Waltham, MA 2005. S. 80–93; Ismar Schorsch: Converging Cognates. The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Nineteenth Century Germany. In: LBI YB 55 (2010). S. 3–36; Susannah Heschel: German Jewish Scholarship on Islam as a Tool for De-Orientalizing Judaism. In: New German Critique 39:117 (2012). S. 91–107; Klaus Herrmann: Das Bild des Islam im Reformjudentum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Orient als Grenzbereich? Rabbinisches und außerrabbinisches Judentum. Hg. von Annelies Kuyt und Gerold Necker. Wiesbaden 2007. S. 217–247; Perrine Simon-Nahum: Le mort saisit le vif. La place des Juifs dans les études orientales aux XIXe et XXe siècles. In: Les Juifs dans l’orientalisme. Ausstellungskatalog Musée d’art et d’histoire du Judaïsme. Hg. von Laurence Sigal-Klagsbald u. a. Paris 2012. S. 45–51; Thomas L. Gertzen: Judentum und Konfession in der Geschichte der deutschsprachigen Ägyptologie. Berlin/Boston, MA 2017. 6 Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar: An Introduction. In: Orientalism and the Jews. Hg. von denselben. Waltham, MA 2005. S. xiii–xl, hier: S. xxxv und S. xxxix; Berman: German Literature on the Middle East, 2011. S. 216.
1. Einleitung
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1950er Jahren als Weiße betrachtet, nachdem in den Jahrzehnten zuvor immer wieder debattiert, hinterfragt und neu verhandelt worden war, ob sie der Kategorie black oder white zuzurechnen seien.7 Zweitens erlangte in derselben Zeit das Konzept einer ›jüdisch-christlichen‹ Tradition in den USA Konjunktur, 8 das sich auch in Europa durchsetzen konnte. Inzwischen wird der Topos des ›christlichen Abendlandes‹ analog zur amerikanischen Fügung meist zum ›jüdisch-christlichen Abendland‹ ergänzt.9 Drittens spielten die Kultur- und Außenpolitik Israels sowie der Israel-Palästina-Konflikt bei der Okzidentalisierung der Juden eine wichtige Rolle. Israel galt als westlich-moderne Demokratie im Nahen Osten; der Zionismus wurde von seinen Kritikern zu einem Instrument des europäischen Imperialismus, Kolonialismus und Orientalismus stilisiert.10 Im ideologischen Horizont der internationalen Weltordnung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag es mithin nicht nahe, die Juden als Objekte bzw. Opfer des Orientalismus in den Blickpunkt zu rücken.11 Seit der Jahrtausendwende aber stellen sich die politischen und kulturellen Gegebenheiten anders dar. Die mediale Präsenz des Islams und die darauf reagierende Forschung12 haben dazu beigetragen, dass das historische Verhältnis von Judentum und Islam in Europa intensivere Aufmerksamkeit erfährt.13 In 7 Eric L. Goldstein: The Price of Whiteness. Jews, Race, and American Identity. Princeton, NJ 2006. 8 Mark Silk: Notes on the Judeo-Christian Tradition in America. In: American Quarterly 36 (1984). S. 65–85. 9 Hanspeter Heinz: Kein banaler Philosemitismus! Zur Rede von der »jüdisch-christlichen« Kultur Europas. In: Herder Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion 65:2 (2011). S. 65– 69. Vgl. zum Hintergrund Dagmar Pöpping: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945. Berlin 2002; Richard Faber: Abendland. Ein politischer Kampfbegriff. Berlin/Wien 2002; Heinz Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen. In: Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Hg. von Albrecht Langner. Paderborn u. a. 1985. S. 131–154; Konrad Repken: Abendland. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005. Sp. 1–4. 10 Edward W. Said: Zionism from the Standpoint of its Victims. In: Social Text 1 (1979). S. 7–58, bes. S. 29 f. Noch das umfangreiche Themenheft Postcolonial Theory and the Arab-Israeli Conflict einer politischen Zeitschrift – Israel Affairs 13:4 (2007) – arbeitet sich an Saids Beitrag ab. Vgl. zur Beschreibung Israels als westlicher Eindringling in den Orient auch Hanno Loewy: Der ewige »Dritte« in allen Konflikten? Europa, der »Orient« und die Juden. In: Fritz Bauer Institut Newsletter 15:29 (2006). S. 24 f. 11 Kalmar/Penslar: Introduction Orientalism and the Jews, 2005. S. xv. 12 Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Hg. von Thorsten Gerald Schneiders. Wiesbaden 22010; Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird. Hg. von Thorsten Gerald Schneiders. Wiesbaden 2010. Vgl. auch Encounters with Islam in German Literature and Culture. Hg. von James Hodkinson und Jeff Morrison. Rochester, NY u. a. 2009; Orient- und IslamBilder – Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Hg. von Iman Attia. Münster 2007. 13 Michael Brenner: Einleitung [zum Themenschwerpunkt Judentum und Islam]. In: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2:2 (2008). S. 5–7; Kalmar/Penslar: Introduction Orientalism and the Jews, 2005. S. xxi f.
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diesem Kontext wurde wiederholt und teilweise mit großem Medienecho auf historische Parallelen zwischen Juden- und Muslimenfeindlichkeit sowie zwischen der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert und der gegenwärtig vieldebattierten Integration muslimischer Migranten hingewiesen.14 Auch in Israel lassen sich Veränderungen feststellen; einige Beobachter nehmen eine Entfernung vom Westen und eine Angleichung an die nahöstliche Umgebung wahr.15 Die Diskriminierung von Juden nahöstlicher Herkunft in Israel, den sogenannten Misrachim ()מזרחים, wird inzwischen auch mit akademischem Rückhalt als Verlängerung des europäischen Orientalismus kritisiert: Die aschkenasischen Juden, so der Vorwurf, hätten in Israel orientalistische Vorurteile, die in Europa auf sie selbst gemünzt worden seien, auf die vermeintlich rückständigen, aus muslimischen Ländern stammenden Juden umgelenkt.16 Nicht nur die christlichen und muslimischen Araber, sondern auch die Juden aus arabischen Staaten erscheinen in dieser Perspektive als Opfer des Zionismus.17 Im Bereich akademischer Kul Vgl. etwa den Themenschwerpunkt des Tel Aviver Jahrbuchs für deutsche Geschichte 27 (2009): Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität. Hg. von José Brunner und Shai Lavi. Göttingen 2009; Wolfgang Benz: »Die Islamfeinde kämpfen um Bodengewinn«. Über die Verwandtschaft von Judenhaß und Muslimfeindschaft [Interview vom 11. März 2009]. In: Kay Sokolowsky: Feindbild Moslem. Berlin 2009. S. 185–196; Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich. Hg. von Gideon Botsch u. a. Berlin/Boston, MA 2012; Almut S. Bruckstein: Wo Muslime fremd sind, sind wir es auch. In: Islam, Kultur, Politik. Dossier zu Politik und Kultur. Hg. im Auftrag des deutschen Kulturrats von Olaf Zimmermann und Theo Geißler. Berlin 2011. S. 21 f.; Timothy Baker und Susannah Heschel: Introduction. Transnational Migrations of Identity. Jews, Muslims, and the Modernity Debate. In: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30:1 (2010). S. 1–5; Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Gisbert Gemein. Bonn 2011. 15 M.M. Silver: מבט אחר על ההיסטוריה היהודית המודרנית. בשליחות המערב. Tel Aviv 2014, bes. S. 300– 308; Lidia Averbukh: Israel auf dem Weg in den »Orient«? Mizrachische Juden gewinnen kulturell und politisch an Bedeutung. In: SWP-Aktuell 16 (2017). S. 1–8. Vgl. auch Johannes Becke: Mehr Kairo als Berlin. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2015; dazu die Kolumne von Ofri Ilany: ישראל היא כבר מזמן חלק מהג‘ונגל. In: Haaretz, Wochenendbeilage, 4. November 2015. 16 Amnon Raz-Krakotzkin: The Zionist Return to the West and the Mizrahi Jewish Perspective. In: Orientalism and the Jews. Hg. von Ivan Davidson Kalmar und Derek J. Penslar. Waltham, MA 2005. S. 162–181; Aziza Khazzoom: The Great Chain of Orientalism. Jewish Identity, Stigma Management, and Ethnic Exclusion in Israel. In: American Sociological Review 68 (2003). S. 481–510; Ella Shohat: The Invention of the Mizrahim. In: Journal of Palestine Studies 29 (1999). S. 5–20; Joseph Massad: Zionism’s Internal Others. Israel and the Oriental Jews. In: Journal of Palestine Studies 25 (1996). S. 53–68; Gabriel Piterberg: Domestic Orientalism. The Representations of ›Oriental‹ Jews in Zionist/Israeli Historiography. In: British Journal of Middle Eastern Studies 23 (1996). S. 125–145; Daniel J. Schroeter: Orientalism and the Jews of the Mediterranean. In: Journal of Mediterranean Studies 4:2 (1994). S. 183–196. Vgl. auch Sammy Smooha: Mizrahim. In: Encyclopedia of Jews in the Islamic World. Hg. von Norman A. Stillman. Bd. 3. Leiden/Boston, MA 2010. S. 4 40–443; Lital Levy: Historicizing the Concept of Arab Jews in the Mashriq. In: JQR 98:4 (2008). S. 452–469; Moshe Behar: Mizrahim, Abstracted. Action, Reflection, and the Academization of the Mizrahi Cause. Review Essay. In: Journal of Palestine Studies 37:2 (2008). S. 89–100. 17 Ella Shohat: Sephardim in Israel. Zionism from the Standpoint of its Jewish Victims. In: Social Text 10 (1988). S. 1–35. 14
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turtheorie schließlich haben die historischen Zusammenhänge zwischen der jüdischen Geschichte und dem Orientalismus in den letzten Jahren als historischer Modellfall für die Evaluierung einer globalen Krise postmodernen, postkolonialen und säkularen Denkens Popularität erlangt.18 Das aktuelle Interesse an der historischen Rolle der Juden im Orientalismus des langen 19. Jahrhunderts ist also durch globale Diskursentwicklungen seit der Jahrtausendwende bedingt. Jüdisch-orientalische Korrelationen haben zwar ihre unmittelbare Evidenz verloren, dafür aber als historischer Modell- und Vergleichsfall im Zeichen der westlichen Auseinandersetzung mit dem Islam und den Re-Orientierungen in Israel sowie der akademischen Globalisierungs- und Säkularismuskritik eine erhebliche Virulenz erlangt. Umso dringender erscheint es, das historische Phänomen selbst genauer zu rekonstruieren und zu verstehen. Das unternehme ich in der vorliegenden Arbeit aus diskurs- und literaturgeschichtlicher Perspektive für den Zeitraum 1750 bis 1850.
1.1 Eine einzigartige Konstellation Mit der Frage nach der Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte um 1800 rückt eine in dreifachem Sinne einzigartige historische Konstellation in den Blick. Sowohl die Geschichte der deutschen Juden als auch die Geschichte des deutschen Orientalismus gelten als europäische Ausnahmefälle, und beider Sonderstatus schlägt sich maßgeblich in einer Affinität zur Literatur nieder. Um diese besondere Signatur hervortreten zu lassen und damit dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit Konturen zu verleihen, skizziere ich im Folgenden in aller gebotenen Knappheit den Forschungsstand sowohl zum deutschen Orientalismus als auch zur deutschen jüdischen Kulturgeschichte. Der Orientalismus ist durch Edward Saids ideologiekritischen akademischen Beststeller Orientalism (1978) zu einem eigenen Forschungsfeld geworden.19 Der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler vertrat die These, dass der Orientalismus als akademische Disziplin, als Denkstil und als Verhaltensweise des Westens gegenüber dem Orient einen westlichen Hegemonialdiskurs stabilisiere, der den Osten als weiblich und schwach konnotiertes Anderes des Eigenen unterdrücke. Saids Buch hat in den orientalistischen Fachdisziplinen kontroverse Methodendebatten ausgelöst und inspiriert bis heute zahllose kunst-, Jeffrey S. Librett: Orientalism and the Figure of the Jew. New York, NY 2015; Ivan Davidson Kalmar: Early Orientalism. Imagined Islam and the Notion of Sublime Power. London/New York, NY 2012; Gil Anidjar: Semites. Race, Religion, Literature. Stanford, CA 2008; Gil Anidjar: The Jew, the Arab. A History of the Enemy. Stanford, CA 2003; Aamir R. Mufti: Enlightenment in the Colony. The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture. Oxford/Princeton, NJ 2007. 19 Edward W. Said: Orientalism [1978]. London u. a. 2003. 18
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kultur- und literaturwissenschaftliche Einzelstudien zu Repräsentationen des Orients. Die Huldigungen und Angriffe, die dieses Buch erfahren hat, müssen hier nicht noch einmal aufgerollt werden.20 Es soll vorerst nur interessieren, dass Said zwar den gesamten westlichen Orientalismus zu adressieren beansprucht, sich letztlich aber auf das französische und das britische Imperium im 19. und 20. Jahrhundert konzentriert. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat eindrücklich gezeigt, wie viel differenzierter sich das historische Panorama des Orientalismus darstellt, wenn andere Nationen, Regionen und Epochen berücksichtigt werden.21 Besonders durch die Berücksichtigung des deutschen Orientalismus ist die von Said postulierte Homogenität eines westlichen Orientalismus nachhaltig in Frage gestellt worden, und zwar sowohl mit Blick auf die Fachdisziplin der Orientalistik 22 als auch mit Blick auf das gesamtkulturelle Phänomen des Orientalismus.23 Da der deutsche Orientalismus vor der Reichsgründung 1871 nicht direkt an imperialistische Kolonialinteressen gebunden war, bildete er einen wissenschaftlich-philologischen Schwerpunkt aus, der ihn, wie bereits Zeitgenossen propagierten,24 vom französischen und englischen unterschied. Während der 20 Das leistet Daniel Martin Varisco: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle, WA 2007. Vgl. ferner für eine reflektierte Alternativdeutung zu derjenigen Saids Lisa Lowe: Critical Terrains. French and British Orientalisms. London/Ithaca, NY 1991. 21 Orientalismen in Ostmitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Hg. von Robert Born und Sarah Lemmen. Bielefeld 2014; Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen. Hg. von Wolfgang Stephan Kissel. Frankfurt am Main 2012; David Schimmelpenninck van der Oye: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration. New Haven, CT 2010; Elisabeth Oxfeldt: Nordic Orientalism. Paris and the Cosmopolitan Imagination 1800–1900. Kopenhagen 2005. 22 Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire – Religion, Race, and Scholarship. Washington, DC u. a. 2009. Vgl. auch Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden 2003; Sabine Mangold: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004; Robert Irwin: Dangerous Knowledge. Orientalism and its Discontents. New York, NY 2006; Ursula Wokoeck: German Orientalism. The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945. Culture and Civilization in the Middle East. London 2009. 23 Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. Vgl. auch die Sammelbände Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Hg. von Burkhard Schnepel u. a. Bielefeld 2011; Ost-westliche Kulturtransfers. Orient – Amerika. Hg. von Alexander Honold. Bielefeld 2011; Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Hg. von Charis Goer und Michael Hoffmann. München 2008; Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Bielefeld 2007; ferner den Themenschwerpunkt German Orientalism in Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24:2 (2004) sowie Todd Kontje: German Orientalisms. Michigan, MI 2004. 24 So identifizierte man sich in Deutschland gern demonstrativ mit den Opfern des europäischen Kolonialismus, um sich von Großbritannien und Frankreich abzugrenzen. Vgl. Nicholas A. Germana: The Orient of Europe. The Mythical Image of India and Competing Images of German National Identity. Newcastle upon Tyne 2009. S. 11 f.; Susanne M. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). Berlin 1999; allgemein zur europäischen Kolonialismuskritik Bene-
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französische Orientalismus in der Akademiemalerei eine üppige, erotisierte Bildwelt entfaltete25 und der britische Orientalismus eng mit imperialistischem Pragmatismus verknüpft war,26 wurden im deutschsprachigen Raum Morgenlandfahrten in der Poesie unternommen und Morgenlandträume aus Texten gesponnen. In diesem Zusammenhang war die Bibel(wissenschaft) von anhaltender Dominanz; jede Beschäftigung mit orientalischen Texten und Sprachen von Sanskrit bis Türkisch blieb – und sei es durch Abgrenzungsbewegungen – auf die Bibel und die Theologie bezogen. So plädierte der Orientalist Heinrich Georg August Ewald 1837 in seinem Eröffnungsartikel der Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes dafür, den hohen Stellenwert aufrechtzuerhalten, den das Biblische anders als in England und Frankreich in der deutschen Orientalistik habe: »Auch bleibt’s doch wahr, die Bibel gehört zum Orient, vom theologischen Wesen ganz abgesehen.«27 Die Heilige Schrift war nicht nur zentral für den wissenschaftlichen, sondern auch für den literarischen Orientalismus im deutschsprachigen Raum. Goethe etwa bestimmte die Bibel in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß seines West-östlichen Divans (1819) als Ausgangs- und Zielpunkt seiner Beschäftigung mit der orientalischen Literatur: »[W]ie alle unsere Wanderungen im Orient durch die heiligen Schriften veranlaßt worden, so kehren wir immer zu denselben zurück« (GwöD, 229). Durch die Integration der Bibel in orientalistische Wissensordnungen veränderten sich wiederum die Vorstellungen, die man sich von der Heiligen Schrift machte. Die Bibel durchlief im ausgehenden 18. Jahrhundert eine dreifache Transformation der Poetisierung, Historisierung und Orientalisierung; wichtige Teile ihres Korpus wurden in der Folge als eine Poesie verstanden, »aus der die orientalische (Vor‑)Vergangenheit spricht.«28 Diese Auffassung blieb das ganze 19. Jahrhundert hindurch prägend und hatte weitreichende Konsequenzen für die Position der Juden. Denn mit der »diskursiven Wanderungsbewegung von Bibel und Hebräern in den Orient« wurden, wie Andrea Polaschegg skizziert hat, erhebliche Potentiale für eine Orientalisierung auch der damals im deutschsprachigen Raum lebenden Juden freigesetzt.29 Es ist vor diesem Hintergrund keine dikt Stuchtey: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. München 2010. 25 Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky. Ausstellungskatalog Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung. Hg. von Roger Diederen und Davy Depelchin. München 2010; Gérard- Georges Lemaire: L’univers des orientalistes. Paris 2000. 26 David Cannadine: Ornamentalism. How the British Saw Their Empire. London u. a. 2001; Eitan Bar-Yosef: The Holy Land in English Culture, 1799–1917. Palestine and the Question of Orientalism. Oxford 2005; Lorenzo Kamel: The Impact of ›Biblical Orientalism‹ in Late Nineteenth- and Early Twentieth-Century Palestine. In: New Middle Eastern Studies 4 (2014). S. 1–15. 27 Heinrich Georg August Ewald: Plan dieser Zeitschrift. In: Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 1 (1837). S. 3–13, hier: S. 10. 28 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 166. 29 Ebd., S. 168.
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Übertreibung, von einem »massiven Orientalisierungsschub« der Juden um 1800 zu sprechen.30 Dieser war freilich keineswegs auf Fremdzuschreibungen beschränkt. Vielmehr erwiesen sich Praktiken der Selbstorientalisierung – so eine zentrale These dieser Arbeit – für viele Juden als ein taugliches Instrument, um einen Umgang mit den politischen, soziokulturellen und sprachlichen Spannungen des Emanzipationszeitalters zu finden und jüdische Traditionen neu zu definieren. Das schlug sich maßgeblich in einer intensiven jüdischen Bibelübersetzungstätigkeit nieder, die in enger Auseinandersetzung mit christlichen Übersetzungen der Heiligen Schrift unternommen wurde. Der literaturwissenschaftliche Zuschnitt der vorliegenden Arbeit erlaubt es, diese diskursiven Aushandlungsprozesse in ihrer medialen Eigentümlichkeit zu erschließen. Denn im Schwerefeld der Bibel trugen und beförderten Poesie und Poetologie den (Selbst‑)Orientalisierungsschub der Juden um 1800. Die Literatur diente als zentrales diskursives Verhandlungsmedium für die west-östliche Zwischenstellung der Juden. Im Rahmen der deutschen Kulturgeschichte überschneiden sich die Geschichte der Juden und die Geschichte des Orientalismus mithin darin,31 dass sie durch einen starken Bezug auf die Bibel gekennzeichnet und maßgeblich literarisch vermittelt waren. Dieser gemeinsame Aspekt bestimmt ihre historische Ausnahmestellung in Europa.32 Wie dem deutschen Orientalismus im europäischen Vergleich eine besondere Signatur eignet, so wird auch der deutschen jüdischen Kulturgeschichte in ihrer intellektuellen Wirkmacht eine europäische Sonderrolle zugesprochen.33 Und wie auch im Falle des Orientalismus wird diese Besonderheit auf die Komplexität und Langwierigkeit der deutschen Nationalstaatsbildung zurückgeführt.34 Lage und Zustand der Juden wurden in den 1780er Jahren zu einem zentralen Problem erklärt, das in den 1830er Jahren die Bezeichnung ›Judenfrage‹ erhielt und in keinem anderen europäischen Land so zäh, intensiv
30 Daniel Weidner: Einleitung. Lektüren im Geist der Ebräischen Poesie. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von demselben. Berlin 2008. S. 9–21, hier: S. 17. 31 Vgl. zum besonderen Status dieser historischen Konstellation auch Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus, Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1997. S. 282 f.; John M. Efron: German Jewry and the Allure of the Sephardic. Oxford/Princeton, NJ 2016. S. 15 f. 32 Vgl. zur stärker durch katholisch inspirierte Pilgerreisen, Künstlerreisen und Handelskontakte definierten Rolle der Juden im französischen Orientalismus Julie Kalman: Orientalizing the Jew. Religion, Culture, and Imperialism in Nineteenth-Century France. Bloomington, IN 2017. 33 Michael A. Meyer: Die Anfänge des modernen Judentums. Jüdische Identität in Deutschland, 1749–1824. Aus dem Englischen [1967] übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. Aktualisierte Neuausgabe. München 2011. S. 11. 34 Steven E. Aschheim: German History and German Jewry. Boundaries, Junctions and Interdependence. In: LBI YB 43 (1998). S. 315–322, hier: S. 317.
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und aggressiv diskutiert wurde wie in den deutschen Staaten,35 wo die rechtliche Gleichstellung mit der Reichsgründung im Jahr 1871 besonders spät erfolgte. Diesen politischen Widrigkeiten stand, im Rückblick betrachtet, eine bemerkenswerte intellektuelle Produktivität der deutschsprachigen Juden gegenüber. Die jüdische Selbstverständigung verlief im 18. und 19. Jahrhundert in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zur Selbstvergewisserung darüber, was das Deutsche ausmachen könne und solle.36 Um diese Konstellation in den Blick zu bekommen, ist es vonnöten, das Phantasma einer homogenen deutschen Mehrheit und einer ebenso homogenen jüdischen Minderheit zu verabschieden, das vielen Untersuchungen im Bereich der Jüdischen Studien zugrunde liegt.37 Eine christliche oder deutsche Mehrheitsgesellschaft hat in den deutschen multikonfessionellen Staaten und Territorien des 18. und 19. Jahrhunderts ebenso wenig bestehen können, wie sich die religiös, intellektuell und sozioökonomisch höchst disparat zusammengesetzte Judenschaft als eine homogene Gemeinschaft auffassen lässt: Aufklärer, Konvertiten, Reformer und Vertreter der Neo-Orthodoxie entwickelten unterschiedliche Auffassungen vom Judentum, und die sozialen und kulturellen Kluften zwischen mittellosen Hauslehrern aus den östlichen Provinzen, süddeutschen Viehhändlern, preußischen Dienstmägden und wohlhabenden großstädtischen Unternehmern können kaum überschätzt werden. Regions-, konfessions-, geschlechts- und bildungsspezifische Unterschiede definierten im Zeitalter der Emanzipation verschiedene Zugehörigkeiten.38 Das Diskursverhalten deutscher
35 Elke-Vera Kotowski: Wege der Akkulturation. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Hg. von Elke-Vera Kotowski u. a. Bd. 2. Darmstadt 2001. S. 353–363, hier: S. 353 f.; Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A. Meyer. Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, 1780–1871. München 1996. 36 Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden in Berlin im November 1819 nahezu zeitgleich mit der Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde erfolgt, aus der die Publikationsreihe Monumenta Germaniae Historica hervorging. Vgl. Johannes Heil: Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung. In: Jüdische Studien als Disziplin – Die Disziplinen der Jüdischen Studien. Festschrift der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 1979–2009. Hg. von Johannes Heil und Daniel Krochmalnik. Heidelberg 2010. S. 1–22, hier: S. 7. 37 Mitunter heißt es gar, gefärbt von den gegenwärtigen Integrationsdebatten, die Juden hätten die »Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft« angestrebt (Carsten Schapkow: Vorbild und Gegenbild. Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur, 1779–1939. Köln u. a. 2011. S. 275). 38 Reinhard Rürup: Einleitung. Jüdische Geschichte in Deutschland – Deutschland in der jüdischen Geschichte. In: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Hg. von Arno Herzig und Cay Rademacher. Hamburg 2007. S. 6 –13, hier: S. 12. Vgl. auch Miriam Rürup: Comments on Current and Future Directions in German-Jewish Studies. In: The Future of German-Jewish Studies. Schwerpunktthema im LBI YB 54 (2009). S. 22–28, hier: S. 25.
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Juden im 18. und 19. Jahrhundert ist mithin als konfliktreiche Partizipation an einer vielgestaltigen Suche nach nationaler Gruppenexistenz zu denken.39 Die Frage, wie die Juden zu verstehen und zu bezeichnen seien (als Angehörige einer Nation, einer Kolonie, eines Volks, als Anhänger einer Religion?), war um 1800 direkt auf das »Grundproblem deutscher Geschichte« bezogen: die Frage, wie die Deutschen eigentlich zu verstehen und bezeichnen seien (als Angehörige eines Reichs, einer Nation, Staatsnation, Kulturnation, eines Volks?).40 Die Vielfalt deutscher (Klein-)Staaten, ›Stämme‹, Provinzen und Mundarten diente einigen jüdischen Akteuren dazu, der Einheitsrhetorik des Vaterlandsdiskurses die Anerkennung kultureller Differenz abzutrotzen.41 Dabei entstanden allerdings Friktionen, da sich die Rede vom orientalischen Ursprung der Juden nicht ohne weiteres in das Argumentationsmuster der Provinzialität integrieren ließ, wie nun an einem literarischen Beispiel illustriert werden soll. 1836 veröffentlicht der Schauspieler, Theaterkritiker und Schriftsteller August Lewald die fiktiven Memoiren eines jüdischen Bankiers, in denen er die Vorstellungswelt akkulturierter, konversionswilliger Juden einzufangen bemüht ist.42 Lewalds Bankier hält es nicht für angemessen, »in Deutschland von einem Vaterlande zu sprechen.« Denn stärker als die vaterländische sei die provinzielle Identifikation: Der Baier in Preußen, der Schwabe in Baiern, der Schlesier am Rheine, sind Fremde, und nun vollends die Juden! – Der Jude, wenn gleich tausend Jahre darüber vergangen sind, daß seine Vorfahren in Deutschland ansiedelten, wird stets nur ein Fremder in diesem Lande seyn.
Die Juden erscheinen hier einerseits als Teil der provinziellen Diversität Deutschlands, andererseits aber als eine besonders extreme Ausprägung des Phänomens (»und nun vollends die Juden!«). Dieser Steigerungsaspekt liegt in einer entscheidenden Differenz begründet: Anders als die Bayern, die Schwaben und die Schlesier seien die Juden nicht in einer deutschen Provinz verwurzelt, sondern hätten ihren Ursprung im fernen Orient: Das Vaterland der Juden liegt über dem Meere; ich weiß nicht, welchem Winkel in Syrien oder Palästina ich die Arme entgegenstrecken darf und ausrufen: Hier ist die Scholle, die mich nicht wie einen Fremden verwirft! – Und doch thut sie es; in dem Lande ihrer eigentlichen Heimath sind die armen Juden am bedrücktesten; in dem Lande der Doppelhöhle, wo Abraham’s und Neil Gregor, Nils Roemer und Mark Roseman: Introduction. In: German History from the Margins. Hg. von denselben. Bloomington, IN 2006. S. 1–26, hier: S. 2. 40 Ulrich Herrmann: Volk – Nation – Vaterland. Ein Grundproblem deutscher Geschichte. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg 1996. S. 11–18. 41 Till van Rahden: Germans of Jewish Stamm. Visions of Community between Nationalism and Particularism, 1850–1933. In: German History from the Margins. Hg. von Neil Gregor u. a. Bloomington, IN 2006. S. 27–48; vgl. zum weiteren Kontext Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley, CA 1990. 42 Deborah Hertz: The Lives, Loves, and Novels of August and Fanny Lewald, the Converted Cousins from Königsberg. In: LBI YB 46 (2001). S. 95–112, bes. S. 99–107. 39
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Sara’s Gebeine ruhen, spuckt der eingewanderte Türk’ sie an, und schilt sie Giaur, den fremden Hund!43
Der Orient ist den Juden als Ursprungsregion zwar ihre »eigentliche[ ] Heimath«, aber er ist nicht nur unerreichbar fern und unbekannt, er kann ihnen als unwirtliches, feindliches Gebiet gegenwärtig auch keine tatsächliche Heimat sein. Im Abendland und speziell in Deutschland wiederum werde der Jude, so Lewalds Bankier, auch nach tausendjähriger Ansässigkeit »stets nur ein Fremder« sein. So haben die Juden weder im Orient noch im Okzident eine eigene »Scholle«; unaufhebbar scheint in dieser Darstellung ihre west-östliche Zwischenposition. Einer Logik der Urabstammung folgend, bleibt der orientalische Ursprung der Juden als ein Rest von Alterität im deutschen Selbstverständigungsdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts präsent und befeuert immer wieder aufs Neue Diskussionen über ihre Zugehörigkeit. Die Juden hätten, so heißt es häufig, fast aufgehört, Morgenländer zu sein, sie seien fast Europäer geworden – aber eben nur fast. So ist der Bezug auf die ›eigentliche Heimath‹ der Juden im fernen Orient als ambivalenter Fluchtpunkt und Reminiszenz im Kontext nationalstaatlicher Selbstfindungsprozesse allgegenwärtig. Mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem deutschen Orientalismus und der deutschen jüdischen Literaturgeschichte widmet sich das vorliegende Buch, so lässt sich zusammenfassen, einer in dreifachem Sinne einzigartigen Konstellation. In ihrer Spezifizität besitzt sie keinen exemplarischen Wert in dem Sinne, dass sie auf alle sozialen Schichten oder gar auf die europäische Gesamtsituation übertragbar wäre.44 Vielmehr ist ihre Untersuchung als Sonderfall aufschlussreich, insofern sie die Dynamik jüdisch-orientalischer Korrelationen und deren literarisches Potential besonders klar hervortreten lässt. So wurde die umstrittene Stellung der Juden zwischen Orient und Okzident, die das Verhältnis zwischen der Geschichte der Juden und der Geschichte des Orientalismus insgesamt prägt,45 im deutschen Diskurszusammenhang mit besonderer Vehemenz und Ausdauer behandelt. An diesen Debatten kristallisieren sich west-östliche Vermittlungs- und Verständigungsvisionen ebenso wie aggressive Grenzziehun August Lewald: Memoiren eines Banquiers. Bd. 1. Stuttgart 1836. S. 59 f. Das intellektuelle Übergewicht der deutschen jüdischen Kulturgeschichte hat dazu geführt, dass sie wiederholt zum Paradigma der jüdischen Geschichte Europas erhoben wurde. Vgl. dazu kritisch aus sozialgeschichtlicher Perspektive Todd M. Endelman: Broadening Jewish History. Towards a Social History of Ordinary Jews. Oxford/Portland, OR 2011, bes. S. 3–6 und S. 65–81; aus ideengeschichtlicher Perspektive David B. Ruderman: Jewish Enlightenment in an English Key. Anglo-Jewry’s Construction of Modern Jewish Thought. Oxford/Princeton, NJ 2000, bes. S. 3–22; ferner für übergreifende Perspektiven Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship. Hg. von Pierre Birnbaum und Ira Katznelson. Princeton, NJ 1995; Cultures of the Jews. A New History. Hg. von David Biale. New York, NY 2002; Tradition and Transformation in Eighteenth-Century Europe. Jewish Integration in Comparative Perspective. Hg. von Francesca Bregoli und Frederica Francesconi. Sonderheft Jewish History 24:3–4 (2010). S. 235–354. 45 Kalmar/Penslar: Introduction Orientalism and the Jews, 2005. S. xiii f. 43
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gen und Abwehrmechanismen. Insofern die west-östliche Zwischenstellung der Juden mit den verfügbaren nationalkulturellen und weltgeschichtlichen Kategorisierungen der Zeit in Konflikt stand, lassen sich an ihr neuralgische Punkte und Unsicherheitsmomente deutscher (und) jüdischer Selbstverständigung aufweisen.
1.2 Gebrauchsgeschichte statt Bilderkritik Wie lässt sich nun aber die Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte erfassen und analysieren? In der Literaturwissenschaft dominiert die Praxis, ›Judenbilder‹ und ›Orientbilder‹ kritisch zu beschreiben. Dieser der Motivgeschichte und der Imagologie nahestehende Ansatz ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ungeeignet. Erstens droht der Versuch, nachzuweisen, dass ›Bilder‹ als sogenannte soziale Konstruktionen die Realität verzerren, bei aller konstruktivistischen Rhetorik auf einen naiven Realismus zurückzufallen.46 Zweitens werden die beschriebenen ›Bilder‹ bzw. Stereotype in der Regel als gegebene Größen aufgefasst und damit (wenn auch im Modus der Kritik) perpetuiert,47 während man es versäumt, nach ihren Möglichkeitsbedingungen zu fragen. In der vorliegenden Arbeit soll es demgegenüber darum gehen, Verbindungen und Überblendungen von Jüdischem und Orientalischem als Ergebnis konfliktreicher diskursiver Verwertungs- und Aushandlungsprozesse greifbar werden zu lassen und auf ihre Effekte hin zu befragen.48 Um dies zu leisten zu können, bietet sich eine gebrauchsgeschichtliche Perspektive an. Aus verschiedenen Richtungen ist in den letzten Jahren begonnen worden, das Potential von gebrauchsgeschichtlichen Zugängen zur Geschichte des Orientalismus und zur Geschichte der Juden auszuloten. James Hodkinson und John Walker verfolgen diese Frageperspektive in ihrem Sammelband Deploying Ori-
46 Ian Hacking: Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Aus dem Amerikanischen [1999] übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main 1999. 47 Florian Krobb führt dieses Problem unfreiwillig vor, wenn ihm am Ende seiner Studie das »vergebliche Ringen jeder ›Schönen Jüdin‹ um Emanzipation und Anerkennung […] als Spiegel und immer wieder neue Konkretisierung der ewigen jüdischen Unerlöstheit« erscheint (Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993. S. 259). Vgl. kritisch zu den Prämissen der Motivgeschichte auch Mona Körte: »Juden und deutsche Literatur«. Die Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann und Mona Körte. Berlin 2004. S. 353–374. 48 Vgl. zu diesem Ansatz allgemein auch Jürgen Link und Wulf Wülfing: Einleitung. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hg. von denselben. Stuttgart 1991. S. 7–15.
1.2 Gebrauchsgeschichte statt Bilderkritik
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entalism in Culture and History (2013),49 Yael Halevi-Wise thematisiert mit dem Konzept Sephardism (2012) die Frage nach den Diskursfunktionen von politischen und literarischen Bezugnahmen auf die jüdische Geschichte auf der Iberischen Halbinsel,50 und Emily A. Haddads Studie über französische und britische Orientalist Poetics (2002) kann plausibel machen, dass die orientalische Wüste als das Andere europäischer Naturlandschaft im 19. Jahrhundert ein poetisches Experimentierfeld für a-mimetische Poetiken abgab.51 Fragt man nur danach, wie das ›Orientbild‹ in einem bestimmten Gedicht beispielsweise Théophile Gautiers beschaffen ist und ob der Orient darin angemessen dargestellt wird, sind solche Einsichten nicht möglich. Wie Andrea Polaschegg pointiert herausgestellt hat, liegt der analytische Gewinn gebrauchsgeschichtlicher Ansätze gegenüber der Beschreibung von ›Orientbildern‹ darin, dass sie einen Perspektivwechsel zu vollziehen erlauben, der anstelle einer Betrachtung von Aussagen über den Orient eine Untersuchung des Gebrauchs des Orients setzt. In diesem Sinne versteht Polaschegg Bezugnahmen auf den Orient als eine Option im Diskurs neben anderen, die aktualisiert werden kann, aber nicht aktualisiert werden muss.52 Erst von dieser Warte aus lässt sich sinnvoll die Frage stellen, wann, warum und mit welchen Auswirkungen orientalistische Figuren im Diskurs zum Einsatz kommen.53 In den Jüdischen Studien ist ein ähnlicher Forschungsansatz mit dem bei Claude Lévi-Strauss geborgten Ausdruck good to think eingeführt worden.54 Ronald Schechter hat ihn besonders konsequent in einer Untersuchung zur Genese der sogenannten Judenfrage in Frankreich erprobt. Jahrzehntelang hätten Historikerinnen und Historiker, so Schechters Kritik, sich nahezu ausschließlich mit der Frage beschäftigt, ob die Entwicklungen der frühen Emanzipationszeit 49 Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Hg. von James Hodkinson und John Walker. Woodbridge/Rochester, NY 2013. 50 Sephardism. Spanish Jewish History and the Modern Literary Imagination. Hg. von Yael Ha levi-Wise. Stanford, CA 2012. 51 Emily A. Haddad: Orientalist Poetics. The Islamic Middle East in Nineteenth-Century English and French Poetry. Aldershot/Burlington 2002, bes. S. 155 und S. 201. Vgl. für einen anderen Vorstoß in diese Richtung, der allerdings durch literaturgeschichtliche Fehleinschätzungen beeinträchtigt wird, Hans-Günther Schwarz: Der Orient und die Ästhetik der Moderne. München 2003. 52 Andrea Polaschegg: Vom chinesischen Teehaus zu hebräischen Melodien. Parameter zu einer Gebrauchsgeschichte des deutschen Orientalismus. In: Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Bielefeld 2007. S. 49–80, hier: S. 51. 53 Vgl. für den Bereich der bildenden Kunst Tara Mayer: Cultural Cross-Dressing. Posing and Performance in Orientalist Portraits. In: Journal of the Royal Asiatic Society 22:2 (2012). S. 281–298. 54 Hayim Lapin: Introduction. In: Jews, Antiquity, and the Nineteenth-Century Imagination. Hg. von Hayim Lapin und Dale B. Martin. Bethesda, MD 2003. S. 1–15, hier: S. 9. Lévi-Strauss hat im Rahmen seiner strukturalistischen Kritik an ethnologischen Totemismus-Theorien die These formuliert, die zu opfernden Tiere würden nicht ausgewählt und funktionalisiert, weil sie ›gut zu essen‹ (bonnes à manger), sondern weil sie ›gut zu denken‹ (bonnes à penser) seien (Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Aus dem Französischen [1962] übersetzt von Hans Neumann. Frankfurt am Main 1965. S. 116).
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gut oder schlecht für die Juden gewesen seien. Darüber hätten sie die wesentlich interessantere Frage vernachlässigt, warum sich die Aufklärer im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts überhaupt so sehr für die Juden interessierten. Schechter vermutet, dass die Antwort nicht in der faktischen Bedeutung der statistisch kaum ins Gewicht fallenden Juden gelegen habe, sondern in ihrer symbolischen Bedeutung als Inbegriff nicht-idealer Bürger: Thus the Jews of the eighteenth-century French imaginary served as a means of thinking about and discussing other, more urgent matters, which, beginning in the 1770s, related primarily to questions of political philosophy. As an emblem of civic vice, the Jew was a vehicle for conceiving of and articulating its opposite: the transparent, selfless, useful, and courageous citizen.55
Dass sich so viele Aufklärer auf die Frage jüdischer Emanzipation kaprizierten, lässt sich Schechter zufolge nicht mit Hass oder Sympathie gegenüber den Juden erklären, sondern mit dem Umstand, dass jüdische Figuren und Topoi als bekannt vorausgesetzt und damit für die Artikulation politischer, philosophischer, sozialer und kultureller Anliegen eingesetzt werden konnten.56 An diese Ansätze schließe ich an, um die Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte herauszuarbeiten. In gebrauchsgeschichtlicher Perspektive betrachte ich Korrelationen zwischen Jüdischem und Orientalischem nicht als gegeben, sondern als kontingente historische Phänomene, die nach einer Erklärung verlangen. Es wird nicht darum gehen, ›Orientbilder‹ und ›Judenbilder‹ – verstanden als ideologische Haltungen zu und Meinungen über die Juden und den Orient – zu kritisieren und als festsitzende Vorurteile zu demaskieren. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, warum sie überhaupt zum Einsatz kamen, welche diskursiven Funktionen jüdisch-orientalische Korrelationen in ihren jeweiligen Verwendungszusammenhängen erfüllten, und welche – intendierten oder ungewollten – Effekte sie zeitigten.
55 Ronald Schechter: The Jewish Question in Eighteenth-Century France. In: Eighteenth-Century Studies 32:1 (1998). S. 84–91, hier: S. 89. Vgl. Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity. London/New Haven, CT 2002. S. 4 –7. In eine ähnliche Richtung weisen schon Einsichten von Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Aus dem Amerikanischen [1951] übersetzt von derselben. München 51996. S. 144. 56 Der Ansatz eröffnet differenzierte Vergleichsmöglichkeiten zwischen den symbolischen Funktionen verschiedener ›Anderer‹ wie amerikanische Ureinwohner, Schwarzafrikaner, Frauen und Juden. Vgl. Ronald Schechter: Obstinate Hebrews. Representations of Jews in France, 1715–1815. Berkeley, CA u. a. 2003. S. 238–248; Michael Galchinsky: Africans, Indians, Arabs, and Scots. Jewish and Other Questions in the Age of Empire. In: Jewish Culture and History 6:1 (2003). S. 46–60; Michael Ragussis: Theatrical Nation. Jews and Other Outlandish Englishmen in Georgian Britain. Philadelphia, PA 2010.
1.3 Selbst- und Fremdorientalisierung
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1.3 Selbst- und Fremdorientalisierung Spätestens seit Said den Orientalismus als »strange, secret sharer« des westlichen Antisemitismus bezeichnet hat,57 gilt die Orientalisierung von Juden in der Forschung als eine selbstverständliche Spielart des Antisemitismus.58 Dafür lassen sich einige Anhaltspunkte finden. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurde von christlicher Seite regelmäßig der Vorwurf erhoben, die in Europa lebenden Juden hätten einen politischen Verschwörungspakt mit den Muslimen, die man ›Sarazenen‹ oder ›Türken‹ nannte.59 Eine intrinsische Verbindung zwischen Juden und Muslimen war in solchen Anschuldigungen nicht impliziert. Keineswegs ging es darum, dass Juden und Muslime durch einen ›orientalischen Geist‹ geeint seien oder einer gemeinsamen ›semitischen Rasse‹ angehörten.60 Vielmehr einte sie ihre topische Funktion als politische und religiöse Gegner des Christentums. Im 18. Jahrhundert verlor der Vorwurf einer politischen, religiösen und wirtschaftlichen Allianz der Juden mit den Muslimen merklich an Zugkraft; das Interesse verlagerte sich auf ihre sprachlichen und kulturellen Besonderheiten. Im Kontext der pietistischen Missionstätigkeit und der protestantischen Hebraistik bildete sich im deutschsprachigen Raum ein ethnographisches Interesse an den Juden und dem Judentum heraus.61 Die politische, typologische und heilsgeschichtliche Bedeutung der Juden rückte gegenüber ihrer konkreten Geschichtlichkeit und ihren distinkten Traditionen in den Hintergrund; neben ihrer religiösen wurde ihre kulturelle Alterität zu einem eigenen Thema.62 Said: Orientalism, 1978. S. 27. Achim Rohde: Der innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Die Welt des Islams N.F. 45 (2005). S. 370–411; James Pasto: Islam’s »Strange Secret Sharer«. Orientalism, Judaism, and the Jewish Question. In: Comparative Studies in Society and History 40 (1998). S. 437–474. 59 Allan Harris und Helen Helmquist Cutler: The Jew as Ally of the Muslim. Medieval Roots of Anti-Semitism. Notre Dame, IN 1986. S. 81–120; Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek bei Hamburg 1991. S. 242–246; Jeremy Cohen: The Muslim Connection or On the Changing Role of the Jew in High Medieval Theology. In: From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism in Medieval Christian Thought. Hg. von Jeremy Cohen. Wiesbaden 1996. S. 141–162; Edith Wenzel: »Do worden die Judden alle geschant«. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992. S. 210–217. 60 So anachronistisch Cutler: The Jew as Ally of the Muslim, 1986. S. 122 f. 61 Yaacov Deutsch: Judaism in Christian Eyes. Ethnographic Descriptions of Jews and Judaism in Early Modern Europe. Aus dem Hebräischen [2004] übersetzt von Avi Aronsky. Oxford 2012. 62 Diese Verschiebung fand auch lexikalisch Niederschlag. Englische Lexika definierten Juden bis in die 1770er Jahre in meist kurzen Artikeln als »those who profess obedience to the laws and religion of Moses.« Die Encyclopaedia Britannica bot hingegen ab der zweiten Auflage (1778–1783) einen umfangreichen, historisch angelegten Artikel, der die Juden eingangs definierte als diejenigen, »who for a long time possessed the land of Palestine in Asia, and are now dispersed through all nations of the world« (Barbara Suchy: Lexikographie und Juden im 18. Jahrhundert. Die Darstellung von Juden und Judentum in den englischen, französischen und deutschen Lexika und Enzyklopädien im Zeitalter der Aufklärung. Köln/Wien 1979. S. 67–93). Während Denis Diderot in der französischen Encyclopédie ›Juif‹ 1751 noch als »sectateur de la religion judaïque« definierte, bestimmte die 57
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1. Einleitung
Für die ethnographische Beschreibung dieser kulturellen Alterität und Historizität mussten – zumal in der noch zu festigenden deutschen Sprache – angemessene Bezeichnungen erst gefunden werden.63 Die Adjektive fremd und orientalisch tauchten in diesem Zusammenhang nur vereinzelt auf, bürgerten sich aber im 18. Jahrhundert langsam ein. Caspar Calvör etwa bemängelte in seiner Gloria Christi (1710) die ›jüdische Manier‹ zu schreiben, die daher rühre, dass die Juden »als ein fremd-orientalisch Volck / die teutsche Sprache nicht recht verstehen.«64 Dieser Bezeichnung lag die genealogische Annahme zugrunde, dass die Juden »ein fremdes und dem Ursprung nach orientalisch Volck« seien.65 Die Juden standen dieser Vorstellung zufolge nicht mit den Muslimen im politisch-religiösen Bunde gegen die christliche Welt, sondern kamen ursprünglich aus dem Orient und hatten orientalische Eigentümlichkeiten bewahrt. Im Kontext des ethnographischen Interesses an den Juden also, das in unterschiedlichem Maße im Dienste missionarischer Absichten stand, kam im 18. Jahrhundert eine genealogische Ursprungsfigur auf, mit der sich die kulturelle und sprachliche Fremdheit der Juden plausibilisieren ließ. Diese Denkfigur verfestigte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer Formel, die im begrifflichen Horizont der Neuzeit als ein asymmetrischer Gegen begriff66 zum Selbstverständnis christlicher Europäer funktionalisiert werden konnte. In den 1780er Jahren setzte sich die Vorstellung durch, die Juden seien ein dem modernen europäischen Staatensystem – wie Herder formulierte – »fremdes Asiatisches Volk« (FHA 10, 630). In unzähligen Stellungnahmen zur politischen Situation, in juristischen, ethnologischen, theologischen und staatstheoretischen Abhandlungen sowie in Eingaben und Pamphleten wurde diese Argumentationsfigur über Jahrzehnte hinweg wiederholt.67 So finden sich im Deutsche Encyclopädie die Juden 1794 als »Volk« und lieferte im entsprechenden Eintrag einen Abriss ihrer Abstammung und Geschichte (Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. Bd. 18. Frankfurt am Main 1794. S. 200). 63 Der lutherische Theologe und Orientalist Johann Jacob Schudt sprach in seinen Jüdischen Merckwürdigkeiten (1714/17) zumeist schlicht von Juden. Andere Bezeichnungen wie Volk und Nation gelangten über Übersetzungen aus dem Lateinischen und dem Französischen in seine Kompilation. Vgl. Yaacov Deutsch: Johann Jacob Schudt – Der erste Ethnograph der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. In: Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Fritz Backhaus u. a. Frankfurt am Main 22006. S. 67–76 und S. 296–298. 64 Caspar Calvör: Gloria Christi, oder Herrligkeit Jesu Christi, das ist: Beweißthum der Wahrheit Christlicher Religion wider die Ungläubigen, insonderheit wider die Juden […]. Leipzig 1710. Vorrede (unpaginiert). Diese Passage wurde ausführlich und zustimmend zitiert in Johann Heinrich Callenbergs Vorrede zu seinem Jüdischteutschen Wörterbüchlein […]. Halle 1736, das vom Halleschen Institutum Judaicum et Muhammedicum herausgegeben wurde. 65 Calvör: Gloria Christi, 1710. Vorrede (unpaginiert). 66 Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Positionen der Negativität. Hg. von Harald Weinrich. München 1975. S. 65–104. 67 Arthur Schopenhauer griff Herders Bezeichnung der Juden als ›fremdes asiatisches Volk‹ mit dem Postulat auf, sie seien und blieben »ein fremdes, orientalisches Volk, müssen daher stets nur als
1.3 Selbst- und Fremdorientalisierung
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19. Jahrhundert etliche Beispiele für orientalistisch begründete judenfeindliche Exklusionsmechanismen gegenüber dem – so ein frühes antisemitisches Pamphlet – »orientalischen Fremdlingsvolke« der Juden.68 Bruno Bauer unterstellte den Juden 1843 einen in ihrem »orientalischen Wesen« begründeten »Mangel an geschichtlicher Entwicklungsfähigkeit«;69 Heinrich von Treitschke wütete 1879 gegen den »Fremdling« und »Orientalen« Heinrich Graetz, der das deutsche Volk weder verstehe noch verstehen wolle.70 Solche Orientalisierungen zielten darauf ab, die Juden gesellschaftlich auszugrenzen und ihre Inkompatibilität mit der europäischen Moderne und/oder dem deutschen Volk zu sugge rieren. Denselben Gestus setzten einige Autoren und Literaturkritiker im 19. Jahrhundert ein, um sich auf dem literarischen Feld zu behaupten. So griff der jungdeutsche Schriftsteller Heinrich Laube den Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer an, als dieser für das Drama Struensee seines verstorbenen Bruders Michael Beer warb, da Laube dadurch den Erfolg seines eigenen Dramas selben Titels beeinträchtigt sah: »Ein fremdes Element dringt neuerer Zeit überall in unsere Bahnen, auch in die Literatur. Dies ist das jüdische Element. Ich nenne es mit Betonung ein fremdes; denn die Leute sind eine von uns total verschiedene orientalische Nation heute noch wie sie es vor zweitausend Jahren waren.«71 Literaturgeschichtlich einschlägig ist Wolfgang Menzels Beschluss seiner Polemik gegen die angeblich unmoralischen, blasphemischen und frankophilen Vormärz-Autoren mit der suggestiven Andeutung, man höre allerorten, »das sogenannte junge Deutschland sey eigentlich ein junges Palästina«.72 Vor dem Hintergrund dieses erweiterbaren Panoramas judenfeindlicher Orientalisierungen erregen jüdische Selbstorientalisierungen, sofern sie überhaupt in den Blick geraten, in der Forschung gemeinhin Verständnislosigkeit und Ratlosigkeit. Von paradoxen Erscheinungen ist die Rede, die ironischerweise zu ansässige Fremde gelten« (Arthur Schopenhauer: Zur Rechtslehre und Politik. In: ders.: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Bd. 2. Berlin 1851. S. 203–227, hier: S. 224 (§132)). Der katholische Staatsrechtler Joseph von Buß meinte, der »asiatische Isolierungsgeist« der Juden mache sie zu einer »unstäten Horde im Staat« und halte sie »von der organischen Verschmelzung mit den Völkern des Abendlandes« ab (Jacques Matter: Ueber den Einfluß der Sitten auf die Gesetze und der Gesetze auf die Sitten. Aus dem Französischen übersetzt, und mit theils erklärenden, theils beurtheilenden Anmerkungen begleitet von Franz Joseph Buß. Freiburg im Breisgau 1833. S. 411). Vgl. für einen weiteren Beleg Carl Bau(r)meister [unter dem Pseudonym B. Carlo]: Das schwarze Buch. Für Christ und Jud, zunächst in Hamburg. Hamburg 1843. S. 18 f. 68 Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer: Erklärung an das Publikum über meine Schrift Wider die Juden. Berlin 1803. S. 36. 69 Bruno Bauer: Die Judenfrage. Braunschweig 1843. S. 11. 70 Heinrich von Treitschke: Herr Graetz und sein Judenthum. In: Preußische Jahrbücher 44 (1879). S. 660–670, hier: S. 668. 71 Heinrich Laube: Struensee. Eine Tragödie. Berlin 1847. S. 21. 72 Wolfgang Menzel: Unmoralische Literatur. In: Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835). Literaturblatt 110. S. 437–440, hier: S. 4 40.
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beobachten seien; sie werden als widersprüchlich, rätselhaft oder gar pervers etikettiert.73 Häufig versucht man, diese Irritationsmomente durch Autorpsychologisierungen aufzulösen.74 Deutsche Juden, so der bis heute fortgetragene Erklärungsansatz, hätten orientalistisch-antisemitische Klischees internalisiert75 und sie sich in einem Akt des Selbsthasses angeeignet.76 Dieser Erklärungsansatz basiert auf einem Reaktionsmodell, das sowohl die Jüdischen Studien als auch die Orientalismusforschung, besonders in postkolonialen Ansätzen, fundiert. Obwohl das psychoanalytisch informierte Deutungsschema des Selbsthasses in den Jüdischen Studien längst fundierte Kritik erfahren hat,77 und obwohl der Eurozentrismus der Orientalismus-Forschung inzwischen einer umfassenden Revi sion unterzogen worden ist,78 neigt man in beiden Forschungsfeldern nach wie vor dazu, Juden und Kolonisierten keine selbstständige Sprechposition und keine initiative Handlungsfähigkeit zuzugestehen. 73 Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933). Bd. 1. Hamburg 1981. S. 15 f.; Ivan Davidson Kalmar: Jewish Orientalism. In: Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century. Hg. von Judit Targarona Borrás und Angel Sáenz-Badillos. Bd. 2. Leiden u. a. 1999. S. 307–315; Omer-Sherman, Ranen: Introduction. The Cultural and Historical Stabilities and Instabilities of Jewish Orientalism. In: Shofar 24 (2006). S. 1–10, hier: S. 4. 74 Vgl. etwa die Behauptung, dass Fanny Lewald »gewisse autoantisemitische Züge« entwickelt habe (Gudrun Marci-Boehncke: Fanny Lewald. Jüdin, Preußin, Schriftstellerin. Studien zu autobiographischem Werk und Kontext. Stuttgart 1998. S. 138–143). 75 Eli Bar-Chen: Weder Asiaten noch Orientalen. Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung »rückständiger« Juden. Würzburg 2005. S. 15; Tessa Rajak: The Jewish Dialogue with Greece and Rome. Studies in Cultural and Social Interaction. Leiden u. a. 2001. S. 537; Paul Mendes-Flohr: Fin de Siècle Orientalism, the Ostjuden, and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation. In: ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity. Detroit, MI 1991. S. 77– 133, hier: S. 82; Kalmar: Jewish Orientalism, 1999. S. 308. 76 Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Aus dem Amerikanischen [1986] übersetzt von Isabella König. Frankfurt am Main 1993. S. 12. 77 Allan Janik: Viennese Culture and the Jewish Self-Hatred Hypothesis. A Critique. In: Jews, Antisemitism and Culture in Vienna. Hg. von Ivar Oxaal u. a. London/New York, NY 1987. S. 75–88; Shulamit Volkov: Selbstgefälligkeit und Selbsthaß [1986]. In: dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 1990. S. 181–196; Paul Reitter: The Jewish Self-Hatred Octopus. In: GQ 82:3 (2009). S. 356–372; Paul Reitter: On the Origins of Jewish Self-Hatred. Oxford/Princeton, NJ 2012. 78 Varisco: Reading Orientalism, 2007. S. 141–155; Zahia Smail Salhi: The Maghreb and the Occident. Towards the Construction of an Occidentalist Discourse. In: Orientalism Revisited. Art, Land and Voyage. Hg. von Ian Richard Netton. London u. a. 2013. S. 255–279; Burkhard Schnepel: Verschlungene Wege in den Orient und zurück. Ein Prolog. In: Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Hg. von Burkhard Schnepel u. a. Bielefeld 2011. S. 15–28; Berman: German Literature on the Middle East, 2011. S. 17 f.; Ussama Makdisi: Ottoman Orientalism. In: The American Historical Review 107:3 (2002). S. 768–796; Wang Ning: Orientalism versus Occidentalism? In: New Literary History 28:1 (1997). S. 57–67; Après l’orientalisme. L’Orient créé par l’Orient. Hg. von François Pouillon und Jean-Claude Vatin. Paris/Karthala 2011. Der französische Titel variiert auf provokante Weise den Untertitel der französischen Übersetzung von Saids Buch Orientalism (L’Orient créé par l’Occident), die 1980 erschien.
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Auf dieser Grundlage hat in den letzten Jahren das Modell eines ›inneren Kolonialismus‹79 vermehrt Anwendung auf die jüdische Geschichte gefunden. Die Juden, so wird vorgeschlagen, seien als die intern Kolonisierten Europas zu verstehen.80 Mit einer Rhetorik des Näherungsweisen, die sich in einem inflationären Gebrauch relativierender Zusätze – etwa ›quasi‹, ›nachgerade‹ und ›gleichsam‹ – und einfacher Anführungszeichen niederschlägt, 81 stellen diese Studien die Unangemessenheit des Kolonialismus-Modells für die Geschichte der Juden in Europa allerdings permanent unfreiwillig aus: Die Rede von europäischen Juden als ›Kolonisierten‹ muss notwendig Trope bleiben und erschöpft sich oft in einer polemischen, ideologiekritischen Funktion.82 Damit wird nicht nur anachronistischen Projektionen Vorschub geleistet, der Begriff des Kolonialismus wird letztlich auch seiner Bezeichnungsfunktion entledigt. Frederick Cooper hat solche Instrumentalisierungen eines generischen Kolonialismusbegriffs einer luziden Kritik unterzogen: Werde der Kolonialismus als vage zwischen 1492 und den 1970er Jahren angesiedelte dunkle Seite der ›rationalen Aufklärung‹ und der ›westlichen Moderne‹ verstanden, so würden die jeweiligen konkreten historischen Situationen eingeebnet, um pauschal Hegemonialstrukturen verurteilen zu können.83 Dass es im Orientalismus (auch) um Machtkonstellationen, um Gewaltphantasien und Gewaltausübung geht, wird durch eine Applikation des Eti Robert J. Hind: The Internal Colonial Concept. In: Comparative Studies in Society and History 26:3 (1984). S. 543–568. 80 John M. Efron: From Mitteleuropa to the Middle East. Orientalism through a Jewish Lens. In: JQR 94 (2004). S. 490–520, hier: S. 491 f.; Susannah Heschel: Jewish Studies as Counterhistory. In: Insider/Outsider. American Jews and Multiculturalism. Hg. von David Biale u. a. Berkeley, CA u. a. 1998. S. 101–115, hier: S. 101 f. 81 James Pasto begreift die Juden als »Germany’s internal ›oriental‹ colony« (Pasto: Orientalism, Judaism, and the Jewish Question, 1998. S. 4 49 und S. 467). Iulia-Katrin Patrut meint »(quasi-)koloniale« Strukturen im Verhältnis von Westeuropäern und (jüdischen) Osteuropäern ausmachen zu können (Iulia-Karin Patrut: Jüdische Perspektiven auf west-osteuropäische Machtasymmetrien. Von Franzos zu Kafka. In: Ost-westliche Kulturtransfers. Orient – Amerika. Hg. von Alexander Honold. Bielefeld 2011. S. 163–192). Manuel Borutta will mit Blick auf den protestantischen Antikatholizismus »gleichsam koloniale Verhältnisse innerhalb Europas« beleuchten (Manuel Borutta: Der innere Orient. Antikatholizismus als Orientalismus in Deutschland, 1781–1924. In: Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Hg. von Monica Juneja und Margrit Pernau. Göttingen 2008. S. 245–274, hier: S. 246). Andreas B. Kilcher sieht im späten 18. Jahrhundert eine »›kolonialistische‹ Vorstellung« und eine »nachgerade kolonialistische Diskursivierung« deutschen jüdischen Schreibens am Werke (Andreas B. Kilcher: Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben? Perspektiven historischer Diskursanalyse. In: Dia log der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 351–379, hier: S. 352 und S. 360). 82 Vgl. dazu auch kritisch A. Dirk Moses: The Contradictory Legacies of German Jewry. In: The Future of German-Jewish Studies. Schwerpunktthema im LBI YB 54 (2009). S. 36–43, hier: S. 38–40. 83 Frederick Cooper: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive. Aus dem Englischen [2005] übersetzt von Reinhart Kößler und Rohland Schuknecht. Frankfurt am Main/New York, NY 2012. Zur Gefahr einer metaphorischen Überstrapazierung des Begriffs vgl. auch Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. München 32001. S. 22. 79
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1. Einleitung
ketts ›kolonialistisch‹ keineswegs klarer. Zielführender wäre es, sie konkret und präzise zu benennen und zu analysieren. Bereits Kalmar und Penslar haben in ihrer Einleitung zu dem Sammelband Orientalism and the Jews darauf hingewiesen, dass sich der Zusammenhang zwischen der Geschichte der Juden und des Orientalismus mit postkolonialen Modellen nicht angemessen beschreiben lässt.84 Es reicht freilich nicht aus, schlicht auf postkoloniales Beschreibungsvokabular zu verzichten. Vielmehr ist es vonnöten, das zugrundeliegende Reaktions- und Internalisierungsmodell aufzubrechen, das mit erheblicher Suggestionskraft die Forschung zur Bedeutung des Orientalismus für die jüdische Geschichte bestimmt. So folgen auch Kalmar und Penslar diesem Schema, wenn sie erklären, dass Juden auf den judenfeindlichen Orientalismus des langen 19. Jahrhunderts auf dreierlei Art reagierten: »first, by rejecting it wholesale; second, by idealizing and romanticizing the Orient and themselves as its representatives; and third, by setting up traditional Jews as oriental, in contrast to modernized Jewry which was described as ›Western‹.« Dieser Typologie zufolge ist jüdischer Orientalismus nur als Gegenmodell (»romantic Jewish counter-orientalism«) oder nachahmende Umlenkung (»internal Jewish orientalism toward ›Eastern‹ Jews«) vorstellbar; die Juden müssen sekundär und nachzeitig einen Umgang mit orientalistischen Zuschreibungen finden.85 Das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Material zeigt allerdings, dass sich die historischen Diskursdynamiken mit einer solchen Typologie von Reaktionsweisen nicht adäquat erfassen lassen. In Abkehr von den skizzierten Reaktions- und Internalisierungsmodellen versteht eine Reihe jüngerer Forschungsarbeiten jüdische Sprecher ausdrücklich als handlungsfähige Diskursakteure,86 um ihre Rolle nicht nur als eine reaktive und kontributive, 87 sondern als eine konstitutive analysieren zu können.88 »Rather than being a passive recipient of ideas and social norms,« so David Sorkin, »German Jewry actively shaped itself and its environment. This holds for German Jewry’s cultural as well as for its social history.«89 Das gilt auch für den Orientalismus. Jüdische Diskursteilnehmer prägten die Regeln mit, die für das Sprechen Kalmar/Penslar: Introduction Orientalism and the Jews, 2005. S. xvii. Ebd., S. xiiii f. 86 Ari Joskowicz: The Modernity of Others. Jewish Anti-Catholicism in Germany and France. Stanford, CA 2014, bes. S. 3–6; Jews and the Making of Modern German Theatre. Hg. von Jeanette R. Malkin und Freddie Rokem. Iowa City, IA 2010; Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, 2002, bes. S. 8 f.; Schechter: Obstinate Hebrews, 2003, bes. S. 232 f. 87 Egon Schwarz: Der Beitrag der Juden zur deutschen Literatur. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Bd. 1. Tübingen 1988. S. 309–328; Siegbert Salomon Prawer: Jewish Contributions to German Lyric Poetry. In: LBI YB 7 (1963). S. 149–170. 88 Steven E. Aschheim: German History and German Jewry, 1998. S. 316 f. 89 David Sorkin: Emancipation and Assimilation. Two Concepts and their Application to German-Jewish History. In: LBI YB 35 (1990). S. 17–33, hier: S. 28. 84 85
1.3 Selbst- und Fremdorientalisierung
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von Abendland und Morgenland galten und permanent im Gebrauch erneuert und verändert wurden; sie waren aktiv, initiativ und kontrovers am deutschen Orientalismus beteiligt; ihre Selbstorientalisierungen veränderten wiederum das Möglichkeitsspektrum orientalistischer Fremdzuschreibungen. Um das in den Blick zu bekommen, gehe ich heuristisch von der Annahme aus, dass Selbst- und Fremdorientalisierungen voneinander abhängig und durch einander bedingt waren.90 Voraussetzung dieser (Selbst-)Zuschreibungsdynamiken war der Umstand, dass der Orient im 19. Jahrhundert sowohl zeitlich als auch räumlich differenziert werden konnte und somit auch verschiedene Identifikations- und Abgrenzungsmöglichkeiten bot.91 Ingebrauchnahmen des Orients hatten unterschiedliche Wirkungen, je nachdem, wann und in welchem Kontext welche Zeiten, Völker und Räume des Orients wie und in welchen Medien evoziert wurden.92 Eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht mithin darin, zu klären, wie semantische Andockstellen in biblischen, babylonischen, spanischen, slawischen und anderen Orienten diskurspolitisch und ästhetisch eingesetzt wurden und wie die damit verbundenen Zuschreibungen an archäologische Entdeckungen, wissenschaftliche Paradigmenwechsel und ikonographische Traditionen gebunden waren. Je nach Gebrauchskontext wurden unterschiedliche Aspekte des Orients aktiviert, die sich in spezifischer Weise mit der jüdischen Geschichte und Gegenwart korrelieren ließen.93 Während etwa die sogenannten polnischen Juden um 1800 im Berlin der (jüdischen) Aufklärung als wandelnde Verkörperungen orientalischer Rückständigkeit Abwehr hervorriefen (Kap. 3.1.2) und die orientalischen Juden in Nordafrika und im Osmanischen Reich infolge der Damaskusaffäre (1840) zur Zielgruppe eines großangelegten Europäisierungsprojekts 90 Es geht dabei um diskursive Verarbeitungs- und Umwertungsprozesse, die sich im 19. Jahrhundert ähnlich auch auf anderen Ebenen beobachten lassen. Vgl. Ute Gerhard und Jürgen Link: Zum Anteil der Kollektivsymbolik an den Nationalstereotypen. In: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität. Hg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1991. S. 16–52, hier: S. 33. 91 Vgl. schon die auf die Indologie konzentrierte und von Orientalismen und Orienten im Plural sprechende Studie von Raymond Schwab: La Renaissance orientale. Paris 1950, bes. S. 12–17. 92 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 63–101. Vgl. am Beispiel Ägyptens auch Suzanne L. Marchand: The End of Egyptomania. German Scholarship and the Banalization of Egypt, 1830–1914. In: Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimaginationen von der Antike bis heute. Hg. von Wilfried Seipel. Wien 2000. S. 125–133. 93 Der Orientalismus ist außerdem vom Exotismus zu unterscheiden. Während der Exotismus dem Primitivismus und Tropikalismus nahesteht und sich auf das bezieht, was als das Andere der Kultur verstanden wird (die ›primitiven‹ Völker Afrikas und Amerikas sowie tropische Pflanzen und Tiere), bezieht der Orientalismus sich auf andere Kulturen (Fern- und Nahost). Vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 142; Ter Ellingson: The Myth of the Noble Savage. Berkeley, CA u. a. 2001. S. xiii und S. 129; ferner mit Blick auf Mendelssohns Strategie, die Schrift- und Hochkultur der Juden von sogenannten Naturvölkern zu unterscheiden, Ingrid Lohmann: Das Motiv des Bilderverbots bei Moses Mendelssohn. In: Das achtzehnte Jahrhundert 36 (2012). S. 33–42.
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1. Einleitung
durch jüdische Hilfsvereine wurden,94 bezogen sich viele deutsche Juden affirmativ auf vergangene Zeiten und Räume wie etwa das antike Israel, das babylonische Exil oder das sogenannte goldene Zeitalter in al-Andalus. Dieser Facettenreichtum orientalistischer Bezugsmöglichkeiten lässt sich auch an der historischen Semantik ablesen.95 Begriffe wie Morgenland, Abendland, Süden, Norden, Kolonie, Nation, jüdisch, barbarisch, asiatisch oder orientalisch hatten, dies sei manch einer anachronistischen Unterstellung jüngeren Datums entgegengehalten,96 im 18. oder 19. Jahrhundert nicht denselben semantischen Gehalt und dieselben Implikationen wie heute; und was heute mit dem Orient assoziiert wird, deckt sich nicht mit dem, was man sich im 19. Jahrhundert darunter vorstellte.97 Überdies wandelten und verschoben sich im hier betrachteten Zeitraum – zumal unter mehrsprachigen Bedingungen – die Wortfelder Orient (Morgenland, Osten, Asien), Okzident (Abendland, Westen, Europa) und Judentum (Juden, Hebräer, Israeliten); sie differenzierten sich aus, veränderten ihre Geltungs- wie Überschneidungsbereiche und Implikationen. Die Rede von mosaischen Urkunden, hebräischer Poesie, orientalischer Schreibart, heiligen Schriften und jüdischer Literatur gewann in bestimmten Diskussionszusammenhängen vorübergehend Valenz, um nach verhältnismäßig kurzer Zeit – unter veränderten diskursiven Bedingungen – von anderen Bezeichnungen abgelöst zu werden. Von verschiedenen Seiten unternahm man außerdem Versuche, einzelne Bezeichnungen gezielt umzudefinieren. So wurden mit Adjektiven wie hebräisch, israelitisch, mosaisch, morgenländisch, alttestamentarisch bzw. alttestamentlich und jüdisch unterschiedliche Aussagewerte vermittelt, die unterschiedliche politische Konnotationen mit sich führten. Da es in dieser Arbeit um das historische Gebrauchspotential dieser Bezeichnungen mit ihren jeweils spezifischen semantischen Implikationen gehen soll, verzichte ich auf die Einführung einer bereinigten und vereinheitlichten Terminologie. Stattdessen greife ich die jeweiligen historischen Bezeichnungen auf und arbeite jeweils heraus, wie sich durch 94 Bar-Chen: Weder Asiaten noch Orientalen, 2005; Schroeter: Orientalism and the Jews of the Mediterranean, 1994; Jonathan Frankel: The Damascus Affair. »Ritual Murder«, Politics, and the Jews in 1840. Cambridge 1997. 95 Vgl. allgemein Karlheinz Stierle: Historische Semantik und die Geschichtlichkeit von Bedeutung. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Hg. von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1978. S. 154–189; zum hier interessierenden Begriffsfeld kursorisch Helmut Hühn: Westen; Okzident. In: HWdPh 12 (2004). S. 661–668; Helmut Hühn: Die Entgegensetzung von ›Osten‹ und ›Westen‹, ›Orient‹ und ›Okzident‹ als begriffsgeschichtliche Herausforderung. In: Begriffsgeschichte im Umbruch? Hg. von Ernst Müller. Hamburg 2005. S. 59–67. 96 Claudia Bruns: Antisemitism and Colonial Racism. Transnational and Interdiscursive Intersectionality. In: Racisms Made in Germany. Hg. von Wolf D. Hund u. a. Wien u. a. 2011. S. 99–121; Ivan Davidson Kalmar: Anti-Semitism and Islamophobia. The Formation of a Secret. In: Human Architecture. Journal of the Sociology of Self-Knowledge 7:2 (2009). S. 135–143, hier: S. 135; Bryan S. Turner: Religion and Social Theory. London u. a. 21991. S. 28 f. 97 Varisco: Reading Orientalism, 2007. S. 63–78; Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 61–142.
1.4 Traditionsverhalten
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den Gebrauch verschiedener Bezeichnungen auch die (Selbst-)Zuschreibungsmöglichkeiten wandelten. So sollen verschiedene situative Umgangsweisen mit Traditionsbeständen und Überlieferungen in den Blick genommen, beobachtet und in ihren Effekten beschrieben werden.
1.4 Traditionsverhalten Mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt die vorliegende Untersuchung in einer Zeit an, in der sich eine neue Form des historischen Denkens ausbildete und der »Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte« entstand.98 Die Verzeitlichung taxonomischer, klassifikatorischer und enzyklopädischer Bezugssysteme veränderte den Stellenwert und das Verständnis von Tradition. Sie wurde als ein »offene[s] Feld« entdeckt,99 das als kulturelles Kapital genutzt werden konnte und der nationalen, kulturellen und politischen Sinnstiftung diente.100 Im Furor der Traditions(er)findungen nun, die im 18. und 19. Jahrhundert vom gälischem Ossian bis zum germanischen Hermann die europäische Öffentlichkeit in Atem hielten, spielten auch die Juden mit ihrem morgenländischen Ursprung eine wichtige Rolle. Ob die antiken Israeliten neben Griechen, Römern und Germanen als ein Referenzmodell für die Literatur und politische Theorie der Gegenwart dienen könnten, worin ihr Wert und ihre Bedeutung liege, wie ihr Verhältnis zu anderen orientalischen Altertumskulturen (Ägyptern, Babyloniern, Indern) zu bestimmen sei und wie sich die gegenwärtigen Juden zu ihren antiken Ahnen verhalten (sollten) – all das bewegte die Gemüter der Zeit. Die Kräfteverschiebungen zwischen verschiedenen nationalkulturell kodierten Traditionen standen in einem spannungsreichen Wechselverhältnis zu den umfassenden Transformationen jüdischen Lebens im deutschen Sprachgebiet. Als um 1800 Gewohnheiten, Werte, Bräuche, Praktiken und Rituale des jüdischen Gemeindelebens ihre Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit verloren und sich ein immer stärkerer Reformdruck bemerkbar machte, ergab sich in bislang ungekanntem Ausmaß die Notwendigkeit, jüdische Traditionen als solche zu thematisieren und sich bewusst zu ihnen zu verhalten.101 Neuerungen und 98 Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 21992. S. 38–66. 99 Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. S. 4. 100 The Invention of Tradition [1983]. Hg. von Eric Hobsbawm und Terence Ranger. Cambridge 19 2010; Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. London 2006. 101 Nils H. Roemer: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith. Madison, WI 2005.
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1. Einleitung
Abweichungen wurden als Traditionsbruch inszeniert, Überkommenes wurde als Traditionsbestand verteidigt.102 Dieses neue Gebrauchspotential von Tradi tion bietet einen Schlüssel zum Verständnis der deutschen jüdischen Literaturgeschichte. Ich werde nachzeichnen, wie im 18. und 19. Jahrhundert jüdische Traditionen als solche entdeckt und, in morgenländischen Glanz getaucht, in reformerischer Absicht als kulturelles Kapital genutzt wurden. Um diese Entwicklungen beschreiben zu können, greife ich den von Wilfried Barner geprägten Begriff des Traditionsverhaltens auf. Statt ›die Tradition‹103 in Gegenüberstellung zur ›Moderne‹ oder zur ›Innovation‹ als etwas Statisches, nachgerade Versteinertes und Unproduktives hinzustellen oder sie im Gegenzug als wertvoll Bewährtes und Verbürgtes zu verteidigen, verstehe ich Tradition mit Barner als eine »notwendige Voraussetzung allen sozialen Handelns«, deren Inhalte und Praktiken der Weitergabe historischen Wandlungsprozessen unterliegen und diese wiederum mitbestimmen. Traditionsumbau und Traditionsbruch sind als zwei Formen von Traditionswandel zu begreifen, die im »Prozeßcharakter sowohl des Überlieferns als auch des je und je neuen Traditionshandelns« immer schon angelegt sind.104 Dieses wirkt selbst wiederum traditionsbildend, stellt also zugleich »normgeleitetes Zukunftshandeln« dar.105 Statt historische Instrumentalisierungen ›der Tradition‹ als Analysekategorie zu übernehmen und die – wie auch immer im Einzelnen geartete – Modernisierung jüdischen Lebens in deutschen Territorien als ›Entfremdung‹ von einer vermeintlich stabilen, unverändert überlieferten ›jüdischen Tradition‹ zu beschreiben, begreife ich mit Shulamit Volkov die Erfindung einer ›jüdischen Tradition‹ um 1800 selbst als ein jüdisches ›Projekt der Moderne‹.106 Mit Andreas Gotzmann lässt sich hier von 102 Adam S. Ferziger: Exclusion and Hierarchy. Orthodoxy, Nonobservance, and the Emergence of Modern Jewish Identity. Philadelphia, PA 2005. 103 Vgl. zur Begriffsgeschichte Wilfried Barner: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung [1975]. In: ders.: Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zur Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1997. S. 253–276, bes. S. 256–258 sowie die Einträge zum Wortfeld tradieren/Tradition/Traditionalismus/traditionell in DFWb1 5 (1981). S. 334–350. 104 Wilfried Barner: Einleitung. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von demselben. München 1989. S. i x– xxiv, hier: S. xiv. Vgl. auch Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987. S. 3–51; Wilfried Barner: Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung [1988]. In: ders.: Pioniere, Schulen, Pluralismus, 1997. S. 277–296; Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ›Barock‹ und ›Aufklärung‹. In: Lili 98 (1995). S. 94–118; Bernd Auerochs: Tradition als Grundlage und kulturelle Präfiguration von Erfahrung. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch. Stuttgart/Weimar 2004. S. 24–37; Ze’ev Levy: Hermeneutik und Tradition. In: Trumah 5 (1996). S. 113–135. 105 Barner: Einleitung Tradition, Norm, Innovation, 1989. S. xv. 106 Shulamith Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 253:3 (1991). S. 603–628; vgl. auch den Sammelband The
1.4 Traditionsverhalten
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einer »selbstbestimmten Redefinition der eigenen Grundlagen unter den Bedingungen einer rapiden Integration externer Sichtweisen« sprechen.107 Diese Prozesse wurden von einem tiefen Krisenempfinden begleitet. Der Hegelianer Eduard Gans thematisierte das am 4. Mai 1823 in einer Rede vor dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Vor ungefähr fünfzig Jahren sei von Berlin aus über den deutschen Juden »das Licht einer besseren Kultur« aufgegangen: »Die schlechte Mischung eines halb orientalischen, halb mittelaltrigen Lebens wurde gebrochen«, an ihre Stelle sei »die Morgenröte einer besseren Erziehung« getreten. Diesen Bruch, den Mendelssohn eingeleitet habe, hielt Gans im Rückblick für ebenso notwendig wie heilsam. Erforderlich sei nun aber die Vervollständigung des dialektischen Prozesses: Es komme darauf an, dass diejenigen, die aus der »Innigkeit der Gemeinschaft« herausgetreten seien, sich zu einer »freiwilligen Rückkehr« entschlössen. Dieser notwendige Schritt habe indes nicht stattgefunden: Unter dem Eindruck deutlicher Auflösungserscheinungen in den jüdischen Gemeinden und aus Unzufriedenheit mit den allzu langsamen Fortschritten des Vereins beklagte Gans, dass es bei einer »negativen Aufklärung« geblieben sei.108 Nach der Verabschiedung des »halb orientalischen, halb mittelaltrigen Lebens« stellte sich in aller Dringlichkeit die Frage, was das Judentum und jüdische Kultur ausmache, wie ein neues Traditionsverhältnis zu gewinnen und wie unter den widrigen Bedingungen der zähen und widersprüchlichen preußischen Emanzipationspolitik der Auflösung jüdischen Zusammenhalts Einhalt zu gebieten sei. Anhand einzelner Werke und literaturgeschichtlicher Konstellationen untersuche ich in den Kapiteln dieses Buchs, wie jüdische Autorinnen und Autoren diese Fragen um 1800 in und mit literarischen Texten zu beantworten suchten. Statt unter Annahme eines zwischen Konstruktion und Essenz schillernden psychosozialen Konzepts von Identität, das Frederick Cooper und Rogers Brubaker einer umfassenden Kritik unterzogen haben,109 ›deutsch-jüdische Identität‹ als eine gespaltene und mithin notwendig krisenhafte darzustellen,110 analysiere ich konkrete literarische Praktiken, die den sozialen und diskursiven Ort deutschUses of Tradition. Jewish Continuity in the Modern Era. Hg. von Jack Wertheimer. Cambridge, MA 1992; für ein anregendes Konzept jüdischer Traditionsbildung ferner Ra’anan S. Boustan, Oren Kosansky und Marina Rustow: Introduction. Anthropology, History, and the Remaking of Jewish Studies. In: Jewish Studies at the Crossroads of Anthropology and History. Authority, Diaspora, Tradit ion. Hg. von denselben. Philadelphia, PA 2011. S. 1–28 und S. 335–345, bes. S. 14–22. 107 Andreas Gotzmann: Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit. Leiden u. a. 2002. S. 24. 108 Zitiert nach Salman Rubaschoff: Erstlinge der Entjudung. Drei Reden von Eduard Gans im Kulturverein. In: Der jüdische Wille 1 (1918/19). S. 30–42, S. 108–121, S. 193–203, hier: S. 197 f. 109 Frederick Cooper und Rogers Brubaker: Identität. In: Frederick Cooper: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive. Aus dem Englischen [2005] übersetzt von Reinhart Kößler und Rohland Schuknecht. Frankfurt am Main/New York, NY 2012. S. 109–159. 110 Paul Mendes-Flohr: German Jews. A Dual Identity. New Haven, CT 1999.
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1. Einleitung
sprachiger Juden im Referenzrahmen des Orientalismus bestimmten. Es geht also nicht um die Frage, ob sie eine deutsche und/oder jüdische Identität hatten oder nicht hatten, sondern darum, ihre situations- und medienabhängigen (Selbst-)Positionierungen zu rekonstruieren. In Nachdichtungen, Übersetzungen, Neuschöpfungen, Überschreibungen und theoretischen Reflexionen sowie kultur- und wissenschaftspolitischen Einreden jüdischer Autorinnen und Autoren um 1800 schlägt sich ein gestaltendes und umgestaltendes literarisches Traditionsverhalten nieder, mit dem sie sich in die (Literatur‑)Geschichte einschrieben. Welche Textverfahren und Darstellungsformen angemessen und mit dem Judentum vereinbar seien, war dabei höchst umstritten. Ludwig Philippson ging in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums hart mit Autorinnen und Autoren ins Gericht, die seiner Meinung nach jede Verbindung zum Judentum verloren hatten.111 In Samson Raphael Hirschs neo-orthodoxem Blatt Jeschurun wurde nicht nur von halachischer Warte die Authentizität von Texten liberaler jüdischer oder konvertierter Autorinnen und Autoren in Zweifel gezogen,112 sondern auch dringlich vor literarischen Bearbeitungen der Bibel gewarnt, die einer Entheiligung der Schrift gleichkämen.113 Für viele deutsche jüdische Autorinnen und Autoren hingegen, die der Halacha nicht (mehr) folgten, war gerade die Bibel als morgenländische Urschrift eine wichtige poetische Inspirationsquelle. Diese verschiedenen Strategien literarischen Traditionsverhaltens wurden in unterschiedlichen Gattungen umgesetzt. Während sogenannte Ghettogeschichten die rurale Authentizität galizischer, polnischer und elsässischer Juden ethnographierten und Historienromane und ‑novellen mittelalterliche und frühneuzeitliche Stoffe mit einer besonderen Vorliebe für sefardische Themen verarbeiteten, war es vor allem die Lyrik, die aus der Bibel schöpfte. Auf verschiedene Weise wurden so die Potentiale, Gefahren und Ungleichzeitigkeiten, die sich aus dem jüdischen Traditionsumbau ergeben, literarisch verarbeitet, problematisiert und reflektiert.114 Der Orientalismus war ein wichtiges Instrument in diesem Traditionsumbau, der sich als Jewish Search for a Usable Past bezeichnen lässt.115 An einer Passage 111 Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837–1922). Frankfurt am Main u. a. 1985, bes. S. 103–130. 112 Isaak Hirsch: Der Jude in der Literatur. In: Jeschurun 5:4 (1858/59). S. 203–207. 113 N.G.: Ein Wort über jüdische Belletristik. In: Jeschurun 4:11 (1857/58). S. 574–578. Vgl. Eva Lezzi: Neoorthodoxe Belletristik. Kanonerweiterung und didaktische Herausforderung für deutsch-jüdische Literaturstudien. In: »…und handle mit Vernunft«. Beiträge zur europäisch-jüdischen Beziehungsgeschichte. Hg. von Irene A. Diekmann u. a. Hildesheim u. a. 2012. S. 263–281. 114 Vgl. zu den verschiedenen Ausprägungen moderner jüdischer Traditionsstiftung im 19. Jahrhundert auch Richard I. Cohen: Nostalgia and ›Return to the Ghetto‹. A Cultural Phenomenon in Western and Central Europe. In: Assimilation and Community. The Jews in Nineteenth-Century Europe. Hg. von Jonathan Frankel und Steven J. Zipperstein. Cambridge 1992. S. 130–155. 115 David G. Roskies: The Jewish Search for a Usable Past. Bloomington, IN 1999.
1.4 Traditionsverhalten
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aus Heines Memoiren, die in den 1850er Jahren entstanden sind, lässt sich aufzeigen, worin der argumentative Wert von Bezugnahmen auf den Orient für den jüdischen Traditionsumbau bestand. Heine erzählt, dass er als Knabe auf dem Dachboden ein Notizbuch seines Großonkels Simon van Geldern gefunden habe, den man in seiner Familie »den Chevalier oder den Morgenländer nannte« (DHA 15, 71), weil er eine große Orientreise unternommen und sich danach in orientalischer Kleidung durch Europa bewegt hatte. Ausführlich berichtet Heine von dem abenteuerlichen Leben des Großonkels, das seine Einbildungskraft stark angeregt habe: Mein Leben glich damals einem großen Journal, wo die obere Abtheilung die Gegenwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Tagesdebatten enthielt, während in der unteren Abtheilung, die poetische Vergangenheit, in fortlaufenden Nachtträumen, wie eine Reihenfolge von Romanfeuilletons, sich phantastisch kundgab. In diesen Träumen identifizirte ich mich gänzlich mit meinem Großohm und mit Grauen fühlte ich zugleich daß ich ein Anderer war und einer andren Zeit angehörte und da gab es Oertlichkeiten, die ich nie vorher gesehen, da gab es Verhältnisse wovon ich früher keine Ahnung hatte, und doch wandelt ich dort mit sicherem Fuß und sicherem Verhalten. Da begegneten mir Menschen in brennend bunten, sonderbaren Trachten und mit abentheuerlich wüsten Physiognomien, und denen ich dennoch wie alten Bekannten die Hände drückte – ihre wildfremde, niegehörte Sprache verstand ich, zu meiner Verwunderung antwortete ich ihnen sogar in derselben Sprache, während ich mit einer Heftigkeit gestikulierte, die mir nie eigen war und während ich sogar Dinge sagte die mit meiner gewöhnlichen Denkweise widerwärtig kontrastirten. (DHA 15, 73)
Heine inszeniert seine Knabenzeit hier als eine private Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zwischen Tagespolitik und Nachttraum, Gegenwart und Vergangenheit, Bericht und Fiktion. Unheimlich erscheint diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, weil ihm die unbekannte vergangene Welt vertraut erscheint und er sich mit intuitiver Selbstverständlichkeit in ihr bewegt: Er drückt den fremden Menschen »wie alten Bekannten« die Hand, unterhält sich mit ihnen in einer Sprache, die er nicht beherrscht, und äußert Meinungen, die zu seinen eigentlichen in Widerspruch stehen. Diese verwirrende Zeit- und Raumstruktur ist als eine west-östliche markiert. Die tagespolitische Gegenwart ist europäisch, die »poetische Vergangenheit« aber jüdisch-orientalisch: In dem Leben seines »morgenländischen Doppeltgängers« (DHA 15, 73) kann Heine die eigene Familiengeschichte und damit die direkte Vergangenheit der Juden im 18. Jahrhundert, vor Aufklärung und Emanzipation, in orientalistischen Projektionen spiegeln. Gezielt überblendet er in der unheimlichen Traumbegegnung mit der Welt seines Großonkels Beschreibungsmuster jüdischer und orientalischer Fremdheit, wenn er die »sonderbaren Trachten« und die »abentheuerlich wüsten Physiognomien« sowie eine fremde Sprache, heftige Gestikulation und eine mit seiner eigenen kontrastierende »Denkweise« evoziert. Bei den »arabischen, syrischen und koptischen Buchstaben« im Notizbuch seines Großoheims (DHA 15, 72), an die
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1. Einleitung
Heine sich zu erinnern glaubt, handelte es sich faktisch um hebräische Kursivschrift.116 Heine lässt sein erinnertes Ich in seinen Memoiren ein orientalisches Wiedergängertum der jüdischen Vergangenheit in seiner europäischen Gegenwart erleben: Der Knabe identifiziert sich zum einen »gänzlich« mit seinem Großonkel, zum anderen aber ist er sich »mit Grauen« bewusst, dass er zugleich »ein Anderer« ist und »einer andren Zeit« angehört. In der Differenz von Realität und Traum verhandelt Heine so den Verlust jüdischen Wissens und jüdischer Traditionen einerseits und ihre fortbestehende Faszinationskraft und Präsenz andererseits. In Heines Beschreibung des Verhältnisses zu seinem Großonkel manifestiert sich mithin der Traditionswandel der Jahrzehnte um 1800. Der literarische Orientalismus dient hier wie in vielen der in dieser Arbeit behandelten Texte als ein Instrument, um die vielbeschworene Entfremdung von der ›jüdischen Tradition‹ als eine gezielte Verfremdung zu gestalten, durch die überhaupt erst eine ›jüdische Tradition‹ als solche greifbar – und attraktiv gemacht werden kann. In die Ferne rückende Wissensbestände wie die hebräische Sprache und die biblische Literatur werden orientalisiert, um sie als etwas Fremdes und Ursprüngliches, mit morgenländischem Glanz versehen, wieder in den Diskurs hereinzuholen. Die Möglichkeitsbedingungen und Darstellungsformen der deutschen jüdischen Literaturgeschichte ergeben sich um 1800, so wird zu zeigen sein, aus dem Orientalismus.
1.5 Epochensignaturen Die Jahrzehnte um 1800 sind aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven als eine Zeit umfassender epistemischer, sozialer, semantischer und kultureller Umbrüche beschrieben worden: diskursarchäologisch als Transformation der Ordnung der Dinge (Michel Foucault),117 begriffsgeschichtlich als Sattelzeit (Reinhart Koselleck),118 systemtheoretisch als funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme (Niklas Luhmann).119 In der Germanistik wird in ebendiesen Jahrzehnten, der sogenannten Goethezeit, eine Blüte der deutschen Literatur angesiedelt, in der diese als Nationalliteratur Gestalt gewonnen habe.120 Angesichts dieser Bedeutungszuweisungen kann es nicht überraschen, dass eine Ludwig Rosenthal: Heinrich Heines Großoheim Simon von Geldern. Ein historischer Bericht mit dem bisher meist unveröffentlichten Quellenmaterial. Kastellaun 1978. S. 10 f. 117 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen [1966] übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 1974. 118 Reinhart Koselleck: Einleitung. In: GGB 1 (1972). S. xiii–xxvii. 119 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt am Main 1980–1995. 120 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 1989. S. 117 und S. 132. 116
1.5 Epochensignaturen
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kaum mehr zu überschauende Menge an Forschungsarbeiten diese Epoche von nahezu allen denkbaren Blickwinkeln ausgeleuchtet hat.121 Das gilt auch für die Forschung zur deutschen jüdischen Geschichte, die ebenfalls tiefgreifende und epochale Veränderungen in den betreffenden Jahrzehnten ausmacht. Mit dem Jahr 1780 begann die Epoche von Emanzipation und Akkulturation;122 die Anfänge des modernen Judentums werden im Zeitraum 1749–1824 gesucht.123 Angesichts dieser Forschungslage muss verwundern, dass die Genese der deutschen jüdischen Literatur bislang kaum in diesen, im doppelten Wortsinn epochalen, Zusammenhang gestellt worden ist.124 Die um 1800 entstandenen Texte jüdischer Autorinnen und Autoren und die Bedeutung jüdischer Stoffe und Formen für die Literatur der Zeit stellen nach wie vor ein weitgehend unkartiertes Gelände dar.125 Dieses Gebiet – unter Fokus auf den Orientalismus – zu erschließen, unternimmt die vorliegende Arbeit. Ihr Untersuchungszeitraum erstreckt sich grob von der Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), der sowohl für die deutsche Literaturgeschichte als auch für die im deutschen Sprachgebiet lebenden Juden von einschneidender Bedeutung gewesen ist,126 bis zu Heines Tod im Pariser Exil (1856). Der Schwerpunkt liegt auf den besonders turbulenten Jahrzehnten zwischen dem Auftakt der Emanzipationsdebatten in den frühen 1780er Jahren und ihrer Verfestigung zur sogenannten Judenfrage in den 1830er Jahren. Dass dieses Kapitel der deutschen jüdischen Literaturgeschichte kaum erschlossen ist, hat damit zu tun, dass die vielsprachigen Konstellationen um 1800 sich schlecht mit den Erzählkonventionen und den Kanonkriterien der National121 Vgl. zusammenfassend Torsten Hahn und Nicolas Pethes: Einleitung. In: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750–1830. Hg. von Torsten Hahn u. a. Würzburg 2004. S. 7–12. 122 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A. Meyer. Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, 1780–1871. München 1996. 123 Meyer: Die Anfänge des modernen Judentums. Jüdische Identität in Deutschland, 1749–1824. Aus dem Englischen [1967] übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. Aktualisierte Neuausgabe. München 2011. 124 Ansätze sind zu finden bei Gunnar Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995. 125 Das betrifft auch die Zeit um 1750. Erst jüngst hat die Rolle, die Aron Salomon Gumpertz (1723–1769) in der Aufklärung, im Austausch mit Lessing und im Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich gespielt hat, Konturen gewonnen. Vgl. Gad Freudenthal: Aaron Salomon Gumpertz, Gotthold Ephraim Lessing, and the First Calling for an Improvement of the Civil Rights of Jews in Germany (1753). In: AJS Review 29:2 (2005). S. 299–353; Detlef Döring: Der aufgeklärte Jude als aufgeklärter Deutscher. Aron Salomon Gumpertz, ein jüdischer »Liebhaber der Weißheit«, in Korrespondenz mit Johann Christoph Gottsched. In: Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Hg. von Stephan Wendehorst. Leipzig 2006. S. 451–482. 126 Marc Saperstein: War and Patriotism in Sermons to Central European Jews, 1756–1815. In: LBI YB 38 (1993). S. 3–14; »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007; Annika Hildebrandt: Die Mobilisierung der Poesie. Literatur und Krieg um 1750. Berlin/New York, NY 2019 [im Druck].
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1. Einleitung
literaturgeschichtsschreibung vertragen. Da die Nationalliteraturgeschichtsschreibung ihre Narrative monolingual organisiert, werden die Textzusammenhänge um 1800 meist einseitig behandelt. Konzentrieren sich die meisten Haskala-Forscher auf Texte, die als Wegbereiter der modernen hebräischen Literatur verstanden werden können,127 beschränkt sich das Gros der Germanisten auf deutschsprachige Texte.128 Im Literaturkanon nimmt die um 1800 entstandene jüdische Literatur eine Randstellung ein. Den hebräischen Texten, die in der preußischen Haskala entstanden sind, wird eine allenfalls vorbereitende Rolle für die moderne hebräische Literatur zugestanden. Einem verbreiteten germanistischen Urteil zufolge hat die deutschsprachige jüdische Literatur in der klassischen Moderne um 1900 ihren Höhepunkt erreicht, nachdem es im 19. Jahrhundert allein Heine auf den Höhenkamm der deutschen Literatur geschafft habe.129 Eine kaum mehr überschaubare Menge an Forschungsarbeiten zur deutschen jüdischen Literaturgeschichte setzt in diesem Fahrwasser auf große kanonische Kontinuitätslinien seit dem 19. Jahrhundert: Man will eine ›jüdische Identität‹ bei – so Andreas B. Kilchers Kurzformel – »den Klassikern der Moderne wie Heine, Kafka, Celan« aufspüren,130 und konzentriert sich dabei entschieden auf die Jahrhundertwende um 1900 und die Zeit nach der Schoa. Die anhaltende Fixierung auf die Zeit seit 1870/71 kommt freilich nicht ohne sporadische Rückbezüge aus. Mehr noch: Annahmen über die Transformationen um 1800 entpuppen sich häufig als notwendige Voraussetzung für die Ausdeutungsversuche ›jüdischer Identität‹ um 1900, die seit 1945 im düsteren Schatten der ›gescheiterten Symbiose‹ vorgenommen werden.131 Ausgehend von der Vorstellung eines konfliktreichen Neben- und Gegeneinanders von traditionellem, intaktem Judentum und moderner, aufklärerischer Umwelt werden die Jahrzehnte um 1800 entweder zum Auftakt einer Erfolgsgeschichte jüdischer Emanzipa tion und Akkulturation idealisiert oder als Beginn eines rapiden Traditionsver127 So z. B. Moshe Pelli: The Age of Haskalah. Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Germany. Leiden 1979; Moshe Pelli: Das Zentrum der Haskala in Deutschland schlägt einen neuen Zugang zur hebräischen Literatur vor. In: Trumah 16 (2006). S. 35–47. 128 Ein einschlägiges Beispiel ist die Ausblendung des umfangreichen hebräischsprachigen Werks von Moses Mendelssohn. Vgl. David Sorkin: The Mendelssohn Myth and Its Method. In: New German Critique 26 (1999). Sonderheft Nr. 77. S. 7–28. 129 Hans Otto Horch und Itta Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur und ihre Geschichte. In: Neues Lexikon des Judentums [1992]. Hg. von Julius H. Schoeps. Überarbeitete Neuausgabe. Gütersloh 2000. S. 521–525, hier: S. 524; ebenso Prawer: Jewish Contributions, 1963. S. 154 und S. 156. Vgl. auch Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen 1998. S. 9; Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007. S. 39 f. 130 Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Deutsch-jüdische Literatur. 120 Porträts. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart/Weimar 2006. S. v–xii, hier: S. xi. 131 Konrad Kwiet, Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer: Einleitung. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein im Taunus 1985. S. 7–65, hier: S. 48.
1.5 Epochensignaturen
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lusts und einer dramatischen Selbstentfremdung beklagt.132 Ungeachtet des Umstands, dass beide Deutungsschemata längst durch differenzierte ideen-, sozial- und bildungsgeschichtliche Studien revidiert worden sind,133 werden sie von zahlreichen Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern unverdrossen reproduziert. Im Zuge der Aufklärung, so die Annahme, sei es zu einer Öffnung der Juden gegenüber der deutschen Kultur und damit zu einer Öffnung hin zu einem säkularen und im engeren Sinn literarischen Schreiben gekommen. Diese Integration in die deutsche Kultur sei mit einer Entfremdung von der Tradition und einem Verlust jüdischer Identität einhergegangen.134 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sei dann das Problem einer traditionslosen jüdischen Existenz ins Zentrum der literarischen Auseinandersetzung gerückt; in diesem krisenhaften Moment sei erneut eine deutliche »Hinwendung zur jüdischen Tradition« erfolgt.135 Überspitzt gesagt, lag ›die jüdische Tradition‹ dieser Darstellung zufolge gleichsam im Dornröschenschlaf in einer dunklen Ecke des 19. Jahrhunderts, bis sie durch die selbsterklärte »jüdische Renaissance«136 um 1900 wieder wachgeküsst wurde. Mit dieser Deutung übernehmen die betreffenden Forscherinnen und Forscher unkritisch eine Selbsterzählung der De- und Re-Orientientalisierung, die im Kulturzionismus um 1900 geprägt worden ist.137 Während die 132
Einflussreich war das Unterfangen von Jacob Katz, gegen die von jüdischen Historikern des 19. Jahrhunderts gepflegte Erfolgsgeschichte deutsch-jüdischer Symbiose ein Verlustnarrativ der Auflösung traditioneller jüdischer Gemeinschaft zu etablieren. Vgl. Jacob Katz: Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages. Aus dem Hebräischen [1958] übersetzt von Bernard Dov Cooperman. New York, NY 1993; Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation, 1770–1870. Cambridge, MA 1973. 133 Vgl. für Zusammenschauen Michael A. Meyer: Nachwort zur Neuausgabe. In: ders.: Die Anfänge des modernen Judentums, 2011. S. 213–218 sowie Christoph Schulte: Zur Debatte um die Anfänge der jüdischen Aufklärung. In: ZRGG 54:2 (2002). S. 122–137. Besonders hervorzuheben sind David Sorkin: The Transformation of German Jewry, 1780–1840. New York, NY 1987; Shmuel Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Aus dem Hebräischen [2001] übersetzt von Anne Birkenhauer. Hildesheim u. a. 2007; David Sorkin: The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna. Princeton, NJ 2008; Shmuel Feiner: The Origins of Jewish Secularization in Eighteenth-Century Europe. Aus dem Hebräischen [2010] übersetzt von Chaya Naor. Philadelphia, PA 2010. Vgl. auch, allerdings auf zweifelhafter Materialkenntnis basierend, Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, bes. S. 160 f. 134 Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart/Weimar 2000. S. v–xx, hier: S. xvi; Horch/Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur, 2000. S. 522; Itta Shedletzky: Existenz und Tradition. Zur Bestimmung des ›Jüdischen‹ in der deutschsprachigen Literatur. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Hg. von Itta Shedletzky und Hans Otto Horch. Tübingen 1993. S. 3–14, hier: S. 4. 135 Horch/Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur, 2000. S. 524. 136 Martin Buber: Jüdische Renaissance. In: Ost und West 1:1 (1901). Sp. 7–10. Vgl. im selben Heft auch die Absichtserklärung, die »tiefe Entfremdung« zu überwinden und »die allzu locker gewordenen Bande des Judentums aufs neue zu festigen« (Ost und West 1:1 (1901). Sp. 1–4). 137 Moritz Goldstein: Wir und Europa. In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig 21913. S. 195–209, hier: S. 196 f.
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1. Einleitung
Emanzipations- und Anpassungsbestrebungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einem breit angelegten Europäisierungsversuch gleichgekommen seien und mithin eine tiefe Entfremdung vom ureigenen ›orientalischen Wesen‹ nach sich gezogen hätten, so die (Selbst‑)Darstellung, sei um 1900 eine Rückwendung zu den Wurzeln des Judentums zu verzeichnen, die nun affirmativ als orientalische verstanden worden seien.138 Die kulturzionistische Selbsterzählung einer Re-Orientalisierung und Rückkehr zur verlorenen Tradition hat sich als so wirkmächtig erwiesen, dass das Phänomen des jüdischen Orientalismus von der Forschung bislang nahezu ausschließlich im Fin de siècle und in der Weimarer Republik verortet worden ist.139 Auf den ersten Blick scheinen historische Selbstaussagen die Annahme zu bestätigen, dass die Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen des langen 19. Jahrhunderts als Europäisierung aufzufassen seien. So beschreibt der Magdeburger Rabbiner Ludwig Philippson 1837 in den Redaktionsgrundsätzen seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums die Entwicklung der jüdischen Literatur in den vorhergehenden Jahrzehnten als einen Anpassungsprozess an die »europäische Bildung« und einen Wechsel zu »den europäischen Sprachen«, der mit großen Anstrengungen verbunden gewesen sei: »In sprachlicher Hinsicht mußte erst eine Generation gekommen sein, die rein aus dem Standpunkte der Gegenwart aufgewachsen, auch jenen orientalischen Typus in Schwulst und Bilderüppigkeit verloren hätte, welche der ältern jüdischen Literatur eigen war.«140 Das Ankommen der jüdischen Literatur in der Gegenwart hat, so könnte man Phi lippsons Äußerung lesen, eine umfassende stoffliche und stilistische De-Orientalisierung und letztlich eine Aufgabe alles Eigenen zur Voraussetzung. Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Lage allerdings entschieden komplizierter dar. Von einer vollständigen Europäisierung und einer Verwerfung jüdisch-orientalischer Stoffe und Stile kann – auch und gerade bei Philippson – keine Rede sein. Wenn Philippson die Überwindung orientalischen ›Schwulstes‹ und morgenländischer ›Bilderüppigkeit‹ begrüßt, dann verwirft er damit in der Logik des damaligen Diskurses nicht grundsätzlich alles Orientalische bzw. Jüdische, sondern das, was er als dessen späte, dekadente Ausformungen wahrnimmt: Mit der »ältern jüdischen Literatur« ist hier nicht die biblische gemeint, sondern die rabbinische. Philippson macht sich orientalistische Beschreibungs- und Wer138
Ritchie Robertson: ›Urheimat Asien‹. The Re-Orientation of German and Austrian Jews, 1900–1925. In: German Life and Letters 49:2 (1996). S. 182–192. 139 Mendes-Flohr: Fin de Siècle Orientalism, 1991; Michael Brenner: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. London/New Haven, CT 1996; David Biale: Shabbtai Zvi and the Seductions of Jewish Orientalism. In: שבתאות ופראנקיזם, התנועה השבתאית ושלוחותיה – משיחיות.החלום ושברו. Hg. von Rachel Elior. Jerusalem 2001. S. 85–110; Ritchie Robertson: The ›Jewish Question‹ in German Literature 1749–1939. Emancipation and its Discontents. Oxford 1999. S. 428–464; Rachel Seelig: Strangers in Berlin. Modern Jewish Literature between East and West, 1919–1933. Ann Arbor, MI 2016. 140 AZJ 1:65 (1837). S. 257 f.
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tungsstrukturen zunutze, um aus reformorientierter Sicht das Verhältnis zur jüdischen Überlieferung zu differenzieren und neu zu formulieren. Auf dem »Standpunkte der Gegenwart« zu stehen, bedeutet für ihn, dass er den in der Ferne des Morgenlands liegenden Ursprung der Juden als einen erhabenen Bezugspunkt modernen jüdischen Selbstbewusstseins aufrufen kann. Der ›halb-orientalische‹ Charakter des frühneuzeitlichen Judentums soll – so die reformorientierte Position – verabschiedet werden, um auf neue, differenzbewusste Weise einen Bezug zum morgenländischen Ursprung des Judentums herzustellen.141 Erst wenn man die Unterscheidungs- und Variationsmöglichkeiten des Orientalismus historisch rekonstruiert und auf dieser Grundlage den Bedeutungsgehalt historischer Aussagen wie derjenigen Philippsons angemessen erfasst, wird das sichtbar. Diese Dynamiken in ihrer Komplexität sichtbar zu machen und ihre diskurswie literaturgeschichtlichen Funktionen und Effekte zu analysieren, ist das Ziel der in diesem Buch versammelten Einzelstudien. Damit holt die vorliegende Arbeit die Epochenschwelle um 1800 aus dem Schatten ihrer retrospektiven Deutung, die den diskurspolitischen Bedürfnissen der folgenden Jahrhundertwende um 1900 geschuldet ist, und sie holt sie aus dem Schatten ihrer weitgehenden Vernachlässigung durch die literaturgeschichtliche Forschung. Im Ergebnis zwingen die folgenden Untersuchungen zu einer Revision des Narrativs von Verlust und Wiedergewinn, von De- und Re-Orientalisierung. Weder lässt sich um 1800 pauschal ein Verlust ›jüdischer Identität‹ und ›jüdischer Tradition‹ konstatieren, noch eine eindeutige Negation orientalischer Wurzeln zugunsten einer Akkulturation an Europa. Vielmehr wird sich zeigen, dass Bezugnahmen auf den Orient sich im Zeichen der soziokulturellen und ästhetischen Transforma tionsprozesse um 1800 als ein effektives Instrument anboten, um einen neuen Umgang mit jüdischen Traditionen zu finden und jüdische Sprechpositionen im literarischen Diskurs zu markieren.142 Statt Verlust und Negation erweisen sich anspruchsvolle Versuche der Umgestaltung und Neudefinition als charakteristisch für die die Jahrzehnte zwischen ca. 1750 und 1850, die sich in der Figur einer Befreiung aus dem Orient durch den Orientalismus fassen lassen: Jüdische Autorinnen und Autoren – so eine zentrale Beobachtung an vielen der in dieser Arbeit untersuchten Texte – verneinen die Zugehörigkeit der Juden zum Orient, indem sie umso facettenreicher ihre Bezogenheit auf bestimmte Zeit-Räume des Orients gestalten. Damit schreiben Sie sich in den Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte ein, der um 1800 ästhetisch 141
In diesem Sinne wird wiederholt gefordert, man müsse »das Ursprüngliche vom Hinzugethanen trennen« (Immanuel Wolf [später Wohlwill]: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1:1 (1823). S. 1–24, hier: S. 23). 142 Vgl. ähnlich zur Aggada als »Integrationsinstrument der jüdischen Tradition« Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas. Tübingen 2010. S. 1.
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1. Einleitung
als raum-zeitliche Erfahrung einer zukunftsoffenen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen reflektiert wird.143
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte Es liegen drei Versuche einer Gesamtdarstellung deutscher jüdischer Literaturgeschichte populärwissenschaftlichen Zuschnitts vor.144 Diesen (notwendig) unzureichenden Versuchen stehen zwei akademische Großprojekte gegenüber, die im Bewusstsein der Unmöglichkeit, eine Geschichte der deutschen jüdischen Literatur von ihren Anfängen bis heute durchzuerzählen, programmatisch auf eine Fragmentierung ihres Gegenstands setzen. Der Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996 (1997) präsentiert sich als ein ›Mosaik‹ von Essays zu einzelnen Texten und Ereignissen, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit lose chronologisch geordnet sind.145 Mit dieser Darstellungsform greifen die Herausgeber Sander L. Gilman und Jack Zipes Trends auf, die sich allgemein in der Literaturgeschichtsschreibung um 2000 beobachten lassen.146 Eine ausgeprägte Skepsis gegenüber den etablierten Wertungs- und Ordnungs traditionen der Literaturgeschichtsschreibung prägt auch das Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (2000). Ebenso programmatisch wie Gilman und Zipes verzichtet der Herausgeber Andreas B. Kilcher darauf, »die Konstruktion eines literaturgeschichtlichen Zusammenhangs« zu bieten, und setzt mit alphabetisch nach Autorinnen und Autoren geordneten Einträgen ein »Mosaik aus Porträts« gegen die »Linearität« der Geschichte sowie »Momentaufnahmen« ge143 Heinz Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Universalität und Differenz, Synkretismen und Surrogat-Tempel. Zur Vielstimmigkeit romantischer Modernität [2006]. In: ders.: Romantik und Moderne. Moden des Zeitalters und buntscheckige Schreibart. Aufsätze. Würzburg 2009. S. 265–300; Ingrid Oesterle: »Es ist an der Zeit!« Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik. Hg. von Walter Hinderer. Würzburg 2002. S. 91–119; Ingrid Oesterle: Innovation und Selbstüberbietung. Temporalität der ästhetischen Moderne. In: Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. Hg. von Silvio Vietta und Dirk Kemper. München 1998. S. 151–178. 144 Lothar Kahn: Between Two Worlds. A Cultural History of German-Jewish Writers. Ames, IA 1993; Hans J. Schütz: »Eure Sprache ist auch meine«. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte. Zürich/München 2000; Willi Jasper: Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. München 2004. 145 Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. Hg. von Sander L. Gilman und Jack Zipes. London/New Haven, CT 1997. 146 Die chronologische Essay-Struktur haben sie stillschweigend von der New History of French Literature (Hg. von Denis Hollier. London/Cambridge, MA 1989) übernommen, deren Prinzip auch andere große literaturgeschichtliche Projekte um die Jahrtausendwende adaptiert haben (vgl. explizit David E. Wellbery: Einleitung. In: Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Hg. von demselben u. a. Aus dem Amerikanischen [2004] übersetzt von Christian Döring u. a. Berlin 2007. S. 15–24, hier: S. 21).
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte
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gen Versuche »historiographischer Linearisierung«, um eine »Atomisierung« von »geographisch-nationalliterarischer Territorialisierung« zu propagieren.147 Mit ihrer ostentativen Absage an die geschlossene Form eines grand récit führen beide Großprojekte ihre postmodernen Entstehungsbedingungen vor. Die Herausforderungen der Literaturgeschichtsschreibung, deren ureigenste Aufgabe darin besteht, zwischen Texten einen Zusammenhang herzustellen,148 werden mit diesen Fragmentierungsversuchen allerdings nicht bewältigt, sondern lediglich umgangen und verschoben. Wer die »lexikographische Fragmentierung eines literaturgeschichtlichen Zusammenhangs« fordert, wie Kilcher es im Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur tut,149 muss diesen literaturgeschichtlichen Zusammenhang zunächst einmal irgendwo vorgefunden haben. Damit bleibt die Demontage der Literaturgeschichtsschreibung von dieser abhängig. Dass die Lage der deutschen jüdischen Literaturgeschichtsschreibung um die Jahrtausendwende zwischen populärwissenschaftlichen Gesamterzählungen und wissenschaftlichen Fragmentierungsprojekten von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt ist, schlägt sich in der konzeptuellen Vagheit nieder, die das von Hans Otto Horch herausgegebene Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur (2016) mit seinem Versuch an den Tag legt, »ohne totalisierende Tendenz eine Übersicht über die Vielfalt der historischen und systematischen Erforschung der deutsch-jüdischen Literatur zu vermitteln.«150 Diese Ratlosigkeit ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Geschichtsschreibung von Literatur allgemein als ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen gilt; zum anderen ergibt sie sich aus Problemen, die speziell den Gegenstand der deutschen jüdischen Literaturgeschichte betreffen. Vor diesem doppelten Problemhintergrund birgt das in dieser Arbeit verfolgte Projekt einer deutschen jüdischen Literaturgeschichte des Zeitraums von ca. 1750 bis 1850 einige methodologische, konzeptuelle und definitorische Herausforderungen, die es im Folgenden offenzulegen gilt. Ex negativo lässt sich vorab sagen: Die vorliegende Arbeit will sich weder eine naive Praxis homogenisierenden Erzählens noch eine wohlfeile Polemik gegen historiographische ›Linearisierung‹ und ›Territorialisierung‹ zu eigen machen, 147 Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart/Weimar 2000. S. v–xx, hier: S. xviii f.; vgl. auch Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von demselben. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2012. S. vi–xxvii, hier: S. xxvi f. 148 Albert Meier: Literaturgeschichtsschreibung. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft [1996]. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 42001. S. 570–584, hier: S. 570; Jörg Schönert: Literaturgeschichtsschreibung. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. von Thomas Anz. Bd. 2. Stuttgart 2007. S. 267–284, hier: S. 267. 149 Kilcher: Einleitung zum Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2000. S. xv. 150 Hans Otto Horch: Einleitung. In: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Hg. von demselben. Berlin/Boston, MA 2016. S. 1–6, hier: S. 4.
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1. Einleitung
will also weder eine auktoriale noch eine postmoderne Pose einnehmen. Weder soll dieser Versuch deutscher jüdischer Literaturgeschichtsschreibung hinter den erreichten Reflexionsstand zurückfallen, noch im kritischen De(kon)struktionsmodus verharren. Zwischen lexikographischer oder chronologischer Fragmentierung auf der einen Seite und narrativer Kohärenzstiftung auf der anderen Seite soll ein Mittelweg eingeschlagen werden, indem ich innerhalb eines auf die Jahrzehnte um 1800 begrenzten Untersuchungszeitraums verschiedene Texte mit Blick auf eine konkrete Diskursformation – den Orientalismus – in Beziehung zueinander setze. Wie eine solche problemorientierte Literaturgeschichte bewerkstelligt werden soll, gilt es nun zu erklären. Ich beginne mit der grundsätzlichen Frage, ob und wie sich Literatur überhaupt historiographisch begreifen lässt, bevor ich mich den spezifischen Herausforderungen der deutschen jüdischen Literaturgeschichte als Forschungsgegenstand der Germanistik und der Judaistik zuwende. Die Frage nach dem Verhältnis von Literarizität und Historizität ist eine der ›ewigen Debatten‹ der Literaturwissenschaft,151 die von einer grundlegenden Skepsis angetrieben wird: Wie soll ein literarisches Werk in seiner ästhetischen Einzigartigkeit historiographisch zu begreifen sein? Jeder Versuch, literarische Texte in eine historische Ordnung zu bringen, so der Vorwurf, laufe Gefahr, sie auf ihren symptomatischen oder illustrativen Wert für ein historisches Narrativ zu reduzieren. Immer wieder sind Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler vor diesem Hintergrund zu der Einsicht gekommen, Literaturgeschichte zu schreiben sei unmöglich.152 Dieser Überzeugung stehen allerdings die Persistenz und die Popularität dieses immer wieder totgesagten Darstellungsformats gegenüber.153 Die Literaturgeschichtsschreibung ist mithin in einem Spannungsfeld zwischen Machbarkeit und Brauchbarkeit positioniert;154 sie ist ebenso unmöglich wie nötig.155 Ihr Orientierungspotential und ihre gesellschaftliche Relevanz erschöpfen sich keineswegs in der Vermittlung kanonischen Basiswissens. Eine der wichtigsten 151 Wilfried Barner: Literaturwissenschaft – eine Geschichtswissenschaft? München 1990; Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: SJb 41 (1997). S. 1–8, hier: S. 4 152 René Wellek: The Fall of Literary History. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter-Stempel. München 1973. S. 427–440. 153 Cornelia Blasberg: Literaturgeschichte am Ende – kein Grund zu trauern? In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hg. von Walter Erhart. Stuttgart/Weimar 2004. S. 467–481. 154 Vgl. zuletzt Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Hg. von Matthias Buschmeier u. a. Berlin/Boston, MA 2014; zur hebräischen Literatur auch Gershon Shaked: Is Literary History Possible? Reflections on Literary History. In: Mediating Modernity. Challenges and Trends in the Jewish Encounter with the Modern World. Hg. von Lauren B. Strauss und Michael Brenner. Detroit, MI 2008. S. 339–349. 155 David Perkins: Is Literary History Possible? London/Baltimore, MD 1992. S. 17.
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte
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Aufgaben der Literaturgeschichtsschreibung sieht David Perkins in einer Historisierung von Literatur, die den Horizont heutiger Leser erweitere: Thus a literary work becomes a more complicated experience, aesthetically and intellectually, even if it also becomes a less immediately relevant one. And there are many works – whole periods – that we could not and would not read without the mediation of literary history. Thus, to learn to read with the perspective of literary history is like growing up. We encounter a wider, more diverse world of books, expressing mentalities that challenge us by their difference. […] A function of literary history is, then, to set the literature of the past at a distance, to make its otherness felt.156
Die historiographische Verfremdung vertrauter kanonischer Texte und die Erschließung unbekannter Werke ermöglichen eine hermeneutische (Wieder-)Annäherung an dieselben. Die Literaturgeschichtsschreibung erfordert zwar den Verzicht auf einen vermeintlich direkten, unverstellten Zugang und auf schrankenlose Einfühlung, bietet dafür aber eine Vertiefung und Erweiterung des Textverstehens.157 Um dies zu leisten, reicht es nicht hin, die Literatur in der Geschichte zu situieren. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, eine Geschichte der Literatur zu schreiben, den historischen Zusammenhang literarischer Texte zu untersuchen und die Historizität der Literatur selbst herauszuarbeiten.158 Was damit genau gemeint sein soll und gemeint sein kann, ist freilich umstritten. Die Herausforderung einer literaturgeschichtlichen Darstellung besteht zunächst einmal darin, dem Sonderstatus literarischer Texte Rechnung zu tragen, der sie von historischen Quellen und Ereignissen unterscheidet.159 Um mehr zu bieten als eine Aneinanderreihung von Autorbiographien und äußeren sozialgeschichtlichen Faktoren, um also literaturgeschichtliche Zusammenhänge an den Texten selbst herausarbeiten zu können, greife ich Ansätze der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse auf.160 Ausgehend von einem semiotischen Ver Perkins: Literary History, 1992. S. 184 f. Jan-Dirk Müller: Literaturgeschichte/Literaturgeschichtsschreibung. In: Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft. Hg. von Dietrich Harth und Peter Gebhardt. Stuttgart 1989. S. 195–227, hier: S. 197–200. 158 Daniel Fulda: Starke und schwache Historisierung im wissenschaftlichen Umgang mit Literatur. Zur Frage, was heute noch möglich ist – mit einer disziplingeschichtlichen Rückblende. In: Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Hg. von Matthias Buschmeier u. a. Berlin/Boston, MA 2014. S. 101–121, bes. S. 101–105. Peter Szondi stellt klar, seine Kritik an der Literaturgeschichtsschreibung laufe keineswegs auf die Behauptung hinaus, das einzelne Werk »sei ungeschichtlich. Vielmehr gehört gerade die Historizität zu seiner Besonderheit, so daß einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte zu sehen erlaubt« (Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt am Main 1967. S. 9–30, hier: S. 20). 159 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. S. 305; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1970. S. 173; Marja Rauch und Achim Geisenhanslüke: Einleitung. In: Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Hg. von denselben. Stuttgart 2012. S. 9–24, bes. S. 9–16. 160 Klaus-Michael Bogdal: Diskursanalyse, literaturwissenschaftlich. In: Literaturwissenschaft 156 157
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1. Einleitung
ständnis von Kultur und Literatur untersuche ich nicht, wie soziale und historische Verhältnisse in literarischen Texten thematisiert bzw. ›dargestellt‹ werden, sondern nehme die Regeln in den Blick, nach denen Literatur Bedeutung generiert.161 In dieser Perspektive verstehe ich die Literatur nicht als einen ›Spiegel der Realität‹, sondern als ein Zeichensystem, das in bedeutungszuweisenden Operationen historische Erfahrung konstituiert.162 Nicht die Einheit und Geschlossenheit eines Werks stehen dabei im Vordergrund, sondern dessen »Offenheit gegenüber anderen Werken, an die es anknüpft, deren Konfigurationen es umbildet, auf die es wirkt usw., seine Teilhabe an übergreifenden Diskursen, seine Prägung durch soziokulturelle Prozesse und sein Eingreifen in diese.«163 Die Literatur erweist, anders gesagt, ihre Historizität in ihrer Bedeutung als – besonderes – Element des Diskurses. Von dieser Warte aus unternehme ich es im Folgenden, eine Geschichte der Literatur zu schreiben. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte zu schreiben, birgt wiederum eigene Herausforderungen. Meine Arbeit schließt an neue Versuche an, Jüdische Studien und (germanistische) Literaturwissenschaft unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen in ein wechselseitiges Korrektur- und Bereicherungsverhältnis zu bringen.164 Das ist keine Selbstverständlichkeit. Jeder Versuch deutscher jüdischer Literaturgeschichtsschreibung muss sich mit den wechselseitigen Ausblendungen sowie den verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Gegenstandsabgrenzungen auseinandersetzen, die sich zwischen diesen Forschungsbereichen ergeben. Denn der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist disziplinär und bezeichnungspolitisch ein ebenso peripheres wie umkämpftes Terrain.165 Stellt die deutschsprachige jüdische Literatur im weiten Feld der vielsprachigen jüdischen Literatur nur ein Randphänomen dar,166 gilt sie in der Germanistik als und Linguistik von 1960 bis heute. Hg. von Ulrike Haß und Christoph König. Göttingen 2003. S. 153–174. 161 Jonathan Culler: Literary History, Allegory, and Semiology. In: New Literary History 7 (1976). S. 259–270, hier: S. 260. 162 Als ein wichtiger Orientierungspunkt dient dabei die semiotisch fundierte Interdiskursanalyse. Vgl. Jürgen Link und Rolf Parr: Semiotik und Interdiskursanalyse. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Göttingen 32005. S. 108–133; Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988. S. 284–307. In eine ähnliche Richtung weist mit Blick auf das Schreiben von Literaturgeschichte David E. Wellbery: Überlegungen zum Strukturwandel der Symbolik. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991. S. 103–116. 163 Müller: Literaturgeschichtsschreibung, 1989. S. 206. 164 Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. 165 Steven E. Aschheim: Beyond the Border. The German-Jewish Legacy Abroad. Princeton, NJ 2007; Auf den Spuren der Schrift. Israelische Perspektiven einer internationalen Germanistik. Hg. von Christian Kohlross und Hanni Mittelmann. Berlin/Boston, MA 2011. 166 Günter Stemberger: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977;
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte
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Minderheitenliteratur. In Versuchen, eine Geschichte der modernen jüdischen Literatur von der preußischen Haskala bis zur israelischen Gegenwartsliteratur zu schreiben, liegt der Fokus auf Texten, die in den ›jüdischen‹ Sprachen Hebräisch und Jiddisch verfasst worden sind;167 in der deutschen Nationalliteraturgeschichtsschreibung, die für die Selbstkonstitution der Deutschen als Kulturnation eine wichtige sinnstiftende Rolle spielte,168 haben jüdische Autorinnen und Autoren nur einen unbequemen Platz gefunden.169 Das wohl bekannteste Beispiel für diese wechselseitigen Exklusionsmechanismen ist die Behandlung Heinrich Heines, der als deutscher Jude im französischen Exil mit seinen teils als frivol geltenden Texten gleich drei Feindbilder der deutschen nationalen Literaturkritik und -geschichtsschreibung bediente,170 anWhat is Jewish Literature? Hg. von Hana Wirth-Nesher. Philadelphia, PA 1994; Vilém Flusser: Eine jüdische Literatur? In: ders.: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Mannheim 1995. S. 129–179. 167 Moshe Pelli: In Search of Genre. Hebrew Enlightenment and Modernity. Lanham, MD 2005. S. 33–82; Jeremy Dauber: Antonio’s Devils. Writers of the Jewish Enlightenment and the Birth of Modern Hebrew and Yiddish Literature. Stanford, CA 2004. 168 Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, 1989; Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 1989, bes. S. 254–346; Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus, 1830–1870. München 1985, bes. S. 159–271; Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. In: DVjs 61 (1987). Sonderheft. S. 199–215; Hinrich C. Seeba: Nationalliteratur. Zur Ästhetisierung der politischen Funktion von Geschichtsschreibung. In: Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation? Hg. von Franz Norbert Mennemeier und Conrad Wiedemann. Tübingen 1986. S. 197–207. 169 Vgl. exemplarisch Nicolas Berg, Arndt Engelhardt und Anna Lux: Jüdische Teilhabe und antisemitischer Ausschluss – Zum Problem des Konzepts ›Nationalliteratur‹ am Beispiel der Leipziger Germanistik. In: Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Hg. von Stephan Wendehorst. Leipzig 2006. S. 389–423; zum Hintergrund Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Dokumentation des Germanistentages in München vom 17.–22. Oktober 1966. Hg. von Benno von Wiese und Rudolf Henß. Berlin 1967; Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. München 1991. 170 Siehe für besonders aggressive Beispiele Franz Delitzsch: Wissenschaft, Kunst, Judenthum. Schilderungen und Kritiken. Grimma 1838. S. 37 f.; Wolfgang Menzel: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Bd. 3. Stuttgart 1859. S. 267. Vgl. insgesamt die allerdings vereinseitigenden Darstellungen von Jost Hermand: Heines frühe Kritiker. In: Der Dichter und seine Zeit – Politik im Spiegel der Literatur. Hg. von Wolfgang Paulsen. Heidelberg 1970. S. 113–133; Helmut Koopmann: Heinrich Heine in Deutschland. Aspekte seiner Wirkung im 19. Jahrhundert. In: Nationalismus in Germanistik und Dichtung. Hg. von Benno von Wiese und Rudolf Henß. Berlin 1967. S. 312–333; für eine hellsichtige und kritische Evaluation der ideologisierten Heine-Rezeptionsforschung, die judenfeindliche Tendenzen über Gebühr betont hat, Jeffrey L. Sammons: Zur ausgeklammerten Heine-Rezeption. Beobachtungen zur ersten großen Zeit der Heine-Philologie [2001]. In: ders.: Heinrich Heine. Alternative Perspectives 1985–2005. Würzburg 2006. S. 207–222; ferner allgemein Joachim Bark: Literaturgeschichtsschreibung über Heine. Zur Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert. In: Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Hg. von Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart 1977; George F. Peters: The Poet as Provocateur. Heinrich Heine and His Critics. Woodbridge/Rochester, NY 2000; Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachi-
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1. Einleitung
dererseits aber als Konvertit zum Christentum, der die Bibel in der Lutherübersetzung las, bis heute einen schweren Stand in der jüdischen Rezeption und Nationalliteraturgeschichtsschreibung hat.171 Seit den 1950er Jahren macht gerade diese diffizile Zugehörigkeitsfrage Heine zu einem Paradefall fragiler ›deutsch-jüdischer Identität‹. So werden allenthalben Spekulationen über Heines ›Wurzellosigkeit‹ und ›Zerrissenheit‹ angestellt: Heine habe kein ›natürliches‹ Verhältnis zur deutschen Sprache und Kultur gehabt, sei aber zugleich dem Judentum entfremdet gewesen.172 Zwar ist Heines Stilisierung zu einem Marranen, Ortlosen und Sonderling173 als Reaktion auf den hartnäckigen Mythos einer sogenannten deutsch-jüdischen Symbiose verständlich,174 ihre Angemessenheit ist damit allerdings noch nicht verbürgt. Es sagt zunächst einmal mehr über die schwierige forschungspolitische Lage als über Heines Werk selbst, wenn noch jüngst ein israelischer Germanist behaupten kann, »daß die beiden Hälften der deutsch-jüdischen Existenz Heinrich Heines auseinanderklaffen und daß die Lücke zwischen ihnen nicht zu schließen ist.«175 Die Bindestrichfügung ›deutsch-jüdische Literatur‹ ist, das zeigt Heines Beispiel, stark aufgeladen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und für sehr unterschiedliche Anliegen ideologisch in Dienst genommen,176 sind die jüdische und die deutsche Seite der Bindestrichbildung in Abhängigkeit vom jegen Ländern. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Hg. von Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke. 3 Bde. Berlin 2006–2011. 171 Itta Shedletzky: Zwischen Stolz und Abneigung. Zur Heine-Rezeption in der deutsch-jüdischen Literaturkritik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Bd. 1. Tübingen 1988. S. 200–213; Barbara Otto: »Berühmt, wenn auch profan«. Form und Funktion der österreichisch-jüdischen Rezeption Heinrich Heines zu seiner Zeit. In: HJb 34 (1995). S. 77–117. 172 Als Gewährsmann herhalten muss oft Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt am Main 1958. S. 144–152. Einmal abgesehen davon, dass Heine weder im Hebräischen noch im Jiddischen über umfassende aktive Sprachkenntnisse verfügte (Mark H. Gelber: Heines jüdischer Wortschatz. In: Harry… Heinrich… Henri… Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Hg. von Dietmar Goltschnigg u. a. Berlin 2008. S. 111–120), verkennt die Annahme eines spezifisch jüdischen ›unnatürlichen‹ Verhältnisses zur deutschen Hochsprache die sprachgeschichtlichen Gegebenheiten um 1800. Weder Goethes noch Hölderlins noch Eichendorffs ›Muttersprache‹ war Hochdeutsch. Vgl. Jeffrey L. Sammons: Who Did Heine Think He Was? [1999]. In: ders.: Heinrich Heine. Alternative Perspectives 1985–2005. Würzburg 2006. S. 189–206, hier: S. 191–193; Peter Uwe Hohendahl: Language, Poetry, and Race. The Example of Heinrich Heine. In: ders.: Prismatic Thought. Theodor W. Adorno. London/Lincoln, NE 1995. S. 105–117 und S. 167 f., bes. S. 116. 173 Klaus Briegleb: Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine. Jüdischer Schriftsteller in der Moderne. München 1997. S. 14 f. 174 Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch [1964]. In: ders.: Judaica II. Frankfurt am Main 1970. S. 7–11; Gershom Scholem: Noch einmal: das deutsch-jüdische Gespräch [1965]. In: ebd., S. 12–19. 175 Jakob Hessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns. Göttingen 2005. S. 16. 176 Andreas B. Kilcher: Was ist »deutsch-jüdische Literatur«? Eine historische Diskursanalyse. In: Weimarer Beiträge 45 (1999). S. 485–517.
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte
41
weiligen Zweck, sei es antisemitische Denunziation oder Feier einer vermeintlichen Symbiose, unterschiedlich gewichtet und gewertet worden. Aufgrund ihrer verquasten Ideologiegeschichte kristallisieren sich an dieser Fügung alle Problemstellungen ideologischer und disziplinärer Zuordnung, die der Forschung zur deutschen jüdischen Literatur aufgegeben sind.177 Dennoch hat sich die Bezeichnung seit den 1980er Jahren weitgehend durchgesetzt.178 Alle Versuche, sie als wissenschaftlichen Terminus zu definieren, haben sich allerdings, wie nun skizziert werden soll, in Widersprüchen und Essentialisierungen verfangen. Hans Otto Horch und Itta Shedletzky haben den Begriff ›deutsch-jüdische Literatur‹ in den 1990er Jahren dahingehend zu bestimmen versucht, dass er »das literarische Werk jüdischer Autoren in deutscher Sprache« bezeichne, »in dem explizit oder implizit in irgendeiner Form jüdische Substanz erkennbar ist – als jüdische Thematik, Motivik, Denkformen oder Modelle.«179 Dass die Bestimmung einer solchen ›jüdischen Substanz‹ oft nicht ohne interpretatorische Ver-
177 Klaus Hermsdorf: »Deutsch-jüdische« Schriftsteller? Anmerkungen zu einer Literaturdebatte des Exils. In: ZfG 3:3 (1982). S. 278–292; Hans Otto Horch: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland. Hg. von Julius H. Schoeps. Stuttgart/Bonn 1989. S. 41–65; Andreas Herzog: »Zwischen ›Assimilation‹ und ›Judentum‹«. Jüdische Autoren in der Geschichte deutschsprachiger/österreichischer Literatur. Perspektiven neuer Forschungen. In: Geschichte der österreichischen Literatur. Hg. von Donald G. Daviau und Herbert Arlt. Bd. 1. St. Ingbert 1996. S. 76–95; Amir Eshel: Schreiben auf Jüdisch? Writing in Jewish? In: The Germanic Review 75:2 (2000). S. 91–98; Mona Körte: »Juden und deutsche Literatur«. Die Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann und Mona Körte. Berlin 2004. S. 353–374; Bernd Witte: Deutsch-jüdische Literatur und literarische Moderne. Prolegomena zu einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Jb. der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2004. S. 293–303; Alfred Bodenheimer: Wer definiert für wen, was deutsch-jüdische Literatur ist? In: Transversal 6 (2005). S. 3–9; Willi Jasper: Zu Begriff und Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur – Versuch einer Ortsbestimmung. In: Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Willi Jasper u. a. Wiesbaden 2006. S. 19–42; Eva Lezzi: Gender Constructions in the Debates on German-Jewish Literature. In: Journal of Jewish Identies 1:1 (2008). S. 17–50; Anne Maximiliane Jäger-Gogoll: »Warum deutsch-jüdische Literatur?« – Eine Antwort. In: Durchquerungen. Fs. Ralf Schnell. Hg. von Iris Hermann und Anne Maximiliane Jäger-Gogoll. Heidelberg 2008. S. 133–142; Mark H. Gelber: German-Jewish Literature and Culture and the Field of German-Jewish Studies. In: The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea. Hg. von Jeremy Cohen und Richard I. Cohen. Oxford/Portland, OR 2008. S. 165–184; Caspar Battegay: Die Palmen von Beth El und die Ros’ im Ratskeller zu Bremen. Zu einem Trinklied Heinrich Heines und zum Begriff der deutsch-jüdischen Literatur. In: Jüdische Studien als Disziplin – Die Disziplinen der Jüdischen Studien. Hg. von Johannes Heil und Daniel Krochmalnik. Heidelberg 2010. S. 289–299. 178 Manche Forscher ziehen es allerdings vor, von ›jüdischer Literatur in deutscher Sprache‹ und ›jüdischen Autoren deutscher Sprache‹ zu sprechen (Lamping: Von Kafka bis Celan, 1998. S. 11; Stephan Braese: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930. Göttingen 2010. S. 18). 179 Horch/Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur, 2000. S. 522. Vgl. auch die Erörterungen zur ›jüdischen Substanz‹ von Shedletzky: Existenz und Tradition, 1993. S. 3–14.
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1. Einleitung
renkungen zu leisten ist, lässt sich denken.180 »Probleme für die Interpretation entstehen vor allem da«, gibt Horch an anderer Stelle zu, »wo nicht direkt, sondern indirekt, verschlüsselt, in mehr oder weniger kryptischen Bildern auf jüdische Tradition oder Existenz angespielt wird.«181 Vollends ad absurdum aber führen Horch und Shedletzky ihre eigene Definition, als sie in ihrem kurzen Überblicksartikel für das Lexikon des Judentums die ersten jüdischen Dichter deutscher Sprache – Isaschar Falkensohn Behr und Ephraim Moses Kuh – vergleichsweise ausführlich vorstellen, um sie dann sogleich aus ihrem Untersuchungsbereich auszuschließen: Da beide ganz »im Geist zeitgenössischer deutscher Dichtung« schrieben und, so die im Übrigen falsche Behauptung, Jüdisches nicht thematisierten, könne bei ihrem Werk nicht »von deutsch-jüdischer Dichtung« gesprochen werden.182 Mit dem Kriterium der ›jüdischen Substanz‹ wird hier ein Definitionszwang auferlegt, der an den historischen Entstehungsbedingungen deutscher jüdischer Literatur vorbeigeht. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Horch und Shedletzky auf das Kriterium einer Verfasstheit in deutscher Sprache rekurrieren, muss stutzig machen. Ist Mendelssohn, der einen bedeutenden Teil seines Werks auf Hebräisch verfasst hat, dann überhaupt ein ›deutsch-jüdischer‹ Autor? Wie werden die Grenzen des Deutschen bestimmt? Sind deutschsprachige Texte in hebräischen Lettern auch (noch) als deutsche anzusehen? Und warum soll sich ›deutsch‹ nur auf die Sprache beziehen, ›jüdisch‹ hingegen nur auf Herkunft und die sogenannte Substanz? Die unreflektiert bleibende Asymmetrie zwischen den beiden Hälften der Bindestrichbildung zeigt, dass eine wie auch immer geartete jüdische Herkunft – entgegen aller Lippenbekenntnisse gegen ›Abstammungsnachweise‹ – eine notwendige Bedingung dieser Definition ›deutsch-jüdischer Literatur‹ ist.183 Mit Andreas B. Kilcher ist solchen Definitionsversuchen entgegenzuhalten: Es ist […] nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft, selbst festzulegen und zu bestimmen, was deutsch-jüdische Literatur sei, welche Autoren zu ihrer Geschichte und welche Texte zu ihrem Korpus gehören. Es geht nicht darum, Normen und Kriterien wie Herkunft, Substanz, Stoffe, Motive, Sprache, Stil vorzugeben, um zu einer eindeutigen Definition der deutsch-jüdischen Literatur zu gelangen […]. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschreibung wird vielmehr darin bestehen, ihrerseits literarische Selbstbestimmungsdiskurse zum Gegenstand 180
So wird nicht selten Jüdisches über biographische Rückgriffe in Romane hineingelesen, die auf der Textebene keinerlei Anhaltspunkte dafür bieten. Vgl. kritisch dazu Eva Lezzi: »… ewig rein wie die heilige Jungfrau…«. Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800. In: Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Willi Jasper u. a. Wiesbaden 2006. S. 61–86. 181 Hans Otto Horch: ›Was heißt und zu welchem Ende studiert man deutsch-jüdische Literaturgeschichte?‹ Prolegomena zu einem Forschungsprojekt. In: German Life and Letters 49:2 (1996). S. 124–135, hier: S. 134. 182 Horch/Shedletzky: Die deutsch-jüdische Literatur, 2000. S. 522. 183 Dass dies insgesamt auf Konzepte jüdischer Literatur zutrifft, thematisiert in einem kontrovers diskutierten Essay Michael P. Kramer: Race, Literary History, and the ›Jewish Question‹. In: Prooftexts 21:3 (2001). S. 287–349.
1.6 Deutsche jüdische Literaturgeschichte
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zu machen und zu fragen, mit welchen argumentativen Verfahren in den verschiedenen historischen Debatten, letztlich aber in jedem einzelnen Schreibakt, in jedem einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird.184
Nun erliegt allerdings auch diese Zurückweisung älterer Definitionsversuche wiederum der essentialisierenden Suggestionskraft der Bezeichnung ›deutsch-jüdische Literatur‹, insofern Kilcher diese als einen »irreduzibel vieldeutige[n] interkulturelle[n] Raum« beschwört und sie je nach theoretischer Mode und kulturwissenschaftlichem turn zu einer »deterritorialisierte[n] Literatur«, einem »ebenso ungleichen wie unsicheren und verletzlichen Zwischenraum« oder – lose an Homi K. Bhabhas third space angelehnt – einem »dritte[n] Raum zwischen den Kulturen und Sprachen« stilisiert.185 Abgesehen davon, dass diese Konzepte von Hybridität eine ganze Reihe pro blematischer und anachronistischer Prämissen mit sich führen,186 perpetuiert die Rede vom Zwischenraum die um 1900 etablierte rhetorische Gegenüberstellung von ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ und stellt den vermeintlich homogenen, stabilen deutschen und jüdischen Nationalliteraturen eine angeblich notwendig krisenhafte transkulturelle ›deutsch-jüdische‹ Minderheitenliteratur gegenüber. Damit wird die ›deutsch-jüdische Literatur‹ letztlich wiederum – nun als hybride und krisenhafte – essentialisiert.187 Und sie wird wiederum auf ein bestimmtes normatives Ideal festgelegt, denn mit der Erwartung, dass ›deutsch-jüdische Literatur‹ kritisch sei und den sogenannten Mehrheitsdiskurs störe, wird das Spektrum von Identifikationsmöglichkeiten in anachronistischer Weise eingeschränkt: Autoren wie Karl Emil Franzos, die nicht in dieses Schema passen, werden entweder abgewertet oder nicht beachtet.188 Mit Dan Miron ist festzuhalten, dass das komplexe Beziehungsfeld der jüdischen Literatur mit einer stati184 Kilcher: Einleitung zum Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2000. S. xiv f.; auch in Kilcher: Einleitung zum Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2012. S. xxvi. Vgl. Kilcher: Was ist deutsch-jüdische Literatur, 1999. S. 511. 185 Kilcher: Einleitung zum Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2000. S. xix; Kilcher: Einleitung zum Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2012. S. vi; Kilcher: Einleitung zu 120 Porträts der deutsch-jüdischen Literatur, 2006. S. vii. 186 Todd Herzog: Hybrids and Mischlinge. Translating Anglo-American Cultural Theory into German. In: GQ 70:1 (1997). S. 1–17. 187 Das gilt auch für den Versuch, eine Unterscheidung zwischen der ›klassischen deutschen‹ und der ›deutsch-jüdischen‹ Literatur mit Blick auf deren vermeintlich verschiedene Selbstbegründungen in Natur und Schrift zu treffen (Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne, 2007. S. 10 f.), zumal die empirische Basis dieser Verallgemeinerung unklar bleibt. 188 Vgl. kritisch dazu Leo W. Riegert Jr.: Subjects and Agents of Empire. German Jews in Post- Colonial Perspective. In: GQ 82:3 (2009). S. 336–355, hier: S. 338 f. Die Gefahr, bei der Verteidigung Entrechteter und der Aufwertung des Subversiven in Essentialismen zu verfallen, thematisiert auch Gert Mattenklott: Jüdische Literatur in Europa. In: »Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!« (Num 24,5). Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. Hg. von Rainer Kampling. Frankfurt am Main 2009. S. 171–184, hier: S. 175 f.
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1. Einleitung
schen Unterscheidung von Mehrheit und Minderheit nicht adäquat erfasst werden kann.189 Kilchers Beschreibung erweist sich mithin auf den zweiten Blick als weniger offen und inklusiv, als es zunächst scheinen mag. Es kann auch nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft sein, Autoren und Texte verschiedenster Couleur über den einen Kamm der Hybridität zu scheren und in einen ›dritten Raum‹ zwischen vermeintlich homogenen deutschen und jüdischen ›Räumen‹ oder (Literatur-)Kulturen zu bannen. Weder der Komplexität der jüdischen noch der deutschen Literaturgeschichte wird man damit gerecht. Andrea Schatz hat deshalb gefordert, den Blick so zu verändern, dass die deutsche Literatur »nicht länger als das Andere ›irreduzibel vieldeutiger‹ und ›interkultureller‹ Literatur erscheint,« sondern selbst als »vielförmig, komplex und zugleich streitend gegen ihre Komplexität« erkennbar wird. Um diese konzeptuelle Verschiebung auch terminologisch sichtbar zu machen, folge ich dem Vorschlag von Schatz, die Bindestrichfügung aufzubrechen und damit den »vielfachen, gegeneinander verschobenen und beweglichen Unterscheidungen« Raum zu geben, die das Schreiben um 1800 kennzeichnen.190 Statt die ›deutsch-jüdische Literatur‹ im Voraus konzeptuell auf einen hybriden Zwischenraum festzulegen, mache ich mit dem hier verfolgten Rekonstruktionsprojekt einer deutschen jüdischen Literaturgeschichte um 1800 auf die Komplexität und Transkulturalität sowohl der deutschen als auch der jüdischen Literaturgeschichte aufmerksam. Ich gehe, anders gesagt, davon aus, dass für die deutsche jüdische Literaturgeschichte ebendas gelten muss, was Hana Wirth-Nesher für die amerikanische jüdische Literaturgeschichte festhält: »that the categories of ›American literature‹ and ›Jewish literature‹ are mutually constitutive, both variously refracting the Judaic civilization and the American ideology from which they arise.«191 Mit diesem Ansatz teste ich die Kriterien der deutschen und jüdischen Literaturgeschichtsschreibung auf ihre Aussagekraft und Reichweite. Zählen zum Beispiel christliche, deutschsprachige Oden im Stil hebräischer Psalmen zur deutschen oder zur jüdischen Literatur? Anakreontische Lieder eines litauischen, vom ›preußischen Horaz‹ Karl Wilhelm Ramler protegierten Juden? Ein in griechischem Geist verfasstes philosophisches Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele, verfasst von einem jüdischen Aufsteiger aus Dessau? Eine deutsche Bibelübersetzung in hebräischen Lettern? Eine in Königsberg und Berlin verlegte hebräische Zeitschrift, die dem Modell der Berlinischen Monatsschrift folgt? Die 189 Dan Miron: From Continuity to Contiguity. Toward a New Jewish Literary Thinking. Stanford, CA 2010, bes. S. 312 f. 190 Andrea Schatz: Geteilte Territorien. Topografie, Genealogie und jüdische deutsche Literatur. In: Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 483–514, hier: S. 510. 191 Hana Wirth-Nesher: Introduction. In: The Cambridge History of Jewish American Literature. Hg. von derselben. New York, NY 2016. S. 1–18, hier: S. 3. Vgl. ähnlich auch Julian Levinson: Exiles on Main Street. Jewish American Writers and American Literary Culture. Bloomington, IN 2008. S. 2 f.
1.7 Kultursemantik literarischer Form
45
deutsche Übersetzung eines in Berlin entstandenen hebräischen Epos? Ein in orientalischem Geist auf Deutsch verfasster Divan aus Weimar? Der auf Deutsch verfasste Tendenzroman einer zum Christentum konvertierten Autorin, die einer Königsberger jüdischen Familie entstammt? Im Pariser Exil niedergeschriebene Hebräische Melodien eines getauften Juden aus Düsseldorf? Indem ich solche Phänomene deutscher jüdischer Literaturgeschichte in den Blick nehme, soll eine Dimension der mehrsprachigen, transkulturellen und territorial weitläufigen Komplexität der deutschen Literaturgeschichte und gleichermaßen eine Dimension der ebenso komplexen jüdischen Literaturgeschichte erkennbar werden. Im Fokus der folgenden Untersuchungen also steht der Bereich, in dem sie voneinander abhängig und durch einander bedingt sind. Das bedeutet, dass auch nichtjüdische Autorinnen und Autoren, die Aneignung jüdischer Stile und Formen für christliche Epen sowie Texte in hebräischer Sprache und/oder Schrift integraler Bestandteil der in dieser Arbeit aufgerollten literaturgeschichtlichen Zusammenhänge sein werden.192 Statt nach dem ›Beitrag‹ jüdischer Autorinnen und Autoren zur deutschen Literatur zu fragen und nach Spuren ›jüdischer Identität‹ zu suchen, analysiere ich die literarischen Verfahrensweisen, die um 1800 eingesetzt wurden, um (Selbst‑)Zuschreibungen jüdischer Autorschaft und Herkunft zu plausibilisieren, Gattungen, Sprechweisen und Schreibarten als jüdisch zu markieren und den Gebrauch jüdischer Motive und Topoi zu legitimieren. Indem ich Ansätze aus den Disziplinen der Germanistik und der Jüdische Studien verbinde und auf das historische Phänomen des Orientalismus perspektiviere, erprobe ich ein Verfahren, das die Konstitutionsprozesse deutscher (und) jüdischer Literatur heuristisch unter dem Aspekt des Orientalismus in ein Verhältnis gegenseitiger Erhellung bringt.
1.7 Kultursemantik literarischer Form Für den Traditionswandel um 1800 war die Frage maßgeblich, ob und wie die hebräische Bibel ein jüdisches Referenzmodell modernen Schreibens bieten könne. Diese Frage wurde vor allem in und an Poesie verhandelt.193 Und so ist es die Poesie, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht. Mit diesem Fokus auf Dichtung in Versen und deren Reflexion rücke ich ein umfangreiches Textkorpus ins Blickfeld, an dem die Forschung zur deutschen jüdischen Literaturge192 Ein ähnlich flexibles Programm hat ein jüdischer Germanist zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Berliner Universität vorgestellt. Vgl. Ludwig Geiger: Die Juden und die deutsche Literatur. (Einleitung zu Universitätsvorlesungen Winter 1903/04). In: ders.: Die Deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910. S. 1–24. 193 Man war sich im 19. Jahrhundert einig, dass Modelle für Drama und Epos anderswo gesucht werden müssten. Vgl. etwa Karl Rosenkranz: Handbuch einer allgemeinen Geschichte der Poesie. Bd. 1. Halle 1832. S. 75 f.; Ludwig Philippson in der AZJ 6:1 (1843). S. 5.
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1. Einleitung
schichte, die sich, was das 19. Jahrhundert angeht, fast ausschließlich mit erzählender Prosa – Romanen, Kurzgeschichten, Novellen, Erzählungen – beschäftigt,194 bislang kaum Interesse gezeigt hat. Diese Ausblendung von Gedichten und Versepen folgt zum einen der Schwerpunktsetzung der germanistischen Forschung allgemein, die sich mit der Lyrik (und Epik) insbesondere des 19. Jahrhunderts schwertut.195 Sie erklärt sich zum anderen aus der Dominanz eines Repräsentationsschemas, mit dem Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler nach ›Bildern‹ von Juden und ›Darstellungen‹ jüdischer ›Identität‹ fragen (Kap. 1.2). Für eine Untersuchung, wie Juden in Texten dargestellt werden, bietet sich erzählende Prosa eher an als Dichtung in Versen; Fragen literarischer Formgebung rücken in solchen Untersuchungen allerdings selten in den Blick. Die Bild-Metapher droht den medialen Eigensinn der Literatur zu verschleiern,196 denn über die Rede von sogenannten Orient- oder Judenbildern gerät leicht in Vergessenheit, dass sich die Realisierung von Orientalischem oder Jüdischem um 1800 keineswegs auf den thematischen Bereich beschränkt, sondern sich maßgeblich in formalen Umsetzungen und Umbesetzungen und deren kultureller Semantisierung manifestiert. Ebendarauf zielt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Das Vorhaben, die Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte über die Kultursemantiken literarischer Form zu erschließen, erfordert mithin eine Perspektivverschiebung gegenüber der bisherigen Forschung. Im Zeitraum von ca. 1750 bis 1850 setzt ein intensives Nachdenken über die Form(en) der bildenden Künste und der Literatur ein, das die in dieser Arbeit 194 Jonathan Skolnik: Jewish Pasts, German Fictions. History, Memory, and Minority Culture in Germany, 1824–1955. Stanford, CA 2014; Jonathan M. Hess: Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity. Stanford, CA 2010; Nitsa Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit. Der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Entstehung einer neuen jüdischen Nationalliteratur. Aus dem Hebräischen [1997] übersetzt von Dafna Mach. Tübingen 2006; Florian Krobb: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000; Florian Krobb: Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002; Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 2 Bde. Hg. von Gabriele von Glasenapp und Hans Otto Horch. Tübingen 2005; Gabriele von Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1996; Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur, 1985. Vgl. für Frankreich Maurice Samuels: Inventing the Israelite. Jewish Fiction in Nineteenth-Century France. Stanford, CA 2010. 195 Vgl. aber Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus u. a. Bern 2005. 196 Damit einhergehend ebnet die verallgemeinernde Rede von ›Bildern‹ die sehr unterschiedlichen Stellenwerte und Funktionen verschiedener rhetorischer Figuren ein und ignoriert die umfangreiche Theoriearbeit, die an den Konzepten von Metapher, Symbol, Thema, Motiv und Topos geleistet worden ist. Vgl. Dirk Werle: Für eine Literaturgeschichte semantischer Einheiten. In: Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Hg. von Matthias Buschmeier u. a. Berlin/Boston, MA 2014. S. 63–85, bes. S. 73.
1.7 Kultursemantik literarischer Form
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untersuchten Diskursdynamiken freisetzt. Als eigenständige ästhetische Kategorie verstanden, begründet die Form um 1800 zum einen Vorstellungen des in sich selbst vollendeten und sich selbst genügenden Kunstwerks, zum anderen wird sie historisiert und damit in eine Vielfalt kulturgeschichtlich differierender Formen aufgefächert.197 Daraus ergibt sich ihr Potential für literarisches Traditionsverhalten im – mit Koselleck gesprochen – Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. Individualisiert, pluralisiert und historisiert, wird die poetische Form als ein traditionskonstituierendes und traditionsvariierendes Mittel genutzt. Wie die griechisch-römische Antike mit bestimmten Versmaßen, etwa dem Hexameter oder der sapphischen Strophe, evoziert werden kann, so lässt sich das hebräische Altertum mit dem Parallelismus und der arabisch-persische Orient mit dem Ghasel aufrufen. Vor dem Hintergrund dieses nuancenreichen Spektrums möglicher literarischer Realisierungsweisen werde ich der Frage nachgehen, wie sich jüdisch-orientalische Korrelationen in einzelnen Text manifestieren und wie sie historisch im Orientdiskurs zu situieren sind. In den folgenden Einzelstudien untersuche ich also, wie Texte durch ihre Form Effekte des Jüdischen und Orientalischen generieren und inwiefern bestimmte literarische Formen und Formzitate um 1800 die Möglichkeit bieten, dem eigenen Text einen morgenländischen Glanz zu verleihen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anders gesagt, die kultursemantische Diskursfunktion von Literatur über deren Form(en) zu erschließen. Von besonderer Relevanz sind dabei die Kategorien der Gattung und des Stils, deren Temporalisierung und Pluralisierung im Traditionswandel um 1800 vielfältiges Gebrauchspotential freisetzte. Rückgriffe auf verschiedene Muster von der morgenländischen Fabel über die christliche Epopee bis zum Psalm boten den Autorinnen und Autoren dieser Jahrzehnte ein komplexes literarisches Experimentierfeld. Während ein ›attisch‹ gemäßigter Stil Klassizität vermittelte, galt ein ›blumiger‹, metaphernreicher Stil als Signum des Orientalischen. Die Wahrnehmung und Bezeichnung solcher ›blumiger‹ Stile wahlweise als asiatisch, rabbinisch, ursprünglich oder jüdisch war von erheblicher Tragweite. Welcher Stil welche nationalkulturellen, emotionellen und qualitativen Konnotationen mit sich führte, wie stilistische Innovation beurteilt wurde und ob ein literarischer Stil als wählbar oder als natürlicher Charakterausdruck des schaffenden Dichters galt, unterlag dem historischen Wandel des Literatursystems in dieser Umbruchszeit. In mehreren Einzeluntersuchungen wird sich zeigen, dass die Transformationen der Gattungssystematik sowie des Stilbegriffs und der Stilkritik sowohl die Produktion als auch die Rezeption der deutschen jüdischen Literatur maßgeblich steuerten. Ein dritter Aspekt schließlich, in dem sich die kultursemantische Funktion von Literatur manifestiert, ist ihre Medialität. In den Jahrzehnten um 1800 er197 Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart/Weimar 2001. S. 45–137.
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1. Einleitung
weiterte und veränderte sich der Buchmarkt tiefgreifend;198 die Bedingungen des Daseyns einer deutschen Literatur wurden auch mit Blick auf den Buchhandel reflektiert und diskutiert.199 Angesichts der Vielfalt von Sprachen und Schriften, aus denen sich speziell das Textkorpus der deutschen jüdischen Literaturgeschichte zusammensetzt, sind Fragen der Buchgestaltung für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit von besonderem Belang. Ich greife deshalb die Forderung von Jonathan Hess auf, buch- und mediengeschichtliche Forschungen für die Erschließung der deutschen jüdischen Kulturgeschichte fruchtbar zu machen.200 Das Verhältnis von Sprache, Schrift, Typographie und Buchschmuck, das aktuell verstärkt in der Literaturwissenschaft Berücksichtigung findet,201 wird in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit immer wieder Zugangswege zur Einordnung und Deutung verschiedener Texte aufschließen und diese zugleich als in ihrer Darbietungsform historisch bedingte ausweisen: Die deutsche jüdische Literatur ging aus einem typographischen Zusammenspiel verschiedener Sprachen und Schriften hervor,202 und deren Wirkungen waren durch kulturelle und speziell orientalistische Erwartungen bestimmt. Mit besonderem Schwerpunkt auf die Bereiche Gattung, Stil und Buchgestaltung analysiere ich in dieser Arbeit, so lässt sich zusammenfassen, am Leitfaden von Kultursemantiken der Form literarische Werke und literaturgeschichtliche Konstellationen aus dem Zeitraum 1750 bis 1850. Insofern alle Einzelstudien auf die Diskursformation des Orientalismus hin perspektiviert sind, ergeben sich zwischen den untersuchten Texten und Konstellationen vielfältige Korrespondenzen. Zusammengenommen bilden sie ein Panorama des Orientalismus (in) der deutschen jüdischen Literaturgeschichte um 1800. Die Metapher des Panoramas ist auch als Lesehinweis zu verstehen. Sie mag zunächst etwas schief erscheinen, weil diese Arbeit – als Text – keine Totalansicht auf einen Blick bieten kann. Nun ist aber auch die Überblicksillusion eines Panoramas aus sehr vielen Einzelan198 Jochen Schulte-Sasse: Literarischer Markt und ästhetische Denkform. Analysen und Thesen zur Geschichte ihres Zusammenhanges. In: Lili 6 (1972). S. 11–31. 199 [Friedrich Christoph Perthes]: Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur. [Hamburg] 1816. 200 Jonathan M. Hess: Studying Print Culture in the Digital Age. In: The Future of German-Jewish Studies. Schwerpunktthema im LBI YB 54 (2009). S. 33–36. 201 Carlos Spoerhase: Perspektiven der Buchwissenschaft: Ansatzpunkte einer buchhistorisch informierten Literaturwissenschaft [Forschungsbericht]. In: ZfG N.F. 21 (2011). S. 145–152; Bookish Histories. Books, Literature, and Commercial Modernity, 1700–1900. Hg. von Ina Ferris und Paul Keen. Basingstoke/New York, NY 2009; The History of the Book and the Idea of Literature. Hg. von Seth Lerer and Leah Price. Schwerpunktthema in PMLA 121:1 (2006). S. 8–234; Uwe Jochum: Textgestalt und Buchgestalt. Überlegungen zu einer Literaturgeschichte des gedruckten Buches. In: Lili 103 (1996). S. 20–34. 202 Dieses Phänomen gerät nicht in den Blick, wenn nur Hebräisch und Jiddisch berücksichtigt werden. Dies ist der Fall bei Zeev Gries: The Book in the Jewish World, 1700–1900. Oxford/Portland, OR 2007.
1.8 »Griechisch schön gebildete Seele« und »orientalische Tournüre«
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sichten zusammengesetzt. So wie ein Panorama polyperspektivisches Stückwerk ist,203 so ist auch diese Arbeit eines, und dies ganz bewusst. Wie ein Panorama seine Betrachter dazu einlädt, herumzugehen und sich schauend in einzelne Detailszenen zu vertiefen, so fordern auch die Einzelstudien dieser Arbeit jeweils mikroskopische Aufmerksamkeit für Texte und Textzusammenhänge, die auf den ersten Blick randständig scheinen mögen. Ein Totaleindruck dieses textuellen Panoramas kann und soll sich nur virtuell ergeben. Um die Entstehung dieses virtuellen Totaleindrucks zu befördern, laden rahmende Einleitungs- und Schlusskapitel dazu ein, ein oder zwei Schritte zurückzutreten und Zusammenhänge zwischen den betrachteten Einzelszenen zu erkennen. Am Eingang und am Ausgang des Gesamtpanoramas ist außerdem je ein kleines Panorama platziert (Kap. 1.8 und Kap. 6.3), in denen wichtige Problemstellungen und Argumentationsfiguren in konzentrierter Form exemplarisch aufgezeigt werden. Das erste dieser kleinen Panoramen bildet die folgende Studie zu west-östlichen Wahrnehmungsmustern im Umgang mit demjenigen deutschen jüdischen Denker, dessen Wirken in jedem Winkel des in dieser Arbeit entrollten Panoramas sichtbar oder zumindest spürbar sein wird: Moses Mendelssohn.
1.8 »Griechisch schön gebildete Seele« und »orientalische Tournüre« Mendelssohns Diskurspolitik in der Stilkritik Moses Mendelssohns Lebensweg und seine Nachwirkung als Referenzfigur sind von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Umbruchszeit der Jahrzehnte um 1800, die in dieser Arbeit erschlossen werden soll. Konsequent seine traditionelle jüdische Ausbildung um die Sprachen und Bildungsinhalte des europäischen siècle des lumières erweiternd, prägte Mendelssohn im 18. Jahrhundert maßgeblich den Diskurs der Aufklärung. Als Literaturkritiker, Ästhetiker, Philosoph, gefragter Gesprächspartner und geschätzter Freund avancierte der nach Berlin zugewanderte Jude zur vielbewunderten (und vielkritisierten) Ausnahmegestalt.204 Jeder Verständigungsversuch über die Bedingungen und Möglichkeiten jüdischer Emanzipation bezog sich explizit oder implizit auf diese berühmte Persönlichkeit. Weil das so ist, lässt sich am Umgang mit Mendelssohn und dessen Erbe auch besonders deutlich sehen, wie west-östliche Wahrnehmungsmuster und Argumentationsstrukturen um 1800 in der Verhandlung jüdischer Be203 Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt am Main 1980. S. 26. 204 Vgl. grundlegend Alexander Altman: Moses Mendelssohn. A Biographical Study [1973]. London/Portland, OR 1998; anschaulich Michael Albrecht: Moses Mendelssohn, 1729–1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung. Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek. Wolfenbüttel 1986; zuletzt Shmuel Feiner: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung. Aus dem Hebräischen [2005] übersetzt von Inge Yassur. Göttingen 2009.
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lange zum Tragen kamen. Im Folgenden soll skizziert werden, wie Mendelssohns Diskursposition mithilfe jüdisch-orientalischer und klassisch-antiker Modelle bestimmt wurde: Schrieb man ihm einerseits die Kultivierung ›orientalischer Tournüre‹ zu, galt er andererseits als Berliner Sokrates mit einer ›griechisch schön gebildeten Seele‹. Um diesen Diskurszusammenhang zu erschließen, werde ich zunächst einen ebenso seltsam wie marginal wirkenden Text Mendelssohns mit seinen literaturgeschichtlichen Entstehungsbedingungen um 1760 kontextualisieren und dann nachverfolgen, was mit ebendiesem Text geschah, als er gut dreißig Jahre später veröffentlicht wurde und an einen anderen, breiteren Leserkreis geriet. 1754 lernen sich Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn in Berlin kennen. Zwischen den drei jungen Männern – Söhnen eines Kamenzer Pfarrers, eines Berliner Buchhändlers und eines Dessauer Gemeindeschreibers – entspinnt sich eine ungewöhnliche Freundschaft.205 Mitten im Siebenjährigen Krieg gründen die drei Freunde das epochemachende Rezensionsblatt Briefe, die neueste Litteratur betreffend, das ab Januar 1759 erscheint. Am 7. November 1760 indes verlässt Lessing die Stadt in aller Heimlichkeit und tritt als Sekretär in den Dienst des Generals von Tauentzien in Breslau. Er erweist sich als nachlässiger Briefpartner; Mendelssohn sieht sich vom Freund alleingelassen. Als er im Oktober 1761 eine zweibändige Sammlung seiner Philosophischen Schriften bei dem Berliner Verleger Christian Friedrich Voß veröffentlicht, lässt Mendelssohn in das für Lessing bestimmte Buch sowie in fünf weitere Exemplare für ausgewählte Freunde, darunter seine Hamburger Braut Fromet Gugenheim und der Berliner Freund Friedrich Nicolai, ein Einzelblatt einlegen, das mit einer Zueignungsschrift an einen seltsamen Menschen bedruckt ist. In dieser zwischen moralisierender Mahnung und feinem Witz changierenden Widmung beklagt Mendelssohn den Umstand, dass Lessing sich dem gemeinsamen Berliner Projekt der Briefe, die neueste Litteratur betreffend entzogen habe und sich in Breslau dem Glücksspiel hingebe: Zueignungsschrift an einen seltsamen Menschen Die Schriftsteller, die das Publikum anbeten, beklagen sich, es sey eine taube Gottheit; es lasse sich verehren, und anflehen; man rufe von Morgen bis an den Mittag, und da wäre keine Stimme noch Antwort. Ich lege meine Blätter zu den Füßen eines Götzen, der den Eigensinn hat, eben so harthörig zu seyn. Ich habe gerufen, und er antwortet nicht. Jetzo verklage ich ihn vor dem tauben Richter, dem Publiko, das sehr oft gerechte Urtheile fällt, ohne zu hören. Die Spötter sagen: Rufe laut! Er dichtet, hat zu schaffen, ist über Feld, oder schläft vielleicht, daß er er205 Vgl. Conrad Wiedemanns Kommentar in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 3. Frankfurt am Main 2003. S. 338–364; Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Freundschaft. Nicolai, Lessing und Mendelssohn in Berlin. In: Friedrich Nicolai (1733–1811). Hg. von Stefanie Stockhorst u. a. Berlin 2011. S. 271–284; Eva J. Engel-Holland: Die Bedeutung Moses Mendelssohns für die Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Mendelssohn-Studien 4 (1979). S. 111–159; Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008. S. 203–245.
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wache! – O nein! Dichten kann er, aber leider! will ja nicht; Reisen möchte er, aber das kann er nicht. Zum Schlafen ist sein Geist zu munter, und zu Geschäften zu faul. Sonst war sein Ernst das Orakel der Weisen, und sein Spott eine Ruthe auf dem Rücken der Thoren; aber itzt ist das Orakel verstummt, und die Narren trotzen ungezüchtiget. Er hat seine Geißel Andern übergeben, aber sie streichen zu sanft, denn sie fürchten Blut zu sehen. – Und er, »Wenn er nicht hört, noch spricht, nicht fühlt, Noch sieht; was thut er denn? – Er spielt.«206
Der manierierte Charakter dieser Zueignungsschrift ergibt sich, wie ich an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen habe,207 aus ihrem extremen Anspielungsreichtum. Mit der Adressierung an einen seltsamen Menschen und den durch Anführungszeichen markierten Schlussversen zitiert Mendelssohn die Fabel Die seltsamen Menschen von Magnus Gottfried Lichtwer in einer von Karl Wilhelm Ramler bearbeiteten Fassung.208 Die seltsam tauben, stummen, unzugänglichen Menschen, von denen in Lichtwers Fabel ein Weitgereister in seiner Heimat zu berichten weiß, tun nichts anderes als, so die Schlusspointe, in aller Besessenheit zu spielen. Mendelssohn adaptiert diese Pointe zum einen, um Lessings Leidenschaft für das Glücksspiel zu tadeln, der er in Breslau besonders intensiv nachgeht,209 zum anderen verweist er damit auf den damaligen kritisch-kontroversen Diskurs über das Hasardspiel, der in den vorhergehenden Jahren immer wieder ein Gesprächsgegenstand der beiden Freunde gewesen war. Der durch das Lichtwer-Zitat gerahmte Text besteht fast vollständig aus Zitaten aus dem Alten Testament. Mendelssohn scheint unter Verwendung der lutherschen Bibelübersetzung den sogenannten Musivstil aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen zu haben, dessen Prinzip darin besteht, den eigenen Text weitgehend aus biblischen (und zum Teil auch nachbiblischen) Wendungen zusammenzufügen.210 Bei kundigen Lesern ergeben sich dabei Interferenzen zwischen dem biblisch tradierten und dem neuen Aussagezusammenhang.211 Im 18. Jahrhundert wandeln sich der Gebrauch und die Wertung dieses intertextuellen Verfahrens, das sich im gelehrten jüdischen Schrifttum des Mittelalters ausgebildet hatte. Es wird von den jüdischen Aufklärern für ihre elaborierte, stark 206 Zitiert nach Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Hg. von Karl Gotthelf Lessing. Bd. 1. Berlin 1793. S. 233 f. Vgl. auch JubA 6.1, 189. 207 Kathrin Wittler: Von Autorschaft, Freundschaft und anderen Hasardspielen. Mendelssohns Zueignung seiner Philosophischen Schriften (1761) an Lessing. In: Lessing YB 45 (2018). S. 7–27. 208 Charles Batteux: Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehrt von Karl Wilhelm Ramler. Bd. 1. Leipzig 1756. S. 308. 209 Karl S. Guthke: Der Glücksspieler als Autor. Überlegungen zur »Gestalt« Lessings im Sinne der inneren Biographie. In: Euphorion 71:4 (1977). S. 353–382, hier: S. 382. 210 Jutta Schumacher: Hebräischer Musivstil – Bibelreminiszenzen als Bausteine literarischer Mosaiken. In: Formelhaftigkeit in Text und Bild. Hg. von Natalia Filatkina u. a. Wiesbaden 2012. S. 153–162. 211 Leopold Dukes: Der Musivstil. In: ders.: Zur Kenntniß der neuhebräischen religiösen Poesie. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte, nebst hebräischen Beilagen. Frankfurt am Main 1842. S. 112–135, hier: S. 121.
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phrasenhaltige und figurativ verfahrende Rhetorik adaptiert, die sie Meliza ( )מליצהnennen.212 Die Wertung des Musivstils ist in diesem Kontext zwiespältig: Er gilt zwar als besonders gelehrt und kunstvoll, aber auch als schwülstig und blumig. Ist er schon im Hebräischen umstritten, muss er im Deutschen wie ein grotesker Wiedergänger des ›barocken Schwulstes‹ wirken, den die Literaturkritiker der Zeit im Namen von Schlichtheits- und Natürlichkeitsidealen vehement bekämpfen.213 Auf ebendiese Ambivalenz setzt Mendelssohn. Fein-ironisch positioniert er sich mit der Zueignungsschrift als jüdischer Aufklärer, der aufklärerische Schlagwörter wie »Schriftsteller« und »Publikum« zu satirischen Zwecken mit einem intertextuellen Verfahren verbinden kann, das er aus den hebräischen Texttraditionen ins Deutsche überträgt. Mendelssohn greift allerdings noch auf einen anderen Traditionsstrang zurück. In den antiken und christlichen Literaturbeständen entspricht dem Verfahren des hebräischen Musivstils der sogenannte Cento-Stil, der Versatzstücke aus bekannten Texten – vornehmlich aus Homer, Vergil und der Bibel – zu neuen Aussagen kombiniert.214 Mit einem solchen Verfahren nun hat zwei Jahre zuvor ein Autor den deutschen Buchmarkt aufgemischt, dessen Schriften in den folgenden Jahren zum Inbegriff dunklen Stils avancieren werden: Johann Georg Hamann.215 Und in der Tat erweist sich Mendelssohns Zitat-Montage als Re-Montage der Vorrede An das Publicum, oder Niemand, den Kundbaren zu Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759),216 mit der Hamann wiederum eine Zueignungsschrift an die Nachwelt von Nicolai parodiert, mit der dieser wiederum auf Pierre Le Guay de Prémontvals Zueignung A la postérité seiner Pensées sur la liberté (1754) reagiert hatte. Mendelssohn imitiert in seiner Zueignungsschrift den »seltsamen, beynahe mystischen Ton« Hamanns (JubA 5.1, 559) für ein Ratespiel zur Erheiterung Lessings und ausgewählter Freunde und treibt so in den privaten Gefilden seines engsten Freundeskreises ein ironisches Spiel mit einer ganzen 212 Moshe Pelli: Haskalah and Beyond. The Reception of the Hebrew Enlightenment and the Emergence of Haskalah Judaism. Lanham, MD u. a. 2010. S. 135–160. 213 Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 21965. S. 36–38; Rüdiger Zymner: Schwulst. In: HWdRh 8 (2007). Sp. 706–718; Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966. 214 Christoph Hoch: Cento. In: HWdRh 2 (1994). Sp. 148–157; Theodor Verweyen und Gunther Witting: Der Cento. Eine Form der Intertextualität von der Zitatmontage zur Parodie. In: Euphorion 87:1 (1993). S. 1–27. 215 Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil [1966]. In: ders.: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013. S. 17–34, hier: S. 20. Vgl. Max L. Baeumer: Hamanns Verwendungstechnik von Centonen und Conzetti aus der antiken, jüdischen und christlichen Literatur. In: Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt am Main 1979. S. 117–134. 216 [Johann Georg Hamann]: Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile. Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween. Amsterdam [Königsberg/Halle] 1759. S. 5–9.
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Reihe kritisch-ironischer Widmungsepisteln.217 Die intertextuellen Verästelungen der Zueignungsschrift führen mithin tief in die Gemengelage des literarischen Lebens um 1760 hinein und reflektieren Mendelssohns facettenreiche Position als jüdischer Aufklärer, der zwischen sprachlich, kulturell und intellektuell differierenden Sphären und Teilöffentlichkeiten vermittelt. Mit ihrer außergewöhnlichen Anspielungsdichte ist Mendelssohns Zueignungsschrift fest in ihrer Entstehungszeit situiert und an einen ausgewählten Freundeskreis gerichtet. Als dieser Text im Jahr 1793 veröffentlicht wird, gerät er in einen anderen Kontext und erreicht – dreißig Jahre später – einen breiten Leserkreis, der unter völlig anderen Voraussetzungen auf ihn reagiert. In einem Brief vom 15. Dezember 1793 an ihren Jugendfreund David Veit berichtet Rahel Levin von ihren zwiespältigen Lektüreeindrücken eines soeben erschienenen Buches über Gotthold Ephraim Lessings Leben, das dessen Bruder Karl Gotthelf Lessing herausgegeben hat.218 Levin hat darin den kleinen Text abgedruckt gefunden, mit dem Mendelssohn 1761 seine Philosophischen Schriften Lessing gewidmet hatte. Sie befindet: »Mendelssohn’s Zueignungsschrift ist sehr schön: mais elle se ressent un peu, wie vieles von ihm, nach morgenländischen Moralgeschichtchens und klingt daher pretiös.«219 Mit dem reflexiven französischen Verb se ressentir, das hier neben seiner eigentlichen Bedeutung ›nachhaltig fühlbar sein‹ eine widerwillige Empfindung von Ressentiment anklingen lässt, und dem französischen Lehnwort »pretiös«, das nicht zuletzt dank Molières satirischem Drama Les Précieuses ridicules (1659) als Reizwort für Affektiertheit und Geziertheit fungiert, distanziert sich Levin von dem Stil der mendelssohnschen Zueignungsschrift. Mit der Reminiszenz eines »morgenländischen Moralgeschichtchens« konkretisiert Levin ihr Befremden unter Verweis auf eine Erfolgsgattung des 18. Jahrhunderts: der morgenländisch eingekleideten Fabel.220 In diesem Urteil drückt sich, wenige Jahre nach Mendelssohns Tod, ein ambivalentes Verhältnis zu dessen Person und Erbe aus. An Rahel Levins stilgeschichtlicher Einschätzung lässt sich der tiefgreifende Wandel deutscher jüdischer Wissens- und Sprachkultur ablesen, der sich in den drei Jahrzehnten zwischen Mendelssohns Zueignung an Lessing und Levins Lektüre derselben vollzogen hat. Verstärkt durch den Veröffentlichungseffekt eines 217 Vgl. zum Hintergrund Reinhard Wittmann: Der Gönner als Leser. Buchwidmungen als Quellen der Lesergeschichte. In: Parallelwelten des Buches. Beiträge zu Buchpolitik, Verlagsgeschichte, Bibliophilie und Buchkunst. Hg. von Monika Estermann u. a. Wiesbaden 2008. S. 1–28. 218 David Veit hatte ihr das Buch in einem Brief vom 11. November 1793 zur Lektüre empfohlen (Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Bd. 7. München 1983. S. 52). Vgl. Barbara Hahn: »Den Lessing hat doch jeder Jude.« Rahel Levin im Gespräch mit David Veit. In: Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialoge, Kontroversen im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Dirk Niefanger u. a. Hildesheim u. a. 2015. S. 243–256. 219 Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 7 (1983). S. 80. 220 Vgl. zur ›Morgenlandphase‹ der Parabel Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zur Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn u. a. 1991. S. 214–254.
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privaten Textes schärft die rezeptionsästhetische Gegenüberstellung ihres Erwartungshorizonts in den 1790er Jahren und Mendelssohns Anspielungshorizonts um 1760 den Blick dafür, wie die diskurs- und literaturgeschichtlichen Transformationen des Orientalismus die deutsche jüdische Literaturgeschichte konditionieren. Die alttestamentlichen Zitate wecken bei Levin Assoziationen des morgenländisch Fremden; der spielerisch mahnende Ton erinnert sie an aufklärerische Moraldidaktik. Die mit satirischer Absicht aus dem hebräischen Musivstil ins Deutsche übertragene, parodistisch auf Hamanns Cento-Stil reagierende Manieriertheit der mendelssohnschen Zueignungsschrift entstammt einer Welt der Gelehrsamkeit, die der 22jährigen Berlinerin fremd ist. David Veits Antwort auf Rahel Levins Schreiben bietet weiteren Aufschluss über die diskurs- und literaturgeschichtliche Situation im ausgehenden 18. Jahrhundert. Veit, dessen Onkel Simon Veit seit 1783 mit Mendelssohns Tochter Brendel (später Dorothea Schlegel) verheiratet ist, pflichtet Levin in seiner brieflichen Antwort vom 24. Dezember 1793 bei. Mendelssohn habe in der Tat immer »orientalische Tournüre« – also im Sprachgebrauch der Zeit ein orientalisches Benehmen221 – gezeigt. Veit bezieht sich hier wohl auf Mendelssohns Festhalten an der Halacha, die den jüdischen Alltag mit Speisevorschriften, Kleidungsvorgaben und Schabbatruhe tief prägt, und vielleicht auch auf sonstiges Gebaren. Interessant ist nun, dass er Mendelssohns vermeintliche Kultivierung einer »orientalische[n] Tournüre« als eine gezielte Strategie deutet. Veit fordert Levin auf, nicht zu vergessen, dass Mendelssohn »diese Tournüre aus guten Gründen beibehalten, vielleicht affektirt« habe, und erklärt seiner Jugendfreundin das Benehmen Mendelssohns funktionalistisch mit der repräsentativen Rolle, die dieser im Aufklärungs- und Emanzipationsdiskurs eingenommen habe: »Er wollte zeigen, daß ein Jude mit dem Geist seiner Väter, und ganz nach dem Muster des Orients gebildet, die höchste Freiheit erreichen kann; er wollte durch sein Beispiel zeigen, was der Jude als Christ und Jude leistet«.222 Um in seiner Person Selbstbildung ohne Selbstaufgabe zu verkörpern, so Veits Deutung, habe Mendelssohn ein als ›orientalisch‹ geltendes Benehmen an den Tag gelegt und auf diese Weise den Glauben an die Perfektibilität jedes Menschen – gleich welcher Herkunft – zu bestätigen gesucht. Diese Argumentationsfigur kehrt in der frühen Mendelssohn-Rezeption immer wieder.223 Als strahlendes Paradebeispiel des Aufstiegs stellt neben Karl Philipp Moritz auch David Friedländer seinen Lehrer Mendelssohn 1791 in einer Gedenkrede dar, die in der Deutschen Monatsschrift publiziert wird: Pierer’s Universal-Lexikon. Bd. 17. Altenburg 1863. S. 732. Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 7 (1983). S. 88. 223 Vgl. z. B. Karl Philipp Moritz: Ueber Moses Mendelssohn. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. von Anneliese Klingenberg u. a. Bd. 11: Denkwürdigkeiten [1786]. Berlin/Boston, MA 2013. S. 20–24, S. 37–40, S. 65–68 und S. 83–86, hier: S. 21. 221
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Einen Jüngling, mißgestaltet von Körper, von armen Eltern, in einer unbedeutenden Stadt geboren, von früher Jugend der Armuth und der Dürftigkeit entgegenkämpfend; gewöhnt an die mißtönende Sprache seiner Mitbrüder, an beleidigende Formen armseliger Wohnungen und Geräthschaften, diesen Jüngling führt die allgütige Vorsehung nach Berlin. […] Von seinem Genie geleitet, erhebt er sich über sein Volk und seine Zeit. Er dringt tief in die Lehre von den Empfindungen, spekulirt über Schönheit, Vollkommenheit und Harmonie, wird ein tiefer Beobachter und gründlicher Denker. Er, ein Fremdling in der Sprache, bekleidet die abstraktesten Begriffe mit dem schönsten und deutlichsten Ausdruck. Er, an keinen Wohllaut gewöhnt, trägt Lehren der Weisheit und der Sittlichkeit […] vor, die eines dauernden Eindrucks nie verfehlen können. Immer wird es eine schwer zu erklärende psychologische Erscheinung bleiben, wie sich bey der Erziehung, in dem Umgang, bey diesen Verhältnissen, Mendelssohns Seele sich so griechisch schön bilden, und so schnell einen solchen eminenten Punkt erreichen konnte. (JubA 23, 300 f.)
Steiler als Mendelssohns Entwicklungsweg aus dem armen jüdischen Provinzmilieu zu europaweiter Berühmtheit ist kein Aufstieg denkbar, rigoroser und umfassender kann eine Selbstbildung nicht vonstattengehen. Immer wieder wird von Zeitgenossen und von späteren Kommentatoren Staunen darüber geäußert, dass sich im durch eine Wirbelsäulenverkrümmung buckligen Körper dieses zum Stottern neigenden Juden ein so brillanter und moralisch so integrer Geist verberge.224 Gerade das Staunenswürdige seines Lebensweges, das Friedländer mit hagiographischem Pathos akzentuiert, begründet Mendelssohns symbolische Legitimierungsfunktion für den Universalanspruch der Aufklärung. Mendelssohn gilt Friedländer als ein Exempel dafür, dass »jeder Mensch, auch der unbedeutendste Judenknabe, unter einer weisen Regierung, sich zum aufgeklärtesten und kultivirtesten Bürger« aufschwingen könne (JubA 23, 303). Strukturgebend für diese Würdigungen Mendelssohns ist eine spannungsreiche Doppelreferenz auf den orientalischen Charakter jüdischer Lebenswelten einerseits und das klassische Griechenideal andererseits. Mit seinem ostentativen Staunen darüber, wie »Mendelssohns Seele sich so griechisch schön bilden« konnte, aktualisiert Friedländer ein hellenisierendes Beschreibungsmuster, mit dem man im 18. Jahrhundert den unwahrscheinlichen Aufstieg des Dessauer Juden in ein dramatisches Licht zu rücken weiß: Dank seiner ungemein erfolgreichen Schrift Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele (1767) berühmt geworden, wird Mendelssohn allerorten als neuer Sokrates gepriesen.225 Die Wirkung dieser Zuschreibung kommt allerdings erst dadurch voll zum Tragen, dass Mendelssohn zugleich als ein Jude präsentiert wird, dessen – mit Veit ge224 Leah Hochman: The Ugliness of Moses Mendelssohn. Aesthetics, Religion, and Morality in the Eighteenth Century. London/New York, NY 2014, bes. S. 145–178. 225 Daniel Krochmalnik: Moses Mendelssohn und die Sokrates-Bilder des 18. Jahrhunderts. In: Sokrates-Studien 4 (1999). S. 155–216; Daniel Krochmalnik: Sokratisches Judentum. Moses Mendelssohns Metamorphose. In: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition. Hg. von Werner Stegmaier. Frankfurt am Main 2000. S. 351–375; Miriam Leonard: Socrates and the Jews. Hellenism and Hebraism from Moses Mendelssohn to Sigmund Freud. London/Chicago, IL 2012. S. 17–64.
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1. Einleitung
sprochen – »orientalische Tournüre« seinen harten Weg der Selbstbildung in Erinnerung hält. So wird Mendelssohns Ausnahmestellung unter Zuhilfenahme klassisch-antiker und jüdisch-orientalischer Referenzmodelle thematisiert. Wenn Mendelssohn im ausgehenden 18. Jahrhundert sowohl eine ›griechisch schön gebildete Seele‹ als auch ›orientalische Tournüre‹ zugeschrieben werden, dann sind diese beiden Charakterisierungsmöglichkeiten nach Meinung der Zeitgenossen gerade in ihrem Kontrast bemerkenswert: Mendelssohns Selbstbildung zur ›griechisch‹ schönen Seele erscheint im Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft, die er mit der Beibehaltung eines ›orientalischen‹ Auftretens gegenwärtig gehalten habe, umso bemerkenswerter. In der Beurteilung der Karriere des Talmudschülers Mosche aus Dessau zum europaweit berühmten Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn als Weg von dürftigen orientalischen Ursprüngen zu klassischer Vollendung wird ein Deutungsmuster etabliert,226 das die okzidentalisch-orientalische Zwischenstellung der Juden als Gegenüberstellung von griechischem Inneren und orientalischem Äußeren inszeniert und mit einem biographischen Narrativ der inneren Selbstbildung verbindet, auf das wiederum der Entwicklungsweg der gesamten Judenschaft projiziert werden kann. Dieses Deutungsmuster findet im ausgehenden 18. Jahrhundert auch auf andere jüdische Aufklärer Anwendung. Der Hallesche Philosoph Johann August Eberhard beispielsweise erinnert am 23. September 1791 in einem Brief an den jüdischen Mathematiker Lazarus Bendavid daran, wie schön es gewesen sei, mit ihm unter Bäumen zu lustwandeln und »unter dem blauen Himmel zu philosophiren und zu mathematisiren.« Er erklärt, »wie sehr ich Sie liebe, nachdem ich unter der ernsten orientalischen Hülle den freien griechischen Geist in Ihnen entdeckt habe.«227 Erst die ›Entdeckung‹ eines ›freien griechischen Geistes‹ unter einer ›ernsten orientalischen Hülle‹ ermöglicht, wie die Konjunktion ›nachdem‹ hier unmissverständlich anzeigt, das ebenbürtige, wechselseitig bereichernde Gespräch und ist die Bedingung für Eberhards Liebe; dass dieser freie griechische Geist hinter einer orientalisch wirkenden äußeren Erscheinung versteckt ist, macht ihn wiederum umso interessanter. Innere Selbstbildung ist durch Diskrepanz zum Äußeren als Selbstbildung markierbar. Die griechisch-orientalische Ambivalenz dient mithin dazu, das Neue und Unerwartete, das jüdischen Auf226
Wie langlebig die west-östliche Schematisierung von Mendelssohns Lebenswegs ist, belegt das Sammelwerk Juden im deutschen Kulturbereich, das 1934 direkt nach seiner Fertigstellung durch die Gestapo beschlagnahmt wurde und 1959 in einer zweiten Auflage erschien. Mendelssohns legendäre Fußwanderung von Dessau nach Berlin wird darin als »eine Hedschra aus dem Orient in den Okzident« beschrieben, »die auch eine Reise über Jahrhunderte bedeutete« (Arthur Eloesser: Literatur. In: Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk. Hg. von Siegmund Kaznelson. Mit einem Geleitwort von Richard Willstätter. Dritte Ausgabe mit Ergänzungen und Richtigstellungen. Berlin 1962. S. 1–67, hier: S. 2). 227 Johann August Eberhard an Lazarus Bendavid, Brief vom 23. September 1791. LeopoldZunz-Archiv, Nachlass von Lazarus Bendavid, Arc. 4 792/A1–11.
1.8 »Griechisch schön gebildete Seele« und »orientalische Tournüre«
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klärern wie Mendelssohn und Bendavid in den Augen vieler Zeitgenossen eignet, einzuordnen. Die ›griechische‹ Seelenbildung jüdischer Philosophen bestätigt den aufklärerischen Diskurs, gerade weil ›orientalische‹ Reste im äußeren Auftreten noch an das Überwundene erinnern, in seinem Perfektibilitätsglauben. Im jüdischen Reformdiskurs wird die Mendelssohn zugeschriebene Diskursstrategie um 1800 zu einer allgemeinen Verhaltensregel erhoben. Friedländer fordert 1819 ausdrücklich von seinen Glaubensgenossen, sie sollten ihren Lebenswandel so einrichten, »daß von der einen Seite die Eigenthümlichkeit des National-Ursprungs hier und da durchschimmere, von der anderen aber alles die abendländische Cultur beurkunde,« derer sie teilhaftig geworden seien.228 Während Friedländer den hohen Anspruch dieser Forderung nach einer west-östlichen Gratwanderung durch die Metapher des ›Durchschimmerns‹ mildert, verhehlt Veit in seinem Brief an Levin keineswegs, wie schwierig, ja unmöglich ihm die Navigation zwischen Christentum und Judentum, Okzident und Orient, Traditionen und Forderungen der Gegenwart erscheint. Mendelssohn habe sich immer bemüht, so fährt er in seinem Brief an Rahel Levin vom 24. Dezember 1793 fort, »zwischen beiden Partheien durchzuschwimmen, und manchmal steht freilich auch dem geübten Schwimmer die Arbeit der Hände nicht an, und der Angstschweiß auf der Stirn.«229 Die Mendelssohn zugeschriebene Absicht, durch sein eigenes Beispiel zu zeigen, was ein Jude »als Christ und Jude« zu leisten vermöge, erfährt mithin eine höchst zwiespältige Bewertung. Veit belässt es in seinem Brief bei der Andeutung, dass in seiner Einschätzung ebenso viel »Lob« wie »Tadel« liege.230 Mendelssohns Vermittlung verschiedenster Erwartungen erscheint einerseits vorbildlich, andererseits aber unmöglich; er wird einerseits als ein Held bewundert und andererseits des Verrats, der Unentschiedenheit oder der Selbstverleugnung geziehen. Tatsächlich treibt die Herausforderung, eine jüdische Position zwischen Orient und Okzident zu beziehen, auch bei Vertreterinnen und Vertretern der auf Mendelssohn folgenden Generationen immer wieder Angstschweiß hervor: Im deutschen jüdischen Orientalismus liegt, plakativ gesagt, neben viel Glanz auch viel Elend. Die schwierige Selbstverortung zwischen Orient und Okzident lässt sich als eine Variante des grundlegenden Dilemmas des Emanzipationsdiskurses verstehen, das Hannah Arendt zufolge in der Forderung lag, »Juden, aber nicht 228 David Friedländer: Ueber die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen. Ein von der Regierung daselbst im Jahr 1816 abgefordertes Gutachten [1819]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 249–300, hier: S. 269. 229 Vielleicht ist diese Einschätzung Veits auch als Anspielung auf Mendelssohns langjährige Krankheit zu verstehen, die dieser selbst als ›Nervenschwäche‹ bezeichnete. Vgl. zuletzt Hans Joachim Schwarz und Renate Schwarz: Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten. Psychologisch-biographische Studie. Hannover 2014; für eine Zusammenfassung dies.: Zur Krankheit Moses Mendelssohns. In: Mendelssohn-Studien 18 (2013). S. 11–53. 230 Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 7 (1983). S. 88.
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1. Einleitung
wie Juden zu sein«.231 Anpassungswillige Juden seien gezwungen gewesen, so Arendt, sich als Ausnahmen vom Gros der jüdischen Bevölkerung abzusetzen, seien zugleich aber als Ausnahmen auf diese Kontrastfolie angewiesen gewesen: Ab dem frühen 19. Jahrhundert »mußte jeder einzelne beweisen, daß er, obwohl Jude, doch kein – Jude war.«232 Der deutsche jüdische Orientalismus verfährt im 18. und 19. Jahrhundert strukturanalog zu dieser paradoxen Figur: Wenn Friedländer fordert, dass Juden einerseits ihren orientalischen Ursprung ›durchschimmern‹ lassen, andererseits aber ihre okzidentalische Bildung ›beurkunden‹, dann verlangt er von ihnen den Beweis, dass sie, obwohl (dem Ursprung nach) Orientalen, doch keine Orientalen (mehr) sind, sondern sich orientalistisch auf ihren Ursprung beziehen können. Damit weist er ihnen eine Doppelrolle als Orientalen und Orientalisten zu. Es ist, so wird im Einzelnen zu zeigen sein, ebendiese ambivalente Doppelrolle als Orientalen und Orientalisten, die das Diskursverhalten deutschsprachiger Jüdinnen und Juden um 1800 steuert und ihre west-östliche Zwischenstellung definiert.
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1996. S. 142. Ebd., S. 155.
231
232
2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie Jüdische Traditionen im Konkurrenzfeld der Altertümer Die deutsche Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen der Suche nach einer eigenständigen Na tionalliteratur, die sich mit der englischen und der französischen messen können sollte.1 In verzweigten europäischen Rezeptionsprozessen und Konkurrenzkon stellationen bildete sich ein nationales Literaturmodell heraus, dessen Innova tionsanspruch durch Traditionsbrüche wie durch Traditionsstiftungen definiert war.2 In diesem Zusammenhang kam es zu einer Pluralisierung und Differenzierung der verfügbaren Referenzmodelle.3 Die Überlieferungseinheit der griechisch-römischen Antike brach um 1750 auseinander; die Römer verloren im Zuge einer historischen Binnendifferenzierung der Antike – maßgeblich bei Winckelmann – ihren Primat an die Griechen.4 Daneben wurde das nordische Altertum als Konkurrenzantike entdeckt und eingeführt.5 Zumeist hat man vor diesem Hintergrund mit Griechen, Römern und Germanen drei wichtige antike 1 Winfried Woesler: Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989. S. 716–733; Armin Paul Frank: Zum Begriff der Nationalliteratur in Herders abweichender Antwort auf Lowth. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von Daniel Weidner. Berlin 2008. S. 299–326. 2 Gonthier-Louis Fink: Vom universalen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1680–1770). In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989. S. 33–67. 3 Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung. Hg. von Annika Hildebrandt u. a. Bern 2016. 4 Conrad Wiedemann: Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckelmann. In: Deutsche Literatur in der Weltliteratur. Kulturnation statt politischer Nation? Hg. von Franz Norbert Mennemeier und Conrad Wiedemann. Tübingen 1986. S. 173–178; Norbert Miller: Winckelmann und der Griechenstreit. Überlegungen zur Historisierung der Antiken-Anschauung im 18. Jahrhundert. In: Johann Joachim Winckelmann, 1717–1768. Hg. von Thomas W. Gaethgens. Hamburg 1986. S. 239–264; Manfred Fuhrmann: Die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Nationalismus und die Deutsche Klassik. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hg. von Bernhard Fabian u. a. München 1980. S. 49–67. 5 Klaus Düwel und Harro Zimmermann: Germanenbild und Patriotismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht. Hg. von Heinrich Beck. Berlin/New York, NY 1986. S. 258–395.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
und mit Franzosen und Engländern zwei wichtige zeitgenössische Referenzpunkte für deutsche Selbstentwürfe identifiziert und sich mit deren spannungsreichem Verhältnis zueinander beschäftigt.6 Es gab in den Jahrzehnten um 1800 jedoch noch einen weiteren wichtigen Akteur auf dem Konkurrenzfeld eines pluralisierten Altertums. In der Aushandlung kultureller Vorbilder und Traditionszusammenhänge für die zu konstituierende deutsche Nationalliteratur waren neben Griechen, Römern und Germanen auch die Hebräer prominent vertreten.7 In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, welchen argumentativen Wert vor diesem Hintergrund die hebräische Poesie der Bibel für die literatur- und wissenspolitischen Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts gewann, und welche Rolle jüdische Autoren in diesen Debatten spielten. Das Verhältnis zwischen Literatur und Theologie war im 18. Jahrhundert personell wie strukturell äußerst eng, 8 und so waren Veränderungen der Bibeldeutung und Bibelübersetzung sowie der religiösen Praxis eng verbunden mit einem Wandel der Normen und Praktiken literarischen Schaffens.9 Im Umgang mit der biblischen hebräischen Poesie werden die gattungspoetischen und ästhetischen Umstellungen sichtbar, die im 18. Jahrhundert die deutsche Literaturgeschichte prägten: die Auflösung präskriptiv-systematischer in deskriptiv-geschichtsphilosophische Gattungspoetik, die Schwerpunktverlagerung von Nachahmungs- zu Originalitätsästhetik, die Vernachlässigung der Orientierung am Vorbild der Alten zugunsten einer Faszination für das Frühe als Ursprüngliches und die kulturanthropologische Differenzierung verschiedener Nationalliteraturen. Joachim Dyck hat die vielgestaltigen Umwertungsprozesse skizziert, in denen die Funktionalisierung der hebräischen Poesie zu kontextualisieren ist: Eine langsam sich anbahnende Wertschätzung der gefühlsbetonten, leidenschaftlichen, bilderreichen Sprache, die als wahrer Ausdruck einer regen Einbildungskraft und mächtiger Affekte galt, dazu die positive Einschätzung von ›primitiven‹ Literaturen, schließlich der allmähliche Verfall einer Regelpoetik mit dem gleichzeitigen Aufkommen einer bürgerlichen Öffentlichkeit: Diese Faktoren führten mit dazu, daß die Bibelpoesie in der literarästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts zu einem Demonstrations- und Streitobjekt ersten Ranges wurde.10 6 Conrad Wiedemann: Rom, Athen und die germanischen Wälder. Ein vergleichender Versuch über nationale Ursprungs-Mythen der deutschen Aufklärung. In: Searching for Common Ground. Diskurse zur deutschen Identität 1750–1871. Hg. von Nicholas Vazsonyi. Köln 2000. S. 195–207. 7 Ofri Ilany: »Is Judah indeed the Teutonic Fatherland?« The Debate over the Hebrew Legacy at the Turn of the 18th Century. In: Naharaim 8 (2014). S. 31–47. 8 Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. von Hans-Edwin Friedrich u. a. Berlin/New York, NY 2011. 9 Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977; Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Bonn 1972; Rolf P. Lessenich: Dichtungsgeschmack und althebräische Bibelpoesie im 18. Jahrhundert. Zur Geschichte der englischen Literaturkritik. Köln/Graz 1967. 10 Dyck: Athen und Jerusalem, 1977. S. 93.
2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
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Warum aber ausgerechnet die hebräische Poesie in der literaturgeschichtlichen Umbruchszeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine derartige Bedeutung als literarisches »Demonstrations- und Streitobjekt« gewann, ist bisher nicht in befriedigender Weise geklärt worden. Ebenso offen ist, warum sie diese Bedeutung zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogleich wieder verlor. Wie Anna Cullhed beobachtet, verschwanden die Psalmen in den 1790er Jahren nämlich plötzlich aus dem Kanon lyrischer Dichtung;11 die hebräische Poesie wurde an die Ränder der literaturkritischen Aufmerksamkeit und der Literaturgeschichtsschreibung gedrängt. Um diese Fragen nach dem Bedeutungsgewinn und -verlust biblischer Dichtung zu beantworten, rücke ich zwei Aspekte in den Vordergrund, die bisher in der Forschung vernachlässigt worden sind: erstens die jüdische und zweitens die orientalische Markierung der hebräischen Poesie. Die hebräische Poesie gehört einerseits zum christlichen, andererseits zum jüdischen Kanon der heiligen Schriften. Im literaturkritischen Umgang mit ihr wirkten deshalb verschiedene konfessionelle und kulturelle Deutungs- und Gebrauchsmuster nach. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, so die erste grundlegende Annahme dieses Kapitels, dass sich die argumentative Funktionalisierung der hebräischen Poesie im deutschsprachigen Literaturdiskurs nur dann umfassend erschließen lässt, wenn man den Stellenwert jüdischer Positionen und Traditionen in diesen Debatten berücksichtigt. Die Geschichte vom Gebrauch der hebräischen Poesie als »Demonstrations- und Streitobjekt« lässt sich, anders gesagt, nur als deutsche jüdische Literaturgeschichte schreiben. In den folgenden Einzelkapiteln werde ich mithin ein besonderes Augenmerk darauf legen, wie sich jüdische Autoren von Moses Mendelssohn über David Friedländer bis Leopold Zunz im Diskurs positionierten, welche Erwartungen an sie herangetragen wurden und welche Auswirkungen ihre Präsenz und ihre Interven tionen für den literaturkritischen Umgang mit der hebräischen Poesie hatten. Die Funktionalisierung der hebräischen Poesie lässt sich außerdem, so die zweite grundlegende Annahme dieses Kapitels, nur im Diskurszusammenhang des Orientalismus verstehen. Als das Verständnis der Bibel im 18. Jahrhundert durch die systematische Anwendung von Methoden und Wissensbeständen aus Geographie, Archäologie, Altertumswissenschaft und Ethnographie verändert und erweitert wurde,12 wandelte sich der Blick auf die biblischen Hebräer und ihre Überlieferung. Das Alte Testament wurde als ein in Teilen poetisches Textkonvolut des morgenländischen Altertums lesbar; sein Offenbarungsgehalt und
11 Anna Cullhed: The Language of Passion. The Order of Poetics and the Construction of a Lyric Genre 1746–1806. Frankfurt am Main 2002. S. 301–305. 12 Jonathan Sheehan: The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture. Oxford/Princeton, NJ 2005. S. 182–217; Michael C. Carhart: The Science of Culture in Enlightenment Germany. Cambridge, MA u. a. 2007. S. 161–192.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
das Inspirationsdogma verloren demgegenüber an Autorität.13 Die Bibel durchlief, kurz gesagt, im 18. Jahrhundert eine Poetisierung, Historisierung und Orientalisierung.14 Das wirkte bis weit in die Literatur des 19. Jahrhunderts nach. Goethe erklärte 1819 in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß seines West-östlichen Divans: Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird nothwendig der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken. Ein großer Theil des alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an. Erinnern wir uns nur lebhaft jener Zeit wo Herder und Eichhorn uns hierüber persönlich aufklärten, so gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen orientalischen Sonnenaufgang zu vergleichen. (GwöD, 140)
Dass Goethe seine Erläuterungen zur orientalischen Poesie 1819 mit einem Abschnitt zu den Hebräern eröffnen, die Bibel als ›älteste Sammlung‹ morgenländischer Dichtung vorstellen und auch poetisch in seiner Morgenlandfahrt produktiv machen konnte, hat – darauf weist nicht zuletzt die namentliche Nennung von Johann Gottfried Herder und Johann Gottfried Eichhorn hin – jahrzehntelange bibel-, orient- und altertumswissenschaftliche Debatten zur Voraussetzung. Diese Debattenzusammenhänge zu klären, ist das Ziel der folgenden Ausführungen.
2.1 Literaturkritik In diesem der Literaturkritik gewidmeten Kapitel erschließe ich die literaturgeschichtlichen Konstellationen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit einem Fokus auf Stilkonzepte und Stilzuschreibungen. Ich werde zunächst nachvollziehen, wie die hebräische Poesie als Trägerin einer sogenannten orientalischen Schreibart im deutsch-schweizerischen Literaturstreit (Kap. 2.1.1) und seinen Fortsetzungen bei Lessing, Nicolai, Mendelssohn und Herder (Kap. 2.1.2) als Alternative zu griechischen, römischen und nordischen Referenzmodellen positioniert und im Kontext einer breiten Begeisterung für frühe Altertumskulturen bei Herder als morgenländische Ursprungspoesie zum Paradigma natürlichen Affektausdrucks erhoben wird (Kap. 2.1.3). Leitend ist dabei die Frage, welche Rolle die biblische Poesie als orientalische in diesen Debattenzusammenhängen spielt und inwiefern an und mit der ihr zugeschriebenen sogenannten orientalischen Schreibart literaturkritische Streitfragen verhandelt werden.15 Durch diesen Fokus wird erkennbar, inwiefern die gattungspoetischen und ästhetischen Ver 13 Hans-Joachim Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments. Neukirchen-Vluyn 21969. S. 93 f. und S. 109. 14 Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. S. 166. 15 Vgl. für die französische Literaturkritik Françoise Douay-Soublin: Le style oriental en France
2.1 Literaturkritik
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änderungen dieser Jahrzehnte mit einer Historisierung und Individualisierung des Stilbegriffs einhergehen. Im Umgang mit der sogenannten orientalischen Schreibart tritt hervor, dass die Schreibart eines Autors oder einer Autorin nun aufs Engste an seine oder ihre – kulturgenealogisch begründete – Denkart gebunden wird (Kap. 2.1.4). An der Rezeption von Benjamin Veitel Ephraim, Isaschar Falkensohn Behr, Ephraim Kuh und Saul Ascher werde ich untersuchen, welche orientalistischen Zuschreibungsdynamiken sich daraus für die vier ersten jüdischen Schriftsteller ergeben, die in deutscher Sprache dichten (Kap. 2.1.5). 2.1.1 Streit um die orientalische Schreibart Die hebräische Poesie im literarischen Parteienkampf um 1750 (Gottsched – Lange – Bodmer/Breitinger) Was versteht man um 1750 unter der sogenannten hebräischen Poesie und wie wird sie bewertet? Um sich dieser Frage anzunähern, bietet sich ein Blick auf die christliche Nachahmungs- und Übersetzungspraxis der Bibel an.16 An der Poetischen Übersetzung der Psalmen, die der hallesche Pietist Samuel Gotthold Lange 1746 unter dem Titel Oden Davids veröffentlicht, lässt sich zeigen, wie es zunehmend schwierig wird, die alttestamentlichen Texte in die tradierten normpoetischen und theologischen Denksysteme einzuordnen. In seiner Vorrede erklärt Lange, dass die Psalmen als Offenbarungen höher stünden als die Oden Pindars und Horaz’, und nimmt sie gegen den Vorwurf in Schutz, sie verstießen gegen die in der Vernunft begründeten Regeln des guten Geschmacks: Niemand wird das geringste von dem finden, was man sonsten unter den Namen der morgenländischen Ausschweifungen tadelt. Ich weiß zwar nicht, was man darunter verstehet, in unsern heiligen Büchern wenigstens zeiget sich nicht die geringste Spur, und die von Menschen allein verfertigten Schriften der Morgenländer, haben vielleicht nicht mehr, oder wohl nicht so viel abentheurliches und ausschweifendes, als die Schriften einiger Italiäner, Engeländer, Spanier, Frantzosen und Deutschen, der gute Geschmack ist an kein Land gebunden; und insbesondere in der heiligen Schrift vollkommen anzutreffen, ich getraue mich diese Wahrheit gegen alle Einwürfe veste zu setzen.17
Für Lange ist es ausgeschlossen, dass die hebräischen Psalmen »fehlerhaft« sein könnten, denn sie sind Gottes Wort. Darüber hinaus aber versucht er hier, sie in den Geschmacksdebatten der Zeit zu profilieren: Als Urteilsfähigkeit des Verstandes zur richtigen Empfindung des Guten und Schönen sei der »gute Geschmack« nämlich, so kann Lange durchaus im Einklang mit seinen Zeitgenosde 1675 à 1800 (Géographie symbolique). In: Détours d’écriture 8 (1991). Themenheft Orients (se conde édition). S. 185–201. 16 Vgl. auch Björn Pecina: Singende Parallelen. Zur Psalmendeutung in der Aufklärung. In: Schelling und die Hermeneutik der Aufklärung. Hg. von Christian Danz. Tübingen 2012. S. 105–133. 17 Samuel Gotthold Lange: Oden Davids oder Poetische Uebersetzung der Psalmen. Halle 1746. Vorrede des Uebersetzers (unpaginiert).
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
sen postulieren,18 kulturunabhängig und in der Heiligen Schrift jedenfalls »vollkommen« vorzufinden. Dieser Versuch, die Psalmen als heilige und als poetische Texte zugleich zu verteidigen, kommt allerdings nicht ohne paradoxe Argumentationsführung aus, und das ist aufschlussreich für die diskursiven Bedingungen um die Jahrhundertmitte. Wenn Lange behauptet, gar nicht zu wissen, was man unter »morgenländischen Ausschweifungen« verstehe, sich zugleich aber sicher zeigt, dass sich in der Heiligen Schrift »nicht die geringste Spur« davon zeige, dann weist dieser performative Widerspruch – nicht zu wissen, was etwas ist, aber zu wissen, dass es nicht vorhanden ist – eine Ignoranz als konstitutive Bedingung seiner Verteidigung der Psalmen aus, die bis weit ins 18. Jahrhundert für den Umgang mit der alttestamentlichen Dichtung bestimmend ist. Mit einer aus der antiken Rhetorik abgeleiteten Normpoetik, die epochen- und kulturübergreifende Allgemeingültigkeit beansprucht, ist die biblische hebräische Poesie nur vereinbar, solange ihr heiliger Status eine genaue Untersuchung dieser Texte erübrigt.19 Langes Übersetzungsverfahren lassen das Dilemma, das sich daraus ergibt, deutlich hervortreten. Bei seinen Oden Davids handelt es sich um gereimte, paraphrasierende und ausschmückende Nachahmungen der Psalmen. Zwar zeigt er sich unter dem Eindruck der Schweizer Poetiker Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger bemüht, den »Affect« der Psalmensänger anzunehmen und die Psalmen als »Oden« poetisch zu übertragen, zwar betrachtet er die Reimbindung nur noch als notgedrungenes Zugeständnis an seine Leser, zwar formuliert er die Einsicht, dass »jede Sprache ihre eigene Redensarten, und jede Völckerschaft, gewisse Vorstellungsarten« habe, die »ihnen schlechterdings eigen« seien. Doch ordnen sich diese Überlegungen dem allgemeinen Gültigkeitsanspruch normpoetisch definierten Geschmacks, der Unangreifbarkeit göttlicher Offenbarung und einer zielsprachenorientierten Übersetzungspraxis unter. Unmöglich könnten die fremden Redens- und Vorstellungsarten, so Lange, »in der Uebersetzung beybehalten werden«, wenn diese nicht ›sclavisch‹ oder ›dunckel‹ sein solle. Poetisches Innovationsstreben und überkommene Wertungstraditionen stehen hier in einem zu dieser Zeit weder reflektier- noch auflösbaren Widerspruch. Langes Präsentation seiner Poetischen Übersetzung der Psalmen exponiert – schon mit ihrer Bezeichnung als Oden Davids – ein zentrales gattungspoetisches
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Johann Ulrich König etwa erklärt 1727, der gute Geschmack sei »allen Völckern gemein« ( zitiert nach: Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert. Ausgewählt und mit einer Einleitung hg. von Alexander von Borman. Tübingen 1974. S. 21). 19 Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. S. 72–82; Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition [1966]. Tübingen 31991. S. 135–173.
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Problem der Zeit.20 Als sich in der Frühaufklärung die Notwendigkeit abzeichnet, die barocken Gattungseinteilungen zu überdenken,21 erweisen sich lyrische Formen als Problem; für sie finden die Poetiker des 18. Jahrhunderts neben Drama und Epos lange nur Verlegenheitslösungen in ihrer Gattungssystematik.22 Besonders schwer fällt ihnen die Integration der archaischen Sakralpoesie der Hebräer. In der präskriptiven Gattungssystematik des 18. Jahrhunderts kommt der hebräischen Poesie deshalb eine unbequeme Randstellung zu. Das wird an der in Deutschland einflussreichen Poetik Les beaux arts réduits à un même principe (1746) von Charles Batteux deutlich, der die ›lyrische Poesie‹ und ganz besonders die als inspiriert und ursprünglich verstandene Poesie der Hebräer nur unter erheblichen Verrenkungen mit seinem Nachahmungsgrundsatz vereinbaren kann. An ihrem Ursprung sei die Poesie – so lässt Batteux im Kapitel Sur la poésie lyrique verlauten – noch gar nicht als solche zu bezeichnen: »Chercher la poésie dans sa première origine, c’est la chercher avant son existence.« Sein Übersetzer Johann Adolf Schlegel befindet 1751, dass sich Batteux hier sehr undeutlich ausgedrückt habe, und übersetzt umständlich: »Den Begriff der Poesie aus ihrem Ursprunge bestimmen wollen, heißt, mitten, in ihrem Entstehen, ehe sie noch ihre völlige Gestalt gewonnen, ihr Wesen schon bestimmen wollen.« Wird Poesie durch den Grundsatz der Nachahmung und nach dem Maß ihrer Regelhaftigkeit und Verfeinerung bestimmt, bereitet die Beurteilung ihres Ursprungs sichtlich konzeptuelle und terminologische Probleme. Batteux versucht sich schließlich unter Verweis auf den sakralen Charakter der Ursprungspoesie aus der Bredouille zu retten: Die »heiligen Gesänge« der Hebräer mögen, so gibt er – in Schlegels Übersetzung – zu, »wahre Poesien seyn, ohne daß sie Nachahmung sind«, aber das beweise nichts gegen weltliche, nicht durch das göttliche Wort inspirierte Poeten, die auf Naturnachahmung angewiesen seien.23 Auch dem Leipziger Dichter und Kunstrichter Johann Christoph Gottsched erschweren die Sakralität und Ursprünglichkeit der hebräischen Poesie ihre Integration in das Ordnungssystem seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst (erstmals 1730). Im ersten Kapitel Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt leitet Gottsched die Entstehung der Poesie anthropologisch aus den »Gemüthsneigungen des Menschen« ab. Er stellt sich vor, dass die »ersten Oden« der 20 Zur damals gängigen Bezeichnung der Psalmen als Oden vgl. Karl Viëtor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. S. 117 f. 21 Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001. S. 93–139. 22 Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968. S. 105–110. 23 Der hier zitierte Diskussionsverlauf ist nachzuvollziehen in Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegeln. Bd. 1. Leipzig 31770. S. 363–374. Vgl. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, 1968. S. 68–82 und S. 190– 205; Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6.1. Tübingen 1997. S. 262–264.
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Menschheit »rauh und grob, oder doch voller Einfalt« geklungen haben müssen. An den Psalmen, an Moses Schilfmeerlied und Deborahs Siegesgesang könne man erkennen, dass »Sätze von ungleicher Größe, ohne eine regelmäßige Abwechselung langer und kurzer Sylben; ja so gar ohne alle Reime« bei diesen »ersten Sängern« schon als Poesie galten. Der Wert dieser »Poesien der allerältesten Völker« könne demnach nicht in einer durch Metrum und Reim gebundenen Form, sondern »bloß in den erhabenen Gedanken und dem edlen Ausdrucke derselben, in prächtigen Figuren, Fabeln, Gleichnissen und schönen Redensarten gesucht werden: wie solches aus der morgenländischen Poesie zu ersehen ist.«24 Die alttestamentlichen Lieder und Gesänge also besetzen als ›erste Oden‹ den Ursprung, aus dem sich die Poesie im eigentlichen Sinne erst entwickelt hat. In Gottscheds anthropologischer Perspektivierung, die auf die theologischen Kategorien der Inspiration und Offenbarung verzichtet, stellt sich die hebräische Poesie als unzureichende Frühstufe dar. Wegen der Rauheit, der alles »in seinem ersten Ursprunge« unterworfen sei, sei in den ›ersten Oden‹ »nur der allergeringste Grad des poetischen Wohlklanges« zu finden.25 Entgegen allen vergeblichen Versuchen, in hebräischen Texten ein Versmaß ausfindig zu machen, beruhigt Gottsched vor diesem Hintergrund seine Leser mit der Vorgabe, es sei »weder wahrscheinlich noch nöthig, daß die Poesie der ältesten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt haben muß, als sie nachmals bey den Griechen und Römern erlanget.« »Selbst die ersten Poeten unserer Vorfahren«, ergänzt Gottsched mit Bezug auf die Edda, »habens nicht besser zu machen gewußt.«26 Nordische und hebräische Dichtungen hätten noch nicht die verfeinerte Vollkommenheit erreicht, zu der spätere Dichtergenerationen schließlich durch »lange Uebung« gelangten. Höchstes Maß sind für Gottsched, den gelehrten, am französischen Klassizismus orientierten Verfechter einer systematisch-normativen Poetik, die antiken Metren der griechischen und römischen Dichtung in ihrer formvollendeten Regelhaftigkeit. Als raue, regelarme, natürliche Vor- oder Frühstufe ist die hebräische Poesie bei Gottsched mithin nicht als Muster oder Norm für moderne weltliche Dichter zu rechtfertigen.27 Umso wichtiger wird die alttestamentliche Dichtung im sogenannten deutschschweizerischen Literaturstreit als Referenzpunkt und Muster für Gottscheds Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. Bd. 6.1: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil [3. Auflage von 1742]. Berlin/ New York, NY 1973. S. 120. 25 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1742. S. 456 f. 26 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1742. S. 117 f. 27 Damit sind Stellenwert und Funktion der Psalmen für Gottsched freilich nur unzureichend erfasst, da sie in durch Metrum und Reim gebundenen Nachdichtungen als exempla Eingang in seine Poetik finden. Vgl. allgemein zur Trias von doctrina/praecepta, exempla und imitatio Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen [1970]. Tübingen 2 2002. S. 59–70. 24
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Gegner.28 Gegen den Leipziger Kunstrichter gewendet, propagieren die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger eine Poetik, die nicht nur das Wahrscheinliche, sondern auch das Mögliche zum Gegenstand der Nachahmung erheben und der Einbildungskraft wie dem Wunderbaren dezidiert breiten Raum geben will. Dabei überlagern sich mehrere Konkurrenzmuster: Während Gottsched am antiken Rom und am klassizistischen Frankreich orientiert ist und sich vor allem um eine Reform des Theaters bemüht, nehmen sich Bodmer und Breitinger die alten Griechen und Hebräer sowie die englische Literatur zum Vorbild, werben für eine Neuentdeckung der mittelalterlichen Dichtung und verbinden ihre Legitimierung religiöser Poesie mit einer Gattungspräferenz für das Epos.29 Miltons Epos Paradise Lost (1667) und Klopstocks ab 1748 erscheinender Messias geben Bodmer und seinen Mitstreitern den Anstoß zur Abfassung zahlreicher Hexameter-Epen vornehmlich alttestamentlichen Stoffgehalts.30 Diese sogenannten Heldengedichte oder christlichen Epopeen nun gelten den Zeitgenossen – was, soweit ich sehe, in der germanistischen Forschung bislang ausgeklammert worden ist31 – als ›orientalisch‹, weil sie sich programmatisch eines als erhitzt, bilderreich und kühn geltenden Stils bedienen. Wie man sich diese (Selbst‑)Zuschreibung einer an die hebräische Bibel gemahnenden ›orientalischen Schreibart‹ vorzustellen hat und welche Bedeutung sie für die Poetik und Dichtungspraxis der Zeit gewinnt, soll nun in wenigen Schlaglichtern auf die Literaturkritik der Zeit beleuchtet werden. Im satirischen Gewand eines ›Junkers vom Lande‹, der poetischen Innovationen wie dem deutschen Hexameter verständnislos gegenübersteht, rezensiert der junge Christoph Martin Wieland 1753 in den Freymüthigen Nachrichten Bodmers Kurzepen Joseph und Zulika und Dina und Sichem: Wenn aber das der orientalische Geschmack ist, so gestehe ich, daß er nicht der meinige ist. Erstlich frage ich, warum schreibt ein Deutscher orientalische Gedichte? Würde man einen Deutschen nicht auslachen, wenn er in einem Mandarinen-Habit in die Kirche käme? Man 28 Jürgen Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tübingen 1986. S. 140–151. 29 Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6.1 (1997). S. 239–262. 30 Vgl. umfassend Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin/New York, NY 2010; speziell zum Hexameter in Patriarchaden bodmerscher Prägung Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin 1993. S. 19 f.; zu den Differenzen zwischen Bodmers und Klopstocks Epenkonzeption Gerhard Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung. Kronberg im Taunus 21975. S. 204–258. 31 Die Literaturdebatten werden in der Regel entweder als Streit zwischen Regelpoetik und Genieästhetik oder als Streit zwischen rationalistischer Aufklärungsphilosophie und religiöser Gefühlstheologie gelesen, ohne der argumentativen Funktion von jüdischen und/oder orientalischen Markierungen Beachtung zu schenken. Vgl. etwa Ernst Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004. S. 33–77.
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kann eben dieses auch von andern Stücken der neuen Poesie sagen. Warum bleiben wir nicht bei unsern deutschen hergebrachten Versarten? Wir sind ja keine Griechen. Warum lassen wir nicht den Engelländern ihren Geschmack am Grossen, Ungemeinen und Erhabenen? Warum wollen wir in Poesien denken, da uns doch die Natur kaum die Gabe gegeben hat, in Prose Gedanken zu stammeln. Ein jeder bleibe, was er ist, und rede wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Der Deutsche hat ein angebohrnes Talent zum Fliessenden, Niedrigen, Leichten und Kriechenden. Warum wollen wir wider unsere Natur dem Milton nachahmen, da wir Christian Weisen und Benj[amin] Neukirchen haben, die gewiß in ihrer Art eben so original sind, als Homer und Klopstock. Aber wieder auf die Orientalische Dichtart zu kommen, so kan ich nicht begreifen, wie sie den deutschen Ohren werde gefallen können. Die Bilder sind so neu, wunderbar, und rühren die Imagination so stark, daß sie ohnmöglich nach unserm Geschmack seyn können.32
Wieland inszeniert diesen Verteidiger des prosaischen »Fliessenden, Niedrigen, Leichten und Kriechenden« als Verkörperung deutscher Beschränktheit und setzt dagegen ein Innovationsbestreben, das sich über die Orientierung an fremden Vorbildern – den Morgenländern, den Engländern und den Griechen – von der Prosa zur Poesie, das heißt zum »Grossen, Ungemeinen und Erhabenen« aufschwingt. Die Behauptung des Junkers, dass diese fremden Vorbilder der deutschen Dichtung und dem deutschen Geschmack unangemessen seien, wird durch mehrere Übertreibungsfiguren der Lächerlichkeit überführt: Unpassende Vergleiche zwischen Hebräern und Chinesen (die Verwendung alttestamentlicher Stoffe gleiche einem Kirchenauftritt in »Mandarinen-Habit«) gesellen sich zu grotesker Selbstbeschränkung (»Ein jeder bleibe, was er ist«) und einer exzessiven Angst vor dem Unbekannten und Eindringlichen (»Die Bilder sind so neu, so wunderbar, und rühren die Imagination so stark«). Die Stichwörter (wunderbar, erhaben, original) und Signalnamen (Homer, Milton, Klopstock), die sich in dieser Passage zusammengedrängt finden, markieren die Position der Schweizer Bodmer und Breitinger gegen den Leipziger Gottsched. Explizit benennt Wieland 1755 noch einmal, wofür die Schweizer Position steht: für Miltons Paradise Lost, Klopstocks Messias, Bodmers Noah sowie überhaupt »die christliche Poesie, die orientalische Schreibart und den Hexameter«.33 Die literaturpolitische Frontstellung zwischen Zürich und Leipzig fußt also auf einem ganzen Set von Gegenüberstellungen mit Blick auf Metrik (Hexameter statt Alexandriner), Gattungsvorrang (Epos statt Tragödie), Thematik und Geltungsanspruch (christliche Poesie statt Staatshandlung und Panegyrik) sowie Sprachgebrauch: Dem klassizistisch-rationalen Ideal eines ›fließenden‹ Stils, der auf Deutlichkeit und logische Richtigkeit hin angelegt ist, steht das Ideal eines ›begeisterten‹, ›körnigten‹ Stils gegenüber, der durch Partizipien, Verbalkompo32 Freymüthige Nachrichten von neuen Büchern und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 10:41 (1753). S. 325 f. 33 Christoph Martin Wieland: Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen [1755]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Abt. 1. Bd. 4. Hg. von Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 71–131, hier: S. 116.
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sita sowie syntaktische Mittel eine erhabene Kürze des Ausdrucks anstrebt, kühne Bildlichkeit nicht scheut und auch ›Dunkelheit‹ in Kauf nimmt.34 Was genau leistet in diesem Zusammenhang nun der Rekurs auf die sogenannte orientalische Schreibart? Im deutsch-schweizerischen Literaturstreit wird sie vor allem auf den Bereich der figürlichen Rede bezogen. Das Charakteristische der orientalischen Schreibart, darin wissen sich die Schweizer mit Gottsched einig, ist »in prächtigen Figuren, Fabeln, Gleichnissen und schönen Redensarten« zu suchen.35 Umstritten ist jedoch die Wertung dieser besonders ausgeprägten Sprachbildlichkeit. Das hängt damit zusammen, dass der Literaturstreit auch ein Streit darüber ist, wie eine deutsche Nationalsprache auszusehen habe. Gottsched und in seiner Nachfolge der Grammatiker und Lexikograph Johann Christoph Adelung versuchen, die obersächsische Hof- und Gelehrtensprache als deutsche Standardsprache zu etablieren. Letztlich erfolgreich, stößt dieser Versuch zunächst auf erheblichen Widerstand insbesondere aus dem katholischen Süddeutschland und der Schweiz. Dieser konfliktreiche Normierungsprozess prägt die Literaturgeschichte tief und wird von ihr mitgetragen;36 deutschsprachige Literaturen werden im 18. Jahrhundert in ihrer regionalen Sprachlichkeit gegeneinander ausgespielt.37 Darüber, wie Sprache zu gebrauchen sei, wird sowohl mit Blick auf syntaktische als auch semantische Aspekte heftig gestritten. Zwar sind sich die Poetiker aus Leipzig und Zürich in ihrem Kampf gegen den barocken ›Schwulst‹ eines Lohenstein einig,38 werfen einander aber wiederholt gegenseitig ›Schwulst‹ vor. 34 Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 21965; August Langen: Klopstocks sprachgeschichtliche Bedeutung. In: Wirkendes Wort 3 (1952/53). S. 330–346. 35 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, 1742. S. 120. Vgl. zu diesem Topos auch Jan Loop: »Von dem Geschmack der morgenländischen Dichtkunst«. Orientalistik und Bibelexegese bei Huet, Michaelis und Herder. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von Daniel Weidner. Berlin 2008. S. 155–183, hier: S. 156. 36 August Langen: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler. Bd. 1. Berlin 21957. Sp. 931–1395, hier: Sp. 1018–1172; Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Aus dem Englischen [1959] übersetzt von Hans G. Schürmann. Stuttgart 1966; Manfred Kaempfert: Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit. In: HSK 2.4 (2004). S. 3042–3070, bes. S. 3049–3061. Vgl. allgemein Anne Betten: Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte. In: HSK 2.4 (2004). S. 3002–3017. 37 Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009. S. 60–105, hier: S. 64–66; Norbert Mecklenburg: Stammesbiologie oder Kulturraumforschung? Kontroverse Ansätze zur Analyse regionaler Dimensionen der deutschen Literatur. In: Vier deutsche Literaturen? Literatur seit 1945 – nur die alten Modelle? Medium Film – das Ende der Literatur? Hg. von Karl Pestalozzi u. a. Tübingen 1986. S. 3–15. 38 Schneider: Klopstock, 1965. S. 36–38; Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966.
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Biblische Ausdrücke werden im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kon trovers diskutiert. Zwar hatte sich seit der Reformation besonders in protestantischen Gebieten Luthers Bibelübersetzung auf die Sprache ausgewirkt,39 aber luthersche Prägungen biblischer Ausdrücke werden noch als solche erkannt und mithin als Übersetzungen aus einer fremden Sprache wahrgenommen. Da in der frühaufklärerischen Poetik die geschmacklichen Grenzen für poetische Metaphorik verhältnismäßig eng gezogen sind und im Ringen um eine deutsche Standardsprache Vulgarismen, Archaismen und Provinzialismen als problematisch gelten,40 geben Gottsched und andere Aufklärer dem geregelten und bereinigten Deutsch des Barockpoetikers und -dichters Martin Opitz den Vorzug gegenüber den kräftig-altertümlich wirkenden Prägungen Luthers aus dem 16. Jahrhundert.41 Die Verwendung biblisch markierter Ausdrücke ist vor diesem Hintergrund im 18. Jahrhundert als literaturpolitisches Statement im Sinne der Schweizer zu verstehen, deren Werben für sogenannte Machtwörter – besonders knappe, nachdrückliche und lebhafte Ausdrücke42 – eine Aufwertung der Metapher nach sich zieht. Während Eric A. Blackall dies anhand der Würdigung mittelalterlicher Poesie durch Bodmer und Breitinger dargestellt hat,43 weist die Omnipräsenz des Schlagworts der sogenannten orientalischen Schreibart darauf hin, dass auch die hebräische Dichtung und ihre Übersetzungstradition einen wichtigen Bezugspunkt in diesen poetologischen Debatten darstellt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein 1741 von Bodmer zusammengestelltes »kleines eilfertiges Verzeichnis« solcher morgenländisch-biblischer »Redensarten«, die im Deutschen eigentlich nicht verständlich und angemessen seien. Darunter finden sich Ausdrücke, die auch heute noch als Abweichung vom alltäglichen Sprachgebrauch erachtet würden (»Staub und Asche seyn, für, ein geringer Mensch sein« und »Er wird den Himmel verschliessen, statt, machen, daß es nicht mehr regnet«), aber auch Ausdrücke, die heute kaum noch als figürliche Rede identifiziert, geschweige denn als gewagt aufgefasst würden (»Etwas im Gedächtnis behalten, statt, etwas vor bedencklich achten«). Während frühere Übersetzer diese »Redensarten« nur aus Ehrfurcht vor der Heiligen Schrift wörtlich übernommen hätten, solle man sie Bodmer zufolge nun beibehalten, weil sie als Einkleidung und »Siegel der Gedancken« den »Character« und 39 Werner Besch: Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte. In: HSK 2.2 (2000). S. 1713–1745; Herbert Wolf: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien. Stuttgart 1980. 40 Vgl. noch Johann Friedrich Heynatz: Versuch eines Deutschen Antibarbarus oder Verzeichniß solcher Wörter, deren man sich in der reinen Deutschen Schreibart entweder überhaupt oder doch in gewissen Bedeutungen enthalten muß, nebst Bemerkung einiger, welche mit Unrecht getadelt werden. 2 Bde. Berlin 1796/97; dazu Peter Erlebach: Barbarismus. In: HWdRh 1 (1992). Sp. 1281–1285, bes. Sp. 1281. 41 Langen: Deutsche Sprachgeschichte, 1957. Sp. 1024, Sp. 1041 und Sp. 1105. 42 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2. Zürich 1740. S. 42–90. 43 Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, 1966. S. 210–239.
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die »Art« der betreffenden Nation vermittelten.44 In seiner Sicht sind die morgenländischen Redensarten in der deutschen Übertragung also wertvoll nicht (nur), weil sie heilig, sondern weil sie charakteristisch sind. Wie Gottsched verzichtet Bodmer auf eine theologisch begründete Apologie der alttestamentlichen Dichtung, definiert sie aber nicht wie dieser in anthropologischer Perspektive als frühe Vorstufe eigentlicher Poesie, sondern wertet sie unter kulturanthropologischem Blickwinkel mit der Kategorie des Charakteristischen auf. Indem er kulturspezifische Schreib- und Denkart in ein enges wechselseitiges Bezugsverhältnis setzt, kann Bodmer den charakteristischen Eigensinn der sogenannten orientalischen Schreibart gegen rationalistische, normpoetische Maßstäbe des guten Geschmacks in Stellung bringen, die kulturübergreifende Allgemeingültigkeit für sich reklamieren. Die christlichen Epopeen aus dem Umfeld der Schweizer nun beziehen, um gemäß Bodmers Forderung den »Character« der alttestamentlichen Stoffe zu übermitteln, ihre imaginative Kraft maßgeblich aus solchen ›orientalischen‹ Ausdrücken, wie Bodmer sie in seinem Verzeichnis auflistet. Die Poetik des Wunderbaren kommt in kühner Sprachbildlichkeit zum Tragen. So bringt Bodmer in seinen 1753 veröffentlichten Kurzepen, die bei Wielands Junker Anstoß erregen, gewagte Ausdrücke tatsächlich exzessiv zum Einsatz. In Dina und Sichem etwa ist von Gott als dem »Erforscher der nieren« die Rede; Jakob sieht an der Westmauer der von seinen Söhnen in einem Racheakt verwüsteten Stadt Sichem »die Erde / Yberall ihren mund in gæhnenden græbern erœffnen, / Dass sie die wartenden leichen in grosser anzahl empfiengen«.45 In Joseph und Zulika führt Bodmer seine Leser mit Zeitangaben wie »Dreimal hatte der mond die silbernen hœrner gespizet« durch das Geschehen in Ägypten.46 Klopstock wiederum lässt im Messias Meere in Gebirge zerfließen, imaginiert wortreich »Myriaden von Seraphim«, »Geister der Hölle« (HKA W IV.1, 4 f.) und lässt Jesu Antlitz durch »[g]elindere Lüfte, / Gleich dem Säuseln der Gegenwart Gottes« umfließen (HKA W IV.1, 2). Derartige Ausdrücke überschreiten die Grenzen des zeitgenössischen vernunftgeleiteten Geschmacks ebenso gezielt wie eklatant. In den damaligen Geschmacksdebatten bleibt eine solche exzessive, für die Zeitgenossen biblisch anmutende Metaphorik lange ein Problem. Moses Mendelssohn bringt 1767 noch einmal Argumente vor, um die fremden und kühnen »poetischen Bilder der hebräischen Sprache« – etwa »Engel des Todes«, »Gott, der Blitze schleudert« und »Veste des Himmels, wo der Thron Gottes ruht« – zu verteidigen. Zum einen macht er den zwischen Bodmer/Breitinger und Gottsched vermittelnden Vorschlag, dass das Wesen der Poesie ihrem Ursprung nach im Wunderbaren liege. Zum anderen verweist er darauf, dass die »poetischen Bilder« der 44 Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger. Zürich 1741. S. 497–518, bes. S. 500–505. 45 [Johann Jakob Bodmer]: Dina und Sichem in zween Gesaengen. Trosberg 1753. S. 5 f. 46 [Johann Jakob Bodmer]: Joseph und Zulika in zween Gesaengen. Zürich 1753. S. 13.
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Bibel, so gewagt sie auch seien, durch die lange Geschichte ihres religiösen Gebrauchs bereits vertraut seien: Sie sind »uns vermittelst der Religion in unserer ersten Kindheit eingeprägt und beinahe zur Natur geworden« (JubA 5.2, 306 f.). Wie Mendelssohns Rechtfertigungsversuch selbst performativ bestätigt, sind die alttestamentlichen Ausdrücke der deutschen Literatursprache eben nur ›beinahe‹ zur Natur geworden; trotz ihres Stellenwerts im religiösen Leben sind sie weit davon entfernt, als selbstverständlich und ästhetisch unproblematisch zu gelten. Das gilt insbesondere für die Frage ihrer Nachahmung durch moderne Dichter. So empfiehlt Friedrich Gottlieb Klopstock 1758 in seiner Abhandlung Von der Sprache der Poesie zwar »den poetischen Ausdruck des alten Testaments besonders denen, die heilige Gedichte schreiben, zu einer reichen Quelle der Nachahmung«, fügt aber hinzu, dass dies »dann am besten gelingen wird, wenn sie dem morgenländischen Ausdrucke, wo er am kühnsten ist, in einer gewissen Entfernung, zu folgen wissen.« Obwohl die alttestamentlichen Dichter, wie Klopstock erklärt, »das Übertriebne der morgenländischen Sprachen« weitgehend vermieden und obwohl christliche Leser durch Jahrhunderte des Bibelgebrauchs mit ihrer Ausdrucksweise vertraut seien, sei Vorsicht geboten.47 So dient die orientalische Schreibart als ein ebenso mächtiges wie heikles Instrument der Erprobung neuer literarischer Möglichkeiten. Da sie die Grenzen des vernunftgeleiteten Geschmacks überschreitet, lassen sich an ihr die poetischen und poetologischen Neuerungen verhandeln, die im deutsch-schweizerischen Literaturstreit zur Debatte stehen. Welche Bezeichnungsfunktion kommt der orientalischen Schreibart hier genau zu? Dass es sich um eine außerordentlich schillernde Zuschreibungskategorie handelt, zeigt sich an Langes Versuch einer Differenzierung dessen, was unter dem orientalischen Geschmack zu verstehen sei: Wenn [darunter] eine ausschweifende Einbildungskraft, übertriebene Ausdrücke, prächtige und zugleich leere Redensarten, schwülstige Gedanken, und weithergeholte nicht treffende allegorische Vorstellungen verstanden werden, wie man solche in den Titularen des Chachs und Sultans, in dem Coran und arabischen Gedichten, oder in denen die heutige orientalische Schreibart glücklich nachahmenden Schriften der arabischen Erzehlungen, die unter dem Namen, der tausend und einen Nacht u.d.g. bekant sind, verstanden werden, so findet man wol nicht die geringste Spur in der ganzen heiligen Schrift, so diesem gleich käme. Verstehet man aber die Art zu vergleichen und durch Bilder zu reden, und was man sonst hieher ziehen kann, so wird Homer und Pindar mit gleichem Recht des orientalischen Geschmacks beschuldiget werden können.48
47 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Sprache der Poesie [1758]. In: ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hg. von Winfried Menninghaus. Frankfurt am Main 1989. S. 22–34, hier: S. 32 f. 48 [Samuel Gotthold Lange]: [Von dem guten Geschmack der heiligen Schreibart]. In: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift 1:78 (1748). S. 641–656, hier: S. 650 f.
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Entscheidend ist, so zeigt sich hier, die jeweils herangezogene Vergleichsfolie. Unter dem Banner des Orientalischen kann die hebräische Poesie zum einen im Zeichen des Frühen über das Charakteristikum einer ausgeprägten Sprachbildlichkeit mit Homer und Pindar verglichen werden, sie kann aber zum anderen im Zeichen des Späten über das Charakteristikum des Ausschweifenden und Übertriebenen mit dem Koran, den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht und anderen arabischen und osmanischen Dichtungen in Verbindung gebracht werden. Diese Ambivalenz der Zuschreibungskategorie des Orientalischen, die Lange in seinen Verteidigungsversuchen der Heiligen Schrift als heiliger Schrift zu schaffen macht, bestimmt auch die Beurteilung der christlichen Epopeen. Orientalisch erscheinen die christlichen Heldengedichte, weil sie die Regeln des decorum verletzende, drastische, nach damaligem Verständnis im heißen Klima des alten Orients wurzelnde Sprachbilder verwenden und sich damit in den Augen rationalistischer, klassizistischer Kritiker mutwillig hinter die in ›langer Uebung‹ verfeinerten Anstandsregeln zivilisierter Hochkultur zurückfallen lassen. Doch nicht nur das: Es gilt als ausgemacht, dass die sogenannten Heldengedichte sogar noch orientalischer als die Bibel selbst wirken. So bemerkt Johann David Michaelis 1773, dass Klopstock »Orientalisch dichten wollte, und bisweilen über das Orientalische hinausgegangen« sei. Deutsche Leser nähmen deshalb gegenwärtig selbst an »Erzählungen im so genannten morgenländischen Geschmack, der figürlicher ist als man ihn in der Bibel oder den Arabischen Dichtern der besten Zeiten« finde, keinen Anstoß mehr.49 Orientalisch erscheinen die sogenannten Heldengedichte mithin noch in einem zweiten Sinn, für den nicht die Bibel, sondern apokryphe Überlieferungen den Referenztext abgeben. Die phantasievolle Ausgestaltung von in der Bibel lapidar berichteten Begebenheiten – von der Detailausstattung einzelner Szenen bis hin zur Einführung des umstrittenen reuigen Teufels Abbadona in Klopstocks Messias (vgl. HKA W IV.3, 281–290) – wird nicht mit der ursprünglich-kraftvollen, kühnen sprachlichen Dichte der hebräischen Bibel identifiziert. Vielmehr werden die neuen Heldengedichte als Fortsetzung einer religiösen – christlichen und jüdischen – Texttradition gesehen, in der sich Auslegung und Erfindung, theologische und poetische Deutungspraxis der Bibel überlagern.50 So diffamiert der lutherisch orthodoxe Gottsched, darauf hat Bernd Auerochs aufmerksam gemacht, 1752 die christlichen Epen aus dem Schweizer Umfeld als häretische Lügenwerke, indem er sie mit christlichen apokryphen Schriften und Aggadot aus Talmud und Mischna vergleicht. Die christlichen Epen erinnern ihn an die »Fabeln und Mährchen«, mit denen die »Rabbinen« die Schriften des Alten Testaments »auszuputzen pflegen«: 49 Johann David Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments, mit Anmerkungen für Ungelehrte. Bd. 1. Göttingen/Gotha 21773. S. lx. 50 Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, 2006. S. 164–172.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Sie suchen dadurch gleichsam die Lücken aufzufüllen, die von den heiligen Scribenten in ihren Geschichten gelassen worden; und meynen damit die Neugier der Einfältigen zu vergnügen; wenn sie ihnen ihre Hirngeburten, anstatt der Wahrheit erzählen. Was thun aber unsre geistlichen Epopeendichter anders, als, daß sie diesen an den Rabbinen verlachten, und billig verdammten Kunstgriff, wiewohl auf eine neue Art brauchen; die Bibel mit ihren Träumen ausfüllen, und die Wahrheit mit Lügen verbrämen?51
Gottsched wendet hier in einem eigenen ›Kunstgriff‹ verbreitete Vorurteile gegen den Talmud gegen die Heldengedichte bodmerscher und klopstockscher Prägung. Damit werden diese doppelt diskreditiert. Wie die unbequeme Randstellung der hebräischen Poesie in der Gattungssystematik der Aufklärungszeit sich aus ihrem religiösen Status als heiliges Wort Gottes und ihrem ästhetischen Status als ungeregelte Ursprungspoesie ergibt, so sind die christlichen Heldengedichte für Gottsched in religiöser Hinsicht als Apokrypha und in ästhetischer Hinsicht durch ihre Regelverstöße gegen rational begründbare Geschmacksstandards fragwürdig. In der (Selbst-)Zuschreibung der orientalischen Schreibart kommen, so lässt sich vorerst zusammenfassen, zwei Assoziationsbereiche zum Tragen: zum einen das rau-ungeregelte Ursprüngliche (Bibel), zum anderen das märchenhaft-lächerliche Dekadente (Talmud). Beide Assoziationsfelder werden in den Auseinandersetzungen über die christlichen Heldengedichte aktiviert. Die Anhänger der Schweizer Position verwenden die sogenannte orientalische Schreibart – zusammen mit englischen und griechischen Referenzmodellen – im Bewusstsein ihrer geschmacklich provokativen Implikationen, um der deutschen Literatur neue stilistische Möglichkeiten zu erschließen und alternative Wertungsaspekte, wie etwa das Wunderbare, das Erhabene und das Charakteristische, stark zu machen. Dabei beziehen sie sich ausdrücklich und affirmativ auf die Bibel, während sie den ›Schwulst‹ mit seiner Signatur des Späten und Dekadenten zurückweisen. Gottsched dagegen aktiviert gezielt beide Zuschreibungsmöglichkeiten, um gegen die Schweizer anzugehen. Er diskreditiert die Epen erstens vor dem Hintergrund seiner Vorbehalte gegen die formale Regellosigkeit der ursprünglichen Bibelpoesie (Unvollkommenheit des Frühen) und zweitens durch einen Vergleich mit rabbinischen wie christlichen apokryphen ›Fabeln und Märchen‹ (Unvollkommenheit des Späten). Mit der Zuschreibung des Orientalischen wird hier mithin in abwertender Bedeutung sowohl das bezeichnet, was vor, als auch das, was neben und nach der klassischen Vollendung der griechisch-römischen Alten anzusiedeln ist. 51
Johann Christoph Gottsched: Bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey? In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Wintermonat. Leipzig 1752. S. 62–74, hier: S. 68. Gottsched steht mit seiner Assoziation nicht allein. Herder lässt in seinen Literaturfragmenten 1767 in einem fiktiven Dialog den Rabbi zum Christen über Klopstocks Messias sagen: »auch einige rabbinische Züge hat er glücklich anzuwenden gewußt« (FHA 1, 295).
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2.1.2 Griechische, römische, nordische und orientalische Schreibarten Die hebräische Poesie in der Pluralisierung des Altertums (Mendelssohn – Herder) Die Leipziger und Zürcher Positionen werden flexibilisiert und differenziert, als in den 1750er und 1760er Jahren die sogenannte Berliner Partei, die aus Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Gotthold Ephraim Lessing und später auch Thomas Abbt besteht, im deutsch-schweizerischen Literaturstreit eine klärende und vermittelnde Funktion übernimmt und die festgefahrenen Diskussionen auf ein neues Niveau hebt.52 Weder propagieren sie wie Gottsched die normative Installierung einer Tradition (etwa der römischen) als Ideal, noch befürworten sie wie Bodmer und Breitinger eine Synthese aus verschiedenen (etwa hebräischen, griechischen und christlichen) Traditionen. Vielmehr fordern die Berliner, nur die jeweils angemessene Tradition aufzugreifen und diese adäquat literarisch umzusetzen. In den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765) zeichnet sich ein geschärftes Bewusstsein für die Pluralität verschiedener kultureller Denkarten und Schreibarten ab, an die moderne Dichter anschließen können. Im 17. Literaturbrief etwa wirft Lessing 1759 Gottsched vor, ein französisierendes Theater geschaffen zu haben, ohne zu prüfen, ob es »der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht« (FLA 4, 500). Als Lessing im 39. Literaturbrief Matthew Priors Langgedicht Solomon und dessen deutschsprachige Hexameter-Übersetzung harscher Kritik unterzieht, setzt er nach: »Auch hat der Dichter nicht im geringsten die orientalische Denkungsart anzunehmen gewußt: sein weiser Hebräer spricht wie ein sophistischer Grieche« (FLA 4, 547). Mendelssohn vermisst 1761 im 157. Literaturbrief in Michael Conrad Curtius’ Abhandlung von Gleichnissen und Metaphern (1750) eine angemessene Reflexion der Unterschiede zwischen »der griechischen, römischen und orientalischen Ode« und eine Demonstration, »warum die horazische Ode mehr ausgeführte Gleichnisse verträgt, als die pindarische, und diese mehr als die davidische« (JubA 5.1, 362). Ihr Augenmerk auf die Pluralität der Poesien des Altertums führt bei der Berliner Partei sichtlich zu Forderungen nach einer medien- und gattungsästhetisch reflektierten, systematischen Differenzierung verschiedener Antikentraditionen. Ohne die bestehenden Geschmacksnormen radikal aufbrechen und deren Wertungssystem stürzen zu wollen, wirkt die Berliner Partei auf Nuancierungen und Flexibilisierungen innerhalb des bestehenden Geschmackshorizonts hin. Ebendiese literaturkritische Position bestimmt auch speziell Mendelssohns distanziert-reflektierte Haltung zur sogenannten orientalischen Schreibart. Wie er 1768 in einer Rezension von Ramlers Oden festhält, können sich moderne Dichter das »orientalische Dichtungssystem« nicht ohne weiteres aneignen, da sich 52 Vgl. mit Blick auf Lessing Karl S. Guthke: Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern 1975. S. 24–71.
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der gegenwärtige Geschmack am ›attischen‹ Ganzheitsideal und nicht an ›asia tischer‹ Kühnheit orientiere: Allein in den schönen Künsten und Wissenschaften besitzen wir griechischen Geschmak; wir lieben attische Feinheit, Richtigkeit in der Anlage, Nettigkeit in den Bildern, Grazie im Ausdrucke, und es ist nicht jedermanns Sache, diese Eigenschaften mit dem Kühnen, Erhabenen und Prächtigen der asiatischen Dichtkunst so zu verbinden, daß der Contrast nicht beleidige. Ein großer Kunstrichter will Spuhren von dieser Unschicklichkeit sogar im Klopstok angetroffen haben. (JubA 5.2, 86)53
Unter Aufnahme der im deutsch-schweizerischen Literaturstreit von beiden Seiten benutzten polemischen Gegenüberstellung von Attizismus und Asianismus,54 die auf Kontroversen zur Zeit Ciceros zurückgeht und einen gemäßigten ›attischen‹ Stil gegen einen ausschweifend-überladenen ›asiatischen‹ Duktus ausspielt,55 überführt Mendelssohn die Auseinandersetzungen zwischen Zürich und Leipzig in einen neuen ästhetischen Reflexionshorizont, der sich Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750) und Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) verdankt. 1762/63 deutet Mendelssohn in seinen Bemerkungen zu Lessings Entwürfen zum Laokoon (1766) an, dass ihm die erhabene, »wilde und unbestimmte Idee« eines Klopstock und anderer neuerer Dichter suspekt sei. Indem sie »das Kühne und Unbestimte in ihren Erdichtungen von den Orientaliern« entlehnten, so Mendelssohn in einer intermedial reflektierten Überlegung, verstießen sie gegen das Ganzheitsideal, das die Griechen – anders als die Hebräer – aus der bildenden Kunst gewonnen hätten und das auch den gegenwärtigen literarischen Geschmack bestimme (JubA 2, 253–255). Diese ambivalente Haltung Mendelssohns schlägt sich auch darin nieder, wie er sich in die Debatten über die Bestimmung einer – nach allgemeiner Einschätzung überhaupt erst noch zu schaffenden – deutschen Nationalliteratur einbringt und wie er sich speziell mit der Position Herders auseinandersetzt. Wie nun zu zeigen sein wird, bedroht Herders stürmische Zuspitzung der Pluralisierungs- und Historisierungsbemühungen um das Altertum das sorgsam ausbalancierte Gleichgewicht, das Mendelssohn zwischen den verschiedenen antiken Referenzmodellen und deren ästhetischer Evaluierung zu halten bemüht ist, zumal nun noch die nordische Antike als konkurrierendes Traditionsangebot hinzutritt.
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Bei dem hier erwähnten »Kunstrichter« handelt es sich wohl um Herder. In seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1766/1767) hatte er kurz zuvor erklärt, bei Klopstock sei »wirklich etwas zu viel orientalischer Schaum« zu finden (FHA 1, 287–290). 54 Vgl. zur Instrumentalisierung der Unterscheidung Elke Haas: Rhetorik und Hochsprache. Über die Wirksamkeit der Rhetorik bei der Entstehung der deutschen Hochsprache im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1980. S. 140 f. 55 Joachim Adamietz: Asianismus. In: HWdRh 1 (1992). Sp. 1114–1120; Albrecht Dihle: Attizismus. In: HWdRh 1 (1992). Sp. 1163–1176.
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In Herders Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1766/67) kommt die Suche nach Anknüpfungspunkten für das Projekt, eine deutsche Nationalsprache und Nationalliteratur auszubilden, in einem breiten Panorama orientalischer, griechischer, römischer und nordischer Vorbilder zur Geltung. Mit seinem Rundumschlag, den er als »Beilage« zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend ankündigt, will Herder erklärtermaßen auf der »Mittelstraße« weiter fortschreiten, die Mendelssohn, Nicolai, Lessing und Abbt aus dem deutsch-schweizerischen Literaturstreit heraus gewiesen haben (FHA 1, 273).56 Sowohl den »Nationalstolz« der Leipziger als auch die »Nachahmungssucht« der Schweizer sieht Herder durch die sogenannte Berliner Partei überwunden (FHA 1, 273 f.). Im Anschluss an deren Differenzierung verschiedener antiker Traditionsstränge und Referenzmodelle stellt Herder nun die Frage, wie sich die Deutschen an der griechischen, hebräisch-orientalischen und römischen Literatur orientieren können, welche Schranken der Nachahmung von Griechen, Orientalen und Römern gesetzt seien und inwiefern eine Besinnung auf nordische Mythologie und Dichtung als genuin eigene Tradition eine Lösung sein könnte. Ausgehend von der Grundannahme, dass das Denken, die Sprache und die Literatur einer Nation aufs Engste miteinander verbunden seien, versucht Herder die »griechisch-römisch-nordisch-orientalisch-hellenistische[n] Dämpfe« (FHA 1, 373) der bisherigen Literaturdebatten zu kondensieren, unter »fremden Zierraten« (FHA 1, 385) die Eigenheit der deutschen Sprache freizulegen und die deutsche Literatur für eine reflektierte Nachahmungspraxis zu öffnen. In diesem Zusammenhang führt er auch die Überlegungen zur orientalischen Schreibart weiter. In dem Kapitel Von den deutsch-orientalischen Dichtern bezieht sich Herder auf die Aneignung biblischer Stoffe und Stilmerkmale durch die Schweizer und Klopstock: »Ein Teil unsrer besten Gedichte ist halb morgenländisch« (FHA 1, 277). Bei aller Anerkennung dieser Werke warnt Herder aber eindringlich vor der »Nachahmungssucht« der Schweizer, die »was nur orientalisch, griechisch und brittisch hieße, durch rauhe Kopien auf halbdeutschen Boden verpflanzen« wollten und dadurch ›närrische‹ orientalisch-okzidentalische ›Gemische‹ hervorbrächten (FHA 1, 273 f.). Nur für Vergleiche solle man orientalische Figuren entlehnen, jedoch »nicht in dieser fremden Bildersprache durchgängig reden« oder sie »mit der unsern ungeschickt vermischen« (FHA 1, 279). Um diese Unvereinbarkeit der »fremden Bildersprache« des Morgenlands mit der deutschen Literatur zu belegen, handelt Herder mehrere Bereiche ab, in denen alte morgenländische und gegenwärtige deutsche Kultur sich kategorial unterschieden. Den modernen deutschen Dichtern mangele die sinnliche Gegenwart der orientalischen Naturumgebung; die israelitische »Vaterlandsgeschichte« sei 56 Die Bezeichnung »Mittelstraße« hatte in den 1750er Jahren bereits verschiedentlich Anwendung auf Lessing und später auf die sogenannte Berliner Partei gefunden (Guthke: Literarisches Leben, 1975. S. 26 f.).
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ihnen notwendig ebenso fremd wie die »Nationalvorurtheile«, die »Mythologie« und der »Geist der Religion« der alten Hebräer.57 Man tue der deutschen prosaisch-philosophischen Sprache Gewalt an, wenn man mit ihr die orientalische Poesie nachzuahmen suche. Der poetische Sinn der Hebräer schließlich sei schnell, heftig und brausend, derjenige der Deutschen hingegen zart, dauerhaft, langsam und überlegend (FHA 1, 290 f.). Mit diesem Katalog von Unterschieden verdichtet Herder die in den Litteraturbriefen der Berliner Partei verstreut auftauchenden Forderungen nach einer kultur- und mediensensiblen Differenzierung verschiedener poetischer Altertumstraditionen zu einer emphatischen, organischen Vorstellung einzelner Nationalliteraturen und -kulturen. Herder greift ebendie Unterscheidungen auf, die schon der ›Junker vom Lande‹ in Wielands satirischer Überzeichnung gegen Bodmers Epen ins Feld geführt hat. Bei Herder dienen sie jedoch weder dazu, auf dem überkommenen Eigenen zu beharren, noch dazu, die Nachahmungspraxis der Schweizer zu rechtfertigen. Vielmehr sollen sie die hebräische Poesie durch Anerkennung ihrer Alterität und Fremdheit als Objekt hermeneutischer Bemühungen freistellen. Mithilfe der Philologie gelte es, so Herder, die morgenländischen Gedichte überhaupt erst einmal in ihrer Eigentümlichkeit anzuerkennen und zu verstehen (FHA 1, 292). Statt hebräische wie griechische und römische Traditionsbestände als frei verfügbares Repertoire zu begreifen, aus dem sich die Dichter vermeintlich hürdenlos bedienen können, will Herder dem unbedachten Nachahmer fremder Dichtungsvorbilder »eine Wand von Dornen vorziehen« (FHA 1, 293). Übersetzung, Nachdichtung und Nachahmung erscheinen bei ihm als anspruchsvolle interkulturelle Projekte, die hermeneutische Einfühlung und philologische Untersuchung zur Voraussetzung haben. Gegen präskriptive Poetiken, die überzeitliche Geltung beanspruchen, stellt Herder eine deskriptive Poetik, die kulturanthropologisch und historisierend verfährt. Sein Dringen auf eine reflektierte Nachahmungspraxis verbindet Herder – im Anschluss an britische Bemühungen um eine eigene englische, irische, schottische und gälische ancient poetry58 – mit der Forderung, dass deutsche Dichter sich auf die Kultur des eigenen ›Bodens‹ besinnen und sich mit der ihnen kaum bekannten nordischen Mythologie und Dichtung vertraut machen sollten. In diesem Sinne empfiehlt er dem deutschen Dichter: »Er durchreise als ein Prophet in Ziegenfellen, die Mythologien der alten Skalden und Barden sowohl, als seiner eignen ehrlichen Landsleute. Unter Skythen und Slaven, Wenden und Böhmen, Russen, Schweden und Polen gibt es noch Spuren von diesen Fußstapfen der Vorfahren« (FHA 1, 284). Den unbedachten Nachahmer morgenländischer Dich57 Jüdische Dichter hingegen sollten sich, so Herder, die »Vaterlandsgeschichte« der Israeliten als ihr Erbe poetisch aneignen. Vgl. Kathrin Wittler: Ein hebräischer Klopstock? Naphtali Herz Wesselys Shirei Tiferet und die Bibel-Epik des 18. Jahrhunderts. In: Naharaim 12:2 (2018). S. 153–172. 58 Frank: Zum Begriff der Nationalliteratur, 2008. S. 305.
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tungsart will er »ergreifen, zurückreißen, und sagen: Siehe hier deine Natur, und Geschichte, deine Götzen und Welt, deine Denkart und Sprache: nach diesem bilde dich, um der Nachahmer deiner selbst zu werden« (FHA 1, 293). Die Forderung nach einer Abwendung der Nachahmungspraxis von der hebräischen Poesie und einer Zuwendung zur nordischen Poesie geht also mit der Forderung nach einer neuartigen Zuwendung zu beiden einher: Die nordische »Denkart und Sprache« gilt es überhaupt erst als eigene zu entdecken und sich so mit ihr vertraut zu machen, dass sie nachgeahmt werden kann; die hebräische »Denkart und Sprache« gilt es als andere (das heißt: nicht eigene) anzuerkennen, in ihrer Fremdheit zu würdigen und als solche neu zu erschließen. Sowohl das morgenländische Andere als auch das nordische Eigene wird in Herders menschheitsund kulturgeschichtlich formatiertem hermeneutischem Programm neu ausgerichtet. Neben dem hebräisch-orientalischen und dem griechisch-römischen Altertum kommt so bei Herder eine dritte Antike mit erheblicher Prominenz ins Spiel, die gerade erst mit Macphersons Ossian-Gesängen einen großen Referenztext erhalten hat und bis dahin allenfalls peripher durch dichtungstheoretische Schriften und literarische Projekte gegeistert ist: das unter Bezeichnungen wie ›scandinavisch‹, ›germanisch‹, ›nordisch‹ oder auch – bei Klopstock 59 – ›teutonisch‹ firmierende Altertum Nordeuropas und die diesem zugeordnete ›bardische Schreibart‹.60 Dichtungsreflexion und Dichtungspraxis zeigen sich in diesen Verhandlungsprozessen eng verzahnt: Parallel zu Herders Forderungen in den Literaturfragmenten ist, wie Mendelssohn 1768 notiert, die Mythologie der »alten nordischen Völker« von Heinrich Wilhelm Gerstenberg in dessen Lied eines Skalden (1766) und von Klopstock »in einer noch ungedrukten Ode und in dem ungedrukten Trauerspiel Hermanns Schlacht« aufgenommen worden (JubA 5.2, 86). Gerade erst literaturkritisch beschworen, nur gerüchteweise als noch ›ungedruktes‹ Manuskript im Gespräch, kaum die Druckerpressen verlassen, erlangt 59 In Klopstocks Werk und dessen Rezeption werden die drei poetischen Altertumstraditionen intensiv thematisiert und in Allianzen und Konkurrenzverhältnissen geordnet. Zunächst gilt Klopstock mit seiner christlichen ›heiligen Dichtung‹ und seinen freirhythmischen Hymnen als der ›deutsch-orientalische Dichter‹ par excellence, wirkt aber auch als anspruchsvoller Erneuerer altgriechischer Versmaße für die deutsche Literatur und nimmt zahlreiche Anleihen bei der griechischen und römischen Dichtung und Mythologie. Ab Mitte der 1760er Jahre zeichnet sich eine vielbeachtete Wende zur nordischen bzw. germanischen Dichtung und Mythologie in Klopstocks Schaffen ab (Michael Niedermeier: »… weil wir dem Blocksberg zu nahe wohnen«. Klopstock, Hermann, der Harz und der Hain. In: ders. und Jost Hermand: Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der »alten Freiheit« der Germanen. 1750–1820. Frankfurt am Main 2002. S. 117–158 und S. 315–323). 60 Düwel/Zimmermann: Germanenbild und Patriotismus, 1986. S. 258–395; zur deutschen Ossian-Rezeption Erna Merker: Ossianische Dichtung. In: RLG 2 (1965). S. 869–874; Wolf Gerhard Schmidt: »Homer des Nordens« und »Mutter der Romantik«. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. 4 Bde. Berlin/New York, NY 2003/2004; vgl. ferner The Reception of Ossian in Europe. Hg. von Howard Gaskill. New York, NY 2004.
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die poetische Aneignung nordischer Mythologie und Dichtung schnell eine bemerkenswerte Präsenz.61 Dass dieser neue nordische Akteur auf dem Spielfeld der Altertümer unmittelbar als ernstzunehmender Konkurrent der bestehenden Ordnung antiker Vor bilder wahrgenommen wird, zeigen zwei Rezensionen Mendelssohns für die Allgemeine Deutsche Bibliothek.62 Mendelssohn veranschlagt wie Herder die Spannungen zwischen Alterität (eigen/anders) und Fremdheit (vertraut/fremd) als größte Herausforderung der neuen Ordnung der Altertümer.63 Die skandinavische Dichtungstradition verlange vom Dichter »größern Aufwand« (JubA 5.2, 86), da die »nördliche Mythologie« unvertraut und damit poetisch schwer zu vermitteln sei. Sie möge in geographischer Hinsicht als eigene Tradition der Nordeuropäer gelten, mit Blick auf ihre Gebrauchsgeschichte und das Wissen um sie aber sei sie die fremdeste (JubA 5.2, 306). Das »orientalische Dichtungssystem« sei demgegenüber so vertraut wie das griechische und liege den Europäern der Gegenwart überdies in seinen religiösen Voraussetzungen näher als die heidnische Mythologie (JubA 5.2, 86). Gegen Herders Aufruf zur Aneignung der skandinavischen Dichtung beharrt Mendelssohn deshalb auf der Nachahmungswürdigkeit der hebräischen Literatur: Zwar habe das von Herder in den Literaturfragmenten entworfene »Bild der orientalischen Litteratur […] viele treffende Züge. In den Folgen aber, die er daraus für die Nachahmung zieht, scheint er zu weit zu gehen« (JubA 5.2, 306). Mendelssohn ist sichtlich bemüht, einen Geltungsverlust der hebräisch-orientalischen Vorbilder abzuwenden, den die Orientierung an den Literaturdenkmälern der Skalden und Barden nach sich zu ziehen droht. Aus der Pluralisierung des Altertums ergibt sich die Möglichkeit, verschiedene Altertumskulturen als Referenzsysteme der deutschen Nationalliteratur zueinander in Konkurrenz zu setzen und das Problem der Orientierung als solches zu reflektieren. Es geht hier freilich nicht nur um eine Konkurrenz verschiedener Altertümer und der damit verbundenen nationalen Genealogien des Eigenen, sondern in Verbindung damit auch um eine Konkurrenz verschiedener Poetiken. Mit großer Skepsis nämlich betrachtet Mendelssohn nicht nur Herders Eintreten für nordische Dichtungsvorbilder, sondern generell Herders »übertriebene Empfehlung rauher Zeiten und Völker« (JubA 5.2, 307). Das Problem der nordischen Dichtung liegt in Mendelssohns Augen nicht zuletzt darin, dass sie besonders »unfreundlich, wie das Clima, und bloße rauhe Natur« sei (JubA 5.2, 86). Als solche bedroht sie aus seiner Sicht nicht nur den Stellenwert anderer antiker Tra61 Sven-Aage Jørgensen: »…vom dänischen Ende Deutschlands«. Gerstenberg zwischen Klop stock und Herder. In: Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen – Kiel – Altona. Hg. von Klaus Bohnen und Sven-Aage Jørgensen. Tübingen 1992. S. 145–160. 62 Die Rezension zu Ramlers Oden (JubA 5.2, 83–101) erscheint 1768, Mendelssohns Kritik an Herders Fragmenten Über die neuere deutsche Litteratur (JubA 5.2, 301–309) wird nicht veröffentlicht (vgl. zu den Gründen JubA 5.2, lii–lvii). 63 Vgl. zu dieser Unterscheidung Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 39–59.
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ditionslinien (Altertumskonkurrenz), sondern auch die Regeln des guten Geschmacks im Sinne der Nachahmungs- und der Wirkungsästhetik (Poetik-Konkurrenz). Es schade der Dichtkunst, so Mendelssohn, wenn sie die »feinere Politur« zu verdrängen trachte und ausblende, dass die »höheren Schönheiten« der Poesie die »feinste Cultur der Sitten, der Begriffe und des Ausdrucks« erforderten. Allein als Gegenstände der Nachahmung können die ›wilden‹ und ›rauen‹ Sitten ungebildeter früher Völker Mendelssohn zufolge deshalb für die gegenwärtige Poesie fruchtbar gemacht werden, der Ausdruck aber müsse sich den gegenwärtigen Bedürfnissen anpassen: »Unsere Poesie soll nunmehr ein gesittetes Volk rühren, die Empfindungen gesitteter Menschen durch angenehme Täuschung beleben und in anständiger Übung halten« (JubA 5.2, 307 f.). Gegen Herders »Irrgänge des Genies« und seinen Versuch, die Epochen ursprünglichen und rauen Dichtens als »Zeiten der ächten Poesie« zu inszenieren (JubA 5.2, 308 f.), setzt Mendelssohn die etablierten poetologischen Standards der Vervollkommnung und Verfeinerung. Das ›attische‹ Geschmacksideal der Gegenwart bestimmt nicht nur seine Skepsis gegenüber einer Aneignung der orientalischen Schreib art, sondern auch seine Skepsis gegenüber einer emphatischen Aufwertung des nordischen Erbes. Vor diesem Hintergrund muss Herders Forderung an deutsche Dichter, »in Ziegenfellen« die nordischen Poesiedenkmäler zu erkunden (FHA 1, 284), wie ein Rückfall in die Barbarei anmuten. Dennoch: Bei allen Vorbehalten gegen Herders Plädoyer fürs Frühe und Raue sowie gegen die neue Prominenz nordischer Traditionen übernimmt Mendelssohn mit bemerkenswerter Konsequenz die neue dreigliedrige Ordnung des Altertums in seine literaturkritischen Reflexionen, wenn er erklärt, dass der Dichter der Gegenwart zwischen drei möglichen Bezugsystemen wählen könne: Er kann die Fabellehre der alten Griechen und Römer annehmen; oder […] die Erdichtungen unserer Väter der alten nordischen Völker wieder hervorsuchen; oder endlich, wie einige andere glükliche Genies, sich auf das System der christlichen Religion, und der alten Hebräer einschränken. (JubA 5.2, 85)
Die subtile Diskursstrategie Mendelssohn wird hier daran sichtbar, dass er von den nordischen »Erdichtungen unserer Väter« spricht, sich also eine Sprechposition aneignet, in der die »nordischen Völker« als die eigenen Ahnen erscheinen. In seinen für ein ausschließlich jüdisches Publikum bestimmten Texten würde Mendelssohn sich mit der hebräischen Entsprechung ( )אבותינוauf die jüdische Überlieferung in hebräischer Sprache beziehen, die hier in seiner für ein deutsches christliches Publikum bestimmten Rezension ohne erste Person Plural mit einem Verweis auf »das System der christlichen Religion, und der alten Hebräer« Erwähnung findet. Vor diesem Hintergrund lässt sich Mendelssohns Übersicht der Trias von römisch-griechischen, nordischen und jüdisch-christlichen Referenzmodellen nicht nur als Ergebnis der vorhergehenden literaturkritischen
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Auseinandersetzungen (vom deutsch-schweizerischen Literaturstreit über die Berliner Litteraturbriefe bis hin zu Herders Literaturfragmenten) verstehen, sondern auch als bewusste Präsentation einer Angebotsvielfalt, die der exklusiven Engführung auf ein bestimmtes Altertum – sei es das griechisch-römische oder das nordische – vorbaut und der hebräischen Überlieferung – und sei es im Schlepptau des Christentums – einen würdigen Platz einräumt. Mit der abwägenden Berücksichtigung aller drei Altertumstraditionen reklamiert Mendelssohn eine Pluralität für die Nachahmungspraxis der deutschen Literatur, die letztlich auch Herder mit dem breiten Panorama seiner Literaturfragmente zu Bewusstsein bringt, wenn er – so die Kapiteltitel – zunächst eine Vergleichung unsrer orientalischen Dichtkunst mit ihren Originalen bietet, sodann Von der griechischen Literatur in Deutschland handelt und schließlich Eine Aussicht über die neuere römische Literatur gibt, dazwischen aber immer wieder auf die nordische Antike als neues Nachahmungsangebot zurückkommt. All diese Referenzmodelle werden im 18. Jahrhundert auf ihre Tauglichkeit abgetastet und gegeneinander abgewogen, für literarische Experimente genutzt und als literaturkritische Wertmaßstäbe eingesetzt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildet sich so eine variable und vieldeutige Konstellation rivalisierender Altertümer heraus. Sie strukturiert sämtliche Suchbewegungen nach Orientierungspunkten für eine deutsche Nationalsprache und Nationalliteratur. So zeigt sich hier, wie die Konstitution europäischer Nationen als – so Benedict Andersons Begriffsprägung64 – imagined communities über die Pluralisierung nationaler Referenzmodelle ventiliert wird.65 Einen bestimmten Aspekt der Antike normativ zu setzen bedeutet, so lässt sich allgemein formulieren, immer auch eine bestimmte Selbstpositionierung in der Gegenwart.66 Als ausschlaggebend für die Einschätzung und Wertung des alttestamentlichen Referenzmodells erweist sich in diesem Zusammenhang, dass es als ein orientalisches präsentiert wird. Zunächst wird die hebräische Poesie in den Literaturdebatten des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit englischen und griechischen Modellen als ein alternatives Traditionsangebot zum römisch orientierten französischen Klassizismus gottschedscher Prägung in Dienst genommen und erlaubt den Schweizern, die Einführung des Wunderbaren und des Erhabenen in die deutsche Dichtung unter dem Banner einer metaphernreichen, sogenannten orientalischen Schreibart zu legitimieren. In den weiteren Auseinandersetzungen über mögliche Vorbilder und Nachahmungsmuster für die deutsche Literatur wird die orientalische Denk- und Schreibart in einer differenzierten Ordnung Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. London 2006. 65 Multiple Antiquities – Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Cultures. Hg. von Gábor Klaniczay u. a. Frankfurt am Main/New York, NY 2011. 66 Ulrich Heinen: Einleitung. In: Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Bd. 1. Hg. von demselben. Wiesbaden 2011. S. 11–27, hier: S. 13. 64
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konkurrierender Altertümer positioniert. In dieser Konstellation kann die he bräische Poesie als orientalische mit verschiedenen ästhetischen, konfessionellen, kulturanthropologischen und hermeneutischen Argumenten gegen die griechischen, römischen und nordischen Poesien des Altertums ausgespielt bzw. behauptet – aber auch als Referenzmodell problematisiert werden. Recht eigentlich Kontur als orientalische gewinnt die hebräische Poesie indes erst dadurch, dass die Pluralisierung des Altertums mit dessen Historisierung und einer emphatischen Aufwertung des Ursprünglichen einhergeht. Zugespitzter noch lässt sich mit Blick auf die skizzierte literaturkritische Konfliktkonstellation zwischen Herder und Mendelssohn sagen, dass sich der Wandel der ästhetischen Parameter des Dichtens aus der Historisierung des pluralisierten Altertums ergibt: Statt sich am Alten zu orientieren, stellt Herder eine Faszination für das Frühe und Ursprüngliche aus. Im folgenden Kapitel werde ich der Frage nachgehen, welche Rolle in diesem Kontext die Auseinandersetzung mit der hebräischen Poesie spielt, indem ich nachvollziehe, wie Robert Lowth und Johann Gottfried Herder ihr einen emphatischen Zeitindex des Frühen verleihen und dadurch den ausdrucks- und genieästhetischen Konzepten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wichtige Stichworte liefern. 2.1.3 Ursprache und Urpoesie im »Allerheiligsten des Orients« Die hebräische Poesie in der Historisierung des Altertums (Lowth – Herder) Als einer der wichtigsten Initialtexte für die Neuformatierung des Altertums durch eine Aufwertung des Frühen und Originalen müssen die Vorlesungen De sacra poesi Hebraeorum gelten, die der spätere Bischof von London Robert Lowth ab 1741 in Oxford hält und 1753 veröffentlicht.67 Lowth setzt eine umfassende literaturkritische Neubewertung der alttestamentlichen Texte in Gang, indem er die Propheten und die Psalmen sowie einzelne Gesänge aus anderen Büchern des Alten Testaments im Zeichen des Ursprünglichen und des Erhabenen würdigt.68 Die Poesie zähle zu den Erstlingsfrüchten des menschlichen Geistes (»among the first-fruits of human ingenuity«) und sei von den Hebräern und anderen orienta67 Robert Lowth: De sacra poesi Hebraeorum. Praelectiones academicae. Oxford 1753. Eine englische Übersetzung, nach der im Folgenden mit der Sigle LH zitiert wird, erscheint gut dreißig Jahre später: Robert Lowth: Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews […] to which are added, the principal notes of Professor Michaelis, and notes by the translator and others. Aus dem Lateinischen [1753] übersetzt von George Gregory. 2 Bde. London 1787. Vgl. allgemein zu Bedeutung und Rezeption der Schrift Vincent Freimarck: Introduction. In: Robert Lowth: Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews […]. Bd. 1. London 1787. Nachdruck Hildesheim 1969. S. iii–xxxvi. 68 Keineswegs behauptet Lowth, anders als mitunter angenommen (vgl. z. B. Gutzen: Poesie der Bibel, 1972. S. 78), dass das gesamte Alte Testament als Poesie anzusehen sei; vielmehr beschäftigt er sich ausführlich mit der Bestimmung der poetischen und prosaischen Anteile im Alten Testament und investiert viel Mühe in den Nachweis, dass die Prophetenbücher als poetische anzusehen seien.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
lischen Völkern von frühesten Zeiten an (»from the first ages«) kultiviert worden (LH 1, 97). Der eigentliche Ursprung (»actual origin«) der Poesie, so Lowth, liege in der religiösen Begeisterung. So wird die Überlegenheitsbehauptung des Alten Testaments als sakrale, inspirierte Schrift mit einer Dignität des Ursprungs vertieft, die Religions-, Poesie- und Menschheitsursprung kurzschließt: Der Ursprung der Poesie ist laut Lowth »coeval with the commencement of religion, or more properly the creation of man« (LH 2, 192). War gerade dieser Ursprungscharakter für die klassizistisch-rationalen Poetiker ein Problem, entkräftet Lowth den überkommenen Vorbehalt mangelnder Regelhaftigkeit und Verfeinerung mit dem Prädikat des Erhabenen: »[A]s some of these writers exceed in antiquity the fabulous ages of Greece, in sublimity they are superior to the most finished productions of that polished people« (LH 1, 37).69 Die Beschreibungen der morgenländischen Poesie als kühn, wild und ausschweifend können so zu Auszeichnungsmerkmalen ihres orientalischen Ursprungscharakters werden, der dem Ausdruck von Leidenschaften (»expressing the passions«) diene: »It is unconstrained, animated, bold, and fervid« (LH 1, 330). Die hebräische Poesie drücke die heftigen Bewegungen des Herzens (»violent affections of the heart«) mit eindringlichen Sprachbildern aus und entbehre als natürlicher Gefühlsausdruck der verfeinerten Regelsysteme späterer Zeiten (LH 1, 37). In dieser Perspektive rückt die hebräische Poesie sowohl kulturell als auch historisch weit in Distanz. Von allen Fremden, so Lowth, seien die Orientalen »the farthest removed from our customs and manners; and of all the Orientals more especially […] the Hebrews, theirs being confessedly the most ancient compositions extant« (LH 1, 112). Aus dieser Behauptung maximaler kultureller Fremdheit und historischer Ferne leitet Lowth die Forderung nach umfassenden hermeneutischen Anstrengungen ab. Er betont, es reiche nicht aus, sich mit Sprache, Sitten, Verhaltensweisen und Ritualen der Hebräer vertraut zu machen: »[W]e must even investigate their inmost sentiments, the manner and connexion of their thoughts; in one word, we must see all things by their opinion: we must endeavour as much as possible to read Hebrew as the Hebrews would have read it« (LH 1, 113). Die Anerkennung der Fremdheit der Hebräer und die damit verbundene Aufforderung zur hermeneutischen Anstrengung der Einfühlung erweisen sich bei Lowth als ein wichtiger Faktor für die Anerkennung ihrer Poesie. Zwar ermöglicht und grundiert Lowths literaturkritische Schulung an Horaz die Untersuchung der poetischen Anteile der Heiligen Schrift,70 aus seinen Betrachtungen ergibt sich aber die Forderung, die alttestamentliche Poesie nicht an den Maßstäben griechischer und lateinischer Dichtungsvorbilder zu messen, da diese ihr 69 Vgl. zum ästhetisch-religiösen Konzept des Erhabenen bei Lowth Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. S. 395–464. 70 Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung. Tübingen 2012. S. 41–65.
2.1 Literaturkritik
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nicht gemäß sein könnten.71 Bahnbrechend wirkt Lowth dadurch, dass er seine Urteile an den Texten selbst und aus ihrem Kontext heraus begründet, statt sich mit dem Altersbeweis oder dem Verweis auf den Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift zu begnügen.72 Ausgehend von der Annahme einer lebensweltlichen Verankerung der alttestamentlichen Texte in ritualisierten Wechselgesängen führen ihn seine Textbeobachtungen zu einer wirkmächtigen Bestimmung des Parallelismus als eines Prinzips der semantisch-syntaktischen Variation, das den genuin poetischen Charakter der alttestamentlichen Dichtung hervorkehre (LH 1, 100).73 Damit verändert Lowth das Verständnis der hebräischen und anderer Poesien des Altertums grundlegend.74 Lowths Schrift findet in der deutschen Bibelwissenschaft und Literaturkritik breiten Widerhall. Johann Gottfried Eichhorn resümiert 1788 in einem Nachruf auf Lowth, mit den Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum werde einst die Nachwelt die Geschichte der bessern und richtigern Auslegung der hebräischen Dichter und Propheten anfangen. […] Lowth erschien, und hauchte dem Ton und der Sprache, in der von ihnen und über sie geredet wurde, einen neuen Geist ein. Er behandelte sie in seinen Vorlesungen über die Beschaffenheit der hebräischen Poesie ganz ästhetisch; suchte das Wesen und den eigenthümlichen Charakter derselben zu entwickeln […]; verglich die Nachlässe der griechischen und römischen Poesie mit der hebräischen, um das Unterscheidende und Eigen thümliche derselben ins Licht zu stellen, und gab in den Belegen, womit er seine Untersuchung begleitete, zugleich den Ton für ihre Interpretation an.75
Es ist kein Zufall, dass in Eichhorns Lobrede gleich zweimal vom ›Eigentümlichen‹ die Rede ist, denn dieser Begriff bezeichnet das zündende Moment der lowthschen Schrift. Stellen die ›Redens- und Vorstellungsarten‹, die der hebräischen Poesie ›schlechterdings eigen‹ seien, für Lange noch ein erhebliches Vermittlungsproblem dar,76 macht Lowths Schrift das ›schlechterdings Eigene‹ als – so Eichhorns Formulierung – ›das Unterscheidende und Eigenthümliche‹ inter71 Lowth erneuert damit die Einsichten von christlichen Hebraisten der Frühen Neuzeit unter neuartigen ästhetischen Voraussetzungen. Vgl. James L. Kugel: The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and its History. London/New Haven, CT 1981. S. 208; Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. S. 139. 72 Murray Roston: Prophet and Poet. The Bible and the Growth of Romanticism. London 1965. S. 58. 73 Ausführlich entwickelt er dieses poetische Prinzip, das ihm als Indikator des unwiederbringlich verlorenen metrischen Systems der hebräischen Dichtung gilt, in der 19. Vorlesung. Dass Lowth keineswegs behauptet, die hebräische Dichtung verwende das poetische Prinzip des Parallelismus anstelle metrischer Ordnungen, betont zu Recht Kugel: The Idea of Biblical Poetry, 1981. S. 73 f. Vgl. allgemein auch Klaus Seybold: Anmerkungen zum Parallelismus membrorum in der hebräischen Poesie. In: Parallelismus membrorum. Hg. von Andreas Wagner. Göttingen 2007. S. 105–114; Robert Alter: The Art of Biblical Poetry. New York, NY 1985. 74 Stephen Prickett: Words and »The Word«. Language, Poetics and Biblical Interpretation. Cambridge u. a. 1986. S. 41 und S. 105–123. 75 Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 1:4 (1787/88). S. 716–718. 76 Lange: Oden Davids, 1746. Vorrede (unpaginiert).
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
essant und attraktiv: Dank Lowth wird es möglich, das ›Wesen‹ und den ›eigenthümlichen Charakter‹ der hebräischen Poesie zu begreifen und als solche zu würdigen. Lowths Vorlesungen über die heilige hebräische Poesie werden im 18. Jahrhundert als hermeneutischer Befreiungsschlag erlebt, weil er konsequent nach dem raumzeitlich, kulturell und strukturell ›Eigentümlichen‹ der alttestamentlichen Dichtung fragt und dadurch neue Perspektiven für ihre Erforschung und für ihre poetische Aneignung eröffnet. Die begeisterte Aufnahme und breite Wirkung der lowthschen Vorlesungen, die Eichhorns Nachruf dokumentiert, verdanken sich zwei wichtigen Vermittlungsakten. Der Orientalist und Theologe Johann David Michaelis gibt 1758/61 eine Oktavausgabe der lateinischen Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum heraus, die er mit umfangreichen gelehrten, historisch kontextualisierenden Anmerkungen versieht.77 Vorrangig in dieser Ausgabe, die preisgünstiger als die Originalausgabe in Quart-Format ist, wird Lowths Schrift in Deutschland rezipiert.78 Die andere einflussreiche Vermittlungsleistung erbringt Moses Mendelssohn. Er stellt 1757 in einer ausführlichen Rezension für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste Lowths Vorlesungen dem deutschen Publikum ausführlich vor und nimmt sie zum Anlass, auf die Poetizität der he bräischen Bibel aufmerksam zu machen, die bisher gegenüber philosophischen und theologischen Aspekten vernachlässigt worden sei: Man lieset den Homer, Virgil und die übrigen Schriften der Alten; man zergliedert alle Schönheiten, die darin enthalten sind, mit der größten Sorgfalt, und giebt sich alle Mühe unsern Geschmack nach ihrem Muster zu bilden; aber selten bekümmert man sich um die Regeln der Kunst, nach welchen jene göttlichen Dichter, unter den alten Hebräern, die erhabensten Empfindungen in uns rege machen, und unmittelbar den Weg nach unserm Herzen zu treffen wissen. (JubA 4, 20)
Nachdrücklich hebt Mendelssohn mit seiner Rezension die alttestamentliche Dichtung in den Rang einer mit der griechischen und römischen gleichberechtigten Literaturtradition, die ebenso viel Aufmerksamkeit verdiene wie jene, und stellt den »ächte[n] orientalische[n] Geschmack« der hebräischen Schriften neben den »feine[n] attische[n] Geschmack« der Griechen und Römer (JubA 4, 20). Lowth paraphrasierend, wirbt Mendelssohn in seiner Rezension für die relativierende Perspektive historischer Hermeneutik, die mithilfe der Konzepte des Erhabenen und des Ursprünglichen eine programmatische Aufwertung hebräischer Dichtung legitimiert: Wir müssen unser gekünsteltes und fast unnatürliches Leben, nicht mit der einfältigen, freyen und in allen Ständen gleichen Lebensart der alten Hebräer vergleichen. […] Wenn wir nicht Michael C. Legaspi: The Death of Scripture and the Rise of Biblical Studies. Oxford 2010. S. 115–
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128.
78 Herder nutzt sie für seine Fragmente Über die neuere deutsche Literatur und spart dort nicht mit Lob für Michaelis’ orientalisch-philologischen Kenntnisreichtum (vgl. z. B. FHA 1, 196).
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unbillige Richter seyn wollen; so müssen wir sie nach ihren Gewohnheiten, nach ihren Zeiten, und nach allen den Umständen beurtheilen, in welchen sie gelebt haben. (JubA 4, 29)
Den »Denkmälern des jüdischen Alterthums« (JubA 4, 55) also können moderne Kritiker nur gerecht werden, wenn sie darauf verzichten, die Maßstäbe ihrer verfeinerten, ›gekünstelten‹ und ›fast unnatürlichen‹ Gegenwart an die ursprüngliche Expressionskraft der hebräischen Poesie anzulegen, die als männlich und edel aufzufassen sei (JubA 4, 20). So erhält mit Mendelssohns Rezension der lowthschen Schrift die hebräische Poesie auch im deutschen Literaturdiskurs einen Zeitindex des Frühen und Ursprünglichen und wird in ihrer kulturspezifischen Eigentümlichkeit greifbar gemacht. Die Anerkennung der eigentümlichen Poetizität alttestamentlicher Texte steht in enger Verbindung mit neuartigen philologischen Herangehensweisen an die hebräische Sprache, die sich von griechisch-römischen Maßstäben emanzipieren.79 In Deutschland nimmt dabei insbesondere Michaelis mit seiner Hebräischen Grammatik (1745), die in Abkehr von lateinischen Grammatiken mit den Verben beginnt und damit dem Wurzelsystem des Hebräischen Rechnung trägt, und mit seiner Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen (1757), in der er das gesprochene Arabisch vergleichend hinzuzieht und neue Lesetechniken vorschlägt, 80 eine wichtige Rolle ein. Die alten Verfahren, die Schrift aus der Schrift zu erklären, ersetzen Michaelis und andere im Anschluss an holländische Hebraisten (vor allem an Albert Schultens) durch morphologische und sprachvergleichende Zugangsweisen. Sowohl unter dem Aspekt der Sprache als auch unter dem Aspekt der Poesie also werden die ›Denkmäler des jüdischen Altertums‹ jetzt als frühe, orientalische und ursprüngliche im emphatischen Sinn verstanden und als solche in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen versucht. Als sich im Zuge einer wachsenden Begeisterung für die natürlich-rauen Gesänge früher Altertumskulturen, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der englischen und schottischen Literaturkritik ihren Höhepunkt erreicht und durch zahlreiche in Deutschland schnell rezipierte Schriften befeuert wird, das Konzept des Altertums selbst verändert, fordert man diese kulturhistorische Sensi bilität für alle Dichtungen des Altertums ein. Auch die griechische Dichtung, insbesondere Homer, wird infolge dieses Historisierungsschubs als die einer anderen, frühen Kultur wahrgenommen: Nachdrücklich erhebt der Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne die Forderung, man müsse den – nun als »Originalgenie« titulierten – Homer »als einen Dichter aus einem ganz andern Weltalter, als das unsrige ist, lesen.«81 Dadurch verändert sich auch das Verhältnis 79 Daniel Weidner: ›Menschliche, heilige Sprache‹. Das Hebräische bei Michaelis und Herder. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95:2 (2003). S. 171–206. 80 Johann David Michaelis: Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen. Göttingen 1757, bes. S. 27–39 und S. 250–255. 81 Christian Gottlob Heyne: [Rezension zu Woods Essay on the Original Genius and Writings of
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
der einzelnen Literaturtraditionen zueinander. In dem Maße, in dem die griechische Poesie als eine von mehreren distinkten Poesien des frühen Altertums aufgefasst wird, wird sie als normativer Maßstab zurückgewiesen und stattdessen historisch mit anderen frühen Dichtungen verglichen.82 Poesien der griechischen, orientalischen und nordischen Frühzeit werden nun emphatisch mit dem Nimbus von Ursprünglichkeit, Einfalt und Erhabenheit versehen und zueinander in Beziehung gesetzt. So werden die griechische, nordische und hebräische Poesie als Nationalpoe sien vergleichbarer (nicht: gleicher) früher Kulturstufen des Altertums denkbar. Thomas Percy veröffentlicht 1765 in drei Bänden Reliques of Ancient English Poetry, 83 nachdem er kurz zuvor eine wörtliche Übersetzung des Hohelieds publiziert hat, die dessen poetischen Charakter als Urkunde des frühen Altertums hervorkehren soll.84 Robert Wood vergleicht in seinem Essay on the Original Genius of Homer, der 1773 in einer deutschen Übersetzung durch einen Sohn von Michaelis erscheint, die homerischen Sitten mit denen der alttestamentlichen Patriarchen und der zeitgenössischen Beduinen.85 Hugh Blair legitimiert Mac phersons Ossian-Dichtungen in seiner Critical Dissertation on the Poems of Os sian (1763) als Übersetzungen authentischer gälischer Bardengesänge durch Vergleiche mit Homer und dem Alten Testament und sekundiert damit Macphersons Verfahren, seinen vermeintlichen Übersetzungen einen Fußnotenapparat mit Parallelstellen aus Homer und dem Hohelied beizugeben.86 Der griechische Homer, der nordische Ossian und der hebräische David seien, so glaubt man, durch einen ursprünglich-poetischen Geist verbunden: »Die Werke unkultivirHomer] [1770]. In: Robert Wood: Versuch über das Originalgenie des Homers. Aus dem Englischen [1769] übersetzt. Frankfurt am Main 1773. S. 6 –26, hier: S. 8. 82 Donald M. Foerster: Homer in English Criticism. The Historical Approach in the Eighteenth Century [1947]. Nachdruck Hamden, CT 1969. S. 58, S. 63 f. und S. 71 f.; Schmidt: Macphersons »Ossian« und seine Rezeption. Bd. 4 (2004). S. 548 f. und S. 558–572; vgl. zu den Voraussetzungen Guy G. Stroumsa: Homeros Hebraios. Homère et la Bible aux origines de la culture européenne (17e–18e siècles). In: L’Orient dans l’histoire religieuse de l’Europe. L’invention des origines. Hg. von Mohammed Ali Amir-Moezzi und John Scheid. Turnhout 2000. S. 87–101. 83 [Thomas Percy]: Reliques of Ancient English Poetry, consisting of Old Heroic Ballads, Songs, and other Pieces of our earlier Poets, (Chiefly of the Lyric kind.) Together with some few of later Date. 3 Bde. London 1765. Vgl. Nick Groom: The Making of Percy’s »Reliques«. New York, NY 1999. 84 [Thomas Percy]: The Song of Solomon, newly translated from the original Hebrew with a commentary and annotations. London 1764. S. vi. 85 Robert Wood: Versuch über das Originalgenie des Homers. Aus dem Englischen [1769] übersetzt. Frankfurt am Main 1773. S. 173–211. Eine englische Ausgabe der zunächst nur als Privatdruck kursierenden Schrift erscheint erst zwei Jahre später. Vgl. Hans Hecht: T. Percy, R. Wood und J.D. Michaelis. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Genieperiode. Stuttgart 1933. 86 Hugh Blair: From »A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, the Son of Fingal« (1763). In: Eighteenth-Century Critical Essays. Hg. von Scott Elledge. Bd. 2. Ithaca, NY 1961. S. 848–859, bes. S. 856 f. Vgl. zu Blairs Mitwirkung am Ossian Roston: Prophet and Poet, 1965. S. 143 f.; zu Wood und Blair auch Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. S. 490–514.
2.1 Literaturkritik
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ter Völker tragen zwar das Gepräge des Ungeordneten und Rohen an sich, sind aber zugleich voll von dem Enthusiasmus und dem aufbrausenden Feuer, das die Seele der Dichtkunst ausmacht.«87 In dieser Perspektive wird nun allen frühen Kulturen und ihren poetischen Erzeugnissen zugeschrieben, was bislang als Signum der sogenannten orientalischen Schreibart galt. Wie Anne Robert Jacques Turgot 1760 bei seiner Vermittlung der Ossian-Fragmente ans französische Publikum,88 so postuliert auch Hugh Blair 1763 in seiner Critical Dissertation on the Poems of Ossian: What we have been long accustomed to call the oriental vein of poetry, because some of the earliest poetical productions have come to us from the East, is probably no more oriental than occidental; it is characteristical of an age rather than a country, and belongs, in some measure, to all nations at a certain period.89
Hier tritt hervor, warum ausgerechnet die alttestamentliche Dichtung die Munition zum Startschuss einer Begeisterungswelle für das Frühe und Ursprüngliche hat liefern können: Als Modell der orientalischen Schreibart sind für sie bereits Beschreibungsmuster etabliert, die nun auch verwendet werden können, um die Metaphorizität und Repetitivität, die Irregularitäten sowie die asyndetischen und parataktischen Strukturen anderer früher Poesien zu erfassen und zu würdigen. In diesem Sinne lässt Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) verlauten: Die so genannte göttliche Sprache, die ebräische, ist von diesen Kühnheiten ganz geprägt, so daß der Orient auch die Ehre hat, sie mit seinem Namen zu bezeichnen; allein daß man doch ja nicht diesen Metapherngeist asiatisch nenne, als wenn er sonst nirgend anzutreffen wäre! In allen wilden Sprachen lebt er, nur freilich in jeder nach Maß der Bildung der Nation und nach Eigenheit ihrer Denkart. (FHA 1, 752 f.)
Diese Universalisierung der ›orientalischen‹ zu einer ›frühen‹ Schreibart bleibt als Übertragung präsent: Bei aller Pluralisierung in verschiedene Altertümer, die nun im Zeichen des Frühen in ihrer jeweiligen kulturellen Eigentümlichkeit miteinander verglichen werden, wird bewusst gehalten, dass die frühesten Dichtungen aus dem Orient überliefert sind (in Blairs Worten: »some of the earliest poetical productions have come to us from the East«) und mithin das Urmodell frühen Dichtens darstellen. Mit ihrem Doppelstatus als frühe und orientalische 87 Anton Theodor Hartmann: Über die Ideale weiblicher Schönheit bei den Morgenländern. Ein Versuch. Düsseldorf 1798. S. 30. Vgl. auch ebd., S. 207–218. 88 [Anne Robert Jacques Turgot]: Lettre adressée aux Auteurs du Journal Etranger. In: Journal Étranger 7 (September 1760). S. 3–16, hier: S. 4: »Vous reconnoîtrez, dans ces deux fragmens, cette marche irréguliere, ces passages rapides & sans transition d’une idée à l’autre, ces images accumulées, & toutes prises des grands objets de la Nature, ou des objets familiers de la vie champêtre, ces répétitions fréquentes, enfin toutes des beautés & aussi tous les défauts qui characterisent ce que nous appellons le Style Oriental.« 89 Blair: A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, 1763. S. 851.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Poesie fungiert die hebräische Dichtung mithin gleichsam als Paradigma der Pluralisierung und Historisierung des Altertums. Im gesteigerten Bewusstsein für die jeweilige Eigentümlichkeit früher Altertumskulturen wird bald sogar Lowths Pionierarbeit als unzureichend empfunden. So fährt Eichhorn 1788 in seinem bereits zitierten Nachruf auf Lowth nach seinem Lob der Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum kritisch fort: Der Geist der ältesten Welt, von dem man bey solchen Untersuchungen ganz erfüllt seyn sollte, war ihm noch in vielen Stücken ganz unbekannt, und man merkt es ihm nur in zu vielen Stellen an, daß er in England geschrieben habe, ehe noch Blair’s Abhandlungen über Ossian und die Natur Poesien, und Brown’s Untersuchungen über Poesie und Musik vorhanden waren. Noch immer hielt er sich zu nahe an Aristoteles, und sein Fachwerk und seine Philosophie über die Dichtkunst, ohne zu bedenken, daß […] sie unmöglich unverändert, uneingeschränkt und unerweitert auf die Poesie anderer Nationen angewendet werden können.90
Die Ausweitung der Faszination für das Frühe, Raue und Ursprüngliche und die Radikalisierung der damit verbundenen Historisierungsbemühungen wirkt, so wird in Eichhorns Rückblick deutlich, auf die Einschätzung der hebräischen Poesie und die Ansprüche zurück, die man an ihre Erforschung und Übersetzung stellt. In dieser Perspektive erhält die Zuschreibung des Orientalischen eine neue Tragweite, die weit über die Funktion der sogenannten orientalischen Schreibart für den deutsch-schweizerischen Literaturstreit hinausgeht. Die Eigenschaften, die man den frühen Poesien und insbesondere der hebräischen zuschreibt, werden nun für neue Dichtungstheorien in Anspruch genommen, die Einbildungskraft und Leidenschaft gegenüber Urteilskraft und Regelhaftigkeit, Genie gegen Kunstfertigkeit, Ursprünglichkeit gegenüber Verfeinerung und Ausdruck gegenüber Nachahmung den Vorzug geben: Erneuerung soll aus dem Uranfänglichen gewonnen werden, aus den griechischen Dithyramben und den alttestamentlichen Psalmen etwa.91 Gerade das, was für Gottsched und Batteux gar keine Poesie im eigentlichen Sinn sein kann, wird nun zum Paradigma des Poetischen erhoben. Mit zunehmender Radikalität werden durch diese Neuorientierung die normativen dichtungstheoretischen Grundlagen der Zeit erschüttert.92 Dieser Zusammenhang zeigt sich in Herders Notizen zu Mendelssohns Lowth-Rezension, die in einen ersten frühen Entwurf für sein späteres Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie münden: Er nimmt sich vor, die hebräischen Poesien »aus ihrem Lande etc. etc.« zu erklären und ihren »abstechenden Charakter von andern Morgenländern / von andern Nationen« herauszuarbeiten, um Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 1:4 (1787/88). S. 719. Karl S. Guthke: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989. S. 93–124, hier: S. 115. 92 So setzen beispielsweise die Autoren des Sturm und Drang gezielt Vulgarismen, Archaismen und Provinzialismen ein (Langen: Deutsche Sprachgeschichte, 1957. Sp. 1096–1107). 90 91
2.1 Literaturkritik
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damit schließlich den »Unterschied zwischen Original in ihnen und Nachahmungs Styl« aufzuweisen.93 Der neue Maßstab der Originalität erscheint in diesen Lektürespuren als ein direktes Resultat des veränderten Nachdenkens über die poetischen Anteile des Alten Testaments. Unter diesen Vorzeichen wandern die Gesänge der Hebräer von den Rändern aufklärerischer und klassizistischer Gattungssystematik ins Zentrum der gattungspoetischen Reflexionen der zweiten Jahrhunderthälfte. Wie die Faszination für frühe Altertumskulturen mit der Entstehung eines neuen Konzepts des Lyrischen zusammenhängt, werde ich nun ausgehend von Herders damals nicht veröffentlichten Gattungsbestimmungen der Ode (1764/65) zu entwickeln suchen.94 Herder erhebt die Ode als Repräsentantin des Lyrischen zum »Samenkeim«, zum »Stamm« und zur »Quelle« aller Dichtung. Sie ist, so Herder, »das erstgeborne Kind der poetischen Empfindung«. Herders Erklärung dieser emphatischen Definition erweist sich als direkte Umsetzung der skizzierten Pluralisierung und Historisierung des Altertums: Die Ode ist ihm zufolge der Ursprung der Dichtkunst, und da dieser zum Allerheiligsten des Orients, in das Dunkel der Hieroglyphen, in die orphischen und eleusinischen Geheimnisse, und zu den Priesterschwüren der Druiden in ihren heiligen Eichenwäldern, gehört: so sei dieses Odengenie zugleich ein Kenner des Altertums. Ja, dieser dichterische Philolog sei auch ein Weltweiser, um den Geist der Nationen um sich zu kennen, und in diesen Schalen von gegebnen Fällen, den Kern zu finden, der da nährt. (FHA 1, 98)
Herders Behauptung eines universalen, allgemeinmenschlichen Ursprungs aller Dichtung in der Ode löst sich sogleich in eine Vielzahl kulturell differenter Ursprünge auf. Die ägyptischen, griechischen und nordischen Ursprünge der Poesie, die Herder hier evoziert, sind als früh allgemeinmenschliche und als kulturell eigentümliche doppelt besetzt, und so ist zu ihrer Erschließung die doppelte Kompetenz eines ›dichterischen Philologen‹ nötig, der sich als ›Odengenie‹ in den allgemeinmenschlichen ursprünglichen Charakter dieser Lyrik einzufühlen bereit und zugleich als ›Kenner des Altertums‹ ihre jeweilige kulturelle Eigentümlichkeit zu erfassen in der Lage ist. Vor diesem Hintergrund verhandelt Herder die Ode im doppelten Rahmen des Sakralen und des Ursprünglichen: Im ›Orient‹ ist der Ursprung der Menschheit zu suchen, und dessen ›Allerheiligstem‹ wiederum sieht Herder die Ode entsprungen. Diese Spannung zwischen allgemeiner und kulturell differenzierter Ursprungskonzeption bestimmt auch Herders große Schrift Vom Geist der Ebräi93 Zitiert nach Hans Dietrich Irmscher: Probleme der Herder-Forschung. In: DVjs 37:2 (1963). S. 266–317, hier: S. 272. 94 Vgl. zur komplizierten Begriffs- und Gattungsgeschichte Georg Guntermann: Von der Leistung einer poetischen Form – Wandlungen der Ode im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hg. von Hans-Friedrich Wessels. Königstein im Taunus 1984. S. 183–205; Julius Wiegand und Werner Kohlschmidt: Ode. In: RLG 2 (1965). S. 709–717; Anton Knittel und Inka K. Kording: Hymne. In: HWdRh 4 (1998). Sp. 98–106.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
schen Poesie (1782/83), deren Untertitel bereits ihr Programm zu erkennen gibt: Sie soll eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes sein. Über den Geist der hebräischen Poesie erschließt sich, so suggeriert es der Titel, auch die ›älteste Geschichte des menschlichen Geistes‹. In dieser Schrift kommen Sprach- und Poesiereflexion fulminant im Horizont eines doppelten – kulturspezifischen und allgemeinmenschlichen – Ursprungsdenkens zusammen.95 Nicht Belehrung ist das Anliegen des Buches, sondern ›Anleitung für Liebhaber‹. Gesprächsformen, eingeflochtene Nachdichtungen und Anekdoten sowie eine metaphernreiche Prosa verweigern jeden Eindruck eines Lehrgebäudes; Herder will seinen Lesern im Sinne einer ›Anleitung‹ eher Gelegenheit geben, selbst Entdeckungen zu machen, als ein geschlossenes System zu präsentieren, eher Perspektiven eröffnen als eine scharfe Kritik argumentativ entfalten. In seiner Vorrede erklärt er die Übersetzung schöner Stellen zum eigentlichen Zweck seines Buches.96 Er wünsche sich »unbefangne, frische, muntre Menschen« zu Lesern: Von der Kindheit und Jugend des menschlichen Geschlechts läßt sich mit Kindern, mit Jünglingen am besten sprechen; Zeiten vor dem Mosaischen Knechtsdienst fühlen die am besten, die noch kein Joch der Regeln erdrückt hat, denen die Morgenröte der Welt Morgenröte der Seele sein soll. (FHA 5, 669)
Indem er die Ursprünglichkeit der hebräischen Poesie in ein direktes Verhältnis zur Unbefangenheit kindlicher und jugendlicher Leser setzt, führt Herder seine Leseradressierung programmatisch mit dem Gegenstand seiner Schrift eng: den Ursprüngen des »menschlichen Geschlechts«. Das berühmte erste Gespräch schließt in diesem Sinne mit der hymnischen Behauptung, dass die Poesie der Hebräer »die Morgenröte der Aufklärung der Welt gewesen und wirklich noch jetzt eine Poesie der Kindheit unsres Geschlechts ist« (FHA 5, 690 f.); das zweite Gespräch hebt mit einer poetischen Szenenbeschreibung an, die Morgenröte und Genesis unter Verwendung morgenländischer Sagen und talmudischer Anekdoten verschränkt (FHA 5, 695 f.). So ist die umfangreiche Schrift von Titel und Vorrede bis in die einzelnen Ausführungen hinein durchzogen von Variationen und Bildern des Uranfänglichen, der Jugend, des Aufgangs und des Frühen. Innerhalb dieses konzeptuellen Rahmens nun, in dem Osten, Ursprung, Kindheit und Tagesanbruch kurzgeschlossen werden, entwickelt Herder aus Reflexionen über die hebräische Sprache ein emphatisches Verständnis der hebräischen Wulf Koepke: Vom Geist der Ebräischen Poesie. Biblisch-orientalische Poesie als alternatives Vorbild. In: Herder Jb. 7 (2004). S. 89–101. 96 Jadwiga Kita-Huber: Den ›Begriff der Schönheit‹ vermitteln. Zu den Psalmen-Übertragungen in Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie. In: Odysseen des Humanen. Antike, Judentum und Christentum in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Katarzyna Jaśtal u. a. Frankfurt am Main 2016. S. 345–355; Rüdiger Singer: Vom Geist der »erklärenden Übersetzung«. Zu Herders Bibel-Übertragungen 1766–1783. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von Daniel Weidner. Berlin 2008. S. 278–296. 95
2.1 Literaturkritik
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Poesie. Das Hebräische erscheint ihm als diejenige ursprüngliche Sprache, wie Daniel Weidner formuliert, »in welcher der wesentlich poetische Charakter von Sprachlichkeit überhaupt erscheint.«97 Den Bau der hebräischen Sprache bestimmt Herder mit ihrem Wurzelsystem als einen, in dem beinahe alles ›Verbum‹ sei, »d.i. alles lebt und handelt« (FHA 5, 675). Die Poetizität des Hebräischen, die nicht in der Feinheit liege, sondern in der Stärke und Lebendigkeit ihres Ausdrucks, leitet er direkt aus dieser spezifischen Sprachstruktur ab: »Die Wurzeln ihrer Verben […] sind Bild und Empfindung, und ich weiß keine Sprache, wo die einfache und leichte Verknüpfung beider so sinnlich und merkbar wäre« (FHA 5, 678 f.). Die ›kühne‹ und ›orientalische‹ Sprachbildlichkeit der hebräischen Poesie, die in den Gattungspoetiken des 18. Jahrhunderts einen schweren Stand hat, wird nun bei Herder aus ihrer sprachlichen Verfasstheit erklärt und in ihrer morgenländischen Ursprünglichkeit als zutiefst poetisch ausgewiesen. Der »Geist der Ebräischen Poesie« erklärt sich damit aus dem »Geist der Ebräischen Sprache«: »Der Orient holt die Töne tiefer aus der Brust, aus dem Herzen hervor« (FHA 5, 680). In letzter Konsequenz vollzieht Herder damit den Schritt zur Interpretation der alttestamentlichen Poesie unter Absehung von normpoetischen klassischen Maßstäben.98 Aus seinem Verständnis der hebräischen Sprache als einer paradigmatisch poetischen und spezifisch orientalischen Ursprungssprache leitet er emphatische gattungspoetische Bestimmungen des Lyrischen ab. »Bild« und »Empfindung« als Aspekte der hebräischen Verbalwurzel finden ihre Entsprechung in Herders Bestimmung der zwei Hauptmodi der hebräischen Dichtung, dem Bilderspruch und dem Gesang. An Lowth anschließend,99 bestimmt Herder den »Bilderspruche mit seinem einförmigen erhabnen Parallelismus« (FHA 5, 977) als grundlegendes Prinzip der hebräischen Poesie: Alle diese Dichtungsarten sind im Grunde Eins; ihr Vaterland ist Orient […]. Dort ist die Fabel erfunden, dort sind die Sprüchwörter, Sinnsprüche, Rätsel, selbst die Wurzeln der Sprache voll Fabel; die ganze Poesie hat bei ihnen eine Art gnomologischen Fabelgewandes, das von unsrer periodischen Gedankentracht weit abweicht. (FHA 5, 970 f., vgl. 1137)
Aus dieser frühesten Stufe des Poetischen, dem Bilderspruch bzw. dem maschal ()משל, entwickelte sich Herder zufolge eine zweite Gattung der Dichtkunst: der Gesang bzw. mismor ()מזמור.100 Durch den Gesang erhalte die Poesie »neuen 97
Weidner: Das Hebräische bei Michaelis und Herder, 2003. S. 187. Dieses Verdienst spricht sich Herder selbst in Abgrenzung von Lowth zu (FHA 9.1, 152 f.). Vgl. Dyck: Athen und Jerusalem, 1977. S. 101; Thomas Willi: Die Metamorphose der Bibelwissenschaft in Herders Umgang mit dem Alten Testament. In: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher. Würzburg 1994. S. 239–252, hier: S. 242. 99 Lowth hat in seinen Vorlesungen De sacra poesi Hebraeorum den poetischen Charakter der hebräischen Dichtung als spruch- bzw. gleichnishaften bestimmt und mit dem hebräischen Wort maschal ( )משלfür ›Spruch‹ auf einen vieldeutigen Begriff gebracht (LH 1, 78). 100 Thomas Willi: Herders Beitrag zum Verstehen des Alten Testaments. Tübingen 1971. S. 31–44. 98
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Schwung, Gang und Wohllaut«; er belebe die Bilder mit Affekt und bilde je nach Art der Empfindung verschiedene Formen aus: »ein staunender Hymnus und eine feurige Ode, ein sanftes Lied der Freude, oder eine Elegie der Betrübnis« (FHA 5, 977). Die Propheten und die Psalmen werden so auf die Grundprinzi pien Bilderrede und Gesang zurückgeführt: »Beide Gattungen der Poesie waren bei den Ebräern heilig: die größesten Bilderredner waren Propheten, die erhabensten Lieder Gesänge des Tempels« (FHA 5, 979). Mit dieser Bestimmung poetischer Grundprinzipien, die zwischen typologischem und genetischem Verständnis in der Schwebe gehalten werden, unterläuft Herder die aus der antiken Rhetorik hergeleitete Gattungssystematik und relativiert überkommene Wertungsmuster durch einen historisch-hermeneutischen Zugriff. Dieses kulturanthropologisch flexibilisierte Poesie- und Gattungsverständnis erweitert die Grenzen des Geschmacks und vergibt neue poetische Lizenzen. Das zeigt sich zum Beispiel an Herders Umgang mit der Prosopopoia. Herder zufolge sind Sprache und Dichtung der Hebräer ganz auf die Figur der Belebung ausgerichtet: »Alles hat bei ihnen Stimme, Mund, Hand, Angesicht« (FHA 5, 968 f.). In der klassischen Normpoetik ist diese rhetorische Figur nicht wohlgelitten. Es gilt als gar zu kühner Verstoß gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit und des decorum, wenn sich etwa der Prophet Jeremia an sein Schwert wendet: »O du Schwert des Herrn, wann willst du doch aufhören? Fahre in deine Scheide und ruhe und sei still!« (Jeremia 47,6). Gerade kühne, affektgesättigte Apostrophen wie diejenige Jeremias nun werden in den Odendichtungen Klopstocks und in der Ossian-Begeisterung in den 1760er und 1770er Jahren außerordentlich populär und zu einem Kennzeichen der neuen Gattung des sogenannten lyrischen Gedichts.101 Als bloßer »Schmuck« verstanden, mögen solche Apostrophen anstößig sein, in ihrer Vermittlung von »Seele« und »Belebung« aber weisen sie ins Zentrum affektästhetisch verstandener Dichtung, wie die frühen Poesien sie Herder zufolge bieten: »Kurz, Oßian ist in Personifikationen Hiobs Bruder« (FHA 5, 753). Im Rahmen seines sprach- und kulturphilosophischen Ursprungsdenkens erhebt Herder so die Poesie der Hebräer, als frühe und orientalische doppelt besetzt, zum Inbegriff des Poetischen und insbesondere des Lyrischen.102 An und mit der hebräischen Poesie verhandelt er Umwertungen und Neuwertungen, die in dieser Zeit das Literatursystem umstrukturieren und die bis in die dichterische Praxis des Sturm und Drang hineinwirken.103 Ebendie Charakteristika, die 101 Douglas Lane Patey: »Aesthetics« and the Rise of Lyric in the Eighteenth Century. In: Studies in English Literature, 1500–1900 33:3 (1993). S. 587–608; Carlos Spoerhase: Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell. Am Beispiel von Klopstocks Ode Von der Fahrt auf der Zürcher-See. In: DVjs 87 (2013). S. 147–185. 102 Für einen kursorischen Überblick der herderschen Lyrikreflexion vgl. Gerhard Sauder: Herders Gedanken über die lyrische Sprache und Dichtkunst. In: Herder Jb. 6 (2002). S. 97–114. 103 Vgl. zu Anleihen bei Pindar und bei den Psalmen in Goethes Wandrers Sturmlied Jürgen
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die hebräische Dichtung für die aufklärerischen und klassizistischen Gattungspoetiker des 18. Jahrhunderts so unbequem gemacht hatten, ermöglichen nun ihre Würdigung als Ausdrucks- statt als Nachahmungskunst.104 Das Verständnis der hebräischen Poesie und des Lyrischen verändern sich mithin in einem engen Wechselverhältnis. Die neuen Wertmaßstäbe gewinnen einerseits aus der Beschäftigung mit der hebräischen Poesie wichtige Anstöße und legen andererseits neue hermeneutische und übersetzerische Zugänge zu den poetischen Anteilen des Alten Testaments frei, die sie im doppelten Horizont des Frühen und Morgenländischen zu lesen erlauben. Wenn Herder in seinem Liebhaberbuch Vom Geist der Ebräischen Poesie die Historisierung und Pluralisierung des Altertums mit den poetischen und poetologischen Innovationen der vorangegangenen Jahrzehnte zusammenführt, dann bleibt der Doppelstatus der hebräischen Poesie zwischen Paradigma und Spezialfall in der Schwebe: Sie ist Urkunde und Abdruck der ursprünglichen Lebensverhältnisse der Hebräer, in denen ihr eine umfassende und ganzheitliche Bedeutung zukam,105 und als solche orientalischer und allgemeinmenschlich-ursprünglicher Gefühlsausdruck zugleich. In einer dichten Konstellation theologie-, literatur-, medien- und ästhetikgeschichtlicher Entwicklungen wandert die hebräische Poesie so von den unbequemen Randzonen frühaufklärerischer Gattungssystematik ins Zentrum einer im Zeichen von Originalitäts- und Ausdrucksästhetik entworfenen und emphatisch aufgewerteten dritten Großgattung: der Lyrik.106 Diese Entwicklungen haben, so wird sich im Folgenden zeigen, weitreichende Konsequenzen für die Bedingungen und Möglichkeiten literarischen Schreibens und ganz besonders für die Bedingungen und Möglichkeiten jüdischen literarischen Schreibens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ich werde zunächst nachzeichnen, wie die skizzierten literarästhetischen Umstellungen mithilfe einer auf wesenhafte Eigentümlichkeit und natürlichen Individualitätsausdruck setzenden Neufassung des Stilbegriffs legitimiert werden und wie sich dabei auch der Status und die argumentativen Funktionen der sogenannten orientalischen Schreibart ändern (Kap. 2.1.4). In einem zweiten Schritt werde ich dann herausBrummack: Noch einmal: zur Pindarnachahmung bei Herder und Goethe. In: Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Hg. von Moritz Baßler u. a. Tübingen 1997. S. 21–37, hier: S. 32–35. 104 Vgl. zum Paradigmenwechsel von der Nachahmung zum Affektausdruck Hans-Henrik Krummacher: Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin/Boston, MA 2013. S. 3–211; Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, 1968; Guthke: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik, 1989; Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6.1 (1997). S. 262. 105 Bernd Auerochs: Poesie als Urkunde. Zu Herders Poesiebegriff. In: Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. Hg. von Martina Keßler und Volker Leppin. Berlin 2005. S. 93–114; Bultmann: Bibelrezeption, 2012. S. 227–243; Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, 2006. S. 261–361. 106 Vgl. auch Günter Bader: Psalterspiel. Skizze einer Theologie des Psalters. Tübingen 2009. S. 319–366.
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arbeiten, welcher Erwartungshorizont sich daraus für die ersten jüdischen Poeten ergibt, die in deutscher Sprache tätig sind (Kap. 2.1.5). 2.1.4 Schreib- und Denkarten Historisierung und Individualisierung des Stilbegriffs (Breitenbauch – Gleim – Herder) Im Zuge der Pluralisierung und Historisierung des Altertums wächst das Interesse an Zusammenhängen zwischen Denken und Sprache, Denkart und Schreibart.107 Begriffsgeschichtlich dokumentiert sich dieses Interesse darin, dass die beiden Konzepte, die im Übrigen erst an der Wende zum 18. Jahrhundert in Gebrauch gekommen sind,108 allenthalben paarweise auftreten: So spricht Lange von den ›Redens- und Vorstellungsarten‹,109 Bodmer in einem Brief an Lange vom 13. Dezember 1745 von der ›Sprache und Gedenkungsart‹,110 Lessing von der ›Denkungsart‹, die sich in einer Nachdichtung aussprechen müsse (FLA 4, 500), und Herder von der ›Denkart und Sprache‹ (FHA 1, 293). Vor diesem Hintergrund fordern die sogenannte Berliner Partei und Herder mit wachsendem Nachdruck eine Kongruenz zwischen Rolle, Sprache, Stoff und Schreibart. Statt – so etwa Herder – wie die Schweizer zu kombinieren, »was nur orientalisch, griechisch und brittisch hieße« (FHA 1, 273 f.), statt – so Lessing – den hebräischen Salomon wie einen »sophistische[n] Griechen« sprechen zu lassen (FLA 4, 547), gilt es nun, jeweils eine Schreib- und Denkart glaubwürdig zu vermitteln. Eine Psalmnachdichtung soll anders klingen als eine horazische Ode. Nicht die korrekte Erfüllung rhetorischer Standards und die gegenstandsabhängige Wahl der Stilhöhe sind hier die entscheidenden Bewertungskriterien, sondern die überzeugende und kongruente Aneignung einer kultur-, gattungs- und rollen spezifischen Schreib- und Denkart. Die wachsende Überzeugung von einer tiefen Verbindung zwischen Denkund Schreibart führt dazu, dass sich die orientalische Schreibart von einem literaturpolitischen Statement und Nachahmungsmuster zu einem literaturkritischen Bewertungsmaßstab der Glaubwürdigkeit dichterischer Erzeugnisse wandelt. So vermisst ein Rezensent der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1765 in Georg August von Breitenbauchs Jüdischen Schäfergedichten »die feurige Einbildungskraft in kühnen Metaphern, in blühenden Andreas Gardt: Begriffsgeschichte als Praxis kulturwissenschaftlicher Semantik. Die Deutschen in Texten aus Barock und Aufklärung. In: Brisante Semantik. Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik. Hg. von Dietrich Busse u. a. Tübingen 2005. S. 151–168, bes. S. 161–163. 108 DWb 2 (1860). Sp. 927 f.; DWb 15 (1899). Sp. 1687 f. 109 Lange: Oden Davids, 1746. Vorrede des Uebersetzers (unpaginiert). 110 Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe. Hg. von Samuel Gotthold Lange. Bd. 2. Halle 1770. S. 49. 107
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und bilderreichen Ausdrücken, in unerwarteten und verwegenen Uebergängen«, die für »orientalische Gedichte« zu erwarten seien.111 Breitenbauchs selbsterklärtes Unternehmen, »den gewöhnlichen Schauplatz der Hirtengedichte zu verändern und ihn aus Arcadien an die glückseligen Ufer des Jordan zu versetzen«,112 gilt dem Rezensenten deshalb als misslungen: Breitenbauch hätte nicht nur den »Schauplatz« wechseln, sondern die orientalische Denk- und Schreibart annehmen müssen, um die mit dem Titel geweckten Erwartungen zu erfüllen. Aus demselben Grund zeigt sich auch Herder in seinen Literaturfragmenten höchst unzufrieden mit Breitenbauchs Jüdischen Schäfergedichten, die beim Versuch, »Norden nach Orient zu verpflanzen« nur etwas »Unbestimmtes« und »Schlechtes« lieferten: »Seine Einbildungskraft und seine Sprache – alles sichert ihn vor dem Verdachte, beschnitten zu sein« (FHA 1, 278 f.).113 Hinter diesen Einschätzungen steht eine grundlegende Veränderung und Umwertung des Stilkonzepts. Gegen die Vorstellung, dass der Stil die Gedanken schmücke oder einkleide, setzt sich zunehmend eine Auffassung des Stils als Ausdruck der individuellen Gedanken und Gefühle eines Autors durch: Das Verständnis des Stils als äußere Verschönerung (exornatio) verliert an Gewicht gegenüber seinem Verständnis als Verkörperung (incarnatio).114 Dass Breitenbauch Episoden der jüdischen Geschichte von der Schöpfung bis in die römische Zeit in – so die Ankündigung in der Vorrede – »schäfermäßigen Einkleidungen« präsentiert,115 kann den nun propagierten Anforderungen nicht Genüge leisten. Anstelle einer Einkleidung beliebiger Stoffe in je nach Stilhöhe normierten Schreibarten gilt nun die Inkarnation einer kulturell und individuell bestimmten Denkart in einer charakteristischen Schreibart als Zielvorgabe. Die Neukonzeptualisierung des Stilbegriffs, die sich hier abzeichnet, ist ein langer und tastender Prozess. An der Literaturkritik der Zeit lässt sich das nachverfolgen. So wird Johann Wilhelm Ludwig Gleims Nachdichtung des Siegeslieds Moses beim Durchzug durch das rote Meer (Exodus 15) 1767 in der Halleschen Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften dafür gepriesen, ebendas zu leisten, was man an Breitenbauchs Jüdischen Schäfergedichten vermisst:
Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1765). S. 78. [Georg August von Breitenbauch]: Jüdische Schäfergedichte. Altenburg 1765. S. iv. 113 Ein anderer Rezensent hält sich mit einem Urteil sicherheitshalber zurück, formuliert aber mit einem Fragenkatalog denselben Erwartungshorizont: »Ob der Herr B[reitenbauch] sich in die alten Zeiten glücklich zu setzen gewußt, ob er eine hinlängliche Kenntniß der Sitten und der Poesie des Orients besessen, und ob er endlich den rechten Ton getroffen habe, in welchem diese Art von Gedichten gesungen werden sollen, werden die leicht urtheilen können, welche mit Gelehrsamkeit Geschmack verbinden, und das Buch selbst lesen« (Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 13:41 (1765). S. 334). 114 Wolfgang G. Müller: Topik des Stilbegriffs. Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1981. S. 56 und S. 85–98. 115 Breitenbauch: Jüdische Schäfergedichte, 1765. S. vi f. 111
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Alles was die Orientalische Sprache von Würde und Majestät hat; die Kühnheit der Bilder, die erhabene Kürze, das Feuer, das sich unwiderstehlich der Seele bemächtigt, alles dieses in unserer Sprache nachzuahmen, würde vielleicht keinem, als dem gelingen, welcher den Ton der Kriegslieder fand. Wir hören nicht den Nachahmer; wir hören den Orientalischen Dichter selbst. So sang er von dem göttlichen Siege begeistert!116
Dieser Beurteilung zufolge garantiert die Einübung in die poetischen Affekte des Krieges, die Gleim in seinen Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier (1758) bewiesen hatte, eine überzeugende Nach ahmung auch des alttestamentlichen Siegesgesangs. Das antike Postulat der Kunstverbergung wird damit auf die Aneignung einer kulturgeschichtlich markierten Rolle übertragen: Gleim brilliert nicht (nur) in der natürlichen Schreibart eines einfachen Soldaten, sondern auch in der orientalischen Schreibart eines alttestamentlichen Israelitenführers. Anders als Breitenbauch habe Gleim dieser Einschätzung zufolge die orientalische Schreibart (»die Kühnheit der Bilder, die erhabene Kürze, das Feuer«) so perfekt angenommen, dass die orientalische Denkart glaubwürdig vermittelt werde. In dieser Beurteilung wird das Nachahmungspostulat zwar aufrechterhalten, aber bis aufs Letzte ausgereizt: »Wir hören nicht den Nachahmer; wir hören den Orientalischen Dichter selbst.« Gleims Nachdichtung lässt sich damit als selbsterklärendes Demonstrationsobjekt funktionalisieren: Auf die implizite Frage, wie Moses Siegesgesang geklungen haben möge, lautet hier die Antwort deiktisch: »So […]!« An den Reaktionen auf Breitenbauch und Gleim lässt sich ablesen, wie neue Vorstellungen poetischer Glaubwürdigkeit und kulturspezifischer Angemessenheit in den 1760er Jahren anhand der orientalischen Schreibart erprobt und formuliert werden. Mit der Schwerpunktverlagerung vom Nachahmungspostulat zur Originalitätsästhetik117 gewinnt diese Suche nach einem neuen Stilbegriff an Nachdruck. Herder lässt seine Leser in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1766/67) an diesem Reflexionsprozess teilhaben: Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man es für nützlich, ja für notwendig habe halten können, in Poesien Gedanke und Ausdruck unverbunden zu behandeln, in Poetiken unverbunden zu lehren, und in Alten [sic] unverbunden zu zergliedern: desto fremder kömmt mir diese Zerreißung vor. Gedanke und Ausdruck! verhält er sich hier wie ein Kleid zu seinem Körper? Das beste Kleid ist bei einem schönen Körper bloß Hindernis. – Verhält er sich, wie die Haut zum Körper? Auch noch nicht genug: die Farbe und glatte Haut macht nie die Schönheit vollkommen aus. (FHA 1, 404)
Herder gelangt schließlich zu dem »Bild, daß Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck sich zu einander verhalten, wie Platons Seele zum Körper« (FHA 1, 405). Für den Dichter gilt deshalb, dass er »Empfindungen ausdrücken« solle 116 Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften 1:2 (1767). S. 27. Vgl. auch Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften 2:3 (1768). S. 186–188. 117 Alessandro Costazza: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern 1996. S. 107–125.
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(FHA 1, 402), statt sich blind »in das schöne Kleid, und den Putz der Costume, in die schönen Fingerspitzen der Chineserschönheiten, in das blendende Teint französischer Wendungen, oder in das oft überladene Kolorit brittischer Bilder« zu verlieben (FHA 1, 405). Einkleidung erscheint nun als falsche Verkleidung des Eigenen und Eigentümlichen. Diese Umwertung wird von einem Natürlichkeitsideal regiert,118 das stark moralisch gefärbt ist. An die Stelle der rhetorischen Taktik der Kunstverbergung (dissimulatio artis) tritt die Forderung nach unschuldig-naivem Ausdruck und natürlicher Aufrichtigkeit.119 So erklärt Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste zum Stichwort ›naiv‹: Empfindungen und deren Aeußerungen in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbenen Natur gemäß, und, obgleich der feineren Verdorbenheit des gangbaren Betragens zuwider, ohne Rükhaltung, ohne künstliche Verstekung, oder Einkleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen.120
Die höfischen, privatpolitischen Techniken der Dissimulation (»Verstekung«) und der Simulation (»Einkleidung«) werden disqualifiziert, stattdessen sollen »unverdorbene«, unschuldige »Empfindungen« – gemäß einer im protestantischen Pietismus und der empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts geprägten Formel – »aus der Fülle des Herzens herausquellen.«121 Diese Auffassung verleiht dem antiken Postulat einer Übereinstimmung von Mensch und Stil neue Bedeutung. Nicht der römische vir bonus und auch nicht der honnête homme des französischen Klassizismus stehen jetzt hinter dieser Forderung, sondern das individuell Charakteristische und Subjektive des jeweiligen Menschen.122 Und so lockern sich die Normen für guten Stil: Individuelle Stilausprägungen gelten nun weniger als Regelverstoß denn als Ausdruck schöpferischer Originalität. So erklärt Karl Philipp Moritz gegen Ende des Jahrhunderts, streng genommen gebe es gar keine Stilregeln: »Denn man denkt sich doch unter Styl das Eigenthümliche, woran man die Schreibart eines ieden wieder erkennet, und wodurch sie eigentlich erst zur Schreibart wird; nun aber finden ja über das Eigenthümliche keine Regeln statt.«123 Es kann nicht überraschen, dass Moritz gleich seine ersten Beispiele Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers ent118
Vgl. zur Vorgeschichte Michael Multhammer: Was ist eine ›natürliche Schreibart‹? Zur Reichweite eines transdisziplinären Wunschbildes der Aufklärung. In: Aufklärung 25 (2013). S. 133–157. 119 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, bes. S. 284–294; vgl. auch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003. 120 Sulzer 3 (21793). S. 500. 121 Max L. Baeumer: »Fülle des Herzens«. Ein biblischer Topos der dichterischen Rede in der romantischen Literatur. In: SJb 15 (1971). S. 133–156. 122 Müller: Topik des Stilbegriffs, 1981. S. 4 4. 123 Karl Philipp Moritz: Vorlesungen über den Styl oder praktische Anweisung zu einer guten Schreibart in Beispielen aus den vorzüglichsten Schriftstellern. Bd. 1. Berlin 1793/94. S. 8 f. Vgl. auch Sulzer 4 (21794). S. 329 und S. 334.
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nimmt, der 1774 fulminant gegen alle geltenden Stil- und Anstandsregeln verstoßen hatte. Diese Veränderungen lassen sich begriffsgeschichtlich in den Neuprägungen des Stils, des Geistes und des Eigentümlichen greifen. Wenige Hinweise müssen an dieser Stelle genügen, um diese dichte Konstellation zumindest grob zu umreißen. An die Stelle der maßgeblich durch Gottsched geprägten Bezeichnung Schreibart, die als Machart zu verstehen ist, tritt in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend die Bezeichnung Styl bzw. Stil, die mit neuen Implikationen des Ausdrucks und der Verkörperung versehen ist: »[E]ine Schreibart kann man wählen,« so Dirk Oschmanns Zuspitzung, »seinen Stil jedoch nicht.«124 An die Stelle der Denkart tritt zunehmend die Prägung Geist, die mit Blick auf die Literatur im neueren Sprachgebrauch die Verkörperung der Gedanken im Stil, nämlich »das Beste, Wesentlichste, Wirksamste aus einem Buche oder aus einer Schrift« bzw. deren »Kern« bezeichnet.125 Zwar wird dieser deutsche Begriff des Geistes aus dem französischen esprit entlehnt, doch meint man mit ihm nicht vornehmlich den Witz im Sinne gedanklichen Scharfsinns, sondern individuelle und kulturelle Charakteristika, die im Französischen durch génie ausgedrückt werden. Diese Auffassung von Geist wiederum steht in einem engen Zusammenhang mit dem Aufstieg des Eigentümlichen zu einem programmatischen Terminus der Genieästhetik und zu einem urheberrechtlichen Argument. Wie Gerhard Plumpe nachgezeichnet hat, versucht man das Eigentum eines Kunstwerks nun über dessen Individualität und Unverwechselbarkeit zu begründen. Der Stil drückt diesem Verständnis nach das im juristischen Sinne Eigene und im psychologisch-ästhetischen Sinne Eigentümliche eines Kunstwerks aus: Das Wort ›eigentümlich‹ charakterisiert also nach 1760 in poetologisch-ästhetischen Kontexten eine Mimesispostulat und Regelpoetik transzendierende, präexistente Objekte qua Verausgabung von nicht normativ faßbarer Individualität transformierende Kunstpraxis, deren Resultate mit Erfolg Anspruch machen können, [juristisch] Eigentum zu sein.126
In dieser Perspektive, die bis heute das Verständnis von Literatur bestimmt, ist ein Gedicht, das überkommene Muster und Normen lediglich ›einlöst‹, so Wilfried Barner, »ohne ästhetisches Interesse.«127 Handwerkliche Virtuosität und Dirk Oschmann: ›Schreibart‹ oder ›Stil‹? Zur Werther-Rezeption bei Karl Philipp Moritz. In: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Hg. von Gideon Stiening und Robert Vellusig. Berlin/Boston, MA 2012. S. 167–178, hier: S. 173. 125 Adelung 2 (1796). Sp. 513. 126 Gerhard Plumpe: Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979). S. 175–196, hier: S. 194. 127 Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987. S. 3–51, hier: S. 14. 124
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topische Einkleidung werden als äußerlicher Tand und Maskenspiel abgetan, als man beginnt, Autor und Werk zu einer organischen Einheit zu verknüpfen: »Stil im traditionellen Sinne beruht auf Äußerlichkeit, Ablösbarkeit, Vielfalt, der moderne Stilbegriff bricht mit sämtlichen Implikationen und setzt Innerlichkeit, Integration und Einheit an ihre Stelle.«128 Die einzelnen Elemente des Stils gelten in diesem Sinne nicht mehr als wählbar, ablösbar und isolierbar, sondern gehören zur individuellen Ausdruckseinheit eines Geistes und sind mithin nicht übertragbar. So heißt es in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800), das Beste in den besten Romanen sei nichts anderes »als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigenthümlichkeit« (KFSA 2, 337). Voraussetzung dieser Fundierung des Stilbegriffs im Eigentümlichen ist seine Verzeitlichung: Stileinheiten werden im 18. Jahrhundert temporalisiert und historisiert. Dadurch erhalten sie Niklas Luhmann zufolge eine konstitutive Funktion für das moderne Kunstverständnis, die darin besteht, »die Perfektion des Kunstwerks zu individualisieren (nämlich von Vorbildlichkeit zu entlasten) und zugleich den Stil selbst als maßgebend und wandelbar anzusetzen.«129 Der Stil zeigt mithin an, wie ein Kunstwerk sich zu anderen Kunstwerken – sowohl bestehenden als auch noch zu schaffenden – verhält, und markiert zugleich seine unverwechselbare Individualität.130 Damit wiederum ermöglicht der temporalisierte Stilbegriff »eine historisch-situative Stilpolitik.«131 Entscheidend für die hier verfolgte Frage nach der Funktion der sogenannten orientalischen Schreibart ist nun, dass die Vorstellung stilistischer Verkörperung sich nicht nur auf das Eigentümliche eines Individuums bezieht. Vielmehr wird im Stil (auch) das Eigentümliche einer Epoche und/oder einer Nation gesucht,132 wie sich nicht zuletzt in den Begriffsprägungen des Nationalgeistes und – später – des Volksgeistes zeigt, die im Kunstwerk zum Ausdruck kommen sollen.133 Im Stil, wie er jetzt verstanden wird, prägt sich das individuelle Genie aus, aber auch der Geist einer Nation.134 Für beide können keine allgemeingültigen Regeln 128 Aleida Assmann: »Opting in« and »opting out«. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1986. S. 127–143, hier: S. 134 f. 129 Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1986. S. 620–672, hier: S. 641. 130 Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 1986. S. 632. 131 Ebd., S. 643. 132 Müller: Topik des Stilbegriffs, 1981. S. 118–123. 133 Vgl. zur historischen Semantik Karl Zahradnik: »Nationalgeist«. Geschichte von Begriff und Wort in der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Dissertation Wien 1938. S. 90–175; Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. In: DVjs 61 (1987). Sonderheft. S. 199–215. 134 Goethe hält 1829 in den Maximen und Reflexionen im Anhang zur zweiten Fassung seines
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mehr veranschlagt werden. So stellt Herder in Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) klar, es liege ihm völlig fern, dass er »aus Horaz oder Pindar ein Regelnmaß vorschlagen wollte, nach welchem man Davidische Psalmen messen müßte« (FHA 5, 978). Jede Nationalliteratur hat diesem Verständnis nach ihr Maß in sich selbst, und dieses wiederum ist nur aus ihrer – historisch bedingten – Eigentümlichkeit verständlich. Die Emphatisierung und Aufwertung von Individualstil und Nationalstil gehen somit zur selben Zeit und in einem engen Wechselverhältnis vor sich.135 In der Praxis nun ist dieses Wechselverhältnis konfliktträchtig. Wenn im 18. Jahrhundert, um Luhmanns Prägung aufzugreifen, historisch-situative Stilpolitik betrieben wird, dann bedeutet das im Zeichen der Suche nach einer genuin deutschen Nationalliteratur immer auch, dass sich der jeweilige Autor im Bezugsfeld eines pluralisierten Altertums positionieren muss. Was das Eigene und Eigentümliche der deutschen Sprache und Literatur sei und wieviel Freiraum dem einzelnen ›Originalgenie‹ mit seinen regionalen Prägungen zugestanden wird, ist auch zwei Jahrzehnte nach Herders Drängen auf eine reflektierte Nachahmungspraxis in seinen Literaturfragmenten (1766/67) höchst umstritten. Angesichts der von Herder und anderen erhobenen Forderungen nach Entregelung und Relativierung treten andere Akteure umso vehementer für Regelung und Normierung ein. So zeigt sich der Grammatiker und Lexikograph Johann Christoph Adelung 1783 in seinem Magazin für die deutsche Sprache entsetzt über den Verlust an Einheit, den das Deutsche nach 1760 erlebt habe: In der Literatur kämen nun »Barden- und Druiden-Geschmack, Minnesang, Volkston, Vernachlässigung der Reinigkeit und Richtigkeit der Sprache, und was weiß ich, was alles noch mehr zum Vorschein«.136 Adelung schreibt hier – bei allen im Einzelnen nuancierten Unterschieden ihrer Positionen – Gottscheds und Mendelssohns Skepsis gegenüber dem Postulat rauen, regellosen Sprechens fort, das die etablierten Geschmacksideale, ästhetischen Wertmaßstäbe und die Ordnung des Kanons bedrohe: Es müsse doch sehr fraglich scheinen, so Adelung, ob sich eine »schöne National-Litteratur« gewinnen lasse, »wenn mit Beyseitsetzung alles uns Eigenthümlichen das Eigenthum aller andern Nationen auf Deutschen Boden verpflanzt wird […], wenn bald morgenländische, bald Lapländische Schwünge des Geistes, bald fremde Sylbenmaße, bald Barden- und Druiden-Religion, u.s.f. darin herrschen« und »jeder Schriftsteller in der Provinz […] das Eigenthümliche der Nation nach seiner inRomans Wilhelm Meisters Wanderjahre noch einmal fest: »Eigentümlichkeit des Ausdrucks ist Anfang und Ende aller Kunst. Nun hat aber eine jede Nation eine, von dem allgemeinen Eigentümlichen der Menschheit abweichende besondere Eigenheit, die uns zwar anfänglich widerstreben mag, aber zuletzt, wenn wir’s uns gefallen ließen, wenn wir uns derselben hingäben, unsere eigene charakteristische Natur zu überwältigen und zu erdrücken vermögte« (MGA 17. S. 853). 135 Müller: Topik des Stilbegriffs, 1981. S. 121; Rainer Rosenberg: Stil (literarischer Stil). In: ÄGB 5 (2003). S. 641–664, hier: S. 654 f. 136 Magazin für die deutsche Sprache 1:4 (1782/83). S. 113.
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dividuellen Willkühr bestimmen will.«137 Gegen diese bedrohlich unübersichtliche Angebotsvielfalt versucht Adelung, eine nationalsprachliche Einheit durch Normen zu konstituieren, die sich am Obersächsischen orientieren und die ›individuelle Willkühr‹ der Autoren aus anderen Provinzen, die sich als ›Originalgenies‹ begreifen, eindämmen sollen. Die Gegner dieses Sprachpurismus indes klagen das Recht des Schriftstellers ein, »original zu sein«;138 gerade Bardendichtung und Volkston werden von ihnen versuchsweise zur Konturierung einer zu schaffenden deutschen Nationalliteratur herangezogen. So bewegen sich die Dichter der zweiten Jahrhunderthälfte vor dem Horizont eines historisierten und pluralisierten Altertums in einem Spannungsfeld zwischen Nachahmungs- und Originalitätsparadigma, zwischen Zentralisierung und Provinzialisierung, zwischen Normierung und Relativierung. Was als eigen und eigentümlich gelten kann, hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Alles, so Johann Erich Biester 1783, ist »noch im Gähren, im Werden; alle Kräfte sind gespannt.«139 2.1.5 Eigentümlichkeit zwischen den Stylen Positionen und Projektionen jüdischen Schreibens in deutscher Sprache (Ephraim – Behr – Kuh – Ascher) Als zu Beginn der 1770er Jahre die ersten jüdischen Poeten das Feld der deutschsprachigen Literatur betreten, geraten sie mitten in diese Richtungsstreitigkeiten und Transformationsprozesse. Der Erwartungshorizont, vor dem sie aufgenommen werden, ist durch die literaturpolitischen Debatten strukturiert, die ich in den vorhergehenden Kapiteln mit Blick auf den Stellenwert der hebräischen Poesie skizziert habe. Die in diesem Zusammenhang etablierten Zuschreibungstopoi der sogenannten orientalischen Schreibart und die emphatische Aufwertung der hebräischen Dichtung als orientalische Urpoesie gehen in die Vorgabe ein, dass der Stil das individuell und national Eigentümliche verkörpern und ausdrücken solle. Bestimmend für die Aufnahme jüdischer Autoren in deutscher Sprache ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung, dass sie die orientalische Schreibart nicht – wie etwa Breitenbauch und Gleim – annehmen müssen, sondern sie als Juden natürlicherweise mitbringen und in ihren Texten unmittelbar ausdrücken können. Jüdische Autoren werden dieser Logik zufolge als Trägerfiguren der orientalischen Denk- und Schreibart bzw. des morgenländischen Geistes imaginiert; und so wird an ihre Texte die Erwartung eines kühnen, gewagt metaphernreichen und feurigen Stils herangetragen. Wie in dieser Situation Literaturproduktion und -rezeption aufeinanderprallen, werde ich nun in Schlaglichtern auf
Magazin für die deutsche Sprache 1:4 (1782/83). S. 146 f. und S. 151. Berlinische Monatsschrift 1:1 (1783). S. 198. 139 Ebd., S. 196. 137
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die vier ersten jüdischen Autoren zeigen, die in deutscher Sprache dichten: Benjamin Veitel Ephraim, Isaschar Falkensohn Behr, Ephraim Kuh und Saul Ascher. Als der königlich-preußische Hoffaktor Benjamin Veitel Ephraim 1776 anonym sein Drama Worthy veröffentlicht, das im Mai desselben Jahres in Berlin uraufgeführt wird,140 merkt ein wohlwollender Kritiker in der Berlinischen privilegirten Zeitung an, er brauche die Identität des Verfassers nicht »zu verrathen«, denn die Leser würden sicher »an den gewagten Ausdrücken, und kühnen Metaphern das Feuer eines orientalischen Genies bald entdecken, von dem die Litteratur noch manni[g]faltigere und wichtigere Produkte sich zu gewärtigen hat«.141 Genau gegenteilig wertet eine gehässige Rezension im Berlinischen litterarischen Wochenblatt. Mit suggestiv zusammengestellten Zitaten spielt der Rezensent auf Ephraims Mitwirkung an der Münzverschlechterung in Preußen an. Aller glänzenden Verbrämungen ungeachtet, so sein Fazit, sei die Handlung des Dramas »kalt« und der Schluss »lendenlahm«. Der Kritiker ätzt schließlich, die »jüdische Nation« könne sich freuen, dass der Autor erstmals »den Psalter auf das Theater« gebracht habe, und möge nur nach Jerusalem zurückkehren, um es ebendort aufführen zu lassen: »Dazu würde es wegen seiner asiatischen Floskeln, Träume, Gespenster und Donnerwetter gut genug seyn.«142 Während die wohlwollende Rezension der Berlinischen privilegirten Zeitung das ›orientalische Genie‹ in der deutschen Literaturlandschaft begrüßt, kombiniert die negative Besprechung das Stereotyp des habgierigen Wucherjuden mit der Aburteilung ›asiatischer Floskeln‹ zu einer zynischen Ausgrenzungsgeste. Wie sich bereits in der Bewertung der christlichen Epen ein zwiegesichtiger Orientalismus hat ausmachen lassen, der sich zum einen auf die Ursprünglichkeit der Bibel, zum anderen auf die Dekadenz des Talmuds bezieht, so zeigt sich diese Ambivalenz auch in der Gegenüberstellung der beiden Rezensionen zu Ephraims Drama. Während die eine sich in eine Aufwertungstradition orientalischer Kühnheit und Ursprünglichkeit bodmerscher und herderscher Prägung stellt, rekurriert die andere auf die klassisch-rhetorische Abwertungstradition des überladenen Asianismus gegenüber einem klaren Attizismus. Die Zuschreibungen ›orientalischen Genies‹ und ›asiatischer Floskeln‹ mögen zunächst überraschen, handelt es sich bei Ephraims Worthy doch um ein sentimentales Landpfarrersdrama in englischem Setting, dessen Plot und Figuren Oliver Goldsmiths Erfolgsroman The Vicar of Wakefield (1766) entnommen sind. Mit ihren Zuschreibungen eines orientalischen bzw. asiatischen Stils beziehen sich die Rezensenten nicht auf den christlichen, englischen Stoff, sondern auf die alttestamentlichen Anspielungen und Zitate, die in Ephraims Drama – ebenso 140 Gerhard Steiner: Drei preußische Könige und ein Jude. Erkundungen über Benjamin Veitel Ephraim und seine Welt. Berlin 1994. S. 37–55; Gunnar Och: Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995. S. 237–241. 141 Berlinische privilegirte Zeitung 56:8 (1776). S. 39. 142 Berlinisches litterarisches Wochenblatt 1:17 (1776). S. 260 f.
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wie in der Vorlage – das Schicksal des englischen Predigers Worthy rahmen. So hat der Rezensent des Wochenblatts sich die »Träume, Gespenster und Donnerwetter« aus einer Szene herausgepickt, in der Worthys Sohn Moses von einem Alptraum berichtet und einen Trostpsalm zitiert.143 Wie Goldsmith mit seinem Roman das Buch Hiob (satirisch) überschreibt, so sieht sich auch Ephraims Worthy als einen »andern Hiob«144 und schluchzt am Ende des Dramas mit bi blischem Pathos: »Gott! der du mich gezüchtiget, und jetzt so wunderbar erretest, nimm diese Fülle meines Herzens, und die durch Freudenthränen zerstückten Worte für ein schuldiges Dankopfer deines erretteten Knechts!«145 Zwar schließt Ephraim mit diesem Ton an die alttestamentlichen Referenzsysteme der englischen Literaturtradition insgesamt und an Goldsmiths Landpfarrer-Hiobiade im Besonderen an, die Berliner Literaturkritik aber sieht darin nicht Anleihen beim englischen Hebraismus, sondern einen Indikator für jüdische Urheberschaft. Diese Zuschreibungen sind auf außertextuelle Referenzen angewiesen. Ausschlaggebend für die stilistische Einschätzung ist die jüdische Markierung des Autors, die mittels eines historisierten Stilbegriffs in ein genealogisches Verhältnis zur sogenannten orientalischen Schreibart der alttestamentlichen Überlieferung gesetzt wird. In der biblischen Schreibart des Dramas ist dieser Logik zufolge die jüdische Denkart des Verfassers verkörpert, und der damit entstehende ›Geist‹ wird als orientalisch bzw. asiatisch bezeichnet. So sehr die beiden Rezensenten in ihrer Wertung divergieren, so einig sind sie sich in einer Inkarnationsvorstellung, wie Herder sie wenig später mit besonderer Emphase in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) artikuliert: Jedes Gedicht, heißt es da, sei »ein gefährlicher Verräther seines Urhebers« (FHA 4, 366). Während im Falle Breitenbauchs und Gleims geprüft worden war, ob die christlichen Autoren die orientalische Schreib- und Denkart glaubwürdig angenommen hatten, suggerieren die Beurteilungen des ephraimschen Dramas, dass es mit seiner orientalischen Schreib- und Denkart seinen jüdischen Verfasser verrate: Sein ›orientalisches Genie‹ drücke sich demzufolge notwendig in einer entsprechenden Schreibart aus, die ›asiatischen Floskeln‹ entlarvten den Verfasser als einen Juden. Mithilfe dieser Unterstellung kann Ephraim, zumal sowohl die sogenannte orientalische Schreibart als auch vermeintlich jüdische Charakteristika zu diesem Zeitpunkt als Topoi fest etabliert sind und mithin für diskursive Aktualisierungen zur Verfügung stehen, als eine Projektionsfigur für das neue Inkarna tionsmodell und dessen nationalkulturelle Implikationen benutzt werden. In den Reaktionen auf Ephraims Drama zeichnet sich ab, wie der Stil im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an die vermeintliche individuelle und nationale Ei [Benjamin Veitel Ephraim]: Worthy, ein Drama in fünf Aufzügen. Danzig 1776. S. 12. Ebd., S. 40. 145 Ebd., S. 108. 143
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gentümlichkeit seines Urhebers gebunden wird und damit literaturkritische Wertungen in der Autorfunktion auszuspielen erlaubt. Vor diesem Hintergrund nun können jüdische Autoren über die Zuschreibung eines ursprünglichen orientalischen Geistes zu Testfiguren originalitäts- und genieästhetischer Konzepte gemacht werden. 1772 bekennt der junge Goethe in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, dass ein anonym veröffentlichter Gedichtband mit dem Titel Gedichte von einem pohlnischen Juden große Erwartungen in ihm geweckt habe: Da tritt, dachten wir, ein feuriger Geist, ein fühlbares Herz, bis zum selbstständigen Alter unter einem fremden rauhen Himmel aufgewachsen, auf einmal in unsre Welt. Was für Empfindungen werden sich in ihm regen, was für Bemerkungen wird er machen, er, dem alles neu ist? […] Das hofften wir, und griffen – in den Wind. […] Es ist recht löblich ein polnischer Jude zu sein, der Handelschaft zu entsagen, sich den Musen weihen, deutsch lernen, Liederchen ründen; wenn man aber in allem zusammen nicht mehr leistet, als ein christlicher Etudiant en belles Lettres auch, so ist es, däucht uns, übel getan, mit seiner Judenschaft ein Aufsehn zu machen. (MGA 1.2, 349)
Der an der Empfindsamkeit geschulte Stürmer und Dränger kann an den Gedichten von einem pohlnischen Juden keinen Gefallen finden, weil sie entgegen seiner Erwartung nicht den ›polnischen Juden‹ authentisch sprechen lassen, sondern das Ergebnis von dessen erfolgreicher Transformation zum galanten Poeten in Szene setzen. Isaschar Falkensohn Behr nämlich, der Verfasser des von Goethe verrissenen Gedichtbands, legt es im Zeichen jüdischer Emanzipation gerade darauf an, sich als perfektionierter »Etudiant en belles Lettres« zu beweisen. In der Vorrede zu den Gedichten von einem pohlnischen Juden erklärt Behr: »Erregen nicht die Worte: pohlnischer Jude, in der Seele das Bild eines Mannes, schwartzvermummt, das Gesicht verwachsen, die Blicke finster, und rauh die Stimme?«146 Tatsächlich fungieren die sogenannten polnischen Juden, die aus den östlichen Provinzen nach Berlin kommen und sich dort als Hausierer oder Hauslehrer verdingen, um 1800 als Bedrohungsfiguren des zivilisatorischen Projekts der Aufklärung; und so ist ihre notwendige Umbildung im Hinblick auf Kleidung, Haartracht, Gestik, Sprache, Artikulation und Umgangsformen unter den Vorzeichen des damaligen Perfektibilitätsglaubens ein obsessiv besprochenes Thema (Kap. 3.1.2). Als Ergebnis einer solchen Umbildung nun präsentiert sich Behr in seinen Gedichten von einem pohlnischen Juden: Seinen »zärtlichen Leserinnen« ruft er beruhigend zu, er sei »nicht wild, / Vielleicht gar schön!« Er inszeniert sich als ein galant-geselliger Poet, dessen »Lockenhaar« Puder schmücke: Sein Bart sei »glatt, / Und glätter hat, / Ich sag es kühn, / Kein Jüngling ihn!« Sein »Rock ist grün, / Und ziemlich schön, […] / Ihr wärt mir hold, / Denn ihn
146 Isaschar Falkensohn Behr: Gedichte von einem pohlnischen Juden [1772]. Hg. von Gerhard Lauer. St. Ingbert 2002. S. 11.
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schmückt Gold!«147 Mit dieser gereimten Ansage führt Behr demonstrativ seinen Wechsel vom bärtigen, in einen Kaftan gehüllten polnischen Juden zum rasierten, elegant gekleideten honnête homme vor.148 Er hat, so soll der Gedichtband beweisen, die Rauheit und Rohheit eines sogenannten polnischen Juden mit einer Adaption galanter Verhaltens- und Kleidungsnormen überwunden, zu denen feine Umgangsformen, Weltgewandtheit, die Fähigkeit zu geistreicher Konversation wie zu erotischer Tändelei und Stilsicherheit im Umgang mit poetischen Konventionen gehören. Tatsächlich sind die im Berliner Dichterkreis um Karl Wilhelm Ramler entstandenen anakreontischen Gedichte des litauischen Kaufmanns und Arztes, der eine der bemerkenswertesten Biographien des an aufregenden Lebensläufen nicht eben armen 18. Jahrhunderts aufzuweisen hat,149 in jeder Hinsicht konventionell.150 Gerade die erlernbaren Konventionen galanter Poesie und das mit ihr verbundene gesellig-formvollendete Verhaltensideal bieten einem ›polnischen Juden‹ wie Behr in enger Verflechtung von Poetik und soziokultureller Anpassung die Möglichkeit, seine Bildungsfähigkeit zu beweisen, indem er seinen Körper und seine Dichtungen im entsprechenden Stil einkleidet. Dass Behr für seine poetische Selbstinszenierung das Konzept von Stil als Einkleidung verwendet, ist aufschlussreich für das Verständnis seiner Diskursposition, insofern hier in aller Deutlichkeit die soziokulturellen Implikationen stilistischer Zuschreibungen hervortreten.151 In Behrs Verwendung der Einkleidungsmetapher treten Dichtungs- und Verhaltensideale in einen engen emanzipationspolitischen Begründungszusammenhang. Goethe indes kann dieser virtuosen Rollenaneignung nichts abgewinnen, weil sie gerade das auslöscht, was für ihn interessant hätte sein können. Bei einem Juden – aufgewachsen »unter einem fremden rauhen Himmel« – erwartet er einen unverbildet »feurige[n] Geist, ein fühlbares Herz« und einen anderen, das Eigene verfremdenden Blick. Und so sieht er sich in den originalitätsästhetischen Erwartungen getäuscht, die der Gedichtbandtitel in ihm geweckt habe. Wird ein ›polnischer Jude‹ zum Autor deutschsprachiger Literatur, müsste er Goethes Erwartung zufolge als Naturgenie einen rauen, ur Behr: Gedichte von einem pohlnischen Juden, 1772. S. 12 f. Gerhard Lauer: Nachwort. In: Isaschar Falkensohn Behr: Gedichte von einem pohlnischen Juden [1772]. Hg. von demselben. St. Ingbert 2002. S. 91–113, hier: S. 104. 149 Heinrich Bosse: Gedichte von einem pohlnischen Juden (1772). Isaschar Falkensohn Behr und sein Verleger Jakob Friedrich Hinz. In: Baltische Literaturen in der Goethezeit. Hg. von Heinrich Bosse u. a. Würzburg 2011. S. 187–229. 150 Andreas Wittbrodt: »Sänger Israels«. Isachar Falkensohn Behrs literarische Akkulturation. In: Das Bild des jüdischen Arztes in der Literatur. Hg. von Albrecht Scholz und Caris-Petra Heidel. Frankfurt am Main 2002. S. 32–43; Gerhard Alexander: Isachar Falkensohn Behr (1746–1817). In: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Hg. von Karlfried Gründer und Na than Rotenstreich. Heidelberg 1990. S. 57–66. 151 Das verkennt Siegbert Salomon Prawer: Jewish Contributions to German Lyric Poetry. In: LBI YB 7 (1963). S. 149–170, hier: S. 149 f. 147
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sprünglich-kräftigen Geist in dieselbe einführen und ihre regelpoetischen Ketten sprengen. Eine vergleichbare potentielle literaturpolitische Funktion wird in diesen Jahrzehnten, als man auf der Suche nach einem ursprünglichen, von Gelehrsamkeit unberührten Ton ist, auch Autorinnen zugesprochen. Weibliche und orientalische Denk- und Schreibarten, aus rhetorischer Sicht aberrant, gewinnen unter originalitätsästhetischem Gesichtspunkt an Wert, weil sie im positiven Sinn als naiv gelten und gegen die höfische Konversations- und Verstellungskunst, die nun als heuchlerisch und affektiert diffamiert wird, als natürliche, unverbildete Ausdrucksweisen in Stellung gebracht werden können.152 Wie in den frühen 1760er Jahren auf die zur gefeierten Dichterin avancierte schlesische Rinderhirtin Anna Louisa Karsch die Schreibweise eines Naturgenies projiziert und in ihrer Biographie begründet wird,153 so weckt auch Behrs Autorfunktion als polnischer Jude bei Goethe Hoffnungen auf eine Schreibart, die fernab von gelehrter und galanter Finesse einen originellen und frischen Ton in die deutsche Literatur bringen möge.154 Die beiden Aufsteigerbiographien eint ein Narrativ, das Karl August Küttner 1780 in seiner Sammlung von Charakteren teutscher Dichter und Prosaisten gar zu einem expliziten Vergleich zwischen Behr und Karsch inspiriert: Aufgewachsen in bitterster Armut und provinzieller Unwissenheit, überwinden sie zahl reiche Widrigkeiten und Hindernisse durch eigene Kraft und durch die Un terstützung einflussreicher Förderer, um schließlich in Berlin Dichterruhm zu erlangen.155 Im Umgang mit ihrem Potential als Projektionsfiguren eines emphatisierten Natürlichkeitsideals unterscheiden sich die beiden indes grundlegend. Während Karsch in den 1760er Jahren, als ihre Popularität durch die Medialisierung des Siebenjährigen Krieges befördert wird,156 dem Bedürfnis der Zeit nach 152 Klaus Dirscherl: Stillosigkeit als Stil. Du Bos, Marivaux und Rousseau auf dem Weg zu einer empfindsamen Poetik. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurs elements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1986. S. 144– 154. 153 Uta Schaffers: Auf überlebtes Elend blick ich nieder. Anna Louisa Karsch in Selbst- und Fremdzeugnissen. Göttingen 1997; Susanne Kord: Visionaries and Window Shoppers. Anna Louisa Karsch Between Bourgeois Aesthetic Theory and Lower-Class Authorship. In: Lessing YB 35 (2003). S. 189– 221. 154 Andreas B. Kilcher übersieht, dass die Konfliktlinie der Wertung hier weniger zwischen ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ als zwischen Nachahmungs- und Originalitätsparadigma verläuft, und kommt deshalb zu einer Einschätzung von Behrs Position und Goethes Rezension, die nicht überzeugen kann (Andreas B. Kilcher: Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben? Perspektiven historischer Diskursanalyse. In: Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 351–379). 155 [Karl August Küttner]: Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Von Kaiser Karl, dem Großen, bis aufs Jahr 1780. Bd. 1. Berlin 1781. S. 494. 156 Guido Heinrich: Leibhaftige Ästhetisierung und mediale Endverwertung. Die Rezeption der Kriegslyrik Anna Louisa Karschs in Berlin, Halberstadt und Magdeburg. In: »Krieg ist mein Lied«.
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einem poetischen Naturgenie in die Hände spielt und ihre erworbene Bildung nicht offensiv ausstellt, rückt Behr gerade die Überwindung seiner Herkunftsprägung in den Blick. Ähnlich verfährt auch der erste überhaupt in deutscher Sprache schreibende jüdische Dichter Ephraim Moses Kuh, der wie Behr von Ramler gefördert wird.157 Wie Behr präsentiert Kuh dezidiert nicht einen fremdländisch ›feurigen Geist‹, der die überkommene Poetik infrage stellen könnte, sondern erfüllt deren Anforderungen ganz im Gegenteil mustergültig. Zwar verwendet er neben griechischen und lateinischen auch orientalische Topoi, insofern sie zum Repertoire aufklärerischer Dichtung gehören, aber er verbindet sie nicht mit seiner Autorposition als jüdischer Schriftsteller. Orientalische Topoi aufzugreifen ist in seinem Werk ein Beweis dichterischer Versalität und Virtuosität, keineswegs aber ein Ausdrucksmittel jüdischer Herkunft.158 Behr und Kuh verkörpern ein in der Aufklärung ausgesprochen populäres Aufsteigermodell;159 und sie verkörpern es als Angehörige der nach allgemeinem Urteil »in der Litteratur zurückstehende[n] jüdische[n] Nation« in besonderem Maße.160 So bezeichnet ein Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Kuh als den besten »unter allen neuern Dichtern seiner Nation, welcher unter uns so viele Hindernisse der Geistesbildung im Wege liegen.«161 Je mehr Hindernisse zu überwinden sind, umso dramatischer und bemerkenswerter nimmt sich der jeweilige Aufstieg aus. Die ersten jüdischen Autoren, die sich in die deutsche Literatur einbringen, tun dies gerade nicht als naive Originalgenies, die unberührt von verfeinerter Geistesbildung und regelpoetischem Formbewusstsein einen neuen, rauen Ton einführen, sondern als Anpassungsvirtuosen, die ihre gegen alle Widerstände erfolgreiche Ausbildung zu formvollendeten, gebildeten Poeten ausstellen.162 Behr und Kuh repräsentieren mit ihrer Akkulturation das StilprinDer Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007. S. 137–176. 157 Arthur Galliner: Ephraim Kuh. Ein jüdisch-deutscher Dichter der Aufklärungszeit. In: LBI Bulletin 19 (1962). S. 189–201; Meyer Kayserling: Der Dichter Ephraim Kuh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1864; vgl. zu Behr und Kuh auch Ari Joskowicz: The Modernity of Others. Jewish Anti-Catholicism in Germany and France. Stanford, CA 2014. S. 70–72; Och: Imago judaica, 1995. S. 229–237. 158 Dass Kuh seine Sinngedichte teilweise mit dem Hinweis ›nach dem Hebräischen‹ versieht, steht gänzlich unverbunden neben der Verwendung lateinischer, griechischer und orientalischer Topoi. Vgl. Ephraim Moses Kuh: Hinterlassene Gedichte. Bd. 1. Hg. von Johann Joseph Kausch und Moses Hirschel. Zürich 1792. S. 226 f. und 255 f. 159 Claudia Stockinger: Zwischen Mendelssohn und Maimon. Moritz und die jüdische Aufklärung in Berlin. In: Karl Philipp Moritz in Berlin 1789–1793. Hg. von Ute Tintemann und Christof Wingertszahn. Hannover 2005. S. 249–271. 160 Johann Joseph Kausch: Nacherinnerungen. In: Kuh: Hinterlassene Gedichte, 1792. Bd. 2. S. 189–273, hier: S. 190. 161 Allgemeine Literatur-Zeitung 9:184 (1793). Sp. 732. 162 Dass die originalästhetische Wertungsposition und das Begehren nach ›jüdischem‹ Geistesausdruck unreflektiert noch die aktuelle literaturwissenschaftliche Praxis bestimmen, beweist
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zip der Einkleidung im eigentlichen wie im übertragenen Wortsinn: Sie nehmen die Kleidungsgewohnheiten und Manieren ebenso wie die poetischen Konven tionen an, die in Preußen als gesellschaftliche und literarische Norm gelten. Sie folgen dem Paradigma der Aufklärungsästhetik, um sich in der deutschen Literatur zu behaupten. Mit dieser Strategie zunächst noch erfolgreich, geraten sie im Zuge des umfassenden Geschmackswandels, der sich mit den neuen originalitäts- und genieästhetischen Vorstellungen vollzieht, bald ins Hintertreffen: Das Autorschaftsmodell des poeta faber, dem Kuh und Behr folgen, fällt aus der Mode. In dem Moment, in dem jüdische Autoren in die deutsche Literatur eintreten, wird es im deutschen Literaturdiskurs zum Qualitätsmerkmal großer Werke erhoben, aus dem Gebäude stilistischer Konventionen auszutreten und die eigenen Texte als Bruch mit der bisherigen deutschen Literaturtradition zu inszenieren.163 Als die ersten jüdischen Schriftsteller ihre poetischen Erzeugnisse in deutscher Sprache veröffentlichen, enttäuschen sie mithin als jüdische die neuen Erwartungen im Zeichen von Originalitätsästhetik und stilistischer Eigentümlichkeit. Ihre Texte sperren sich gegen das in ihrer Autorfunktion begründete Potential für Projek tionen einer naiv-ursprünglichen orientalischen Schreibart, da sie sich an den Mustern der Nachahmungs- und Verbesserungsästhetik orientieren und auf diesem Wege ihre Biographien ins Licht der Aufklärung stellen. Die selbstbewusste Aufsteigerrolle, die auf die Erlernbarkeit von Konventionen und die Verfeinerung von Sitten und Affekten setzt, ist in der literaturpolitischen Gemengelage der 1770er Jahre keine erfolgversprechende Diskursposition mehr. Behrs Gedichte eines pohlnischen Juden werden vom Sturm und Drang hinweggefegt. Inmitten der um 1770 virulenten ästhetikgeschichtlichen Umbrüche nehmen die ersten jüdischen Autoren, die in deutscher Sprache dichten, mithin eine schwierige, nachgerade unmögliche Diskursposition ein. Wie der Vergleich mit der Dichterin Karsch zeigt, deren Popularität ebenfalls bald nach dem Siebenjährigen Krieg schwindet, hätte auch eine Selbstinszenierung als polnisch-jüdisches Naturgenie zweifelhafte Erfolgsaussichten gehabt. Karschs diskursive Position als Projektionsfigur weiblich-natürlicher Einbildungskraft nämlich ist eine prekäre.164 Anders als ein Originalgenie, das sich durch bewusste Abweichung in den Kulturprozess einschreibt, kann ein weibliches Naturgenie nach den Regeln der Zeit nicht selbstbestimmt am literarischen Diskurs teilnehmen: »Die Naivität Gunnar Och, wenn er erklärt, Behr sei »mit seinem Epigonentum durchaus zufrieden« gewesen, und sich erleichtert zeigt, dass die »jüdische Thematik« bei Kuh »immerhin« etwas stärker ausgeprägt sei (Gunnar Och: Schöne Literatur im Umfeld der Haskala. In: Das achtzehnte Jahrhundert 23:2 (1999). S. 200–212, hier: S. 206 f.). 163 Vgl. zu diesen beiden Strategien Assmann: Konformität und Individualität, 1986. S. 128. 164 Ursula Geitner: Kritik der Einbildungskraft (poetologisch/pathologisch). In: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Hg. von Helmut J. Schneider u. a. Bielefeld 2001. S. 307–332.
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der Weiblichkeit muß […], soll sie erhalten werden, der Kultur und der Gesellschaft fernbleiben.«165 Was Ursula Geitner hier prägnant für das weibliche Naturgenie herausstellt, gilt auch für den jüdischen poeta nascitur non fit. Der jüdische Poet kann nur so lange als Naturgenie für eine neue Genieästhetik im Zeichen kraftvoller Natürlichkeit in Dienst genommen werden, wie er als Naturmensch dem Reflexionsstand der Hochkultur fern und damit als Projektionsfläche verfügbar bleibt. Unter diesen Bedingungen ist weder für weibliche noch für jüdische Autoren eine selbstbestimmte Diskursposition denkbar. An der Indienstnahme jüdischer Autoren als Test- und Projektionsfiguren einer kulturspezifischen Schreib- und Denkart, so lässt sich zusammenfassen, werden die Prämissen und Implikationen des Wandels von Autorschafts- und Stilkonzepten sichtbar, der in dieser Zeit die deutsche Literaturgeschichte tiefgreifend verändert. In der Reaktion auf Ephraim, Behr und Kuh können die beiden nun konkurrierenden Stilkonzepte der Einkleidung und Verkörperung auf besondere – amplifizierte – Weise ausgehandelt werden, weil sich anhand der sogenannten orientalischen Schreibart das enge Wechselverhältnis zwischen National- und Individualcharakter in der Autorfunktion ausspielen lässt. Ihre nationalkulturelle Markierung als Juden erlaubt es, ihnen einen bestimmten, kulturell markierten Stil als wesenhaft zuzuschreiben und Authentizität als Stilkriterium zu betonen. Umso drastischer lässt sich an akkulturierten Juden das zu überwindende Konzept des Stils als einkleidender Schmuck diskreditieren, wenn man diesen als Verrat an ihrem wesenhaften Charakter definiert. Die Vorstellung eines jüdischen Charakters, der sich in einem orientalischen Stil ausdrücke oder durch anpassende Einkleidung camoufliert werde, fungiert hier gleichsam als Brücke zwischen zwei divergierenden Stilkonzepten und ihren Implikationen: zwischen Rollenrede und Selbstaussprache, zwischen normiertem und individuellem Stil. In der Diskreditierung der poetischen Akkulturation jüdischer Autoren kann, mit anderen Worten, das alte Stilkonzept direkt mit dem neuen konfrontiert werden, weil sie Projektionsfiguren für eine Schreibart jenseits der aus der antiken Rhetorik abgeleiteten Normen abgeben. An den Reaktionen auf Saul Aschers Orientalische Gemälde (1802) lässt sich dieser Konflikt zwischen Produktion und Rezeption noch einmal mit Blick auf den Orientalismus aufzeigen.166 Wie bereits die Überschriften der einzelnen in dieser Sammlung enthaltenen moralischen Erzählungen – zum Beispiel Murat, oder Weisheit ist das Kind der Erfahrung und Alimelek, oder nur Anspruchlosigkeit schafft ein weises Glück – anzeigen, stehen sie in der aufklärerischen, moraldidaktischen Tradition morgenländisch eingekleideter Fabeln und Parabeln. Ascher partizipiert mit seinen Orientalischen Gemälden in deutscher Sprache an dieser beliebten Literaturgattung der Aufklärungszeit, ohne einen Bezug zu sei Geitner: Die Sprache der Verstellung, 1992. S. 293 f. Saul Ascher: Orientalische Gemälde. Berlin 1802.
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nem umfangreichen Engagement in den Debatten der Judenemanzipation herzustellen.167 Dass morgenländische Fabeln allerdings im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr dem Geschmack der Zeit entsprechen, zeigt eine Rezension, die dem Werk einen allzu nüchternen, belehrenden Ton vorwirft und sich mit der Funktionalisierung des Orients als reizvolle Einkleidung nicht zufrieden geben will: »Wir vernehmen orientalische Namen, Gewohnheiten; die Scenen und Umgebungen sind morgenländisch, aber der Geist ist es nicht.«168 Hier zeichnet sich der linguistic turn des Orientalismus um 1800 ab, den Andrea Polaschegg als Paradigmenwechsel vom bildhaft-stofflichen Status des Orients hin zu einem sprachlich-poetischen Modus beschrieben hat.169 Expres sionen eines sogenannten orientalischen Geistes in Form und Klang sind nun gefragt, nicht mehr (nur) orientalische Stoffe und Topoi. Der Orient rückt in zeitliche Distanz; er wird als ein schriftsprachlich überlieferter urzeitlicher Raum der Frühe vorgestellt, zu dem nur erhebliche hermeneutische Anstrengungen den Weg zu ebnen vermögen. In der Bewertung jüdischer Autoren, die in deutscher Sprache schreiben, konvergieren so die Transformationen, die zu dieser Zeit sowohl Stil- als auch Orientverständnis durchlaufen. Die Konstellationen, in denen die hebräische Poesie innerhalb des deutsch-schweizerischen Literaturstreits und den folgenden literaturpolitischen Debatten als orientalische funktionalisiert und im Zeichen einer Faszination für das Ursprüngliche historisiert wird, stecken das Feld ab, auf dem sich um 1800 jüdische Autoren positionieren müssen. 2.1.6 Zusammenfassung Mit dem deutsch-schweizerischen Literaturstreit, den Differenzierungsbemühungen der sogenannten Berliner Partei zur Zeit des Siebenjährigen Krieges sowie Herders stürmischen Interventionen in den späten 1760er Jahren habe ich in diesem Kapitel die drei wichtigsten literaturkritischen Debattenzusammenhänge der Zeit um 1750 Revue passieren lassen und herausgearbeitet, inwiefern sich in ihnen eine Pluralisierung und Historisierung des Altertums abzeichnet. Als Trägerin einer sogenannten orientalischen Schreibart wird die hebräische Poesie im deutsch-schweizerischen Literaturstreit und seinen Fortsetzungen bei Nicolai, Lessing und Mendelssohn sowie bei Herder als Alternative zu griechischen, römischen und nordischen Referenzmodellen positioniert. Als morgenländische 167 Renate Best: Der Schriftsteller Saul Ascher. Im Spannungsfeld zwischen innerjüdischen Reformen und Frühnationalismus in Deutschland. In: Saul Ascher: Ausgewählte Werke. Hg. von Renate Best. Köln u. a. 2010. S. 7–57; Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity. London/New Haven, CT 2002. S. 137–167; Walter Grab: Saul Ascher. Ein deutsch-jüdischer Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 6 (1977). S. 131–179. 168 Allgemeine Literatur-Zeitung 21:195 (1805). Sp. 142 f. Vgl. auch Ludwig Geiger: Berlin 1688– 1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt. Bd. 2. Berlin 1895. S. 94 f. 169 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 143–146.
2.1 Literaturkritik
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Ursprungspoesie erhebt insbesondere Herder sie im Kontext einer breiten Begeisterung für frühe Altertumskulturen zum Paradigma natürlichen Affektausdrucks, in dem man zum einen die Kulturabhängigkeit von National- oder Volkspoesien, zum anderen das ursprünglich Lyrische schlechthin vergegenwärtigt finde. Die hebräische Poesie hilft hier dabei, ein verändertes Verständnis von Poesie überhaupt zu begründen. Der Primat der Nachahmung wird durch das neue Paradigma der Originalitätsästhetik verdrängt; von der rhetorischen simulatio-Tradition wird ein Natürlichkeitsideal abgesetzt; ein emphatischer Begriff des Lyrischen tritt auf den Plan. Mit ihrem sakralen und morgenländischen Doppelstatus kommt der hebräischen Poesie eine zentrale Bedeutung für diese tiefgreifenden Umstellungen zu. Als Literaturkritiker ist Mendelssohn maßgeblich an der Ausprägung dieser Denkfiguren beteiligt. Er bezieht eine vorsichtig abwägende Position. Während der protestantische Theologe Herder die Psalmen als raue, einfältige Ursprungspoesie feiert und gegen die herrschenden normpoetischen Vorstellungen stellt, fügt der jüdische Aufklärer Mendelssohn sie dezent in das Konkurrenzfeld der Altertümer und in das Normensystem der aufklärerischen Literaturkritik ein. In seiner Kritik an Herders Beschwörung rauer nordischer Altertumspoesien als Modell für gegenwärtiges Dichten verbinden sich Vorbehalte gegen eine Entfesselung bestehender ästhetischer Nomen mit Unbehagen angesichts einer Privilegierung der nordischen Bardendichtung gegenüber der hebräischen Poesie. Während Herder im Sinne seiner literaturpolitischen Agenda die Fremdheit und Ferne der hebräischen Poesie akzentuiert, setzt Mendelssohn auf ihre Vertrautheit. Religiöse und literarische Gebrauchstraditionen und Wertungen werden hier in komplexen wechselseitigen Begründungsverhältnissen neu verhandelt. Wie schwierig es ist, in dieser ästhetischen Umbruchsituation eine valide jüdische Sprechposition zu beziehen, zeigt sich an den ersten Versuchen jüdischer Autoren, als Dichter deutscher Sprache aufzutreten. Der deutsch-schweizerische Literaturstreit und die anschließenden literaturpolitischen Debatten, in deren Verlauf die hebräische Poesie als orientalische funktionalisiert und im Zeichen einer Faszination für das Ursprüngliche historisiert wird, stecken das Feld ab, auf dem sich in den 1770er Jahren jüdische Autoren mit deutschsprachigen Dichtungen zu positionieren versuchen. Unter Rückgriff auf ihre nationalkulturelle Markierung als Juden wird ihnen als Nachfahren der Hebräer eine bestimmte – orientalische – Schreibart wesenhaft zugeschrieben. Die dabei zum Tragen kommende Vorstellung eines jüdischen Charakters, der sich in einem orientalischen Stil ausdrücken bzw. verraten müsse, folgt einem neuen Konzept von Stil als Verkörperung (incarnatio). Authentische Selbstaussprache ist nun gefragt, nicht fingierte Rollenrede; man fordert einen individuellen Stil statt die vorbildliche Erfüllung einer Stilnorm. Ephraim, Kuh, Behr und Ascher aber folgen dem überkommenen Stilkonzept der Einkleidung (exornatio), indem sie selbstbewusst ihre poetische Anpassungsleistung an europäische Normen im Sinne der aufklä-
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
rerischen Verbesserungsästhetik zur Schau stellen. Damit enttäuschen sie das genieästhetische Projektionsbegehren nach unverbildeter Natürlichkeit, das besonders vehement vom jungen Goethe artikuliert wird. Die ästhetische Schwerpunktverschiebung vom Nachahmungs- zum Originalitätsparadigma wird im Diskurshorizont des Orientalismus, das zeigt die Rezeption der ersten jüdischen Dichter deutscher Sprache, mittels kulturell begründeter stilkritischer Zuschreibungen anhand der jüdischen Autorfunktion erprobt und plausibilisiert. In der Diskreditierung der poetischen Akkulturation jüdischer Poeten wird das alte Stilkonzept der Einkleidung direkt mit dem neuen Stilkonzept der Verkörperung konfrontiert. An der Indienstnahme jüdischer Autoren für Projektionen einer kulturspezifischen Schreib- und Denkart werden so die Prämissen und Implikationen der neuen, im 18. Jahrhundert aufkommenden Autorschafts- und Stilkonzepte sichtbar. Die hier zum Tragen kommenden Zuschreibungsdynamiken ergeben sich daraus, dass die biblischen Hebräer im Diskurshorizont des Orientalismus zu den Juden der Gegenwart in Beziehung gesetzt werden. Diese wiederum setzten sich selbst, wie nun gezeigt werden soll, zu ihrer Überlieferung in ein neues Verhältnis, als sie im späten 18. Jahrhundert neue Methoden der Bibelübersetzung erproben.
2.2 Bibelübersetzung Mit Moses Mendelssohns kommentierter Übersetzung der Tora (1780–1783) und der Psalmen (1783) ins Hochdeutsche beginnt eine jahrzehntelange intensive jüdische Übersetzungsarbeit an der Heiligen Schrift.170 Diese zwei herausragenden 170 Shalom Ben-Chorin: Jüdische Bibelübersetzungen in Deutschland. In: LBI YB 4 (1959). S. 311–331; Hermann Levin Goldschmidt: Das jüdische Ringen um eine deutsche Bibel [1965]. In: ders.: Werkausgabe in neun Bänden. Hg. von Willi Goetschel. Bd. 2. Wien 1994. S. 146–155; Zeev Weintraub: תרגומי התורה ללשון הגרמנית. Chicago, IL 1967; Samuel Billigheimer: On Jewish Translations of the Bible in Germany. In: Abr-Nahrain 7 (1967/68). S. 1–34; Michael Brocke: תרגומ המקרא בין משה מנדלסון לבין מרטין בובר ופרנץ רוזנצוייג.של יהודי גרמניה. In: דברי הקונגרס העולמי העשירי למדעי היהדות. Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies. Abt. C. Bd. 2. Jerusalem 1990. S. 35–39; W. Gunther Plaut: German-Jewish Bible Translations. Linguistic Theology as a Political Phenomenon. Leo Baeck Memorial Lecture Nr. 36. New York, NY 1992; Abigail E. Gillman: Between Religion and Culture. Mendelssohn, Buber, Rosenzweig and the Enterprise of Biblical Translation. In: Biblical Translation in Context. Hg. von Frederick W. Knobloch. Bethesda, MD 2002. S. 93–114; Naomi Seidman: Faithful Renderings. Jewish-Christian Difference and the Politics of Translation. London/Chicago, IL 2006. S. 153–198; Dafna Mach: Jüdischer Hintergrund und zeitgenössische Rezeption der Buber-Rosenzweig-Bibel. In: 50 Jahre Martin Buber Bibel. Internationales Symposium. Hg. von Daniel Krochmalnik und Hans-Joachim Werner. Münster 2014. S. 65–85; Abigail Gillman: The Jewish Quest for a German Bible. The Nineteenth-Century Translations of Joseph Johlson and Leopold Zunz. In: Society of Biblical Literature Forum 7 (2009). Online-Ausgabe; Alan T. Levenson: The Making of the Modern Jewish Bible. How Scholars in Germany, Israel, and America Transformed an Ancient Text. Lanham, MD 2011; Hans-Joachim Bechtoldt: Jüdische deutsche Bibelübersetzungen vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2005.
2.2 Bibelübersetzung
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Pionierleistungen jüdischer Bibelübersetzung sind, so soll in den ersten beiden Kapiteln (Kap. 2.2.1 und Kap. 2.2.2) aufgezeigt werden, stark vom literaturkritischen Diskurs der Zeit geprägt. In beide Übersetzungsprojekte bringt der Aufklärer, Literaturkritiker und Philosoph gegen Ende seines Lebens die Früchte seines jahrzehntelangen Wirkens ein; die kontroversen Debatten über den ästhetischen Wert der hebräischen Poesie und der orientalischen Schreibart führt er hier in direkter Auseinandersetzung mit dem biblischen Text fort. An Mendelssohns Übersetzung und Kommentierung der Tora sowie seiner Übertragung der Psalmen wird sich nachweisen lassen, wie die anhand des Streitobjekts der he bräischen Poesie geschilderten Umwälzungen im Literaturdiskurs des 18. Jahrhunderts das jüdische Wissen von der Bibel verändern und wie dieses neu formatierte Wissen wiederum in den deutschsprachigen Literaturdiskurs der Zeit Eingang findet. Mit David Friedländer (1750–1834) nehme ich in den anschließenden drei Kapiteln die wichtigste und umstrittenste Persönlichkeit der Berliner Judenschaft um 1800 und einen einflussreichen Akteur der preußischen Spätaufklärung in den Blick. Der wohlhabende Kaufmann, Unternehmer, Kunstsammler und Politiker ist mit Friedrich Nicolai, Johann Jacob Engel, Moses Mendelssohn sowie Wilhelm und Alexander von Humboldt befreundet,171 löst mit verschiedenen Gutachten und Streitschriften erhebliches Echo aus und wirkt maßgeblich an der Erarbeitung des Edikts betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate vom März 1812 mit.172 Von zentraler Bedeutung für Friedländers Reformvorhaben und für seine Selbstpositionierung in der Gegenwart ist, so wird sich zeigen, sein Nachdenken über die ästhetische und politische Bedeutung jüdischer Bibelübersetzung (Kap. 2.2.3–5). Ausgehend von seinen frühen übersetzungstheoretischen Wortmeldungen werde ich Friedländers diskurspolitisches Projekt rekonstruieren, die antiken Fundamente des Judentums freizulegen und sie als Überreste des hebräischen Altertums mithilfe eines reflektierten Orientalismus für das Projekt der jüdischen Emanzipation anschlussfähig zu machen. Mit dem erheblichen Einfluss, der ihm als erstem jüdischem Politiker in Preußen und als hochrangigem Gemeindemitglied zukommt, unternimmt er es, die Heilige Schrift als eine Tempelruine zu inszenieren, die es so zu restaurieren gelte, dass die Juden sie sich als ihr klassisches, morgenländisches Erbe neu aneignen können. Sowohl Mendelssohn als auch Friedländer reflektieren, so wird sich zeigen, ihre Übersetzungspraxis ästhetisch im Diskurshorizont des Orientalismus. 171 Uta Lohmann: David Friedländers Freundschaft mit dem Kreis der Berliner Mittwochsgesellschaft und seine ›Aufklärung über Juden‹. In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 4. Hg. von Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina. Hannover 2011. S. 94–133. 172 Uta Lohmann: David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Kontexte des preußischen Judenedikts vom 11. März 1812. Hannover 2013.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
2.2.1 Ästhetik des Erhabenen Die hebräische Poesie in Mendelssohns Übersetzung der Tora (1780–1783) Im 18. Jahrhundert nimmt die Übersetzung, Nachdichtung und Kommentierung der Bibel ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an. Unter den Vorzeichen von protestantischer Bibelkritik, pietistischer Frömmigkeit, lutherischer Orthodoxie, aufklärerischem Deismus und literaturästhetischem Innovationsgeist generieren konkurrierende Übersetzungs- und Deutungspraktiken unterschiedliche Bibeln mit unterschiedlichem Gebrauchswert.173 In einem produktiven Spannungsverhältnis zu diesen Anstrengungen beginnen auch jüdische Aufklärer und Reformer im deutschsprachigen Raum, neue Übersetzungs- und Kommentierungsmethoden zu erproben.174 Sie setzen sich mit den textkritischen Emendationen und textgenetischen Fragment- und Datierungshypothesen der christlichen Theologie auseinander und suchen sie mit der jüdischen Editions- und ExegesePraxis zu vermitteln.175 Mendelssohns deutsche Übersetzung der fünf Bücher Mose und deren hebräische Kommentierung ist ein Pionierwerk und Meilenstein dieser Bemühungen, einen neuen Umgang mit der Bibel zu finden.176 Zum einen revolutioniert er die jüdischen Gebrauchstraditionen der Tora: Indem er eine hochdeutsche Gesamtübersetzung anfertigt, bricht er mit den Interlinear-Verfahren der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischdeutschen, d. h. westjiddischen Bibelübersetzungen, die garantiert hatten, dass die Übersetzung nur als Worterklärungshilfe dienen konnte, nicht aber als eigenständiger Text lesbar war.177 Zum anderen gehört seine kommentierte Tora-Übersetzung neben Herders Abhand173 Jonathan Sheehan: The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture. Oxford/ Princeton, NJ 2005; Stefan Sonderegger: Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen. In: HSK 2.1 (1998). S. 229–284. 174 Edward Breuer: The Limits of Enlightenment. Jews, Germans, and the Eighteenth-Century Study of Scripture. Cambridge, MA 1996; Ran HaCohen: Reclaiming the Hebrew Bible. German-Jewish Reception of Biblical Criticism. Aus dem Hebräischen [2006] übersetzt von Michelle Engel. Berlin/ New York, NY 2010. 175 Edward Breuer und Chanan Gafni: Jewish Biblical Scholarship between Tradition and Innovation. In: Hebrew Bible/Old Testament. The History of its Interpretation. Bd. 3.1. Hg. von Magne Sæbø. Göttingen 2013. S. 262–303. 176 Alexander Altman: Moses Mendelssohn. A Biographical Study [1973]. London/Portland, OR 1998. S. 368–420; Dominique Bourel: Moses Mendelssohn. La naissance du judaïsme moderne. Paris 2004. S. 355–390; Shmuel Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Aus dem Hebräischen [2001] von Anne Birkenhauer. Hildesheim u. a. 2007. S. 164–175; Rafael Arnold: Der Übersetzer als Didaktiker und Prophet. Zu Mendelssohns Bibelübertragungen. In: trans-lation – trans-nation – trans-formation. Übersetzen und jüdische Kulturen. Hg. von Petra Ernst u. a. Innsbruck 2012. S. 39–63. 177 Nechama Leibowitz: Die Übersetzungstechnik der jüdischdeutschen Bibelübersetzungen des XV. und XVI. Jahrhunderts dargestellt an den Psalmen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 55 (1931). S. 377–463; Albert Leitzmann und Willy Staerk: Die Jüdisch-Deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Nach Handschriften und alten Drucken dargestellt. Frankfurt am Main 1923; Erika Timm: Historische jiddische
2.2 Bibelübersetzung
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lung Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) und Eichhorns Einleitung ins Alte Testament (1780–1783) zu der im historischen Rückblick auffallenden Dichte paradigmatischer Veröffentlichungen, die in den frühen 1780er Jahren das Verständnis der Bibel und die Praxis der Bibelübersetzung im deutschsprachigen Raum transformieren. Daraus ergibt sich ihre Bedeutung für das Verständnis nicht nur der jüdischen, sondern auch der deutschen Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Mendelssohns Tora-Übersetzung und der hebräische Kommentar, der sogenannte Bi’ur ()באור,178 sind bislang von der Germanistik weitgehend ignoriert worden; die mehrsprachige Struktur seines Denkens und Wirkens liegt nach wie vor außerhalb des verengten Blickfelds der Nationalphilologie. Dadurch ist ein nicht unerheblicher Teil der ästhetischen Reflexionsarbeit, die einer der wichtigsten Literaturkritiker und Philosophen der Aufklärung geleistet hat, unbeachtet geblieben. Durch die Berücksichtigung von Mendelssohns in hebräischer Schrift und hebräischer Sprache formulierten Überlegungen zu den poetischen Teilen des Tanachs werde ich im Folgenden die Debatten über die hebräische Poesie in ihrem synchronen Zusammenhang über Sprach- und Schriftgrenzen hinweg nachverfolgen und neue Perspektiven für das Verständnis der Ästhetik und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zu eröffnen suchen. Mendelssohn beginnt 1774 mit seiner Übertragung der Tora; ein Prospekt mit Übersetzungsproben erscheint 1778 unter dem Titel Blätter zur Heilung ( )עלים לתרופהsowie zeitnah auch in einer deutschen Übersetzung.179 Von 1780 bis 1783 erscheint das Übersetzungswerk in Einzelbänden. Mit ihrem vollständig hebräischen Druckbild richtet sich die Ausgabe an einen jüdischen Leserkreis (Abb. 1).180 Im rechten oberen Teil der Seite ist der punktierte hebräische Bibeltext abgedruckt, links daneben die hochdeutsche Übersetzung in jüdischdeutSemantik. Die Bibelübersetzungssprache als Faktor der Auseinanderentwicklung des jiddischen und des deutschen Wortschatzes. Tübingen 2005. 178 Der hebräische Kommentar liegt seit 2009 in einer deutschen Teilübersetzung von Rainer Wenzel vor (JubA 9.3), seit 2016 ergänzt durch einen Kommentar (JubA 9.4). Vgl. Daniel Krochmalnik: Die aufgeklärte Schöpfung. Zur Übersetzung des Biur von Moses Mendelssohn. In: Jüdische Studien als Disziplin – Die Disziplinen der Jüdischen Studien. Fs. der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 1979–2009. Hg. von Johannes Heil und Daniel Krochmalnik. Heidelberg 2010. S. 245– 275. 179 Probe einer jüdisch-deutschen Uebersetzung der Fünf Bücher Moses von Herrn Moses Mendelssohn nebst rabbinischen Erläuterungen und einer am Ende angehängten Elegie übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christian Gottlob Meyer. Göttingen 1780. 180 Vgl. zum eher geringen Echo auf die Ausgabe in hebräischen Lettern in der deutschen Presse Weinberg: Einleitung. In: JubA 15.1, lxxv–lxxxi. Ausdrücklich vermerkt Joel Löwe die Abhängigkeit der Adressierung vom Schriftbild, als er von der Entscheidung berichtet, die mendelssohnsche Tora-Übersetzung von der hebräischen Umschrift, die »zum Nutzen der Juden [ «]לתועלת בני יהודהgedacht sei, in die »fremden Buchstaben [ «]לאותיות לועזותder lateinische Schrift zu übertragen, »um den [anderen] Nationen das Schöne und Gute zu zeigen, die sie auszeichnen [להראות את העמים את יפיו ( «]וטובוJoel Löwe: שירת דבורה. In: Ha-Me’assef 4 (1787/88). S. 263–271 und S. 312–324, hier: S. 263).
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Abb. 1: Seite aus Mendelssohns Tora-Ausgabe (1780).
scher Umschrift ()תרגום אשכנזי. Darunter finden sich – jeweils in hebräischer Kursive – rechts ein masoretisch-grammatischer Kommentar unter der Überschrift Berichtigungen der Schriftgelehrten ( )תקון סופריםund links der hebräische exegetische Kommentar ()באור.181 Sowohl in dem Prospekt von 1778 als auch in brieflichen Äußerungen bestimmt Mendelssohn die Übersetzung als ein Erziehungsinstrument, das die Ju181 Grit Schorch (Moses Mendelssohns Sprachpolitik. Berlin/Boston, MA 2012. S. 79 f.) beschreibt statt dieser Erstausgabe fälschlich eine spätere Ausgabe, die nach Mendelssohns Tod – um die aramäische Übersetzung sowie den Raschi-Kommentar ergänzt – veröffentlicht worden ist.
2.2 Bibelübersetzung
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den (zurück) zur Tora führen solle und damit einen »erste[n] Schritt zur Cultur« darstelle, »von welcher meine Nation leider! in einer solchen Entfernung gehalten wird« (JubA 12.2, 149). So vermittelt Mendelssohns Übersetzungsprojekt innovative Ansätze in einem Rahmen, der auf Kontinuität und Bewahrung setzt. Die Umschrift der deutschen Übersetzung trägt den Erwartungen der jüdischen Adressaten Rechnung, die Jüdischdeutsch bzw. Westjiddisch in hebräischen Buchstaben zu schreiben und zu lesen gewohnt sind.182 Der von Mendelssohn und seinen Mitarbeitern Salomo Dubno und Naphtali Herz Wessely in hebrä ischer Sprache verfasste Kommentar verbindet jüdische Kommentartraditionen mit den philosophischen und ästhetischen Ideen der Aufklärung und einer sehr vorsichtig dosierten Aufnahme von Anregungen aus der damaligen Bibelkritik.183 Der Inhalt der Bibel kann und muss in Mendelssohns Sicht aus dem Charakter und den Sitten ihrer Entstehungszeit erklärt werden, doch will er die Zuverlässigkeit ihrer Überlieferung nicht durch radikale Quellenkritik infrage gestellt wissen.184 Mit David Sorkin lässt sich in Mendelssohns Zugang eine jüdische Variante der insbesondere in norddeutschen Ländern ausgeprägten moderaten und theologienahen Aufklärung sehen.185 Innerhalb dieses Rahmens nun unternimmt Mendelssohn es, seiner jüdischen Leserschaft ein Gefühl für die poetische Eigenwertigkeit der biblischen Texte zu vermitteln.186 Unter den Bedingungen des aufklärerischen Perfektibilitätsdenkens, das durch eine enge Verflechtung ästhetischer und sozialpolitischer Argumentationsfiguren geprägt ist, liegt darin eines der drängendsten erzieherischen Anliegen der jüdischen Aufklärung.187 Neben der Übersetzung selbst dient auch 182 Thomas Kollatz: Schrift zwischen Sprachen. Deutsch in hebräischen Lettern (1765–1820). In: Aschkenas 18/19:2 (2008/09). S. 351–366; Werner Weinberg: A Word List for Teaching Eighteenth-Century Jews Some Fine Points of High German. In: LBI YB 39 (1984). S. 277–293. 183 David Sorkin: Moses Mendelssohn’s Biblical Exegesis. In: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Hg. von Michael Albrecht und Eva J. Engel. Stuttgart/Bad Cannstatt 2000. S. 243–276; Breuer: The Limits of Enlightenment, 1996; Edward Richard Levenson: Moses Mendelssohn’s Understanding of Logico-grammatical and Literary Construction in the Pentateuch. A Study of his German Translation and Hebrew Commentary (the Bi’ur). Ann Arbor, MI u. a. 1972. 184 Von dieser Haltung zeugen auch die polemischen Bemerkungen über die Praxis der Emendation in einer Mendelssohn zugeschriebenen Rezensionsnotiz für die Allgemeine Deutsche Bibliothek von 1773 (JubA 5.2, 184 f., vgl. JubA 5.4, 198–200) sowie in zwei Briefen an den Hamburger Pastor Johann Dietrich Winkler aus den Jahren 1773 und 1774 (JubA 12.2, 33 f. und S. 41–43). Zur Identifizierung des Adressaten vgl. Michael Albrecht: Moses Mendelssohn, 1729–1786. Das Lebenswerk eines jüdischen Denkers der deutschen Aufklärung. Ausstellungskatalog Herzog August Bibliothek. Wolfenbüttel 1986. S. 115 f. und Weinberg: Einleitung. In: JubA 15.1, cxxxix (Anm. 213). 185 David Sorkin: Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment. Berkeley, CA 1996; ferner David Sorkin: The Berlin Haskalah and German Religious Thought. Orphans of Knowledge. London/ Portland, OR 2000. 186 Moshe Pelli: Haskalah and Beyond. The Reception of the Hebrew Enlightenment and the Emergence of Haskalah Judaism. Lanham, MD u. a. 2010. S. 31 f. Isaac Euchel hebt diesen Aspekt 1788 in seiner hebräischen Biographie Mendelssohns besonders hervor (JubA 23, 138). 187 So wirbt Naphtali Herz Wessely 1782 in seinem hebräischem Sendschreiben Worte des Frie-
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
der Kommentar diesem Ziel. Mendelssohn macht im Bi’ur mit zahlreichen me dien‑ und übersetzungstheoretischen Hinweisen auf den besonderen Charakter der hebräischen Poesie aufmerksam. Er trägt die durch Robert Lowth beförderten Einsichten, die er 1757 mittels seiner Rezension für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste einem allgemeinen deutschen Lesepublikum vermittelt hatte (Kap. 2.1.3), in seinen hebräischen Tora-Kommentar hinein und schließt eigene Überlegungen daran an. So nimmt Mendelssohn Lamechs Rede an seine Frauen (Genesis 4,23–24) zum Anlass,188 um in seinem hebräischen Kommentar an diesem »ersten Gedicht, das aus jenen urzeitlichen Jahren auf uns gekommen ist [( «]שיר הראשון שבא לידינו משנים קדמוניות ההםJubA 15.2, 48; JubA 9.3, 70),189 das ästhetische Prinzip des Parallelismus einzuführen. Die »Herrlichkeit der Poesie [ «]וזהו תפארת השירliege darin, dass die Verse »dem Sinn nach parallel [ «]מקבילות במובןseien (JubA 15.2, 47; JubA 9.3, 68). Diese Erklärungen führt er in seiner Einführung zu Moses Schilfmeerlied (Exodus 15,1–18) weiter.190 Der Kommentar nimmt hier so viel Raum ein, dass über mehrere Seiten hinweg Bibeltext und Übersetzung gar keinen Platz mehr auf den Buchseiten finden; die zahlreichen Beispiele aus den Psalmen, dem Hohelied, den Propheten und anderen biblischen Texten sind typographisch so angeordnet, dass das poetische Prinzip des Parallelismus im Druckbild anschaulich wird (Abb. 2).191 Mendelssohn entschuldigt die ausufernde Länge seiner Ausführungen damit, dass er in anderen Tora-Kommentaren weder eine zufriedenstellende Darlegung des Phänomens noch das Bemühen gefunden habe, »den Sinn des Lesers auf die Herrlichkeit und den Glanz der Gedichte aufmerksam zu machen, die in den heiligen Büchern sind [ולהעיר נפש הקורא על תפארת והוד השירים אשר ( «]בספרי הקדושJubA 16, 134; JubA 9.3, 184).192 Mit dieser Rechtfertigungsgeste dens und der Wahrheit ( )דברי שלום ואמתfür die Würdigung der hebräischen Poesie, deren Bedeutung bislang von den Juden verkannt werde, während ihre nichtjüdischen Zeitgenossen längst festgestellt hätten, dass deren »Majestät und Schönheit […] nicht ihresgleichen haben in allen Gedichten, die aus dem Altertum vorhanden sind, die berühmt sind für ihren hohen Rang, wie die Gedichte Homers, Pindars und Horazens« (WFW, 133). 188 In Mendelssohns Übersetzung lautet die Passage: »Lemech sprach einst zu seinen Weibern, Adah und Zillah, / Hört meiner Stimme! / Weiber Lemechs! Ver- / nehmt meine Rede! / Einen Man erschlage ich / zu meiner Wunde, / Und einen Jüngling, zu meiner Beule. / Wird Kajin siben fältig gerochen, so Lemech siben und sibzigfältig« (JubA 9.1, 108). 189 Schon in seiner Lowth-Rezension hatte Mendelssohn diese Rede als »das älteste Gedicht, das in der heiligen Schrift angetroffen wird« (JubA 4, 25), bezeichnet und damit Lowths Formulierung – »a specimen of the poetry of the first ages« (LH 1, 89) – paraphrasiert. 190 Altman: Mendelssohn, 1973. S. 410–413; Weinberg: Einleitung. In: JubA 15.1, lxix f.; Daniel Krochmalnik: Das Andachtshaus der Vernunft. Zur sakralen Poesie und Musik bei Moses Mendelssohn. In: Mendelssohn-Studien 11 (1999). S. 21–47, hier: S. 34–38. 191 Vgl. zur Bedeutung der Typographie auch Gundula Schiffer: Beredtheit der Form. Die (graphische) Deutung biblisch-hebräischer Poesie in der deutschen Übersetzung von Moses Mendelssohn, 1783. Erkundet anhand des 68. Psalms. Dissertation München 2010. 192 In diesem Sinne hatte Mendelssohn sich bereits 1757 in seiner Rezension von Lowths Vorlesungen De sacra poesi Hebraeorum mit Blick auf die gesamte Rezeption und Deutungstradition des
2.2 Bibelübersetzung
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Abb. 2: Doppelseite aus Mendelssohns Tora-Ausgabe, Kommentar zu Exodus 15,1–18.
stellt Mendelssohn den innovativen Wert seines Kommentars heraus, der erstmals die formalästhetischen Aspekte biblischer Poesie ausführlich behandle. Doch präsentiert er seine Innovation nicht als umstürzlerischen Akt, sondern stellt sie sogleich in den Dienst der Religion: Die ästhetische Würdigung der biblischen Poesie nämlich solle die jungen Leute jüdischer Nation zu der Erkenntnis führen, dass »die heiligen Gedichte [ ]שירי הקדושdie profanen Gedichte [שירי «]חולweit überragen (JubA 16, 134; JubA 9.3, 184). Keineswegs ist es Mendelssohns Anliegen, die Tora durch ihre ästhetische Würdigung zu ›säkularisieren‹; vielmehr begreift er ihre poetische Schönheit als einen Aspekt ihrer Heiligkeit.193 Auf dieser Grundlage bietet Mendelssohn in seinem Tora-Kommentar einen Zugang zur hebräischen Sakralpoesie an, der zwischen verschiedenen DeutungsAlten Testaments geäußert: »So viele Köpfe sich von je her mit der heiligen Schrift […] beschäfftigt haben; so vielfältig sie übersetzt, erklärt, und bald philosophisch, bald theologisch erklärt worden ist; so wenig hat man sich Mühe gegeben, uns die Quelle der Schönheit zu zeigen, die an derselben von Kennern der Grundsprache nicht genug bewundert werden kann« (JubA 4, 20). 193 Altman: Mendelssohn, 1973. S. 412.
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und Wertungstraditionen vermittelt. Hatte Lowth erklärt, dass die Metrik der hebräischen Poesie nicht mehr rekonstruierbar sei, und den Parallelismus als letzten Überrest verlorener Versmaße verstanden,194 geht Mendelssohn aufgrund musikästhetischer Erwägungen davon aus, dass die hebräische Poesie nie me trisch gebunden war.195 Gerade den vermeintlichen Mangel der hebräischen Poesie an Metrik und Reimbindung erklärt er aber nun zum Ausweis ihrer Überlegenheit. Die Metrik der griechischen und römischen Poesie zwinge die Dichter dazu, den Sinngehalt zugunsten enger formaler Vorgaben zu verzerren. So begründet Mendelssohn den Umstand, dass »unsere Altvorderen [ «]קדמונינוauf die Versbindung zugunsten eines ungleich größeren Vorzugs verzichteten: nämlich die Anordnung der Dinge und Sätze in einer sich zu dem beabsichtigten Endzweck schickenden und darauf abzielenden Weise, damit die Worte nicht bloß ins Ohr des Hörers dringen, sondern in sein Herz und auf dessen Tafeln eingegraben bleiben, um darin Freude oder Betrübnis, Verzagtheit oder Zuversicht, Furcht oder Hoffnung, Liebe oder Haß zu erzeugen, je nach dem, was sich zur Absicht schickt, und um in seinem Innern die schätzenswerten Tugenden und die wertvollen Eigenschaften zu befestigen, gleich eingesenkten Dornen und Nägeln, ein Pflock, der nicht wanken wird. (JubA 16, 126; JubA 9.3, 163 f.)
In der semantischen Pointierung der hebräischen Poesie sind Emotionen (»Freude oder Betrübnis, Verzagtheit oder Zuversicht, Furcht oder Hoffnung, Liebe oder Hass«) und Moral (»die schätzenswerten Tugenden und die wertvollen Eigenschaften«) aufs Engste verbunden; durch ihre besonders intime Bindung an ihre musikalische Umsetzung werden diese – so Mendelssohn eindringlich unter Aufnahme einer biblischen Metapher (Sprüche 7,3 und Jeremia 17,1) – wie mit »eingesenkten Dornen und Nägeln« in die Gedächtnistafeln des Herzens eingegraben.196 Durch die gezielte »Anordnung der Dinge und Sätze« erwirke sie eine Präzision und Eindringlichkeit des semantischen Aussagegehalts, die in metrischer und gereimter Dichtung unerreichbar sei. Während Metrum und Reim einer akustischen Gefälligkeit dienlich seien, die oberflächlich bleiben müsse, erreiche die hebräische Poesie gerade durch den Verzicht auf diese formalen Strukturelemente ihre an Intensität kaum zu übertreffenden Effekte mittels einer präzise auf Wirkung berechneten syntaktischen Gedanken-Rhythmik. Mit dieser Bestimmung etabliert Mendelssohn die hebräische sakrale Poesie als vollkommenes Modell affektpoetischer Wirkungsästhetik und schreibt ihr eine besondere psychologische Funktion zu (vgl. JubA 4, 40 f.; JubA 3.1, 333–341).197 Kugel: The Idea of Biblical Poetry, 1981. S. 73 f. Vgl. ähnlich auch Johann Andreas Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Bd. 1. Leipzig 1755. Unpaginierte Vorrede. 196 Einer ähnlichen Metaphorik (»die tüchtigsten Nägel, zur Einprägung der Poesie ins Gedächtniß«) bedient sich Herder in seinen damals unveröffentlichten Fragmenten zu einer »Archäologie des Morgenlandes« (1769), um den Schöpfungsbericht mit seinen Parallelismen als die »lebendige Gedächtniskunst selbst« zu bestimmen (HSW 6, 40–45). 197 Krochmalnik: Das Andachtshaus der Vernunft, 1999. S. 34. 194 195
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In diesem Sinne gibt Mendelssohn in seinem Tora-Kommentar für die spezifische Poetizität der hebräischen Dichtung eine Begründung, die Affekttheorie mit Mnemotechnik und Musikästhetik in dem Kriterium der Kürze verbindet: Zum einen vermehren sich die Pausen und Ruhepunkte, wenn die Sätze kurz sind, und die Vermehrung der Ruhepunkte ist von großem Nutzen, um die Aufmerksamkeit zu wecken und sie im Herzen zu stärken, worauf die Sprachkundigen aufmerksam gemacht haben. Sie ist gleichfalls nützlich für das Gedächtnis. Denn der kurze Satz, hat er einen ins Herz dringenden Inhalt und Sinn, läßt sich leicht auswendig merken und bleibt mühelos zeitlebens eingeschärft und geläufig. Der zweite Grund ist der Nutzen der Musik. Wenn du nämlich einen langen Satz laut singst und ihn mit dem Spiel von Instrumenten begleitest, verdirbst zu den Sinn, und er wird dem Zuhörer nur mit großer Schwierigkeit verständlich, was sich bei einem kurzen Satz nicht so verhält. (JubA 16, 126; JubA 9.3, 165)
Die Rhythmik der hebräischen Poesie ist dieser Einschätzung zufolge durch eine Knappheit charakterisiert, die mit ›Pausen‹ und ›Ruhepunkten‹ operiert. Kürze, Ellipsen und Schweigen hatte Mendelssohn schon 1758 in seinen einflussreichen Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften und nachdrücklicher noch in der erweiterten und überarbeiteten Fassung von 1771 als Mittel des Erhabenen bestimmt (JubA 1, 204, 463, 465). Dieser Schrift sei ein kurzer Seitenblick gegönnt, weil sie die Voraussetzungen für Mendelssohns Tora-Kommentar klären hilft. In seinen Betrachtungen über das Erhabene und das Naive unterscheidet Mendelssohn zwischen dem erhabenen Stil eines Künstlergenies und dem erhabenen Gegenstand.198 Mendelssohns Leitfrage ist, inwiefern sich Ausschmückungen im Sinne des klassischen ornatus mit diesen beiden Formen des Erhabenen vertragen. Genie, Witz und Einbildungskraft eines Künstlergenies können Mendelssohn zufolge Bewunderung erregen, sofern sie sich nicht in sorgfältigen, kleinlichen Ausarbeitungen verlieren, die an einen »niedrigern Geist« gemahnten. Erhabene Gegenstände hingegen erforderten einen ungekünstelten und einfältigen Ausdruck, der auf allen »äußerliche[n] Schmuck« Verzicht leiste: »Das wahre Erhabene beschäfftiget die Kräfte unsrer Seele dergestalt,« dass alle »Nebenbegriffe« verschwinden müssen und weder Witz noch Einbildungskraft zur Anwendung kommen können (JubA 1, 196, 462). Homer und die Psalmen dienen Mendelssohn als Modelle für diese ›naive‹ Behandlung erhabener Gegenstände. Mit den verfeinerten Ausschmückungspraktiken der römischen Rhetorik seien diese einfach-erhabenen Texte, so Mendelssohn, gänzlich inkompatibel. Als abschreckendes Beispiel für diese Unvereinbarkeit dient ihm eine Nachdichtung des 19. Psalms durch den französischen Dichter Jean-Baptiste Rousseau, der die Vergleichsfiguren des Psalms durch ausschmückende Paraphrasen über Gebühr ausgedehnt und dadurch »sehr von ihrem Erhabenen herunter gesetzt« habe (JubA 1, 209 f., vgl. 477 f.). Der Franzose Rousseau und – in der überarbeiteten Vgl. zur Einordnung in die Rhetoriktradition Till: Das doppelte Erhabene, 2006. S. 347–362.
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Fassung von 1771 (JubA 1, 470) – der Römer Seneca müssen als Negativbeispiele dafür herhalten, wie die naive Erhabenheit der hebräischen und griechischen Poesie durch Verzierung beeinträchtigt und bis zur Unkenntlichkeit beschädigt wird. Diese Einsichten bestimmen Mendelssohns Übersetzungspraxis und -refle xion. Zwar zeugten nur die zahlreichen Namen für Instrumente und Gesänge noch vom rhythmisch-musikalischen Reichtum der hebräischen Dichtung (JubA 16, 126; JubA 9.3, 164 f.); die Einheit von semantischem Aussagegehalt und musikalischer Umsetzung in wirkungsästhetischer Absicht sei, wie Mendelssohn eingestehen muss, verloren gegangen. Die syntaktische Gedanken-Rhythmik der hebräischen Poesie aber könne auch dann erfahren werden, wenn sie ihrer hochentwickelten musikalischen Umsetzung beraubt sei, weil ihre Wirkung »an der Bedeutung und am Sinn des Satzes« hafte, nicht am Klang (JubA 16, 126; JubA 9.3, 166). Und ebendiese Eigenschaft – in einer semantischen Rhythmik statt in Metrum und Reim gebunden zu sein – macht sie Mendelssohn zufolge auch besonders gut übersetzbar. Der »poetische Glanz [ «]ההוד השיריder hebräischen Dichtungen bleibe auch im Übersetzungsprozess intakt, weil die »Lieblichkeit des Inhalts [ «]עריבת עניןin ihrer syntaktischen Ordnung übermittelt werden könne (JubA 16, 126 f.; JubA 9.3, 166). Während lateinische und griechische Gedichte in Übersetzungen ihren Reiz verlören, da sich ihre in Metrum und Reim manifeste Klangseite nicht in eine andere Sprache übertragen lasse, betont Mendelssohn schon in seiner Lowth-Rezension, dass man bei hebräischen Dichtungen den »poetischen Geist« selbst in einer Übersetzung erkenne, wenn diese »nur genau nach den Worten eingerichtet« sei (JubA 4, 25). Eine solche Einrichtung »genau nach den Worten« aber verlangt vom Übersetzer einen rigorosen Verzicht auf die Techniken der Ausschmückung und der Paraphrase, die in christlichen und jüdischen Bibelnachdichtungen bis weit ins 18. Jahrhundert gang und gäbe gewesen waren. In zwei verschiedenen Publikationskontexten – seinen deutschen Betrachtungen über das Erhabene und das Naive und seinem hebräischen Tora-Kommentar – ringt Mendelssohn mit der Frage, wie die hebräische Dichtung als erhabene Poesie des Altertums in die Gegenwart übertragen werden und Wertschätzung erfahren könne. Seine übersetzungstheoretischen Erörterungen sind jeweils auf das angesprochene Publikum zugeschnitten und lassen doch den gemeinsamen Reflexionshorizont erkennen. Wie Mendelssohn als Literaturkritiker das »orientalische Dichtungssystem« als Modell für gegenwärtige Dichter sorgsam vom nordischen und griechischen unterscheidet (Kap. 2.1.2), so bindet er an diese Unterscheidung auch eine spezifische Übersetzungspraxis. Aus der Analyse ihres poetischen Eigensinns folgt die Einsicht, dass dem wirkungsästhetischen Potential der hebräischen Poesie nur eine deutsche Übersetzung gerecht werden kann, die aufs Genaueste ihrem syntaktisch-semantischen Rhythmus folgt und dafür auf Reim und Metrum verzichtet. Die Einsicht in den poetischen Eigensinn der
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hebräischen Poesie dient mithin nicht nur Herder und anderen als Steilvorlage für die Erweiterung der Möglichkeiten poetischen Sprechens im Deutschen (Kap. 2.1.3), sie provoziert Mendelssohn und seine Nachfolger auch dazu, neue Übersetzungstechniken und Darstellungsformate in den jüdischen Überlieferungszusammenhang einzuführen. In Mendelssohns Präsentation der hebräischen Poesie wird mithin seine Position als jüdischer Aufklärer greifbar, der literarisches und religiöses Traditionsverhalten zwischen deutschen und hebräischen Sprachkontexten, christlichen und jüdischen Wissenstraditionen und Leserkreisen sowie zwischen Bewahrung und Innovation vermittelt. 2.2.2 Dezenter Orientalismus Mendelssohns Übersetzung der Psalmen (1783) Nachdem Mendelssohn den Exodus-Kommentar mit seiner langen Ausführung zur ästhetischen Qualität von Moses Schilfmeerlied und der hebräischen Poesie insgesamt abgeschlossen hat, entscheidet er sich im Mai 1782, seine Übersetzungen einzelner Psalmen, an denen er seit 1769 arbeitet, zu vervollständigen und zu veröffentlichen.199 Im Gegensatz zu seiner deutschen Tora-Übersetzung in hebräischer Umschrift, die mit einem hebräischen Kommentar versehen ist und sich vornehmlich an jüdische Leserkreise richtet, präsentiert er seine deutsche Psalmenübersetzung in Frakturdruck ohne jeden Kommentarapparat der Öffentlichkeit der deutschen Spätaufklärung. Mendelssohns spannungsreiche Position zwischen diesen beiden Adressatengruppen soll im Folgenden genauer konturiert werden, um schließlich klären zu können, welche Rolle der Orientalismus für Mendelssohns Umgang mit der hebräischen Poesie spielt. Wohl nicht zuletzt in Reaktion auf seine Konfrontation mit Johann Caspar Lavaters missionarischem Eifer begonnen,200 will Mendelssohn die Psalmen durch seine Übersetzung von christologischen Deutungen befreien und sie im Sinne der Aufklärung »mit vernünftiger Erbauung« zu lesen erlauben (JubA 12.1, 328; vgl. JubA 13, 334). Er setzt sich sowohl von dem konfessionell gebundenen Psalter Luthers als auch von älteren jüdischdeutschen Übersetzungen ab; und er bietet eine Alternative zu den neueren Übersetzungen protestantischer Theolo199
Mendelssohn hatte zunächst um 1770 nur etwa zwanzig Psalmen als ›Probe der lyrischen Poesie der Hebräer‹ publizieren wollen (JubA 12.1, 233). Vgl. grundlegend die auf Arbeiten von Simon Rawidowicz basierende Einleitung zu Mendelssohns Psalmenübersetzung von Werner Weinberg in JubA 10.1, ix–lv; für einen teils korrekturbedürftigen Überblick auch Walter Pape und Gideon Toury: Nachwort. In: Die Psalmen. Übertragen von Moses Mendelssohn. Hg. von Walter Pape. Zürich 1998. S. 229–254; ferner Walter Pape: »Lies du eben so, mein Leser! wie ich geschrieben habe«. Mendelssohns Lyriktheorie und seine Übersetzung der Psalmen. In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Würzburg 2006. S. 17–34. 200 Altman: Mendelssohn, 1973. S. 244.
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gen. Während Johann David Michaelis (1771) und Georg Christian Knapp (1778) unter dem Leitstern philologischer Treue übersetzen, geht Mendelssohn in seinen affektbetonten Übertragungen – zumal unter Verzicht auf einen Kommentar – sehr frei vor;201 anders als der Klopstock-Freund Johann Andreas Cramer in seiner Poetischen Übersetzung (1755–1764) verzichtet Mendelssohn auf Versmaß und Reimschemata.202 So konturiert Mendelssohn eine eigenständige Autorposition im zunehmend unübersichtlichen Feld der Psalmendeutung und Psalmenpräsentation.203 Er wage es mit dieser Veröffentlichung, wie er im Vorwort erklärt, »den lyrischen Dichter meiner Nation, der den Deutschen von so mancherley Seiten bekannt ist, auch von Seiten seiner poetischen Schönheit zu erkennen zu geben« (JubA 10.1, 5). Den ›lyrischen Dichter‹ David für die jüdische ›Nation‹ reklamierend und sich als deren Mitglied vorstellend, will Mendelssohn, sowohl jüdische als auch christliche messianische Deutungen ignorierend, seinem deutschen Publikum die ästhetische Seite der Psalmen vermitteln, sie als erhabene religiöse Poesie des Altertums lesbar machen.204 Ausdrücklich versteht er dieses Unterfangen als Präsentation einer jüdischen nationalkulturellen Tradition. 201
Weinberg: Einleitung. In: JubA 10.1, xxii. Vgl. auch Mendelssohns Brief an Christian Garve vom 22. April 1783 (JubA 13, 103) und eine ihm zugeschriebene Rezension zweier anderer Psalmenübersetzungen für die Allgemeine Deutsche Bibliothek aus dem Jahre 1774 (JubA 5.2, 207). 202 In Cramers Behandlung der Psalmen tut sich ein Widerspruch auf zwischen seinen Einsichten in den poetischen Eigensinn der Psalmen, die er besonders ausführlich in einer Abhandlung Von dem Wesen der biblischen Poesie darlegt (Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen. Bd. 1 (1755). S. 255–290), und seinen an überkommenen Darstellungskonventionen orientierten Übersetzungen. Symptomatisch ist, dass er in seiner Abhandlung Von den Vorzügen der Schreibart in den Psalmen als Beleg für deren Einfalt und Kürze nicht etwa seine eigene, sondern eine lutherische Übertragung anführt (Cramer: Poetische Übersetzung der Psalmen. Bd. 4 (1764). S. 295 f.). Mendelssohn verhält sich zu Cramers Übersetzungen distanziert bis ablehnend. In seiner Lowth-Rezension erklärt er 1757, deutsche Leser könnten in den »Cramerischen Psalmen« eine deutsche Übersetzung des 24. Psalms lesen, »die wenigstens nach unserm heutigen Geschmacke das Original gewissermassen übertrifft« (JubA 4, 51). In einer Rezension zu Ramlers Oden urteilt er 1768 ähnlich zweideutig, Cramer habe »den orientalischen Ungestüm in deutsche Stanzen« gemildert (JubA 5.2, 83). In einem Briefentwurf an Michaelis vom Mai 1770 wendet er sich scharf gegen Cramers christologische Deutungen (JubA 12.2, 328). 203 Bernd Auerochs: Göttliche und menschliche Schrift. Ps. 110 als Exemplum. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von Daniel Weidner. Berlin 2008. S. 246–277. 204 Weinberg: Einleitung. In: JubA 10.1, xxxiii–xxxvi. Ebenso erwartet er auch von Michaelis, dass dieser die Psalmen »als Poesie« behandeln werde, »ohne auf das Prophetische und Mystische zu sehen, das sowohl christliche als jüdische Ausleger bisher in den Psalmen gesucht haben, als wenn die Psalmen in einem Kloster, von irgend einem bußfertigen Mönche verfertiget worden wären« (JubA 12.1, 233). Er zeigt sich nach Erscheinen von Michaelis’ Psalmenübersetzung in einem Brief an Johann Georg Zimmermann vom November 1771 enttäuscht darüber, dass Michaelis diese Erwartungen nicht erfüllt (JubA 12.2, 22). Vgl. zum Kontext auch Karlfried Gründer: Johann David Michaelis und Moses Mendelssohn. In: Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Jakob Katz und Karl Heinrich Rengstorf. Tübingen 1994. S. 25–50.
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In der konkreten Übersetzungsarbeit bringt Mendelssohn seine Überlegungen zur Kürze als Kriterium von Erhabenheit und affektiver Wirksamkeit zur Anwendung und verhilft damit dem ästhetischen Eigensinn der Psalmen, wie er sich im Lichte seiner theoretischen Reflexion darstellt, im Deutschen zum Ausdruck. Das wird einsichtig, wenn man seine Übertragung von Psalm 6,11 der lutherschen Übersetzung gegenüberstellt. Letztere lautet: »Es müssen alle meine feinde zu schanden werden, und sehr erschrecken: sich zurücke kehren, und zu schanden werden plötzlich.«205 Mendelssohn dagegen: »Schmachvoll stürzen meine Feinde alle / Zurück! ein Wink! – sie sind zu Schanden!« (JubA 10.1, 16).206 Bei seiner Nachempfindung der hebräischen Rhythmik orientiert sich Mendelssohn an den masoretischen Akzentmarkierungen, deren Funktion er nicht selten mittels Ausrufezeichen wiedergibt.207 Während die protestantischen Theologen der überlieferten Punktierung und den prosodischen Akzentmarkierungen in vielen Fällen nicht folgen und den Textbestand emendieren, gelangt Mendelssohn ausgehend von der masoretischen Texttradierung zu einer modernen, affektbetonten Übertragung der Psalmen, die diese unter wirkungsästhetischen Vorzeichen als poetische Zeugnisse des jüdischen Altertums präsentieren soll. Dieses Anliegen verfolgt er auch mit der Ausstattung seiner Psalmenausgabe, auf die er gezielt Einfluss zu nehmen versucht.208 Dabei orientiert er sich an einer einflussreichen Gedichtsammlung, die 1774/78 in Oktav, verziert mit Vignetten von Johann Wilhelm Meil, bei Weidmann und Reich in Leipzig erschienen war: der Lyrischen Bluhmenlese von Karl Wilhelm Ramler. In einem Brief an Friedrich Nicolai vom 27. Mai 1782 erklärt Mendelssohn, seine Psalmenübersetzung solle im Format von Ramlers Lyrischer Bluhmenlese – »mit denselben Lettern und auf demselben Papiere« – erscheinen (JubA 13, 54).209 Mendelssohn will, daran lässt er keinen Zweifel aufkommen, die Psalmen als ästhetisch wertvolle Lyrik auf dem damaligen Literaturmarkt platzieren. Diesem Anspruch gemäß stattet der junge Berliner Verleger Friedrich Maurer, der zeitgleich auch Mendelssohns religionsphilosophische Schrift Jerusalem verlegt, den eleganten Oktavband der Psalmenausgabe mit zwei runden Vignetten von Johann Wilhelm Meil aus. Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 557. Vgl. mit weiteren Beispielen Weinberg: Einleitung. In: JubA 10.1, xxix–xxxiii. 207 Levenson: Mendelssohn’s Understanding, 1972. S. 48. 208 Vgl. zum Kontext grundlegend Wolfgang von Ungern-Sternberg: Schriftstelleremanzipation und Buchkultur im 18. Jahrhundert. In: Jb. für Internationale Germanistik 8:1 (1976). S. 72–98; speziell Günther Holzboog: Moses Mendelssohn und die Situation von Autor und Verleger im 18. Jahrhundert. In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Hg. von Michael Albrecht u. a. Tübingen 1994. S. 215–248. 209 Altman: Mendelssohn, 1973. S. 501 und S. 838 (Anm. 49). Altman zufolge bezieht Mendelssohn sich hier nicht auf die Erstausgabe von 1774/78, sondern auf einen Nachdruck, der 1780 mit orthographisch leicht abgeändertem Titel (Blumenlese statt Bluhmenlese) bei Christian Gottlob Schmieder in Karlsruhe in Großoktav gedruckt worden war. Einen Beleg dafür konnte ich nicht auffinden; es scheint mir unwahrscheinlich. 205
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Mendelssohns Psalmenausgabe ist nicht nur in ihrer Buchgestaltung an der Lyrischen Bluhmenlese orientiert, sondern deren Herausgeber auch gewidmet. Im Zueignungsschreiben erklärt Mendelssohn, er vertraue seine Übersetzung der »kritischen Muse« Ramlers an, ohne dessen Beifall er niemals Dichtwerke, am wenigsten lyrische, herauszugeben raten dürfe (JubA 10.1, 5). Tatsächlich ist Ramler dafür berühmt und berüchtigt, dass er weitreichende normative Gestaltungs- und Bearbeitungsmacht über die Lyrikproduktion der Zeit ausübt; er gilt als regelstrenger, mustergültiger Dichter und als gnadenloser, pedantischer Redaktor.210 So versammelt die von ihm herausgegebene Lyrische Bluhmenlese stark bearbeitete Gedichte verschiedener zeitgenössischer Dichter ohne Verfasserangaben.211 Die Pointe der Widmung besteht darin, dass Mendelssohn mit seiner Psalmenübersetzung ebendas tut, wozu er seiner Zueignungsschrift zufolge keineswegs raten dürfe: Er veröffentlicht seine Übersetzungen, bevor Ramler diese verbessert hat, und widmet sie ihm in bereits publizierter Form. Zwar bedient sich Mendelssohn im Zueignungsschreiben einiger Demutsgesten, um sein Vorgehen zu rechtfertigen, doch kehrt die gleichsam pflichtschuldige Bitte um verbessernde Bearbeitung eines bereits veröffentlichten Werks umso deutlicher seine selbstbewusste Eigenständigkeit hervor. Es hat eine durchaus hintergründige Note, wenn Mendelssohn sich in seiner Zueignung an Ramler, der als ›deutscher Horaz‹ gefeiert wird, sicher zeigt: »Sie würden meiner rauhen Arbeit den unnachahmlichen Schmelz, die meisterhafte Eleganz verliehen haben, die bis zu Ihrer Zeit der deutschen Sprache unerreichbar zu seyn schien« (JubA 10.1, 5). Damit, so muss man vor dem Hintergrund mendelssohnscher Übersetzungsreflexion hinzudenken, wäre es um die naive Erhabenheit der Psalmen geschehen gewesen; ihre ›rauhe‹ Schönheit wäre durch ›Schmelz‹ und ›Eleganz‹ entschieden herabgesetzt und ihr ästhetischer Eigensinn nicht mehr spürbar. Mendelssohn war ja zu der Einsicht gelangt, dass die he bräische Poesie ihre Erhabenheit einbüße, wenn sie metrisch gebunden und mit rhetorischen Ausschmückungen versehen werde. Sein Versuch, die GedankenRhythmik der hebräischen Psalmen unverstellt in freien Versen nachzubilden und so ihren erhabenen Charakter zu übermitteln, ist mithin nur unter Umgehung einer glättenden redaktionellen Bearbeitung durch Ramler realisierbar. Indem er dem großen Vorbild Ramler die Glättung seiner »rauhen Arbeit« zugleich anbietet und verweigert, vollführt Mendelssohn einen Drahtseilakt, um seine 210
Alexander Košenina: Ein deutscher Horaz? Karl Wilhelm Ramler in der zeitgenössischen Rezeption. In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Hg. von Laurenz Lütteken u. a. Göttingen 2003. S. 129–152, hier: S. 129. 211 Hans-Joachim Kertscher: Karl Wilhelm Ramler als Herausgeber. In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Hg. von Laurenz Lütteken u. a. Göttingen 2003. S. 95–128, hier: S. 117–121; vgl. auch Carsten Zelle: Autorschaft und Kanonbildung. Barrieren der Ramler-Rezeption in der Neugermanistik. In: Literatur und Kultur des Rokoko. Hg. von Matthias Luserke u. a. Göttingen 2001. S. 153–172.
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Übersetzung der Psalmen im literaturkritischen Diskurs der Zeit zu positionieren. Er bekennt sich programmatisch zu den klassizistischen Geschmacksidealen der Aufklärung – und unterläuft diese zugleich. In diesem Zwiespalt haben orientalistische Beschreibungsformeln und Denkfiguren, wie zu zeigen sein wird, für Mendelssohn eine primär apologetische Funktion, die er freilich nur in den Hinterzimmern des spätaufklärerischen Diskurses erprobt. Zu den aufschlussreichsten Dokumenten der Entstehung von Mendelssohns Psalmenübersetzung gehört sein Briefwechsel mit Michaelis, der um 1770 selbst an einer Übertragung der Psalmen arbeitet. Mendelssohn bezieht in seinen Briefen klar Position. So erklärt er am 12. November 1770, er sei mit den vorhandenen poetischen Psalmenübersetzungen noch weniger zufrieden als mit den prosaischen: »Wo sie auch zufälliger Weise den Sinn treffen, da verderben sie doch durch das occidentalische Versgebäude das Eigenthümliche der hebräischen Dichtkunst« (JubA 12.1, 233).212 Mit der pauschalen Kategorie ›occidentalischer Versgebäude‹ weist Mendelssohn eine disparate Vielfalt von Alexandrinergedichten über Oden- bis hin zu Kirchenliedstrophen zurück, die seit der Barockzeit für Paraphrasen, Übersetzungen und Nachdichtungen der Psalmen verwendet werden.213 Für Mendelssohn, der die intensive Wirkung der hebräischen Poesie und ihre Hochrangigkeit gerade im Fehlen einer Versbindung durch Metrum und Reim begründet sieht (Kap. 2.2.1), verzerren diese Verfahren »das Eigen thümliche der hebräischen Dichtkunst«; die ›occidentalischen Versgebäude‹ zerstören die feine, orientalische Gedanken-Rhythmik der Psalmen. Um ebendiese originale Gedanken-Rhythmik ist es Mendelssohn zu tun. Er erklärt im zitierten Brief an Michaelis weiter, er selbst habe einige Psalmen »in einem freyen Sylbenmaße, das dem Hebräischen, meinem Gehöre nach, ziemlich nahe kömmt, ins Deutsche übersetzt« (JubA 12.1, 233). Statt der hebräischen Poesie im Übertragungsprozess ein ›occidentalisches Versgebäude‹ überzustülpen, will Mendelssohn sich ihrer »Eigenthümlichkeit« über das Gehör annähern und mit einem »freyen Sylbenmaße« im Deutschen ihren syntaktischen Rhythmus nachahmen. Vor dem Hintergrund dieser Übersetzungsreflexionen kann es nicht überraschen, dass Mendelssohn Herders Übertragungen hebräischer Poesie, etwa des Hohelieds, begeistert aufnimmt (JubA 12.2, 194); schließlich verzichtet Herder um der »uralten hebräischen Einfalt« des Originals willen ausdrücklich auf »Silbenmaße nach deutschen Mustern« (FHA 3, 483). Anders als Herder aber will Mendelssohn die Maßstäbe der Aufklärung und ihrer rationalistischen Poetik nicht relativieren oder gar einreißen; vielmehr sucht er nach Wegen, wie die he bräische Dichtung in ihrem ästhetischen Eigensinn als eine Poesie des Altertums vor diesen Maßstäben bestehen könne. Sein Umgang mit den Psalmen ist mithin 212
Vgl. auch einen früheren Entwurf dieses Briefs (JubA 12.1, 327 f.). Erich Trunz: Psalmendichtung. In: RLG 3 (1977). S. 283–289; Inka Bach und Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung. Berlin/New York, NY 1989, bes. S. 150–154. 213
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zwiespältig: Sein manifester Wille, ihre Eigentümlichkeit zu würdigen, gerät immer wieder in Widerspruch zum Geschmacksurteil des Aufklärers, der Herders »übertriebene Empfehlung rauher Zeiten und Völker« (JubA 5.2, 307) nicht goutieren kann. Während Herder zeitgleich in seiner Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) einen ästhetischen Traditionsbruch inszeniert, indem er die Psalmen als orientalische Ursprungspoesie feiert, die sich mit dem überkommenen literaturkritischen Instrumentarium europäischer Normpoetik nicht erschließen und würdigen lasse (Kap. 2.1.3), präsentiert Mendelssohn seine Psalmenübersetzung vermittelnd als ein Werk der Spätaufklärung und macht nur äußerst dezent von orientalistischen Bezeichnungen und Charakterisierungen Gebrauch. In Herders und Mendelssohns Orientalismus zeichnen sich mithin die verschiedenen Positionen und Strategien der beiden bedeutendsten und innovativsten Übersetzer alttestamentlicher Dichtung im 18. Jahrhundert ab. Wie ich im Folgenden an Mendelssohns brieflich dokumentierten Reflexionen und seiner Auseinandersetzung mit dem 22. Psalm nachweisen werde, pflegt er einen gleichsam klandestinen, apologetischen Orientalismus. Er deklariert die Psalmen nicht in einem emphatischen Sinn als orientalische, ursprüngliche, raue, aber er behandelt sie stillschweigend und umsichtig als solche. Dieses Vorgehen ist, so wird sich zeigen, in dieser literaturgeschichtlichen Umbruchszeit ebenso konstitutiv wie charakteristisch für den Umgang des jüdischen Aufklärers mit der hebräischen Poesie. So nachdrücklich Mendelssohn die ›poetische Schönheit‹ und die affektpoetische Wirkung der Psalmen öffentlich rühmt, so schonungslos fallen die literaturkritischen Verdikte aus, die er in Privatbriefen über sie fällt. In einem Brief an Johann Georg Zimmermann vom November 1771 schreibt er, bei vielen der besonders leicht verständlichen Psalmen finde er Verse, ohne Verbindung, bald Wiederholungen eines und eben desselben Gedankens, bis zum Überdruße, bald Sprünge und Ausweichungen, die keine Begeisterung rechtfertigen kann. Man könnte die Verse in jeder andern Ordnung auf einander folgen lassen, ohne daß der Zusammenhang merklich schlechter würde. (JubA 12, 21 f.)
Selbst mit relativierenden Konzepten wie der ›schönen Unordnung‹ der Ode (Boileau) und affekttheoretischen Begründungen, die Mendelssohn beispiels weise in seinem Fragment Von der lyrischen Poesie (1777/78) anwendet, um die Brüche und Sprünge in manchen Psalmen zu erklären,214 können viele Psalmen mit ihren abrupten Wechseln und Digressionen nicht vor dem literaturkritisch geschulten Urteilsvermögen des jüdischen Aufklärers bestehen. Diese Psalmen sind seiner Ansicht nach in ihrer Zusammenhanglosigkeit und Beliebigkeit 214 Moses Mendelssohn: Von der Lyrischen Poesie. Im J[ahr] 1778. In: Neue Berlinische Monatsschrift 12:2 (1810). S. 298–311, hier: S. 307. Vgl. auch JubA 3.1, 333–341, wo allerdings die editorischen Anmerkungen Nicolais fehlen.
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schlicht »mittelmäßige Gedichte«. Die vortrefflichsten Psalmen hingegen erfordern, so Mendelssohn im selben Brief an Zimmermann, hermeneutische Mühen ganz anderer Art. Zwar seien sie als »wahre Muster in der lyrischen Dichtungsart« zu erkennen, aber in ihrer Bedeutung oftmals so schwer zu erschließen, »daß Sie hineinlegen können, was Sie wollen« (JubA 12.2, 22). Herausgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext und möglicherweise ferner verdunkelt durch Textkorruption, sind diese ›wahren Muster in der lyrischen Dichtungsart‹ der Deutungswillkür späterer Interpreten ausgesetzt, und zwar vor allem der Willkür messianischer Deutungen. Mendelssohn nun glaubt bei genauerer Untersuchung topische und lebensweltliche Anlässe aus den traditionell als Weissagungen des Messias interpretierten Psalmen rekonstruieren und daraus ihre Gattung bestimmen zu können. So sieht er im 49. Psalm eine »satyrische Ode auf den Geitz« und im 110. Psalm eine »Schmeicheley […], die ein Hofdichter dem David gemacht, als sein Feldherr Rabba belagerte« (JubA 12.2, 22). Satire und Panegyrik also, der Topos des Geizes und ein geschichtliches Kriegsereignis, erklären Mendelssohn zufolge den dunklen Bedeutungszusammenhang dieser beiden Psalmen. Mendelssohn skizziert hier brieflich einen Ansatz, die Psalmen in anlassbestimmte Gattungen einzuteilen und in ihrem Entstehungskontext zu verorten, den Herder später in seinem umfangreichen Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) fulminant vorführt und den Hermann Gunkel hundert Jahre später mit der Prägung ›Sitz im Leben‹ in der alttestamentlichen Theologie etabliert.215 Allerdings ist dieser Ansatz aus Mendelssohns Übersetzung der Psalmen nur indirekt erschließbar. Unter Verzicht auf einen Kommentar lässt er seine hermeneutischen Einsichten allenfalls stillschweigend durch Umstellungen, Unterteilungen und Einklammerungen sowie durch die Kennzeichnung von Chorpartien in die Übersetzung einfließen.216 Ganz bewusst biete seine Psalmenausgabe, so erklärt er in der Vorrede An den Leser, »die Psalmen, so wie sie sind, ohne alle kritische Wehr und Waffen, ohne Streit mit andern Uebersetzern, ohne Anmerkungen und Erläuterungen« (JubA 10.1, 7). Sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch fordert Mendelssohn eine ästhetische Würdigung der Psalmen ein, die ohne Kommentar auskommt. So fordert er seine Leser auf: »vergiss auf eine kurze Zeit alles dessen, so du von diesem Psalm bey Uebersetzern, Auslegern und Paraphrasten gelesen hast; lies meine Uebersetzung, und urtheile!« (JubA 10.1, 6). Zwar kündigt Mendelssohn trotzdem einen Kommentar zu seiner Psalmenübersetzung an, doch ist dieser gegenüber dem in der Vorrede eingeforderten unverstellten Zugang von vornherein als zweitrangig, wenn nicht gar als störendes Element markiert: Für die von Mendelssohn intendierte Präsentation der Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 1969. S. 342–362. Weinberg: Einleitung. In: JubA 10.1, xx f. und xxiv–xxvi.
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Psalmen als erbaulich-aufklärerische Lyrik, die – befreit von den Schichten ihres liturgischen Gebrauchs und ihrer konfessionellen Auslegung – als semantisch rhythmisierte Affektpoesie auf die modernen Leser wirken soll, ist gerade ihre Unabhängigkeit von Anmerkungsapparaten entscheidend. Tatsächlich erscheint der angekündigte Kommentar nie. Dass Mendelssohn mit der Arbeit an einem solchen Kommentar aber immerhin begonnen hat, belegen fragmentarische Anmerkungen zu einigen Psalmen, die sich im Nachlass gefunden haben (JubA 10.1, 229–236) und die über Mendelssohns Übersetzungsverfahren und dessen Reflexion Aufschluss geben. Am Beispiel von Mendelssohns Übersetzung und Kommentierung des 22. Psalms werde ich nun aufzeigen, welche Funktionen orientalische Topoi und orientalistische Zuschreibungen für die drei wichtigsten Ziele haben, die Mendelssohns Umgang mit den Psalmen bestimmen: sie ihrer messianischen Deutungstraditionen zu entkleiden, ihre Inkohärenz zu rechtfertigen und sie als Monumente des jüdischen Altertums zu würdigen. Der 22. Psalm gilt christlichen Exegeten bis weit ins 19. Jahrhundert als Weissagung Jesu.217 Noch in Bibelausgaben des 20. Jahrhunderts ist dieser Psalm mit dem Hinweis »Jesu Leidenspsalm« versehen. Diese Deutungstradition beruft sich darauf, dass der Psalm im Neuen Testament mehrmals im Zusammenhang mit der Passionsgeschichte zitiert wird.218 Alle deutschen Psalmenübersetzungen und ‑kommentare, die Mendelssohn vorliegen, schließen sich dieser Lesart an.219 Mendelssohn nun ist sichtlich bemüht, den Psalm dieser christlichen Lesart zu entziehen. Ein Beispiel mag sein Vorgehen illustrieren. Im dritten Teil des dreigliedrigen 17. Verses ( )כארי ידי ורגליliest man seit der Septuaginta-Übersetzung ›( כרוsie durchgruben‹) statt ›( כאריwie ein Löwe‹), sodass der Versteil sich mit dem Satz ›Sie haben meine Hände und Füße durchgraben‹ oder ›verwundet‹ übersetzen lässt.220 In dieser Bedeutung wird der Versteil im christlichen Kontext als Weissagung der Kreuzigung Jesu verstanden.221 Mendelssohn versucht dieses Einfallstor für christologische Deutungen zu schließen, indem er am Textbestand ›( כאריwie ein Löwe‹) festhält (JubA 10.1, 35). Während 217 Hans-Joachim Kraus: Psalmen 1–59. Bd. 15.1 der Reihe Biblischer Kommentar. Altes Testament. Hg. von Arndt Meinhold u. a. Neukirchen-Vluyn 72003. S. 332–334. 218 In Johannes 19,24 zum Beispiel erfüllen die Knechte, die Jesus gekreuzigt haben, explizit den 19. Vers des 22. Psalms: »Sie theilen meine Kleider unter sich, und werfen das loos um mein Gewand« (Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 566). 219 Vgl. z. B. Johann David Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments, mit Anmerkungen für Ungelehrte. Bd. 6. Göttingen 21782. S. 28 und S. 40 f. des Anmerkungsteils; Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen. Bd. 3 (1763). S. 210–228. Herder bildet eine Ausnahme; er erklärt den Psalm 1783 mit seiner tröstenden Funktion für die Israeliten (FHA 5, 1293 f.). 220 Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 566; Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 30; Georg Christian Knapp: Die Psalmen. Übersetzt und mit Anmerkungen. Halle 21782. S. 43. 221 Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 45 des Anmerkungsteils.
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bei Michaelis Satz- und Versgrenze übereinkommen,222 übergeht Mendelssohn die mit masoretischen Zeichen klar markierte Versunterteilung und zieht mitten durch den dritten Teil von Vers 17 eine syntaktische Trennlinie (»Einem Löwen gleich. Hände, Füsse«). Er verbindet die letzten beiden Wortgruppen von Vers 17 ( )ידי ורגליmit dem ersten Teil von Vers 18 ( )אספר כל־עצמותיzu einer Sinneinheit, sodass sich ein Enjambement (»Hände, Füsse, / Alle meine Glieder zähl’ ich«) zwischen Vers 17 und Vers 18 ergibt. Mendelssohns Übersetzung
Michaelis’ Übersetzung
Denn Hunde haben mich umringet, Der Frevler Rotte mich umgeben, Einem Löwen gleich. Hände, Füsse,
Denn Jäger haben mich umgeben, Die Rotte der Uebelthäter hat mich umringet, Sie haben meine Hände und Füsse verwundet,
Alle meine Glieder zähl’ ich; Sie schiessen grimm’ge Blick’ auf mich.
Alle meine Knochen kann ich zählen, Sie beschauen mich, und sehen ihre Lust an mir.
So schöpft Mendelssohn alle Möglichkeiten aus, um eine alternative Lesart des Psalms denkbar werden zu lassen. Auch den berühmten ersten Halbvers des 22. Psalms ()אלי אלי למה עזבתני, den Jesus den Evangelienberichten zufolge auf Aramäisch am Kreuz ausruft (Matthäus 27,46 und Markus 15,34),223 verfremdet er. Mendelssohn folgt hier nicht der eingängigen lutherischen Übersetzung (»Mein GOtt, mein GOtt, warum hast du mich verlassen?«),224 sondern Georg Christian Knapp mit einer präsentischen Übertragung: »Mein Gott! mein Gott! warum verlässest du mich?« (JubA 10.1, 34).225 Zusätzlich zur Emphase der wiederholten Anrufung Gottes durch zwei Ausrufezeichen, darin ebenfalls Knapp folgend, verleiht Mendelssohn der atemlos verzweifelten Klage des bedrängten Sprechers im ersten Psalmenteil (V. 2–22) mit dieser Variante einen radikal gegenwärtigen Auftakt und betont so die Unabgeschlossenheit des Vorgangs. Der Sprecher ist noch nicht von Gott verlassen, er hofft inständig auf seine Hilfe. Mendelssohn betont dies in einem späteren Abschnitt mit gleich vier Ausrufezeichen, die den 20. Vers in kurze Sprechstöße zerteilen: »Aber du, Ewiger! sey nicht fern! / Eile, meine Stärke! mir zu Hülfe!« (JubA 10.1, 35).226 Mendelssohns Übersetzungspraxis lässt sich hier als Doppelstrategie bestimmen: Zum einen erzeugt Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 30. In der Lutherübersetzung wird an diesen Stellen der hebräische Vers des Psalms in Transkription wiedergegeben: »Eli, Eli, lama asabthani?« (Evangelische Original-Bibel. Bd. 2 (1741). S. 40 und S. 65). 224 Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 565. 225 Knapp: Die Psalmen, 1782. S. 42. 226 In Luthers Übersetzung ist die rhythmische Ordnung des Verses, die insbesondere in der Mitte des zweiten Halbverses durch masoretische Akzentmarkierungen verstärkt ist, mit Kommata und einem Doppelpunkt umgesetzt. Vgl. Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 566: »Aber Du, HErr, sey nicht ferne: meine stärcke, eile mir zu helfen.« 222 223
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er, verstärkt durch typographische Interjektionsmarkierungen, Effekte von Intensität, Unmittelbarkeit und Erhabenheit und verhilft dem Psalm zu affektpoetischer Kohärenz. Zum anderen verfremdet er dadurch gerade diejenigen Verse, die der messianischen Deutung des 22. Psalms als Weissagung Christi in die Hände spielen.227 Beide Aspekte verhandelt Mendelssohn in seinem Anmerkungsfragment zu diesem Psalm im Rahmen orientalistischen Wissens. Gegen mögliche Zweifel an der literarischen Qualität des Psalms macht er die Eigenart morgenländischen Dichtens stark; gegen christologische Lesarten bietet er den lebensweltlichen Kontext des Morgenlands und dessen Tradierung im jüdischen rituellen Jahreszyklus auf. Wie im Falle der Psalmen 49 und 110 sucht Mendelssohn in seinem Kommentarfragment zunächst nach einem konkreten Anlass für den 22. Psalm: »Die Veranlassung zu diesem Gedichte scheint eine Jagd gewesen zu seyn. Von einer Hindinn, die früh gejagt wird, sagt die Überschrift« (JubA 10.1, 232). Im Widerspruch zu seiner eigenen Übersetzung der Psalm-Überschrift mit dem Ausdruck »dem Sangmeister auf der Morgenflöte« (JubA 10.1, 34), die den neueren Übersetzungen von Michaelis und Knapp folgt,228 greift Mendelssohn in seinem Anmerkungsfragment die lutherische Fassung auf,229 ohne freilich der christologischen Deutung (Hindin als Jesus-Präfiguration) oder der rabbinischen Auslegungstradition (Hindin als Allegorie Esthers) zu folgen.230 Vielmehr gilt sie ihm als Indikator für die Veranlassung des Gedichts. Wenn eine Hirsch kuh unablässig von Jagdhunden verfolgt werde, räsoniert Mendelssohn, »so klebt 227 Es müsste durch eine akribische Analyse weiter herausgearbeitet werden, wie Mendelssohn sich insbesondere mit Michaelis’ Emendationen des hebräischen Textbestands auseinandersetzt. Michaelis erklärt an mehreren Stellen, er sei »von den Jüdischen Punkten abgewichen« (Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 43 des Anmerkungsteils). So übersetzt er einen Teil von Vers 30 ()ונפשו לא היה, der heute mit ›und dessen Seele nicht am Leben blieb‹ übersetzt wird, dessen Einordnung ins syntaktische Gefüge des Verses aber unklar ist, entgegen dem masoretischen Textbestand mit dem auf Jesus hindeutenden Ausdruck »Und auch Ich, dem er das Leben gegeben hat« (Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 31). Mendelssohn hingegen folgt Luther (»und die, so kümmerlich leben«) mit der freien Übertragung »Dessen Herz der Kummer naget« (JubA 10.1, 36). 228 Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 28: »auf der Flöte des Morgens zu spielen«; Knapp: Die Psalmen, 1782. S. 42: »auf der Flöte am Morgen zu spielen.« Auf lange Sicht hat sich diese Variante, die ›Flöte‹ statt ›Hirschkuh‹ liest, nicht durchsetzen können. Zwar ist die Bedeutung des hebräischen Wortlauts (אילת השחר- )למנצח עלbis heute nicht zweifelsfrei geklärt, aber man geht davon aus, dass es sich um eine an einen Chormeister gerichtete Melodieangabe handelt, der Psalm also nach der Weise ›Hirschkuh der Morgenröte‹ zu singen ist (Kraus: Psalmen, 2003. S. 25 f. und S. 321). So übersetzt 1837 schon Michael Sachs: »Dem Sangmeister. Nach: Hindin der Morgenröthe« (Die vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift . תורה נביאים כתובים. Nach dem masoretischen Texte. Unter der Redaction von Leopold Zunz übersetzt von Heymann Arnheim, Julius Fürst und Michael Sachs. Berlin 1837/38. S. 584). 229 Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 565. 230 Martin Luther: Psalmen-Auslegung. Hg. von Erwin Mülhaupt. Bd. 1: Psalmen 1–25. Göttingen 1959. S. 291–314, bes. S. 292 f.; Rabbinische Kommentare zum Buch Esther. Bd. 2. Übersetzt von Dagmar Börner-Klein und Elisabeth Hollender. Leiden 2000. S. 299–324.
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ihr die Zunge am Gaumen, der hintere Theil des Leibes senkt sich vor Müdigkeit, und sie ächzt laut. Endlich treffen sie die Pfeile der Jäger, die Hunde ereilen sie und sie sinkt in den Staub« (JubA 10.1, 232). Die drastisch körperliche Bildlichkeit des Klageteils, wie sie besonders in Vers 16 des 22. Psalms zum Ausdruck kommt (»Meine Zunge klebt am Gaumen. – / Dies legt mich in den Todes Staub! –«), sucht Mendelssohn mithin aus dem lebensweltlichen Kontext der Jagd zu erklären. Mendelssohn geht freilich nicht so weit, den gesamten Psalm als Rollengedicht aus der Sicht einer gejagten Hirschkuh aufzufassen. Vielmehr nimmt er an, dass die Jagd die Einbildungskraft des Psalmendichters stimuliert und ihm als Bildspender für ein moralisches Thema gedient habe: Ein empfindsames Gemüth erinnert sich bei dieser Gelegenheit der Verfolgungen und Nachstellungen der Gottlosen, denen der Gerechte zuweilen unterliegt. Der orientalische Dichter hält sich nicht lange bei Gleichnissen auf. Er vermischt vielmehr die Züge kühn durcheinander; und redet bald von der gejagten Hindinn, bald von der verfolgten Unschuld, ohne Bild und Sache deutlich zu unterscheiden. (JubA 10.1, 34)
Nicht ein sauber durchgeführtes Gleichnis habe der moderne Rezipient also vor sich, sondern die Mischung zweier Bildebenen, wie sie für die morgenländische Dichtungsart charakteristisch sei. Mendelssohns produktionsästhetische Spekulationen eröffnen ihm hier einen Weg, um die ihrer Bedeutung nach dunklen Stellen des Psalms vor messianischen Deutungen zu schützen und im selben Atemzug die irritierende Inkohärenz seiner Bildlichkeit zu erklären. Uneindeutigkeit entsteht seiner Erklärung zufolge nicht dadurch, dass der Text auf etwas außerhalb Liegendes (Jesus) vorausweist, sondern dadurch, dass der »orientalische Dichter« innerhalb seines Gedichts »Bild und Sache« nicht klar voneinander scheide. Beide Bedeutungsebenen, die konkrete Jagd (»Bild«) und die Verfolgung eines Gerechten durch gottlose Angreifer (»Sache«) seien im Psalm selbst enthalten und – seinen orientalischen Entstehungsbedingungen entsprechend – »kühn durcheinander« gemischt. Berücksichtigt man die Eigentümlichkeit der poetischen Einbildungskraft der Morgenländer, so Mendelssohns Argument, dann ist der Psalm nicht auf eine Erfüllung und Erhellung seiner dunklen Bedeutung durch das Neue Testament angewiesen und kann für sich selbst stehen. Eine solche Schutzfunktion übernimmt auch Mendelssohns Verortung des Psalms im lebensweltlich-konkreten Kontext morgenländischer Sitten. Im zweiten Teil des Psalms beschreibe der Dichter die Weise der Morgenländer, welche, wenn sie einer Gefahr entkamen, Dankopfer zu schlachten, ihre Freunde einzuladen, und öffentlich ihre wunderbare Errettung zu erzählen pflegten, um ihre Brüder zur Hoffnung im Elende und zum Vertrauen auf die Vorsehung aufzumuntern. (JubA 10.1, 34)
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Nicht eine Weissagung von Jesu Predigten also, wie es der neutestamentliche Hebräerbrief durch ein Zitat suggeriert,231 ist nach Mendelssohns Einschätzung im 22. Psalm vorzufinden; vielmehr sei von morgenländischen gemeinschaftsstiftenden Bräuchen des Opferns und Erzählens die Rede. Während Michaelis versucht, diese beiden Lesarten zu harmonisieren, wie schon seine dem Psalm vorangestellte Erklärung zu erkennen gibt (»Weissagung auf Christum, die vermuthlich bey dem Morgen-Opfer abgesungen ward«),232 benutzt Mendelssohn die orientalisierende, kontextualisierende Deutung dazu, die messianische Deutung zu tilgen. Doch damit nicht genug. Mendelssohn behauptet eine jüdische Kontinuität dieser morgenländischen Bräuche: »Die Spuren von dieser uralten Gewohnheit findet man häufig in der Schrift (in den Psalmen und im Hiob), und sie hat sich bei den Juden bis auf unsere Tage erhalten« (JubA 10.1, 34). Entgegen der damaligen Praxis protestantischer Theologen, einen harten Bruch zwischen den Israeliten und dem späteren rabbinischen Judentum anzunehmen und nicht bei modernen Juden, sondern bei beduinischen Arabern nach Überresten morgenländischer Sitten und Bräuche zu suchen (Kap. 2.3.1), stellt Mendelssohn hier die Juden der Gegenwart als Gewährsleute der Schriftüberlieferung und des jüdischen Altertums vor. Entsprechend lässt sich auch Jesu Ausruf am Kreuz als Ausdruck dieser jüdischen Kontinuität interpretieren: Wahrscheinlicherweise ist dieser Psalm in der Folge der Zeit so national geworden, daß jeder Gläubige denselben in der Noth zu seinem Troste gesungen hat. Dieses ist der Natur des Menschen gemäß. Wenn das Herz voll ist, so erinnern wir uns einer poetischen Stelle, die einen Zustand, welcher dem unsrigen ähnlich ist, mit lebhaften Zügen beschreibt. Die Hebräer sind überdem gewohnt, alle Empfindungen ihres Herzens mit Worten der Schrift auszudrücken. (JubA 10.1, 34 f.)
Jesus war, daran erinnert Mendelssohn hier indirekt, Jude. Er hatte am Überlieferungsschatz nationaler jüdischer Gesänge teil und konnte mithin einen solchen in seiner »Noth« am Kreuz »zu seinem Troste« singen, zumal er wie alle Hebräer seine Empfindungen »mit Worten der Schrift auszudrücken« pflegte. Und dies wiederum ist in Mendelssohns Lesart nicht etwa als Erfüllung einer alttestamentlichen Weissagung zu verstehen, sondern vielmehr »der Natur des Menschen gemäß.« In dieser anthropologischen Deutung bestätigt Jesu Aufgreifen des 22. Psalms in seiner Verzweiflung ebendie gewaltige emotional-moralische Macht der hebräischen Poesie, die sich Mendelssohn zufolge »gleich eingesenk231 Im Hebräerbrief 2,11–12 wird der 23. Vers des 22. Psalms – »Ich will deinen namen predigen meinen brüdern, ich will dich in der gemeine rühmen« (Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 566) – Jesus in den Mund gelegt. Mendelssohn vermeidet nicht nur das Verb ›predigen‹, sondern variiert den bei Luther angemessen als Absichtsbekundung wiedergegebenen Kohortativ auf eine präsentische Aussage hin: »Denn preis’ ich meinen Brüdern deinen Namen, / Und rühme dich in grosser Versammlung« (JubA 10.1, 35). 232 Michaelis: Deutsche Uebersetzung des Alten Testaments. Bd. 6 (1782). S. 28.
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ten Dornen und Nägeln« in die Gedächtnistafeln des Herzens gräbt (JubA 16, 126; JubA 9.3, 163 f.) und somit sowohl zum persönlichen Gefühlsausdruck als auch zum kollektiven Überlieferungsschatz gehört. In diesem Sinne ist der 22. Psalm nicht eine messianische Vorausdeutung auf Jesu Tod am Kreuz, sondern ein würdiges Monument des jüdischen Altertums. An Mendelssohns Übersetzung und Kommentar des 22. Psalms zeigt sich, dass der Orientalismus es ihm erlaubt, die hebräische Poesie von anderen Dichtungstraditionen zu unterscheiden, sie am aufklärerischen Geschmacksdiskurs vorbei ästhetisch zu rechtfertigen und gegen messianische Deutungen in Schutz zu nehmen. Wie anspruchsvoll Mendelssohns Diskursstrategie ist, wird beim Blick auf die zwiespältige Rezeption seiner Psalmenübersetzung deutlich. Während viele jüdische Aufklärer voll des Lobes sind,233 erfährt sie beim christlichen Lesepublikum, für das sie zunächst vornehmlich bestimmt ist, verhältnismäßig wenig Resonanz und wird, abgesehen von einem werbenden Hinweis in Wielands Teutschem Merkur (JubA 22, 242), verhalten aufgenommen.234 Mendelssohns Versuch, als jüdischer Aufklärer eine Psalmenübersetzung mit ästhetischem, transkonfessionellem Geltungsanspruch vorzulegen, droht bei vielen christlichen Lesern Befremden und Abwehrreaktionen auszulösen.235 Dementsprechend kreist die Rezeption um Mendelssohns Autorposition und konkret um die Frage, wie deutlich er sich als Jude zu erkennen geben dürfe oder solle. Dieser Meinungsstreit wird mithilfe orientalistischer und klassizistischer Kategorien ausgetragen. Ein Rezensent der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen lässt sich 1784 von Mendelssohns expliziter Rückversicherung bei Luther nicht beeindrucken und wendet sich scharf gegen »die ausserordentliche Menge hebräischer Redensarten« in Mendelssohns Übersetzung, »die man bey einem so klassischen deutschen Schriftsteller« nicht erwartet habe.236 Anderen Lesern hingegen ist Men233 [Joel Löwe]: Einige Briefe an Herrn I.A. Euchel, über Massora, Psalmen Uebersetzung u.s.w. In: Ha-Me’assef 1 (1783/84). Zweyte Zugabe zu der hebräischen Monatsschrift dem Sammler. September 1784. S. 12–24; Ha-Me’assef 2 (1784/85). Zweyte Zugabe des Zweyten Jahrganges zu der hebräischen Monatsschrift dem Sammler. Oktober 1785. S. 1–27; Isaac Euchel: Die Geschichte des Lebens unseres weisen Lehrers Moses, Sohn des Menachem. Aus dem Hebräischen [1788] übersetzt von Reuven Michael. In: JubA 23, 102–263, hier: 140–142. 234 Weinberg: Einleitung. In: JubA 10.1, xliii–l. Michaelis rezensiert die Übersetzung mit reservierter Anerkennung als jüdische Deutungsperspektive (Orientalische und Exegetische Bibliothek 22 (1783). S. 46–58). Der Orientalist Oluf Gerhard Tychsen teilt in privaten Briefen mit, dass er Mendelssohns Vermeidung messianischer Anspielungen nicht goutiere (JubA 22, 242 f.). 235 Karl Lessing berichtet in einem Brief an seinen Bruder Gotthold Ephraim Lessing vom 17. April 1770, er bekomme durch Mendelssohns Übersetzung der Psalmen »von dem Sänger David und der ganzen hebräischen Poesie einen ganz andern Begriff, als ich mir aus der Lutherischen, oder der Cramerischen versificierten Umschreibung machen konnte. Was wird man zu seinen Erklärungen der Psalmen sagen, welche wir Christen bisher für eine Weissagung auf Jesum gehalten?« (FLA 11.1, 686). 236 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 46:2:83 (1784). S. 832. Mendelssohn hatte Luther in seiner Vorrede als Gewährsmann in Dienst genommen: Er habe »selbst die hebräischen Redensarten nicht gescheuet, die er [Luther] einmal in die Sprache aufgenommen; ob sie gleich nicht ächtes
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
delssohns Psalmenübersetzung nicht jüdisch bzw. orientalisch genug. Ein anonymer Rezensent bemängelt zwei Jahre nach Mendelssohns Tod im Deutschen Museum, dass David in diesen Übersetzungen singe, »als ob er zu unsern Zeiten gelebt, und seinen Geist durch das Lesen der Griechen und Römer gebildet hätte.«237 Was Mendelssohn feinsinnig in der Balance zu halten versucht, bricht hier auseinander: Unmöglich lassen sich die Psalmen, so der Rezensent, als morgenländisch-ursprüngliche und zugleich als antike Dichtungen eines frühen Aufklärungszeitalters verkaufen. Mendelssohn versuche zu verdecken, so der Vorwurf, dass die Psalmen einer unvollkommenen Vorstufe menschlicher und künstlerischer Entwicklung entstammen, die keineswegs den Anspruch erheben könne, auf Augenhöhe mit der griechisch-römischen Antike und mit Dichtungen aus christlicher Zeit gestellt zu werden. Infolge der Historisierungs- und Orientalisierungstendenzen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gerät Mendelssohns spätaufklärerisches Unterfangen in den Verdacht des Anachronismus. Vor dem Hintergrund der zum Ende des 18. Jahrhunderts immer prononcierteren Differenz zwischen emphatisch historisierendem Orientalismus und normativem Antikenideal gerät seine Präsentation der Psalmen als Lyriksammlung des jüdischen Königs und Sängers David zwischen die Fronten von Orientalismus und Klassizismus. Einerseits wird sein vorsichtiger, vermittelnder Orientalismus als unzureichend kritisiert, andererseits bringt der Versuch, die Psalmen in ihrem poetischen Eigensinn als lyrische Gedichte seiner jüdischen Nation zu präsentieren, Mendelssohns Autorposition als ›klassischer deutscher Schriftsteller‹ ins Wanken. An diesen divergierenden Einschätzungen, Werturteilen und Rezeptionswegen lässt sich ablesen, wie viele verschiedene Gebrauchs- und Deutungsangebote im ausgehenden 18. Jahrhundert nebeneinander und in Konkurrenz zueinander stehen und wie schwierig es ist, in dieser unübersichtlichen Lage eine jüdische Position zu behaupten. Mendelssohns anspruchsvolle Übersetzungs- und Publikationsprojekte der 1780er Jahre navigieren zwischen verschiedenen Sprachen, Adressatenkreisen und Erwartungshorizonten: Es sind Drahtseilakte auf einer Epochenschwelle, an denen sich die prekäre Stellung der biblischen Überlieferung zwischen Orientalismus und Klassizismus in der mehrsprachigen Ordnung des Wissens um 1800 kristallisiert. Dies setzt sich bei David Friedländer verstärkt fort, der direkt an seinen Mentor Mendelssohn anschließt.238 Deutsch sein mögen« (JubA 10.1, 6 f.). Vgl. auch eine ihm zugeschriebene Rezension für die Allgemeine Deutsche Bibliothek aus dem Jahre 1774, in der Luther als »ein großes Muster« für den Verzicht auf ausschmückende ›Beywörter‹ gepriesen wird (JubA 5.2, 210). 237 Deutsches Museum 13:2 (1788). S. 4 43. Ähnlich urteilt noch Franz Muncker: Moses Mendelssohn und die deutsche Literatur. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1:1 (1887). S. 45–64, hier: S. 52. 238 Uta Lohmann: David Friedländer und Moses Mendelssohn. Eine Freundschaft zwischen äußeren Erwartungen und innerer Überzeugung. Zur Frage von Nachfolgerschaft, Vorbildlichkeit und Bildungsideal. In: Mendelssohn-Studien 17 (2011). S. 71–98.
2.2 Bibelübersetzung
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2.2.3 Die Psalmen – morgenländische Oden oder klassische Werke? Friedländers Verortung der hebräischen Poesie im System der Künste Wenige Monate nach Mendelssohns Tod nimmt David Friedländer sich 1786 im Dezember-Heft der Berlinischen Monatsschrift der Pflege des mendelssohnschen Erbes mit einem Aufsatz Über die Mendelssohnsche Psalmenübersetzung an. Er beklagt deren »gleichgültige Aufnahme« und versucht, ihr mit Erklärungen und Ergänzungen zu gebührender Aufmerksamkeit zu verhelfen.239 Dabei führt er Mendelssohns Ansatz, die antike ›poetische Schönheit‹ der Psalmen unter ihren konfessionellen und liturgischen Gebrauchstraditionen hervorzukehren, entschieden weiter und macht Überlegungen explizit, die Mendelssohn – wenn überhaupt – nur in privaten Briefen geäußert hatte. Friedländer dringt darauf, die ursprüngliche Reinheit der Psalmen wiederherzustellen, die durch ihren »Mißbrauch […] in allen Synagogen und Kirchen« verdeckt und verschmutzt worden sei. Es gelte, den »Charakter der Antike«, der dieser »orientalischen Poesie« eigne, wieder sichtbar zu machen. Um die Psalmen in ihrer morgenländischen »Eigenthümlichkeit« würdigen zu können, müssen sie, so Friedländers Plädoyer, von den Schichten ihrer Übersetzung, Auslegung und liturgischen Gebrauchstradition befreit werden: »Denn was hat die Schaar von Uebersetzern, Nachahmern, Kommentatoren, Pedanten, Reimern und Frömmlingen, nicht alles an diesen ehrwürdigen Denkmälern verdrechselt, verkünstelt und verschnitzt!«240 Mit dieser Kaskade handwerklicher Verfehlungen lässt Friedländer die Psalmen als Kunstgegenstände im eigentlichen Wortsinn vorstellig werden. Wiederholt vergleicht er sie mit Objekten der bildenden Kunst: Die Psalmen haben, so Friedländer, als Oden und Werke der Dichtkunst betrachtet, weit größere, weit unheilbarere Wunden erlitten, als jemals die grobe Tatze der Barbarei, vereint mit der alleszerstörenden Hand der Zeit, jenen vortreflichen Werken der Bildhauerkunst zerschlagen hat, deren kostbare Reste man zum Studium der Kunst aufbewahrt.241
Indem Friedländer die Psalmen mit der griechischen Bildhauerkunst vergleicht, markiert er nicht nur den Anspruch, das hebräische Altertum auf eine Stufe mit der klassischen Antike der Griechen und Römer zu heben, er schreibt die Psalmen auch in ein Gebiet ein, das zu dieser Zeit Umordnungen und Neuhierarchisierungen erfährt: das System der Künste. Mit seiner Doppelbestimmung der Psalmen als Oden und Werke verortet Friedländer die Psalmen auf der Schwelle zwischen zwei Paradigmen, die der aufklärerischen Wirkungsästhetik und der klassizistischen Werkästhetik angehören. Die Psalmen »als Oden« zu betrachten 239 David Friedländer: Etwas über die Mendelssohnsche Psalmenübersetzung. In: Berlinische Monatsschrift 4:2 (1786). S. 523–550, hier: S. 527. 240 Friedländer: Mendelssohnsche Psalmenübersetzung, 1786. S. 532–535. 241 Ebd., S. 532 f.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
heißt, sie gemäß den Poetiken des 18. Jahrhunderts in ihrer spezifischen gattungspoetischen Form (ihrer ›schönen Unordnung‹) und damit als Poesie wahrzunehmen. Das scheint Friedländer allerdings jetzt, im neuen Wertungshorizont der späten 1780er Jahre, nicht mehr hinzureichen, um ihren »Kunstwerth«242 gebührend herauszustreichen. Er will sie deshalb auch als Werke im emphatischen Sinn betrachtet wissen: »als eigentliche Werke der Dichtkunst«,243 wie er bekräftigt. Friedländer bringt hier ein Konzept zur Anwendung, das sich zu dieser Zeit als ein alle Künste übergreifendes durchsetzt: das Werk als schönes, in sich geschlossenes und organisch gedachtes Ganzes.244 Einer der wichtigsten Vordenker der Werkästhetik bewegt sich in Friedländers direktem Umfeld in Berlin. In Mendelssohns offenem Haus, in der Lesegesellschaft von Mendelssohns Tochter Dorothea Veit (später Schlegel) und in der Teegesellschaft bei Henriette Herz begegnet er Karl Philipp Moritz.245 Dieser nun lanciert 1785 im März-Heft der Berlinischen Monatsschrift seinen Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. Wie Friedländers anderthalb Jahre später in derselben Zeitschrift veröffentlichte Schrift Über die Mendelssohnsche Psalmenübersetzung ist auch Moritz’ Beitrag als Produkt der Berliner Geselligkeitskultur um Mendelssohn ausgewiesen: In Form eines offenen Briefes ›an Herrn Moses Mendelssohn‹ präsentiert Moritz seine Schrift, die als ein Gründungstext der Autonomie- und Werkästhetik gilt, als Auseinandersetzung mit der Kunstauffassung Mendelssohns und appelliert gleichsam öffentlich an die legendäre Gesprächsbereitschaft des berühmten Philosophen und Literaturkritikers.246 Mit dem Anspruch auftretend, über Charles Batteux’ Nachahmungstheorie Les beaux arts réduits à un même principe (1746) und über Mendelssohns wirkungs- und medienästhetische Abhandlung Über die Hauptgrundsätze der schö242
Friedländer: Mendelssohnsche Psalmenübersetzung, 1786. S. 534. Ebd. 244 Jan-Peter Pudelek: Werk. In: ÄGB 6 (2005). S. 520–588, bes. S. 543–561; Wolfgang Ullrich: Kunst/Künste/System der Künste. In: ÄGB 3 (2001). S. 556–616, bes. S. 571–603; Wolfgang Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.« Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Berlin 1990. S. 378–414, bes. S. 394 f. und S. 399–404. Vgl. zum juristischen und ökonomischen Kontext Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981; literaturgeschichtlich Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin u. a. 2007. 245 Henriette Herz: Jugenderinnerungen. In: Mittheilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin 1896. S. 139–184, hier: S. 177 f. Vgl. zu Herz’ seit 1780/82 bestehendem Teetisch Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin/New York, NY 1989. S. 680–687. 246 Vgl. zum Verhältnis zwischen Mendelssohn und Moritz auch Karl Philipp Moritz: Ueber Moses Mendelssohn. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hg. von Anneliese Klingenberg u. a. Bd. 11: Denkwürdigkeiten [1786]. Berlin/Boston, MA 2013. S. 20–24, S. 37– 40, S. 65–68 und S. 83–86. 243
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nen Künste und Wissenschaften (1757/61)247 hinauszugehen,248 radikalisiert Moritz das Ganzheitsideal der Aufklärungsästhetik und der frühklassizistischen Kunsttheorie.249 Er postuliert, dass das schöne Kunstwerk seinen Zweck nicht im Sinne mechanischer Nützlichkeit außer sich, sondern als ein organisches Ganzes in sich habe, und definiert es als ein »in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt«.250 Mit dieser Forderung nach Werkautonomie gehen erhebliche Verschiebungen und Neuhierarchisierungen im System der Künste einher. Zwar wird das Ganzheitsideal besonders wirkmächtig am Beispiel der Skulptur entwickelt,251 doch findet es ausdrücklich auf alle Künste Anwendung.252 Die Dichtkunst verliert damit ihren Primat; »die an der Skulptur bewunderte organische Ganzheitlichkeit und Anschaulichkeit« wird, so Jan-Peter Pudelek, »zum Stilideal auch der Literatur.«253 Mendelssohn hatte seine Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften (1757) in überarbeiteter Fassung unter dem Titel Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften 1761 in seinen Philosophischen Schriften veröffentlicht (JubA 1, 425–452). 248 Alessandro Costazza: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern 1996. S. 107–198; ferner Michelangelo D’Aprile: Die schöne Republik. Ästhetische Moderne in Berlin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Tübingen 2006. S. 57–61; Cord-Friedrich Berghahn: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck. Heidelberg 2012. S. 110–115. 249 Helmut Pfotenhauer: Vorbilder. Antike Kunst, klassizistische Kunstliteratur und »Weimarer Klassik«. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart/Weimar 1993. S. 42–61, bes. S. 46 und S. 50; Costazza: Schönheit und Nützlichkeit, 1996. S. 144–164; Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin/New York, NY 2007. S. 242–294. 250 Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten. An Herrn Moses Mendelssohn [1785]. In: ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 2. Frankfurt am Main 1997. S. 943–949, hier: S. 943. 251 Ernst Osterkamp: Johann Joachim Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere in der Geschichte der Kunst des Altertums. Text und Kontext. In: Il cortile delle statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Hg. von Matthias Winner u. a. Mainz 1998. S. 4 43–458, bes. S. 4 46; Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001, bes. S. 31–44. 252 Im Licht seiner alle Künste übergreifenden Bestimmung vernachlässigt Moritz die von Mendelssohn in seiner Schrift Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften eingehend erörterten medien- und zeichentheoretischen Differenzen zwischen den schönen Künsten (Bildhauerei, Malerei, Musik, Tanz) und den schönen Wissenschaften (Dichtkunst und Beredsamkeit). 253 Jan-Peter Pudelek: Werk. In: ÄGB 6 (2005). S. 520–588, hier: S. 555. Vgl. mit Blick auf die literaturtheoretischen Kollateralschäden dieser Übertragung Andrea Polaschegg: (K)ein Anfang des Ganzen. Das skulpturale Werkkonzept der Klassik und seine Folgen für die Literaturwissenschaft. In: Konstellationen der Künste um 1800. Reflexionen – Transformationen – Kombinationen. Hg. von Albert Meier und Thorsten Valk. Göttingen 2015. S. 103–128. 247
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Dieses im klassizistischen Ganzheitsideal der Skulptur begründete Werkkonzept zieht Friedländer heran, um seinen intermedialen Vergleich der hebräischen Dichtkunst mit der griechischen Bildhauerkunst zu plausibilisieren. Dabei treten dessen medientheoretische und kulturgeschichtliche Implikationen insofern hervor, als die Verschiebungen im System der Künste hier als ausdrückliche Übertragung manifest werden: Bei den »vortreflichen Werken« der griechischen Bildhauerkunst kann Friedländer den Werkbegriff voraussetzen, die P salmen hingegen müssen erst einmal »als Oden und Werke der Dichtkunst betrachtet [Herv. KW]« werden.254 Es ist kein Zufall, dass die Übertragung des emphatischen Werkkonzepts gerade auf die hebräische Poesie so explizit, ja geradezu umständlich ausfällt. Denn es steht in Konflikt zu den Vorstellungen, die man sich bisher von den Psalmen gemacht hat. Für die Poetiker des 18. Jahrhunderts verkörpern die Psalmen als morgenländische Oden in besonderem Maße den medialen und affektpoetischen Eigensinn der Literatur, insbesondere der Lyrik (Kap. 2.1.1–3). Als solche sind sie, wie Mendelssohn 1762/63 in seinen Anmerkungen zu Lessings Entwurf der Laokoon-Schrift (1766) reflektiert, inkompatibel mit dem klassizistischen Ganz heitsideal, das aus der griechischen Bildhauerkunst gewonnen wird. Die »orientalische Poesie« ist Mendelssohn zufolge »unregelmäßig im Ganzen« und »kühn aber unmalerisch in der Ausbildung«, weil die Hebräer, die weder Malerei noch Bildhauerkunst gekannt hätten, anders als die Griechen keine »Regeln von der Schönheit des Ganzen« hätten ausbilden können (JubA 2, 253 f.). Dass die hebräische Poesie diesem Verständnis nach besonders rein beim Medium der Literatur bleibt, ist zwar für Mendelssohns medientheoretische und kulturphilosophische Erwägungen von heuristischem Wert, erscheint vor dem Hintergrund moderner europäischer Geschmackstandards, die am Ganzheitsideal der bildenden Künste orientiert sind, allerdings als Mangel. Ist dieser ambivalente Status der hebräischen Poesie bereits für Mendelssohns literaturkritische und übersetzungstheoretische Reflexionen eine erhebliche Herausforderung, stellt sich das Problem für Friedländer verschärft dar, weil das Ganzheitsideal im Berlin der 1780er Jahre im Zeichen von Kunstklassizismus und Werkästhetik spürbar an Virulenz gewinnt. Um die Psalmen in diesem gedanklichen Horizont als ›Werke‹ würdigen zu können, beschreibt er sie konsequent in Metaphern aus dem Bereich der bildenden Kunst. In diesem Sinne stellt Friedländer die Übersetzungsarbeit Mendelssohns analog zu der eines bildenden Künstlers bzw. Restaurateurs dar, der ein harmonisches Ganzes (wieder‑)herstelle. Mendelssohn habe die Kunst verstanden, durch ein andres Wort, oft bloß durch Versetzung des nehmlichen Worts in eine andre Stelle, durch eine Inversion, durch einen kleinen Zusatz, die Dunkelheit zu erhellen die Härte zu mildern, die Risse zu verbergen, die künstlichen Zusammenfügungen zu überarbeiten, und 254
Friedländer: Mendelssohnsche Psalmenübersetzung, 1786. S. 535.
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dabei die Feile so zu verstekken, als wäre das Ganze in einem reinen Guß aus den Händen des Dichters hervorgegangen.255
Komplementär zu den von Friedländer beklagten handwerklichen Vergehen anderer Übersetzer (»verdrechselt, verkünstelt und verschnitzt«) wird hier auch die Arbeit des ästhetisch sensiblen Übersetzers mit Vokabeln aus dem handwerklichen Bereich beschrieben, wenn »Risse« verborgen werden, eine »Feile« zum Einsatz kommt und die Psalmen wie in einem »Guß« entstanden erscheinen sollen. Deutlich tritt in dieser Metaphorik hervor, dass sich Friedländers Bemühen, die Psalmen als Werke im emphatischen Sinne des klassizistischen Ganzheitsideals zu präsentieren, am Primat der Skulptur orientiert. Die Psalmen erscheinen als Bildhauerwerke, die der Restaurierung bedürftig sind. Friedländers Forderung, der Übersetzer möge den Eindruck erwecken, »als wäre das Ganze in einem reinen Guß aus den Händen des Dichters hervorgegangen«, deutet freilich darauf hin, dass es hier um mehr als eine Wiederherstellung geht. Mit dem Konjunktiv Irrealis (»als wäre«) gibt Friedländer indirekt zu, dass die Psalmen keineswegs als in sich vollkommenes Ganzes »in einem reinen Guß« entstanden sind. In der deutschen Übersetzung soll also – denkt man diesen Ansatz konsequent zu Ende – für die moderne europäische Leserschaft ein Werk im emphatischen Sinne überhaupt entstehen, das es so im Hebräischen nie gegeben hat. Für Friedländers Strategie, die Psalmen dem klassischen Ideal des ›schönen Ganzen‹ anzugleichen, ist es mithin konstitutiv, Herstellung und Wiederherstellung in der Schwebe zu halten. Dem Übersetzer fällt die Aufgabe zu, die Psalmen in einem zweifachen – restaurierenden und schöpferischen – Sinn zu einem Ganzen zu machen, um sie als »Werke« mit »Kunstwerth« und als Monumente der jüdischen Antike auferstehen zu lassen. So (wieder‑)hergestellt, können – und sollen – die Psalmen mit anderen Altertümern konkurrieren, sollen sich als klassisch ausweisen. Die für eine solche Leistung nötige Kongenialität allerdings ist nur einem jüdischen Übersetzer zuzutrauen, der seine Seele – so Friedländer 1791 in einer Gedenkrede auf Mendelssohn – »griechisch schön« und seinen Charakter zu einem »schönen Ganzen« gebildet hat (JubA 23, 296, 301).256 Die moralisch-ästhetische Anverwandlung griechischen Geschmacks in der persönlichen Selbstbildung Mendelssohns, für die der Autor des Phädon (1767) im 18. Jahrhundert weithin bestaunt und gerühmt wird (Kap. 1.8), lässt sich als Voraussetzung einer Übersetzung verstehen, mittels derer die jüdische, orientalische Überlieferung als ›schönes Ganzes‹ in neuem, klassischem Licht erscheinen und neu angeeignet werden kann. Nur so kann es gelingen, die hebräische Dichtkunst im nachträglichen Übersetzungsakt mithilfe der aus der bildenden Kunst 255
Friedländer: Mendelssohnsche Psalmenübersetzung, 1786. S. 543 f. Vgl. dazu auch Uta Lohmann: Das bürgerliche Leben als humanistisches Kunstwerk. Refle xionen zum universal-ästhetischen Selbst- und Gesellschaftsbild des jüdischen Kaufmanns David Friedländer und zur Ikonographie der Haskala. In: Trumah 24 (2014). S. 39–68, hier: S. 67. 256
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hergeleiteten »Regeln von der Schönheit des Ganzen« (JubA 2, 253) in der Gegenwart lesbar zu machen. Als Antitypus zum Typus des kongenialen jüdischen Schöpfer-Übersetzers, den Mendelssohn repräsentiert, greift Friedländer diejenigen christlichen Theologen an, die die Psalmen mit philologischen Anmerkungen und Lesarten zergliedern. Statt wie Mendelssohn in seiner Psalmenübersetzung, die bar eines Kommentarapparats erschienen und dem Meisterdichter Ramler gewidmet war, »dem Ideengang des Dichters nachzuspüren, dem Flug seiner Phantasie zu folgen, um aus seinem Gedicht ein schönes Ganze zu bilden«, lösen sie Friedländer zufolge den »kurze[n] affektvolle[n] energische[n] Ausdruk des Originals« in »die todten Buchstaben seiner Bedeutung« auf.257 Seiner Präsentation der Psalmen als »Werke der Dichtkunst« im Sinne eines ›schönen Ganzen‹ verleiht Friedländer hier dadurch Kontur, dass er, mit Lutz Danneberg gesprochen, ein »Schreckbild des Kritikers« beschwört, »der den literarischen Text zergliedert, ihn mit seinem Skalpell anatomisiert und ihn so um seinen Geist, sein Leben bringt – sprich: seine ganzheitlichen Eigenschaften zerstört.«258 Den christlichen Theologen darf man, so das Postulat, die Psalmen nicht überlassen, wenn man ihren »Kunstwerth« sucht; vielmehr ist es der ›jüdische Sokrates‹ Mendelssohn, dem es durch Nachempfinden des ›Originals‹ gelungen sei, sie als ›schönes Ganzes‹ (wieder‑)herzustellen. 2.2.4 »Die heilige Schrift ist ein Tempel« Friedländers Traditionsumbau zwischen Orientalismus und Klassizismus Ein dezidiert ästhetischer Zugang zur jüdischen Überlieferung bestimmt auch Friedländers Haltung in den innerjüdischen Konflikten über eine Reform des Judentums. 1788 erneuert er seine Polemik gegen die zergliedernde Exegese der als ›schönes Ganzes‹ zu verstehenden Psalmen, nun an eine primär jüdische Leserschaft gerichtet, in seiner Abhandlung Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, in pädagogischer Rücksicht mit einer harschen Invektive gegen das rabbinische Talmudstudium, dessen »kalte und unfruchtbare Sprachforschung« dazu angetan sei, »den Fortschritt des feinen und richtigen Geschmacks zu hemmen, und die Empfindung des Schönen und Erhabenen zu ersticken«.259 Das erscheint ihm fatal, denn die moralisch-ästhetische »Veredelung«260 der Juden als einzelne 257
Friedländer: Mendelssohnsche Psalmenübersetzung, 1786. S. 536 f. Lutz Danneberg: Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch. Berlin/New York, NY 2004. S. 241–282, hier: S. 258 f. 259 David Friedländer: Ueber den besten Gebrauch der h[eiligen] Schrift, in pädagogischer Rücksicht. In: Der Prediger. Aus dem Hebräischen von David Friedländer. Berlin 1788. S. 3–78, hier: S. 41. 260 Ebd., S. 12. 258
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Menschen und als Volk sieht Friedländer mit Blick auf die 1781 durch Dohms Verbesserungsschrift angestoßene Emanzipationsdebatte (Kap. 3.1.1) als dringliches Erfordernis an. Friedländer greift zum einen Topoi der christlichen Kritik auf,261 zum anderen aktualisiert er eine bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende jüdische Polemiktradition gegen die Methoden des Talmudstudiums (den sogenannten Pilpul)262 unter den neuen Vorzeichen der politischen Emanzipationsforderungen, der historischen Bibelkritik, der philosophischen Aufklärung, des humanistischen Bildungsideals und der klassizistischen Ganzheitsästhetik: »Ohne Verbindung mit Philosophie und Aesthetik, ohne die Fackel der höhern Kritik und Exegese« können die Juden, davon zeigt er sich überzeugt, keinen zeitgemäßen Zugang zur Heiligen Schrift finden. Den Unterschied zwischen dem Unterricht eines Talmudgelehrten und seiner eigenen pädagogischen Vision veranschaulicht er im Bild einer Tempelbegehung: Die heil[ige] Schrift ist ein Tempel, ehrwürdig durch Alter und kühne Architektur. Statt mich mit den Regeln der Baukunst bekannt zu machen, zerlegt dieser [der rabbinische Gelehrte] mir die Materialien des Gebäudes in seine Bestandtheile; statt mich ins Heiligthum Gottes zu begleiten, um mich einzuweihen; statt mich über die weisheitsvollen Absichten, die der ehrwürdigste Erbauer zum Zweck hatte, zu belehren, zeigt mir mein Führer einen Bleichstein in der Mauer, der die Farbe absetzt, oder ein Spiel der Natur, das eine Sumpfader in dem Marmor hervorgebracht hat.263
Jüdische Gelehrte, so Friedländer, missachten die Schönheit der Heiligen Schrift, indem sie auf der hier als niedrig diskreditierten Ebene der Grammatik (»Materialien des Gebäudes«) verbleiben und die übergeordnete Werkordnung (»Regeln der Baukunst«) nicht erfassen, die auf die »weisheitsvollen Absichten« des Erbauers – Gottes – zurückgeht; sie hängen an der materiellen Zusammensetzung und sind blind für den Gesamtcharakter, der sich einer zentralen ästhetischen Forderung des 18. Jahrhunderts zufolge erst im Totaleindruck des Ganzen erfassen lässt.264 Gegen die überkommenen jüdischen Erziehungsmethoden konturiert Friedländer einen modernen, aufklärungsphilosophisch und ästhetisch durchbildeten Zugang zur hebräischen Bibel.265 Statt in seine Einzelteile zerlegt zu werden, soll das »Heiligthum Gottes« den Lernenden in seiner Ganzheit erfahrbar werden – nicht durch grammatisches Detailstudium, sondern durch Initiation in den Gesamtzusammenhang seines ›Geistes‹. Vgl. z. B. Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der neuern Sprachenkunde. Erste Abtheilung. Göttingen 1807. S. 593. 262 Andrea Schatz: Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert. Göttingen 2009. S. 76–82. 263 Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 41 f. 264 Sulzer 2 (21792). S. 296. 265 Vgl. auch Uta Lohmann: »Ein ganz neues Feld der Erkenntniß«. David Friedländer zur Bedeutung der Ästhetik für die Bibelexegese der Haskala. In: Trumah 16 (2006). S. 49–71. 261
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Die mit der Figuration der Heiligen Schrift als »Tempel« metaphorisch vollzogene Verschiebung im System der Künste von der Literatur zur Architektur hat hier für die Erneuerung der jüdischen Pädagogik eine ähnliche Funktion wie die Orientierung an der Bildhauerkunst für Friedländers werkästhetische Aufwertung der Psalmen. Mit der Tempelmetapher kann Friedländer seinen Lesern den Tanach als ein Ganzes, als Monument des jüdischen Altertums – »ehrwürdig durch Alter und kühne Architektur« – vors innere Auge stellen und die Lektüre der Heiligen Schrift als eine ehrfurchtsvolle Gebäudebegehung inszenieren, die das »Genie des Alterthums«266 gleichsam plastisch erfahrbar macht. Das Gebäude des Jerusalemer Tempels mag zerstört sein, die Heilige Schrift aber ist überliefert und ersetzt als ein ›schönes Ganzes‹ in der Diaspora gleichsam das durch Babylonier (586 v. d. Z.) und Römer (70 n. d. Z.) zerstörte bauliche Heiligtum des Judentums.267 Friedländer kann hier an die Metaphorik des Tanachs (vgl. etwa Jeremia 31,4 und 33,7) und spätere jüdische Traditionen anschließen, die das göttliche Tun als ›Bauen‹ beschreiben,268 versieht sie aber mit den ästhetischen wie emotionalen Implikationen seiner Zeit. Diese Inszenierung der Heiligen Schrift als Tempel ist im Resonanzraum der religiösen Reformen im deutschsprachigen Raum zu sehen, die um 1800 unternommen werden, um dem Judentum durch die Adaption protestantischer Konzepte von Andacht und Erbauung eine modernisierte Gestalt zu geben. In diesem Zusammenhang nimmt Friedländers metaphorisch anhand der Heiligen Schrift entworfene Vision einer Tempelbegehung und Einweihung in das »Heiligthum Gottes« bald – unter seiner regen Beteiligung – auch konkrete liturgische und architektonische Formen an, die den christlichen Zeitgenossen Beispiele für die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Juden geben sollen.269 In den jüdischen Gottesdienstreformen und in der Synagogenarchitektur des 19. Jahrhunderts wird Gotteserfahrung als ganzheitlich ästhetisch-emotional-moralisches Erleben in einem Sakralraum aufgefasst und eingefordert. Die Synagoge, die bis dahin als Versammlungs-, Studien- und Gebetsraum verstanden worden war, wird nun – ähnlich wie im Französischen – auf Deutsch als ›Tempel‹ bezeichnet; gegen den vielbeschworenen Lärm der ›Judenschulen‹ werden geschliffene deutsche Predig-
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Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 53. Helen Rosenau: Vision of the Temple. The Image of the Temple of Jerusalem in Judaism and Christianity. London 1979; Alan Balfour: Solomon’s Temple. Myth, Conflict, and Faith. Oxford u. a. 2012. 268 Johann Maier: Bausymbolik, Heiligtum und Gemeinde in den Qumrantexten. In: Volk Gottes als Tempel. Hg. von Andreas Vonach und Reinhard Meßner. Berlin 2008. S. 49–106; Beate Ego: Von der Jerusalemer Tempeltheologie zur rabbinischen Kosmologie. Zur Konzeption der himmlischen Wohnstatt Gottes. In: Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum der Theologischen Fakultät Leipzig 12/13 (1997). S. 36–52. 269 David Friedländer: Reden, der Erbauung gebildeter Israeliten gewidmet. Für Gönner und Freunde abgedruckt. Berlin 1815; vgl. dazu Lohmann: Friedländer, 2013. S. 475–479. 267
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ten und Chorgesang gesetzt.270 Vor dem Hintergrund dieser konkreten architektonischen wie liturgischen Reformbestrebungen ist die Forderung nach einem ästhetischen Umgang mit der Heiligen Schrift ein hochpolitisches Unterfangen. Analog zur restaurierenden Übersetzungsarbeit an den biblischen Texten soll auch das Judentum selbst restauriert und auf diesem Wege mit der Gegenwart kompatibel gemacht werden. So bemüht Friedländer 1819 in einem für die preußische Regierung angefertigten Gutachten Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen dieselbe Metapher wie für die Heilige Schrift selbst auch für die Juden als Zeugen der Heiligen Schrift: So viel ist ausgemacht: die Juden sind überall Reste einer früh gebildeten Nation, Ruinen eines antiken Tempels, der durch gewaltsame Erschütterungen zerschmettert, seit Jahrtausenden in Trümmern liegt. Aber es sind Trümmer, keine rohen Steine. Lange den Verwitterungen und dem Verderb aller Elemente Preis gegeben, erwarten sie die Hand eines Baukünstlers, welche die oft tief versunkenen Materialien aus dem Schutt herausfördert und ordnet. Versieht der Meister die Kunst, so wird er sie von dem Moos befreyen, das keine ätzende Kraft hat, von dem fremden Anflug säubern, der nicht tief eingedrungen ist, und endlich die Baustücke zur Befestigung und Verschönerung der neuern Staatsgebäude verwenden lernen. Das Fundament ist felsenfest, manche Hauptpfeiler unversehrt, und überdem ist der Hauptriß des ersten Baumeisters noch da, und die Kleinode des Tempels sind gerettet.271
In Friedländers Restaurierungsprojekt wird explizit, wie wichtig die Unterscheidung zwischen sogenannten Naturvölkern und Kulturvölkern für die Ordnung der Dinge in dieser Zeit ist: Die sogenannten polnischen Juden mögen einen barbarischen Eindruck erwecken, doch handelt es sich nicht um ›Wilde‹, sondern um Erben einer großen Kulturnation (»Trümmer, keine rohen Steine«). Der Verweis noch der kümmerlichsten »Reste« auf den prächtigen und würdevollen Urzustand einer »früh gebildeten Nation« verleiht den Juden ihre potentielle Größe. Potentiell ist diese Größe, weil sie in Friedländers Perspektive von einer bereinigenden Reform abhängt, die die Verunstaltungen der Zeit beseitigt und die Trümmer »zur Befestigung und Verschönerung der neuern Staatsgebäude« brauchbar macht. Nicht eine glorreiche Wiederauferstehung des gesamten antiken Tempels bzw. des jüdischen Staates also strebt Friedländer an, sondern die Integration einzelner jüdisch-antiker Bauelemente in die »neuern Staatsgebäu270
Michael A. Meyer: »How Awesome is this Place!« The Reconceptualisation of the Synagogue in Nineteenth-Century Germany. In: LBI YB 41 (1996). S. 51–63; Benjamin Maria Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870. Bloomington, IN 2006. S. 134–160; zu Reformgottesdiensten speziell in Berlin Michael A. Meyer: The Religious Reform Controversy in the Berlin Jewish Community, 1814–1823. In: LBI YB 24 (1979). S. 139–155; zum Kontext insgesamt Michael A. Meyer: Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism. Detroit, MI 1988, bes. S. 10–61; Klaus Herrmann: Die jüdische Reformbewegung zwischen Protestantismus und Katholizismus. In: Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Florian Schuller u. a. Regensburg 2005. S. 222–240. 271 David Friedländer: Ueber die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen. Ein von der Regierung daselbst im Jahr 1816 abgefordertes Gutachten [1819]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 249–300, hier: S. 250.
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de« – etwa Preußens. Das jüdische Erbe soll in restaurierter Form in das Fundament europäischer Staatlichkeit und Kultur integriert werden. Um ihre Integrationswürdigkeit als befestigende und verschönernde Elemente zu erweisen, müssen diese Trümmer allerdings zunächst einmal durch die »Hand eines Baukünstlers« freigelegt werden. Als solcher inszeniert der Reformer Friedländer sich selbst in Frontstellung gegen traditionalistische Rabbiner: Diese »umklammern die Trümmer, und die täglich mehr sich abbröckelnden Ruinen, – nicht des ursprünglichen Tempels – sondern der armseligen Hütten, womit sie überbaut und verunziert worden sind.«272 Immer wieder kommt Friedländer auf diese Metapher zurück, etwa in einem Brief an Aaron Wolfssohn vom 21. September 1808: »Entweder die Reparatur des Gebäudes muss Sachverständigen, kühnen Baumeistern, die zugleich Authorität haben, aufgetragen werden; oder wir überlassen alles der Zeit: d. h. wir lassen das Gebäude, dessen Ständer ausweichen, und das in allen seinen Theilen verwest ist, in sich versinken und untergehn.«273 Mit dieser Inszenierung des diasporischen Judentums als zu restaurierende Tempelruine präsentiert Friedländer sein Reformprojekt im eigentlichen Sinne als einen restaurativen Traditionsumbau. 1823 bringt Friedländer dieses Reformprogramm noch einmal zu Papier. Im ersten Band der kurzlebigen Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums erklärt er: Das Fundament unserer Religion beruht auf den heiligen Urkunden, diese dürfen nie erschüttert werden. Die Pfeiler des Sittengesetzes und der allgemeinen Moral die darauf gebaut sind, müssen fort und fort unzerstörbar bleiben, wenn auch die innere Einrichtung des Gebäudes, nach Maasgabe von Verfassung und Verhältnissen unwesentliche Veränderungen erleiden müßten. Ohne also Baumeister zu seyn, oder es auch nur seyn zu wollen, von welcher Anmaßung ich weit entfernt bin, halte ichs doch für Pflicht, wenigstens als Handlanger, der sich redlicher Absichten bewußt ist, meinen Mitbrüdern mit geringen Kräften entgegen zu kommen.274
Gerade in der Bescheidenheitsgeste, wenn nicht »Baumeister«, so doch wenigstens »Handlanger« sein zu wollen, wird Friedländers Selbstinszenierung als Restaurateur des Judentums greifbar, mit der er den Klassizitätsanspruch der hebräischen Antike in der Konkurrenz der Altertümer um 1800 behauptet und die modernen Juden als ihre Erben einsetzt. Zwar seien die heutigen Israeliten von den antiken Israeliten in Sprache, Sitten und Gewerbe verschieden. Aber die »Grundpfeiler, worauf das Gebäude ihrer moralischen Verpflichtungen gegen 272
Friedländer: Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen, 1819. S. 264. Zitiert nach Josef Cohn: Einige Schriftstücke aus dem Nachlasse Aron Wolfssohns. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 41 (1897). S. 369–376, hier: S. 375 f. 274 David Friedländer: Briefe über das Lesen der heiligen Schriften, nebst einer Uebersetzung des sechsten und siebenten Capitels des Micha, als Beilage. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1823). S. 68–94, hier: S. 70. 273
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Gott und Vaterland« ruhe, seien unerschüttert.275 Daran gelte es anzuknüpfen, darauf gelte es zu vertrauen: Den Juden fällt in Friedländers Perspektive die Aufgabe zu, die »heiligen Urkunden« zu restaurieren, weil diese ihr eigenes und ihr eigentümliches Erbe sind. Nicht die reichen Gebrauchstraditionen jüdischer Überlieferung stehen hier im Vordergrund; diese werden vielmehr umgangen, um die Bibel als antikes Erbe anerkennen zu können, zu dem sich die Juden von moderner Warte aus verhalten können und müssen. In Abgrenzung sowohl von der christlichen Theologie als auch von der jüdischen Gelehrsamkeit formuliert Friedländer so das Reformprogramm eines Architekten des jüdischen Traditionsumbaus, der die antiken Fundamente des Judentums freilegt und die orientalischen Ursprünge der jüdischen Überlieferung in den ästhetischen Horizont des Klassizismus vermittelt. Ganz in diesem Sinne wird der Kenner und Sammler von Antiken,276 darauf hat Uta Lohmann aufmerksam gemacht,277 auch auf einem Porträt dargestellt, das die Ältesten der Berliner Gemeinde 1820 anlässlich von Friedländers 70. Geburtstag bei der Malerin Caroline Bardua in Auftrag geben (Abb. 3).278 Das heute verschollene Gemälde, das bis ins 20. Jahrhundert an repräsentativer Stelle im Sitzungssaal der Gemeindevertreter hing, zeigt Friedländer an einem offenen Fenster sitzend, das den Blick auf eine weite Landschaft mit Palmen, einer Pyramide und einer Harfe freigibt, die an einer Trauerweide lehnt. Hinter ihm im Studierzimmer steht eine Nachbildung von Michelangelos Mose-Statue (Rom, San Pietro in Vincoli), auf dem Tisch liegen voluminöse Bücher. Eines davon ist aufgeschlagen: Es handelt sich um eine Bibelausgabe in lutherischer Übersetzung; die geöffnete Seite zeigt den 137. Psalm. Mit dem antikisierten Interieur, der Nachbildung von Michelangelos Renaissanceskulptur und der Lutherbibel zeugt Friedländers Umgebung von der modernen Anverwandlung jüdischen Erbes im Zeichen humanistischer Bildung und klassizistischen Geschmacks.279 Durch den Fensterblick aber bleibt diese Anverwandlung auf orientalische Topoi bezogen. Die Palme als ubiquitäres Staffage-Element orientalistischer Landschaftsimagination evoziert den Ursprung der Juden im biblischen Morgenland; die übrigen Bildelemente rufen die beiden David Friedländer: Am Trauerfest und Bußtag der Zerstörung Jerusalems. In: ders.: Reden, der Erbauung gebildeter Israeliten gewidmet, 1815. S. 50–76, hier: S. 67 f. 276 Julius H. Schoeps: David Friedländer. Freund und Schüler Moses Mendelssohns. Hildesheim 2012. S. 333–349; Lohmann: Das bürgerliche Leben als humanistisches Kunstwerk, 2014. S. 39–68. 277 Lohmann: Friedländer, 2013. S. 466–472. 278 Ludwig Geiger: Eine David Friedländer-Anekdote. In: AZJ 71:31 (1907). S. 368 f. Zur Malerin vgl. die Broschüre von Bärbel Kovalevski: Caroline Bardua, 1781–1864. Berlin 2008. 279 Auch in Friedländers 1774 von Daniel Chodowiecki gefertigtem Exlibris wird die ästhetische Anverwandlung des jüdischen Erbes sichtbar. Vgl. Martin L. Davies: Klassische Aufklärung. Überlegungen zur Modernisierung der deutsch-jüdischen Kultur am Beispiel des Exlibris von David Friedländer. In: ZRGG 55:1 (2003). S. 40–61, bes. S. 51–60; Lohmann: Das bürgerliche Leben als humanistisches Kunstwerk, 2014. S. 54–60. 275
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Abb. 3: Caroline Bardua: David Friedländer (1820/21), Fotografie des verschollenen Ölgemäldes.
wirkmächtigsten Gedächtnisorte jüdischen Exils auf: Ägypten und Babylon. Die Pyramide repräsentiert Ägypten und damit Moses Geburtsort; Trauerweide und Harfe vergegenwärtigen den 137. Psalm, der im Berliner Studierzimmer gelesen wird (»An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande«). Die Bildanlage spannt so einen breiten Bogen jüdischer Geschichte zwischen abendländischer Moderne (Studierzimmer) und orientalischer Antike (Fensterblick), dessen kompositorisches Verbindungsglied in der Blickführung von links nach rechts
2.2 Bibelübersetzung
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der mittig sitzende Friedländer bildet. Auch Friedländers Kleidung scheint, vor allem durch den um seine Taille geschlungenen gemusterten Schal, orientalische Anleihen aufzuweisen. So setzt Barduas Gemälde Friedländers Programm, den orientalischen Glanz des jüdischen Altertums in einer modernen Aneignung zu vermitteln, bildkünstlerisch um.280 Gedächtnis und Genealogie bestimmen eine Bildkomposition, die darauf angelegt ist, klassisch-orientalische, christlich-jüdische, schrift-bildliche, modernantike und west-östliche Traditionszusammenhänge zu stiften. Friedländer wird durch seine Sitzhaltung, die derjenigen von Michelangelos Renaissance-Mose ähnelt, in eine Kontinuitätslinie mit dem jüdischen Propheten gestellt: Wie Mose die Gesetzestafeln auf dem Schoß hält, umfasst Friedländer ein modernes Buch. Der Skulpturabguss bringt Friedländer indes nicht nur in ein Spiegelungsverhältnis zum biblischen Mose, sondern auch zu seinem berühmten Lehrer Mosche aus Dessau. Schließlich war Moses Mendelssohn schon zu Lebzeiten häufig in eine ehrfurchtgebietende Linie mit dem biblischen Mose und dem mittelalterlichen Philosophen Maimonides bzw. Mosche ben Maimon gestellt worden.281 Friedländer, der seinem Selbstverständnis nach und in den Augen seiner Zeitgenossen als Freund und Schüler Mendelssohns gilt, weiß den berühmten Berliner Aufklärer hier gleichsam stützend in seinem Rücken und tritt dessen Vermächtnis an. Zugleich tragen der Renaissance-Mose und die lutherische (statt mendelssohnsche) Psalmenübersetzung in den ›gotischen‹ (nicht hebräischen) Lettern einer Frakturtype nichtjüdische Stationen der Aneignung jüdischer Überlieferung in die Kontinuitätslinien ein, die sich im porträtierten Friedländer kreuzen. So erscheint die bedeutende Persönlichkeit jüdischen Lebens um 1800 auf diesem Gemälde als Vermittler zwischen Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart.282 280 Dies gilt bemerkenswerterweise nicht für Barduas zeitgleich entstandenes lithographisches Porträt Friedländers, das auf orientalische Verweise und Anleihen völlig verzichtet. Es zeigt Friedländer auf einer Steinbank im Freien sitzend in einem locker aufgeknöpften Mantel, die eine Hand auf einen Stock gestützt, ohne gemusterte Schals; zu seiner Linken rankt sich Weinlaub um eine Säule, im Hintergrund ist eine pittoreske europäische Landschaft zu sehen (Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inv.-Nr. 995–133). 281 Moshe Pelli: In Search of Genre. Hebrew Enlightenment and Modernity. Lanham, MD 2005. S. 232. 282 Sowohl in seinem Bekanntenkreis als auch in der jüdischen Gemeinde erfährt Friedländer in diesem Sinne zu Lebzeiten und über seinen Tod hinaus Anerkennung und Wertschätzung als ein Restaurateur und Modernisierer des Judentums und als Gewährsmann in orientalistischen, altertums- und bibelkundlichen Fragen. Vgl. Alexander von Humboldts Nachruf auf Friedländer, den er am 27. Dezember 1834 an dessen zwei Söhne schickt (Julius Loewenberg: Wilhelm und Alexander von Humboldt im Verkehr mit ihren ältesten jüdischen Freunden. In: Jb. für Israeliten 1865/66. S. 41–72, hier: S. 70). Carl Friedrich Zelter schätzt Friedländers Freundschaft, wie er Anfang März 1827 an Goethe schreibt, weil er ihn »von Zeit zu Zeit bei einem Pfeifchen mit biblischer Gelehrsamkeit« unterhalte (MGA 20.1, 975) und, so Zelter am 16. November 1829, »in orientalischen Dingen mein gefälliger Lehrer und naher Nachbar« sei (MGA 20.2, 1286). Vgl. auch MGA 20.1, 882 und 890 f.; MGA 20.2, 1196 f.; MGA 20.3, 796 f.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Friedländers diskurspolitisches Projekt ist ebenso ambitioniert wie aufschlussreich, stellt es sich doch als ein Spagat über den Gräben dar, die sich um 1800 zwischen Klassizismus und Orientalismus, Pädagogik und Kunstautonomie, alten und neuen jüdischen Eliten sowie Emanzipationswillen und Judenfeindschaft auftun. Indem Friedländer Mendelssohns Arbeit an den jüdischen Traditionen fortzusetzen versucht, setzt er auch dessen Gratwanderung zwischen verschiedenen ästhetischen Parametern und Maßstäben fort. Sein Versuch, einen eigenständigen und modernen Zugang zur jüdischen Schriftüberlieferung und zu jüdischen Traditionen zu ermöglichen, bezeugt das hohe Gebrauchspotential, das orientalistische Topoi und Denkfiguren für den Traditionsumbau um 1800 haben, und er bezeugt zugleich, wie schwierig ihr Einsatz als diskursives Instrument zumal im Rahmen einer klassizistischen Programmatik ist. An seinen diskurspolitischen Strategien lassen sich die Möglichkeiten und Grenzen einer Aneignung der jüdischen Überlieferung im Berlin der Jahrhundertwende um 1800 aufweisen; einer Zeit, in der das Studium der Antike sich zwischen Idealisierung und Historisierung, zwischen Allgemeinbildung und Professionalisierung bewegt.283 Wie nun ausgehend von einer bemerkenswerten übersetzungstheoretischen Schrift aufgezeigt werden soll, findet Friedländer für diese Herausforderung die Metapher des morgenländischen Schimmers. 2.2.5 Morgenländischer Schimmer Friedländers Übersetzungsreflexion Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst (1794) In einem Schreiben Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst gibt Friedländer 1794 in der deutschen Zugabe zur hebräischsprachigen Zeitschrift Ha-Me’assef eine verklärte Schilderung seines Verhältnisses zur Heiligen Schrift. Während christliche Theologen und jüdische Gelehrte das ›schöne Ganze‹ der hebräischen Poesie seiner Meinung nach gar nicht erst anerkennen oder mit ihren spitzfindigen Exegesemethoden zerstückeln, begegnet er selbst der morgenländischen Poesie demonstrativ als ›Liebhaber‹ mit Sinn für ihre Schönheit, der ohne profes sionelle Ausbildung eine Kennerschaft entwickelt, die aus dem Vergnügen am Gegenstand erwächst.284 Wie Herder seine Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) im Untertitel Für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes bestimmt (Kap. 2.1.3), so richtet sich auch Friedländer 283 Martin Disselkamp: Altertumskunde als kulturelles Handeln. Überlegungen zur Antikerezeption in Berlin um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Altertumswissenschaften in Berlin um 1800 an Akademie, Schule und Universität. Hg. von Bernd Seidensticker und Felix Mundt. Hannover 2006. S. 39–65. 284 Vgl. Uwe Wirth: Der Dilettantismus-Begriff um 1800 im Spannungsfeld psychologischer und prozeduraler Argumentationen. In: Dilettantismus um 1800. Hg. von Stefan Blechschmidt und Andrea Heinz. Heidelberg 2007. S. 25–33.
2.2 Bibelübersetzung
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als Liebhaber an Liebhaber, insbesondere aber an die »ächten Liebhaber der morgenländischen Poesie von unserer Nation« – das heißt der jüdischen Nation. Das Hauptinteresse des Textes liegt mithin – im Unterschied zu Herders Schrift – in der Frage, wie ein spezifisch jüdischer Zugang zur ›morgenländischen Dichtkunst‹ zu finden sei. Ergriffen schildert Friedländer die Wirkungen der biblischen Texte auf »das Gemüth eines Israeliten« wie ihn selbst: Sie berühren die zartesten Saiten seines Herzens, sein Inneres wird erschüttert und sein Natio nalstolz aufgeregt. Lassen sie diesen, uns so oft mit Unrecht vorgeworfenen Nationalstolz, erwachen; möge in der Seele des Israeliten der Gedanke lebhaft werden: diese Propheten gehören zu den Deinigen, diese Reden sind dein Eigenthum, alle diese aus dem Meere der Zeit geretteten Meisterwerke, so sehr sie Trümmer seyn mögen, sind dein unbestrittenes Erbe. Nütze sie so gut du kannst, und sollst und darfst.285
Anders als der religiöse Gebrauch und anders als die philologische Textkritik ermöglicht die ästhetisch sensible Liebhaber-Lektüre – in der Wunschform des Optativs (»möge«) – dem modernen »Israeliten« eine Neubegegnung mit der Heiligen Schrift und verbindet ihn emotionell mit der uralten Tradition seines Volkes. In der (Wieder‑)Aneignung durch den »Nationalstolz« können die »Meisterwerke« der Heiligen Schrift als »Eigenthum« und »Erbe« der Juden neu gewürdigt werden. Mit der Beschwörung, die Heilige Schrift als »Eigenthum« und »unbestrittenes Erbe« anzuerkennen, kommen zwei juristische Vokabeln zum Einsatz, die im Zuge der begriffsgeschichtlichen Umbrüche des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu schillernden Zentralkategorien mit ästhetischen Implikationen avancieren. Der Tanach kann im juristisch konnotierten Sinne zum Eigentum der Juden erklärt werden, weil der ›Geist‹ dieser ›Urschrift‹ als ihnen eigentümlich gilt;286 er lässt sich in theologischer, juristischer, genealogischer und kultureller Hinsicht als ihr Erbe verstehen.287 Mit äußerstem Nachdruck setzt Friedländer diese Übertragungsfiguren ein, um seine jüdischen Leser in die Pflicht zu nehmen, die genealogische Übertragungskette vom morgenländischen Ursprung bis in die Gegenwart nicht abreißen zu lassen und das wertvolle Vermächtnis ihrer Überliefe285
David Friedländer: Für Liebhaber Morgenländischer Dichtkunst. Ein Versuch. An Herrn Gottleb Euchel in Königsberg in Preußen. In: Ha-Me’assef 7 (1794). Erste Zugabe des Augusthefts. S. 1–22, hier: S. 2. Der Text wird später um weitere Übersetzungen ergänzt (Jedidja 3:2 (1820). S. 147– 179) und auch als Separatdruck veröffentlicht (Berlin 1821). Friedländers Schreiben findet auch in theologischen Kreisen Anerkennung. So zitiert ein Rezensent (vermutlich der mit Friedländer befreundete Herausgeber Christoph Friedrich Ammon) ausführlich Friedländers »Ausgüsse der Humanität und des Nationalgeistes« (Neues theologisches Journal 3:5:4 (1795). S. 410 f.). Eichhorn lobt die kleine Schrift in seiner Allgemeinen Bibliothek der biblischen Litteratur 9:1 (1799/1800). S. 101. 286 Vgl. zum Hintergrund Plumpe: Eigentum – Eigentümlichkeit, 1979. S. 175–196. 287 Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Hg. von Stefan Willer u. a. Frankfurt am Main 2013; Ulrike Vedder: Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2011, bes. S. 38–47.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
rung als gebrauchsfähige Vergangenheit anzunehmen: »Nütze sie so gut du kannst, und sollst und darfst.« In dem Selbstgespräch, das durch die biblische Lektüre in der »Seele des Israeliten« ausgelöst werden soll, fallen Selbsterkenntnis und Traditionsbezug im Possessivpronomen der zweiten Person Singular zusammen: »diese Propheten gehören zu den Deinigen.« Im Affekt des Nationalstolzes erkennt der Israelit sich selbst als Erbe einer ehrwürdigen Überlieferungstradition. Der Nationalstolz, den Friedländer hier in jüdischen Bibellesern erwachen sehen will, trägt eine herdersche Signatur, insofern er sich als sprachabhängiges Selbstverständnis einer Kulturnation präsentiert, die sich auf ihre Textüberlieferung bezieht. Keinen staatlich oder territorial begründeten Patriotismus beschwört Friedländer hier, auch nicht die vermeintliche, den Juden »so oft mit Unrecht vorgeworfene[ ]« ethnoreligiös begründete Überheblichkeit eines von Gott auserwählten Volkes,288 sondern ein intensives Nationalgefühl, das durch die Lektüre originalsprachlicher ›Meisterwerke‹ erweckt wird. Mit bemerkenswerter Eindringlichkeit beschreibt Friedländer in seinem Schreiben Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst, wie Leser und Text in der speziellen Gestimmtheit jüdischen Nationalstolzes zu einer hermeneutischen Einheit finden: In dieser Gemüthsstimmung verbreitet sich ein ungewöhnlich sanfter Lichtschimmer über die Originalwerke. Eine milde Klarheit umgiebt das Ganze. Jede Dunkelheit verschwindet, nirgend ist Verworrenheit, nirgend eine Lücke, nirgend kühne Ideenverbindung.289
Die direkte emotionale Aneignung der »Originalwerke« in ihrer Originalsprache, die keiner Übersetzung bedarf, überspringt alle hermeneutischen Hürden; im Rausch des Eigenen – des Eigentums, des Erbes – schnurrt die Distanz der Fremdheit auf ein Nichts zusammen. In der »Gemüthsstimmung« des Nationalstolzes hat der ergriffene Israelit beim Lesen des Propheten Jesaja gleichsam selbst eine Vision, wenn ihm augenblickshaft die »Originalwerke« in einem »sanfte[n] Lichtschimmer« und »das Ganze« in »milde[r] Klarheit« erscheinen. Sobald sich der jüdische Leser aber aus diesem Zustand der Begeisterung heraus an den Versuch einer Übersetzung macht, löst sich die berückende Ganzheit wieder auf: »Das Feuer-Wort im Original, das wie ein Pfeil aus dem Munde des Propheten flog und die Seele traf, ist in seine Bestandtheile aufgelöst, und erreicht nicht das Ziel.«290 Friedländers Text berichtet vom Scheitern: vom gescheiterten Versuch, die geradezu magische Schönheit der hebräischen Dichtung ins Deutsche zu transferieren. Im Versuch der Übersetzung zerbricht die direkte Verbindung zum »Feuer-Wort« des Propheten Jesaja; die ›milde Klarheit‹ des ›Ganzen‹ 288 Friedländer bezieht sich hier wohl insbesondere auf Michaelis’ Beitrag zur Verbesserungsdebatte (DV 1783, 137–154, bes. 139), an dem er sich kurz zuvor in seinen Akten-Stücken die Reform der Jüdischen Kolonien in den Preußischen Staaten betreffend (1792) noch einmal abgearbeitet hatte. 289 Friedländer: Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst, 1794. S. 3. 290 Ebd., S. 4.
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zerfällt bei jedem Vermittlungsversuch in seine glanzlosen Teile. Ein ›schönes Ganzes‹ ergibt die hebräische Bibelpoesie nur im flüchtigen Moment innerlicher, nationaler Ergriffenheit, der sich aus der originalsprachlichen Lektüre ergibt. Friedländer veranschaulicht mit seinem Schreiben Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst die Kluft, die sich um 1800 in Übersetzungstheorie und -reflexion zwischen dem nun auratisierten ›Original‹ und seinen Übertragungen auftut, die notwendig unzureichend erscheinen. Während die Übersetzer und ihre Leser im 18. Jahrhundert historisch-kulturelle Charakteristika eher als etwas Äußerliches und Störendes betrachtet hatten,291 wird nun um die Jahrhundertwende vom kongenialen Übersetzer gefordert, dass er gerade diese ›Eigentümlichkeit‹ spürbar mache: An die Stelle der aufklärerischen pragmatischen Übersetzungspraxis, die zielsprachenorientiert verfährt, tritt eine hermeneutische Übersetzungskonzeption mit dem Anspruch, den eigentümlichen ›Geist‹ eines Autors und seines Werkes zu erfassen und diesen ins Deutsche zu übertragen.292 Ebendiese Auffassung eines an Sprache und Stil gebundenen eigentümlichen ›Geistes‹ (vgl. Kap. 2.1.4) steigert das übersetzungstheoretische Problembewusstsein bis hin zur Einsicht einer prinzipiellen Unmöglichkeit. Von »Werken grosser Originalitaet« weiß Wilhelm von Humboldt 1816 zu sagen, dass sie »unübersetzbar« sind.293 Wie Friedrich Schleiermacher in seinem epochemachenden Akademievortrag Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813) erklärt, wird die Übersetzung das Original nie »im Ganzen« erreichen, sondern vermag sich ihr nur »im Einzelnen« anzunähern.294 Humboldt, Schleiermacher und andere – etwa Goethe (GwöD, 280–283) – ziehen so in den 1810er Jahren aus der Auratisierung von Werk und Autor, der Emphatisierung von Originalität und Geist, der Wertschätzung historisch-kultureller wie individueller Eigentümlichkeit so291 Helmut Knufmann: Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Übersetzer- und Herausgebervorreden. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 61 (1967). S. 2676–2716, hier: S. 2693. 292 Armin Paul Frank: Main Concepts of Translating. Transformations During the Enlightenment and Romantic Periods in France, Great Britain, and the German Countries. In: Übersetzung, Translation, Traduction. An International Encyclopedia of Translation Studies. Hg. von Harald Kittel u. a. Bd. 2. Berlin/New York, NY 2007. S. 1531–1609; Gerhard Kurz: Die Originalität der Übersetzung. Zur Übersetzungstheorie um 1800. In: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Hg. von Ulrich Stadler. Stuttgart/Weimar 1996. S. 52–63; Andreas Poltermann: Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte. Hg. von Brigitte Schultze. Berlin 1987. S. 14–52; Karl Maurer: Die literarische Übersetzung als Form fremdbestimmter Textkonstitution. In: Poetica 8 (1976). S. 233–257, bes. S. 241–254. 293 Wilhelm von Humboldt: Einleitung [zur Übersetzung von Aischylos’ Agamemnon, 1816]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abt.: Werke. Bd. 8. Berlin 1909. S. 117–146, hier: S. 129. 294 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens [1813]. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hermann Fischer u. a. 1. Abt. Bd. 11. Berlin/New York, NY 2002. S. 66–93, hier: S. 79.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
wie der Idealisierung organischer Ganzheit weitreichende Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Übersetzung. Im autobiographischen Brennspiegel seiner eigenen Erfahrung als Übersetzer lässt Friedländer diese Konsequenzen schon 1794 mit seinem Schreiben Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst dramatisch hervortreten. Die Anerkennung ihres eigentümlichen originalsprachlich gebundenen Geistes führt ihn zur Einsicht in die prinzipielle Unübersetzbarkeit der Heiligen Schrift. Damit adaptiert er Einsichten, die sich aus der Historisierung und Orientalisierung des Alten Testaments durch die protestantische Bibelwissenschaft ergeben haben. Vier Jahre zuvor hatte Eichhorn in einem Rückblick auf zwei vom Furor christlicher Bibelübersetzung geprägte Jahrzehnte die Kluft zwischen Original und Übersetzung als eine zwischen Orient und Okzident beschworen: »Ists auch nur möglich, eine treue abendländische Kopie von einem morgenländischen Original zu liefern?«295 Für Friedländers eigene Übersetzungsreflexion ist diese Frage eine (sprach)politische. Wiederholt thematisiert er, dass die Grundlage des von ihm beschworenen jüdischen Nationalstolzes, die hebräische Sprache, für viele Juden zunehmend zu einer fremden ›Ursprache‹ werde und in die raumzeitliche Ferne des Orients rücke. Der Geist der morgenländischen ›Urschrift‹ ist in seiner Sprachabhängigkeit, wie Friedländer schon 1788 in seiner Abhandlung Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift erklärt, nicht ohne weiteres mit der abendländischen Lebensgegenwart deutscher Juden vermittelbar: Es ist aber auch nicht minder wahr, daß die heilige Schrift, diese reichhaltige Quelle, bestimmt, unsern Durst nach Erkenntniß zu stillen, uralt ist, und daß ihre Ströme uns aus dem entfernten Orient in einer Sprache zufließen, die uns täglich fremder wird. Dieses heilige in einer jetzt verblühten Sprache geschriebene Buch enthält manche Gesetze und Vorschriften, die nur im gelobten Lande ausführbar und zu beobachten waren; und es hat der Vorsehung gefallen, uns nach dem Abendlande zu versetzen: nach dem Abendlande, und unter Völker, die eine Sprache reden, die in jeder Rücksicht von der hebräischen verschieden, und nunmehr auch unsre Muttersprache geworden ist.296
Im Zuge der Aneignung des Deutschen als Erstsprache gerät das Hebräische zu einer Sprache, »die uns täglich fremder wird«; und damit rückt auch die Heilige Schrift zunehmend in hermeneutische Distanz. Die Bibel ist eine »Quelle« der Weisheit und der Erkenntnis, aber eine, die »dem entfernten Orient« entspringt. Nach dem »Abendlande« versetzt, liegt vielen Juden diese »Quelle« der Erkenntnis fern, ist ihre sprachliche Verfasstheit ihnen fremd. Die Herausforderung der Gegenwart besteht vor diesem Hintergrund darin, so Friedländers Diagnose, den sinnlichen Bilderreichtum der morgenländischen Sprache ins begrifflich ab straktionsfähige Deutsche zu übertragen, »in den Geist morgenländischer Dich Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 3:1 (1790/91). S. 84. Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 39.
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tungen und Redensarten einzudringen« und ihn einem modernen jüdischen Publikum zu vermitteln.297 Als »Abendländer« müssen die Juden sich ihrer Heiligen Schrift auf dem Weg umsichtiger hermeneutischer Arbeit nähern und dabei auch die orientalistischen Erkenntnisse christlicher Theologen berücksichtigen;298 sie müssen »die Sprache des Morgenlandes sorgfältig erwägen und prüfen, die Zeit der Abfassung, den Grad der Bildung, das Land, das Clima, die Verhältnisse gegen andere Völker, in welcher die Israeliten damaliger Zeit standen,« in Betracht ziehen.299 Friedländer macht immer wieder unmissverständlich klar, dass die Juden Preußens die jüdische Überlieferung zwar als ihre eigene betrachten können und sollen, aber zugleich einen Umgang damit finden müssen, dass sie ihnen – als orientalische – fremd (geworden) ist.300 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Veröffentlichung seines Schreibens Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst als deutsche Zugabe zum hebräischen Zentralorgan der Haskala, dem Me’assef, eine ganz eigene publizistische Performanz. Friedländer beschwört seine innige Begegnung mit der hebräischen ›Urschrift‹ in einer Sprache, deren Zugriff sich diese Begegnung gerade entzieht. Von dieser Warte aus kann Friedländer zwar von seiner Vision verklärter Ganzheit berichten, erfahrbar hingegen ist sie nur über das Hebräische als Originalsprache der »Originalwerke«. Friedländers Autorposition als ein noch mit dem Hebräischen sozialisierter Liebhaber der morgenländischen Dichtkunst, der im deutschen Randgebiet einer hebräischen Zeitschrift von seinem scheiternden Versuch berichtet, den Propheten Jesaja als ›schönes Ganzes‹ vom Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen, vergegenwärtigt die komplexe und prekäre Lage zwischen Sprachverlust und Sprachgewinn um 1800, als sich viele Juden in Preußen zwischen Hebräisch, jüdischdeutschen Mundarten und Hochdeutsch zu orientieren versuchen. Nun hieße es allerdings die entscheidende Funktion des Orientalismus für Friedländers Reformprojekt übersehen, wenn man seine Argumentation auf einen Seufzer der Entfremdung vom Eigenen reduzierte, der die Juden in die Arme christlicher Theologen oder gar – per Konversion – in die Arme des Christentums treibe. Gerade die Unübersetzbarkeit der morgenländischen Dichtkunst nämlich, die Friedländer mit dem Eingeständnis seines Scheiterns so dramatisch 297 Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 49. Ähnlich wie Herder (vgl. FHA 1, 290 f.) unterscheidet Friedländer das Hebräische als poetisch-ursprüngliche, bilderreiche und sinnliche »morgenländische Sprache« vom Deutschen als abstraktionsfähiger »philosophischer Sprache« (David Friedländer: Religion und Vernunft. In: ders.: Reden, der Erbauung gebildeter Israeliten gewidmet. Für Gönner und Freunde. Erste Folge. Berlin 1817. S. 3–65, hier: S. 58). 298 Friedländer: Religion und Vernunft, 1817. S. 25; David Friedländer: An die Verehrer, Freunde und Schüler Jerusalem’s, Spalding’s, Teller’s, Herder’s und Löffler’s. Hg. von Wilhelm Traugott Krug. Leipzig 1823. S. 75 f. 299 Friedländer: Religion und Vernunft, 1817. S. 23 f. 300 Mit dieser heuristischen Differenzierung zwischen Alterität/Identität und Fremdheit/Vertrautheit folge ich Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 39–59.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
in Szene setzt, verleiht dieser eine erhabene Aura des Geheimnisses. Je unzureichender die Übersetzung, desto eindrucksvoller lässt sich ex negativo die unerreichbare Größe des Originals herausstreichen: Der Versuch, so Friedländer in seiner Schrift Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst, »seinem Gemälde das frische Colorit der Urschrift« zu geben, muss dem Übersetzer misslingen, »seine Farbengebung ist matt oder überladen, ohne Würde und ohne Kraft.« Beim Versuch, im Ausdruck ebenso »kurz und kraftvoll« zu sein wie die Vorlage, werden »die Umrisse der Bilder [...] undeutlich, das Ganze verworren« – und bei kritisch rationaler Behandlung geht aller Zauber verloren.301 Nur als schwacher Abglanz lässt sich der poetische ›Geist‹ der morgenländischen ›Urschrift‹ vergegenwärtigen, mehr erahnen als erfassen. Ebendas aber lässt ihn umso anziehender erscheinen. Und dies wiederum setzt, wie nun zu zeigen sein wird, neue Gebrauchs potentiale frei. So deutlich sich Friedländer bis in die Wortwahl hinein als begeisterter Herder-Leser zu erkennen gibt und so schonungslos er die Fremdheit der biblischen ›Urschrift‹ hervorkehrt, so selbstbewusst geht er eigene Wege, um die jüdische Nationalhistorie und -literatur in ihrer morgenländischen Eigentümlichkeit mit dem universalen moral-ästhetischen Anspruch der Aufklärung und der Klassik zu vermitteln.302 Während Herder seine historisierende Würdigung der hebräischen Poesie 1782/83 in einem christlich-eschatologisch ausgerichteten Humanitätsideal aufhebt (FHA 5, 1298), bedient sich Friedländer einer Figur des WestÖstlichen, um die universale und die partikulare Bedeutung der Bibel zusammenzuschließen: Die Bibel biete einen Schatz ewiger und allgemeingültiger Vernunftwahrheiten, deren Ursprung aus dem Orient aber spürbar bleibe: Überall sehe man »die Farbe der morgenländischen Sprache durchschimmern, welches ihnen nicht allein ein originelles heiliges Ansehn giebt, sondern sie auch um so viel anziehender für den Geist macht.«303 Das »Gepräge und die Denkart eines grauen Zeitalters«304 sind zwar nicht in Gänze in die deutsche Gegenwart übersetzbar, umso effektvoller aber ist es, sie nur zu evozieren und ›durchschimmern‹ zu lassen: Ihr Abglanz lässt ihre ursprüngliche Großartigkeit bedeutungsvoll erahnen. Friedländers Metapher des morgenländischen Schimmers macht die Bibel gleichsam mittels einer zarten Version der lux ex oriente attraktiv. Damit wendet Friedländer den Schimmer als Metapher zu einer west-östlichen Vermittlungsfigur, die sich als instrumental für seine politischen Anliegen erweist. Friedländers Reformprogramm nämlich sieht vor, den orientalischen Schimmer des jüdischen Altertums strategisch zu nutzen. Während die ›Gesetze‹ und 301
Friedländer: Für Liebhaber morgenländischer Dichtkunst, 1794. S. 4. Christliche Bibelübersetzungen ins Deutsche reichen für Friedländers pädagogische Absichten ausdrücklich nicht hin, da die Übersetzung »gute und moralische Menschen« im Sinne des Judentums bilden solle (Friedländer: Religion und Vernunft, 1817. S. 4 4, vgl. auch ebd., S. 47). 303 Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 38. 304 Ebd. 302
2.2 Bibelübersetzung
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›Vorschriften‹, die auf die Lage im gelobten Land zugeschnitten waren, in der Moderne einen substantiellen Gültigkeitsverlust erleiden und mithin nach Friedländers Dafürhalten aufgegeben werden sollten, ist der durchschimmernde poetische Geist des Morgenlands auch für moderne (jüdische) Abendländer attraktiv: Es könne nicht geleugnet werden, dass der »Geist des Alterthums«, der in den überlieferten Texten wirke, anziehend für Kopf und Herz ist, und daß die glühenden Farben des orientalischen Styls einen unnachahmlichen Glanz auf das Ganze streuen. Weise Pflicht ist es also, diese Vortheile nicht fahren zu lassen, und die herrlichen Denkmäler der Vorzeit zur Erweckung der Andacht mit Geist und Auswahl zu nützen.305
Friedländer formuliert hier die grundlegende Struktur eines jüdischen Orientalismus als diskurspolitische Strategie, die in einem umsichtigen west-östlichen Grenzgang besteht: Es gelte, sich den Reiz des Morgenländischen zunutze zu machen, um eine eigene, jüdische Art der »Andacht« zu kultivieren, die in den »glühenden Farben des orientalischen Styls« erglänze. Das »der orientalischen Poesie eigenthümliche Feuer der Beredsamkeit« möge, so Friedländer, dazu beitragen, den jüdischen Lehrsätzen »neues Gewicht und Ansehen« zu geben.306 Unter dem politischen Druck der Verbesserungsdebatten (Kap. 3.1.1) kommt dieser Art der Bezugnahme auf den Orient die Funktion zu, sich bei aller Reformbemühung einen Rest von Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit zu bewahren und diese gerade als Rest attraktiv zu machen. So fordert Friedländer seine Glaubensgenossen 1819 auf: Strebt sowohl Eure Gebete als Eure Reden durch Sachkundige Männer so einzurichten, daß von der einen Seite die Eigenthümlichkeit des National-Ursprungs hier und da durchschimmere, von der anderen aber alles die abendländische Cultur beurkunde, deren Ihr theilhaft geworden seyd, und in welcher Eure Gemeinden noch manchen weiten Weg zurück zu legen haben.307
Konziser lässt sich die Strategie des frühen deutschen jüdischen Orientalismus kaum formulieren. Darauf zu achten, dass »von der einen Seite die Eigenthümlichkeit des National-Ursprungs hier und da durchschimmere, von der anderen aber alles die abendländische Cultur beurkunde« – das ist ebendie Verhaltensstrategie, die David Veit 1794 in einem Brief an Rahel Levin Mendelssohn zuschreibt (Kap. 1.8), der seine »orientalische Tournüre […] aus guten Gründen beibehalten, vielleicht affektirt« habe, um zu zeigen, dass »ein Jude mit dem Geist seiner Väter, und ganz nach dem Muster des Orients gebildet, die höchste Frei305
David Friedländer: Ueber die, durch die neue Organisation der Judenschaften in den Preußischen Staaten nothwendig gewordene, Umbildung ihres Gottesdienstes in den Synagogen, ihrer Unterrichts-Anstalten, und deren Lehrgegenstände, und ihres Erziehungs-Wesens überhaupt [1812]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 227–238, hier: S. 235. 306 Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 68. 307 Friedländer: Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen, 1819. S. 269.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
heit erreichen kann.«308 Der hier eingeforderte west-östliche Grenzgang besteht darin, das klare Bekenntnis zur europäischen Aufklärung mit morgenländischen Reminiszenzen zu versehen, die die eigene Sprecherposition im deutschen Diskurs als eine jüdische markieren, ohne in ein Entweder-Oder zu verfallen. Nicht etwa Zerrissenheit zwischen Ost und West, Tradition und Moderne, Vergangenheit und Gegenwart ist hier Programm, sondern ein Prinzip des Schimmers, der Reminiszenz und der Evokation morgenländischen Ursprungs. Friedländer greift in den folgenden Jahrzehnten mehrmals auf die Metapher des Schimmers zurück. Wie kaum eine andere eignet sie sich dazu, einen morgenländischen Ursprung in der abendländischen Gegenwart in einer Weise erahnen zu lassen, die nicht bass befremdet, sondern anziehend wirkt. Der Schimmer verbindet, mit anderen Worten, morgenländische Herkunft und europäischen Standort im sanften Sfumato des West-Östlichen. Sein Gebrauchswert als Metapher erklärt sich aus dem Spannungsfeld, in dem deutsche Juden um 1800 operieren. Der morgenländische Schimmer definiert das Judentum nicht als dem Orient zugehörige, sondern als auf den Orient bezogene Religion und Tradition. Als ästhetische Kategorie hat er mithin eine eminent politische Funktion: Er erlaubt es einem Reformer wie Friedländer, in einer Doppelrolle aufzutreten: als Orientale dem Ursprung nach und als Orientalist dem gegenwärtigen Refle xionsstandpunkt nach. Das hat Konsequenzen sowohl für die Position, die Friedländer nach außen einnimmt, als auch für seine Stellung in den innerjüdischen Debatten. Indem er den morgenländischen Schimmer zur Signatur eines bestimmten – liberalen, reformorientierten – jüdischen Traditionsverhaltens erhebt, nutzt er ihn nicht nur zur Positionierung in der von christlichen Forderungen bestimmten Emanzipationsdebatte, sondern gleichzeitig auch zur innerjüdischen Abgrenzung vom konservativen Lager. 2.2.6 Zusammenfassung Während man die verschiedenen jüdischen Übersetzungen der Bibel zumeist unter Rückgriff auf den weltanschaulichen und theologischen Standpunkt der Herausgeber und Übersetzer zu erklären versucht hat,309 habe ich in diesem Kapitel einige ästhetische Kriterien und Maßstäbe sichtbar gemacht, die der jeweiligen Übersetzungspraxis zugrunde liegen. Die Überlegungen, die im Kontext 308 Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Bd. 7. München 1983. S. 88. 309 Dabei liegen oft diffuse Vorstellungen von ›freier‹ und ›sklavischer‹ Übersetzung im Verhältnis zu ›freier‹ und ›sklavischer‹ Religiosität zugrunde. So meint Dafna Mach ein Paradox darin ausmachen zu können, dass Mendelssohn als »Vertreter der Orthodoxie« eine freie, zielsprachenorientierte Übersetzung vornehme, während »der liberale Reformer Johlson« in seiner Übersetzung strikt am originalen Wortlaut festhalte (Dafna Mach: Jüdische Bibelübersetzungen ins Deutsche. In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hg. von Stéphane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1986. S. 54–63, hier: S. 59).
2.2 Bibelübersetzung
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der Literaturdebatten des 18. Jahrhunderts über die sogenannte hebräische Poesie angestellt werden, wirken in die jüdische Übersetzungspraxis und Übersetzungsreflexion der Jahrzehnte um 1800 hinein.310 Sowohl die Pluralisierung des Altertums und die sich daraus ergebende Konkurrenz zwischen der hebräischen Poesie und anderen Poesien des Altertums als auch die Bestimmung der hebräischen Poesie als morgenländische Ursprungspoesie haben Konsequenzen dafür, wie jüdische Übersetzer vorgehen, wie sie ihr Vorgehen reflektieren und wie sie die Ergebnisse ihrer Arbeit präsentieren. Die hebräische Poesie ist ein zentraler Gegenstand für Mendelssohns Überlegungen zum Erhabenen, die – in deutscher Sprache veröffentlicht – von maßgebender Bedeutung für die Aufklärungsästhetik sind. In seinem hebräischen Kommentar zu den poetischen Passagen in der Tora entwickelt Mendelssohn die Reflexion über das Erhabene weiter und begründet in ihr seine rhythmisch-syntaktisch orientierte Übersetzungspraxis. Während die Übersetzung der fünf Bücher Mose von Anfang an zur Bildung und Aufklärung eines jüdischen Publikums bestimmt ist, adressiert Mendelssohn seine Psalmenübersetzung an das christliche Publikum der Spätaufklärung. Mit Blick auf seine unterschiedlichen Adressierungsstrategien in beiden Übersetzungsprojekten und die damit verbundenen Vermittlungsleistungen und Wissenstransfers hat sich gezeigt, wie Mendelssohn die poetischen Anteile des Tanachs als ästhetisch eigenwertige morgenländische Dichtung gegenüber anderen Poesien des Altertums (insbesondere der lateinischen und griechischen) profiliert und dabei zugleich seinen klassizistischen, rationalistischen Geschmacksstandards treu zu bleiben versucht. Er zieht in seiner Psalmenübersetzung einerseits mit seiner Entscheidung für freie Rhythmik und affektpoetische Kürze weitreichende übersetzerische Konsequenzen aus seinen Reflexionen über das »Eigenthümliche der hebräischen Dichtkunst« (JubA 12.1, 233), verfolgt aber andererseits die Strategie eines apologetischen und dezenten Orientalismus, um die jüdische Überlieferung den Geschmacksnormen der Aufklärungszeit anzupassen und dabei in seiner Autorposition die Kontinuität jüdischer Überlieferung zu manifestieren. In beiden Übersetzungsprojekten erprobt Mendelssohn neue Zugangsweisen und Präsentationsformen für die jüdische Überlieferung und positioniert sich in der Umbruchsituation der deutschen jüdischen Kulturgeschichte im Ausgang des 18. Jahrhunderts. Friedländer versucht im Anschluss an Mendelssohn, die jüdische Überlieferung mit den Maßstäben der klassizistischen Werkästhetik zu vermitteln, indem er sie mit Metaphern aus den Bereichen der Bildhauerkunst und der Architektur beschreibt. Seine Inszenierung der Heiligen Schrift als begehbarer Tempel plausibilisiert vor diesem Hintergrund den umfassenden ästhetisch-politischen An310 Vgl. auch Kathrin Wittler: Orientalische Poesie als schönes Ganzes? Jüdische Bibelübersetzung als ästhetisches Projekt. In: Deutsch-jüdische Bibelwissenschaft. Historische, exegetische und theologische Perspektiven. Hg. von Shani Tsoref u. a. Berlin/Boston, MA 2019 [im Druck].
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
spruch seiner Reformbemühungen. Unter emanzipationspolitischen Vorzeichen wird mit der ästhetischen Würdigung der hebräischen Poesie immer auch die moralische Integrität der jüdischen Nation verteidigt. Die ästhetische Verbesserung bzw. aufklärerische Restaurierung der jüdischen Überlieferung wird als Teil der sittlichen Verbesserung der Juden verstanden. Am Beispiel Friedländers tritt hervor, dass die ästhetischen Überlegungen, die in der jüdischen Übersetzungspraxis und Übersetzungsreflexion um 1800 zum Tragen kommen, im Kontext der Emanzipationsdebatten immer auch politische Implikationen haben. In diesem Zusammenhang lassen sich orientalistische Bezugnahmen gezielt und strategisch einsetzen, um für einen neuen, selbstbewusst modernen und west-östlich kodierten Umgang mit der jüdischen Überlieferung zu werben. Um die Bibel als würdiges Erbe der Juden stark zu machen, setzt Friedländer die Metapher des morgenländischen Schimmers ein. Indem er fordert, den morgenländischen Ursprung in modernen Aneignungen der jüdischen Überlieferung ›durchschimmern‹ zu lassen, definiert er das Judentum nicht als dem Orient zugehörige, sondern als auf den Orient bezogene Religion und Tradition. In der Rolle eines jüdischen ›Liebhabers morgenländischer Dichtkunst‹ plädiert er für eine ästhetisch sensible Aneignung der Bibel, die sich mittels eines nuancierten Orientalismus mit den Anforderungen der Emanzipation im Einklang weiß. Die Übersetzung der hebräischen Bibel wird dabei als sprachlich-kultureller Vermittlungsakt interpretiert, der überhaupt erst durch die tiefgreifenden Veränderungen jüdischen Lebens um 1800 nötig erscheint.
2.3 Altertumswissen Die Veränderungen im Verständnis und in der Wertung der hebräischen Poesie, die sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ergeben, sind eng verbunden mit Veränderungen des Wissens von der Bibel und von den biblischen Hebräern, namentlich ihrer Historisierung und Orientalisierung.311 Diese wissens- und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen, die in den bisherigen Ausführungen schon verschiedentlich gestreift wurden, sollen nun noch einmal konzentriert mit der Frage in den Blick genommen werden, welche Konsequenzen sie für den Stellenwert der Hebräer im altertumswissenschaftlichen Diskurs haben. Denn insbesondere dieser Diskurs bedingt, wie nach der kurzen Begeisterungswelle für die hebräische Poesie im 18. Jahrhundert weiter über die jüdische Überlieferung nachgedacht wird, welcher Stellenwert ihr beigemessen wird und wer sich ihrer Erschließung und Untersuchung widmet.
311 Vgl. zu den dies vorbereitenden Umstellungen in der Frühen Neuzeit Carlo Ginzburg: Provincializing the World. Europeans, Indians, Jews (1704). In: Postcolonial Studies 14:2 (2011). S. 135–150.
2.3 Altertumswissen
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Am Ende des 18. Jahrhunderts gerät die hebräische Poesie, so wird sich zeigen, mitten in einen umfassenden Prozess disziplinärer Ausdifferenzierung und konkret in die Abgrenzungsbemühungen von Theologie, Altertumswissenschaft und Orientalistik. Ob die Hebräer ein eigenes glanzvolles Altertum konstituieren, das als Forschungsgebiet eigenen Rechts bestehen könne (Kap. 2.3.1), oder neben Ägyptern und Indern zum minderwertigen orientalischen Anderen der klassischen Antike zählen; ob sie Gegenstand der Orientalistik, der Theologie oder der Altertumswissenschaft sind und welchen Stellenwert sie jeweils in diesen Diszi plinen einnehmen sollten, wird kontrovers verhandelt. Am Beispiel von Anton Theodor Hartmanns Versuch, mit seinem dreibändigen Opus Die Hebräerin am Putztische und als Braut (1809/10) den häuslichen Bereich des hebräischen Altertums zu erschließen, werde ich aufzeigen, welche darstellerischen Schwierigkeiten sich aus diesen disziplinären Abgrenzungsbemühungen ergeben (Kap. 2.3.2). In Theologie und Orientalistik schließlich marginalisiert und in der klassischen Altertumswissenschaft negativkanonisiert (Kap. 2.3.3), geraten das hebräische Altertum und die hebräische Poesie im 19. Jahrhundert an die Ränder des Wissenschaftsbetriebs. Nur wenige Außenseiter-Theologen und die Wissenschaftler des Judentums, denen die Eingliederung in deutsche Universitäten versagt bleibt, widmen sich der hebräischen – nun aber vor allem nachbiblischen – Literatur (Kap. 2.3.4). Die wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen dieser Jahrzehnte, insbesondere die Grenzbefestigungen zwischen Theologie, Altertumswissenschaft und Orientalistik, bilden wichtige Voraussetzungen für die Konzeptualisierung und Bewertung jüdischer Literatur in der allgemeinen Literaturgeschichtsschreibung und der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts. 2.3.1 Das Projekt einer Archäologie der Hebräer Hebräische Antike zwischen Theologie, Altertumswissenschaft und Orientalistik (Michaelis – Eichhorn) Der Göttinger Professor für Philosophie und orientalische Sprachen Johann David Michaelis verfolgt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkmächtig das Projekt, die Israeliten als antike Kulturnation im Diskurs zu etablieren, die neben den Griechen und Römern als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand bestehen könne.312 Von heilsgeschichtlichen Einordnungen absehend, will er das Alte Testament unter Zuhilfenahme von Methoden und Konzepten aus Dieses Anliegen wird umfassend rekonstruiert bei Michael C. Legaspi: The Death of Scripture and the Rise of Biblical Studies. Oxford 2010. Vgl. auch Christhard Hoffmann: Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts. Leiden u. a. 1988. S. 29 f.; zu Michaelis neuerdings ferner – allerdings unter Ausblendung der Forschungsarbeit Legaspis – Maike Rauchstein: Fremde Vergangenheit. Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1791). Bielefeld 2017. 312
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
den Altertumswissenschaften als Sammlung antiker kultureller Überreste für die Moderne fruchtbar machen. Besonders deutlich wird das an seinem Hauptwerk Mosaisches Recht, das in den Jahren 1770 bis 1775 erscheint. Programmatisch richtet er sich mit dieser an Montesquieus Schrift De l’esprit des loix (1748) anschließenden monumentalen Studie an eine breite Adressatengruppe aus Philologen, Theologen, Juristen und anderen Gelehrten, die sich mit Fragen der Gesetzgebung beschäftigen. Michaelis will die mosaischen Gesetze nicht nur philologisch als »Theil der Hebräischen Alterthümer« betrachtet wissen, sondern dafür sorgen, dass sie der Allgemeinheit weniger »fremde und Asiatisch« scheinen. Die mosaischen Gesetze sind zwar, wie Michaelis nachdrücklich hervorhebt, für die moderne Gesetzgebung nicht bindend; ähnlich aber wie die griechische Antike für die Europäer des 18. Jahrhunderts einen normativen Bezugspunkt darstellt, ohne dass die Mythologie und die Staatsform der Griechen in der Gegenwart umgesetzt werden, will Michaelis ihre Bedeutung und Gegenwartsrelevanz »als Gesetze eines sehr entfernten Landes, und Ueberbleibsel der allerältesten gesetzgebenden Weisheit« gerade in ihrer Antiquität begründen.313 Um in diesem Sinne Israel als antike Kulturnation würdigen zu können, muss der Göttinger Professor sein Projekt zwischen Theologie, Orientalistik und Altertumswissenschaft austarieren. Gezielt die institutionelle Bindung an die Theologie meidend,314 will Michaelis die Bibel von ihren religiösen Gebrauchstraditionen abtrennen, seien es jüdische oder christliche.315 Michael C. Legaspi hat dies mit der Formulierung auf den Punkt gebracht, Michaelis wolle eine postkonfessionelle Bibel schaffen, indem er ein präkonfessionelles Israel rekonstruiere.316 So schickt Michaelis den ersten Band des Mosaischen Rechts am 27. Januar 1770 mit dem Hinweis an Mendelssohn, das Werk enthalte gar keine Controversien unserer mit der jüdischen Religion, sondern bloß diese gegen die, die Mosis Gesetze zu tadeln und seine Gesetze verdächtig machen wollen, daß diese Gesetze den Umständen des Landes und des Volkes vollkommen angemessen, sie also folglich zwar nicht für alle Völker, aber doch für die Israeliten die besten waren. (JubA 12.1, 213)
Um das Alte Testament von seiner jüdischen und christlichen religiösen Deutungs- und Gebrauchstradition zu lösen und für die Rekonstruktion einer hebräischen Antike freizustellen, bestimmt Michaelis das Babylonische Exil zur Epochengrenze des antiken Israel und trennt es strikt von den späteren Entwicklun-
Johann David Michaelis: Mosaisches Recht. Bd. 1. Reutlingen 21785. S. 1 f. Anna-Ruth Löwenbrück: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791). Frankfurt am Main u. a. 1995. S. 81–101. 315 Michaelis: Deutsche Übersetzung des Alten Testaments. Bd. 1 (21773). S. xxiv. 316 Legaspi: The Death of Scripture, 2010. S. 165. 313 314
2.3 Altertumswissen
165
gen des Judentums. Für sein Projekt, eine hebräische Antike zu konturieren, ist die Kontinuität jüdischer Geschichte ein Störfaktor.317 In programmatischer Abkehr von den frühneuzeitlichen Hebraisten, die bei den jüdischen Gelehrten ihrer Zeit in die Schule gegangen waren und rabbinische Wissensbestände genutzt hatten, sucht Michaelis bei den Arabern der Gegenwart nach Erklärungen für dunkle Bibelstellen.318 Bei diesem »abgesondert lebenden, und selten unter ein fremdes Joch gebrachten Volke,« so Michaelis in seinem Mosaischen Recht, »haben sich die alten Sitten so erhalten, daß man glaubt, in der Hütte Abrahams zu seyn, wenn man eine Beschreibung der herumzienden Araber lieset.«319 Zwar hatten auch frühneuzeitliche Bibelexegeten und Historiographen Reiseberichte aus dem Orient herangezogen,320 Michaelis aber setzt die Annahme, dass (nur) die Araber Aufschluss über die alttestamentlichen Hebräer bieten können, mit einer neuartigen wissenschaftlichen Konsequenz um, indem er eine aufwändige Forschungsexkursion auf die Arabische Halbinsel initiiert. Von dieser Reise, die in den Jahren 1761 bis 1767 über den Sinai bis in den Jemen und schließlich nach Bombay führt, kehrt der Mathematiker und Kartograph Carsten Niebuhr als einziger Überlebender zurück und veröffentlicht seine Ergebnisse in seiner vielbeachteten Reisebeschreibung nach Arabien (1774).321 Nur die ruralen Araber, nicht etwa die Juden und auch nicht die Perser oder die Osmanen mit ihrer despotischen, kulturell hybriden und dekadenten Hofkultur, bieten sich in Michaelis’ Perspektive für Rückschlüsse auf ein antikes Israel an, das analog zum antiken Griechenland rekonstruiert werden soll. Die Diasporageschichte der Juden ist ihm eine Geschichte fremder Einflüsse, eine Geschichte der Veränderungen, die weit weg führt vom antiken Israel.322 Michaelis’ Ansatz prägt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Arbeiten einer ganzen Reihe von Philologen, Archäologen, Orientalisten und Theologen, die versuchen, in seiner Nachfolge eine sogenannte Archäologie der Hebräer zu etablieren.323 Dabei changiert, wie schon bei Michaelis, der Status des Alten Tes317 Michaelis’ Feindseligkeit gegenüber der rabbinischen Gelehrsamkeit (Löwenbrück: Judenfeindschaft, 1995. S. 204) ist in diesem Lichte betrachtet weniger ein antisemitisches Antriebsmoment seiner Forschung als ein Effekt seines forschungspolitischen Bemühens um die Konstruktion Israels als untergegangene antike Kulturnation. 318 Legaspi: The Death of Scripture, 2010. S. 96 f. 319 Michaelis: Mosaisches Recht. Bd. 1 (21785). S. 10. 320 Löwenbrück: Judenfeindschaft, 1995. S. 90. 321 Ulrich Hübner: Johann David Michaelis und die Arabien-Expedition 1761–1767. In: Carsten Niebuhr (1733–1815) und seine Zeit. Hg. von Josef Wiesenhöfer und Stephan Conermann. Stuttgart 2002. S. 363–402; Eric Achermann: Reisen zwischen Philologie und Empathie. Michaelis und die Niebuhr-Expedition. In: Cardanus 3 (2002). S. 51–78; Sheehan: The Enlightenment Bible, 2005. S. 186–199. 322 Vgl. auch Michaelis’ Brief an den Freiherrn von Bernstorff vom 30. August 1756 (Johann David Michaelis: Literarischer Briefwechsel. Hg. von Johann Gottlieb Buhle. Bd. 1. Leipzig 1794. S. 305). 323 Auch Herder erhält durch Michaelis wichtige Impulse. Im Jahr 1766 kündigt Michaelis ein
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taments zwischen historischer Quelle und auszulegender Schrift. In den 1770er Jahren weiten mehrere Forscher Michaelis’ Projekt auf die Erschließung des althebräischen ›Privatlebens‹ aus. Der junge Orientalist Johann Ernst Faber etwa, der seit 1772 eine Professur für Philosophie und morgenländische Sprachen in Jena innehat, präsentiert 1773 eine Archäologie der Hebräer, die nicht – wie im christlichen Hebraismus der Frühen Neuzeit üblich – religiös-institutionelle oder politische Aspekte,324 sondern »den Lebenswandel, das Hauswesen, den Nährstand, die Künste und Wissenschaften« behandeln möchte.325 Das Alte Testament steht hier nicht mehr im Zentrum, sondern zählt neben seinen Übersetzungen, neben Pseudo-Philos Buch der biblischen Altertümer, Flavius Josephus’ Jüdischen Altertümern, dem Talmud und den Rabbinern, den Griechen und Römern sowie neuen Reisebeschreibungen zu den »Quellen und Hülfsmitteln«, die Aufschluss über die hebräischen Altertümer geben sollen.326 Fast zeitgleich indes veröffentlicht Faber unter dem Titel Beobachtungen über den Orient aus Reisebeschreibungen, zur Aufklärung der heiligen Schrift eine deutsche Übersetzung von Thomas Harmers Observations on divers Passages of Scripture (1764), die – schon im Titel – auf die Auslegung der Bibel hin perspektiviert ist. Diese Veröffentlichung will Faber als komplementär zu seiner Archäologie der Hebräer verstanden wissen: »Beyde Bücher stehen in einer so genauen Verbindung mit einander, daß sie sich wechselweise aufeinander beziehen.«327 Die Hebräer werden zum einen, oft außerhalb der Disziplin der Theologie, unter Abgleich mit anderen Quellen als antike Kulturnation mit eigenen Wohnbautechniken und Riten rekonstruiert, zum anderen wird dieses Wissen immer wieder an die theologische Bibel exegese rückgebunden. Das gilt auch für die anderen Pionierwerke im Gebiet der hebräischen Altertumskunde. Der Greifswalder Gymnasiallehrer und Philologe Heinrich Ehrenfried Warnekros stellt sich 1782 mit seinem Entwurf der hebräischen Altertümer, Werk über die Antiquitates Hebraicae an, das Herder mit Spannung erwartet (FHA 1, 538; vgl. HSW 4, 225). Wenig später, 1769, versucht Herder sich selbst an einer »Archäologie der Hebräer« bzw. »Archäologie des Morgenlandes« (HSW 6, 512; vgl. die Fragmente in HSW 6, 1–129), schlägt aber letztlich stilistisch und konzeptuell mit seiner Schrift über die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774/76) radikal andere Wege ein. 324 Eric Nelson: The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought. London/ Cambridge, MA 2010; Political Hebraism. Judaic Sources in Early Modern Political Thought. Hg. von Gordon Schochet u. a. Jerusalem/New York, NY 2008. 325 Johann Ernst Faber: Archäologie der Hebräer. Erster Theil. Halle 1773. S. 4. Johann Jahn unterteilt seine Biblische Archäologie (1796–1805) in drei Bände zu Häuslichen, Politischen und Heiligen Alterthümern. 326 Faber: Archäologie der Hebräer, 1773. Vorrede (unpaginiert). 327 [Thomas Harmer]: Beobachtungen über den Orient aus Reisebeschreibungen, zur Aufklärung der heiligen Schrift. Aus dem Englischen [1764] übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Johann Ernst Faber. Bd. 1. Hamburg 1772. Vorrede (unpaginiert). Mendelssohn besaß ein Exemplar der faberschen Übersetzung (vgl. Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn [1786]. Hg. von Herrmann Meyer. Nachdruck Berlin 1926. S. 21).
2.3 Altertumswissen
167
der ein breites Spektrum von Zeltbau und Hygiene über Handel, Erziehungsfragen bis hin zu Trauerriten, Schenkritualen und Tonkunst umfasst, explizit in die Nachfolge von Michaelis und Faber. Die Frage, welche Texte inspiriert seien und zum Kanon gehörten, ist für Warnekros erklärtermaßen unerheblich. So verwendet er neben apokryphen Schriften Flavius Josephus, den Talmud, den Koran und andere arabische Schriften sowie neuere Reisebeschreibungen, vor allem diejenigen Niebuhrs.328 Warnekros begründet ausführlich, warum neben der Bibel auch zahlreiche andere Zeugnisse zur Rekonstruktion des hebräischen Altertums herangezogen werden müssen, um dann abschließend zu bemerken: »Unentbehrlich ist die Alterthumskunde demjenigen, welcher sich an die Erklärung der biblischen Bücher wagen will.«329 Bei allem Bemühen also, unter Zuhilfenahme der Orientalistik eine hebräische Altertumskunde zu etablieren, bleibt diese doch eng auf die Theologie bezogen und wird dieser im 19. Jahrhundert auch vollständig wieder einverleibt.330 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber ist die Erforschung der sogenannten hebräischen Altertümer und ihre Anerkennung als eigenständiger Untersuchungsgegenstand ein mit hohen Erwartungen verbundenes Projekt. Das bezeugen nicht zuletzt die konzeptuellen und terminologischen Anstrengungen, die unternommen werden, um die Archäologie der Hebräer von den Kontinuitätslinien jüdischer Überlieferung und Geschichte abzutrennen. Um dem ›antiken Geist‹ Israels durch dessen Abgrenzung von vermeintlichen späteren Deformationen Kontur zu verleihen,331 ziehen Faber, Warnekros und andere beim Babylonischen Exil eine Trennlinie.332 Diese Trennlinie wird auch terminologisch statuiert: Während deutsche Juden um 1800 die Bezeichnung Israeliten für sich selbst zu verwenden beginnen, um den negativen Konnotationen der Bezeichnung Jude zu entkommen und eine Kontinuität zu ihrem antiken Erbe herzustellen,333 werden in den Wissenschaften – besonders in der Bibelkritik – gegenläufi328 Heinrich Ehrenfried Warnekros: Entwurf der hebräischen Altertümer zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Weimar 1782. Vorbericht (unpaginiert). 329 Ebd. Ende des Vorberichts (unpaginiert). 330 Eine von einem Jenaer Theologie-Professor auf Bitte des Verlags grundlegend überarbeitete dritte Auflage des stark nachgefragten Werks wird vierzig Jahre später ausdrücklich und ausschließlich an ein theologisches Publikum gerichtet. Vgl. Heinrich Ehrenfried Warnekros: Entwurf der hebräischen Altertümer. Dritte, gänzlich umgearbeitete und durchgängig verbesserte Auflage von Andreas Gottlieb Hoffmann. Weimar 1832. 331 Auch Herder fügt das hebräische Altertum in ein Dekadenznarrativ ein, wenn er die Überlegung anstellt, dass die Hebräer mit David und Salomo eine »goldne Zeit« erlebten, in der Zerstreuung aber »die ursprüngliche[n] reine[n] Orientalische[n] Vorstellungsarten« und der »antike dichterische Geist«, der Mose und die von ihm gesammelten Schriften durchströmt hatte, verdorben worden seien (FHA 5, 19 f.). 332 Vgl. etwa Warnekros: Entwurf der hebräischen Altertümer, 1782. Beginn des Vorberichts (unpaginiert); Johann Babor: Alterthümer der Hebräer. Wien 1794. S. x. 333 Michael A. Meyer: Die Anfänge des modernen Judentums. Jüdische Identität in Deutschland, 1749–1824. Aus dem Englischen [1967] übersetzt von Ernst-Peter Wieckenberg. Ergänzte Neuausga-
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
ge Anstrengungen zu einer klaren Begriffsscheidung zwischen antiken Hebräern und späteren Juden unternommen.334 Johann Gottfried Eichhorn spricht schließlich 1794 in seiner Allgemeinen Bibliothek der biblischen Litteratur ein terminologisches Machtwort: »Der Bestimmtheit wegen sollte man die Nation vor der Rückkunft aus dem [Babylonischen] Exil immer Hebräer oder Israeliten nennen; erst nach der Rückkunft aus dem Exil verdienen sie den Namen Juden.«335 In einem spannungsvollen Wechselverhältnis von Theologie, Orientalistik und Altertumswissenschaft entwickelt sich so im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kurzzeitig eine Forschungsrichtung, die das Wissen von den alten Hebräern unter dem Sammelbegriff ›hebräischer Altertümer‹ bündelt und die Vorstellungen, die man sich von ihnen macht, revolutioniert. Eichhorn, der seit 1788 einen Lehrstuhl für Philosophie und orientalische Sprachen in Göttingen innehat, resümiert 1795 in einer Rezension zu den Alterthümern der Hebräer (1794) des Theologen Johann Babor: Welch ein ganz andrer Geist wehet nicht aus unsern neuesten Schriften über die hebräischen Alterthümer, als aus denen, die noch vor wenigen Decennien erschienen sind! Es ist, als wenn die Hebräer eine ganz andre Nation geworden wären, so verändert ist die Vorstellung, die man sich nun von ihrer Denkart, ihren Sitten und Gewohnheiten, ihren Gesetzen und Rechten macht. Das antiquarische Studium der Hebräer ist nicht mehr leere Mikrologie, nicht mehr bloße Memoriensache, nicht mehr ängstliches Haschen nach Nomenclatur: es ist nun, was es seyn muß, wenn es sich philosophischen Köpfen empfehlen, und in unsre gegenwärtige Lage der Litteratur passen soll – Geschichte der Cultur der Hebräer, eine historische Darstellung der Veränderung und allmähligen Verbesserung ihres gesellschaftlichen Zustandes, ihrer Staatsverfassung und ihrer Staatsverwaltung durch Anstalten zur innern und äußern Sicherheit, zur Bequemlichkeit des Lebens, durch Feldbau, Gewerbe, Handlung u. dergl., und zur Aufklärung, der politischen sowohl, als der bürgerlichen und der religiösen. Und alle diese Gegenstände werden nicht mehr im Licht unsrer Zeiten, sondern im Geist des Alterthums betrachtet und gewürdiget, nach Gesichtspunkten, die von der Lage andrer Stämme, die auf gleicher Stufe der Bildung gestanden und noch stehen, abgezogen sind. Durch diese Behandbe München 2011. S. 79 f., S. 175 f. und S. 234 (Anm. 36); Jacob Jacobsohn: Zu David Friedlaenders Bemühungen um Abschaffung des Namens »Jude«. In: AZJ 76:32 (1912). S. 379 f. Vgl. für Frankreich Simon Schwarzfuchs: Du Juif à l’israélite. Histoire d’une mutation (1770–1870). Paris 1989. 334 HaCohen: Reclaiming the Hebrew Bible, 2010. S. 50–54. Das schlägt sich auch in der lexikographischen Ordnung des Wissens nieder. Vgl. den Beginn eines Eintrags zu den Juden, der ausdrücklich nur »die Periode von der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus im Jahre 70 n. Chr. bis auf die neueste Zeit« behandelt und für Informationen über »die ältere Zeit« auf den Eintrag Hebräer verweist (Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. Hg. von J.S. Ersch und J.G. Gruber. Bd. 2. Teil 27. Leipzig 1850. S. 1). Vgl. kritisch zur Fortschreibung dieser Scheidung in der alttestamentlichen Forschung Marc Zvi Brettler: Judaism in the Hebrew Bible? The Transition from Ancient Israelite Religion to Judaism. In: The Catholic Biblical Quarterly 61:3 (1999). S. 429–447. 335 Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 6:2 (1794/1795). S. 393. Vgl. ähnlich Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Lehrbuch der Hebräisch-Jüdischen Archäologie nebst einem Grundriss der Hebräisch-Jüdischen Geschichte. Leipzig 1814. S. 3: »Hebräer nennen wir die Israeliten vor dem Exil in ihrem natürlichen Zustand; Juden, in ihrem künstlich wieder hergestellten Zustand nach dem Exil, in welchem sie einen ganz andern Charakter zeigen.«
2.3 Altertumswissen
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lungsart sind sie nun eine reiche Quelle für die Geschichte der Menschen und der Menschheit geworden.336
Im Lichte der neueren Forschung – »im Geist des Alterthums betrachtet und gewürdiget« – sind die Hebräer, wie Eichhorn hier enthusiastisch mitteilt, »eine ganz andre Nation« geworden. Erst ihre Historisierung und Kontextualisierung im Altertum hat ihre Erforschung für die Moderne anschlussfähig gemacht und sie auf die Höhe der Gegenwart gebracht, sie in die »gegenwärtige Lage der Litteratur« eingepasst. Die Hebräer erscheinen hier von menschheitsgeschichtlicher Relevanz nicht wegen ihrer heilsgeschichtlichen Dimension, sondern wegen ihres Status als Altertumskultur. Dank der Ergänzung zahlreicher Überlieferungslücken mit Wissen über andere morgenländische Völker des Altertums und der Gegenwart sind sie »eine reiche Quelle für die Geschichte der Menschen und der Menschheit« geworden. Eichhorns Begeisterung über die neuartigen Zugänge zu den hebräischen Altertümern bürgt für den Erfolg des Projekts, das Alte Testament unter Umgehung seiner konfessionellen Gebrauchstraditionen als Dokument einer klassischen Kulturnation für die Moderne fruchtbar zu machen. Allerdings erweist sich dieser Erfolg bald als kurzlebig. Michaelis’ antikes Israel ist, wie Legaspi formuliert, »an unstable scholarly creation.«337 Langfristig kann sich das hebräische Altertum nicht als ein Forschungsgegenstand eigenen Rechts in der Gelehrtenwelt des 19. Jahrhunderts etablieren.338 Mit ihrem unsicheren Stand zwischen den drei Fachdisziplinen Theologie, Orientalistik und klassische Altertumswissenschaft, die sich um die Jahrhundertwende tiefgreifend umstrukturieren bzw. etablieren, landen die Israeliten als antike Kulturnation im institutionellen Niemandsland. In der Theologie erlangt die archäologische und philologische Erschließung der hebräischen Antike nur den Status einer Hilfswissenschaft;339 in der Altertumswissenschaft können sich die Hebräer neben der normgebenden griechisch-römischen Antike nicht als Quelle und Vorbild moderner abendländischer Kultur behaupten,340 und für die Orientalistik sind bald andere Sprachen, Gegenden und Kulturen wie etwa die Inder, Araber und Perser ergiebiger und interessanter als das kleine israelitische Volk mit seinem wohlbekannten Textkorpus.341 Am Beispiel eines wissenschaftlichen Versuchs, den häuslichen Bereich des hebräischen Altertums zu erschließen, werde ich nun nachvollziehbar Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 6:3 (1794/95). S. 528–530. Legaspi: The Death of Scripture, 2010. S. 159. 338 Suzanne L. Marchand: Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970. Princeton, NJ 1996. S. 5 f. 339 Dieter Vieweger: Archäologie der biblischen Welt. Gütersloh 2012, bes. S. 42–61. 340 Legaspi: The Death of Scripture, 2010. S. 159. 341 Vgl. insgesamt zur Genese und Ausdifferenzierung der Disziplin Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire – Religion, Race, and Scholarship. Washington, DC u. a. 2009; Sabine Mangold: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004. 336 337
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
machen, wie sich diese Probleme in konkreten Rekonstruktionsversuchen der hebräischen Antike abzeichnen. 2.3.2 Ver- und Entschleierungen Hartmanns Hebräerin am Putztische und als Braut (1809/10) Mit seinem dreibändigen Opus Die Hebräerin am Putztische und als Braut präsentiert der Orientalist und Theologe Anton Theodor Hartmann 1809/10 auf fast 1500 Seiten eine Geschichte der Kleidung und Körperpflege der Hebräerinnen im alten Palästina »von den rohesten Anfängen« der Nomaden bis zur »üppigsten Pracht« der Staatsperiode.342 Hartmann hatte bei Eichhorn in Göttingen Theologie studiert und war, zunächst als Gymnasiallehrer in Oldenburg tätig, bereits mit einer Arbeit Über die Ideale weiblicher Schönheit bei den Morgenländern (1798) sowie mit der Anthologie Asiatische Perlenschnur (1800/1801) und einer weiteren Morgenländischen Blumenlese (1802) als ein auf Öffentlichkeitswirksamkeit bedachter Orientalist hervorgetreten. Auch mit seiner Hebräerin am Putztische will Hartmann ein breites Publikum erreichen. Er verspricht in seiner Vorrede, ein »Gemählde des Luxus und der Moden in der alten Welt« zu bieten (HP 1, xiv), und empfiehlt sich damit dem Kreis der Leserinnen und Leser des erfolgreichen Journals des Luxus und der Moden, das seit 1786 von Friedrich Justin Bertuch in Weimar verlegt wird. Zugleich aber sucht er mit seiner umfangreichen Arbeit, deren enormer Anmerkungsapparat vollständig in den dritten Band ausgelagert ist, seine Befähigung für eine Theologie-Professur zu erweisen,343 die er 1811 auch tatsächlich in Rostock erhält. In den 1820er Jahren macht sich Hartmann dann als Kenner rabbinischer Literatur einen Namen und betätigt sich in dieser Funktion auf eine zwischen Anbiederung und Feindschaft gegenüber den Juden seiner Zeit schwankende Weise an den Emanzipationsdebatten der 1830er Jahre.344 Als Gelehrter, der auf der Grenze zwischen akademischer und populärer Wissensvermittlung operiert, erkundet Hartmann das h ebräische Altertum und das rabbinische Judentum in einem Überschneidungsbereich von Theologie, Altertumswissenschaft und Orientalistik. An seiner Hebräerin am Putztische lässt sich aufzeigen, wie diese wissenschaftsgeschichtliche Konstellation konkrete Formen in der Präsentation
Anton Theodor Hartmann: Die Hebräerin am Putztische und als Braut, vorbereitet durch eine Übersicht der wichtigsten Erfindungen in dem Reiche der Moden bei den Hebräerinnen, von den rohesten Anfängen bis zur üppigsten Pracht. 3 Bde. Berlin 1809/1810 [Sigle HP]. 343 Darauf scheint auch eine äußerst wohlwollende und ausführliche Rezension der Hebräerin hinwirken zu wollen (Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 26:107 (1810). Sp. 249–256). 344 Nur Rudimente der damit verbundenen publizistischen Scharmützel sind erfasst in Cornelia Schlarbs Eintrag zu Hartmann im Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Wolfgang Benz. Bd. 2.1. München 2009. S. 332 f. 342
2.3 Altertumswissen
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hebräischer Altertümer annimmt und eine Orientalisierung und Erotisierung der antiken Hebräerinnen nach sich zieht.345 Hartmanns Hebräerin am Putztische hat in Karl August Böttigers Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin (1803) ihr Vorbild.346 Der als Weimarer Klatschmaul berüchtigte umtriebige Publizist, Pädagoge, Philologe und Archäologe hat mit seinen durch Kupferstiche illustrierten »antiquarischen Morgenszenen«,347 die auf Beiträge im Weimarer Journal des Luxus und der Moden aus den Jahren 1796/97 zurückgehen,348 die Prachtliebe und Verschwendungssucht einer reichen Römerin in gefälligem Plauderton vor seinen Leserinnen und Lesern ausgebreitet und damit ein erfolgreiches Modell für die Popularisierung altertumskundlichen Wissen vorgelegt.349 Versessen auf die Schilderung noch des kuriosesten archäologischen und philologischen Details, umgibt Böttiger seine Sabina mit Sklavinnen wie der ›Zahnputzerin‹ und der ›Nägelputzerin‹ und erläutert die Zusammensetzung einzelner Salben sowie das Material verschiedener Schmucknadeln. Die Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin befeuern so mit erst kürzlich entborgenem archäologischem Material die weiblich kodierte Ding-Trunkenheit des frühen 19. Jahrhunderts, die Friedrich Rückert Anfang der 1810er Jahre mit dem mehrmals vertonten, verspielt-ironischen Gedicht Die Göttin im Putzzimmer aufgreift.350
345 Die folgende Analyse und Kontextualisierung von Hartmanns dreibändigem Werk ist als Korrektur der unhaltbaren Einschätzungen zu verstehen, die Barbara Hahn (Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin 2002. S. 68 f.) vorgetragen hat. 346 Carl August Böttiger: Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin. Ein Beytrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum bessern Verständnis der römischen Schriftsteller. 2 Bde. Leipzig 21806. 347 Böttiger: Sabina. Bd. 1 (1806). S. xii. 348 Martin Dönike: »Belehrende Unterhaltung«. Altertumskundliches Wissen im antiquarisch-philologischen Roman. In: Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung. Hg. von Ernst Osterkamp. Berlin 2008. S. 201–237, hier: S. 213. 349 Für eine umsichtige Neubewertung von Böttigers Wirken vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter. Heidelberg 2006, bes. S. 85–124. Die gefällige Präsentation von Privataltertümern wird in den folgenden Jahrzehnten fortgesetzt von Wilhelm Adolph Becker: Gallus oder Römische Scenen aus der Zeit Augusts. Zur Erläuterung der wesentlichsten Gegenstände aus dem häuslichen Leben der Römer. 2 Bde. Leipzig 1838; Wilhelm Adolph Becker: Charikles. Bilder altgriechischer Sitte. Zur genaueren Kenntnis des griechischen Privatlebens. 2 Bde. Leipzig 1840. Vgl. Martin Dönike: Handbuch oder Roman? Alternative Modi der Antikedarstellung bei dem Altertumswissenschaftler Wilhelm Adolph Becker. In: Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Hg. von Ernst Osterkamp und Thorsten Valk. Berlin/Boston, MA 2011. S. 129–153; Dönike: Altertumskundliches Wissen, 2008. S. 201–237. In der gängigen Wissenschaftsgeschichtsschreibung werden diese Entwicklungen nicht berücksichtigt. Vgl. Wilfried Nippel: »Geschichte« und »Altertümer«. Zur Periodisierung in der Althistorie. In: Geschichtsdiskurs. Hg. von Wolfgang Küttler u. a. Bd. 1. Frankfurt am Main 1993. S. 307–316. 350 Friedrich Rückert: Ausgewählte Werke. Hg. von Annemarie Schimmel. Bd. 1. Frankfurt am Main 1988. S. 69–71. Vgl. Doerte Bischoff: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert. München 2013. S. 213–221.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Böttiger entwickelt sein Panorama einer römischen Damentoilette ausgehend von einem archäologischen Fund aus Herculaneum.351 Die archäologischen Ausgrabungen in den Städten Pompeji und Herculaneum, die 79 n. Chr. durch einen Ausbruch des Vesuv verschüttet worden waren, hatten in den Jahrzehnten zuvor eine Fülle von Zeugnissen römischer Alltagskultur zutage gefördert, die mit niedrigen, dunklen Privathäusern, polychromen, ornamental-arabesken Dekorationen und obszönen und grotesken Darstellungen die am griechischen Skulpturideal geschulten klassizistischen Vorstellungen der Antike irritieren mussten.352 Böttiger integriert dieses Irritationsmoment, indem er seine Sabina als post-augusteische Dekadenzfigur inszeniert: An der Morgentoilette der »seynwollenden Neu-Griechin«353 Sabina werden seine Leserinnen und Leser, so verspricht Böttiger, die »ungemessene Verschwendung und Prachtliebe eines ausgearteten Zeitalters« ermessen können.354 Während im Falle von Böttigers Sabina eine spezifische Römerin mit Eigenname im Mittelpunkt steht, präsentiert Hartmann zwei verschiedene Typen von Hebräerinnen, die sich jeweils in einer berühmten biblischen Frauenfigur repräsentiert finden: zum einen die pastorale Beduinin Rebekka, die unter einfachen Bedingungen verborgen im Zelt lebt und beim Wasserholen am Brunnen ihren zukünftigen Bräutigam treffen kann (HP 2, 384–388), zum anderen die verwöhnte, prunkvolle Gebieterin – verkörpert etwa in Sulamith oder Esther – im üppigen Harem des königlichen Palastes (HP 2, 414–418). Diese beiden Frauentypen haben verschiedene Orte in Hartmanns Ordnung des Altertums und des Orients. Während für die hebräische Nomadin die rurale Araberin (und die Griechin) mit ihren Epitheta der Ursprünglichkeit und Einfachheit das M odell liefern, orientiert sich Hartmanns Darstellung der hebräischen Haremsschönheit am Modell der dekadenten Osmanin und Römerin. Während die arabischen Beduinen und Griechen Hartmann vor allem als Gewährskultur für die frühen Zeitabschnitte der hebräischen Putzgeschichte dienen (z. B. HP 1, 22 f.), stehen für die späteren Zeitabschnitte der sesshaften Periode in Palästina die osmanische und die römische Kultur Patin (z. B. HP 2, 147 f.). Hartmann präsentiert seine historische Abhandlung des althebräischen Putzes als Verlauf von den einfachsten Anfängen bei klobigen Fellen über die üppigste Prachtentfaltung in der israelitischen Staatsperiode dank intensiven Handels mit Indern und Phöniziern bis zu Verweichlichung und Verschwendung nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil. Dieses an der römischen Geschichte orientierte Darstellungsmodell lässt sich jedoch nicht ohne Schwierigkeiten auf seinen Untersuchungsgegenstand übertragen, da es im Widerspruch 351
Dönike: Altertumskundliches Wissen, 2008. S. 214. Thorsten Fitzon: Reisen in das befremdliche Pompeji. Antiklassizistische Antikenwahrnehmung deutscher Italienreisender 1750–1870. Berlin 2004. 353 Böttiger: Sabina. Bd. 1 (1806). S. xv. 354 Ebd., S. xiii. 352
2.3 Altertumswissen
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zu dem einzigen vorhandenen Überrest des hebräischen Altertums steht: der Heiligen Schrift. Um sein Aufstiegs- und Niedergangsnarrativ mit dem Textbefund der Bibel in Einklang zu bringen, muss Hartmann im Anmerkungsapparat einen ausufernden Exkurs liefern, in dem er die These vertritt, dass die Abschnitte des Pentateuchs, die von der prächtigen Ausstattung der Stiftshütte handeln, sehr viel später datiert werden müssten als gemeinhin angenommen, denn es sei »höchst unwahrscheinlich, ja unglaublich, daß die Israeliten, die […] als Nomaden lebten und auf einer ä ußerst niedrigen Stufe der Bildung standen, einen solchen Ueberfluß an edelen und unedelen Metallen besessen haben sollen,« wie er in Exodus 38 geschildert werde. Für weitere Beweisführungen verweist er auf die wenige Jahre zuvor erschienenen bibelkritischen Arbeiten von Johann Severin Vater und Martin Leberecht de Wette (HP 3, 23 und 163–179). Mithilfe solcher, der neuesten Bibelkritik entlehnter Argumente versucht Hartmann das hebräische Altertum in ein historisches Narrativ einzufügen, das der römischen Geschichtsschreibung entstammt. Hartmanns Orientierung am Vorbild Böttigers bleibt indes heikel, da sich die vornehmlich textlich überlieferte hebräische Antike nicht ohne weiteres aus der Philologie in die Archäologie herüberziehen lässt. Mangels archäologischer Funde ist Hartmann anders als Böttiger auf umfangreiche Vergleiche, Analogien, Kontextualisierungen und Konjekturen angewiesen, um die Textgestalt der he bräischen Antike archäologisch zu unterfüttern und sie vor den Augen seiner Leserinnen und Leser erstehen zu lassen.355 Über die Grenze des Babylonischen Exils hinaus bis zur Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 gehend, bettet er das hebräische Altertum in ein kulturell vielschichtiges Panorama verschiedener antiker Großreiche ein. So kontextualisiert er den Zeitabschnitt von der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bis zur Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus mit der ›Blüte Griechenlands‹, dem Niedergang Persiens und Babylons, dem Aufstieg Alexandrias und dem ›goldenen Zeitalter Roms‹ (HP 2, 21– 32). Seine Einschätzung, dass »im ganzen Alterthum« das Spinnen und Weben weibliche Tätigkeiten gewesen seien, belegt er mit einem ganzen Strauß von Beispielfällen, wenn er darauf hinweist, dass z. B. der wollüstige, weibische Assyrische König Sardanapal mit Buhldirnen purpurne Wolle gekrempelt, der Babylonische König Nanybrus mit geschminkten Augen und in einem unmännlichen Putze sich unter die arbeitenden Weiber in ihrem Harem gemischt, und der kühne Held Herkules aus Liebe zur Lydischen Beherrscherin Omphale seine rauhen Hände geduldig zum Spinnrocken und zur Spindel gefügt habe […]. (HP 1, 131 f.)
Im Zuge dieser Einbettung des hebräischen Altertums in ein kulturgeschicht liches Panorama nimmt Hartmann eine Orientalisierung und Erotisierung der 355 Vgl. allgemein zum Spannungsfeld von Textualität und Materialität den Sammelband Literatur der Archäologie. Materialität und Rhetorik im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Jan Broch und Jörn Lang. München 2012.
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Hebräerinnen vor, die – so wird zu zeigen sein – in ihrer Spezifizität dem wissen(schaft)sgeschichtlichen Ort dieser dreibändigen Abhandlung zwischen Orientalistik, Theologie und Altertumswissenschaft sowie der Bindung des hebräischen Altertums an die Heilige Schrift geschuldet ist. Hartmann, der im Unterschied zu Böttiger nicht im Überfluss archäologischer Funde schwelgen kann, bedauert ausdrücklich, dass er über die Gegenstände, die Böttiger in seiner Sabina so »anmuthig und belehrend zugleich« ausbreite, nicht einmal oberflächliche Auskünfte erteilen könne: Ob auf dem Putztische der Palästinischen Frauen ein besonderer Kamm zum Scheiteln, Absondern und Aufschlagen der Haare befindlich gewesen, und ob derselbe, wie im Römischen Alterthum Sitte war, aus geglättetem Buchsbaumholz oder Elfenbein oder welchen anderen tauglichen und kostbaren Materialien verfertiget worden, vermag ich der fragenden Neugierde mit keinem Winke zu beantworten; fast scheint aus dem Stillschweigen, welches alle Blätter des Hebr[äischen] Alterthums hierüber beobachten, gefolgert werden zu müssen, dass die Finger, welche selbst die Homerische Juno nicht verschmähte, die Stelle dieses bequemen Werkzeuges allein vertreten haben. (HP 2, 224)
Diese Spärlichkeit archäologischer Befunde kompensiert Hartmann mit der Grundannahme, dass die alten mit den gegenwärtigen ›Palästinerinnen‹ in ihren Sitten und ihrem Aussehen weitgehend deckungsgleich seien (HP 1, 7 f.). Angesichts der lückenhaften Überlieferungslage ist Hartmann maßgeblich auf die Annahme von Stasis im Morgenland angewiesen: auf die Übereinstimmung der »Asiaten aus dem entferntesten Alterthum und der gegenwärtigen Zeit« (HP 1, 1). Entsprechend bezieht er sich wiederholt auf zeitgenössische Reiseberichte, vor allem auf Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien (1774). So strukturiert der ethnographische Blick eines Reisenden seine altertumskundliche Abhandlung. Im zweiten Band etwa gewährt er ganz in der Manier orientalistischer Reiseberichte »Blicke in das Innere eines Palästinischen Harems« (HP 2, 399–438). Schon das aus dem Türkischen entlehnte Wort ›Harem‹ hat hier Kompensationsfunktion: Die Bibel nämlich kennt zwar das Phänomen, nicht aber – wie auch Hartmann eingesteht (HP 2, 399 f.) – ein spezielles Wort für den Frauenbereich eines Hauses oder eines Palastes.356 Die Übertragung dieses an erotischen Konnotationen reichen Reizworts auf die althebräische Alltagswelt schließt diese mit der orientalistischen Faszination für die osmanische Harems kultur kurz, die zu dieser Zeit durch Reisebeschreibungen und Druckgrafiken in Europa reiche Nahrung findet.357
356
Abraham Malamat: Is there a Word for the Royal Harem in the Bible? The Inside Story. In: Pomegranates and Golden Bells. Studies in Biblical, Jewish, and Near Eastern Ritual, Law, and Literature in Honor of Jacob Milgrom. Hg. von Avi Hurvitz u. a. Winona Lake, IN 1995. S. 785–787. 357 Silke Förschler: Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch. Berlin 2010; Mary Roberts: Intimate Outsiders. The Harem in Ottoman and Orientalist Art and Travel Literature. Durham/London 2007.
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Abb. 4: Frontispiz und Titelblatt aus Hartmanns Hebräerin am Putztische (1809/10).
Hartmann nutzt diesen Hintergrund, garniert mit zahlreichen Evokationen und Zitaten des Hohelieds, für eine Erotisierung und Orientalisierung der He bräerinnen: Beobachten wir jetzt […] die der trägen Ruhe mit den wonnigsten Gefühlen sich hingebende Hebräerin auf dem weichgepolsterten Lotterbette in den einsamen Gemächern des Harems mit forschenden Blicken! Lieblich angehaucht von den süßen Wohlgerüchen […], schlürfte sie, auf die mit ehrfurchtsvollem Schweigen sie umgebende Dienerschaft wohlgefällig herabblickend, mit langsamen Zügen den dargereichten süßen Trank. Gesättigt winkte sie, und geschäftige Hände erregten durch ein geübtes Reiben der Füsse einen wollüstigen Kitzel und wehten durch lange Pfauenwedel angenehme Kühlung zu. Auch dieses Vergnügens überdrüssig lieh sie einer lustigen Erzählung, die eine herbeigewinkte Sklavin ganz nach dem wohlbekannten Geschmack der Gebieterin angestimmt hatte, ihr Ohr, oder ergötzte sich an dem mit Gesang und Tanz begleiteten Klange der Harfen oder anderem Saitenspiele. (HP 2, 462 f.)
Hartmann vergisst nicht zu erwähnen, dass dieser träge Lebenswandel die Phantasie der Frauen oft »mit wollüstigen Bildern« erfüllte und dass »ungesättigte Triebe […] das Gemüth zu den ausschweifendsten Träumereien« verwirrten (HP 2, 465). Sämtliche Topoi orientalischer, vor allem osmanischer Trägheit, Üppigkeit und Wollust finden sich hier versammelt. Durch ihre Übertragung auf eine
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Abb. 5: Kupfertafeln aus Hartmanns Hebräerin am Putztische (1809/10).
wohlhabende Hebräerin kompensiert Hartmann den eklatanten Mangel an faktischen und anschaulichen Überresten antik-israelitischer Alltagskultur durch einen tiefen Griff in die Repertoire-Kiste orientalistischer Erotik. Diese Strategie bestimmt auch die Gesamtanlage des dreibändigen Opus. Dem Leser tritt, wenn er den ersten Band aufschlägt, eine Gruppe verschleierter, tanzend musizierender Frauenfiguren entgegen. Dieses Frontispiz soll, so heißt es in den Erläuterungen zu den Kupfertafeln (HP 3, 3–16), in Anlehnung an einen Bericht Niebuhrs eine hebräische Braut in einem Festzug zeigen (Abb. 4). Zu Beginn des dreibändigen Werkes ist also der Körper der Hebräerin ebenso verschleiert, wie die Materie ihres Putzes für den Leser unerschlossenes Gebiet ist. Hartmann unternimmt nun in seinen drei Bänden beides: eine Entschleierung des Frauenkörpers und eine Enthüllung der üppigen Wissensbestände, die er sich in jahrelangem Studium erarbeitet hat. Nie habe er, erklärt Hartmann mit Gelehrtenpathos, »den Freunden des Asiatischen Alterthums und den Verehrern der hochwichtigen biblischen Literatur eine Arbeit überreicht, die eine Frucht größerer Anstrengungen und herberer Aufopferungen gewesen, als die gegenwärtige« (HP 1, xiii). Diesen beschwerlichen Zugang zur antiken Hebräerin nun macht Hartmann auch für seine Leser erfahrbar.
2.3 Altertumswissen
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Zunächst nämlich muss dieser sich durch gut sechshundert Seiten an historischer Abhandlung kämpfen. Erst dann trifft er im zweiten Drittel des zweiten Bandes auf die nächste Abbildung der – nun fast vollständig entkleideten – He bräerin. Hier erst beginnen die eigentlichen Szenen der ›Hebräerin am Putztische‹, die den Prozess des Ankleidens nachvollziehen sollen. Diesen gestuften Ankleidungsvorgang bilden die begleitenden Kupferstiche ab: Zunächst zeigt eine Tafel die Hebräerin im Untergewand, ergänzt um Detailansichten ihres nackten, in einer Sandale steckenden Fußes und einzelner Gesichtspartien (Abb. 5 links). Sie ist gerade im Begriff, sich den Schleier über den Kopf zu ziehen, zeigt dem Betrachter aber noch ihr Gesicht. Wie Hartmann erklärt, pflegte die Hebräerin sich einen solchen Schleier über den Kopf zu werfen, wann immer »sie unvermuthet überrascht ward oder ein bedenkliches Geräusch die Nähe von Mannspersonen verrieth und die äußerste Vorsicht empfahl« (HP 2, 205). Der geneigte Leser erhält mithin nach siebenhundert Seiten das besondere Privileg, in den intimen Bereich einer antiken Hebräerin vorzudringen und unter ihren Schleier zu schauen. In den folgenden Szenen präsentiert Hartmann, jeweils durch Kupferstiche eingeleitet, Kopf- und Halsschmuck sowie weitere Unterund Obergewänder. Der achte Kupferstich zeigt schließlich die fertig angekleidete, vollverschleierte Hebräerin im Festgewand (Abb. 5 rechts). Kulminationspunkt dieser Ankleidungsdramaturgie ist das neunte Kupfer, das den ersten Band eröffnet (Abb. 4). Während der Szenenablauf des zweiten Bandes als Stufenfolge der Ankleidung konzipiert ist, stellt sich die Gesamtanordnung von Text und Bild des dreibändigen Werks mithin als Dramaturgie der Entkleidung dar, die den Leser ins ›Innere des Harems‹ zur entschleierten Hebräerin führt und ihm dann dort ihrem Ankleidungsprozess beizuwohnen erlaubt. Über die weitschweifige Wissenschaftsprosa Hartmanns hinweg schaffen die Kupferstiche so orientalistische Anreize der Ent- und Verhüllung. Gestützt durch vergleichende Verweise auf die zeitgenössische orientalische Haremskultur werden Topoi einer dem fremden männlichen Blick entzogenen orientalischen Frau evoziert, die Hartmann durch sein gelehrtes Wissen exklusiv verfügbar macht. Die Orientalisierung der Hebräerin dient somit nicht nur der Konstitution des Forschungsgegenstands durch Vergleiche, sondern strukturiert auch dessen wissenschaftliche Darstellung: Inhalt und Form des Wissens, das Hartmann hier präsentiert, sind im Zeichen des Orientalismus eng verquickt. Hartmanns Erotisierung und Orientalisierung der Hebräerinnen indiziert sowohl den Reiz als auch die Probleme der Beschäftigung mit dem hebräischen Altertum in einer Zeit, in der sich gewichtige Verschiebungen in der disziplinären Ordnung des Altertums ergeben. Die Frage nämlich, inwieweit die Verschleierungspraxis der zeitgenössischen Orientalinnen mit derjenigen der alten He bräerinnen übereinstimme und ob ethnographische Beobachtungen im Orient überhaupt mit einzelnen Bibelstellen verbunden werden könnten, gehört in die-
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ser Zeit zu den hartnäckigsten Streitpunkten der hebräischen Altertumsforschung (HP 2, 318–335). Ob Hebräerinnen überhaupt Schleier trugen, und wie häufig, ist zu dieser Zeit ungeklärt.358 Hartmann gesteht mit Blick auf die Gattungen der Obergewänder und die Schleierformen der alten Hebräerinnen, dass er eingedenk »der lästigen Dunkelheit, die vorzüglich über diesem Theil des weiblichen Putzes schwebt, […] nicht ohne Schüchternheit« eine Schilderung wage. Die Bildwerdung antiker Hebräerinnen ist mithin eine heikle Angelegenheit, die unter einigem Rechtfertigungsdruck steht. Hartmann erklärt in seiner Vorrede denn auch, dass die Bildfindung der Kupferstichdarstellungen »mit unbeschreiblichen Schwierigkeiten verknüpft« gewesen sei (HP 1, xxxi f.).359 Der Schleier symbolisiert so zum einen den Drang nach kulturgeschichtlicher ›Enthüllung‹ der Hebräerin, und steht zum anderen selbst als möglicherweise unangemessene – verschleiernde – Rückprojektion unter Verdacht (vgl. auch HP 2, 323). Der Orientalismus stellt zwar einen Deutungsrahmen für das hebräische Altertum bereit; gerät aber gleichzeitig immer wieder zu demselben in Konflikt. Der Vergleich mit Böttigers Sabina mag dieser Funktion des Orientalismus für Hartmanns Abhandlung mehr Kontur verleihen. Auch Böttiger stellt wiederholt Vergleiche zwischen griechisch-römischen und gegenwärtigen orientalischen Kleidungs- und Schminkgewohnheiten an,360 doch steht die Orientalisierung seiner Sabina ganz im Zeichen ihrer Symbolfunktion für die Dekadenz des Römischen Reichs. So deutet Böttiger die üppige Verwendung orientalischer Luxusartikel wie Duftessenzen, Stoffe und Edelsteine und die Durchdringung mit »ägyptischen und orientalischen Sühnungs- und Büßungsideen«361 als späte Ausartungen des Geschmacks:
358 Warnekros: Entwurf der hebräischen Alterthümer, 1782. S. 271–275; zur Verschleierung schon Hartmann: Über die Ideale weiblicher Schönheit, 1798. S. 19. Vgl. zum neueren Forschungsstand Karel van der Toorn: The Significance of the Veil in the Ancient Near East. In: Pomegranates and Golden Bells. Studies in Biblical, Jewish, and Near Eastern Ritual, Law, and Literature in Honor of Jacob Milgrom. Hg. von Avi Hurvitz u. a. Winona Lake, IN 1995. S. 327–339; Leila Leah Bronner: From Veil to Wig. Jewish Women’s Hair Covering. In: Judaism 42:4 (1993). S. 465–477. 359 Er bedauert, dass er die kürzlich in Paris erschienenen Recherches sur les costumes, les mœurs, les usages religieux, civils et militaires des anciens peuples (1804) von Joseph Malliot und Pierre Dominique Martin nicht für sein Buch habe benutzen können, denn er hätte daraus vielleicht »eine glücklichere Auswahl für den Inhalt der aufgenommenen Kupfertafeln« entlehnen können. Das ist allerdings fraglich: Das betreffende Werk nämlich schlägt vor, bei der Darstellung der israelitischen Patriarchen den Renaissance-Darstellungen Rafaels zu folgen und bietet entsprechende Umrisszeichnungen an (Joseph Malliot und Pierre Dominique Martin: Recherches sur les costumes, les mœurs, les usages religieux, civils et militaires des anciens peuples. Bd. 2. Paris 1804. S. 214–221). Für die späteren Epochen integrieren Malliot und Martin Umrisszeichnungen nach Judäa-Medaillons aus der Zeit Vespasians (ebd., S. 222–232) sowie Abbildungen der Priesterbekleidung, religiöser Gegenstände und Musikinstrumente nach Augustin Calmet (ebd., S. 233–260). 360 Vgl. etwa Böttiger: Sabina. Bd. 1 (1806). S. 26 f. 361 Böttiger: Sabina. Bd. 2 (1806). S. 143 f.
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Abb. 6: Abbildung in Böttigers Sabina (Auschnitt aus Tafel XII zur achten Szene).
Allein mit der zunehmenden Prachtliebe und Verschwendung der Römer und von der Zeit an, wo Rom der Sammelplatz aller Nationen wurde, […] bekamen auch die Aufsätze und Haartrachten der Römerinnen eine unendliche Mannigfaltigkeit. Aus dem Orient kam in den letzten Zeiten der Republik der Geschmack, die Haare mit Perlen zu durchflechten. Es gehörte zum Kostum der ägyptischen Gottesverehrungen, ungeheure Federaufsätze, Lotosblumen, und andere Sinnbilder der Fruchtbarkeit und der personifizirten Natur auf dem Kopfe zu tragen, und in diesem Aufzuge den Tempeldienst abzuwarten.362
Die eklektische Mischung griechischer, indischer, ägyptischer und anderweitig orientalischer Einflüsse im Putz und in der Gedankenwelt einer römischen Frau zur Zeit des Kaisers Domitian zeugt in Böttigers Darstellung vom langsamen Niedergang Roms. Bei Hartmann hingegen geht das Orientalische nicht in dieser Illustrationsfunktion dekadenter Prachtentfaltung auf, da er erstens ein Gesamtpanorama von früher Simplizität bis zu später Dekadenz entfaltet und da der Orientalismus ihm zweitens – anders als Böttiger – als zentraler Stützpfeiler für die Interpolationen dient, mit denen er den Mangel an archäologischer Evidenz für die Alltagskultur antiker Hebräerinnen zu kompensieren sucht. Für Hartmann ergibt sich jedoch noch ein weiteres Problem: Aufgrund seines heilsgeschichtlichen Status sperrt sich das hebräische Altertum gegen allzu weitgehende Orientalisierungen, insbesondere erotisierende Orientalisierungen. Während in Hartmanns dreibändigem Werk die bloßen Knie und nackten Füße der Hebräerin im ersten Untergewand das Höchstmaß an Freizügigkeit bieten, präsentiert Böttiger unter dem Vorwand, die Konstruktion eines Tragebettes zu illustrieren, seine Sabina, die im Übrigen an das Rollenmodell der hetärenhaften domina der römischen Liebeselegie erinnert, als einen lasziven Halbakt nach der Böttiger: Sabina. Bd. 1 (1806). S. 158.
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schlafenden Ariadne in den Vatikanischen Museen, die damals als KleopatraDarstellung gilt (Abb. 6).363 Sehr zum Missfallen einiger Zeitgenossen spart Böttiger nicht mit frivolen Details und korreliert, unter anderem mit Verweis auf die Justine (1791) des Marquis de Sade, das dekadente Rom mit dem Frankreich der Revolutionszeit.364 Zwar lässt auch Hartmann es sich nicht nehmen, einige schwülstig-erotische orientalische Sexszenen zu imaginieren, doch werden diese in ein ›Extrablatt‹ eingehegt unter dem Titel Von den Buhlerinnen in Palästina oder den Hebräischen Hetären (HP 2, 496–498); und es ist ihm wichtig zu betonen, dass zu dieser »Classe schamloser Weiber und feiler Dirnen« nahezu ausschließlich ›Ausländerinnen‹, also nicht-hebräische Orientalinnen zählten (HP 2, 493 f.). Die Rückprojektion von zeitgenössischen Orientalinnen auf die Protagonistinnen der Heiligen Schrift findet hier eine klar gezogene moralisch-religiöse Grenze, die um 1800 für andere orientalische Völker ebenso wenig besteht wie für die Römer. Als Orientalin macht Hartmanns Hebräerin den Gegenstand des hebräischen Altertums einerseits potentiell zu einem reizvollen und schillernden, doch ist sie andererseits nicht orientalisch genug, um tatsächlich ungehemmt erotisch-exotische Anziehungskraft auszuüben. Der unterschiedliche Grad an Freizügigkeit reflektiert die Positionen der verschiedenen Altertümer im Diskursfeld der Jahrhundertwende und die Asymmetrien des archäologischen Wissens. Böttiger kann sich auf umfangreiche Funde stützen; Wissen über die fest im Bildungskanon verankerte römische Antike ist ebenso zugänglich wie der Körper der verführerischen ›Domina‹ Sabina, und sei dies auch irritierendes Wissen, wie es in Pompeji und Herculaneum zutage gefördert worden war. Hartmann hingegen kann nur auf eine spärliche Überlieferung althebräischer Alltagskultur zurückgreifen; die lange vornehmlich heilsgeschichtlich relevanten Hebräer erschließen sich in ihrer konkreten Historizität dem forschenden Blick ebenso schwer wie eine verschleierte Frau. Das hebräische Altertum, das Hartmann auch wiederholt als solches im Singular benennt (z. B. HP 2, 216), ist ein sperriger Forschungsgegenstand. Das wird auch an der Rezeption des Werks deutlich. Der britische Schriftsteller Thomas de Quincey erhält ein Exemplar der Hebräerin von Sir William Hamilton und veröffentlicht 1828 in Blackwood’s Magazine eine auszugsweise Übersetzung. Er führt die Hebräerin als Begleitbuch (»companion«) zu Böttigers Sabina ein, die 1818 in derselben Zeitschrift in einer Teilübersetzung erschienen war, und merkt mit beißender Ironie an, dass Hartmann sich mit einer deutlich schlechteren Überlieferungslage und einem der europäischen Gegenwart deutlich fremderen Gegenstand habe arrangieren müssen: 363 Francis Haskell und Nicholas Penny: Cleopatra. In: dies.: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture, 1500–1900. London/New Haven, CT 1981. S. 184–187. 364 Böttiger: Sabina. Bd. 1 (1806). S. 309. Vgl. zum Vorwurf des Sittlichkeitsverstoßes und zu Böttigers frankreichfeindlichen Vergleichen Schmidt-Funke: Böttiger, 2006. S. 93–97.
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It was not to be expected, with the scanty materials before him, that an illustrator of the Hebrew costume should be as full and explicit as Böttiger, with the advantage of writing upon a theme more familiar to us Europeans of this day, than any parallel theme even in our own national archaeologies of two centuries back. United, however, with his great reading, this barrenness of the subject is so far an advantage for Hartmann, as it yields a strong presumption that he has exhausted it.365
Sich ausgiebig über die ermüdende Weitschweifigkeit Hartmanns mokierend, greift De Quincey den Unterschied zwischen hebräischer und römischer Antike, zwischen Hartmanns Hebräerin und Böttigers Römerin, mit einem Echo ihrer Geschlechterkodierung auf. Deutlich hörbar lässt er sexuelle Zweitbedeutungen mitschwingen, wenn er die Dürftigkeit bzw. Unfruchtbarkeit von Hartmanns Forschungsgegenstand (»barenness of the subject«) mit der Üppigkeit und Deutlichkeit bzw. Freizügigkeit (»full and explicit«) von Böttigers Behandlungsart des römischen Altertums kontrastiert. Im religiösen Kontext mögen die alttestamentlichen Hebräer und neutestamentlichen Juden vertraut sein, archäologisch aber, als hebräisches Altertum verstanden, erscheinen sie gegenüber der klassischen als andere, fremde und schwer zugängliche Antike. Hartmanns Hebräerin ist also, so könnte man sagen, ›an uneasy companion‹ zu Böttigers römischer Sabina, weil sie eine Antike repräsentieren soll, die zwar durch den christlichen Bibelgebrauch vertraut, dafür aber bar materialer Überreste ist. Hartmanns orientalistische Ver- und Enthüllungsdramaturgie lässt dieses Dilemma sinnfällig werden. An der Realisierung und Rezeption seines monumentalen Buchprojekts wird nachvollziehbar, wie prekär um 1800 die Konstituierung einer hebräischen Antike als Forschungsgegenstand zwischen diszi plinärer Ausdifferenzierung und religiösen Auseinandersetzungen ist. Im folgenden Kapitel soll nachverfolgt werden, wie in dieser Situation um 1800 eine intensive Arbeit am Kanon des Altertums unternommen wird, die die Hebräer und ihre Überlieferung aus der sogenannten klassischen Antike herausdrängt. Im Anschluss werde ich dann verschiedene Versuche von Außenseiter-Theologen und Wissenschaftlern des Judentums rekonstruieren, im 19. Jahrhundert einen neuen disziplinären Ort für die jüdische Überlieferung zu finden. 2.3.3 Heilig, klassisch, orientalisch? Marginalisierung und Negativkanonisierung der Hebräer (Wolf – Boeckh – Saalschütz) Die Dreifachkompetenz der frühneuzeitlichen polyhistorischen Philologie im Hebräischen, Griechischen und Lateinischen verliert im späten 18. Jahrhundert ihren normativen Anspruch. Die klassische Altertumswissenschaft setzt sich als eigenständige Disziplin von der Theologie ab, indem sie das griechisch-römische 365 Thomas de Quincey: Toilette of the Hebrew Lady, exhibited in six scenes [1828]. In: ders.: Works. Hg. von Grevel Lindop u. a. Bd. 6. London 2000. S. 134–154, hier: S. 135.
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Altertum als ihren Gegenstandsbereich definiert und das Hebräische nicht mehr zu ihrem Kompetenzbereich zählt.366 Friedrich August Wolf erklärt in der Einführung zu seiner Vorlesung Encyclopädie der Philologie, die er seit 1785 in Halle hält, fremde Nationen müssen ausgeschlossen werden, wenn man ein homogenes Ganze in der Alterthumskunde erhalten will. Die orientalischen Völker weichen gänzlich von den vorzüglichsten Völkern des Alterthums ab. Die Hebräer haben sich nie so ausgebildet, daß man sie für eine gelehrte Nation halten könnte, und daher sind sie zu verschieden von den Griechen und Römern. Es versteht sich also, daß wir Werke solcher Völker, wie die Hebräer waren, ausschließen müssen. Es gehören vorzüglich jene der Griechen und Römer hierher. Beide waren die gelehrtesten im Alterthume, selbst nach dem Urtheile der Juden. Diese äfften den Griechen auch überall nach; sie bildeten sich nach ihnen. Vor den Griechen und neben ihnen hat sich kein Volk mehr aufgeklärt.367
Im Konstitutionsprozess der klassischen Philologie als Altertumswissenschaft geht die Eingrenzung des Forschungsgegenstandes auf die griechische (und römische) Antike mit deren emphatischer Überhöhung einher.368 Die Erweiterung der zweistelligen Querelle des Anciens et des Modernes zu einem dreistelligen Modell von Antike, Orient und Moderne schafft die diskursive Voraussetzung dafür,369 dass die Hebräer von den Griechen und Römern getrennt und in die Kategorie des Orients verschoben werden können. Die Hebräer werden gemeinsam mit den anderen orientalischen Völkern des Altertums aus dem klassischen Kanon ausgeschlossen, damit dieser ein »homogenes Ganze« und ein in sich geschlossenes Ideal der Hochkultur vermitteln kann.370
366 Anthony Grafton: Juden und Griechen bei Friedrich August Wolf. In: Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Hg. von Reinhard Markner und Giuseppe Veltri. Stuttgart 1999. S. 9–31; Christhard Hoffmann: Altertumswissenschaft. In: EJGK 1 (2011). S. 58–61; Axel Horstmann: Die »Klassische Philologie« zwischen Humanismus und Historismus. Friedrich August Wolf und die Begründung der modernen Altertumswissenschaft. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 1 (1978). S. 51–70. 367 Friedrich August Wolf: Encyclopädie der Philologie. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre von 1798–1799. Hg. von S.M. Stockmann. Leipzig 1831. S. 9. Vgl. auch die Vorlesungsmitschrift von Leopold Zunz: »Unt[er] Alterthum könn[en] nur Griech[en] und Römer verstand[en] wird[en,] d[ie] allein s[ich] z[u] ein[er] gelehrten Cultur erhoben« (Leopold-Zunz-Archiv, Arc. 4 792/C12, zitiert nach Giuseppe Veltri: Altertumswissenschaft und Wissenschaft des Judentums. Leopold Zunz und seine Lehrer F.A. Wolf und A. Böckh. In: Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Hg. von Reinhard Markner und Giuseppe Veltri. Stuttgart 1999. S. 32–47, hier: S. 35). 368 Vgl. Nikolaus Wegmann: Philologische Selbstreflexion. Die Frage der disziplinären Einheit. In: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. München 1991. S. 113–126, hier: S. 120 f. 369 Vgl. für eine Zusammenstellung einschlägiger Texte: Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Hg. von Ludwig Uhlich. Tübingen 1988. 370 Analog wird der Orient auch in universalhistorischen Darstellungen im 19. Jahrhundert zunehmend an den Rand gedrängt. Vgl. Ernst Schulin: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke. Göttingen 1958.
2.3 Altertumswissen
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Während sich der frühneuzeitliche Republikanismus unter Benutzung rabbinischer Quellen affirmativ auf die respublica Hebraeorum bezogen hatte,371 mangelt es den Israeliten aus der Perspektive des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Unterschied zu den Griechen zum einen an erfolgreichen Modellen von Politik und Staatlichkeit, und zum anderen an musterhaften Werken bildender Kunst. Im emphatischen Sinn als Orientalen verstanden, qualifizieren die Hebräer sich nicht für das Prädikat des Klassischen, wie es jetzt zur Kennzeichnung einer Epoche als historische Blütezeit verwendet und auf das griechisch-römische Altertum eingeschränkt wird.372 Aus dieser normativen Gegenstandsbestimmung folgt, dass »die wissenschaftliche Forschung zum antiken Judentum weitgehend aus der Altertumswissenschaft verbannt wurde. Lediglich das Grenzgebiet des jüdischen Hellenismus blieb ein – meistens von jüdischen Wissenschaftlern bearbeitetes – Feld der Klassischen Philologie.«373 Doch die Hebräer fallen nicht einfach unvermerkt aus dem Kanon des Klassischen heraus. Sie dienen vielmehr dazu, diesen überhaupt erst zu konstituieren und zu stabilisieren. Mit dem Ausschluss der Hebräer als Orientalen aus der griechisch-römisch definierten klassischen Antike kann um 1800 die Idealisierung der Griechen (und mit Abstrichen der Römer) bei aller nun vorgenommenen quellenkritischen und archäologischen Sezierung aufrechterhalten werden.374 Für die seit Winckelmann bestehende »widersprüchliche Einheit von Idealitätsanspruch und Geschichtlichkeit im Klassikbegriff«375 erlangen die Hebräer stabilisierende Funktion, indem sie das orientalische Andere des Klassischen besetzen und diesem damit erst die notwendige Kontur verleihen. Dieser Prozess wissenschaftlicher Kanonbildung erinnert an ein Phänomen, das Simone Winko Negativkanonisierung genannt hat.376 Negativkanonisierung liegt dann vor, wenn Texte und Autoren nicht einfach stillschweigend aus dem Kanon ausgeschlossen werden, sondern – wie in Wolfs Gegenstandsbestimmung deutlich sichtbar – zur Abgrenzung und Profilierung dienen, indem sie als Gegenbild zum Kanonischen Nelson: The Hebrew Republic, 2010. S. 139. Vgl. für frühere Definitionen des Adjektivs classisch, die noch keine (geschweige denn geschichtsphilosophisch zu verstehende) Epochenbezeichnung beinhalten, den erstmals 1771 publizierten Eintrag in Sulzer 1 (21792). S. 475–477 sowie Adelung 1 (1793). Sp. 1338. 373 Hoffmann: Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker, 1988. S. 38 f. 374 Darüber ist wissenschaftsgeschichtlich in Vergessenheit geraten, dass der quellenkritische Zugriff, den Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum (1795) mit der These propagiert, Homer könne nicht der Autor der Ilias und der Odyssee sein, sich Anstößen aus der alttestamentlichen Bibelkritik und Gesprächen mit Moses Mendelssohn verdankt. Vgl. Grafton: Juden und Griechen, 1999. S. 22–31; Veltri: Altertumswissenschaft und Wissenschaft des Judentums, 1999. S. 33–35. 375 Wilhelm Voßkamp: Klassisch/Klassik/Klassizismus. In: ÄGB 3 (2001). S. 289–305, hier: S. 290. 376 Simone Winko: Negativkanonisierung. August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Hg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart/Weimar 1998. S. 341–364. 371
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etabliert und (vorläufig) bewahrt werden. Das hebräisch-orientalische Altertum fungiert in diesem Sinne als Negativfolie zur Idealisierung der Griechen. Die Absetzbewegungen von Wolf und anderen sind als ein wissenschaftliches Ausagieren von Antikenkonkurrenz zum Zwecke einer Selbstvergewisserung über das Eigene zu verstehen. So lässt August Boeckh in seiner Vorlesung En zyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, die er erstmals 1809 in Heidelberg hält und später in Berlin insgesamt fünfundzwanzigmal wiederholt, die orientalischen Altertumskulturen außen vor mit der Begründung, dass »das Klassische vorzüglich wissenswerth und die Cultur der Griechen und Römer die Grundlage unserer gesammten Bildung ist.«377 Die Etablierung eines normativ verstandenen ›klassischen Altertums‹ gibt sich hier deutlich als ein zentrales Element der kulturellen Selbstverständigung über den Ursprung Europas zu erkennen. Das Griechische ist Boeckh zufolge als »das eigentlich Antike« anzusehen;378 die »Cultur der Griechen und Römer« ist »die Grundlage unserer« – abendländischen, europäischen, deutschen – »gesammten Bildung«, dem das Orientalische als konturgebendes Andere dient. Diese Argumentationsstruktur lässt sich auch in anderen Disziplinen nachweisen. So erklärt beispielsweise Friedrich August Carus, Leipziger Philosophieprofessor und Mitbegründer einer anthropologisch orientierten empirischen Psychologie, in seiner voluminösen Psychologie der Hebräer, dass die »alten orientalischen Schriftsteller« in praktisch-pragmatischer Hinsicht zwar vorbildliche Menschenbeobachter gewesen seien.379 Doch erst die Griechen bilden seiner Ansicht nach den »Uebergang von Asien nach Europa, und sie erklären die neueuropäische psychologische Cultur, die noch jezt von der griechischen abhängig ist.«380 Europa steht bei Carus in einer okzidentalisch definierten klassisch-griechischen Traditionslinie, die von dem unveränderlichen orientalischen Charakter zu unterscheiden sei: »So erkennt man noch jezt in allen Ländern Europens
377 August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. von Ernst Bratuscheck. Zweite Auflage besorgt von Rudolf Klussmann. Leipzig 1886. S. 21. 378 Ebd., S. 264 f. 379 Friedrich August Carus: Nachgelassene Werke. Bd. 5: Psychologie der Hebräer. [Hg. von Ferdinand Gotthelf Hand]. Leipzig 1809. S. 4 und S. 23 f. Vgl. zu Leben und Werk des früh Verstorbenen Rolf Jennoschek: Einleitung. In: Friedrich August Carus: Geschichte der Psychologie. Nachdruck der Ausgabe Nachgelassene Werke. Dritter Theil. Leipzig 1808. Berlin 1990. S. 11–45; zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Jörn Garber: Von der »anthropologischen Geschichte des philosophierenden Geistes« zur Geschichte des Menschen (Friedrich August Carus). In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber und Heinz Thoma. Tübingen 2004. S. 219–261; ferner Fernando Vidal: Die Geschichte der Psychologie als zentrales Element der ›Geschichte der Menschheit‹. In: Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Wissenschaftliche Praktiken, institutionelle Geographie, europäische Netzwerke. Hg. von Hans Erich Bödeker u. a. Göttingen 2008. S. 177–198, bes. S. 181–190. 380 Friedrich August Carus: Nachgelassene Werke. Bd. 3: Geschichte der Psychologie. Leipzig 1808. S. 95.
2.3 Altertumswissen
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die orientalischen Juden wieder.«381 Wie die orientalischen Hebräer des Altertums bei Wolf der kulturellen Vollendung der Griechen Kontur geben, so dienen Carus die »orientalischen Juden« in Europa als Fremdheitsfiguren, die der Behauptung einer homogenen Kulturgenealogie des Abendlandes Evidenz verleihen. Die Negativkanonisierung der Hebräer stabilisiert die Kanonisierung der Griechen; durch die Alteritätsmarkierung der zeitgenössischen Juden werden die entsprechenden Wertungs- und Differenzierungsmuster in die Gegenwart hinein verlängert. Diese Befestigung eines okzidentalistischen Selbstverständnisses erfordert – zumal angesichts der Pluralisierung der Antike im 18. Jahrhundert – intensive Arbeit am Kanon. So verwendet Wolf auffallend viel Druckschwärze auf die Exklusion der Hebräer sowie anderer Orientalen und auf die explizite Abgrenzung von den orientalischen Philologien. In seiner Darstellung der Alterthums-Wissenschaft überlässt Wolf 1807 die Literaturen und Völker Asiens einschließlich der Hebräer als »nur civilisirte Völker« demonstrativ »den Orientalisten« und nimmt sich die Freiheit, im Geiste der Alten, die auf die Barbari als auf unedlere Menschengattungen mit Stolz herabsahen, sogar den Namen Alterthum in ausnehmendem Sinne auf die beiden durch Geistescultur, Gelehrsamkeit und Kunst verfeinerten Völker [d.i. Griechen und Römer] einzuschränken.382
Wolf fordert programmatisch eine Verabsolutierung der Singularform unter Beschränkung auf Griechen und Römer ein: Das Altertum soll die griechisch-römische Hochkultur als Epoche von der orientalischen ›Barbarei‹ abgrenzen; die Vielfalt der diversen Altertümer wird gleichsam ausgesiebt, der Begriff des Altertums auf ein homogenes Ideal eingeschränkt. In actu lässt sich hier die Herausbildung eines der wirkmächtigsten Kollektivsingulare der Moderne beobachten. Während Zedlers Universallexikon 1732 eine Singularform ›Altertum‹ in diesem Sinne noch nicht kennt,383 verzeichnet Adelung bereits die Bedeutungsnuance einer Epochenbezeichnung. Im Plural bezeichnen Altertümer laut Adelung Gebräuche und Kunstwerke alter Zeiten, im Singular hingegen bezeichne das Altertum die »alte längst verflossene Zeit und die Menschen, die darin gelebt haben«, besonders aber »die schöne Zeit der Grie-
Carus: Geschichte der Psychologie, 1808. S. 89. Friedrich August Wolf: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: Museum der Alter thums-Wissenschaft 1 (1807). S. 1–145, hier: S. 18 f. Vgl. zur hier in Anschlag gebrachten Unterscheidung zwischen bloßer ›Civilisation‹ und ›höherer eigentlicher Geistescultur‹ Michael Pflaum: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. In: Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Bd. 3: Kultur und Zivilisation. Hg. vom Sprachwissenschaftlichen Colloquium (Bonn). München 1967. S. 288–427, hier: S. 302 f. 383 Vgl. den Eintrag Alterthümer in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Bd. 1. Halle/Leipzig 1732. Sp. 1566–1568. 381
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chen und Römer.«384 Die Einschränkung des Kollektivsingulars ›Altertum‹ auf Griechen und Römer setzt sich also bereits durch, als Wolf sie im frühen 19. Jahrhundert noch einmal ausdrücklich einfordert. Im 19. Jahrhundert taucht das dergestalt im Singular inthronisierte griechisch-römische Altertum gewöhnlicherweise in Verbindung mit dem Adjektiv ›klassisch‹ auf und gibt seine normsetzende Semantik im ausgehenden 19. Jahrhundert an den Ausdruck ›die Antike‹ weiter, der bis heute vornehmlich das griechisch-römische Altertum bezeichnet.385 Es ist die Antikenpluralisierung des 18. Jahrhunderts, die das zusätzliche Distinktionsmerkmal ›klassisch‹ überhaupt erst nötig macht. Und so zeigt sich der Anspruch der eine ›Archäologie der Hebräer‹ propagierenden Forscher, der griechisch-römischen Altertumskunde Konkurrenz zu machen, nicht zuletzt im Versuch, das Adjektiv ›klassisch‹ ebenfalls für sich zu beanspruchen. 1807 resümiert der Theologe Eichhorn, im 18. Jahrhundert sei »den Hebräischen Alter thümern ein reineres Licht« aufgegangen.386 Damals habe sich, befördert durch seine eigene Einleitung ins Alte Testament (1780–1783) und Herders Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83), die alttestamentliche Exegese einer »classischen Gestalt« bzw. »classischen Form« genähert.387 Während die Leser der ersten Auflage seiner Einleitung ins Alte Testament die ›classische‹ Form nur in zahlreichen vergleichenden Hinweisen auf Homer und Herodot hatten erahnen können, eröffnet Eichhorn die zweite Auflage 1787 mit dem programmatischen Anspruch, nicht (nur) Theologie, sondern Altertumswissenschaft zu betreiben: »Der bloß theologische Gebrauch, welcher von den Schriften des Alten Testaments gewöhnlich gemacht wird, hat bisher […] verhindert, diese Werke des grauen Alterthums nach Verdienst zu würdigen.«388 In dieser Perspektive nun versucht Eichhorn – zeitgleich mit Wolfs Versuch, »den Namen Alterthum« exklusiv für die Griechen und Römer zu reservieren – die sogenannten hebräischen Altertümer, die im Plural als archäologische und textliche Überreste verstanden werden, begriffsgeschichtlich zum Kollektivsingular des »hebräischen Altertums« als Epoche umzuprägen.389 Durchsetzen kann sich diese Prägung indes nicht. Die normative Einengung der Altertümer auf ›das Altertum‹ der Griechen und Römer führt im Verein mit der besonders von Herder geprägten historisie384
Adelung 1 (1793). Sp. 239 f. Walter Müri: Die Antike. Über Ursprung und Entwicklung der Bezeichnung einer geschichtlichen Epoche. In: Antike und Abendland 7 (1958). S. 7–45; Walter Rüegg: Antike [I.]. In: HWdPh 1 (1971). Sp. 385 f. 386 Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der neuern Sprachenkunde. Erste Abtheilung. Göttingen 1807. S. 513 und S. 522. 387 Eichhorn: Geschichte der neuern Sprachenkunde, 1807. S. 538 und S. 561. 388 Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung ins Alte Testament. Bd. 1. Leipzig 21787. S. iii. 389 Eichhorn: Geschichte der neuern Sprachenkunde, 1807. S. 560; Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung ins Alte Testament. Bd. 3. Leipzig 1783. S. 559. 385
2.3 Altertumswissen
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rend relativierenden Sicht auf verschiedene Kulturen dazu, dass der ›Orient‹ begriffsgeschichtlich vom ›Altertum‹ abgespalten wird und dass diese beiden Entitäten als zutiefst verschiedene aufgefasst werden. In diesem Sinne spricht Goethe in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß seines West-östlichen Divans (1819) eine Warnung vor wertenden Vergleichen zwischen orientalischer und griechischer oder lateinischer Dichtung aus: William Jones habe das in seinen Poëseos Asiaticae commentariorum libri sex (1774) nur deshalb getan, weil die englischen Kritiker damals ausschließlich das hätten gelten lassen, »was von Rom und Athen her auf uns vererbt worden« sei: Er kannte, schätzte, liebte seinen Orient und wünschte dessen Productionen in Alt-England einzuführen, einzuschwärzen, welches nicht anders als unter dem Stempel des Alterthums zu bewirken war. Dieses alles ist gegenwärtig ganz unnöthig, ja schädlich. Wir wissen die Dichtart der Orientalen zu schätzen, wir gestehen ihnen die größten Vorzüge zu, aber man vergleiche sie mit sich selbst, man ehre sie in ihrem eignen Kreise, und vergesse doch dabey daß es Griechen und Römer gegeben. (GwöD, 201)
Der »Stempel des Alterthums« erscheint hier als falsches Etikett, mithilfe dessen Jones die orientalische Dichtung in den Literaturkanon habe einschmuggeln wollen (so die damalige Bedeutung von ›einschwärzen‹).390 Solche Tricks hält Goethe im frühen 19. Jahrhundert für unnötig, da der Orient längst für sich genommen Interesse wecke, und er hält sie für schädlich, weil ein Vergleich mit Griechen und Römern die Wertschätzung orientalischer Dichtung um ihrer spezifischen Vorzüge willen behindere. Begrifflich schlägt sich diese Auffassung darin nieder, dass Goethe ausdrücklich die Bezeichnung ›Altertum‹ als eine dem ›Orient‹ unangemessene ablehnt. Eine ähnliche Scheidung zeigt sich auch in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800), in dem die Epochen der Dichtkunst an ihre Quellen im »Alterthum« zurückgeführt werden: »Für uns Neuere, für Europa,« so lässt einer der fiktiven Gesprächspartner verlauten, »liegt diese Quelle in Hellas« (KFSA 2, 290). Im Einklang mit diesem Primat der »klassischen Dichtungen des Altertums« (KFSA 2, 335) treten ›Altertum‹ und ›Orient‹ als wie selbstverständlich voneinander getrennte semantische Entitäten in Erscheinung: Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Altertums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen […]. Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen, und wenn wir erst aus der Quelle schöpfen können, so wird uns vielleicht der Anschein von südlicher Glut, der uns jetzt in der spanischen Poesie so reizend ist, wieder nur abendländisch und sparsam erscheinen. (KFSA 2, 319 f.)
Der Orient erscheint hier als das verlockende Andere des klassischen Altertums, als noch unbekannte, nur erahnte Quelle des ›höchsten Romantischen‹. Dass Schlegels fiktiver Gesprächspartner hier, als die Rede auf den Orient kommt, zu390
DWb 3 (1862). Sp. 288.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
allererst an Indien denkt, ist aussagekräftig dafür, wie sich die Interessenschwerpunkte verschoben haben: Im Gravitationsfeld der vergleichenden Sprach- und Mythenforschung droht die hebräische Überlieferung ihren in der christlichen Tradition verbürgten Status als Ursprung des Eigenen an das Persische und das Indische zu verlieren, ohne freilich widerstandslos ersetzt werden zu können.391 Zwischen der Suche nach einer Urpoesie und Urmythologie in Indien und der Orientierung am Ideal griechischer Dichtung findet die hebräische Überlieferung keinen rechten Ort mehr und wird an den Rand des Blickfelds gedrängt. Sind die Hebräer mit ihrem altbekannten Textkorpus noch als Negativfolie für die Konstitution der klassischen Altertumswissenschaft instrumentalisierbar, fallen sie letztlich in den Spalt, der sich begriffsgeschichtlich zwischen dem Altertum und dem Orient auftut, denn sie sind nicht ›klassisch‹ genug, um neben Griechen und Römern Platz im ›Altertum‹ zu finden, und nicht exotisch genug, um neben anderen orientalischen Völkern ihre überkommene Vorrangstellung im ›Orient‹ zu behaupten. Weder in der einen noch in der anderen Rubrik erhalten sie eine sichere, geschweige denn eine prominente Stellung. Deutlich tritt dieses wissenspolitische Dilemma im Wirken von Joseph Levin Saalschütz hervor. Der jüdische Religionslehrer und Privatdozent an der Königsberger Universität versucht in den 1840er und 1850er Jahren noch einmal beherzt, die hebräische Antike im europäischen Wissenskanon zu verankern und auf diesem Wege eine eigene Position als jüdischer Wissenschaftler zu behaupten. Saalschütz zeigt sich bewusst, gegen welche Widerstände er dabei anzugehen hat. Dass die »orientalische und abendländische, hier namentlich die classische Alterthumskunde« inzwischen üblicherweise einander gegenübergestellt und getrennt voneinander behandelt würden,392 nimmt er in seiner zweibändigen Archäologie der Hebräer (1855/56) zum Anlass, um darzulegen, dass der Orient und insbesondere das hebräische Altertum nicht hinreichend Beachtung finde.393 Mit Blick auf die allgemeine Schulbildung konstatiert er, der Orient bleibe den meisten Europäern »eine geheimnisvolle, unbekannte Welt, während wir in Griechenland und Rom uns schon früh heimisch fühlen lernen.«394 Das sei besonders 391 Andrea Polaschegg: Athen am Nil oder Jerusalem am Ganges? Der Streit um den kulturellen Ursprung um 1800. In: Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Hg. von Alexandra Böhm und Monika Sproll. Würzburg 2008. S. 41–65; Maurice Olender: Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen [1989] übersetzt von Peter D. Krumme. Frankfurt am Main/New York, NY 1995; Klaus Grotsch: Das Sanskrit und die Ursprache. Zur Rolle des Sanskrit in der Konstitutionsphase der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. In: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hg. von Joachim Gessinger und Wolfert von Rahden. Bd. 2. Berlin/New York, NY 1989. S. 85–121. 392 Joseph Levin Saalschütz: Archäologie der Hebräer. Für Freunde des Alterthums und zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen. Bd. 1. Königsberg 1855. S. x. 393 Vgl. auch die kleine bildungspolitische Schrift Joseph Levin Saalschütz: Die classischen Studien und der Orient. Zur geneigten Erwägung der diesjährigen Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten ergebenst vorgelegt. Königsberg 1850. 394 Saalschütz: Archäologie der Hebräer. Bd. 1 (1855). S. xii.
2.3 Altertumswissen
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mit Blick auf die Hebräer bedauerlich, die seiner Meinung nach zu Unrecht allein als Gegenstand der Theologie gelten: Hebräische Anschauung, Sitte und Gemeindegestaltung ist es aber, die sowohl ihrem eigen thümlichen Wesen nach, als auch historisch die Vermittelung bildet zwischen Asien und Europa. Die Hebräische Archäologie ergänzt und erläutert vielfach die Alterthümer der Euro päischen Völker. Ihre Kenntnis ist uns nöthig, wenn wir die Culturgeschichte erforschen wollen.395
Die Voraussetzungen, unter denen sich das hebräische Altertum als würdiger Forschungsgegenstand verteidigen lässt, haben sich gegenüber dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sichtlich verändert. Von einer ebenbürtigen Antike ist keine Rede mehr. Vielmehr geht es darum, die genealogische Bedeutung der Hebräer für die höherwertigen »Alterthümer der Europäischen Völker« auszustellen. In diesem Sinne weist Saalschütz den Hebräern im Rahmen der Menschheitsgeschichte als Vermittlern »zwischen Asien und Europa« eine vorbereitende Rolle für die Vollendung der klassischen Antike zu, die dann die Grundlage für die Kultur des Okzidents gebildet habe. Im damaligen Wissenschaftsbetrieb verfängt eine solche defensive Argumentation, die spürbar in Reaktion auf die Marginalisierung und Negativkanonisierung der Hebräer formuliert ist, allerdings umso weniger, als sie von einem jüdischen Forscher vorgelegt wird, der im Gegensatz zu seinen christlichen Vorgängern, die ihre ›Archäologie der Hebräer‹ dezidiert ohne und zum Teil auch gegen Juden entworfen hatten, auf Kontinuitätslinien setzt und nachantike jüdische Traditionen ausdrücklich mitberücksichtigt. So kündigt Saalschütz 1846 schon im Titel seiner zweibändigen Studie zum Mosaischen Recht an, dass er es im Unterschied zu Michaelis unter Berücksichtigung des spätern Jüdischen untersuchen werde.396 Im zweiten, 1848 erschienen Band hebt Saalschütz mit politischem Impetus die »Analogieen in gegenwärtigen Verhältnissen« hervor, die man in seiner Untersuchung finden werde.397 Einer solchen jüdischen Wissenspolitik wird weder strukturell noch institutionell Anerkennung im deutschen Universitätssystem des 19. Jahrhunderts zuteil. Saalschütz erhält zeitlebens keine Professur und seine Versuche, das Projekt einer Archäologie der Hebräer von jüdischer Warte aus zu erneuern, verlaufen im Sande. Der Wissenschaftler des Judentums Leopold Zunz,398 der bei den klassischen Philologen Friedrich August Wolf und August Boeckh in Berlin studiert hat,399 Saalschütz: Archäologie der Hebräer. Bd. 1 (1855). S. xv f. Joseph Levin Saalschütz: Das Mosaische Recht, mit Berücksichtigung des spätern Jüdischen. 2 Bde. Berlin 1846/48. 397 Saalschütz: Das Mosaische Recht. Bd. 2 (1848). Vorwort (unpaginiert). 398 Ismar Schorsch: Leopold Zunz. Creativity in Adversity. Philadelphia, PA 2016; Céline Trautmann-Waller: Philologie allemande et tradition juive. Le parcours intellectuel de Leopold Zunz. Paris 1998. 399 Veltri: Altertumswissenschaft und Wissenschaft des Judentums, 1999. S. 32–47. 395
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muss 1845 feststellen: »[B]ei den Deutschen fanden die jüdischen Studien weder unter den klassischen noch unter den orientalischen, weder in der Philologie noch im Staatsleben einen Platz.«400 Zunz’ Hoffnung, dass die Juden bald in der Ahnenreihe des »civilisirten Europa« neben Griechen, Römern und Germanen ihren Platz erhalten würden und dass man Jüdische Studien als eigenständigen Teilbereich der Orientalistik auch an den deutschen Universitäten etablieren werde,401 erfüllt sich nicht. Zwischen verschiedenen Wissens- und Kanongebieten mäandernd und immer auf die Juden der Gegenwart verwiesen, lässt sich das hebräische Altertum im 19. Jahrhundert nicht dauerhaft als Referenzmodell für die deutsche Kultur und Literatur etablieren.402 2.3.4 Orientalisch oder west-östlich? Konzepte hebräischer Poesie und jüdischer Literatur im 19. Jahrhundert (Martinet – Delitzsch – Zunz) Welche Konsequenzen die skizzierten wissenspolitischen Entwicklungen für den Umgang mit jüdischen Literaturtraditionen haben, lässt sich anhand der frühen Weltliteraturgeschichtsschreibung nachvollziehen. Als Friedrich Schlegel 1812 in seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur »ein welthistorisches Gemälde der europäischen Geistesbildung aufzustellen« versucht, wählt er die Griechen als glänzenden Ausgangspunkt seiner Darstellung, da deren Kultur die Grundlage der europäischen bilde (KFSA 6, 18 f.), und widmet den Hebräern lediglich im Anschluss an die Römer einige flüchtige Bemerkungen, bevor er sich dem alten Indien und dessen Beziehungen zu Europa zuwendet. Hiob, David, Salomon und Jesaja erwähnt er nur im Vorübergehen zwischen den griechischen und indischen Einflussbereichen der europäischen Kultur (KFSA 6, 101). Zwar plant er Ende der 1810er Jahre, in einer Neubearbeitung mit der Genesis zu beginnen und die hebräische Literatur ausführlicher zu behandeln,403 doch beschränkt er sich bei der Überarbeitung 1820/21 letztlich auf einige zusätzliche Bemerkungen und belässt die Gesamtanordnung, wie sie ist. Die Zusätze nehmen einige Gedanken Herders auf, verbinden dessen Einschätzungen aber mit Analogien zur indischen Literatur und würdigen die alttesta Leopold Zunz: Zur Geschichte und Literatur. Bd. 1. Berlin 1845. S. 16 f. Zunz: Zur Geschichte und Literatur, 1845. S. iv f. 402 Es wäre eine eigene Untersuchung nötig, um die Gegenüberstellung von Hebraismus und Hellenismus, die im deutschsprachigen Raum u. a. bei Heine zum Tragen kommt, 1867/68 durch einen Essay von Matthew Arnold Relevanz für die europäische Literaturkritik erhält und noch das Nachdenken des späten Ludwig Philippson über den Stellenwert des Judentums in der Gegenwart bestimmt, in diesem Kontext zu verorten. Vgl. für einen Ansatz dazu Susannah Heschel: Judaism, Islam, and Hellenism. The Conflict in Germany over the Origins of Kultur. In: The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea. Hg. von Jeremy Cohen und Richard I. Cohen. Oxford/ Portland, OR 2008. S. 98–124. 403 Hans Eichner: Einleitung. In: KFSA 6, xi–l, hier: xxvi (Anm. 3). 400 401
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mentlichen Texte vor allem als Grundlage des Christentums (KFSA 6, 102–115). Schlegels Vorlesungen, die als »katholisch-europäischer Gegenentwurf zur um 1800 latenten protestantisch-preußischen Genealogie der deutschen Literatur«404 überkommene Darstellungskonventionen und Selbsterzählungen mit konkurrierenden Ordnungen, Gewichtungen und Herleitungen konfrontieren, kehren hervor, dass die literaturgeschichtliche Position der Hebräer und ihrer Überlieferung um 1800 zwischen verschiedenen ›klassischen‹ und ›orientalischen‹ Altertumskulturen ins Rutschen kommt. War die hebräische Poesie im 18. Jahrhundert in den deutschen Literaturdebatten zu einem ebenso umstrittenen wie wirkmächtigen paradigmatischen Modell lyrischen Sprechens avanciert, gerät sie im 19. Jahrhundert nicht nur bei Schlegel in unbequeme diskursive Rand- und Scharnierpositionen. Besondere Schwierigkeiten bereiten der allgemeinen Literaturgeschichtsschreibung in den folgenden Jahrzehnten die Zerstreutheit der Juden und ihr Verhältnis zu den antiken Israeliten. Wie die Frage der Kontinuität zwischen Hebräern und Juden die Versuche erschwert hatte, ein hebräisches Altertum als Forschungsgegenstand zu isolieren, so erweist es sich nun als schwierig zu klären, in welchem Verhältnis die biblische zur späteren hebräischen Literatur steht und was noch in den Bereich jüdischer Literatur fällt. Deutlich tritt das in den Arbeiten des Literaturhistorikers Ludwig Wachler zutage.405 In seinem Handbuch der allgemeinen Geschichte der literärischen Cultur (1804/05), das in mehreren überarbeiteten Auflagen erscheint, beschließt er alle größeren Epochenabschnitte mit kurzen Kapiteln, in denen er die Literaturgeschichte der Juden (so jeweils die Überschrift) als einen besonderen, aber mit den morgen- und abendländischen Umgebungskulturen verflochtenen Strang präsentiert.406 In seinem bibliographischen Lehrbuch der Litteraturgeschichte (1827) platziert er die Juden der Neuzeit mit ihrer »litt[erarischen] Thätigkeit« zwischen ›Türken‹ und ›außereuropäischen Ländern‹;407 zum Mittelalter vermerkt er anerkennend, nachdem er Syrer, Perser, Armenier, Sinesen abgehandelt hat und bevor er zum Unterkapitel Europäisches Abendland übergeht, dass die »überall zerstreuten Juden« durch die Vermittlung ihres Wissens »Abendländern u[nd] Morgenländern gleich grosse Dienste« leisteten.408 404 Andrea Polaschegg: Geschichte der alten und neuen Literatur. In: Friedrich Schlegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Johannes Endres. Stuttgart/Weimar 2017. S. 224–233, hier: S. 232. 405 Vgl. für deren Anerkennung als einen der ersten Versuche, die jüdische Literaturgeschichte in die allgemeine zu integrieren, Moritz Steinschneider: Jüdische Literatur. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Hg. von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber. Bd. 2.27. Leipzig 1850. S. 357–471, hier: S. 470. 406 Ludwig Wachler: Handbuch der allgemeinen Geschichte der literärischen Cultur. 2 Bde. Marburg 1804/05. 407 Ludwig Wachler: Lehrbuch der Litteraturgeschichte. Leipzig 1827. S. 429 f. 408 Ebd., S. 181 f.
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Eine ähnliche Vermittlungsfigur des West-Östlichen bemüht Karl Rosenkranz in seiner Geschichte der orientalischen und der antiken Poesie (1832) als Fazit seines Abschnitts zur alttestamentlichen Dichtung: »Die Hebräische Poesie steht vollkommen in sich abgeschlossen da, hat aber sowohl auf die spätere Orientalische, als auf die Occidentalische einen tiefgreifenden, unberechenbaren Einfluss geübt.«409 Damit steht sie zwischen den drei großen Kulturbereichen und -epochen, in die Rosenkranz seine Darstellung einteilt, nämlich »zuerst die Geschichte der Orientalischen, zweitens die Geschichte der Antiken oder classischen, drittens die der Christlichen Poesie«.410 Die hebräische Poesie findet sich hier mit der muslimischen, persischen, arabischen und türkischen in der Kategorie Poesie der Vorderasiatischen Völker vereint, während der chinesischen und der indischen Poesie als den älteren sowie der griechischen und römischen als den ›klassischen‹ je eigene große Abschnitte gewidmet sind. Die Platzierung hebräischer Dichtung und der ihr gewidmete Raum in Rosenkranz’ Überblicksdarstellung veranschaulichen so zum einen den Bedeutungsverlust der hebräischen gegenüber beispielsweise der indischen Literatur und zum anderen ihre widerständige Einordnung unter der vom ›klassischen Altertum‹ getrennten Rubrik ›Orient‹. Ihren im 18. Jahrhundert kurzzeitig erlangten paradigmatischen Status hat die hebräische Poesie im frühen 19. Jahrhundert sichtlich verloren. War sie in Zeiten der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang ein attraktives Modell ursprünglichen lyrischen Sprechens, suchen die Literaten der Romantik und der Klassik ihre Vorbilder und Inspirationsquellen andernorts: im Christentum, im fernen Orient und im klassischen Altertum, die zu ebendieser Zeit auch disziplinär als Gegenstandsbereiche gefestigt werden. Die hebräische Überlieferung fällt dabei – als jüdische – durchs Raster. 1836 ruft der evangelische Theologe Franz Delitzsch, man habe über dem Entferntesten das Nächstliegende vergessen. Die Schriftdenkmale der Sanskritvölker, der medopersischen Stämme, der semitischen Syrer und Araber sind uns weit bekannter, als die jüdische Literatur. Die jüdische Poesie ist bis jetzt weder in die allgemeine Literaturgeschichte der Poësie, noch in die Specialgeschichte der orientalischen, aufgenommen worden.411
In dieser Situation nun versuchen jüdische Wissenschaftler und einzelne christliche Theologen, einen Begriff von jüdischer Literatur zu entwickeln, der ihre Besonderheit und Eigenständigkeit gerade in der Kontinuität von der biblischen Überlieferung bis zur hebräisch- und anderssprachigen jüdischen Dichtung der Gegenwart zu begründen sucht.412 Karl Rosenkranz: Handbuch einer allgemeinen Geschichte der Poesie. Bd. 1. Halle 1832. S. 86. Ebd., S. 3. 411 Franz Delitzsch: Zur Geschichte der jüdischen Poesie vom Abschluss der heiligen Schriften Alten Bundes bis auf die neueste Zeit. Leipzig 1836. S. vii. 412 Vgl. mit Blick auf das Erzählmodell der Aggada auch Johannes Sabel: Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas. Tübingen 2010. 409 410
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In bemerkenswerter Koinzidenz treten um die Mitte der 1830er Jahre unabhängig voneinander zwei eigensinnige christliche Theologen an, das Ansehen der jüdischen Literatur zu retten, indem sie gerade ihre Kontinuität in den Vordergrund stellen. Der katholische Theologe und Gymnasiallehrer Adam Martinet aus Bamberg veröffentlicht eine Hebräische Chrestomathie der biblischen und neuern Literatur (1837), der evangelische Theologe und Judenmissionar Franz Delitzsch aus Leipzig publiziert eine Geschichte der jüdischen Poesie vom Abschluss der heiligen Schriften Alten Bundes bis auf die neueste Zeit (1836). Heinrich Graetz rekapituliert 1870: »Zwei poetisch gestimmte christliche Forscher, überrascht von der wunderbaren Erscheinung, daß das gehetzte jüdische Volk noch bis in die neueste Zeit eine eigne neuhebräische Dichtkunst, im rauhen Winter Frühlings-Blüthen erzeugt hat, versuchten dafür in christlichen Kreisen Verständniß und Liebe zu erwecken.«413 Im Gegensatz zu den meisten anderen Theologen der Zeit folgen Martinet und Delitzsch dem Vorbild frühneuzeitlicher christlicher Hebraisten darin, dass sie bei jüdischen Gelehrten in die Schule gehen. Martinet würdigt den Maskil Aaron Wolfssohn dankbar als seinen Lehrer und nimmt für seine Chrestomathie die Hilfe des Rabbinatskandidaten Josef Klein in Anspruch;414 Delitzsch vertieft mithilfe von Moritz Steinschneider und Julius Fürst seine Kenntnisse rabbinischer Literatur.415 Besonders in Delitzschs Fall kommt es dabei allerdings zu heftigen Konflikten,416 die auch Plagiatsvorwürfe einschließen.417 Als christliche Kenner nachbiblischer jüdischer Literatur nehmen die beiden Theologen eine Sonderposition in ihrer eigenen Disziplin ein und stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis zu den jüdischen Gelehrten, deren Wissen sie teilen wollen. Ich werde im Folgenden nachvollziehen, welche Konsequenzen sich daraus für die jeweilige Präsentation jüdischer Literatur ergeben, und dies anschließend zu der Forschungsarbeit der Wissenschaftler des Judentums in Beziehung setzen. Als der Bamberger Gymnasiallehrer Martinet 1836/37 seine Hebräische Chres tomathie zusammenstellt, versammelt er in ihr – abgesehen von einigen wenigen 413 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet. Bd. 11: Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelssohn’schen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848). Leipzig 1870. S. 504 f. 414 Adam Martinet: תפארת ישראלoder Hebräische Chrestomathie der biblischen und neuern Literatur [Bd. 2 der Hebräischen Sprach-Schule für Universitäten, Lyceen, Gymnasien und israelitische Schulen]. Bamberg 1837. S. xf. und S. 343. 415 Delitzsch: Zur Geschichte der jüdischen Poesie, 1836. S. 124. 416 Eine Rekonstruktion der personellen und ideellen Kontakte zwischen Delitzsch und jüdischen Forschern ist ein dringliches Desiderat, das hier nur benannt, nicht aber gefüllt werden kann. 417 Mehrfach wird kritisch angemerkt, dass Delitzsch über weite Strecken aus Arbeiten von Leopold Zunz und anderen referiere, ohne dies kenntlich zu machen. Vgl. u. a. Isaak Marcus Jost in seinen Israelitischen Annalen 2:13 (1840). S. 120 sowie Abraham Geiger in seiner Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie 3 (1837). S. 384. Vgl. dazu Franz Delitzsch: Nothwehr gegen drei Recensenten meines Buches: Zur Geschichte der jüdischen Poesie. In: Der Orient 1 (1840). Sp. 236– 240, Sp. 251–253 und Sp. 284–286.
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Auszügen aus dem Alten Testament – vor allem Texte der Haskala-Literatur von den Oden Naphtali Herz Wesselys und Briefen David Friedländers über Fabeln Aaron Wolfssohns und Dramen Joseph Ha-Efratis bis hin zu hebräischen Übersetzungen aus Schillers Glocke. Ausdrücklich strebt er mit dieser ungewöhnlichen Gewichtung einer für den schulischen Hebräisch-Unterricht bestimmten Chrestomathie nichts Geringeres als »eine Ehrenrettung der neuern hebräischen Literatur« an.418 In seiner Vorrede unterstreicht er den Neuheitswert seines Unterfangens und präsentiert ebenso »schüchtern« wie stolz das Ergebnis seiner Bemühungen, nämlich die schönsten und besten morgenländischen Blumen auf abendländischem Boden grossgezogen, prächtig blühend und köstlichen Duft ausgiessend. Obwohl diese Blumen bis jetzt ganz unbekannt dem christlichen Gelehrten geblieben zu sein scheinen, getraute ich doch dieselben zum duftenden Strausse zusammen zu binden, dem gelehrten Leser anzubieten und ihn einzuladen, in jenen Gärten sich noch schönere zum strahlenden Kranze zu sammeln.419
Mit der Präsentation seiner Chrestomathie als Blumenstrauß rekurriert Martinet auf eine Standardtrope des Anthologienwesens dieser Zeit.420 Indem Martinet die modernen hebräischen Dichtungen als ›morgenländische Blumen auf abendländischem Boden‹ vorstellt, greift er aber auch eine spezifisch jüdische Variante dieser Metaphorik auf, die Salomon Jacob Cohen 1807 mit seinem he bräisch-deutschen Band מטעי קדם על אדמת צפון/ Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden geprägt hat (Kap. 3.2.2 und Kap. 3.2.4).421 Wie Cohen versucht auch Martinet, die von ihm versammelten hebräischen Dichtungen als west-östliche Gewächse attraktiv zu machen, als orientalische Samen, die in okzidentalischer Erde aufgegangen und zu voller Blüte emporgewachsen seien. Die vorgeschalteten biblischen Auswahltexte dienen mithin in der Gesamtanlage vornehmlich als kurze Erinnerung an den orientalischen Ursprung der hebräischen Poesie, während die sodann präsentierten Musterstücke aus neuerer Zeit ihre ›abendländischen‹ Entstehungsbedingungen sowohl stofflich als auch gattungsästhetisch deutlich zu erkennen geben. Dem Selbstverständnis der Maskilim folgend, sieht Martinet die neuere hebräische Literatur nicht zuletzt durch das »eifrige Streben« ausgezeichnet, »den gegenwärtigen geis Martinet: Hebräische Chrestomathie, 1837. S. viii. Julius Fürst rezensiert die Chrestomathie wohlwollend und merkt an, dieser katholische Lehrer und Prediger beschäme »manchen überverständigen protestantischen Gelehrten« (AZJ 1:54 (1837). S. 215 f.). 419 Martinet: Hebräische Chrestomathie, 1837. S. vii. 420 Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 1. Hg. von Joachim Bark und Dietger Pforte. Frankfurt am Main 1970. S. xiii–cxxiv, hier: S. c. Vgl. Joachim Bark: Anthologie. In: HWdRh 1 (1992). Sp. 678–685; Joachim Bark: Blütenlese. In: HWdRh 2 (1994). Sp. 47–50; Günter Häntzschel: Anthologie. In: RLW 1 (2007). S. 98–100; Armin Sieber: Florilegium. In: HWdRh 3 (1998). Sp. 67–371. 421 Dass Martinet Cohens Morgenländische Pflanzen vorliegen, geht daraus hervor, dass er das dort veröffentlichte Eingangsgedicht An die Muse und das Epos über ›Abrahams Martyrium‹ in seiner Chrestomathie abdruckt (Martinet: Hebräische Chrestomathie, 1837. S. 211–229). 418
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tigen Standpunkt und Inhalt des Weltbewusstseyns mit dem uralten Geiste der h[ei]l[igen] Schriften und deren Ausdrucke auszusöhnen«,422 und richtet seine Sammlung von Musterstücken in diesem Sinne als west-östliche Blumenlese ein. Mit einer entschieden anderen Aussage- und Wertungsabsicht verwendet der 24-jährige lutherische Theologe Delitzsch die Metapher morgenländischer Pflanzen auf nördlichem Boden, um 1836 seine Geschichte der jüdischen Poesie (1836) zu eröffnen: In der jüdischen Poesie ist eine orientalische Pflanze in alle Länder der Erde versetzt worden. Diese Pflanze ist überall, ohne je ihre morgenländische Natur ganz zu verläugnen, zu der ergiebigsten Fruchtbarkeit gediehen. Der Orient exilirt mitten im Occident; aus den Thränen seines Heimweh’s quillt die jüdische Poësie. Morgenländisches Volks- und Schriftthum ist im jüdischen Volke als ein fremdartiges, unzerstörbares, unauflösliches Element in die Abendlande herübergekommen.423
Während Martinet die Metapher der Verpflanzung nutzt, um den west-östlichen Charakter moderner hebräischer Dichtung als ein Phänomen vielfältiger Verbindung und Kreuzung herauszustellen, legt Delitzsch den Akzent mit einem organologisch-biologistischen Verständnis auf Trennung und Isolation.424 Mit einer stark aufgeladenen Semantik des Exils unterstreicht er seine Überzeugung, dass die jüdische Poesie »ihre morgenländische Natur« nie ganz verleugnet und das jüdische Volk morgenländisches Schrifttum »als ein fremdartiges, unzerstörbares, unauflösliches Element« ins Abendland getragen habe. Das Festhalten am Überkommenen und die Absonderung werden hier zum positiven Alleinstellungsmerkmal: Die jüdische Poesie habe sich »in immer neuen Verjüngungen bis auf die Neuzeit« fortgepflanzt, weil das jüdische Volk »nicht, wie das griechische und römische, an moralischer Entkräftung dahinstarb, sondern im Gegentheil durch den unbiegsamsten Widerstand gegen alle fremdartigen Einflüsse sich behauptete.«425 Mit dieser Überzeugung rechtfertigt Delitzsch sowohl seinen wissenschaftlichen Standpunkt innerhalb der Theologie als auch seine Beurteilung der jüdischen Poesie. Er tritt nämlich an, »die jüdische Poësie von der Schmach des vorigen Jahrhunderts zu emancipiren«, die ihr die protestantische alttestamentliche Forschung bereitet habe. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hätten die Exegeten »den schaalsten Occidentalismus in die heilige Schrift Alten und Neuen Bundes« hineininterpretiert: Die jüdische Tradition sei ignoriert worden, die viel jüngere muslimische Literatur hingegen als »Orakel für die althebräischen Glaubensurkunden« benutzt worden. Dieses orientalistische Verfahren, für das vor allem Michaelis einsteht, verurteilt Delitzsch als unhistorisch und reklamiert demge Martinet: Hebräische Chrestomathie, 1837. S. 341. Delitzsch: Zur Geschichte der jüdischen Poesie, 1836. S. vii. 424 Vgl. auch ebd., S. 43. 425 Ebd., S. xi. 422 423
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genüber einen einfühlsamen Orientalismus für sich, dem die Überzeugung zugrunde liegt, dass die hebräische Sprache »in unsterblicher Jugendfrische« fortlebe.426 Delitzsch erneuert hier für seine Sprechposition das frühneuzeitliche Modell des christlichen Hebraismus im Lichte eines emphatischen Orientalismus herderscher Provenienz und setzt von dieser Warte aus – gegen die im ausgehenden 18. Jahrhundert vollzogene Trennung zwischen vorexilischen Hebräern und nachexilischen Juden – auf die Kontinuität jüdischer Überlieferung: Wie die deutsche Bibelübersetzung Luthers »die Basis der Schriftsprache deutscher Na tion geworden« sei, so stelle der Tanach »für das jüdische Volk religiöse und nationale Quelle zugleich« dar, an der sich alle »Neugestaltungen des Hebraismus« orientierten: »Darum reflectirt die poëtische Literatur den Hebraismus in der ungefärbtesten Reinheit.«427 Dies scheint ihm in neuester Zeit allerdings nicht mehr gegeben: Dass die jüdische Poesie sich zu Übersetzungsversuchen herablasse, beweise, dass sie »keine selbsteigene Schöpferkraft« mehr besitze und sich stattdessen am Muster der deutschen Dichtung orientiere. Das habe zur Folge, dass der hebräische Stil insbesondere in Deutschland ein »ganz abendländisches Colorit« erhalten und auf eine niedrige Stufe herabgesunken sei: »Wenn die Farbenmischung halb morgenund halb abendländisch ist, so wird die Poësie ein Quodlibet, ein Potpourri, ein Curiosum, aber nicht ein Kunstwerk mit Idee und Charakter.« Was Martinet in seiner Chrestomathie als Musterstücke hebräischen Stils präsentiert – Teilübersetzungen aus Schillers Glocke etwa – und als west-östliche Verpflanzungsprodukte würdigt, erscheint Delitzsch als Verfalls- und Auflösungserscheinung: »Die jüdische Poësie nun, herausgetreten aus dem Kreise der nationalen Geschichte und überhaupt des Orientalismus, musste die weniger denn mittelmäs sige Copie, das Schatten-, oft das Zerrbild dieser [deutschen] mittelmässigen Poësie werden, in welche sie sich sterblich verliebt hatte.«428 Delitzschs Wertschätzung der jüdischen Poesie ist mithin an die Bedingung gebunden, dass sie sich wesenhaft von der deutschen und überhaupt der europäischen Dichtung unterscheide. Nur als rein hebräische kann sie als »indirekte Exegese«429 zum Verständnis der Heiligen Schrift herangezogen werden, nur als rein orientalische kann Delitzsch sie von sicherer europäischer Warte aus evaluieren. Delitzschs Abneigung gegen die Annäherung der hebräischen Literatur an die deutsche erklärt sich nicht zuletzt aus seiner heilsgeschichtlichen Sicht und konkret seinen Missionsabsichten. Wie er später die jüdische Reformbewegung kritisch sieht, da sie »nur durch Aufnahme christlicher Elemente« bestehe, Christus aber gleichwohl nicht als Erlöser anerkenne,430 so muss ihm auch eine jüdische Delitzsch: Zur Geschichte der jüdischen Poësie, 1836. S. vi. Vgl. auch ebd., S. 11. Ebd., S. x. 428 Ebd., S. 103–105. 429 Ebd., S. x. 430 Franz Delitzsch: Welche Anforderungen stellt die Gegenwart an die Missions-Arbeit unter den 426 427
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Poesie west-östlichen Formats bedrohlich erscheinen, da sie eine Angleichung an die europäische Kultur der Aufklärung ohne die Annahme des Christentums vollzieht. Delitzschs Versuch einer ›Ehrenrettung der neuern hebräischen Literatur‹ übertrifft denjenigen Martinets zwar um Längen an Kenntnisreichtum und Urteilskraft,431 nimmt aber mit ihren Essentialisierungstendenzen fast paternalistische Züge an.432 Zwei Jahre später kommt diese Ambivalenz voll zum Tragen. Möglicherweise unter Druck seines Mentors, des kurz vor der Auswanderung in die USA stehenden lutherischen Pastors Martin Stephan, schiebt Delitzsch seiner Geschichte der jüdischen Poesie 1838 eine umfassende »Autokritik«433 hinterher. Zu sehr habe er sich von der jüdischen Dichtkunst hinreißen lassen, so Delitzsch reuevoll, und darüber versäumt, diese an der Heiligen Schrift und der christlichen Heilslehre selbst zu messen. Zum einen, so sein Selbstvorwurf, habe er nicht genug Distanz bewahrt (»Ich sollte ein Kritiker sein, und ward ein Panegyriker«),434 zum anderen habe er den christlichen Standpunkt gegenüber dem ästhetischen und nationalen vernachlässigt (»Ich habe meinen Gegenstand belletristisch behandelt, ich hätte ihn christlich oder gar nicht behandeln sollen«).435 Im Gegensatz zu der dichten Materialfülle, die Delitzsch in seinem Erstlingswerk ebenso kenntnisreich wie wertschätzend ausgebreitet hatte, verliert er sich in seinem zweiten Buch, das den unscharfen Titel Wissenschaft, Kunst, Judenthum trägt, in abstrakten Erörterungen und bemühten Selbstkorrekturen. So erklärt er den »unbiegsamsten Widerstand« der Juden, den er in seiner Geschichte der jüdischen Poesie noch gerühmt hatte, nun zu einem »hartnäckige[n] und frevelhafte[n] Widerstand« und in ihrer »Regsamkeit« glaubt er eine »satanisch unermüdliche Vielgeschäftigkeit« erkennen zu können.436 Der Musivstil erscheint ihm nicht mehr als Neugestaltung des biblischen Hebraismus, sondern als Frevel, Blasphemie und Profanation des Heiligen, da er das göttliche Wort zu seinem »Spielball« mache.437 Dieser Wertungswandel schlägt sich auch in Delitzschs Einschätzung des orientalischen Charakters der hebräischen Poesie nieder. Hatte er in seinem ersten Buch nur die Orientierung der jüngsten Generation von Maskilim und ReforJuden? Vortrag gehalten zu Berlin, am 28. April 1870 in der Conferenz der in Deutschland an der Verbreitung des Christenthums unter den Juden arbeitenden Gesellschaften. Erlangen 1870. S. 5. 431 In diesem Sinne reiht Fürst Martinets Hebräische Chrestomathie in seiner Rezension neben »das durch Fülle und formelle Schönheit aufleuchtende Werk von Delitzsch« (AZJ 1:54 (1837). S. 215 f.). 432 Diese Ambivalenz thematisiert schon eine vermutlich vom Herausgeber Liebmann Adler stammende Rezension in Die Synagoge. Eine jüdisch-religiöse Zeitschrift; zur Belehrung und Erbauung für Israeliten 2 (1839). S. 166–170, hier: S. 170. 433 Franz Delitzsch: Wissenschaft, Kunst, Judenthum. Schilderungen und Kritiken. Grimma 1838. S. 6. 434 Ebd., S. 2. 435 Ebd., S. 35. 436 Ebd., S. 114 f. 437 Ebd., S. 265 f.
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mern an der deutschen Poesie und der abendländischen Kultur als Verunreinigung des orientalischen Charakters der jüdischen Poesie gerügt, zeigt er sich nun bemüht, das Judentum in seiner ursprünglichen Gestalt von den verschiedenen Einwirkungen des Orients und des Okzidents zu unterscheiden, denen das jüdische Volk im Laufe der Geschichte ausgesetzt gewesen sei.438 Die hebräische Sprache, so hebt er hervor, »nahm mannigfache Tinkturen an, je nachdem das jüdische Volk unter dem Einflusse orientalischer oder occidentalischer Wissenschaftlichkeit stand, je nach dem Standpunkte der Wissenschaft und dem Zeitgeiste der Jahrhunderte.«439 Von diesem menschlichen Gebrauch, der die heilige Sprache immer weiter von »ihrer alttestamentlichen Urform« entfernt habe,440 sei das biblische Hebräisch als Wort Gottes entschieden zu trennen. In Ermangelung dieser Differenzierung hat Delitzsch, so die in dieser Korrektur implizite Selbstdiagnose, in seinem ersten Buch spätere orientalische Färbungen der heiligen hebräischen Sprache – insbesondere im ›goldenen Zeitalter‹ der jüdischen Poesie in Spanien unter muslimischer Herrschaft – mit deren ursprünglichem morgenländischem Charakter verwechselt und sich von deren ›schmelzenden Tönen‹ und ›erotischen Tändeleien‹ verführen lassen.441 Um nicht auf solche »Abwege« zu geraten, so Delitzsch, müsse sich der christliche Kritiker der göttlichen Offenbarung des Alten und Neuen Testaments als Fundament versichern.442 In Delitzschs ambivalenter Würdigung tritt so in den 1830er Jahren noch einmal der prekäre Doppelstatus der hebräischen Sprache und Poesie als morgenländische und heilige hervor. In dem Narrativ der Verführung, Besinnung und Reue, das Delitzsch mit seinen beiden Buchveröffentlichungen präsentiert, bildet sich der Orientierungskampf des jungen Gelehrten zwischen seinem wissenschaftlichen Interesse an der Literatur der Juden und seinem geistlichen Interesse an deren Bekehrung ab.443 Dieses Spannungsverhältnis prägt sein gesamtes Lebenswerk und sein ambivalentes Verhältnis zu jüdischen Gelehrten.444 Diese äußern sich zwar anerkennend über Delitzschs Forschungsleistung, aber befremdet über seine Bekehrungsabsichten.445 Während Delitzsch mit missionarischen Absichten eine Wis Delitzsch: Wissenschaft, 1838. S. 161. Ebd., S. 259. 440 Ebd., S. 221–224. 441 Vgl. ebd., S. 148–150. 442 Ebd., S. 150. 443 Vgl. auch die Selbstdarstellung von Delitzsch: Missions-Arbeit unter den Juden, 1870. S. 3; ferner die missionarische Adresse an jüdische Leser in Delitzsch: Wissenschaft, 1838. S. 8. 444 Alan Levenson: Missionary Protestants as Defenders and Detractors of Judaism. Franz Delitzsch and Hermann Strack. In: The Jewish Quartely Review 92:3–4 (2002). S. 383–420. Historisches Problembewusstsein, besonders mit Blick auf die Judenmission, fehlt bei Siegfried Wagner: Franz Delitzsch. Leben und Werk. Giessen/Basel 21991. 445 Steinschneider: Jüdische Literatur, 1850. S. 470 f.; Leopold Zunz: Literaturgeschichte der synagogalen Poesie. Berlin 1865. S. 11; David Kaufmann: Franz Delitzsch. Ein Palmzweig aus Juda auf 438 439
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senschaft vom Judentum propagiert,446 begründen junge jüdische Gelehrte in den 1820er Jahren eine Wissenschaft des Judentums. Zwar löst sich der 1819 in Berlin gegründete Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden nach wenigen Jahren auf, doch Gründungsmitglieder wie Leopold Zunz und andere jüdische Wissenschaftler mit deutscher Universitätsausbildung unternehmen es in den folgenden Jahrzehnten, die jüdische Überlieferung in bahnbrechenden Forschungsarbeiten historisch-kritisch aufzuarbeiten und jüdische (Literatur-)Geschichte im modernen Sinne zu schreiben. Die Wissenschaftler des Judentums wollen, anders gesagt, zum einen die jüdische Gelehrsamkeit für die modernen Wissenschaften öffnen und zum anderen darauf hinwirken, dass »das Judentum und seine kulturellen Leistungen als Teil der Menschheitsgeschichte« anerkannt werden.447 Häufig auch in den jüdischen Reformbewegungen aktiv, verändern sie die Gestalt und das Selbstverständnis des Judentums tiefgreifend.448 Eine Aufnahme in die Fakultäten deutscher Universitäten allerdings wird der Wissenschaft des Judentums trotz mehrfacher Gesuche verwehrt.449 Viele der bedeutendsten Wissenschaftler des Judentums – etwa Leopold Zunz und Moritz Steinschneider – finanzieren ihren Lebensunterhalt dürftig durch Lehrer- und Direktorenposten an jüdischen Schulen oder – wie Abraham Geiger – als Rabbiner; Julius Fürst erhält erst nach fünfundzwanzigjähriger unentgeltlicher Lehrtätigkeit in orientalischen Sprachen an der Universität Leipzig eine karge Titularprofessor.450 Letzterer konstatiert 1842:
sein frisches Grab. In: Die jüdische Presse. Organ für die Gesamtinteressen des Judenthums 21 (1890). S. 327–329, S. 341 f. und S. 349–351, hier: S. 351. 446 Von missionarischer Warte aus beobachtet Delitzsch später mit Sorge die erstarkende Wissenschaft des Judentums und wirbt für ein dezidiert christliches Studium der jüdischen Literatur. Vgl. Heinz-Hermann Völker: Franz Delitzsch als Förderer der Wissenschaft vom Judentum. Zur Vorgeschichte des Institutum Judaicum zu Leipzig und zur Debatte um die Errichtung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an einer deutschen Universität. In: Judaica 49 (1993). S. 90–100. 447 Kerstin von der Krone: Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften. Berlin/Boston, MA 2012. S. 2. 448 Kurt Wilhelm: Zur Einführung in die Wissenschaft des Judentums. In: Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Ein Querschnitt. Hg. von demselben. Bd. 1. Tübingen 1967. S. 1–58; Ismar Schorsch: Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919). In: Wissenschaft vom Judentum. Annäherung nach dem Holocaust. Hg. von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher. Göttingen 2000. S. 11–24; Wissenschaft des Judentums. חכמת ישראל. Anfänge der Judaistik in Europa. Hg. von Julius Carlebach. Darmstadt 1992; Die »Wissenschaft des Judentums«. Eine Bestandsaufnahme. Hg. von Thomas Meyer und Andreas Kilcher. Paderborn 2015. 449 Céline Trautmann-Waller: Selbstorganisation jüdischer Gelehrsamkeit und die Universität seit der ›Wissenschaft des Judentums‹. In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland, 1871–1933. Hg. von Wilfried Barner und Christoph König. Göttigen 2001. S. 77–86. 450 Katharina Vogel: Der Orientalist Julius Fürst (1805–1873). Wissenschaftler, Publizist und engagierter Bürger. In: Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Hg. von Stephan Wendehorst. Leipzig 2006. S. 41–60.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
Man hat Lehrstühle für indische, persische, arabische, ja sogar tatarische Sprache und Litteratur gegründet, […] nur für die allseitige Wissenschaft des Judenthums, für die Kenntniß des jüdischen Alterthums und der jüdischen Geschichte, hat verjährtes Vorurtheil gegen die Juden Lehrstühle zu gründen verhindert.451
Anstelle der Eingliederung in eine Universität werden schließlich ab Mitte des Jahrhunderts institutionell unabhängige Lehr- und Forschungseinrichtungen gegründet; darunter 1854 das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau und 1872 die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Neben politischen und ideologischen Motiven im engeren Sinn ist die institutionelle Ausgrenzung der Wissenschaft des Judentums wissenschaftspolitisch eng an die skizzierte Marginalisierung der jüdischen Überlieferung in Orientalistik und Theologie und ihre Negativkanonisierung in der klassischen Altertumswissenschaft gebunden.452 Und so spiegelt die schwierige institutionelle Stellung die unklare Bedeutung wider, die dem Judentum für das deutsche und europäische Selbstverständnis eingeräumt wird. Die jüdischen Philologen und Historiker, die im 19. Jahrhundert um die Anerkennung der jüdischen (Literatur-)Geschichte als Teil des europäischen Wissenskanons ringen, müssen die jüdische Tradition sowohl gegen das griechisch- römische als auch gegen das indisch-persische Altertum in Stellung bringen. So konstatiert Immanuel Wolf 1823 in einem Aufsatz für die Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, dass gegenwärtig »das Auge des Forschers besonders auf den Orient gerichtet« sei, »diese Wiege der menschlichen Cultur, diese Quelle so vieles Großen und Erhabenen.« Diese Konjunktur orientalistischer Forschung nun veranlasst ihn zu der Frage, ob es nicht auch an der Zeit sei, das Judenthum, diese saftreiche und am weitesten verpflanzte Frucht des Morgenlandes, aus einem rein wissenschaftlichen Gesichtspunkt einer gründlichern Betrachtung zu unterwerfen? Oder sollte man über den Reiz des Unbekanntern und Entferntern bei den Hindus und Persern, die Fundgruben des näher liegenden und zugänglichern Judenthums unbearbeitet liegen lassen?453
Dem Interesse an den sogenannten Indogermanen, den »Hindus und Persern«, stellt Wolf hier das Judentum als ein zu Unrecht marginalisiertes Produkt des Orients gegenüber. »Zur Erlangung einer gründlichern Kunde in der Geschichte der Entwickelung des menschlichen Geistes von den frühesten Zeiten an« sei es, so die Forderung, unabdingbar, das Judentum als geschichtliche Größe zu berücksichtigen. Als jüdischer Gelehrter setzt Wolf dabei auf Kontinuitätslinien:
451 Julius Fürst: Über die Juden und die Hochschulen. In: Jahrbuch der deutschen Universitäten 2 (1842/43). S. 130–138. 452 Marchand: German Orientalism, 2009. S. 113–118. 453 Immanuel Wolf [später Wohlwill]: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1:1 (1823). S. 1–24, hier: S. 22.
2.3 Altertumswissen
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Das Judentum sei nicht bloß von historischem Interesse, sondern dauere fort in den Juden als »lebendigen Zeugen des Alterthums« in Europa.454 Ausgehend vom hier anklingenden Prinzip der Kontinuität versucht Leopold Zunz sich 1845 an einer Definition jüdischer Literatur. Die »historische Besonderheit« der Juden, ihre Diaspora-Existenz, fordert ihn dazu heraus, einen transkulturellen Begriff jüdischer Literatur zu entwickeln, der die Eingrenzung auf das Altertum ebenso überschreitet wie die Eingrenzung auf eine Sprache. Die Juden seien, so Zunz, nach Volksthum und Bekenntniss ein Ganzes, dessen Richtungen von einheitlichen, mit ihren Wurzeln in das tiefste Alterthum hineinragenden, Gesetzen gelenkt werden, und dessen geistige Erzeugnisse, bereits über zwei Jahrtausende, eine Lebensfaser unzerreissbar durchzieht. Diess die Berechtigung zur Existenz, die Begründung der Eigenthümlichkeit einer jüdischen Literatur. Aber sie ist auch aufs innigste mit der Cultur der Alten, dem Ursprung und Fortgang des Christentums, der wissenschaftlichen Thätigkeit des Mittelalters verflochten, und indem sie in die geistigen Richtungen von Vor- und Mitwelt eingreift, Kämpfe und Leiden theilend, wird sie zugleich eine Ergänzung der allgemeinen Literatur, aber mit eigenem Organismus, der nach allgemeinen Gesetzen erkannt das Allgemeine wiederum erkennen hilft. Ist die Totalität der geistigen Betriebsamkeit ein Meer, so ist einer von den Strömen, welche jenem das Wasser zuführen eben die jüdische Literatur; auch in ihr wird das Edelste sichtbar werden, das die Seelen erfüllt hat und wonach sie gerungen: auch sie zeigt die mannigfachen Thaten des erkennenden Geistes.455
Um die jüdische Literatur als besondere in die allgemeine Literaturgeschichte zu integrieren, verwendet Zunz hier mit Pflanze und Strom ebendie beiden Metaphernbereiche, die als Kollektivsymbole das Sprechen über die Juden und ihre Überlieferung im 19. Jahrhundert organisieren (Kap. 3.3). Ihre Kombination dient ihm dazu, die Vorstellung von der Partikularität der jüdischen Literatur mit ihrer universalen Bedeutung zu verbinden. Die »Eigenthümlichkeit« der jüdischen Literatur begründet er mittels vegetabiler Metaphorik darin, dass ihre Träger, die Juden, »nach Volksthum und Bekenntnis ein Ganzes« bilden. Emphatisch beschreibt Zunz sie als einen »Organismus«, dessen »Wurzeln« tief ins Altertum hineinragen und dessen Geistesprodukte »eine Lebensfaser unzerreissbar durchzieht.« Um zu veranschaulichen, inwiefern die jüdische Literatur zugleich »aufs innigste« mit dem allgemeinen Gang der (Literatur‑)Geschichte verflochten ist, bezeichnet Zunz sie als einen der Ströme, die ins »Meer« fließen und dabei in der »Totalität der geistigen Betriebsamkeit« aufgehen. So überbrückt er die Spannung zwischen universaler Anthropologie und nationalkultureller Differenz mit einem Katachresenmäander aus Pflanzen- und Wassermetaphern. Während Michaelis ein hebräisches Altertum zu isolieren versucht und Delitzsch der Transkulturalität und Translingualität jüdischer Literatur mit Misstrauen begegnet, entwickeln Zunz und andere Wissenschaftler des Judentums 454
Wolf: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, 1823. S. 22. Zunz: Zur Geschichte und Literatur, 1845. S. 2.
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
einen Begriff jüdischer Literatur, der ihre welthistorische Bedeutung gerade in ihrer flexiblen Kontinuität begründet. Während die diasporische Kontinuität der jüdischen Literatur den Weltliteraturgeschichtsschreibern des 19. Jahrhunderts allerlei Hierarchisierungs- und Periodisierungsschwierigkeiten bereitet, erforschen Zunz und andere, in direkter oder indirekter Auseinandersetzung mit Herder und anderen christlichen Gelehrten,456 wie sie mit dem allgemeinen Gang der Literaturgeschichte ›verflochten‹ ist und mittels Aufnahme formaler und inhaltlicher Elemente, Übersetzungen, Nachbildungen und Weiterentwicklungen an ihr teilhat und sie spiegelt. Während die jüdische Literatur in der Theologie, der Altertumswissenschaft und Orientalistik nicht als Forschungsgegenstand eigenen Rechts anerkannt wird, erschließen die Wissenschaftler des Judentums außerhalb dieser Disziplinen die jüdische Literatur als Teil der Weltliteratur.457 In den 1850er Jahren wird diese Konzeptualisierung auch in populären Anthologien vermittelt.458 Die Wissenschaft des Judentums macht die orientalisch-okzidentalische Verflechtungsgeschichte der jüdischen Literatur zum Forschungsgegenstand in einer Nische, die institutionell und personell abseits der drei Diszi plinen Altertumswissenschaft, Theologie und Orientalistik und auch abseits der deutschen Nationalliteraturgeschichtsschreibung liegt. 2.3.5 Zusammenfassung Die Frage, inwiefern eine jüdische Kontinuität von der Antike bis in die Gegenwart anzunehmen ist, erweist sich im wissensgeschichtlichen Kontext der Jahrzehnte um 1800 als heikler Dreh- und Angelpunkt der Beschäftigung mit der biblischen und nachbiblischen Überlieferung. Für den großangelegten Versuch des Göttinger Orientalisten Michaelis, analog zur griechischen Antike ein hebräisches Altertum als Forschungsgegenstand zu konstituieren, stellt die Kontinuität zwischen Hebräern und Juden ein erhebliches Hindernis dar. Er versucht dieses Problem dadurch zu bewältigen, dass er sich demonstrativ von den rabbinischen Wissensbeständen des Diasporajudentums abwendet und stattdessen bei ruralen Arabern, die seiner Ansicht nach uralte Gewohnheiten bewahrt hätten, Giuseppe Veltri: Implizite Rezeption. Johann Gottfried Herder und Leopold Zunz. In: He bräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hg. von Christoph Schulte. Hildesheim 2003. S. 153–166. 457 Nils Roemer: Towards a Comparative Jewish Literary History. National Literary Canons in Nineteenth-Century Germany and England. In: Jewish Culture and History 6:1 (2003). S. 27–45; Andreas B. Kilcher: »Jüdische Literatur« und »Weltliteratur«. Zum Literaturbegriff der Wissenschaft des Judentums. In: Aschkenas 18/19:2 (2008/09). S. 465–483; Peter Goßens: ›Jüdische Literatur‹ in Weltliteraturgeschichten. In: Aschkenas 18/19:2 (2008/09). S. 485–493. 458 Kathrin Wittler: West-östliche Ordnungen von Weltliteratur. Anthologisierung jüdischer Literatur im 19. Jahrhundert. In: Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Chiara Adorisio und Lorella Bosco. Tübingen 2019. S. 105–119. 456
2.3 Altertumswissen
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Aufschlüsse über die biblischen Hebräer zu finden hofft. Wie im frühen 19. Jahrhundert die Ver- und Entschleierungsdramaturgie in Hartmanns Hebräerin am Putztische sinnfällig werden lässt, erweist es sich jedoch als anhaltend schwierig, das biblische Israel von der übrigen jüdischen Geschichte zu isolieren und analog zu Griechen und/oder Römern als Antike zu konturieren. Hinzu kommt, dass die Hebräer im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in der Altertumswissenschaft, die sich nun als ausschließlich ›klassisch‹ begreift, als Orientalen negativkanonisiert werden. Da man sie auch in der christlichen Theologie und der Orientalistik marginalisiert, geraten die Hebräer und die sogenannte hebräische Poesie im 19. Jahrhundert an die Ränder des Wissenschaftsbetriebs. Der Bedeutungsverlust der hebräischen Poesie als morgenländisch-ursprüngliches Paradigma lyrischen Sprechens ist an das Scheitern des Versuchs gebunden, eine hebräische Antike im europäischen Wissenskanon zu etablieren. Insofern sie immer auf die verschiedenen nachbiblischen Überlieferungs- und Fortschreibungstraditionen jüdischer Kulturen in der Diaspora verwiesen bleibt, lässt sich die hebräische Poesie nicht eindeutig in den verfügbaren Ordnungskriterien von Antike und Moderne, Orient und Okzident unterbringen. So machen die vielfältigen west-östlichen Verflechtungen der jüdischen Überlieferung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Verfassern allgemeiner Literaturgeschichten sichtlich zu schaffen. In allgemeinen Überblicksdarstellungen landet die jüdische Literatur in unbequemen orientalisch-okzidentalischen Zwischenpositionen. Die Begründer der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert versuchen, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Anders als die christlichen Theologen und Orientalisten, die eine klare Grenze zwischen dem antiken Israel und dem Diasporajudentum zu ziehen versuchen, interessieren sie sich gerade für die Kontinuitätslinien jüdischer Literatur, die über die Grenzen des Altertums und über die Grenzen des Orients hinausweisen. Zunz und andere Wissenschaftler des Judentums entwickeln einen transnationalen Begriff jüdischer Literatur, der ihre historische Bedeutung gerade in ihrer flexiblen Kontinuität als west-östlich vermittelnder Teil der Weltliteratur begründet. Die Aufnahme in deutsche Universitäten bleibt der damit verbundenen Vision einer Disziplin, die Zunz ›jüdische Studien‹ nennt, im 19. Jahrhundert indes versagt.
2.4 Fazit Im Zuge der Pluralisierung und Historisierung des Altertums steigt die sogenannte hebräische Poesie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für kurze Zeit zum Inbegriff ursprünglichen lyrischen Gefühlsausdrucks auf; an der Wende zum 19. Jahrhundert büßt sie diesen Status wieder ein. Als ausschlaggebend sowohl für ihren Bedeutungsgewinn als auch für ihren Bedeutungsverlust hat sich
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2. Vom orientalischen Geist der hebräischen Poesie
erwiesen, dass sie als orientalische Dichtung in Konkurrenz zu griechischen, römischen und nordischen Referenzmodellen konzeptualisiert wird und dass sie als Dichtung der biblischen Hebräer in einem facettenreichen Verhältnis zu jüdischen Traditionen und Positionen steht. Die hebräische Poesie gilt seit dem 18. Jahrhundert als – so Mendelssohns Formulierung – »orientalisches Dichtungssystem« (JubA 5.2, 86). Daraus ergibt sich ihre Virulenz: Sie kann für die gattungspoetischen und ästhetischen Neuerungen der Zeit in Anspruch genommen werden, weil man ihr orientalische Ursprachlichkeit und eine sogenannte orientalische Schreibart mit einer die Grenzen des guten Geschmacks sprengenden Sprachbildlichkeit zuschreibt, die sie als eigentümliche Dichtung eines historisch und kulturell fremden Volkes von anderen Poesien des Altertums – der griechischen, der römischen und der nordischen – zu unterscheiden erlaubt. Macht ihre Zuordnung zum Orient die hebräische Poesie einerseits besonders interessant für die literaturkritischen Selbstverständigungsdiskurse um 1800, erschwert sie andererseits zunehmend ihren Stand, da mit dieser Zuordnung ästhetische Vorbehalte und wissenschaftspolitische Konkurrenzen verbunden sind. Die hebräische Poesie dient im Literaturdiskurs der Jahrzehnte um 1800 als ein orientalisches Alternativmodell zu anderen frühen Altertumskulturen, zugleich ist sie in eine bis in die damalige Gegenwart reichende Kontinuität jüdischer Überlieferung eingebunden. Im Diskurshorizont des Orientalismus ergeben sich daraus diskursive Interferenzen und Konflikte zwischen den Vorstellungen, die man sich von den biblischen Hebräern macht, und der Haltung, mit der man den Juden der Gegenwart entgegentritt. Dies sind die Bedingungen, unter denen jüdische Autoren für sich eine Position im Diskurs suchen und sich auf die hebräische Poesie beziehen. Die Kontinuität jüdischer Überlieferung und Geschichte bedingt die Chancen und die Schwierigkeiten, die im Umgang mit der hebräischen Poesie hervortreten: Sie erschwert christliche literarische Aneignungen der hebräischen Poesie und stellt ein Problem für wissenschaftliche Versuche dar, eine hebräische Antike zu konstruieren, aber sie bietet zugleich – wenn auch durch die Regeln des Diskurses begrenzte – Möglichkeiten, die hebräische Poesie als jüdische in den Literaturdebatten der Zeit zu platzieren und jüdische Autorschaft in ihr zu begründen. Die Auseinandersetzung mit der hebräischen Poesie, so lässt sich zusammenfassen, ist immer auch zumindest implizit eine Auseinandersetzung mit dem Status der jüdischen Überlieferung insgesamt. Ihr Status schillert nicht nur in religiöser Perspektive zwischen verschiedenen konfessionellen Gebrauchsformen, sondern – in kultureller Perspektive – auch zwischen orientalischer Urpoesie und west-östlich vermittelter poetischer Überlieferung. Aus dieser Mehrfachkodierung jüdischer Traditionen ergeben sich verschiedene diskursive Dynamiken von Verteidigungsgesten über Ausgrenzungsversuche bis hin zu Projektionen und Instrumentalisierungen, die für die Aushandlung moderner Literaturmo-
2.4 Fazit
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delle von zentraler Bedeutung sind. Wie zumindest in wenigen Schlaglichtern von Mendelssohn über Ephraim, Behr, Kuh und Ascher bis zu Zunz aufgezeigt werden konnte, prägen jüdische Akteure den Diskurs über verschiedene Referenzmodelle des Altertums und über Konzepte und Möglichkeiten moderner Literatur maßgeblich mit. Die Funktionalisierung hebräischer Poesie im Literaturdiskurs um 1800 und die Bedeutung des Orientalismus für diese Funktionalisierung lässt sich mithin nur als deutsche jüdische Literaturgeschichte erschließen.
3. Zeichensysteme des Orientalismus Transferfiguren im Horizont jüdischer Vielsprachigkeit Als die deutsche Aufklärung in den 1770er und 1780er Jahren in ihre Spätphase überging, konstituierte sich die jüdische Aufklärung, die sogenannte Haskala,1 als eine Bewegung junger Männer, die sich zunächst in Königsberg und dann in Berlin zentrierte.2 Die jüdischen Aufklärer, die sogenannten Maskilim, repräsentierten und verteidigten das Judentum und die Juden einerseits nach außen und vermittelten andererseits das Gedankengut der europäischen Aufklärung an ein jüdisches Publikum; sie forderten die rabbinischen Autoritäten heraus und schrieben sich in die europäische Aufklärung ein.3 Dieses Unterfangen war von politischer Trageweite. Denn zur selben Zeit nahmen die Debatten über die rechtliche Gleichstellung der Juden ihren Anfang, die mit Forderungen nach einer Öffnung der jüdischen Gemeinschaft und mit massivem Anpassungsdruck einhergingen. Aus dieser Konstellation ergab sich ein tiefgreifender Wandel jüdi1 Das Wort haskala ( )השכלהist eine Ableitung von dem hebräischen Substantiv sechel ()שכל, das Vernunft oder Verstand bedeutet. Es wurde im 19. Jahrhundert nachträglich als Bezeichnung für die (jüdische) Aufklärung eingeführt. Die von derselben hebräischen Wurzel abgeleitete Personenbezeichnung maskil ()משכיל, im Plural maskilim ()משכילים, diente bereits in den 1780er Jahren als programmatische Selbstbezeichnung. Vgl. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. S. 17 f.; Shmuel Feiner: Towards a Historical Definition of the Haskalah. In: New Perspectives on the Haskalah. Hg. von Shmuel Feiner und David Sorkin. London/ Portland, OR 2001. S. 184–219. 2 Shmuel Feiner: Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Aus dem Hebräischen [2001] übersetzt von Anne Birkenhauer. Hildesheim u. a. 2007. Vgl. auch die von Christoph Schulte zum Schwerpunkt Haskala. Die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769–1812 zusammengestellten Beiträge in Das achtzehnte Jahrhundert 23:2 (1999). S. 143–246; David Sorkin: The Berlin Haskalah and German Religious Thought. Orphans of Knowledge. London/Portland, OR 2000; New Perspectives on the Haskalah. Hg. von Shmuel Feiner und David Sorkin. London/Portland, OR 2001; Christoph Schulte: Die Haskala in der neueren Forschung. In: Das achtzehnte Jahrhundert 27:1 (2003). S. 143–147; Shmuel Feiner: »Wohl euch, die ihr eurer Gedanken wegen verfolgt seid!« Die gegenwärtige Erforschung der Haskala. Kultur der jüdischen Aufklärung in historischer Perspektive. Aus dem Hebräischen übersetzt von Rainer Wenzel. In: Trumah 16 (2006). S. 1–15 sowie die von David B. Ruderman und Shmuel Feiner herausgegebenen Aufsätze zum Schwerpunktthema Early Modern Culture and Haskalah – Reconsidering the Borderlines of Modern Jewish History im Jb. des Simon-Dubnow-Instituts 6 (2007). S. 13–266; zuletzt Yael Sela-Teichler: Music, Acculturation, and Haskalah between Berlin and Königsberg in the 1780s. In: JQR 103:3 (2013). S. 352–384. 3 Shmuel Feiner und Natalie Naimark-Goldberg: Cultural Revolution in Berlin. Jews in the Age of Enlightenment. Oxford 2011; Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin 1992.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
schen Lebens.4 Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage, welche Bedeutung der konkurrierende Gebrauch verschiedener Sprachen, Schriften und Medien für die Gestaltung dieser kultur- und literaturgeschichtlichen Umbruchsituation hatte. Die Jahrzehnte um 1800 waren von Vielsprachigkeit geprägt.5 Alltags- und Umgangssprache unter Juden im deutschsprachigen Raum war im 18. Jahrhundert Westjiddisch bzw. Jüdischdeutsch.6 Im mündlichen Umgang und in pri vaten Korrespondenzen blieb es lange neben den jeweiligen regionalen Mund arten und Dialekten in Gebrauch, die im geschäftlichen und sonstigen Umgang mit Christen verwendet wurden. Das Hebräische wurde als ›heilige Sprache‹ ( )לשון הקודשim liturgisch-religiösen Bereich genutzt und war Gegenstand und Medium rabbinischer Gelehrsamkeit. Entsprechend waren die Kenntnisse im biblischen und nachbiblischen Hebräischen sowie Aramäischen je nach Geschlecht, Sozialisierung und Bildungsstand unterschiedlich ausgeprägt; Mädchen etwa erlangten in der Regel allenfalls Grundkenntnisse in der ›heiligen Sprache‹.7 Der Erwerb anderer Sprachen war zunächst alles andere als selbstverständlich. Erst in verhältnismäßig spätem Alter und unter oft widrigen Umständen erarbeiteten sich im 18. Jahrhundert junge Männer wie Moses Mendelssohn oder Salomon Maimon, die mit Jiddisch und Hebräisch sozialisiert worden waren, Kenntnisse der deutschen Schriftsprache sowie Lesefähigkeiten im Englischen, Französischen, Lateinischen und oft auch Griechischen. Neben diesem Drang, die Sprachen zu erlernen, die Zugang zur europäischen Aufklärung eröffneten, wollten die Maskilim den Platz der ›heiligen Sprache‹ in der preußischen Gegenwart neu bestimmen.8 Dieses Unterfangen korrespondierte in mancher Hinsicht der hart umkämpften Herausbildung einer deutschen 4 Vgl. die Fallstudie von Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770–1830. Oxford 1994; zusammenfassend Steven M. Lowenstein: Soziale Aspekte der Krise des Berliner Judentums 1780 bis 1830. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin 1992. S. 81–105. 5 Aya Elyada: A Goy Who Speaks Yiddish. Christians and the Jewish Language in Early Modern Germany. Stanford, CA 2012, bes. S. 125–190; Nils Roemer: Sprachverhältnisse und Identität der Juden in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Hg. von Michael Brenner. Göttingen 2002. S. 11– 18; Peter Freimark: Sprachverhalten und Assimilation. Die Situation der Juden in Norddeutschland in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Saeculum 31 (1980). S. 240–261; Steven Lowenstein: The Complicated Language Situation of German Jewry, 1760–1914. In: Studia Rosenthaliana 36 (2002/03). S. 3–31. 6 Vgl. zur Terminologie Werner Weinberg: Die Bezeichnung Jüdischdeutsch. Eine Neubewertung. In: ZfdPh 100 (1981). Sonderheft: Jiddisch. Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft. S. 253–290. 7 Benjamin Maria Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870. Bloomington, IN 2006. S. 99–133. 8 Andrea Schatz: Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert. Göttingen 2009.
3. Zeichensysteme des Orientalismus
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Hochsprache.9 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlangte die deutsche Schriftsprache im plurizentrischen, konfessionell heterogenen deutschen Sprachgebiet allmählich den Status einer Standardsprache; noch in den 1780er Jahren lieferte sich der Grammatiker Johann Christoph Adelung mit Christoph Martin Wieland ein publizistisches Scharmützel um die Frage »Was ist Hochdeutsch?«10 Die Fragen der Maskilim standen in einem engen Zusammenhang mit diesen Diskussionen und Normierungsforderungen.11 Was war – gutes, reines, modernes – Hebräisch? Wie ließ es sich gebrauchsfähig machen und gegen die jiddischen Mundarten durchsetzen? In welchem Verhältnis stand das Hebräische zum Hochdeutschen? Welche Sprache sollte und konnte in welchen Situationen verwendet werden? Unter diesen vielsprachigen Bedingungen ergab sich in der Umbruchphase jüdischen Lebens um 1800 ein differenziertes Spektrum verschiedener Öffentlichkeiten. Mit der situationsabhängigen Wahl einer Sprache wurden unterschiedliche Adressierungsreichweiten definiert. Hebräische Texte dienten vornehmlich dem innerjüdischen Austausch, deutsche Texte wurden vom christlichen und vom jüdischen aufklärerischen Publikum gelesen und dienten entsprechend sowohl der Außendarstellung als auch der Selbstverständigung. Ausschlaggebend für die Definition verschiedener Adressatenkreise war indes nicht nur die Sprachwahl, sondern auch das Schriftbild. Um 1800 wurde eine große Zahl nicht nur jiddischer, sondern auch hochdeutscher Texte in hebräischen Lettern gedruckt; die Grenzen zwischen Jiddisch und Deutsch waren hier fließend.12 Zusätzlich kompliziert wurde die Lage dadurch, dass in der deutschsprachigen Buchkultur dieser Zeit der sogenannte Antiqua-Fraktur-Streit ausgetragen wur9 Werner Besch: Die Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache. In: HSK 2.3 (2003). S. 2252–2296, bes. S. 2252 f.; Katja Faulstich: Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert. Berlin/New York, NY 2008; Joachim Gessinger: Sprache und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1980; Elke Haas: Rhetorik und Hochsprache. Über die Wirksamkeit der Rhetorik bei der Entstehung der deutschen Hochsprache im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1980; Erich Straßner: Deutsche Sprachkultur. Von der Barbarensprache zur Weltsprache. Tübingen 1995. 10 Vgl. Adelungs Beiträge in seinem Magazin für die deutsche Sprache 1:1 (1782/83). S. 1–31 und S. 84–100; Magazin für die deutsche Sprache 1:4 (1782/83). S. 79–111 und S. 112–126; Christoph Martin Wieland: Über die Frage Was ist Hochdeutsch? und einige damit verwandte Gegenstände [1782]. In: ders.: Sämmtliche Werke. Supplemente. Bd. 6. Leipzig 1798. S. 247–304. 11 So diente den Berliner Maskilim der Grammatiker Adelung, der in der zweiten Jahrhunderthälfte am wirkmächtigsten die Normierung einer deutschen Hochsprache propagierte, als Referenz für ihre eigenen Bemühungen um das Hebräische. Vgl. z. B. Joel Löwe und Aaron Wolfssohn: Vorrede. In: dies. (Übers.): Jeremias Klagegesänge. Uebersetzt und mit Anmerkungen. Berlin 1790. S. iii–xxiv, hier: S. xii. 12 Thomas Kollatz: Schrift zwischen Sprachen. Deutsch in hebräischen Lettern (1765–1820). In: Aschkenas 18/19:2 (2008/09). S. 351–366; Steven M. Lowenstein: Deutsch in hebräischen Lettern. Ein Kommentar. In: Aschkenas 18/19:2 (2008/09). S. 367–375; Paul Wexler: Ashkenazic German (1760–1895). In: International Journal of the Sociology of Language 8:30 (1981). S. 119–130.
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de.13 Der Gebrauch des Hebräischen bewegte sich mithin in einem breiten Spektrum von rabbinischen Gepflogenheiten bis zu maskilischen Erneuerungsversuchen und stand in einem komplexen Verhältnis zu deutschen und jiddischen Texten in hebräischen Lettern, verschiedenen jiddischen und regionalen Mundarten sowie hochdeutschen Publikationen in lateinischer Schrift, die wiederum je nach typographischer Umsetzung mit einer Fraktur- oder einer AntiquaDrucktype sehr unterschiedlich konnotiert sein konnte. Diese Sprach- und Schriftvielfalt wiederum war Teil größerer mediengeschichtlicher Umstellungen. Als man im Jahrhundert der Geselligkeit neue Formen des Austauschs, des Gesprächs und des Publizierens zu schaffen versuchte,14 veränderten sich die ästhetischen Maßstäbe, die Praktiken des Lesens, die Struktur des Buchmarkts und die Reichweite des Zeitschriftenwesens.15 Das hatte auch Konsequenzen für jüdische Publikationsstrategien. Aus den jüdischen Lehrhäusern trat, so Shmuel Feiner, ein neuer Typus des modernen jüdischen Literaten heraus, der sich mit vielsprachigen Zeitungen, Gesprächszirkeln und Briefkontakten ein alternatives Forum schaffte und den Wissens- und Schriftkanon der religiösen Elite ausweitete.16 So führten die Maskilim mit ihrem Gebrauch von Fußnoten, um nur ein Beispiel zu nennen, ein typographisches Gestaltungsmittel in ihre hebräischen Texte ein, das der rabbinischen Wissens- und Buchkultur bis dahin fremd gewesen war.17 Diese komplexe Situation lässt sich druckbildlich am wichtigsten Organ der jüdischen Aufklärung ablesen, der Zeitschrift Der Sammler ()המאסף, die von Isaac Euchel begründet wurde.18 Im Herbst 1783 verließ in Königsberg das erste Heft 13 Wolfgang von Ungern-Sternberg: Schriftstelleremanzipation und Buchkultur im 18. Jahrhundert. In: Jb. für Internationale Germanistik 8:1 (1976). S. 72–98; Wulf D. von Lucius: Anmut und Würde. Zur Typographie des Klassizismus in Deutschland. In: Von Göschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens. Hg. von Monika Estermann und Michael Knoche. Wiesbaden 1990. S. 33–63; Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000. S. 216– 245. 14 Barbara Stollberg-Rilinger: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2011. S. 114– 146. 15 Reinhart Siegert: Theologie und Religion als Hintergrund für die »Leserevolution« des 18. Jahrhunderts. In: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. von Hans-Edwin Friedrich u. a. Berlin/New York, NY 2011. S. 14–31; Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland, 1500–1800. Stuttgart 1994; Rolf Engelsing: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen 1973; Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991. S. 171–199. 16 Feiner: Haskala, 2007, bes. S. 14 und S. 94. 17 Christoph Schulte: Die Erfindung der hebräischen Fußnote in Preußen. Über die kulturelle und politische Bedeutung von typografischen Veränderungen. In: Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer. Berlin 2009. S. 253– 290. 18 Euchels Bedeutung als Maskil, Publizist und Netzwerker ist erst in den letzten Jahren ins
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die Druckpressen. Der Me’assef (so die im Folgenden verwendete Transkription des Titels) war, mit Feiner gesprochen, »eine jüdisch-preußische Zeitschrift im Geiste des aufgeklärten Absolutismus«.19 Ihre vielsprachige und vielschriftige Gestalt verlieh dem Me’assef ein besonderes Profil. Die Zeitschrift wollte eine innerjüdische Öffentlichkeit etablieren, die auf die allgemeinen deutschsprachigen Aufklärungsdebatten hin durchlässig war, indem sie Impulse von nichtjüdischen Aufklärern in ihre hebräische Textwelt aufnahm und die deutsche Öffentlichkeit wiederum – vorsichtig und wohldosiert – in deutschsprachigen Zugaben über die innerjüdischen Debatten informierte.20 So stellte sie sich als Neben- und Ineinander hebräischer, deutscher und jüdischdeutscher Beiträge dar: Es gab deutsche Zugaben in lateinischer Schrift, und einige Beiträge und längere Zitate innerhalb von hebräischen Texten wurden auf Deutsch in hebräischen Lettern wiederge geben.21 Nicht nur der Me’assef, auch das Werk vieler jüdischer Autoren dieser Zeit setzte sich aus mehreren Sprachen und Schriften zusammen. Naphtali Herz Wessely publizierte fast ausschließlich auf Hebräisch, zeigte sich aber höchst interessiert an der Vermittlung seines Mose-Epos an ein deutschsprachiges Publikum. Isaac Euchel bediente sich vornehmlich des Hebräischen, veröffentlichte aber auch deutsche Texte in hebräischen Lettern sowie eine deutsche Übersetzung des jüdischen Gebetsbuchs, die in Fraktur gedruckt wurde, und machte die Spannungen zwischen Hochdeutsch und Jiddisch zum Thema einer Komödie.22 David Friedländer publizierte vornehmlich auf Deutsch, war aber auch als deutsch-hebräischer Übersetzer aktiv; seine deutsche Übersetzung des jüdischen Gebetbuchs erschien in hebräischen Lettern.23 Für die Zeit um 1800 ist, kurz gesagt, von einem komplexen Neben-, Mit- und Gegeneinander verschiedener Sprachwie Schriftformen sowie Sprach- und Schriftkompetenzen auszugehen, durch die wiederum unterschiedliche Adressatenkreise definiert wurden.
Blickfeld der Aufklärungsforschung gerückt. Vgl. Andreas Kennecke: Isaac Abraham Euchel. Architekt der Haskala. Göttingen 2007; Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung. Hg. von Marion Aptroot u. a. Hannover 2010; Feiner: Haskala, 2007. S. 281–308; ferner schon Moshe Pelli: The Age of Haskalah. Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Germany. Leiden 1979. S. 190–230. 19 Feiner: Haskala, 2007. S. 303. 20 Andreas Kennecke: HaMe’assef. Die erste moderne Zeitschrift der Juden in Deutschland. In: Das achtzehnte Jahrhundert 23:2 (1999). S. 176–199; Moshe Pelli: - כתב, מפתח מוער להמאסף.שער להשכלה )תקע“א-העת העברי הראשון (תקמ“ד. Jerusalem 2000, bes. S. 20–32. 21 Shmuel Werses: העת המשכילי ›המאסף‹ וסביביו-לשוניים בכתב-המתחים הבין. In: Dapim le-Mehkar be-Sifrut 11 (1997/98). S. 29–69. 22 Isaac Abraham Euchel: Reb Henoch, oder: Woß tut me damit [1793]. Eine jüdische Komödie der Aufklärungszeit. Hg. von Marion Aptroot und Roland Gruschka. Hamburg 2004. 23 Uta Lohmann: David Friedländer, Isaak Abraham Euchel und die Gebeteübersetzungen in ihrem bildungshistorischen Kontext. In: Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung. Hg. von Marion Aptroot u. a. Hannover 2010. S. 105–133.
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Die folgenden Einzelstudien sind einem bislang in der Forschung vernachlässigten Aspekt dieser vielsprachigen Umbruchsituation gewidmet. Wie zu zeigen sein wird, waren orientalistische Erzähl- und Argumentationsmuster für die mediale Konstituierung von Zeiterfahrung um 1800 ebenso zentral wie instrumental. Um das herauszuarbeiten, nehme ich im Folgenden verschiedene mediale Transferzonen in den Blick und frage: In welchen Sprachen und in welchen Schriften traten orientalistische Bezugnahmen auf, inwiefern waren sie durch Sprach- und Schriftwahl konditioniert? Wie hingen sprach- und schriftpolitische Entscheidungen mit der konkreten und imaginierten Bildwelt der Zeit zusammen? Am konkurrierenden Wechselspiel von Sprachen und Schriften, Texten und Bildern, Wahrnehmungen und Projektionen wird sich zeigen, inwiefern die Erfahrung der Umbruchsituation um 1800 – als medial vermittelte – orientalistisch strukturiert war.
3.1 Emanzipation als Europäisierung? Mediale Raumordnungen jüdischer Lebenswelten Mit den sozial- und begriffsgeschichtlichen Transformationen des 18. Jahrhunderts wandelt sich die diskursive Position der Juden. Die Frage, ob sie Bürger in einem modernen Staat werden können, wird zum Prüfstein der Aufklärung erhoben. Moses Mendelssohn beobachtet 1782 eine damit einhergehende Verschiebung von religiösen zu moralischen Anschuldigungen: Habe man den Juden früher verbrecherische Handlungen wie Brunnenvergiftungen und Ritualmorde vorgeworfen und sich alle erdenkliche Mühe gegeben, sie zum Christentum zu bekehren, habe der »Bekehrungseifer« jetzt nachgelassen. Statt Taten werfe man ihnen nun Eigenschaften vor; man schreibe ihnen bestimmte Charakterzüge zu und mache den »Mangel an Cultur« zur Begründung ihrer Unterdrückung (JubA 8, 6).24 Über ihre eschatologische Instrumentalisierung für die christliche Heilslehre hinaus wird die Stellung der Juden nun im Referenzsystem aufklärerischen Fortschritts- und Perfektibilitätsdenkens diskutiert.25 An ihrem Exempel wird die grundlegende aufklärerische Forderung nach Vervollkommnung statuiert.26 So beruft sich David Friedländer 1791 in der Berlinischen Monatsschrift auf den 24 Ähnlich diagnostiziert gut zehn Jahre später Saul Ascher: Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena. Berlin 1794. S. 77: »Wenn die jüdische Nation bisher politische und religiöse Gegner gehabt, so sind es jetzt moralische Gegner, die sich gegen sie stellen.« 25 Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980). S. 221–257, bes. S. 221–230. 26 Ronald Schechter: The Jewish Question in Eighteenth-Century France. In: Eighteenth-Century Studies 32:1 (1998). S. 84–91.
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»Glauben an die Menschheit, worunter doch wohl auch der Glauben an die Perfektibilität der Juden gehört«.27 Der Herausgeber Biester sekundiert, die Frage könne nicht sein, was die Juden waren oder seien, sondern: »Was können die Juden werden? Und […]: Was sollen sie werden?«28 Juden gelten in diesem Diskurshorizont als besonders verbesserungsbedürftig; ob sie verbesserungsfähig und verbesserungswürdig seien, wird kontrovers diskutiert. In die Diskursformation der jüdischen Emanzipation gehen die Erwartungen und Hoffnungen des Aufklärungszeitalters ebenso ein wie überkommene und neue Diskriminierungspraktiken und Ressentiments. Da der Begriff Emanzipation sowohl einen punktuellen Rechtsakt als auch einen längeren Prozess bezeichnet und sowohl transitiv (›jemanden emanzipieren‹) als auch reflexiv (›sich emanzipieren‹) verwendet werden kann, changiert er zwischen Revolution und Evolution, zwischen konkreten rechtlichen Forderungen, die von staatlicher Seite eingelöst werden können, und umfassenden Forderungen nach sittlicher Verbesserung und gesellschaftlicher Integration, die von den betroffenen Gruppen (etwa auch Katholiken, Frauen und Arbeitern) selbst geleistet werden sollen.29 Statt die Emanzipation – wie in der Geschichtswissenschaft häufig geschehen30 – als Analysekategorie zu verwenden und die Geschichte der deutschen Juden als eine Geschichte der je nach ideologischem Standpunkt gescheiterten oder erfolgreichen Emanzipation zu erzählen, soll sie im Folgenden als Diskursformation selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Indem ich herausarbeite, welche Rolle orientalistische Argumentationsfiguren in den frühen Emanzipationsdebatten spielen, biete ich eine Neulektüre derselben an. Der Fokus auf den Aspekt des Orientalismus bedingt eine selektive Betrachtung dieser Debatten, deren Vielstimmigkeit, Publizitätsgrad und europäische Reichweite hier allenfalls angedeutet werden können,31 verspricht aber Berlinische Monatsschrift 18:2:4 (1791). S. 351. Ebd., S. 353. 29 Karl Martin Grass und Reinhart Koselleck: Emanzipation. In: GGB 2 (1975). S. 153–197; Jacob Katz: The Term »Jewish Emancipation«. Its Origin and Historical Impact. In: Studies in Nineteenth-Century Jewish Intellectual History. Hg. von Alexander Altman. Cambridge, MA 1964. S. 1–25; Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975, bes. S. 126–132. 30 Vgl. kritisch David Sorkin: Emancipation and Assimilation. Two Concepts and their Application to German-Jewish History. In: LBI YB 35 (1990). S. 17–33, hier: S. 31 f.; Till van Rahden: Verrat, Schicksal oder Chance. Lesarten des Assimilationsbegriffs in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden. In: Historische Anthropologie 13 (2005). S. 245–264. 31 Gerda Heinrich: »…man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten«. Die Debatte um »bürgerliche Verbesserung« der Juden 1781–1786. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hg. von Ursula Goldenbaum. Bd. 2. Berlin 2004. S. 813–895; Horst Möller: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposium. Hg. von Walter Grab. Tel Aviv 1980. S. 119–153; Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity. London/New Haven, CT 2002. S. 25–49; Renate Best: Juden und Judenbilder in der gesellschaftlichen Konstruktion einer 27
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gerade durch die thematische Zuspitzung neue Einsichten. Die Debatten über die bürgerliche Besser- und Gleichstellung der Juden gestalten sich – so wird zu zeigen sein – um 1800 als Debatten über die Frage, wie orientalisch die Juden noch seien und ob sie europäisiert werden sollten und könnten. Die Rede von ihrer orientalischen Herkunft erlaubt es, ethnographische, klima- und staats theoretische, physiognomische, altertumswissenschaftliche, bibelkritische und kulturhistorische Wissensbestände in den Emanzipationsdiskurs einzuspeisen. Derart epistemisch angereichert, dienen orientalistische Zuschreibungen den verschiedenen Debattenteilnehmern dazu, jüdische Alterität in einer Zeit zu problematisieren, in der das Verhältnis von Staat, Nationalität und Religion neu geordnet wird. 1802 verabschiedet sich Johann Gottfried Herder in seinem Aufsatz Bekehrung der Juden programmatisch von der Vorstellung, die Juden bekehren zu können: Die Religion der Juden ist, wie sie selbst sagen, ein Erbstück ihres Geschlechts, ihr unveräußerliches Erbteil. [...] Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserm Weltteil fremdes Asiatisches Volk, an jenes alte, unter einem entfernten Himmelsstrich ihm gegebne und nach eignem Geständniß von ihm unauflösbare Gesetz gebunden. Wiefern nun dies Gesetz und die aus ihm entspringende Denk- oder Lebensweise in unsre Staaten gehöre, ist kein Religionsdisputat mehr, wo über Meinungen und Glauben diskurriert würde, sondern eine einfache Staats-Frage. (FHA 10, 629 f.)
Herder stellt dem christlichen Europa das mosaische Gesetz als bindenden Ursprung der asiatischen »Denk- oder Lebeweise« der Juden gegenüber. Klimatheo rie, Religionsphilosophie, Theologie, Ethnographie und Staatsräson kommen in dieser programmatischen Verschiebung von der Religion zur Politik zusammen, die faktisch einer wechselseitigen Anreicherung politischer und theologischer Argumente gleichkommt. Während die Christen die zeitlich und örtlich gebundenen Sitten und Gesetze des Alten Testaments in einen »geistigern Sinn symbolisch-ausgesprochener Hoffnungen und Wünsche« sublimiert hätten, halten die Juden Herders Einschätzung zufolge an ihrem überlieferten »fremden Nationalgesetz« fest (FHA 10, 629 f.). Anders als die meisten Emanzipationsbefürworter fordert Herder zwar nicht die Aufgabe der ›fremden‹ und ›asiatischen‹ Eigentümlichkeit der Juden, doch bedient er sich einer abschätzigen Rhetorik zeitlicher Aufschiebung, die letztlich auf Konversion und Assimilation hin perspektiviert ist: »Sinnliche Begierden, zumal auf National-Stolz gegründet, lassen sich selten wegdiskutieren; man gönne sie dem, der sich daran freuet. Er warte! […] Niedeutschen Nation (1781–1804). In: Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Dieter Langewiesche. Frankfurt am Main/New York, NY 2001. S. 170– 214, hier: S. 173–189; Silvia Richter: L’émancipation des Juifs en Prusse et en France au XVIIIe siècle. Un discours européen? In: Expériences croisées. Les Juifs en France et en Allemagne aux XIXe et XXe siècles. Hg. von Heidi Knörzer. Paris 2010. S. 13–43; Christoph Schulte: »Die unglückliche Nation« – Jüdische Reaktionen auf Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. In: ZRGG 54:4 (2002). S. 353–365.
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mand greife ihm vor« (FHA 10, 629).32 Mit dieser ambivalenten Haltung führt Herder zentrale Argumente der hitzigen Debatten über die sogenannte bürgerliche Verbesserung der Juden zusammen, die sich zu diesem Zeitpunkt – 1802 – bereits seit über zwanzig Jahren hinziehen. Sie steigern sich bis zur frühantisemitischen Polemik. 1803 macht der Jurist Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer mit seinem Pamphlet Wider die Juden Furore, das in sechs Auflagen mit insgesamt 13.000 Exemplaren gedruckt wird und zahlreiche Gegen- und Folgeschriften, Nachträge, Rezensionen und publizistische Fehden nach sich zieht.33 Grattenauer verrührt Zitate von Johann Andreas Eisenmenger bis Christian Ludwig Paalzow und Anschuldigungen vom Meineid bis zum Ritualmord zu einem aggressiv-polemischen Gebräu, um mit dieser Darstellung des »für das allgemeine Wohl höchst verderblichen Geistes des Judenthums« zu beweisen, dass »Niederträchtigkeit das Eigenthümliche des jüdischen Nationalcharakters« und dass dass »Schmutz und Gestank« der Juden »eigenthümliches Nationalerbtheil« seien.34 Juden werden hier nicht mehr (nur) krimineller Handlungen und politischer Verschwörungen beschuldigt, sondern als moralisch unverbesserlich korrupt angegriffen.35 Sämtliche von ihm zusammengeschusterte ›Fakten‹ dienen Grattenauer als Beleg dieser Grundansicht vom inhärent schlechten Charakter der Juden. In einer noch im selben Jahr nachgeschobenen Erklärung zeigt sich Grattenauer demonstrativ unbeeindruckt vom Sturm der Entrüstung, den seine Schrift hervorgerufen hat, und stellt klar, dass er nicht von einzelnen Individuen handle, 32 Während manche Forscher Herders Text als frühantisemitische Invektive betrachten, sehen andere in ihm eine Utopie friedlicher Koexistenz unter Absehung von Assimilationsforderungen. Vgl. für anklagende Lesarten u. a. Paul Lawrence Rose: Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner. Princeton, NJ 1990. S. 100; Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln 22001. S. 205; für apologetische Lesarten u. a. Karl Menges: Integration und Assimilation. Herders Äußerungen über die Juden im Kontext der klassischen Emanzipationsdebatte. In: Euphorion 90 (1996). S. 394–415; Martin Bollacher: »Feines, scharfsinniges Volk, ein Wunder der Zeiten!« – Herders Verhältnis zum Judentum und zur jüdischen Welt. In: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hg. von Christoph Schulte. Hildesheim u. a. 2003. S. 17–33. Vgl. zuletzt den Vermittlungsversuch von Markus Buntfuß: Johann Gottfried Herder. Nationalkultur und archaische Poesie. In: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle. Hg. von Roderich Barth u. a. Berlin/Boston, MA 2012. S. 141–156. Vgl. insgesamt zur Rezeption Herder und seine Wirkung / Herder and His Impact. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft, Jena 2008. Hg. von Michael Maurer. Heidelberg 2014. 33 Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, 2002. S. 173 f.; Best: Juden und Judenbilder, 2001. S. 202–210. 34 [Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer]: Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christliche Mitbürger. Berlin 41803. S. 7, S. 10 und S. 12. 35 Vgl. schon Anonym: Ueber die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden. Stimme eines Kosmopoliten. Germanien 1791. Dass Grattenauer als Achtzehnjähriger auch diese Schrift verfasst hat, wird in der Regel angenommen, ist aber nicht belegt. Vgl. Best: Juden und Judenbilder, 2001. S. 190–196.
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sondern »vom Juden überhaupt, vom Juden überall und nirgends.«36 Genau darin aber, in der Diffamierung des ›Juden überhaupt‹, des ›Juden an sich‹ als einer Ausgeburt an »Immoralität« und »Irreligiosität«,37 schlägt sich historisch-semantisch der folgenreiche Übergang zur Annahme eines inhärenten und unveränderlichen jüdischen Wesens nieder. Dieses vermeintliche jüdische Wesen bestimmt Grattenauer als ein orientalisches, wenn er rhetorisch fragt: Ist es nicht die allerhöchste Zeit, dem orientalischen Fremdlingsvolke begreiflich zu machen, daß man den ihm bisher verliehenen Schutz ohne alle Rechtsverletzung aufkündigen, daß man seine Privilegien kassiren, und daß man das ihnen zugestandene sichere Geleit aufheben dürfe?38
Unter den Voraussetzungen eines exkludierenden Volksbegriffs gewinnt der prekäre, vorläufige Charakter der bisher individuell verliehenen Schutzbriefe und Privilegien eine völlig neue Dimension. Die Formel des ›orientalischen Fremdlingsvolks‹ dient in Grattenauers Rhetorik dazu, die überkommene Rechtsordnung unter Vorbehalt zu stellen und zugleich der in den Emanzipationsdebatten geforderten bürgerlichen Gleichstellung eine Absage zu erteilen. Herders und Grattenauers Äußerungen verdichten zentrale Argumentationsfiguren der frühen Emanzipationsdebatten, in denen neue Ordnungskategorien und Handlungsschemata zwischen Religion und Politik ausgelotet werden. In diesem begriffs- und diskursgeschichtlichen Neuland gewinnen orientalistische Deutungsschemata an Boden. Die Rede von der ›fremden asiatischen Nation‹ bzw. vom ›orientalischen Fremdlingsvolk‹ plausibilisiert eine radikalisierende Erneuerung überkommenen Judenhasses, die das Emanzipationszeitalter nachhaltig prägt. Zu den häufigsten Anklagen gegen die Juden gehört nun, wie eine apologetische Schrift von 1833 referiert, ihr vorgeblicher Absonderungsgeist, »der nicht nur von ihren religiösen Ansichten ausgehen, sondern hauptsächlich aus dem Gedanken entspringen soll, daß sie sich für Fremde im Lande, den Orient aber für ihre eigene Heimath halten.«39 Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage, wie sich jüdische Akteure in diesem – vielsprachigen und intermedial strukturierten – Diskursfeld der Emanzipation positionieren und wie sie es mitbestimmen. In den deutschsprachigen Debatten über die sogenannte bürgerliche Verbesserung der Juden bilden sich im ausgehenden 18. Jahrhundert orientalistische Argumentationsstrukturen aus, die sich nicht ohne weiteres in den hebräischsprachigen Diskurs [Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer]: Erklärung an das Publikum über meine Schrift Wider die Juden. Berlin 31803. S. 23. 37 Ebd., S. 36. 38 Ebd., S. 36 f. 39 [Michael Benedikt Lessing]: Die Juden und die öffentliche Meinung im Preußischen Staate. Mit besonderer Rücksicht auf die Preußischen Provinzialstände und deren Bedeutung. Zur Erwiederung auf die Schrift des Herrn Karl Streckfuß: Über die Verhältnisse der Juden zu den christlichen Staaten. Altona 1833. S. 57. 36
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übersetzen lassen (Kap. 3.1.1). In dieser sprachlichen Undurchlässigkeit werden innerjüdische Differenzen greifbar, die zunehmend als west-östliche Differenzen zwischen deutschen und polnischen Juden wahrgenommen und in kleider- und körperpolitischen Konstellationen intermedial verhandelt werden (Kap. 3.1.2). In einem hebräischen Briefroman reflektiert Isaac Euchel die sich daraus ergebende gleichzeitig-ungleichzeitige Zeit- und Raumordnung mittels sefardisch-aschkenasischer Spiegelungen (Kap. 3.1.3). Am Beispiel der ersten deutschsprachigen jüdischen Zeitschrift, der ab 1806 in Dessau erscheinenden Sulamith, werde ich schließlich aufzeigen, wie die Herausgeber versuchen, im Beziehungsfeld von Körper- und Kleider-, Sprach- und Schriftpolitik eine selbstbewusste jüdische Position auszutarieren (Kap. 3.1.4). 3.1.1 Die Bezeichnungspolitik der Emanzipation und ihre Grenzen Debatten über die ›bürgerliche Verbesserung‹ von ›asiatischen Flüchtlingen‹ In der deutschen Aufklärungsforschung gilt das Jahr 1781 als ein Wendepunkt.40 In dieses Jahr fallen der Tod Gotthold Ephraim Lessings, die Begegnung des protestantischen Aufklärers Friedrich Nicolai mit dem süddeutschen Katholizismus, die Veröffentlichung von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft und Christian Wilhelm Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden sowie das erste Toleranzpatent Josephs II., das protestantischen Glaubensgemeinden im katholisch dominierten Habsburger Reich die Ausübung ihrer Religion gewährt. 1782 lässt Joseph II. ein weiteres Toleranzpatent für die Juden folgen, 1783 ergänzt der preußische Staatsbeamte Dohm seine Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, die hitzige Debatten ausgelöst hat, um einen zweiten Band.41 Im selben Jahr erörtert Mendelssohn in seiner Abhandlung Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum die Frage, wie das Verhältnis von »Staat und Religion« zu bestimmen sei (JubA 8, 103). Die Jahre 1781 bis 1783 sind mithin in staatsrechtlich-sozialer und intellektueller Hinsicht für die deutsche jüdische Geschichte von epochaler Bedeutung. Für die darauffolgenden Jahrzehnte verzeichnet die Historiographie einen tiefgreifenden Wandel der rechtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Lage und Sichtbarkeit der Juden in Preußen und im Habsburger Reich.42 In diesen entscheidenden Jahren setzen die Überlegungen des vorliegenden Kapitels an. Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1986. S. 132. 41 Im Folgenden werden beide Teile der Verbesserungsschrift mit der Sigle DV und dem Veröffentlichungsjahr (1781 oder 1783) zitiert nach: Christian Wilhelm Dohm: Ausgewählte Schriften. Bd. 1.1: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden [1781/83]. Kritische und kommentierte Studienausgabe. Hg. von Wolf Christoph Seifert. Göttingen 2015. 42 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Michael A. Meyer. Bd. 2. München 1996. S. 9–284; Stefi Jersch-Wenzel: Die Juden im gesellschaftlichen Gefüge Berlins um 1800. In: Bild und 40
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In seiner durch Mendelssohn angeregten Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) beschäftigt Christian Wilhelm Dohm sich mit der Frage, »wie die Juden nützlichere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft werden könnten« (DV 1781, 7 f.). Dohms Argumentation steht im Zeichen von aufklärerischen Prinzipien und einem staatspolitischen Pragmatismus. Aus seiner merkantilistischen Sicht tun die fremde Abkunft und die distinkten Bräuche der Juden ihrer Nützlichkeit keinen Abbruch: »Sollten viele fleißige und gute Bürger dem Staat weniger nützlich seyn, weil sie aus Asien abstammen, sich durch Bart, Beschneidung und eine besondre ihnen von ihren ältesten Vorfahren hinterlassene Art, das Höchste der Wesen zu verehren, unterscheiden?« (DV 1781, 14). So wendet er sich gegen den Reflex, »von Kolonisten Nachtheil für die alten Einwohner eines Landes« (DV 1781, 72) zu fürchten und versichert, man dürfe von der Einbürgerung der Juden positive Wirkungen erwarten, zumal sie anders als andere ›Kolonisten‹ schon lange im Lande lebten und »keine rohe und verwilderte Zigeuner, keine unwissende und ungesittete Flüchtlinge« seien (DV 1781, 51 f.).43 In diesem Sinne pocht Dohm auf die Distanz der gegenwärtigen Juden zu ihrer asiatischen Herkunft und zur vermeintlichen jüdischen Schuld an der Kreuzigung Jesu, die er im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus als Anschuldigung nicht mehr für salonfähig hält: Nur im »Zeitalter der Barbarey«, urteilt er in moralisierend-aufklärerischer Geste, »konnte man die entferntesten Nachkommen in Frankreich und Deutschland noch zur Rechenschaft wegen eines Vergehens ziehn, daß vor so vielen Jahrhunderten an der asiatischen Küste des mittelländischen Meers begangen worden« (DV 1781, 25 f.). Indem Dohm hier die asiatische Herkunft der Juden in geographische und zeitliche Distanz rückt, trägt er mit einer betont modernen Terminologie und rechtlich-wirtschaftlichen Überlegungen dem Status der Juden als alteingesessener europäischer Bevölkerungsgruppe Rechnung. So wortreich Dohm allerdings die Distanz zur asiatischen Vergangenheit beschwört, so nah rückt er dieselbe an anderer Stelle an die gegenwärtigen Juden heran. Wenn Dohm sich von der Strategie europäischer Staaten distanziert, die Zahl der Juden – »jener unglücklichen asiatischen Flüchtlinge« (DV 1781, 11) – zu begrenzen, dann stellt er auf eine Analogie zu den ›französischen Flüchtlingen‹ ab. Dohms aufwertender Vergleich der Juden mit den aufgrund wirtschaftlichen Kalküls umworbenen Hugenotten, die ab 1685 als Religionsflüchtlinge aus Frankreich nach Preußen gekommen waren und wie die Juden juristisch einem Sonderrecht unterlagen,44 suggeriert, dass die damaligen Juden soeben aus Asien nach Preußen geflüchtet wären. Das ist indes keineswegs der Fall: Sie waren im Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung. Hg. von Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel. Berlin 1992. S. 139–154. 43 Deutlich reservierter äußert Dohm sich zwei Jahre später dazu (DV 1783, 195–197). 44 Stefi Jersch-Wenzel: Juden und »Franzosen« in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Berlin 1978.
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späten 17. Jahrhundert nicht aus Palästina, sondern aus Wien vertrieben worden und hatten sich dank eines 1671 von Friedrich Wilhelm I. erlassenen Edikts in Brandenburg-Preußen niederlassen können.45 In der Bezeichnung als ›asiatische Flüchtlinge‹ werden mithin die jüngsten Ansiedelungen mit der Jahrhunderte zurückliegenden Migration der Juden von Asien nach Europa überblendet. Bezeichnet Dohm die Juden 1781 im ersten Teil seiner Verbesserungsschrift als ›asiatische Flüchtlinge‹, um ihren Nutzen unter Verweis auf die ›französischen Flüchtlinge‹ herauszustreichen, ruft der Ausdruck in der nachfolgenden Debatte klimatheoretische, theologische, ethnographische, genealogische und rassekundliche Argumentationsfiguren auf den Plan, die solche merkantilistischen Erwägungen konterkarieren. Im damit einhergehenden Rekurs auf orientalistische Wissensordnungen wird die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Juden als Europäisierung gedacht. Der Streitpunkt der Emanzipationsdebatte, ob die – zumeist selbstverständlich angenommene – Verdorbenheit der Juden auf ihren ursprünglichen Nationalcharakter oder auf ihre spätere Unterdrückung und Benachteiligung zurückzuführen sei, wird hier in der Frage verhandelt, welche Eigenschaften der Juden auf ihren asiatischen Ursprung zurückgeführt werden müssen. Der Streitpunkt, ob die Juden verbesserungsfähig und verbesserungswürdig seien, wird in der Frage diskutiert, ob die aus Asien stammenden Juden europäisierbar seien. Das soll nun anhand des zweiten Teils der Verbesserungsschrift (1783) nachvollzogen werden. Dohm druckt dort kritische Reaktionen ab und kommentiert diese, darunter eine Rezension des Orientalisten Johann David Michaelis, eine Entgegnung von Moses Mendelssohn und eine weitere Rezension des Theologen Johann Moritz Schwager. Johann David Michaelis überführt in seiner Entgegnung auf Dohms Schrift religiöse Denkfiguren in eine staatsrechtliche Argumentation, wenn er die messianische Hoffnung der Juden auf eine Rückkehr nach Zion benutzt, um die Loyalität der Juden zum jeweiligen Staat in Zweifel zu ziehen: »Die Juden werden ihn immer als Zeitwohnung ansehen, die sie einmal zu ihrem grossen Glück verlassen, und nach Palästina zurückkehren sollen.« Niemals werde dieses willentlich »abgesonderte[ ] Volk«, davon zeigt sich Michaelis überzeugt, mit den europäischen Nationen »zusammenschmelzen« (DV 1783, 141). Als asiatische Nation, die sich abgesondert halte, so die Argumentation, müssen die Juden in Europa immer ein fremder Störfaktor bleiben. Der Topos des auserwählten Volkes wird hier angereichert durch ethnographische Vorstellungen, die auf unveränderliche körperliche und charakterliche Differenz setzen. So führt Michaelis die Kleinwüchsigkeit der Juden, die sie nicht das Soldatenmaß erreichen lasse, versuchsweise darauf zurück, dass sie eine »ungemischte[ ] Race eines südlichern Volks« seien (DV 1783, 145). Dass hier, noch unscharf, neue Konzepte nationaler Zuge45 Marion Schulte: Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (1787–1812). Berlin/Boston, MA 2014. S. 25–41.
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hörigkeit veranschlagt werden, kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass Michaelis sich »beständig des Ausdrucks Deutsche und Juden« statt ›Christen und Juden‹ bedient, wie Mendelssohn in seiner scharfen Replik kritisch anmerkt: »Er entsiehet sich wohl, den Unterschied blos in Religionsmeynungen zu setzen, und will uns lieber als Fremde betrachtet wissen« (DV 1783, 156).46 Diese Verschiebung von der Religion zur Nationalität wird in den Emanzipationsdebatten durch die Bezeichnung der Juden als ›asiatische Flüchtlinge‹ und durch Verweise auf ihre orientalische Herkunft plausibilisiert – eine Argumentation, auf deren Absurdität angesichts der jahrhundertelangen Sesshaftigkeit der Juden in Europa man in den folgenden Jahrzehnten nicht müde wird hinzuweisen.47 In eine ähnliche Kerbe wie Michaelis schlägt der Theologe Johann Moritz Schwager. Ihm zufolge hat Dohm übersehen, dass die Hauptschwierigkeit bei den Juden selbst liege, denn sie »erhalten sich unter uns noch immer als eine völlig fremde Nation« (DV 1783, 166). Schwager beharrt auf physisch und charakterlich begründeter Differenz: »Der Jude zeigt sich durch seine Haare und Gesichtsbildung, wie weit er von uns abstehe, […] und eben so verschieden ist auch sein Geist von dem unsrigen.« Die Juden seien ein asiatisches Nomadenvolk, das zu einem sesshaften Leben in Europa nicht in der Lage sei: 46 Michaelis markiert seine Behandlung der Juden als »Fremde« auch dadurch, dass er in Konkurrenz zu Dohms Rede von bürgerlicher Verbesserung weiter den Begriff der Naturalisation verwendet (DV 1783, 140–143), unter dem im England des 18. Jahrhunderts die Aufnahme ausländischer Juden verhandelt worden war, nicht aber – wie nun in Deutschland – eine Änderung an der bestehenden Rechtslage einheimischer Juden (Katz: The Term »Jewish Emancipation«, 1964. S. 11 f.). 47 So wendet sich David Friedländer 1792 gegen den von Michaelis und anderen angewendeten »Kunstgriff[ ]«, die Emanzipationsfrage von der ›Religion‹ zur ›Abkunft‹ zu verschieben: »Aber die Rede ist ja hier nicht von Fremden, die aus Arabien oder Palästina einwandern und Aufnahme begehren; sondern von alten, seit mehreren Jahrhunderten existierenden Eingebornen« (David Friedländer: Akten-Stücke die Reform der Jüdischen Kolonien in den Preußischen Staaten betreffend [1792]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 37–137, hier: S. 52). Vgl. Gabriel Riesser: Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. H.E.G. Paulus. Altona 1831. S. 39: »Uns vorzuhalten, daß unsere Väter vor Jahrhunderten oder vor Jahrtausenden eingewandert sind, ist so unmenschlich, als es unsinnig ist. Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und, weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf eine Heimath; wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimathlos.« Eduard Reis mokiert sich über den Vorwurf, die Juden seien eine fremde Nation: »Also, weil dies Volk vor vielen tausend Jahren im Oriente lebte, soll heute noch das Vorrecht der Authochtonen gegen es in Anspruch genommen werden, daß seine Abkunft nicht in grader Linie von Tuiskons Stamme herrühre« (Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland 1:214 (1835). S. 855). Ludwig von Rönne und Heinrich Simon (Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates. Breslau 1843. S. v) kritisieren das Vorurteil, »welches den Juden wegen seiner abweichenden Religionsansicht als einen Fremden und deshalb minder Berechtigten dem Eingeborenen gegenüberstellt, den Juden dem Deutschen. Als ob von einem so eben aus Palästina Einwandernden und Aufnahme Begehrenden die Rede sei und nicht von alten, seit Jahrhunderten im Staate lebenden, Eingeborenen, die nur seit Jahrhunderten als die europäischen Paria’s herabgewürdigt, denen nur seit Jahrhunderten gesetzlich alle Mittel für ihre geistige und sittliche Ausbildung abgeschnitten wurden.«
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Eben die überwiegende Lebhaftigkeit, die kein Druck, kein Sklavenjoch völlig dämpfen konnte, macht sie unfähig, so gute und allgemein nützliche Bürger unter unserm nördlichen Himmelsstriche und mit uns gemeinschaftlich zu werden, als sie es in Asien, und als eine abgesonderte Nation, hätten seyn können. […] Ein stilleres, eingezogeneres Leben, eine sitzende Lebensart, schickt sich für ihr Feuer nicht. (DV 1783, 166 f.)
Während Michaelis und Schwager davon ausgehen, dass die Alterität der Juden auf einen unveränderlichen asiatischen Nationalcharakter zurückzuführen sei, und den Juden auf dieser Grundlage die bürgerliche Besserstellung verweigern, ist Dohms Position komplexer und widersprüchlicher.48 In Reaktion auf die Einwände Schwagers argumentiert er 1783 im zweiten Teil seiner Schrift, das »asiatische Temperament« werde die Juden nicht davon abhalten, nützliche Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zu werden: Unsere heutigen Juden haben ihr itziges Temperament, ihre Liebe zum Herumschweifen und Müssiggang sicher nicht aus Asien mitgebracht, sondern durch die politische Lage in der sie sich seit Jahrhunderten in Europa befinden, unter uns und durch uns erhalten. Ist diese verändert, so kann man sicher erwarten, daß das Clima, in dem unsere Hebräer wirklich sich befinden, und nicht das, in dem ihre Vorfahren vor zweitausend Jahren lebten, ihren Character bestimmen werde. Sie sind längst Europäer geworden, und nur ihre beständige Verheyrat hungen unter sich und die gleichförmige Beschäftigung haben ihnen noch gewisse charakteristische Eigenheiten und eine Nationalphysionomie erhalten, die sich, wenn sie erst unter die übrigen Menschen sich zerstreuen und allmählig das Unterscheidende ihrer Meynungen und Gebräuche ablegen, auch verlieren werden. Auch die Ungeselligkeit, welche manche dieser Gebräuche hervorgebracht haben, wird wie ich gewiß hoffe, nicht von ewiger Dauer seyn. Und dieses muß allerdings geschehen, wenn die Juden ganz gleiche Glieder der Gesellschaft werden sollen. Denn, wie Hr. Michaelis richtig bemerkt, wer nicht mit uns ißt und trinkt, kann auch nicht ganz mit uns in eine Gesellschaft sich vereinigen. Aber immer komme ich darauf zurück: Man muß anfangen die Juden, wie andere Menschen und Glieder des Staates zu behandeln, wenn man diese aus ihnen machen will. (DV 1783, 217)
Zwar behauptet Dohm, die Alterität der Juden sei nicht auf asiatische Ursprünge, sondern auf ihre soziale und politische Unterdrückung zurückzuführen. Doch ist die Passage durchzogen von Widersprüchen. Nach Dohm nämlich sind die Juden zwar »längst Europäer« geworden, aber sie zeigen auch noch »asiatische[s] Temperament«; ihre Neigung zum ›Umherschweifen‹ und zum »Müssiggang« sei nur eine Folge ihrer politischen Lage, zugleich aber konservierten sie durch ihr 1774 hatte Dohm in seiner Probe einer kurzen Charakteristick einiger der berühmtesten Völker Asiens die vermeintliche Unveränderlichkeit des hebräischen Nationalcharakters mit einer klimaund staatstheoretischen Argumentation hinterfragt (Auszug in: Christian Wilhelm Dohm: Ausgewählte Schriften. Bd. 1.2: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden [1781/83]. Kritische und kommentierte Studienausgabe. Kommentar. Hg. von Wolf Christoph Seifert. Göttingen 2015. S. 281 f.). Vgl. Heinrich Detering: »der Wahrheit, wie er sie erkennt, getreu«. Aufgeklärte Toleranz und religiöse Differenz bei Christian Wilhelm Dohm. In: ZRGG 54:4 (2002). S. 326–351, hier: S. 340–343; Heinrich Detering: »jüdische Händler, türkischer Bluthund, christliches Schwein«. Zur Verteidigung religiöser Differenz in Christian Wilhelm Dohms Toleranzprogramm. In: Lichtenberg-Jb. 1997. S. 116–137. 48
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Heiraten untereinander »gewisse charakteristische Eigenheiten« und eine distinkte »Nationalphysiognomie«. Dohm gibt hier nicht nur eine uneindeutige Antwort auf die Frage, ob die Besonderheit der Juden auf ihre asiatische Herkunft oder ihre Unterdrückung in Europa zurückgehe. Er gibt auch eine uneindeutige Antwort auf die Frage, ob die Juden als Juden verbesserungsfähig bzw. europäisierbar sind. In seinem Versuch, die Einwände von Michaelis und Schwager zurückzuweisen, lässt Dohm das Paradox seiner Forderungen zutage treten. Wenn nämlich als Ziel definiert ist, dass die Juden »ganz mit uns in eine Gesellschaft sich vereinigen«, dann müssen sie Dohm zufolge »das Unterscheidende ihrer Meynungen und Gebräuche ablegen«. Der zentrale Zwiespalt seiner Argumentation besteht darin, dass das Eintreten für die Emanzipation der Juden an Anpassungsforderungen gebunden ist, die letztlich auf die Tilgung jüdischer Eigenheit zielen. Die Emanzipation der Juden im Sinne rechtlicher Gleichstellung wird an die Bedingung geknüpft bzw. mit der Hoffnung verbunden, dass sie sich von ihrem Judentum emanzipieren und mit ihrer Umgebung ›verschmelzen‹ werden. In der schwankenden rhetorischen Behandlung des genealogischen Gemeinplatzes asiatischer Abkunft und der Forderung nach einer Europäisierung der Juden wird mithin die Aporie des Emanzipationsdiskurses sichtbar. Diese Zwiespältigkeit zeigt sich in vielen weiteren Wortmeldungen. Wie Michaelis und Schwager ihre Vorbehalte gegen eine Besserstellung der Juden mit deren asiatischer Herkunft begründen, so ist es auch dem Popularphilosophen Christoph Meiners 1790 in einem Aufsatz Über die Natur der morgenländischen Völker darum zu tun, eine angebliche veränderungsresistente morgenländische Sittenlosigkeit der »Asiatischen Flüchtlinge« nachzuweisen.49 Er zählt die Juden zu den »morgenländischen Colonien, die sich unvermischt erhalten haben.« Sie seien zwar unstreitig in einigen Stücken, vorzüglich in Ansehung der Regsamkeit und Thätigkeit europäisiert worden; doch wird die Vergleichung derselben mit den Völkern, mit welchen sie einerley Ursprungs sind, einen jeden lehren, daß sie diesen immer noch ähnlicher, als den Nationen sind, unter welche sie verpflanzt worden.50
In dieser Notiz sind einige der wichtigsten Topoi und Zuschreibungen versammelt, die um 1800 das Denken über die bürgerliche Besser- und Gleichstellung 49 Christoph Meiners: Ueber die Natur der morgenländischen Völker. In: Göttingisches Historisches Magazin 7 (1790). S. 385–455, hier S. 454. 50 Ebd., S. 454 f. Eine ungenaue und historisch unhaltbare Lektüre dieses Textes bietet W. Daniel Wilson: Enlightenment Encounters the Islamic and Arabic Worlds. The German »Missing Link« in Said’s Orientalist Narrative (Meiners and Herder). In: Encounters with Islam in German Literature and Culture. Hg. von James Hodkinson und Jeff Morrison. Rochester, NY u. a. 2009. S. 73–88. Vgl. zum Hintergrund Friedrich Lotter: Christoph Meiners und die Lehre von der unterschiedlichen Wertigkeit der Menschenrassen. In: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. von Hartmut Boockmann und Hermann Wellenreuther. Göttingen 1987. S. 30–75.
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der Juden strukturieren: der Ursprung der Juden im Morgenland und ihre Migration ins Abendland, ihre teilweise vollzogene Europäisierung und ihre Bewahrung physischer und habitueller asiatischer Charakteristika. In dieser Perspektive erscheinen die Juden als halb europäisches, halb orientalisches Volk, dessen Lage als west-östlicher Grenzstatus verhandelt werden muss. Etliche Wortmeldungen in den Emanzipationsdebatten kreisen um die Frage, ob sich die Juden von ihrer asiatischen Herkunft emanzipieren können und ob sie sich europäisieren müssen, um ihre ›bürgerliche Verbesserung‹ und ihre Gleichstellung im Gesellschaftsgefüge eines modernen Staats zu ermöglichen. Das alles ist allerdings so nur im deutschsprachigen Diskurs denk- und sagbar. Begriffe wie Nation und Staat haben als moderne politische und rechtliche Termini ebenso wenig wie die schillernde Formel asiatischer Abkunft eine Entsprechung im innerjüdischen hebräischen Diskurs der Zeit. Der deutschsprachige Aufklärungsdiskurs, der hebräischsprachige Diskurs der Haskala und das jiddisch-hebräische Referenzsystem jüdischer Gemeindestrukturen sind nur durch perspektivische und semantische Verschiebungen durchlässig füreinander. Die Inkompatibilität dieser verschiedenen Sprach- und Referenzsysteme wird schon von den Zeitgenossen reflektiert. In einem Brief vom 30. März 1799 an den Glogauer Kaufmann Meier Eger reagiert David Friedländer auf dessen Ansinnen, seinen Sohn nach Berlin zu schicken, wo dieser vormittags in einen Cheder und nachmittags auf eine Handelsschule gehen solle. Nachdem er eingangs in mokantem Tonfall Egers jüdischdeutschen Sprachgebrauch imitiert hat, erklärt Friedländer, dass ein solcher zweigleisiger Bildungsweg unmöglich sei: In einer jeden dieser Anstalten wird ein ganz anderer, ein ganz entgegengesetzter Mensch erzogen. […] Nein, mein theurer Freund wollen Sie, daß Ihr Kind ein frommer choschiver Jehude bleiben soll, so behalten Sie ihn ja in Glogau, wollen Sie ihn aber zum Weltbürger erziehn […], so schicken Sie ihn in Gottes Namen her. Aber dann kein Rabbi, kein מלאכת ה‘ ותורתו. Diese Wörter, in deutsche Sprache übersetzt, geben keinen deutlichen Sinn und haben vielleicht gar keinen.51
Im handschriftlichen Original fällt der Bruch zwischen dem deutschen Brieftext und der hebräischen Formel »Werk Gottes und seine Lehre [«]מלאכת ה‘ ותורתו weniger drastisch aus, da Friedländer sich durchgängig hebräischer Schriftzeichen bedient. Umso größeres Gewicht aber erhält im jüdischdeutschen Schriftbild das verneinende Indefinitpronomen ›kein‹. Friedländer negiert eine hebräische Phrase, um zu illustrieren, dass die Verhaltensregeln jüdischer Talmudausbildung sich nicht in das Leben eines gebildeten, in Berlin lebenden ›Weltbürgers‹ integrieren lassen. 51 In Originalwortlaut und -schrift ediert von Josef Meisl: בריוו פון דוד פרידלענדער. In: Historishe Shriftn 2 (1937). S. 390–412, hier: S. 408–410. Transkriptionen in lateinische Schrift bieten Ludwig Geiger: Ein Brief Moses Mendelssohns und sechs Briefe David Friedländers. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1 (1887). S. 253–273, hier: S. 266–268; Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten. Hg. von Franz Kobler. Wien 1935. S. 120–122.
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Diese Inkompatibilitätswahrnehmung wird nicht nur bei Friedländer in sprachlichen Differenzen greifbar. An zahlreichen Beispielen aus dieser Zeit lässt sich nachweisen, dass hebräische Texte in deutschen Übersetzungen massiv bearbeitet werden.52 Auf Deutsch verfasste Texte wiederum, Predigten etwa und Schulbücher, büßen einen erheblichen Teil ihres Aussagegehalts ein, wenn sie ins Hebräische und dessen Referenzsystem übersetzt werden.53 Die vielsprachige Situation um 1800 lässt mithin hervortreten, wie die Bezeichnungspolitik der Emanzipationsdebatten an ihre Grenzen stößt, sobald sie mit Übersetzungsprozessen konfrontiert ist. Begriffe wie Nation und Staat und die Topoi des Orientalismus, die im deutschsprachigen Diskurs um 1800 von schillernder Virulenz sind, machen gleichsam Halt vor dem hebräischsprachigen Diskurs. Das mag beispielhaft ein konkreter deutsch-hebräischer Übersetzungsakt zeigen. Der Publizist August Friedrich Cranz hebt 1782 in einem Bericht für seine Berlinische Correspondenz hervor, dass die 1778 von Daniel Itzig und David Friedländer gegründete jüdische Freischule in Berlin höchste Anerkennung verdiene und mit ihrem Ziel, brauchbare Untertanen zu bilden, dem Patriotismus der Hugenotten in nichts nachstehe. Bislang allerdings seien die Juden vernachlässigt worden, weil der Staat diese Abkömmlinge einer fremden asiatischen Nation wie eine milchgebende Kuh auf der Weide des Landes in eng eingeschlosse [sic] Reviere duldete, um Nutzen davon zu ziehen – diese unsere Mitmenschen zu Menschen zu bilden, und als Menschen im Staate zu nutzen, daran wurde nicht gedacht.54
Die von Dohm angestoßene Debatte über die bürgerliche Verbesserung der Juden strukturiert sichtlich Cranzens Beurteilung der jüdischen Freischule: Die Emanzipation der Juden wird hier, getragen vom aufklärerischen Menschlichkeitsideal und vom Vergleich mit den Hugenotten, als handfestes staatspoliti52 So passt Friedländer Naphtali Herz Wesselys pädagogisches Sendschreiben Worte des Friedens und der Wahrheit ( )דברי שלום ואמתdurch Kürzungen und Ergänzungen an, als er es vom He bräischen ins Deutsche übersetzt. Vgl. Michal Kümper: »Worte der Wahrheit des Friedens« oder »Worte des Friedens und der Wahrheit«? Die deutsche Übersetzung von Naphtali Herz Wesselys pädagogischem Pamphlet Divrei shalom we-emet durch David Friedländer. In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 2. Hg. von Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina. Hannover 2003. S. 155–188; Uta Lohmann: »Niemand verdirbt die Bedeutung mehr, als einer, der wörtlich übersetzt«. Das ›deutsche Original‹ von Divre schalom we-emet. Kontextualisierung und Transkulturation der Übersetzung David Friedländers. In: WFW, 59–73. 53 Joseph Wolfs Übersetzung seiner deutschen Dessauer Predigten ins Hebräische (1812/13) tilgt zum Beispiel deren aufklärerische Bildungsideale fast vollständig, indem sie sie in die Bildlichkeit des traditionellen jüdischen Referenzsystems transformiert (David Sorkin: The Transformation of German Jewry, 1780–1840. New York, NY 1987. S. 98). Vgl. ähnlich mit Blick auf Schulbücher Louise Hecht: Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen. Der Pädagoge und Reformer Peter Beer (1758–1838). Köln u. a. 2008. S. 125–127. 54 August Friedrich Cranz: Nachricht von dem Erziehungs-Institut der jüdischen Nation. In: Berlinische Correspondenz historischen und litterarischen Inhalts 1:4 (1782). S. 58–62, hier: S. 59 f.
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sches Interesse definiert. In welchem Verhältnis steht dieser deutschsprachige Diskurs nun aber zum hebräischsprachigen Diskurs der Zeit? In der hebräischen Übersetzung von Cranzens Bericht für die Aufklärungszeitschrift Ha-Me’assef wird die juristische und politische Terminologie durch biblische Topoi ersetzt, wie eine deutsche Rückübersetzung von Lucie Renner zeigt: Seit dieses Volk [ ]העםaus seinem Land verbannt wurde, welches der Ewige sich zum Wohnsitz bestimmt hat [Psalm 132,13], wurde es zerstreut unter den Völkern, diese wohnen nach Norden zu und jene nach Süden, vergleichbar einem Sklaven, der zum Dienstmann wurde [Josua 16,10] in der Hand der Herren des Landes. Wie eine Milchkuh, der ihr Herr einen Ort zu Schutz und Weide gibt, damit sie ihre Milch gebe; so war dieses Volk in den Augen der Mächtigen der Welt. (CCN, 203)
Dem staats- und personenrechtlichen Status einer fremden, geduldeten Nation asiatischen Ursprungs, wie er in Cranzens deutschem Text definiert wird, steht in der hebräischen Übertragung das religiöse Narrativ des Exils gegenüber, das mit biblischen Phrasen evoziert wird. Im Übersetzungsprozess wird mithin die Differenz zwischen einer jüdischen Memorialkultur, die durch ein zyklisch erneuertes Gedenken an die biblische Geschichte geprägt ist, und einem orientalistischen Außenblick auf die Juden, der durch klimatheoretisches, bibelkundliches und merkantilistisches Wissen konditioniert ist, sprachlich greifbar: Für Formeln wie die der ›fremden asiatischen Nation‹ besitzt der hebräische Wortschatz der Haskala keine direkte Entsprechung; die von Cranz adressierten Sachverhalte werden ins intertextuelle Bezugssystem der Bibel überführt. Die beiden Sprachen markieren mithin Diskursgrenzen, die nicht ohne semantische Verschiebungen überschritten werden können. Cranzens Zeitschriftenbeitrag bedient eine deutschsprachige Öffentlichkeit, die durch erhitzte staatsrechtliche Debatten über die Alterität und die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Juden vorgeprägt ist und eine formelhafte Verbindung der semantischen Bestandteile fremd, asiatisch/orientalisch und Nation/Volk zu einer gängigen Bezeichnung der Juden ausgeprägt hat. Dieser Außenblick ist nicht ohne Einbußen in eine hebräische Zeitschrift übertragbar, die sich an eine kleine, tief mit ihrer Überlieferung vertraute Elite jüdischer Aufklärer richtet. In solchen Transferzonen zwischen den Sprachen wird sichtbar, dass die Gebrauchsfunktionen des Orientalismus maßgeblich von Publikationsmedium, Adressatenkreis und Sprache abhängen. Im Nebeneinander verschiedensprachiger Diskurse wird eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen greifbar, die um 1800 auch anhand von verschiedenen Kleidungsgewohnheiten thematisiert wird.
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3.1.2 Kaftane, Bärte und andere Relikte der Vergangenheit Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Aschkenas In den Emanzipationsdebatten wird das äußere Erscheinungsbild der Juden zum Politikum. Mit der Anpassung ihrer Kleidungs- und Sprechweise sowie ihrer Frisur sollen sie bezeugen, dass sie der rechtlichen Gleichstellung würdig sind. Der jüdische Arzt Michael Benedikt Lessing sieht diese Forderung 1833 in einer apologetischen Erwiderung auf Carl Streckfußens judenfeindliche Schrift Über das Verhältnis der Juden zu den christlichen Staaten eingelöst. Er fordert seine Leser dazu auf, doch einmal die »ungeheure Veränderung« zur Kenntnis zu nehmen, »die in Sprache, Tracht, Lebensweise, in Bedürfnissen und Vergnügungen, in Sitten und Gewohnheiten sich zugetragen!« Die »äußere Erscheinung« der jüdischen Bevölkerung habe sich grundlegend gewandelt: Wer hätte ehemals einen Juden nicht gleich an der orientalisch-plumpen Kleidung, an dem weiten dunklen Kaftan, an der tief herabgedrückten Pelzmütze, an den Pantoffeln und an seinem das Gesicht entstellenden Barte, wer eine jüdische Matrone nicht an der silbergestickten Kappe, an der ernsten, jedes Haarschmucks beraubten Stirn erkannt? Und wie viele Juden sieht man noch heute so erscheinen, wenn sie nicht entweder noch Reliquien aus der alten Zeit oder polnischer Herkunft sind?55
Lessing vergegenwärtigt den umfassenden Wandel jüdischer Lebensformen hier in einer Gegenüberstellung verschiedener Zeitstufen und Kulturräume. Während man »ehemals« alle Juden sogleich an ihrer »orientalisch-plumpen Kleidung« erkannt habe, sehe man diese jetzt nur noch an älteren Juden (»Reliquien aus der alten Zeit«) und an Juden aus den östlichen Provinzen (»polnischer Herkunft«), während die anderen zu europäisch-eleganter Kleidung übergegangen und damit in der Gegenwart angekommen seien. Aus der Perspektive deutscher Juden erscheinen die sogenannten polnischen Juden, die einem anderen Schönheitsideal folgen,56 wie befremdliche Relikte der Vergangenheit.57 Hier werden Abgrenzungsbemühungen reformorientierter deutschsprachiger Juden von den vermeintlich weniger aufgeklärten ›polnischen Juden‹ in zeitlich und räumlich definierten Zuschreibungen bestimmter Kleidungsweisen manifest. [Michael Benedikt Lessing]: Die Juden und die öffentliche Meinung im Preußischen Staate. Mit besonderer Rücksicht auf die Preußischen Provinzialstände und deren Bedeutung. Zur Erwiederung auf die Schrift des Herrn Karl Streckfuß: Über die Verhältnisse der Juden zu den christlichen Staaten. Altona 1833. S. 129. 56 Tamar Somogyi: Die Schejnen und die Prosten. Untersuchungen zum Schönheitsideal der Ostjuden in Bezug auf Körper und Kleidung unter besonderer Berücksichtigung des Chassidismus. Berlin 1982. 57 Vgl. noch Arnold Hilberg: Vorbemerkung der Verlagshandlung. In: Leo Herzberg-Fränkel: Polnische Juden. Geschichten und Bilder. Wien 1867. S. v f.: »Wer kennt nicht jene sonderbaren Bewohner des europäischen Nordostens, die mit merkwürdiger Zähigkeit ererbten Glauben, ererbte Sitte, ererbte Volksthümlichkeit festhalten, die geistig so sehr mit dem allerlächerlichsten Mysticismus, ethnographisch mit dem unveränderlichen Oriente identificirt sind […]?« 55
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Im Hintergrund solcher Urteile steht, dass der jüdische Kulturraum Aschkenas im 18. Jahrhundert begriffs- und diskursgeschichtlich in eine deutsche und eine polnische Hälfte aufgetrennt wird. Dass die jüdischen Gemeinden Europas ein unterschiedliches Selbstverständnis ausprägen, ist schon länger – nicht zuletzt durch Migrationsbewegungen58 – spürbar.59 Unter den sozialen und diskursiven Voraussetzungen der Spätaufklärung aber verschärfen sich Differenzbewusstsein und Abgrenzungsbedürfnisse.60 Reformorientierte Juden in deutschen Großstädten, die europäische Bildungskonzepte für sich entdecken und dies in ihrem Auftreten zum Ausdruck bringen, begreifen sich als ›deutsche Juden‹ und grenzen sich von den sogenannten polnischen Juden ab,61 zu denen das Licht der Aufklärung noch nicht vorgedrungen sei. Voraussetzung für diese Umschichtung der Zeit- und Raumordnung ist eine spezifisch neuzeitliche Erfahrung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, die Reinhart Koselleck allgemein für die europäische und Yosef Hayim Yerushalmi für die jüdische Geschichte beschrieben haben.62 Der jüdische Traditionsumbau gestaltet sich um 1800 im Horizont neuzeitlichen Geschichtsdenkens in einem engen Wechselverhältnis zwischen dem deutschen Diskurs der Spätaufklärung und innerjüdischen Konfliktkonstellationen. Diese Diskursformation lässt sich mit dem historiographischen Konzept einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufschließen. Mit der Vorstellung einer synchronen Pluralität verschiedener Zeitschichten erlaubt es dieses Konzept, neben der chronologischen auch die erfahrungsbezogene Dimension geschichtlicher Zeit zu erfassen.63 In der Zeiterfahrung historischer Subjekte können gene58 Moses A. Shulvass: From East to West. The Westward Migration of Jews from Eastern Europe During the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Detroit, MI 1971. 59 Adam Teller: Jewish Literary Responses to the Events of 1648–1649 and the Creation of a Polish-Jewish Consciousness. In: Culture Front. Representing Jews in Eastern Europe. Hg. von Benjamin Nathans und Gabriella Safran. Philadelphia, PA 2008. S. 17–45; Joseph Davis: The Reception of the Shulhan ‘Arukh and the Formation of Ashkenazic Jewish Identity. In: AJS Review 26:2 (2002). S. 251–276. 60 Vgl. zu staatspolitischen Maßnahmen in den Jahren 1772 bis 1806 William W. Hagen: Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772–1914. London/Chicago, IL 1980. S. 31–70. 61 Diese Bezeichnung ist im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert üblich; erst im frühen 20. Jahrhundert etabliert sich die Bezeichnung ›Ostjuden‹. Vgl. Małgorzata A. Maksymiak: »Mental Maps« im Zionismus. Ost und West in Konzepten einer jüdischen Nation vor 1914. Bremen 2015. S. 8–11; zum Hintergrund Stephen E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923. Madison, WI 1982. 62 Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987. S. 269– 282; Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Aus dem Amerikanischen [1982] übersetzt von Wolfgang Heuss. Berlin 1988. 63 Reinhart Koselleck: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel. München 1973. S. 211–222, bes. S. 213 und S. 216; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt
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rationell, kulturell, habituell, politisch und sozial bestimmbare Zeitschichten »gleichzeitig vorhanden und wirksam« sein.64 Koselleck hat diese Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als einen Faktor der metaphorischen Dynamisierung von Geschichte im 18. Jahrhundert beschrieben: »Mit der Erschließung des Globus traten räumlich die unterschiedlichsten, nebeneinanderlebenden Kulturstufen in den Blick, die durch den synchronen Vergleich dia chron eingestuft wurden.«65 Für Jüdinnen und Juden nun ist diese Erfahrung einer Konfrontation verschiedener Kulturstufen um 1800 besonders virulent, denn die jüdische Geschichte des langen 19. Jahrhunderts ist »vor allem eine Geschichte der Wanderung – aus einer Kultur in die andere, aus dem Dorf in die Stadt, aus der Kleinstadt in die Metropole, aus dem Osten in den Westen.«66 Wie Shulamit Volkov dargelegt hat, ziehen diese Wanderungsbewegungen Konfrontationen zwischen verschiedenen jüdischen Lebensformen nach sich: In der Reaktion großstädtischer deutscher Juden auf die Neuankömmlinge aus den östlichen Provinzen beobachtet sie eine Dialektik von Assimilation und Dissimilation, insofern die Begegnung mit fremden Juden, in denen man sich selbst bzw. die eigene Vergangenheit oder die eigenen Aspirationen zu erkennen genötigt ist, zu einer Reflexion des eigenen Selbstverständnisses gezwungen habe. Der Orientalismus spielt in diesen Projektions- und Reflexionsprozessen eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll geklärt werden, warum und inwiefern Kaftan, Pelzmütze und Bart einem Beobachter wie Lessing als ›orientalisch-plumpe Kleidung‹ gelten können. Orientalistische Zuschreibungen bieten, so wird zu zeigen sein, um 1800 jüdischen und christlichen Aufklärern und Reformern in Preußen die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Juden als ein west-östliches zu modellieren.67 Jüdische Aufklärer stellen ihren Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit in ihren (Auto-)Biographien als Befreiung vom polnischen ›barbarischen‹ Osten dar und beglaubigen diesen Akt durch eine am Main 1970. S. 194–199; Siegfried Kracauer: Time and History [1963]. In: History and Theory 6 (1966), Beiheft: History and the Concept of Time. S. 65–78. In der Variante ›Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‹ ist diese Formel eingeführt worden von Wilhelm Pinder: Das Problem der Genera tion in der Kunstgeschichte Europas [1926]. München 1961. Vgl. auch die Prägung einer ›pluralen Gegenwart‹ bei George Kubler: The Shape of Time. Remarks on the History of Things. London/New Haven, CT 1962, bes. S. 129 f.; ferner jüngst den Sammelband Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Hg. von Sabine Schneider und Heinz Brüggemann. München 2011. 64 Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt am Main 2000. S. 9. 65 Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, 1987. S. 279. 66 Shulamit Volkov: Die Dynamik der Dissimilation. Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer [1985]. In: dies.: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München 2000. S. 166– 180, hier: S. 175. 67 Vgl. zu jüdischen Zeit- und Raumordnungen auch Andrea Schatz: An Interpretive Tradition. Connecting Europe and the ›East‹ in the Eighteenth Century. In: Jewish Culture in Early Modern Europe. Fs. David B. Ruderman. Hg. von Richard I. Cohen u. a. Pittsburgh, PA 2014. S. 260–270.
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umfassende Arbeit am eigenen Körper. Mit Rekursen auf den Ursprung der Juden im biblischen Morgenland werden diese Einzelbiographien wiederum in ein Großnarrativ jüdischer Geschichte und in den Kontext bibelwissenschaftlich informierter orientalistischer Imagination gestellt. Dieser argumentativen Verschränkung zweier verschiedener Orientbezüge (auf den polnischen Osten und das biblische Morgenland) und ihrer Funktion für die Selbstverortung der Juden im deutschsprachigen Kulturraum werde ich mit Blick auf die Bildwelt der Zeit und die sich aus ihr ergebenden intertextuellen und interbildlichen Beziehungen nachgehen. Ich beginne mit einem Berliner Großereignis. 1763/64, kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges, besucht eine osmanische Gesandtschaft Berlin.68 Der preußische Kammerherr Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff notiert anlässlich des aufsehenerregenden Einzugs der Gesandtschaft am 9. November 1763 in sein Tagebuch: »Die türkische Musik ist entsetzlich, das ganze Auftreten der Leute und ihr Aussehen möchte man jüdisch nennen.«69 Der pejorative Einschlag fällt in einem Brief Friedrichs des Großen an Prinz Heinrich vom 21. November 1763 noch schärfer aus. Er befindet, die türkischen Gesandten hätten etwas von Juden und Panduren an sich (»Ce peuple tient du juif et du pandour«), sie seien eigennützig und habgierig.70 Beide Vergleiche, die durch starkes Ressentiment motiviert sind, verweisen auf die Ikonographie der Zeit. Friedrich kann die feindlichen Truppen der Panduren als Vergleichsfolie heranziehen, weil diese osmanisch sozialisierten Soldaten des österreichischen Militärs, die vom Nordbalkan stammten, dank illustrierender Kupferstichwerke in den Schlesischen Kriegen mit ihrem exotisch wirkenden Aufzug Berühmtheit erlangt hatten. Dass er sie mit Juden in einem Atemzug nennt und dass Graf von Lehndorff das »Auftreten« und »Aussehen« der türkischen Gesandten »jüdisch« erscheint, erweist sich ebenfalls als eine durch die damalige Bildwelt vermittelte Assoziation, wenn man Moses Abramsons Porträt des 1721 in Westgalizien geborenen Berliner Oberrabbiners Hirschel Lewin (Abb. 7)71 mit einem Porträt des osmanischen Staatsbeamten Ahmed Resmî Effendi (Abb. 8) vergleicht, das Johann Friedrich Bause nach einer Zeichnung von Joseph Ignaz Span gestochen hat. Der osmanische Diplomat wird bärtig und mit Turban gezeigt; er ist in einen weiten, pelzversetzten Mantel gekleidet. Dieser Aufzug ähnelt dem Habit der rabbinischen Elite der Zeit, deren Mitglieder sich auf Bildnissen – wie hier Hirschel Lewin – mit Kaftanen, hohen Pelzmützen und Vollbärten zeigen.72 In der 68 Gustav Berthold Volz: Eine türkische Gesandtschaft am Hof Friedrichs des Großen im Winter 1763/64. In: Hohenzollern-Jb. 11 (1907). S. 17–54. 69 Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff: Die Tagebücher. Die geheimen Aufzeichnungen des Kammerherrn der Königin Elisabeth Christine. Hg. von Wieland Giebel. Berlin 2007. S. 508. 70 Frédéric le Grand: Œuvres. Hg. von Johann David Erdmann Preuß. Bd. 26. Berlin 1855. S. 338. 71 Vgl. zu Lewin (Hirschel Löbel, Hart Lyon) EJ 12 (2007). S. 714 f.; BHR 1.2 (2004). S. 594–596. 72 Richard I. Cohen: Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe. Berkeley, CA u. a. 1998.
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Abb. 7: Hirschel Lewin (1798).
Abb. 8: Ahmed Resmî Effendi (1763).
Ikonographie des 18. Jahrhunderts bestehen mithin vage Ähnlichkeiten zwischen der Gesichtsbehaarung und Kleidungsausstattung von hochrangigen Osmanen und Juden, die sich aus Sicht der Zeitgenossen deutlich von der europäischen Mode der Zeit unterscheiden.73 Zur selben Zeit beginnen viele der in westlichen Großstädten lebenden Juden, eng geschnittene Anzüge nach neuester Mode zu tragen und sich die Barthaare zu rasieren.74 So heißt es 1779 in einem Reisebericht aus Berlin, vielen sehe man kaum an, dass sie Juden seien: »Sehr Viele tragen jetzt ihre Haare so wie die Christen, und unterscheiden sich auch in der Kleidung nicht von uns.«75 Schenkt S. 114–153 und S. 285–294; Peter Freimark: Porträts von Rabbinern der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek aus dem 18. Jahrhundert. In: Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung. Hg. von Peter Freimark u. a. Hamburg 1991. S. 36–57; Asher Salah: How Should a Rabbi Be Dressed? The Question of Rabbinical Attire in Italy from Renaissance to Emancipation (Sixteenth–Nineteenth Centuries). In: Fashioning Jews. Clothing, Culture, and Commerce. Hg. von Leonard Greenspoon. West Lafayette, IN 2013. S. 49–66. 73 Die historischen Wahrnehmungsstrukturen, die sich aus Text- und Bildmaterial ableiten lassen, haben selbstredend wenig Aussagewert für eine differenzierte textilkundliche Bestimmung der abgebildeten Kleidungsstücke. Vgl. zu diesem Forschungsfeld Lou Taylor: The Study of Dress History. Manchester/New York, NY 2002. 74 Vgl. zu weiblichen Kleidungsgewohnheiten kursorisch Elke von Nieding: Die Damen Mendelssohn und die Mode in Berlin zwischen 1760 und 1850. In: Salondamen und Frauenzimmer. Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten. Hg. von Elke-Vera Kotowski. Berlin u. a. 2016. S. 29–38. 75 [Johann Heinrich Friedrich Ulrich]: Bemerkungen eines Reisenden durch die königlichen preußischen Staaten in Briefen. Bd. 2. Altenburg 1779. S. 521. Autorzuschreibung nach: Das gelehrte
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man dem christlichen Berichterstatter Glauben, dann folgen die meisten Berliner Juden – und sei es gegen rabbinischen Widerstand76 – dem allgemeinen Trend zur Bartrasur. Allenfalls lassen sich manche, wie etwa Mendelssohn, noch ein schmales Bärtchen stehen. Die Entscheidung für oder gegen das Tragen eines Bartes ist von erheblicher symbolischer Tragweite, da die Bartrasur als ein Distinktionszeichen der europäischen Aufklärung gilt, während lange, ungetrimmte Bärte im insgesamt weitgehend bartlosen 18. Jahrhundert je nach Perspektive als Zeichen der Traditionsverbundenheit und Frömmigkeit oder als Zeichen des Orientalischen, Jüdischen und Vormodernen fungieren.77 Das gilt auch für den sogenannten Kaftan. Die Bezeichnung wird damals ebenso wie das Kleidungsstück selbst als ursprünglich morgenländisch angesehen.78 Im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts sind die weit geschnittenen Mäntel auf der Straße nur noch an Rabbinern und jüdischen Migranten aus den polnischen Gebieten zu sehen, die sich als Hauslehrer oder Hausierer verdingen. Und man sieht sie auf Schauspielbühnen: Deutsche Theatertruppen verwenden lange, weit geschnittene Obergewänder, die wahlweise als türkisches, persisches oder polnisches Kostüm bezeichnet werden,79 bis zu den umfassenden Ausstattungsreformen des frühen 19. Jahrhunderts auch für jüdische Bühnenfiguren.80 Neben dem Tragen von Bart und Kaftan gilt drittens auch die Angewohnheit der Juden, stets das Haupt zu bedecken, als Beharren auf einer »orientalischen Sitte«.81 Bart, Kaftan und Kopfbedeckung also werden im ausgehenden 18. Jahr Teutschland oder Lexikon der jetztlebenden teutschen Schriftsteller. Hg. von Georg Christoph Hamberger und Johann Georg Meusel. Bd. 4. Lemgo 41784. S. 74 f. 76 Die Halacha verlangt, dass jüdische Männer ihren Bart nicht oder (je nach Auslegung) nur mit einer Schere trimmen (EJ 3 (2007). S. 235 f.). 77 Elliott Horowitz: The Early Eighteenth Century Confronts the Beard. Kabbalah and Jewish Self-Fashioning. In: Jewish History 8 (1994). S. 95–115; Angela Rosenthal: Raising Hair. In: Eighteenth-Century Studies 38:1 (2004). S. 1–16. Vgl. zur Vorgeschichte auch Elliott Horowitz: על משמעויות הביניים ובראשית העת החדשה- במזרח ובאירופה בימי.הזקן בקהילות ישראל. In: Pe’amim 59 (1994). S. 124–148. 78 Adelung 1 (1793). Sp. 1292. 79 Max von Boehn: Das Bühnenkostüm im Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Berlin 1921. S. 374 f. 80 Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Hamburg 1971. S. 170. Zu den Ausstattungsreformen vgl. Hans-Peter Bayerdörfer und Andreas Engelhart: Ausstattungstheater und mise en scène im frühen 19. Jahrhundert. In: Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert. Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer und Eckhart Hellmuth. Münster 2003. S. 45–79. 81 Ludwig Börne: Freimütige Bemerkungen über die neue Stättigkeits- und Schutzordnung für die Judenschaft in Frankfurt am Main, mit besonderer Hinsicht auf die Kritik der Jacobsohnschen Schrift, denselben Gegenstand betreffend [1808]. In: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf 1964. S. 14–72, hier: S. 50. Vgl. zur Frage der Kopfbedeckung verheirateter Frauen die Diskussion von Michael J. Broyde: Hair Covering and Jewish Law. Biblical and Objective (Dat Moshe) or Rabbinic and Subjective (Dat Yehudit)? In: Tradition 42:3 (2009). S. 97–179; Eli Baruch Shulman: Hair Covering and Jewish Law. A Response. In: Tradition 43:2 (2010). S. 73–88; Michael J. Broyde: Hair Covering and Jewish Law. A Response. In: ebd., S. 89–108.
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hundert mit einem Raumindex des Orientalischen und einem Zeitindex des Veralteten versehen. Diese Markierung erlaubt es, jüdische Aufklärung und Emanzipation körperpolitisch in den Referenzsystemen des Orientalismus und des Fortschrittsdenkens zu verhandeln. Wie ich im Folgenden zeigen werde, gelten bartlose, modern gekleidete Juden, die des Deutschen mächtig sind, als schon europäisiert; bärtige polnische Juden hingegen, die Kaftane tragen, gelten als noch halb orientalisch. Ihr Auftreten erscheint im medial vermittelten Bildwissen der Zeit als sichtbares Relikt ihrer Herkunft aus dem biblischen Morgenland. In der Differenz der äußeren Erscheinung von polnischen und deutschen Juden nehmen christliche und jüdische Berliner um 1800 unterschiedliche Zeitschichten wahr. Die polnischen Talmudschüler und -gelehrten, die sich in der preußischen Hauptstadt aufhalten und »nach alt-orientalischer Art beständig in ihre Meditazionen versenkt« seien, 82 gelten als wandelnde Anachronismen, die eine »andere Welt, mitten unter uns« bilden, wie Friedrich Nicolai 1809 in einem Beitrag für die Neue Berlinische Monatsschrift festhält.83 Unter Berufung auf seinen langjährigen Umgang mit Moses Mendelssohn und »andern sehr schätzenswürdigen Israeliten« sowie auf seinen Freund David Friedländer, der ihn »mit Verbesserungen und Beiträgen« unterstützt habe, will Nicolai den L esern von aufklärerischer Warte aus Einblicke in die fremde Welt der »Polnischen Talmudisten« verschaffen.84 Dabei trägt er die Kritik jüdischer Aufklärer an den rabbinischen Eliten in die deutschsprachige Publizistik der Berliner Aufklärung hinein. Gegen die Gewohnheit, polnische Talmudgelehrte in Berliner jüdischen Familien als Hauslehrer anzustellen, hatte schon Naphtali Herz Wessely 1782 in seinem hebräischen Sendschreiben Worte des Friedens und der Wahrheit (דברי שלום ) ואמתpolemisiert (WFW, 131); und auch viele andere Reformer sehen in den polnischen Talmudgelehrten ein Aufklärungshindernis.85 In diesem Fahrwasser erklärt Nicolai: Diese armseligen Polen hatten nichts im Kopfe, als die trockensten Subtilitäten des Talmuds, außer welchen nichts gelten sollte; nebst blindem Eifer für die knechtische Beobachtung der Zeremonialgesetze, und wüthenden Eifer wider jeden Juden welcher sich von ihrer vermeinten
Friedrich Nicolai: Fortsetzung der Berlinischen Nachlese. In: Neue Berlinische Monatsschrift 11:1 (1809). S. 352–362, hier: S. 361. 83 Ebd., S. 353. Vgl. auch Ulrike Schneider: Friedrich Nicolais Perspektive(n) auf die Berliner Juden und die jüdische Aufklärung. In: Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Hg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013. S. 297–314. 84 Nicolai: Berlinische Nachlese. 1809. S. 353 f. 85 So beklagt Isaac Euchel 1784 in einem Schreiben an den dänischen König, dass die jüdische Nation die Lehrer ihrer Kinder ausgerechnet unter den Polen – »den rohesten Menschen aus dem rohesten Theil Europens« – suche (CCN, 239); Wolf Davidsohn lobt 1798, dass die jüdische Jugend zunehmend den Händen der »rohen und ungebildeten Polen« entrissen werde (CCN, 348). 82
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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Orthodoxie im geringsten zu entfernen wagte, wobei ihnen die damaligen Rabbiner zu Berlin treu beistanden.86
Nicolai lässt keinen Zweifel daran, dass die polnischen Juden – ähnlich wie die Katholiken in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz, deren Rückständigkeit er in einer mehrbändigen Reisebeschreibung (1783–1795) mit Entsetzen beschrieben hatte87 – all das verkörpern, wogegen die (protestantische) Aufklärung ankämpft: Zu diesem »immer noch halb Orientalischen Volke« habe, bedauert Nicolai, »Europäische Kultur noch nicht durchdringen« können.88 Die polnischen Juden personifizieren mit ihrer vielbeschworenen talmudischen Spitzfindigkeit das Feindbild einer vernunftwidrigen und vormodernen Kasuistik;89 und sie repräsentieren einen rauen, barbarischen Entwicklungsstand.90 Zwischen den »schätzenswürdigen Israeliten« Berlins und den zugewanderten polnischen Juden liegt dieser Darstellung zufolge der lange Weg der (jüdischen) Aufklärung, die als Europäisierung eines ›immer noch halb orientalischen Volkes‹ propagiert wird. In diesem Sinne verweist Nicolai auf den berühmtesten jüdischen Lebensweg, der im 18. Jahrhundert vom polnisch-litauischen Schtetl ins großstädtische Berlin führt,91 und empfiehlt seinen Lesern die Autobiographie von Schlomo ben Josua, der sich einen Namen als Salomon Maimon gemacht hat, als ein »höchst lehrreiches Beispiel« dafür, »wie sich die Begriffe nach und nach entwickeln, aufklären und modifiziren, wenn ein guter Kopf, dem die talmudische Gelehrsamkeit und das Disputiren darüber vorher Alles war, zu bessern Kenntnissen zu reisen anfängt.«92 An Maimons Beispiel soll im Folgenden die körperpolitische Dimension in den Spannungen zwischen polnischen und deutschen Juden genauer nachverfolgt werden. Als der junge Talmudgelehrte Schlomo ben Josua 1780 nach Berlin gelangt, begegnet er Berliner Glaubensgenossen wie dem Philosophen und Mathematiker 86
Nicolai: Berlinische Nachlese, 1809. S. 356 f. Manuel Borutta: Der innere Orient. Antikatholizismus als Orientalismus in Deutschland, 1781–1924. In: Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Hg. von Monica Juneja und Margrit Pernau. Göttingen 2008. S. 245–274, bes. S. 247–249. 88 Nicolai: Berlinische Nachlese, 1809. S. 353. 89 Uta Lohmann: David Friedländer. Reformpolitik im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Kontexte des preußischen Judenedikts vom 11. März 1812. Hannover 2013. S. 185–230; vgl. zu den Methoden der Talmudauslegung (›Pilpul‹) und innerjüdischen Polemiken gegen dieselben Schatz: Sprache in der Zerstreuung, 2009. S. 76–82. 90 Der Erlanger Philosophieprofessor Johann Andreas Ortloff charakterisiert 1801 in einer Würdigung Mendelssohns noch einmal die Polen als Feindbild der Aufklärung: »Menschen aus einem fernen, uncivilisirten Lande, Leute in den gröbsten Vorurtheilen versunken, vom Aberglauben angesteckt, vom Dunst der Mystik umnebelt, in Sitten und Gebräuchen von den Teutschen ganz verschieden« (CCN, 387). 91 Vgl. zuletzt Joseph Wälzholz: Der asoziale Aufklärer. Salomon Maimons »Lebensgeschichte«. Göttingen 2016. 92 Nicolai: Berlinische Nachlese, 1809. S. 355 f. 87
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Lazarus Bendavid,93 die auf damaligen Bildnissen als bartlose Männer in modern geschnittener Kleidung erscheinen (Abb. 9). In einen Kaftan gekleidet, mit ungetrimmtem Vollbart, ist Schlomo ben Josua in Kontrast dazu bei seiner Ankunft in Berlin deutlich als zugewanderter Jude aus Polen-Litauen zu erkennen, der in Berlin strengen Aufenthaltsregulierungen unterliegt. Bald aber ändert er nicht nur seinen Namen, sondern auch sein äußeres Erscheinungsbild. Bendavid berichtet, dass die Freunde Maimons befürchteten, »sein Aeußeres und sein Mangel an Geschmack« könnten seinem Fortkommen hinderlich sein. In einem Akt der »Metamorphose« habe Maimon unter ihrem Einfluss seinen Bart scheren lassen; sein »polnischer Anzug« habe einer »deutschen Kleidung« weichen müssen. Das Titelporträt zu Maimons Lebensgeschichte (1792/93), so Bendavid, zeige das Ergebnis dieser bewussten Verwandlung (Abb. 10). Allerdings bedauert er, dass Maimon »sein geistreiches Ansehen so karrikaturartig und zurückschreckend umgestaltet« habe. Maimons innere Bildung nämlich habe mit dieser äußeren Radikalumwandlung nicht Schritt halten können, und so habe er es letztlich niemandem Recht machen können: »Der Orthodoxe nahm Aergerniß daran, daß er sich den Bart hatte abschneiden laßen; der Aufgeklärte daran, daß er M[aimon] auf falschem Wege fand; der Weltmann daran, daß er in dem äusserlich deutschen Maimon, den Polen, um so greller konstrastirend, erblickte«.94 Aus rabbinischer Sicht verstößt Maimon gegen ein Gebot des Judentums, aus aufklärerischer Sicht ist die eilfertige Umwandlung seines Äußeren ein unbedachtes Zugeständnis an die oberflächlichen Konventionen der Galanterie, und aus galanter Sicht wiederum ist Maimons äußerliche Politur auf groteske Weise unvollständig. Durch seine ›Metamorphose‹ gerät Maimon mithin in eine prekäre Zwischenposition. Damalige Berichte verraten eine starke Faszination für die Inkongruenzen im Auftreten Maimons, die als Rückfälle in frühere Verhaltensmuster wahrgenommen werden: Daß Maimon noch vieles aus seinen früheren Jahren anhing, haben die, die mit ihm umgegangen sind, oft zu bemerken Gelegenheit gehabt. Ich rechne hierher das heftige Aufbrausen, selbst bei höchst unbedeutenden Dingen. Bei dergleichen Gelegenheiten sprach er ganz jüdisch-polnisch, wenn er auch mit Nichtjuden in dieser Art zusammengerieth, so daß er, dem zum erstenmal von dem Philosophen Maimon dies widerfuhr, ganz betroffen da stand. […] Eben so hatte Maimon die Gewohnheit von dem talmudistischen Studium übrig, daß er nicht selten im Gespräch die dabei üblichen Gestikulationen, nicht nur mit den Händen, sondern mit dem ganzen Körper machte. Dieses geschah fast immer, wenn er nicht aufmerksam genug auf sich war. […] So hat er z. B. Euler’s mathematische Werke und mehrere andere Schriften, 93 Vgl. zu ihm Schulte: Die jüdische Aufklärung, 2002. S. 107–114; Dominique Bourel: Eine Generation später. Lazarus Bendavid (1762–1832). In: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Hg. von Michael Albrecht u. a. Tübingen 1994. S. 363–380. 94 Lazarus Bendavid: Ueber Salomon Maimon. In: National-Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Gewerbe in den preußischen Staaten 1 (1801). S. 88–104, hier: S. 98–100.
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
Abb. 9: Lazarus Bendavid (1806).
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Abb. 10: Salomon Maimon (1792).
(die mit der größten Aufmerksamkeit gelesen werden müssen) mit talmudistischem Singsang und Bewegung des Körpers studirt.95
Maimons Entwicklung vom polnischen ›Talmudisten‹ zum deutschen ›Philosophen‹ erfordert dieser Darstellung zufolge ein strenges Körperregiment, das permanenter Selbstkontrolle bedarf: Sobald Maimon »nicht aufmerksam genug auf sich« sei, weiß Sabattia Joseph Wolff, verzerren die im Talmudstudium erlernten »Gesticulationen« die gemäßigte und verfeinerte Körpersprache, die im bürgerlichen Umgang der Berliner Spätaufklärung für angemessen erachtet wird, und der jiddische Dialekt verzerrt das mühsam angeeignete Hochdeutsch. Wolffs Schilderung dramatisiert die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im grotesken Rückfall des metamorphosierten Körpers in alte Muster. Maimons Körper wird so zu einem Kampfplatz der Aufklärung stilisiert, auf dem das Licht der Erkenntnis gegen die Finsternis des Aberglaubens antritt und rohe Sitten durch ästhetische Bildung verfeinert werden. Vor diesem Hintergrund erst erklärt sich die Vehemenz, mit der die Erscheinung polnischer Juden in der preußischen Hauptstadt diskutiert wird. Sie verkörpern nicht nur das von emanzipierten Juden Überwundene, sondern das überhaupt im Prozess der europäischen Aufklärung Überwundene. Am Umgang mit Maimons Aufsteigerbiographie lässt sich zeigen, inwiefern das Projekt der 95 Sabattia Joseph Wolff: Maimonia oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimons [1813]. Hg. von Martin L. Davies und Christoph Schulte. Berlin 2003. S. 57 f.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Aufklärung als ein europäisches Zivilisierungsprojekt verstanden und betrieben wird. Der Prozess der Civilisation ist im Zeichen aufklärerischen Perfektibilitätsglaubens – wie die damaligen Synonyme Policierung und Politur anzeigen – im Sinne einer Verfeinerung von Sitten und Manieren zu verstehen, die den Menschen über den Naturzustand erheben und mit einer durch Kunst und Wissenschaft bewirkten persönlichkeitsbildenden Verfeinerung von Geist und Moral (Cultur) einhergehen soll.96 Am Kontrast zwischen deutschen und polnischen Juden nun kann die zivilisatorische Dimension der Aufklärung kulturtopographisch als ›abendländische‹ dramatisiert werden,97 denn der Weg von Polen-Litauen nach Berlin ist als ein Weg von Osten nach Westen an die Neuordnung der topischen Landkarte Europas in der Aufklärungszeit anschlussfähig, die Osteuropa als eine halb-barbarische Region zwischen dem kultivierten Europa und dem wilden Asien platziert.98 Maimon selbst inszeniert seine Lebensgeschichte in diesem Sinne als Ausgang aus der Barbarei,99 wenn er die Wiederbegegnung mit seiner Ehefrau schildert, die zu ihm reist, um ihn zurückzuholen. Sie – ein »Frauenzimmer von rauher Erziehung und Lebensart, aber von sehr vielem Bon-Sens und Amazonenmuth« – habe nicht die Unmöglichkeit einsehen können, daß ein Mann von meiner Art, der sich schon seit einigen Jahren in Deutschland aufgehalten, sich von den Fesseln des Aberglaubens und der Religionsvorurtheile glücklich los gemacht, seine rohe Sitten und Lebensart abgelegt, und seine Kenntnisse um Vieles erweitert hatte, freiwillig wieder in den vorigen barbarischen und elenden Zustand sich zurückbegeben, aller
96 Hannelore Hilgers-Schell und Helga Pust: Culture und civilisation im Französischen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Bd. 3. Hg. vom Sprachwissenschaftlichen Colloquium (Bonn). München 1967. S. 1–97; Michael Pflaum: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. In: Europäische Schlüsselwörter. Bd. 3 (1967). S. 288–427, bes. S. 294–307. 97 Durch den Begriff der Zivilisation suche die abendländische Gesellschaft, so Norbert Elias, »zu charakterisieren, was ihre Eigenart ausmacht, und worauf sie stolz ist: den Stand ihrer Technik, die Art ihrer Manieren, die Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis oder ihrer Weltanschauung und vieles andere mehr« (Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische Ursachen und psychogenetische Untersuchungen [1939/69]. Bd. 1. Frankfurt am Main 1976. S. 2; vgl. auch ebd., S. 63 f.). 98 Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford, CA 1994; Hans-Jürgen Bömelburg: Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011, bes. S. 78–88. Karl Emil Franzos hat diese Vorstellung später mit seinem äußerst erfolgreichen Erzählband Aus Halb-Asien (1876) auf ein Schlagwort gebracht und der »slavisch-jüdisch-rumänischen Osthälfte« Europas, die auf der Grenze zur »asiatischen Barbarei« liege, dringend Bildung durch die »lateinisch-germanische Westhälfte« Europas angeraten (Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Süd rußland und Rumänien. Bd. 1. Leipzig 1876. S. vif.). 99 Vgl. zu den paradoxen Implikationen dieser Selbstinszenierung Abraham P. Socher: The Radical Enlightenment of Solomon Maimon. Judaism, Heresy, and Philosophy. Stanford, CA 2006, bes. S. 4 –9.
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erworbnen Vortheile sich berauben, und der rabbinischen Wuth sich, bei der kleinsten Abweichung vom Zeremonialgesetz und bei Aeußerung eines freien Gedankens, aussetzen sollte.100
In Maimons autobiographischer Inszenierung trifft die Amazone aus dem barbarischen Osten auf den in Sitten und äußerer Erscheinung verfeinerten und gebildeten Aufklärer, der sich von den »Fesseln des Aberglaubens« befreit hat. Mit der Schilderung dieser Begegnung vermittelt Maimon sein eigenes Selbstverständnis im Erfahrungsmodell der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen; seine ›Metamorphose‹ erscheint als Befreiung aus einem »barbarischen und elenden Zustand« und steht damit pars pro toto für den zivilisatorischen Prozess der Aufklärung insgesamt, durch den sich Zentraleuropa vom ›barbarischen‹ Osten abheben soll.101 Dieses Denkmuster strukturiert nicht nur Maimons Darstellung seiner Privatverhältnisse, sondern auch seine – freilich eigenwillige102 – Position in den innerjüdischen Macht- und Richtungsstreitigkeiten der Zeit. Wenn er sich in seiner Lebensgeschichte zum Freidenker stilisiert, der sich nicht mehr sklavisch an das »Zeremonialgesetz« halte und sich vor der »rabbinischen Wuth« nicht mehr fürchte, dann ruft er den Konkurrenzkampf zwischen der etablierten rabbinischen Elite und der jungen Elite der Maskilim als Streit zwischen einer östlich-rückständigen und einer westlich-fortschrittlichen Partei auf.103 In der Bildund Textwelt des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird dieser Konkurrenzkampf, wie ich nun an einer Beispielkonstellation nachzeichnen werde, mittels einer Körper- und Kleidungspolitik ausgetragen, die orientalistisch organisiert ist. Für die Zeitgenossen repräsentieren der Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn (1729–1786) und der Prager Oberrabbiner Ezechiel Landau (1713–1793) den Konflikt zwischen maskilischer und rabbinischer Elite,104 seit in den 1780er Jahren Gerüchte die Runde machen, der Prager Rabbiner habe Mendelssohns deut-
100 Salomon Maimon: Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben. Hg. von Karl Philipp Moritz. Bd. 2. Berlin 1793. S. 246 f. 101 Vgl. auch die Briefe von Marcus Herz und Salomon Maimon vom 7. April 1789 an Immanuel Kant. Herz stellt Maimon als einen der ehedem »rohesten polnischen Juden« vor, der sich »durch sein Genie, seinen Scharfsin und Fleiß auf eine außerordentliche Weise in fast alle höhere Wissenschafften hineingearbeitet« habe. Maimon selbst bedauert, er habe die besten Jahre seines Lebens »in den litthauischen Wäldern« verlebt (Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 2. Bd. 2. Berlin 1922. S. 14–18). 102 Gideon Freudenthal: Rabbinische Weisheit oder Rabbinische Philosophie? Salomon Maimons Kritik an Mendelssohn und Weisel. In: Mendelssohn-Studien 14 (2005). S. 31–64. 103 Die jüdische Reformbewegung macht sich im 19. Jahrhundert das Schlagwort asiatischer Rückständigkeit in ihrem Kampf gegen das etablierte Rabbinat zu Eigen. Vgl. z. B. Der Orient 1:17 (1840). S. 129; Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts 7:12 (1846). S. 94; Protokolle und Aktenstücke der der zweiten Rabbiner-Versammlung. Frankfurt am Main 1845. S. 217. 104 Mordechai Breuer: Das Bild der Aufklärung bei der deutsch-jüdischen Orthodoxie. In: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht. Hg. von Karlfried Gründer und Nathan Rotenstreich. Heidelberg 1990. S. 131–142.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
sche Tora-Übersetzung mit einem Bann belegt.105 Ungeachtet des Umstands, dass Mendelssohn und Landau selbst jeweils moderate, vermittelnde Positionen vertreten, werden sie zu Symbolfiguren des Gesamtkonflikts stilisiert.106 Eine Gegenüberstellung von Porträts Mendelssohns und Landaus verdeutlicht, dass diese Stilisierung auch eine bild- und körperpolitische Dimension besitzt. Mendelssohn wird in einem Kupferstichporträt, das Johann Friedrich Bause 1772 nach einem Gemälde von Anton Graff angefertigt hat, mit einem sehr schmalen Backenbart, einer Perücke als Kopfbedeckung und moderner Kleidung in einem ovalen, lorbeerumkränzten Steinrahmen dargestellt, der Klassizität vermittelt (Abb. 11). Landau erscheint in einem von Joseph Sebastian Klauber angefertigten Porträt mit langem Bart, kostbarem Kaftan und einer hohen Pelzmütze (Abb. 12). Das äußere Erscheinungsbild dieser beiden zu Kontrahenten stilisierten Geistesgrößen vergegenwärtigt unterschiedliche Verhältnisse zur nichtjüdischen Umwelt, die um 1800 kontrovers diskutiert werden. Jahrhundertelang habe es in der Judenschaft keinen Anlass zu Reformen gegeben, rekapituliert David Friedländer in einer Schrift aus Anlass des Edikts von 1812. Die Juden seien »als Fremdlinge betrachtet und behandelt« worden; man habe sie nur geduldet und darauf beharrt, »sie gehörten nach Palästina hin.« Dies sei auch die Auffassung der Juden selbst gewesen; und so habe »die Absonderung auch in Sitten, Sprache, Cerimonien, Gesetzen und in manchen Ländern, z. B. in Polen, selbst in den Kleidern« fortgedauert und dazu geführt, dass die Juden sich in ihrem Äußeren »bis zur Karikatur« von ihrer Umgebung unterschieden. Im Zuge der Aufklärung aber, so fährt Friedländer mit Pathos fort, wurde der Jude »nicht mehr als Fremdling betrachtet, und hörte auf Fremdling zu seyn.«107 Für diesen Prozess steht Moses Mendelssohn mit seiner Kleidung und seiner Frisur ein; an ihn will Friedländer anschließen. Nachdem inzwischen die auffallendsten Differenzen getilgt seien, müsse die Erziehung nun »allen Unterschied im äußern 105 Vgl. zur diskursiven Funktion solcher Gerüchte Andreas Gotzmann: Rabbiner und Bann. Zur Problematik der Analyse und Bewertung zweier Topoi des aufklärerischen Diskurses. In: Aschkenas 4:1 (1994). S. 99–125. 106 Alexander Altman: Moses Mendelssohn. A Biographical Study [1973]. London/Portland, OR 1998. S. 381–383 und S. 396–398; Sharon Flatto: The Kabbalistic Culture of Eighteenth Century Prague. Ezekiel Landau (the ›Noda Biyehudah‹) and his Contemporaries. Oxford/Portland, OR 2010. S. 70–75. Vgl. zu Landau auch Pavel Sládek: Ezekiel Landau (1713–1793) – a Political Rabbi. In: The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Hg. von Ivo Cerman u. a. Oxford 2011. S. 233–251 sowie EJ 12 (2007). S. 459–461; BHR 1.2 (2004). S. 558–561. Vgl. zur schwierigen Quellen- und Rezeptionslage des Konflikts Moshe Samet: נ“ה וייזל ורבני דורם, מ‘ מנדלסון. In: ישראל-ישראל וארץ-מחקרים בתולדות עם. Hg. von A. Gilboa u. a. Bd. 1. Haifa 1970. S. 233–257. 107 David Friedländer: Ueber die, durch die neue Organisation der Judenschaften in den Preußischen Staaten nothwendig gewordene, Umbildung ihres Gottesdienstes in den Synagogen, ihrer Unterrichts-Anstalten, und deren Lehrgegenstände, und ihres Erziehungs-Wesens überhaupt [1812]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 227–238, hier: S. 231. Zur Reaktion der jüdischen Gemeinden auf diese Schrift vgl. Lohmann: Friedländer, 2013. S. 389– 398.
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
Abb. 11: Moses Mendelssohn (1772).
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Abb. 12: Ezechiel Landau (1793).
Ansehn, in Sprache, Dialect, Kleidung und so weiter« aufheben, der die Juden bisher zu ihrem Nachteil markiere.108 Mit solchen Forderungen nach einer Tilgung aller Fremdheitsmarkierungen vollzieht das aufklärerische und reformerische Lager einen Bruch mit dem überkommenen Selbstverständnis der Judenschaften in Europa als einer Gemeinschaft im Exil, die auf die Erlösung durch den Messias und die Rückkehr nach Zion wartet, die mithin in der Fremde lebt und in der Fremde leben muss.109 Ebendieses Selbstverständnis aktualisiert Landau 1782 in seiner hebräischen Predigt am Schabbat vor Pessach, gegen Wesselys pädagogisches Sendschreiben gewendet, nachdrücklich unter Rückgriff auf das biblische Narrativ des Auszugs aus Ägypten. Wenn auch der jetzige Kaiser – Joseph II. – barmherziger sei als der Pharao, blieben die Juden doch Sklaven: »Denn wir sind bloß Fremde [«]כי אנחנו רק גרים.110 Landau verwendet hier mit ger ( )גרeine Bezeichnung, mit der in der Tora zu einer freundlichen Behandlung von Fremden aufgerufen wird, da die Israeliten selbst »Fremdlinge in Ägyptenland [גרים הייתם בארץ מצרים-«]כי gewesen seien (Exodus 22,20). Im Unterschied zum ›Ausländer‹ ()נכרי, der sich 108
Friedländer: Über die Umbildung der Judenschaften, 1812. S. 233. Steven M. Lowenstein: Two Silent Minorities. Orthodox Jews and Poor Jews in Berlin 1770– 1823. In: LBI YB 36 (1991). S. 3–25, hier: S. 5 f. 110 Ezechiel Landau: דרושי הצל“ח. Jerusalem 1966. S. 105; deutsche Übersetzung zitiert nach WFW, 416. 109
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
nur vorübergehend im Land aufhält und keine Rechte besitzt, lässt sich der alttestamentliche Terminus ger ( )גרauch mit ›Schutzbürger‹ wiedergeben und bezeichnet auf Dauer im Land ansässige Personen, die mit bestimmten Rechten ausgestattet sind.111 Insofern ist die von Landau gewählte Bezeichnung der juristischen und sozialen Sonderstellung der Juden, die zu dieser Zeit in Preußen und im Habsburger Reich besteht, durchaus angemessen. Während die jüdischen Aufklärer und Reformer auf die Minimierung von Fremdheit zwischen den Juden und ihrer Umgebung und auf eine rechtliche Gleichstellung abzielen, verteidigen ihre jüdischen Gegner und Kritiker ebendiese Fremdheit und ihre juristische Teilautonomie als abgrenzendes Definitionselement jüdischer Gemeinschaft. In Klaubers Porträt steht Landau dafür mit seinem äußeren Erscheinungsbild ein. Mit Kaftan, Pelzmütze und Bart hält der Prager Oberrabbiner an seiner »Absonderung […] selbst in den Kleidern« und damit an einer in Friedländers Augen veralteten Segregation fest, während Mendelssohn sein äußeres Erscheinungsbild dem damaligen Zeitgeschmack der nichtjüdischen Umgebung anpasst. In der bildlichen Repräsentation der beiden bedeutendsten jüdischen Orientierungsfiguren des 18. Jahrhunderts, Mendelssohn und Landau, werden mithin divergierende Umgangsweisen mit den Herausforderungen der Zeit – Anpassung einerseits, Abgrenzung andererseits – körperpolitisch verhandelt. Anhand einer vielstufigen intertextuellen und interbildlichen Verweiskonstellation werde ich nun herausarbeiten, wie diese Differenzen des Erscheinungsbilds in der hebräischen Haskala-Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts genutzt werden, um die Konflikte kulturellen Wandels im Referenzsystem des Orientalismus zu verhandeln. 1793 unternimmt der Schriftsteller Josef Ha-Efrati aus Tropplowitz (Schlesien) einen Versuch, die beiden Parteien der maskilischen und rabbinischen Elite – personalisiert in Mendelssohn und Landau – programmatisch miteinander zu versöhnen. Für sein hebräisches Gedenkbüchlein Klageeiche ()אלון בכות, das er anlässlich des Todes Landaus veröffentlicht,112 greift er die frühaufklärerische Modegattung des Totengesprächs mit einer Jenseits-Vision auf.113 Die Seele Lan daus schwebt, so die Ausgangssituation, vor dem Eingang des Gartens Eden, als die Seele Mendelssohns vor ihr erscheint: »Und siehe«, heißt es bei Efrati, »die 111
EJ 19 (2007). S. 241 f. Josef Ha-Efrati: אלון בכות. Wien 1793. 113 Hansjörg Schelle: Totengespräch. In: RLG 4 (1984). S. 475–513, bes. S. 505–511; Gernot Krapinger: Totengespräch. In: HWdRh 10 (2012). Sp. 1308–1316; John Rutledge: The Dialogue of the Dead in Eighteenth-Century Germany. Bern/Frankfurt am Main 1974. Wenig später greift auch Aaron Wolfssohn dieses Genre auf, als er ein satirisches Streitgespräch zwischen Maimonides, Mendelssohn und einem Rabbiner, der durch Anspielungen als Landau erkennbar ist, unter dem Titel Gespräch im Lande der Lebenden ( )שיחה בארץ החייםveröffentlicht. Vgl. Jutta Strauss: Aaron Halle Wolfssohn. Ein Leben in drei Sprachen. In: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns. Hg. von Anselm Gerhard. Tübingen 1999. S. 57–75, hier: S. 73 f.; Moshe Pelli: In Search of Genre. Hebrew Enlightenment and Modernity. Lanham, MD 2005. S. 213–244. 112
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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Abb. 13: Eröffnungsseite (Ausschnitt) aus Efratis Klageeiche (1793).
Seele des Raw erkannte sie, fiel ihr um den Hals und umarmte sie [ויהי כי הכירה נפש ותפול על צוארה ותחבקנה,]הרב אותה.«114 Diesen emotionalen Moment der Begegnung und Umarmung, der ein Versöhnungsgespräch zwischen den beiden Kontrahenten einleitet, bringt die Titelillustration ins Bild (Abb. 13).115 Die Inscriptio über diesem Bild markiert die Szene zwischen Landau und Mendelssohn mit einem Zitat als Aktualisierung der biblischen Begegnung zwischen Aaron und Mose am Berg Horeb: »Und er [Aaron] ging hin und begegnete ihm [Mose] am Berge Gottes und küsste ihn [«]וילך ויפגשהו בהר האלהים וישק לו (Exodus 4,27). In der Exodus-Erzählung bildet diese Szene eine Art narratives Scharnier zwischen der Berufung Moses und den künftigen Geschehnissen, die zum Auszug aus Ägypten führen. Am Berge Horeb konstituieren Mose und Aaron ihre Doppelführerschaft der Israeliten (Exodus 4,29). Schon im biblischen Zusammenhang erscheint diese Begegnung als Zusammentreffen zweier Reprä114 Übersetzung zitiert nach Andrea Schatz: Ein Treffen auf halbem Wege. Mendelssohn und Ezechiel Landau in einem Pentateuch zwischen Berlin und Prag. In: Kalonymos 3:1 (2000). S. 7–9, hier: S. 9. 115 Vgl. zu diesem Bild im Kontext der Mendelssohn-Ikonographie auch Richard I. Cohen: )2014–1771( ממשה עד משה לא נראה כמשה – לדיוקנו ההיסטורי של משה מנדלסון. Ramat-Gan 2014. S. 16–18.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
sentanten unterschiedlicher Traditionen, zwischen denen ein Ausgleich stattfindet.116 Das macht Efrati sich für sein Gedenkbüchlein zunutze. Unabhängig von der Frage, ob er selbst das Bild in Auftrag gegeben oder es einem anderen Publikationskontext entnommen hat, fügt es sich gut seinen Absichten: Wie Mose und Aaron in brüderlicher Eintracht die Israeliten als Volk aus ägyptischen Frondiensten befreit haben, so qualifizieren sich Mendelssohn und Landau in Efratis bildtextlichem Versöhnungsprogramm als legitime Vorbilder für eine moderate Aufklärung, die den innerjüdischen Dissens überwindet. Nun bezieht sich die Bild-Text-Kombination in Efratis Klageeiche aber nicht direkt auf die Tora, sondern ist über die bedeutendste hebräische Bibelnachdichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts vermittelt: Naphtali Herz Wesselys Mose-Epos in achtzehn Gesängen ()שירי תפארת, das ab 1789 im Druck erscheint (Kap. 3.2.1). Ein von Peter Haas nach einer Zeichnung von Carl Bach gestochenes Kupfer ziert 1790/91 den fünften Gesang dieses Epos (Abb. 14).117 Es zeigt Mose und Aaron in Umarmung und ist – allerdings von unsicherer Hand gestochen statt in Lettern gesetzt – mit derselben Bildunterschrift aus Exodus 4,27 versehen wie die Illustration zu Efratis zwei Jahre später publizierter Klageeiche. Dass Efrati mit diesem Bild-Text-Zitat ausgerechnet in einem Gedenkbüchlein für den verstorbenen Prager Rabbiner Landau einem Vorbild der Maskilim seine Reve renz erweist, ist durchaus pikant zu nennen. Wessely nämlich gilt zu dieser Zeit aufgrund seiner hebräischen Sendschreiben Worte des Friedens und der Wahrheit ()דברי שלום ואמת, die ab 1782 mit radikalen pädagogischen Forderungen Furore gemacht hatten, neben Mendelssohn als der zweite große Kontrahent Landaus.118 Mittels einer raffinierten intertextlichen und interbildlichen Verweisstruktur lagert Efrati also drei Bedeutungsschichten übereinander, um den innerjüdischen Dissens zwischen maskilischer und rabbinischer Elite einer Aussöhnung zuzuführen: Hinter der explizit abgebildeten Begegnung zwischen Mendelssohn und Landau inszeniert er paratextuell eine Begegnung zwischen Wessely und Landau, und beide wiederum sind bezogen auf das biblische Muster der Begeg-
Werner H. Schmidt: Exodus. 1. Teilband: Exodus 1–6. Bd. 2.1 von Biblischer Kommentar. Altes Testament. Hg. von Siegfried Herrmann u. a. Neukirchen-Vluyn 1988. S. 235–240. 117 Naphtali Herz Wessely: חבור כולל שמונה עשר שירים. שירי תפארת. Bd. 2. Berlin 1790/91. S. 1a. Wesselys Sohn übernimmt dieses Bild in Naphtali Hartwig Wessely: Die Moseide in achtzehn Gesängen. Uebersetzt nach dem hebräischen Originale von dem Herrn Senior Hufnagel, dem Herrn Professor Spalding, und dem Herausgeber Emanuel Wessely. Bd. 2. Hamburg 1806. S. 1. 118 Feiner: Haskala, 2007. S. 179–208. Deutsche Übersetzungen einer Predigt und mehrerer Briefe Landaus gegen Wessely sind zu finden in WFW, 415–425, 576 f. und 589–593. Wie für Mendelssohn und Landau gilt auch für Wessely, dass seine Position weniger eindeutig war, als manche Stilisierung vermuten lässt. Vgl. Edward Breuer: Naphtali Herz Wessely and the Cultural Dislocations of an Eighteenth-Century Maskil. In: New Perspectives on the Haskalah. Hg. von Shmuel Feiner und David Sorkin. London/Portland, OR 2001. S. 27–47; Pelli: The Age of Haskalah, 1979. S. 113–130. 116
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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Abb. 14: Eröffnungsseite (Ausschnitt) des fünften Gesangs von Wesselys Shirei Tiferet (1790/91).
nung zwischen Mose und Aaron. Diese wiederum wird in Wesselys Epos als eine west-östliche poetisiert: נזר קודש לקראת עטרה מה נעמו ולעת האיר משה מקדם כאור שמש נגה אהרון מים כנוגה הירח על הר האלוהים איש את אחיהו פגשו 119 שמח לב אהרון אל אחיו וישקהו Herrlich, wie zur Fürstenkrone himmlische Verklärung tritt, Schreitet nun aus Osten Mose, feurig, wie der Sonne Gluth, Während, wie des Mondes Licht, Aron sanft dem West entwallt. Am Gottesberg begegnet sich das hohe Bruderpaar. Wie freute Aron sich des Bruders! Wie herzlich küßt er ihn!120
Mose kommt aus dem östlichen Midian ()מקדם, Aaron aus dem westlichen Ägypten ()מים. Wie der Glanz göttlicher und weltlicher Herrschaft (symbolisiert in heiliger und fürstlicher Krone), wie Sonne und Mond, wie Ost und West sich gegenseitig spiegeln und in ihrer Wirkung steigern, so treffen in Wesselys poetischer Verdichtung der zukünftige Prophet Mose und der zukünftige Priester Aaron aufeinander. Im Hebräischen durch einen Parallelismus des zweiten und dritten Wessely: שירי תפארת. Bd. 2 (1790/91). S. 35b [sechster Gesang]. Wessely: Die Moseide in achtzehn Gesängen. Bd. 2 (1806). S. 52.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Verses betont, erscheint in Wesselys Epos die Doppelführerschaft Moses und Aarons im west-östlichen, heilig-weltlichen Licht kosmischer Verklärung. In der Titelillustration zu Efratis Klageeiche wird diese Konstellation für die gegenwärtige gleichzeitig-ungleichzeitige Lage der Juden aktualisiert, indem die west-östlichen Koordinaten des biblischen Wahrnehmungshorizonts auf den innerjüdischen Konflikt zwischen rabbinischer und maskilischer Elite übertragen werden: Mendelssohn kommt aus dem westlichen Berlin, Landau aus dem östlichen Prag. Mendelssohn verkörpert in seinem modernen Aufzug mit Justaucorps und Kniehose eine Position der Europäisierung, Landau mit seinem Bart und seinem lang herabwallenden Gewand hingegen gemahnt an Figuren des biblischen Morgenlands, wie sie etwa auf Haas’ Kupfer dargestellt sind. Über eine intermediale Verkettung von Bibelnachdichtung und Bibelzitat wird so eine ikonische Bibelszene in den neuzeitlichen Orientalismus transferiert. Die orientalisch-okzidentalische Differenz bietet ein Bildschema, in dem der symbolträchtige Personalkonflikt zwischen Mendelssohn und Landau als west-östliche Begegnung dargestellt und mit einer historischen Tiefendimension versehen werden kann, die von der biblischen Zeit (Ost) bis ins moderne Europa der Gegenwart (West) reicht. Efratis Text-Bild-Programm offenbart das Harmoniebegehren moderater Maskilim,121 aber auch die damit verbundenen Herausforderungen. Diese treten nicht zuletzt in der unfreiwilligen Komik der Titelillustration hervor. Da der Künstler Mendelssohns kleine Statur und seine Wirbelsäulenverkrümmung treu wiederzugeben bemüht ist, wirkt die Umarmung mit dem großgewachsenen Landau ausgesprochen ungelenk; dieser Eindruck wird noch gesteigert dadurch, dass die Gesichter der beiden versöhnten Kontrahenten durch die halbe Rückenansicht verdeckt sind. In seinen Mängeln lässt sich das Kupfer als Sinnbild dafür nehmen, wie schwierig es ist, ein in verschiedene Lager gespaltenes Judentum unter den Vorzeichen des neuzeitlichen Orientalismus in einer harmonischen Jenseitsvision zusammenzubringen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die beiden Lager in ihrem Verhältnis zum Orient fundamental unterscheiden. Während reformorientierte Juden sich die historisierenden Denkmuster des neuzeitlichen europäischen Orientalismus aneignen und für ihr eigenes Traditionsverhalten anpassen, sind diese den gesetzestreuen Juden fremd. Für sie ist die Tora kein morgenländisches Dokument aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, sondern die von Gott eingegebene heilige Schrift. Aus halachischer Perspektive ist Mendelssohn, der modern gekleidete und fast bartlose Übersetzer der Tora ins Deutsche, nicht europäisiert und zivilisiert, sondern vom rechten Weg abgekommen; Landau erscheint nicht in 121 Michael K. Silber: The Historical Experience of German Jewry and its Impact on Haskalah and Reform in Hungary. In: Toward Modernity: The European Jewish Model. Hg. von Jacob Katz. New Brunswick/Oxford 1987. S. 107–157, hier: S. 115.
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einem an die biblischen Patriarchen gemahnenden halb-orientalischen Habit, sondern in einem Aufzug, wie er einem angesehenen Oberrabbiner ziemt. Die west-östliche Tiefendimension des auf dem Vorblatt von Efratis Klageeiche ins Bild gesetzten Versöhnungsszenarios entfaltet sich erst aus dem Blickwinkel des neuzeitlichen europäischen Orientalismus; sie ist selbst schon ein Ergebnis des umfassenden jüdischen Traditionswandels, der sich um 1800 ereignet. Wie stark ebendieser Traditionswandel in seiner Bibelbezogenheit durch Historisierungs- und Ästhetisierungsprozesse geprägt ist, wird in der reformerischen Rhetorik Friedländers greifbar. Die Aura des Originalen mit Vokabeln wie ›Urzeit‹, ›Ursprache‹, ›Urwesen‹ und ›Urschrift‹ beschwörend, rühmt der Berliner Politiker und Übersetzer die frühen Gebetformeln der Glanzzeit jüdischer Geschichte im Altertum, die er mit Reinheit und Ursprünglichkeit konnotiert, gegenüber dem verunzierenden »Reim- und Wortgeklingel« der Klagen aus der Diaspora, in der die Gebete »immer geringer an Gehalt, immer abweichender von den reinen Begriffen der Vorzeit« geworden seien.122 In diesem Sinne ruft er 1819 seinen polnischen Glaubensgenossen zu: »Entkleidet unsre heilige Religion, mit Ueberlegung und Ruhe, mit Muth und Umsicht von allen den Umhüllungen, die sie entstellen und beschweren, und die Euch an der Erfüllung Eurer Menschen- und Bürger-Pflichten größtentheils sehr hinderlich sind.«123 In Friedländers Metaphorisierung der Reform als ›Entkleidung‹ lässt sich erahnen, warum die äußere Erscheinung von Juden um 1800 zu einem Politikum wird. An ihrem Auftreten werden die grundlegenden Fragen des Emanzipationsdiskurses im Horizont aufklärerischen Geschmacks verhandelt. Mit der Forderung nach einer ›Entkleidung‹ von Kaftanen, Bärten, Gesten und Sprechweisen manifestieren reformorientierte Juden ihren Willen zu einem Traditionsumbau im Zeichen moderner Ästhetik und orientalistischer Ursprungsbezogenheit. Dass um 1800 die Aufspaltung von Aschkenas in ein deutsches und ein polnisches Judentum reflektiert und problematisiert wird, ergibt sich, so lässt sich zusammenfassen, aus einer Differenzierung des Traditionsverhaltens: Während die nach der Halacha lebenden Juden ein zyklisch erneuertes religiöses Gedächtnis pflegen, versuchen Maskilim und Reformer, das Judentum im Sinne des modernen dynamisierten Geschichtsbegriffs neu zu bestimmen. Erst aus dieser historisierenden Perspektive, die das Judentum im Referenzsystem des europäischen Orientalismus ausrichtet, lassen sich die sogenannten polnischen Juden als ›halb-orientalische‹ anachronistische Figuren konstruieren und als Abgrenzungsfolie instrumentalisieren, vor deren Hintergrund sich Maskilim und Reformer umso emphatischer von europäischer Warte aus auf den glänzenden morgenländischen Ursprung des Judentums beziehen können. Die polnischen Juden 122
Friedländer: Über die Umbildung der Judenschaften, 1812. S. 229. David Friedländer: Ueber die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen. Ein von der Regierung daselbst im Jahr 1816 abgefordertes Gutachten [1819]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 249–300, hier: S. 268. 123
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sind den deutschen Juden nicht ein Dorn im Auge, weil sie an die orientalische Herkunft des Judentums erinnern, sondern weil sie sich dessen nicht bewusst sind. Indem die deutschen Juden die polnischen Juden zu ›Halb-Orientalen‹ stilisieren, begeben sie sich selbst in die distanzierte Rolle von Orientalisten. Im folgenden Kapitel werde ich der Frage nachgehen, wie diese neue Raum- und Diskursordnung in einem hebräischsprachigen Briefroman verarbeitet wird. 3.1.3 Spiegelungen von Aschkenas in Sefarad Raumordnung und Leseradressierung in Euchels Briefen des Meschullam (1790) 1790 veröffentlicht Isaac Euchel anonym einen kleinen satirischen Text unter dem Titel Briefe des Meschullam ( )אגרות משלםin der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Ha-Me’assef.124 Euchel nimmt zum einen Anleihen bei Friedrich Gedikes Reisebriefen Ueber Berlin. Von einem Fremden, die in den Jahren 1783 bis 1785 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen waren.125 Zum anderen führt mit diesem Fragment das Genre des Briefromans, das im 18. Jahrhundert eine Hochzeit erlebt,126 in die hebräische Literatur ein.127 Als jüdischer Briefroman generieren die Briefe des Meschullam ein spezifisches Verhältnis von Figurenperspektive und Lesepublikum und bieten damit eine ganz eigene Variante des europäischen Reise- und Briefromangenres. Montesquieus Lettres persanes (1721) beziehen ihren Reiz für europäische Leserinnen und Leser aus dem ›anderen Blick‹ orientalischer Reisender auf die scheinbaren Selbstverständlichkeiten des französischen bzw. europäischen Eigenen,128 und ebenso verfährt der Marquis d’Argens mit seinen Montesquieus Modell variierenden, ungemein erfolgreichen Lettres juives (1736/37), Lettres cabba124 Der hebräische Text wird zitiert nach Isaak Euchel: אגרות משלם בן אוריה האשתמועי. In: ders.: Vom Nutzen der Aufklärung. Schriften zur Haskala. Mit den hebräischen Originaltexten. Hg. und übersetzt von Andreas Kennecke. Düsseldorf 2001. S. 177–196. Der Übersetzung von Kennecke (ebd., S. 87–118) ist eine andere vorzuziehen: Isaac Euchel: Die Briefe des Meschullam ben Uria aus Eschtemoa. Aus dem Hebräischen [1790] übersetzt von Andrea Schatz. In: LV, 159–178. 125 Friedrich Gedike: Über Berlin. Briefe »Von einem Fremden« in der Berlinischen Monatsschrift 1783–1785. Kulturpädagogische Reflexionen aus der Sicht der »Berliner Aufklärung«. Hg. von Harald Scholz. Berlin 1987. Die Berlinische Monatsschrift gilt als ein Vorbild für den Me’assef. Vgl. zu diesem Periodikum Peter Weber: Die »Berlinische Monatsschrift« als Organ der Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Auswahl. Hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester. Leipzig 1986. S. 356–452. 126 Vgl. zuletzt Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Hg. von Gideon Stiening und Robert Vellusig. Berlin/Boston, MA 2012. 127 Moshe Pelli: The Epistolary Story in Haskalah Literature. Isaac Euchel’s »Igrot Meshulam«. In: JQR 93 (2003). S. 431–469; Moshe Pelli: In Search of Genre, 2005. S. 83–118. Zu den Briefen des Meschullam im Kontext von Euchels aufklärerischem Zeitschriftenprojekt vgl. Feiner: Haskala, 2007. S. 361–365; Kennecke: Euchel, 2007. S. 397–418. 128 Winfried Weißhaupt: Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der »Lettres persanes« in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. 3 Bde. Frankfurt am Main 1979; Robert Charlier: Montesquieus Lettres persanes in Deutschland – Zur
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listiques (1737/38) und Lettres chinoises (1739/40).129 Euchels Protagonist Meschullam hingegen besucht jüdische Glaubensgenossen und damit verschiedene kulturelle Ausformungen des Eigenen.130 Im Folgenden werde ich herausarbeiten, wie sich vor diesem intertextuellen Hintergrund im Publikationsmedium des Me’assef subtile Gebrauchsmöglichkeiten für den Orientalismus ergeben. Euchels Text, so wird sich zeigen, rekurriert zwar auf die orientalistischen Argumentationsmuster der deutschsprachigen Emanzipationsdebatte, transformiert diese aber im Filter hebräischer Sprache und maskilischer Publikumsadressierung in eine dezidiert jüdische Raumordnung. Der junge Meschullam aus Aleppo begibt sich im Jahre 1769 auf Geheiß seines Vaters Uria ben Eschtemo’i auf eine Bildungsreise nach Europa und berichtet seinem Freund Baruch brieflich von seinen Erfahrungen. Der Herausgeberfik tion nach sind die arabischsprachigen Briefe – sechs Briefe Meschullams sowie je ein Brief seines Vaters und seines Großvaters – ins Hebräische übersetzt und von einem sefardischen Juden an die Herausgeber des Me’assef geschickt worden. Mit Großvater, Vater und Sohn sind in Euchels Briefroman drei Generationen präsent, die sich in ihrem Sprachstil, ihrer Haltung zum Judentum und zur Welt signifikant unterscheiden. Der Großvater repräsentiert ein traditionell-normatives und der Vater ein moderates, mit Ansätzen der Haskala durchsetztes Judentum, Meschullam schließlich verkörpert einen jungen Maskil.131 An der Figur dieses jungen Juden nun verhandelt Euchel die gegen Ende des 18. Jahrhunderts zwischen den Generationen strittige Frage, wie die Traditionen des Judentums mit den Forderungen der Gegenwart vereinbart werden können. Meschullam berichtet seinem Freund Baruch, sein Vater habe ihm vor seiner Abreise befohlen, »die Kleider der Länder des Ostens gegen die Kleider der Einwohner Europas zu vertauschen [«]להחליף בגדי ארצות הקדם בבגדי אנשי אייראפא, um sich den Sitten der von ihm bereisten Länder anzupassen.132 Sein Großvater hingegen habe sich dagegen verwandt, da ein Israelit die Sitten seiner Väter nicht verändern dürfe. Aus Respekt vor seinem Großvater, berichtet Meschullam, habe er seine Reise zwar zunächst »in den Kleidern Ismaels [d. h. der Ismaeliten europäischen Erfolgsgeschichte eines literarischen Musters. In: Montesquieu. Franzose – Europäer – Weltbürger. Hg. von Effi Böhlke und Etienne François. Berlin 2005. S. 131–153. 129 Newell Richard Bush: The Marquis d’Argens and his Philosophical Correspondence. A Critical Study of d’Argens’ »Lettres juives«, »Lettres cabalistiques«, and »Lettres chinoises«. Ann Arbor, MI 1953; Adam Sutcliffe: Judaism and Enlightenment. Cambridge, MA 2003. S. 208–212; Ronald Schechter: Obstinate Hebrews. Representations of Jews in France, 1715–1815. Berkeley, CA u. a. 2003. S. 38–46. 130 Die Unterschiede zu Montesquieus Briefroman arbeitet heraus Pelli: The Epistolary Story in Haskalah Literature, 2003. S. 4 43–462. 131 Ebd., S. 4 40 f.; Feiner: Haskala, 2007. S. 363–365. 132 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 195. Schatz übersetzt »Kleider des Orients« (Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 160). Nicht überzeugen kann an dieser Stelle Kenneckes Übersetzung »Kleider der alten Heimat« (Euchel/Kennecke: Meschulam, 2001. S. 89 f.). Zur Mehrdeutigkeit von qedem als Bezeichnung für Osten/Orient und Urzeit/Vorzeit vgl. Kap. 3.2.3.
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bzw. Muslime] [ «]לבוש בגדי ישמעאלangetreten,133 in Smyrna jedoch »die Kleider der Bewohner Europas [ «]בגדי אנשי אייראפאangelegt. Denn er sei zu der Einsicht gelangt, dass die Kleidungsweise »nicht unter die Gesetze Gottes fällt, sondern sich immer wieder gemäß den Wandlungen des Ortes und der Zeit ändert []המנהג הזה אינו נופל תחת חקי האלהים וישתנה כל פעם כפי השתנות המקום והזמן.«134 Die Entscheidung erweist sich, wie Meschullam später noch einmal betont, als richtig, da er sonst Spott und Hohn der anderen Mitreisenden hätte ertragen müssen und keine Bekanntschaften hätte schließen können. Im Kontext des Me’assef und seines Aufklärungsprogramms ist diese Wendung als normatives Verhaltensmodell zu verstehen: Das Ablegen der orientalischen zugunsten europäischer Kleider lässt sich als performative Umsetzung des Wandlungs- und Erneuerungspotentials verstehen, das dem Aufbruchsmoment einer Reise und den Ambitionen der jüdischen Aufklärung immanent ist. Die Reisebewegung befreit den jungen, gebildeten Juden aus Aleppo von der sozialen Kontrolle der heimischen jüdischen Gemeinschaft und lockert die Verbindlichkeit lokaler Traditionen.135 Dieser Freiheit versucht Meschullams Großvater – in Euchels satirischer Überzeichnung – vorzubauen, indem er ihn brieflich ermahnt, nicht auf die »Nichtigkeiten« großer Städte, ihre schönen Gebäude, Straßen und Parks, zu achten, sondern sich direkt zu Gelehrten zu begeben und die Tora zu studieren.136 Mit dieser Anweisung warnt der Großvater nicht nur vor den Verführungen eines unmoralischen, lustorientierten Lebens, er warnt auch vor einer Rela tivierung überkommener Normen und Gebote. Genau dies aber geschieht in Euchels Briefroman: Das Bereisen verschiedener Gegenden eröffnet ein experimentelles Potential im Sinne der Aufklärung, weil es das vernunftgeleitete Abwägen verschiedener Handlungsmaximen, Bräuche und Traditionen durch Beobachtung und Vergleich ermöglicht. Meschullams Reise vollzieht eine Suchbewegung speziell der jüdischen Aufklärung und folgt deren Erkenntnisinteresse: Seine Beschreibungen verschiedener jüdischer Gemeinden bestätigen im Textverlauf nochmals seine anlässlich der Kleiderfrage gewonnene Einsicht, dass all die verschiedenen Bräuche »sich immer wieder gemäß den Wandlungen des Ortes und der Zeit« ändern und nicht unter die Gesetze Gottes fallen. So widmet Meschullam einen ganzen Brief der Verteidigung des geselligen Zusammenseins von Frauen und Männern in Italien und Spanien, das in seiner syrischen Hei133 Dass Kennecke hier zu der Übersetzung »israelitische Kleidung« gelangt (Euchel/Kennecke: Meschulam, 2001. S. 89 f.), ist wohl auf einen Lesefehler zurückzuführen. 134 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 194 f. Auch hier ist Kennecke ein Fehler unterlaufen (Euchel/ Kennecke: Meschulam, 2001. S. 90), elegant ist hingegen die Übersetzung Euchel/Schatz: Meschul lam, 2005. S. 161. 135 Vgl. sozial- und kulturhistorisch Nimrod Zinger: Away from Home. Travelling and Leisure Activities among German Jews in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: LBI YB 56 (2011). S. 53–78. 136 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 190. Übersetzung Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 165.
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matgemeinde als sittenwidrig verpönt ist.137 Die jüdische Kultur in Spanien und Italien wird hier, vermittelt durch die Reflexionen des reisenden Beobachters, als ein alternatives und modernes Modell für den Umgang der Geschlechter miteinander präsentiert. Das Genre des Reise- und Briefromans erlaubt mit seinen Momenten der Bewegung und des Aufbruchs sowie mit seinen perspektivischen Brechungen eine persönliche und offene Verhandlung von Fragen des Traditionsverhaltens. Mehrmals stellt Meschullam seine eigenen Gedanken zur Diskussion und fragt seinen Briefadressaten Baruch nach dessen Meinung. Damit sind auch die Leser direkt aufgefordert, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie zu den verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung stehen, die Meschullam als Reisender beobachtet und beschreibt. Dieses innerjüdisch relativierende Vergleichsmoment ist für Euchels Aufklärungs- und Reformprogramm zentral, weil er den jüdischen Lesern damit direkte Übertragungsangebote machen kann. In der fiktiven Welt des Briefromans steht das Modell Italien den Umgangsformen des nahöstlichen Judentums entgegen; im aufklärerischen Erfahrungshorizont der Leser dieses Briefromans bietet es sich als Alternative zu den vielgescholtenen ›archaischen‹ Umgangsformen des polnischen Judentums an (Kap. 3.1.2). Diese Überblendung zweier Raumkonstellationen – des fiktiven Erfahrungshorizonts des sefardischen Juden Meschullam und des Erfahrungshorizonts von Euchels mitteleuropäischen jüdischen Lesern – ist ein Schlüssel zum Verständnis des Textes. Als jüdische Bildungsreise im Dienste der Haskala gehorcht Meschullams Reise eigenen (literarischen) Gesetzen, die sich an der Raum- und Zeitstruktur des Textes nachweisen lassen. Die fiktive Welt des Briefromans ist durch eine doppelt dreigliedrige, klimaktische Struktur geordnet. Der Generationenfolge vom Großvater über den Vater zum Sohn korrespondiert eine Trias jüdischer Diasporakultur von der Levante über Spanien bis nach Italien, die der triadischen Reiseund Generationsstruktur einen Zeitindex vom biblischen Altertum über das spanische Mittelalter zur italienischen Gegenwart einträgt. Der Namenszusatz ha-Eschtemo’i von Meschullams Vater Uria zeichnet eine Herkunftslinie nach Eschtemoa, der biblischen Stadt in Judäa, und verweist damit auf die kulturellen Wurzeln der syrischen Juden im biblischen Altertum.138 Aus Syrien kommend, ist eigentlich Italien Meschullams direktes Reiseziel, doch landet das Schiff, aufgrund eines Sturms vom Kurs abgekommen, an der spanischen Küste. Daraus ergibt sich ein Abstecher in die Geschichte Sefarads: Auf Einladung eines Marranen, den er auf der Schiffsüberfahrt kennengelernt hat, verbringt Meschullam einige Wochen in Madrid und lernt dort die letzten Reste der jüdischen Hoch Vgl. ähnlich die Äußerungen des »Fremden« bei Gedike: Über Berlin, 1783–1785. S. 47. Vgl. zu Euchels elaborierter Namenssymbolik Ingrid Lohmann: Euchels Bildungskonzeption. Interkulturelle Koexistenz, Reichtumskritik und Einbruch der Wirklichkeit in eine Erzählung. In: Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung. Hg. von Marion Aptroot u. a. Hannover 2010. S. 167–195, hier: S. 176 f. 137
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kultur kennen, die sich unter arabischer Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel hatte entfalten können. Das christliche Spanien der Gegenwart erscheint demgegenüber als Ort des Schreckens, als »ein Greuel Israels [ «]תועבת ישראלund »Sitz unserer Bedränger von Jahr zu Jahr [«]משכן צוררנו מימים ימימה, an dem jüdisches Leben nur im Verborgenen stattfinden kann.139 Euchel integriert damit das jüdische Gedächtnis in die leyenda negra,140 die das deutsche Wissen über Spanien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bestimmt. Es ist bezeichnend, dass Euchel in seinem Briefroman nicht den überkommenen hebräischen Namen ›Sefarad‹ zur Bezeichnung der Iberischen Halbinsel benutzt, sondern die deutsche Bezeichnung ›Spanien‹ ( )שפאניעןin hebräischen Buchstaben transkribiert. Die sefardische Kultur ist nicht (mehr) an das europäische Land Spanien gebunden, ja vielmehr aus diesem vertrieben. In der dreigliedrigen Raum- und Zeitordnung des mediterranen sefardischen Kulturraums (Levante, Spanien, Italien), in dem Meschullam sich bewegt, besetzt Livorno nach dem durch ein Unwetter verursachten Ausflug in die spanische jüdische Geschichte die Stelle einer gegenwärtigen Blüte der jüdischen Kultur.141 Mit dieser fiktionalen Raumordnung schreibt sich Euchels Briefroman durch eine leichte Verschiebung in die europäische Bildungs- und Literaturgeschichte ein. Meschullams Reise kulminiert in ebender Sehnsuchtsstätte, die zu dieser Zeit – als Vermittlungsort der klassischen Antike – auch Ziel und Höhepunkt der grands tours junger europäischer Bildungsreisender ist: Italien.142 Doch reist Meschullam nicht nach Rom, sondern nach Livorno, einem Bildungszentrum speziell der jüdischen Aufklärung. Auf diesen Höhepunkt, das Reiseziel Livorno, zielt der Briefroman hin. Die Juden Livornos, berichtet Meschullam anerkennend, leben in Ruhe, Sicherheit und wohlhabenden Verhältnissen, sie rasieren sich die Bärte, unterscheiden sich in ihrer Kleidung nicht von den anderen Italienern und beherrschen die italienische Sprache auf höchstem Niveau.143 Zieht man Gedikes Briefe Über Berlin hinzu, so zeigen sich auffallende Parallelen zwischen Meschullams Beschreibung Livornos und der Beschreibung Berlins, die der »Frem139
Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 195. Übersetzung Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 160. Negative Wertungen Spaniens werden auch in Euchels Briefromanvorlagen artikuliert. Montesquieu zeichnet im 78. Brief der Lettres persanes ein wenig vorteilhaftes Bild der Spanier, extremer noch wird Spanien im vierten Band der Lettres juives (1736/37, dt. 1763) des Marquis d’Argens dämonisiert. Vgl. dazu Ulrike Hönsch: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum »Hesperischen Zaubergarten«. Tübingen 2000. S. 67–71. 141 Vgl. allgemein zur symbolischen Funktion Italiens in der jüdischen Aufklärung Lois C. Dubin: Trieste and Berlin. The Italian Role in the Cultural Politics of the Haskalah. In: Toward Modernity. The European Jewish Model. Hg. von Jacob Katz. New York, NY 1987. S. 189–224. 142 Auch aschkenasische Juden unternahmen Bildungsreisen nach Italien. Abraham Levy aus dem westfälischen Talle etwa berichtet von seiner grand tour über Wien nach Rom (1719 bis 1723) in einer 1764 abgeschlossenen jiddischen Reisebeschreibung ()רייז בעשרייבונג, die in Form eines gebundenen Manuskripts überliefert ist. Vgl. Shlomo Berger: The Desire to Travel. A Note on Abraham Levy’s Yiddish Itinerary (1719–1723). In: Aschkenas 6 (1996). S. 497–506. 143 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 182. Übersetzung Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 173. 140
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de« in der Berlinischen Monatsschrift publiziert.144 Im sefardischen Livorno als Ziel von Meschullams fiktiver Reise lässt sich so das aschkenasische Berlin als gegenwärtiger Schreib- und Publikationsort des Me’assef gespiegelt finden; die preußische Haskala spiegelt sich hier in der jüdischen Aufklärung Italiens. Während Spanien als durch ein Unwetter verursachter Reiseumweg vor allem von historiographischem Interesse ist, setzt Meschullam im letzten Brief seinen Herkunfts- und seinen Zielort hart zueinander in Konkurrenz, indem er mit einer Gegenüberstellung zwischen den hebräischen Metastasio-Nachdichtungen des Arztes Ephraim Luzzatto (1729–1792) und der in hebräischer Übersetzung präsentierten arabischen Kriegspoesie des jüdischen Dichters Samuel Ibn cĀdiyā aus dem 6. Jahrhundert zwei Dichtungsmodelle gegeneinander ausspielt. Meschullam rühmt den zurückhaltenden Ton, die liebliche Schönheit und Sanftheit der galant-klassizistischen Poesie Italiens gegenüber der archaisch-kriegerischen arabischen Dichtung. Der Araber ( )הערביsei »ein Mann des Blutes und der Rache [«]איש דמים בעל נקמות, der seine Größe in »Heldentum, Krieg, Rache und Zorn [ «]הגבורה המלחמה הנקימה והנטירהsehe.145 Während das italienische und das an diesem orientierte hebräische Gedicht »die Eigenschaften vervollkommnet und die Seele über niedere Ansichten und Gedanken erhebt [לתקן המדות ולהרים את הנפש «]מעל הדעות והמחשבות הפחותות, findet Meschullam in den arabischen und an diesen orientierten hebräischen Gedichten nichts dergleichen; diese seien lediglich und ausschließlich »das Werk der Einbildungskraft [המה רק פעולת הכח הדמיוני ]לבד.«146 Mit den moraldidaktischen Argumenten eines Aufklärers wird hier für eine verfeinerte, erbauliche Poesie und eine Anpassung an den modernen Geschmack geworben. Wiederum lässt sich in dieser Gegenüberstellung mit Blick auf den Erfahrungshorizont der Me’assef-Leser eine zweite Gegenüberstellung gespiegelt finden. Wie Meschullam seine syrische Sozialisierung durch eine Umorientierung hin zum italienischen Modell verfeinert und verbessert, so sollten, das legt Euchels Dramaturgie mit Blick auf die Adressatenstruktur des Textes nahe, auch die aschkenasischen Leser dieses Briefromans ihren überkommenen Geschmack, der sich etwa im Festalten an der religiösen Poesie der Piutim manifestiert,147 und 144
So betont Gedike mehrfach die Schönheit Berlins und lobt den Wohlstand und Bildungsgrad seiner Bewohner. Vgl. etwa Gedike: Über Berlin, 1783–1785. S. 93 f. 145 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 179 f. Übersetzung Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 177. 146 Euchel: אגרות משלם, 1790. S. 178. Übersetzung Euchel/Schatz: Meschullam, 2005. S. 178. Stephan Braese missversteht den Text, wenn er davon ausgeht, dass die Bezeichnung »Gedichte unseres Volkes« auf ›jüdische‹ Literatur insgesamt verweise statt auf diejenige hebräische Literatur, die sich an arabischen Vorbildern orientiert (Stephan Braese: Von Königsberg nach Livorno. Kleider und Sprachen in Isaac Euchels Briefen des Meschullam. In: Aschkenas 18/19:2 (2008/2009). S. 339– 350, hier: S. 347 f.). Damit entbehrt seine Behauptung, Euchel thematisiere in diesem Briefroman, dass das Hebräische in Europa sein Privileg als »Sprache des Innern« verloren habe (ebd., S. 248 f.), jeder Grundlage. 147 Gegen diese polemisiert Euchel zum Beispiel in der Vorrede zur überarbeiteten Neuauflage
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ihre bisherigen Kleidungsgewohnheiten zugunsten einer Orientierung an den Bildungs- und Dichtungsidealen der (deutschen) Aufklärung aufgeben. Wie Meschullam in Livorno die (jüdische) italienische Poesie kennenlernt, so können polnische Juden, die nach Berlin ziehen, die Odendichtungen des Ramler-Kreises kennenlernen und sich – wie etwa Isaschar Falkensohn Behr (Kap. 2.1.5) – deren verfeinerten Geschmacksstandard aneignen. Bewegt sich Meschullams Reise auf der Textebene vollständig innerhalb des sefardischen Kulturraums, werden durch die Veröffentlichung des Textes im Me’assef, so lässt sich zusammenfassen, Spiegelungen an einer Nordost-Südwest-Achse nahegelegt: Euchels aschkenasische Leserkreise sind gehalten, ihre eigenen Aufklärungsbestrebungen in den Reisereflexionen des sefardischen Maskils Meschullam wiederzufinden. Euchel kontrastiert in seinem Briefroman also keineswegs, wie mitunter behauptet wurde,148 einen rückständigen Orient mit einem fortschrittlichen Europa. Vielmehr lassen sich Sefarad und Aschkenas entlang der Grenze von fiktiver Welt und adressiertem Lesepublikum als strukturanaloge Kulturräume auffassen, die in aufklärerischer Perspektive je in einen rückständigen Teil (Syrien/Polen) und einen fortschrittlichen Teil (Livorno/Berlin) zu differenzieren sind: Der orientalische Maskil Meschullam in Euchels fiktionalem Text ist so bildungshungrig und aufgeschlossen wie die jungen mitteleuropäischen Maskilim, die diesen Text lesen sollen, und steht wie diese in Konflikt mit den traditionellen Erwartungen der Eltern- und Großelterngeneration. So strukturiert eine Spiegelung von Aufklärungsbestrebungen in Sefarad und Aschkenas den Text und seine Adressierung. Indem der Text quer zum Spiegelungsverhältnis zwischen aschkenasischen Lesern und sefardischen fiktiven Figuren einem zeitlichen Index folgt, der vom biblischen Morgenland bis zur jüdischen Blüte in der italienischen – und implizit preußischen – Gegenwart reicht, lässt er sich darüber hinaus als Verständigungsmedium über die Wandelbarkeit jüdischer Traditionen begreifen. Wie der Me’assef insgesamt, der neben seinem hebräischsprachigen Teil auch deutschsprachige Beilagen enthält und als Publikationsorgan der jüdischen Aufklärung zwischen seiner erstmals 1786 veröffentlichen deutschen Übersetzung hebräischer Gebete, die einen anthropologischen, historisierenden Zugang zur jüdischen Gebetstradition propagiert: Die Piutim seien »so voll von Wortspielen, Tautologien und den ungeziemendsten Anthropomorphosen, daß es unbegreiflich ist, durch welche Autorität sie haben in der Synagoge eingeführt werden können« (Gebete der Juden. Aus dem Ebräischen übersetzt. Mit Anmerkungen begleitet von Isaak Euchel. Zweite, ganz umgearbeitete Ausgabe. Berlin 1799. S. xvii). Vgl. Lohmann: Die Gebeteübersetzungen in ihrem bildungshistorischen Kontext, 2010. S. 105–133. Vgl. zur Abneigung gegen die Piutim unter den Maskilim auch Moshe Pelli: Das Zentrum der Haskala in Deutschland schlägt einen neuen Zugang zur hebräischen Literatur vor. Aus dem Hebräischen übersetzt von Rainer Wenzel. In: Trumah 16 (2006). S. 35–47, hier: S. 42–46. 148 Michael Graetz: Jüdische Aufklärung. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit [1996]. Hg. von Michael A. Meyer. Bd. 1. München 2000. S. 251–355, hier: S. 299; Pelli: The Epistolary Story in Haskalah Literature, 2003. S. 4 48; Pelli: In Search of Genre, 2005. S. 98.
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inner- und außerjüdischem Diskurs zu vermitteln sucht, so prägt eine gefilterte Durchlässigkeit zwischen inner- und außerjüdischem Diskurs auch den Orientalismus von Euchels Briefroman.149 Euchel greift die orientalistischen Zuschreibungen seiner Zeit auf,150 verändert sie aber im Medium der hebräischen Lite ratur. Der fiktionale Briefroman propagiert Euchels Aufklärungsprogramm zwar mittels einer appellativen Europäisierungsdramaturgie. So sehr der Text aber Überschneidungen mit damaligen Forderungen der Verbesserungsdebatte (Kap. 3.1.1) aufweist, liegt doch eine spezifisch jüdische Raumordnung zugrunde, die sich nicht auf eine einfache Dichotomie von rückständigem Orient und fortschrittlichem Okzident herunterbrechen lässt. Einen interessanten Vergleichspunkt für Euchels Transformation des damaligen Orientalismus stellt die Reisebeschreibung Fährnis in Arabien ( )משא בערבdes italienischen jüdischen Dichters Samuel Romanelli dar, die 1792 im Verlag der Berliner jüdischen Freischule erscheint.151 Romanelli beschreibt darin seinen Aufenthalt in Marokko von 1786 bis 1790.152 Wie Euchels Briefroman nimmt auch Romanellis Bericht die Konventionen und Topoi orientalistischer Reiseliteratur auf und generiert zugleich eine speziell jüdische Subjektposition. Auch für Romanellis Text ist eine aufklärerische Wertungsstruktur maßgebend: Romanelli spart nicht mit harschen Urteilen über die Rückständigkeit der marokkanischen Bevölkerung. Das gilt vor allem für die Araber, aber auch die Juden bewer149 Die hebräischen Briefe des »orientalischen Juden« Meschullam werden in deutschsprachigen Periodika rezensiert bzw. zusammengefasst. Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek 26:94 (1790). S. 584 f.; Annalen der Geographie und Statistik 1:1 (1790). S. 236. 150 Andrea Schatz: Kleider auf Reisen. »Nachahmung« und Transkulturation in Isaac Euchels Briefen des Meschullam. In: Aschkenas 18/19:2 (2008/2009). S. 321–338, bes. S. 324 f. Vgl. zu Euchels Nachschrift von Kants Königsberger Anthropologie-Vorlesung, in der Kant die Juden zu den morgenländischen Völkern rechnet, Kennecke: Euchel, 2007. S. 275–285. Auch Euchels Position in der Debatte über die frühe Beerdigung der Toten zeigt seine Vertrautheit mit den (orientalistischen) Diskursen seiner Zeit. Vgl. dazu Kennecke: Euchel, 2007. S. 283 und S. 312–335. 151 Schmuel Romanelli: משא בערב. Berlin 1792. Für eine englische Übersetzung vgl. Samuel Romanelli: Travail in an Arab Land. Aus dem Hebräischen [1792] übersetzt von Yedida K. und Norman A. Stillman. Tuscaloosa u. a. 1989. Der Titel Masa ba-c Arav ( )משא בערבist ein Wortspiel, das ich mit dem an ›Fahren/Fahrt‹ anklingenden Wort Fährnis (›Gefahr‹) ins Deutsche zu übertragen versucht habe. In der Lutherübersetzung lautet der Ausdruck »Last für Arabien« (Jesaja 21,13). Das hebräische Wort masa ( )משאmit den Bedeutungen ›Last‹/›Mühsal‹ und ›(prophetischer) Ausspruch‹ ist homophon mit dem hebräischen Wort masa ()מסע, das ›Reise‹ bedeutet. In der englischen Übersetzung des Titels wurde dieses Wortspiel mit dem an travel (›Reise‹) anklingenden Wort travail (›Mühe‹) umgesetzt. 152 Asher Salah: The Otherness of the Self. On Samuel Romanelli’s Travelogue. In: European Journal of Jewish Studies 5:2 (2011). S. 219–239; Andrea Schatz: Detours in a »Hidden Land«. Samuel Romanelli’s Masa’ ba‘rav. In: Jewish Studies at the Crossroads of Anthropology and History. Authority, Diaspora, Tradition. Hg. von Ra’anan S. Boustan u. a. Philadelphia, PA 2011. S. 164–184 und S. 379–383; Pelli: In Search of Genre, 2005. S. 245–268. Vgl. auch Daniel J. Schroeter: Orientalism and the Jews of the Mediterranean. In: Journal of Mediterranean Studies 4:2 (1994). S. 183–196, hier: S. 183–185; vgl. für eine flüchtige Verortung im Genre jüdischer Reiseberichte Desanka Schwara: Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit. Göttingen 2007. S. 89–93.
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tet Romanelli aus maskilischer Perspektive kritisch. Zwar seien ihre Methoden des Talmudunterrichts klarer als die der »polnischen Juden [ «]אנשי פו“ליןund ähnelten eher denen der »orientalischen Juden []המזרחים,«153 aber in vielen anderen Dingen seien sie wie erstere und verlören sich in sinnlosen Frage-Antwort-Spielen.154 Wie nicht zuletzt Romanellis Vergleiche nahelegen, kann seine Reise zu den marokkanischen Juden und ihre Bewertung von Romanellis maskilischen Zeitgenossen als Spiegel ihrer eigenen Auseinandersetzungen mit weniger aufgeklärten, insbesondere mit den sogenannten polnischen Juden verstanden werden. Pelli liest den Text in diesem Sinne »as a metaphor of a maskil’s voyage to, and exposure of, the unenlightened segment of the Jewish people, not only in Marocco, but in other places closer to home.«155 Weniger explizit und in umgekehrter Richtung – als Reise eines orientalischen Maskils zu den aufgeklärtesten Teilen der jüdischen Nation – macht auch Euchels Briefroman ein solches Übertragungsangebot für Problemkonstellationen ›closer to home‹. In beiden Texten dient der Orientalismus, mittels Spiegelungen und Analogien zwischen verschiedenen – arabischen und italienischen, orientalischen und polnischen, italienischen und preußischen, sefardischen und aschkenasischen – jüdischen Gemeinschaften, einer differenzierten Selbstbefragung und Selbstkritik im Dienste jüdischer Aufklärung. Diese Bewegung drängt die hebräische Sprache, das Medium dieser Texte, an die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit.156 Während Meschullam seinen Herkunftsraum mit den Vokabeln der Bibel – »Ismael [ «]ישמעאלfür muslimische Araber und »Länder des Ostens« bzw. »Morgenland [ «]ארצות הקדםfür die Region – ordnen kann, erfordert es die Reise- und Suchbewegung des jungen Maskils, diesen traditionellen Sprach- und Ordnungsraum zu verlassen. So transkribiert Euchel die deutsche Bezeichnung ›Spanien‹ ( )שפאניעןin hebräische Buchstaben; ähnlich verfährt Romanelli mit seinen Vergleichen zwischen ›orientalischen‹ und ›polnischen Juden‹ ()אנשי פו“לין. Mit der phonetischen Übertragung von einer Schrift in die andere ist der äußerste Rand des Hebräischen als Sprache erreicht. Wie die im Me’assef wiederholt zur Anwendung kommende Praxis, (hoch)deutsche Texte in hebräischen Lettern zu drucken, vergegenwärtigen die transkribierten Bezeichnungen den prekären Status der ›heiligen Sprache‹ als Literatursprache, insofern sich das Hebräische hier haarscharf an der Grenze zum Deutschen bewegt. Der ambitionierte Versuch der Maskilim in Preußen, ein bereinigtes Hebräisch für die Gegenwart gebrauchsfähig zu machen, erweist sich bald als kurzle Romanelli: משא בערב, 1792. S. 8; Romanelli: Travail in an Arab Land, 1989. S. 29 f. Romanelli: משא בערב, 1792 S. 12; Romanelli: Travail in an Arab Land, 1989. S. 36. 155 Moshe Pelli: The Literary Genre of the Travelogue in Hebrew Haskalah Literature. Shmuel Romanelli’s Masa Ba’arav. In: Modern Judaism 11 (1991). S. 241–260, hier: S. 257. 156 Vgl. zur Frage von Stil und Sprachgebrauch bei Euchel auch Ken Frieden: Travels in Translation. Sea Tales at the Source of Jewish Fiction. Syracuse, NY 2016. S. 119–136. 153
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big. Euchel gesteht 1794 in einem Aufsatz, der auf Deutsch in hebräischen Lettern im Me’assef erscheint, resigniert ein, dass er die Erneuerung der hebräischen Sprache inzwischen als ein aussichtsloses Unterfangen ansehe.157 Während der hebräischsprachige Leserkreis zunehmend wegbricht, wächst das Interesse für deutschsprachige Veröffentlichungen;158 überdies werden im Zuge der Emanzipationspolitik in Preußen und Österreich verstärkt staatliche Maßnahmen ergriffen, um die hebräische und jiddische Sprache und Schrift zu verdrängen und Juden zum Gebrauch des Deutschen zu animieren.159 Friedländer konstatiert 1799 in einem Brief an Aaron Wolfssohn, den ehemaligen Mitherausgeber der mittlerweile eingestellten Zeitschrift Ha-Me’assef: »Alle unsere hebräisch geschriebenen Bücher liest Keiner…«160 Aus der Situation eines vielsprachigen Aufbruchs geht in Preußen schließlich das Deutsche als primäre Umgangs- und Literatursprache hervor. Welche Konsequenzen das für den Gebrauch orientalistischer Bezugnahmen hat, soll nun am Beispiel der ersten deutschsprachigen jüdischen Zeitschrift untersucht werden. 3.1.4 Die Morgenländerin Sulamith Eine ambivalente Titelfigur für die erste deutschsprachige jüdische Zeitschrift Die Sulamith wird 1806 im emanzipationspolitischen Erwartungshorizont der napoleonischen Eroberungen gegründet.161 Den ersten Jahrgang gibt David Fränkel, Direktor der jüdischen Franzschule in Dessau, gemeinsam mit dem an dieser Schule als Lehrer tätigen Maskil Joseph Wolf heraus;162 danach fungiert Fränkel vierzig Jahre lang allein als Herausgeber. Mit ihrer Publikationsweise – 157 Isaak Euchel: Ist nach dem jüdischen Gesetze das Übernachten der Toten wirklich verboten? [1794]. In: ders.: Vom Nutzen der Aufklärung. Schriften zur Haskala. Hg. von Andreas Kennecke. Düsseldorf 2001. S. 119–137, hier: S. 120 f. Vgl. Kennecke: Isaac Abraham Euchel, 2007. S. 134–141; Nils Römer: Tradition und Akkulturation. Zum Sprachwandel der Juden in Deutschland zur Zeit der Haskalah. Münster/New York, NY 1995. S. 65 f. 158 Gunnar Och: Jüdische Leser und jüdisches Lesepublikum im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Akkulturationsgeschichte des deutschen Judentums. In: Menora 2 (1991). S. 298–336. Eine materialreiche Studie zur jugendlichen Lesekultur bietet Michael Nagel: »Emancipation des Juden im Roman« oder »Tendenz zur Isolierung«? Das deutsch-jüdische Jugendbuch in der Diskussion zwischen Aufklärung, Reform und Orthodoxie (1780–1860). Hildesheim u. a. 1999. 159 Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 17–19. 160 Zitiert nach Leopold Stein: Die Schrift des Lebens. Inbegriff des gesammten Judenthums in Lehre, Gottesverehrung und Sittengesetz (Dogma, Cultus und Ethik). Schriftgemäß, volksthümlich und zur Kenntnißnahme für Israeliten und Nichtisraeliten. Bd. 2. Straßburg 1877. S. 4 44. 161 Siegfried Stein: Die Zeitschrift »Sulamith«. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 7:4 (1937). S. 193–226; Sorkin: The Transformation of German Jewry, 1987. S. 79–104; Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 2006. S. 19–41; Werner Grossert: »Sulamith«, die Friedliebende aus Dessau (1806–1848). Die erste jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache und deutscher Schrift. In: Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hg. von Giuseppe Veltri und Christian Wiese. Berlin 2009. S. 133–146. 162 David Sorkin: Preacher, Teacher, Publicist. Joseph Wolf and the Ideology of Emancipation.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
in deutscher Sprache und Frakturdruck – trägt die Sulamith nicht nur den veränderten sprachlichen Bedingungen der Juden im frühen 19. Jahrhundert Rechnung, sie konstituiert auch eine neuartige Öffentlichkeit: Der Adressatenkreis dieser ersten ausdrücklich »deutschen Zeitschrift für die jüdische Nation«163 soll die Reichweite des hebräischen Me’assef weit übersteigen; sie soll sämtliche zerstrittenen Parteien innerhalb der Judenschaft sowie ganz besonders weibliche Leserkreise binden und überdies auch christliche Leser ansprechen. Dass die Sulamith eine deutsche Zeitschrift für die jüdische Nation sein soll, hat mithin einen Doppelsinn, der die Gestaltung des Periodikums grundlegend bestimmt: Die Sulamith ist für jüdische Leserinnen und Leser bestimmt und soll zugleich bei einem nichtjüdischen Publikum Fürsprache für die Juden leisten.164 Mit ihrer Doppelstrategie, auf Deutsch zu den Juden und für sie zu sprechen, reagiert die Sulamith auf die Streitfrage der frühen Emanzipationsdebatten, ob sich die Juden zunächst selbst verbessern und bürgerlicher Rechte für würdig erweisen sollten, oder ob zuvor eine Verbesserung ihrer rechtlich-sozialen Lage erfolgen müsse. Die unter napoleonischer Besatzung erfolgenden Schritte zur jüdischen Emanzipation fest im Blick, dokumentiert die Sulamith einerseits ausführlich die Reformbemühungen insbesondere im Königreich Westfalen. Andererseits bezweckt sie, so propagiert es ihr auf Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–1797) anspielender Untertitel, die Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation bzw. ab 1810 unter den Israeliten. Die Sulamith eröffnet 1806 mit einer Erklärung über Inhalt, Zweck und Titel der Zeitschrift. Fränkels Mitherausgeber Joseph Wolf entfaltet hier den »Doppelsinn« des Titels, der zwischen der Partikularität der jüdischen Nation und der Universalität von Kultur und Humanität vermitteln solle.165 Diese Vermittlung leistet eine Ursprungsfigur: Gemäß dem als Motto vorangestellten HoheliedZitat »Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith!« will die Zeitschrift die Juden zu ihrer »nativen Bildung« zurückführen; sie will beweisen, dass deren »Urbildung ganz rein«166 sei und mithin dem Humanitätsideal entspreche. Zwischen der »glücklichen Periode« des jüdischen Staates und einem in der Gegenwart anhebenden neuen Zeitalter der Vernunft klafft in Wolfs Deutung die finstere Leidensgeschichte von jahrhundertelanger Verfolgung und Unterdrückung. Die In: From East and West. Jews in a Changing Europe, 1750–1870. Hg. von Frances Malino und David Sorkin. Oxford 1990. S. 107–125. 163 David Fränkel: Vorläufige Bemerkungen über die zweckmäßigsten Mittel zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation. In: Sulamith 1:1:1 (1806). S. 12–40, hier: S. 37. 164 Eine »schwere Aufgabe« ist es, wie Fränkel zugibt, dieser breiten heterogenen Leserschaft gerecht zu werden und »auf einmal überall sein Augenmerk zu haben« (Fränkel: Vorläufige Bemerkungen, 1806. S. 37). 165 Joseph Wolf: Inhalt, Zweck und Titel dieser Zeitschrift. In: Sulamith 1:1:1 (1806). S. 1–11, hier: S. 8. 166 Wolf: Inhalt, Zweck und Titel, 1806. S. 9.
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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dadurch entstandenen Verbildungen und Schäden will er mit einer Rückbesinnung auf die jüdische ›Urbildung‹ geheilt und berichtigt sehen: Bringet jene [Gestalt des jüdischen Volkes] in ihre vorige Lage und Ordnung, und das Ganze steht wieder in seiner völligen Schönheit da. Nur muß die Bildung aus ihm selbst hervorgehen, die Keime eigner Kultur müssen von neuem entwickelt werden, wenn unsere Bemühung nicht fruchtlos seyn soll.167
Mit diesem vitalistischen Kulturverständnis schließt Wolf an das im 18. Jahrhundert gängige Verständnis der Judenschaft als Kolonie bzw. »Pflanzvolk«168 an und reformuliert den darin ventilierten rechtlich-politischen Autonomiegedanken im ästhetisierten Paradigma der Kultur und des humanistischen Bildungs ideals: Die Sulamith will »die Nation in ihrem eigenen Selbst aufklären«,169 um sie im Rekurs auf ihre biblischen Wurzeln als erneuertes Ganzes wieder auferstehen zu lassen beziehungsweise die »Keime eigner Kultur« neu zu entwickeln. Diesen selbsterneuernden Ursprungsbezug bekräftigt die Zeitschrift durch die allegorisierende Aneignung einer biblischen Frauenfigur. Wie Wolf in einer Erläuterung der Titelvignette des ersten Bandes (Abb. 15) ausführt, dringe mit der Sulamith eine »Morgenländerinn […] ungerufen in den Zirkel deutscher Leserinnen,« die sich auf den ersten Blick wie eine »Chimäre« ausnehmen müsse.170 Nun macht Wolf freilich sogleich deutlich, dass diese »Morgenländerinn« alles andere als eine »Chimäre« sei und es keineswegs verdiene, dass man »stolz und verächtlich« auf sie herabsehe. Denn mit dem aus dem Hohelied entlehnten Namen Sulamith will er die in der Bibel namenlos bleibende Friedensstifterin bezeichnet wissen, die einen in ihrer Stadt versteckten Aufrührer an die den Ort belagernden Truppen König Davids ausliefert und so ihre Stadt vor der Zerstörung bewahrt (2. Samuel 20,16–22). Mit dem die Vignette zierenden Motto »Ich bin eine von den Friedliebenden, Treuen Israels [( «]אנכי שלמי אמוני ישראל2. Samuel 20,19) berufen die Herausgeber der Sulamith sich auf das diplomatische Geschick und die friedenstiftende Funktion ihrer Titelfigur. Wie die biblische Heldin, so will auch die Zeitschrift Sulamith »aus der Mitte einer bedrängten Nation« hervortreten und als friedliebende Vermittlerin nach innen und nach außen wirken.171 An ihr sollen sich, so Wolf in seinem Schlussplädoyer, auch die Leserinnen der Zeitschrift ein Beispiel nehmen. Unterhalb dieser Friedensrhetorik allerdings schwelt Gewalt. Die Friedensliebe der biblischen Heldin fordert immerhin den Kopf des Menschen, den sie verraten hat. Mit der Übertragung des biblischen Handlungsrahmens auf die gegenwärtigen innerjüdischen Konflikte erhält Wolfs Polemik gegen »abergläubische 167
Wolf: Inhalt, Zweck und Titel, 1806. S. 2. Adelung 1 (1793). Sp. 1341. 169 Wolf: Inhalt, Zweck und Titel, 1806. S. 10. 170 Joseph Wolf: Erklärung der Titelvignette. In: Sulamith 1:1:2 (1806). S. 160–165, hier: S. 161. 171 Ebd., S. 164. 168
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Abb. 15: Titelblatt der Zeitschrift Sulamith (1806).
Zusätze und Religionsentstellungen« eine aggressive Note: Die Zeitschrift Sulamith will nach dem Vorbild ihrer Namengeberin den inneren »Feind« des Aberglaubens, der sich unter die Juden geschlichen habe, »in seiner wahren häßlichen Gestalt« entlarven, ihn »entwaffnen« und aus der Mitte der Nation »entfernen, damit endlich der Baum des Friedens aus ihr selbst hervorblühe, dessen Früchte heilbringend für die ganze Menschheit sein werden.«172 Die ›friedliebende‹ Sulamith wird so für das entschieden kämpferische Aufklärungs- und Reformprogramm der beiden Dessauer Pädagogen in Dienst genommen. Wolf baut, darauf hat Benjamin Maria Baader aufmerksam gemacht,173 die jüdische Sulamith hier ähnlich der französischen Marianne und der deutschen Germania zu einer nationalen Integrationsfigur für turbulente Zeiten auf,174 die 172
Wolf: Erklärung der Titelvignette, 1806. S. 164. Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture, 2006. S. 30–33. 174 Detlef Hoffmann: Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation. In: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland. Ausstellungs173
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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allegorisch für ein im Zeichen aufklärerischer Vernunft erneuertes Judentum einstehen soll: Die sanfte Friedensgöttin, Vernunft, tritt oft mitten im heftigsten Kriegsgetümmel auf, und durch Worte des Friedens entwaffnet sie die aufstrebende Wuth empörter Herzen, und die gezückten Schwerter entsinken schnell den mächtigsten Heldenarmen. Von Vaterlandsliebe beseelt erscheint Sulamith auf der äußersten Warte der Festung, dem Feldherrn den Bund des Friedens reichend.175
Ebendies ist der Moment, den die Titelvignette festhält. Als Allegorie der Vernunft und der Vaterlandsliebe verbindet die Titelfigur der Sulamith die im Untertitel der Zeitschrift affichierten Ideale; als Exempel für die reine ›Urbildung‹ der jüdischen Nation ist sie eine Referenzfigur für die sogenannte bürgerliche Verbesserung der Juden: Die Orientierung am Vorbild der heldenhaften »Morgenländerinn« Sulamith steht im Dienst der Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation. Mit Blick auf diese ambitionierte Programmatik und den heterogenen Adressatenkreis der Zeitschrift erweist sich die Titelfigur als ausgesprochen schillernd. Das legt auch Wolf selbst nahe, wenn er zusammenfasst: »Kurz, aber höchst bedeutungsvoll ist die Geschichte dieser großmüthigen Orientalinn, dieser Retterin ihrer unglücklichen Vaterstadt.«176 Ihrer ›höchst bedeutungsvollen‹ Funktion gilt es nun weiter nachzugehen. Zunächst muss überraschen, dass eine »Orientalinn« dieser reformorientierten Zeitschrift als Titelfigur dient. Die Mädchenerziehung wird in dieser Zeit als paradigmatischer Testfall jüdischer Reform verhandelt,177 die als Europäisierung verstanden wird. Zahlreiche jüdische Reformer prangern die Vernachlässigung und Unterdrückung von Mädchen und Frauen als ein Relikt der despotischen und patriarchalischen Sitten des Morgenlands an,178 an dem ihrer Meinung nach vor allem die sogenannten polnischen Juden hartnäckig festhielten.179 David katalog Germanisches Nationalmuseum. Hg. von Gerhard Bott. Nürnberg 1989. S. 137–156; Monika Wagner: Germania und ihre Freier. Zur Herausbildung einer deutschen nationalen Ikonographie um 1800. In: Volk – Nation – Vaterland. Hg. von Ulrich Herrmann. Hamburg 1996. S. 244–268. 175 Wolf: Erklärung der Titelvignette, 1806. S. 163. 176 Ebd., S. 164. 177 Michaela Will: »Die Philosophie im Weiberrocke wird kein Vernünftiger achten…«. Zur Ambivalenz in den Mädchenbildungskonzepten der Zeitschrift Sulamith (1806–1848). In: Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. von Britta L. Behm u. a. Münster 2002. S. 369–391; Mordechai Eliav: Die Mädchenerziehung im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation. In: Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland. Hg. von Julius Carlebach. Berlin 1993. S. 97–111; Lohmann: Friedländer, 2013. S. 341–470. 178 David Friedländer: Ueber den besten Gebrauch der h[eiligen] Schrift, in pädagogischer Rücksicht. In: ders. (Übers.): Der Prediger. Aus dem Hebräischen von David Friedländer. Berlin 1788. S. 3–78, hier: S. 45 f.; Abraham Geiger: Die Stellung des weiblichen Geschlechtes in dem Judenthume unserer Zeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 3 (1837). S. 1–14, hier: S. 5 f. und S. 8. 179 Vgl. z. B. Aaron Wolfssohn: Jeschurun, oder unparteyische Beleuchtung der dem Judenthume neuerdings gemachten Vorwürfe. In Briefen. Breslau 1804. S. 125.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Friedländer postuliert 1819 noch einmal mit Nachdruck, das weibliche Geschlecht müsse »nach europäischen nicht nach morgenländischen Sitten« behandelt werden.180 Wieso glauben Fränkel und Wolf aber nun, dass sie ihre reformpolitischen und erzieherischen Absichten ausgerechnet mit einer orientalischen Frauenfigur an Leser und Leserin bringen können? Wie sich zeigen wird, liegt gerade in der Amivalenz der Titelfigur Sulamith, die als »Morgenländerinn« den Leserinnen der Gegenwart als »Chimäre« einer lang vergangenen Zeit und einer fern gelegenen Region erscheinen müsse, ihr strategischer Nutzwert für Wolfs und Fränkels Reformprogramm. Sie erlaubt es nämlich, die gängigen orientalistischen Anschuldigungen mit einem affirmativ auftretenden Orientalismus auszubalancieren und jüdische Traditionen in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Mit der Orientalisierung der jüdischen Überlieferung, die sich nicht zuletzt in didaktischen Hilfestellungen für des Hebräischen nicht kundige Leserinnen und Leser manifestiert,181 markieren die Herausgeber das Eigene als fremd, um von aufklärerischer Warte aus neue Perspektiven für eine (Wieder-)Aneignung desselben aufzuzeigen. Mit seiner Würdigung der Titelheldin Sulamith wirbt Wolf in diesem Sinne für eine umsichtige Beurteilung der jüdischen Überlieferung: So herabgewürdigt und verachtet das weibliche Geschlecht bei den Morgenländern auch gewesen seyn mag, so hat es dennoch unstreitig unter den Weibern des Orients manche große Heldenseele gegeben, die, aus ihrem dunkeln Stande emporsteigend, um ihre Nation und um ihr Vaterland sich verdient gemacht hat.182
Neben das Paradigma des Despotismus stellt Wolf hier das Paradigma des Heldenmuts und kürt letzteres – mit Blick auf die ausdrücklich adressierte weibliche Leserschaft – zum positiv besetzten Referenzpunkt des Aufklärungs- und Reformprogramms der Sulamith. Die jüdischen Leserinnen sollen sich deren Titelheldin zum Vorbild nehmen: Sie sollen aus »ihrem dunkeln Stande« emporsteigen und im Dienste der jüdischen Nation eine »große Heldenseele« entwickeln. Sowohl Misogynie und Despotie als auch Heldenmut und Vaterlandsliebe also verortet die Sulamith im biblischen Morgenland. Die Zeitschrift fordert damit – das ist der argumentative Clou dieser paratextuellen Programmatik – eine Befreiung der jüdischen Frau vom Orient durch den Orientalismus: In der distanzbewussten Orientierung an einer »Morgenländerinn« sollen sich die Leserinnen aus der ebenfalls aus dem Morgenland herrührenden Despotie des Rabbinats befreien und einen neuen Umgang mit den jüdischen Traditionen finden, der das 180
Friedländer: Über die Umbildung der Judenschaften, 1812. S. 237. So präsentiert die Sulamith in ihren Blättern deutsche Nachdichtungen biblischer und talmudischer Erzählungen des Prager Publizisten Ignaz Jeitteles als Blüthen aus dem Orient und spricht dezidiert auch diejenigen Leserinnen an, die nicht mit den Traditionen hebräischer Gelehrsamkeit vertraut sind, wenn sie zum Beispiel in einer Fußnote erklärt, was ein Midrasch sei (Sulamith 1:1:4 (1806/07). S. 257–262; Sulamith 2:2:4 (1808/09). S. 248–251). 182 Wolf: Erklärung der Titelvignette, 1806. S. 161. 181
3.1 Emanzipation als Europäisierung?
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in die Ferne des Orients gerückte Erbe auf seine Kompatibilität mit jüdischen Lebensformen in der europäischen Gegenwart prüft. Wie schon Wolfs Ahnung verdeutlicht, seine Leserinnen könnten mit Stolz und Verachtung auf die »Morgenländerinn« Sulamith herabblicken, ist die Ambivalenz des Orientalismus konstitutiv für die Argumentationsfigur einer Befreiung vom Orient durch den Orientalismus. Sie verleiht dem jüdischen Traditionsverhalten unter orientalistischen Vorzeichen, wie es sich in der Sulamith darstellt, eine apologetische Note. Deutlich wird das an Fränkels Vorläufigen Bemerkungen über die zweckmäßigsten Mittel zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation im ersten Heft der Sulamith: Auch den achtungswürdigen Müttern und Töchtern in Israel, zu welchen ich mich jetzt besonders wende, empfehle ich Sulamith als getreue Freundin und Rathgeberin, und bitte sie, sich dieselbe ja nicht etwa in einem fremden, morgenländischen Gewande zu denken, weil dieß sehr leicht schädliche Vorurtheile gegen sie erwecken könnte, obgleich von gebildeten Frauenzimmern eigentlich nicht zu erwarten ist, daß sie wegen der Form, wegen des Aeußern, das innere Gute der Sache verkennen werden.183
Übermächtig scheinen hier die »schädliche[n] Vorurtheile« über orientalische Erscheinungsbilder, obwohl diese, wie Fränkel in einer geschickten rhetorischen Volte klarstellt, »gebildeten Frauenzimmern« unwürdig seien. Er verurteilt die durch ›morgenländische Gewänder‹ hervorgerufenen Vorurteile und kommt diesen Vorurteilen zugleich entgegen, indem er seine Zeitschrift performativ als ein Europäisierungsprodukt vorstellt: Wie Fränkel die Titelfigur der Sulamith rhetorisch ihres morgenländischen Gewandes entledigt, so entledigt er die Zeitschrift selbst der hebräischen Sprache und Schrift. Seine Sulamith präsentiert sich – in programmatischer Abgrenzung vom hebräischen Me’assef – im europäischen Gewand deutscher Sprache in Frakturdruck, in das nur vereinzelt hebräische Schriftzeichen eingewebt sind. In Fränkels Rede vom »fremden, morgenländischen Gewande«, das »schädliche Vorurtheile« zu wecken drohe, wird greifbar, inwiefern die um 1800 auffallend häufig thematisierte und dokumentierte Arbeit am Körper (Kap. 3.1.2) aufs Engste verbunden ist mit neuen Publikationsformaten und buchgestalterischen Entscheidungen. Die Sulamith bezieht mithin als erste jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache mit einer »großmüthigen Orientalinn« als Titelfigur eine spannungsreiche Position. Sie verzichtet auf das morgenländische Gewand hebräischer Lettern und bemüht sich bis in zahlreiche erklärende Fußnoten hinein um die Linderung von Fremdheitserfahrungen. Zugleich aber markiert diese Publikationsstrategie die traditionellen jüdischen Wissensbestände und Gelehrsamkeitspraktiken überhaupt erst als fremd und erklärungsbedürftig. Die Publikationsform der Sulamith vollzieht auf diese Weise eine Orientalisierung jüdischer Traditionen, um eine nun heterogen zusammengesetzte Leserschaft unter neuen Vorzeichen und 183
Fränkel: Vorläufige Bemerkungen, 1806. S. 38 f.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
in deutscher Sprache an dieselbe heranzuführen. So sucht die Sulamith in der reinen ›Urbildung‹ des antiken Orients nach Anschlusspunkten, die sinnstiftende Funktionen für ein jüdisches Traditionsverhalten unter den Vorzeichen des deutschen Orientalismus übernehmen und den wahren »Kern« des Judentums hervorkehren könnten: Fränkel und Wolf wollen das Judentum durch den Orientalismus vom Orient befreien, die Juden also als eine Europa zugehörige und auf die morgenländische Vergangenheit bezogene Gruppe definieren. 3.1.5 Zusammenfassung An verschiedenen Konstellationen hat sich in diesem Kapitel gezeigt, wie jüdische Autoren sich mithilfe orientalistischer Denkfiguren und Selbstzuschreibungen in der unübersichtlichen Umbruchsituation um 1800 orientieren. Die Maskilim und Reformer operieren mit verschiedenen Sprachen, Schriften und Medien in einem komplexen Diskursraum. Der Orientalismus gewinnt dabei – das zeigen die in diesem Kapitel unternommenen Ausflüge in die medial vielgestaltigen Transferzonen jüdischer Vielsprachigkeit und Vielschriftigkeit – insofern eine besondere Komplexität, als seine Gebrauchsfunktionen maßgeblich davon abhängen, in welcher Sprache und mit welcher Schrift welches Publikum in welchem Medium adressiert wird. Die epistemischen Anreicherungen, die im späten 18. Jahrhundert durch orientalistische Fremdzuschreibungen in die Debatten über die jüdische Emanzipation eingespeist werden, kommen nur im Deutschen breit zum Tragen; das Referenzsystem des Orientalismus und der hebräischsprachige Diskurs der Haskala sind nur mithilfe perspektivischer und semantischer Verschiebungen durchlässig füreinander. So rekurriert Euchels hebräischer Briefroman Briefe des Meschullam zwar auf die orientalistischen Argumentationsmuster der deutschsprachigen Emanzipationsdebatte, transformiert diese aber im Filter hebräischer Sprache und maskilischer Publikumsadressierung in eine dezidiert jüdische Raumordnung. Mit der Reise Meschullams von der orientalischen Stadt Aleppo in die italienische Stadt Livorno präsentiert er einen Aufklärungsweg innerhalb des sefardischen Kulturraums, den seine Leser als Weg aus den östlichen Gebieten Preußens in die Hauptstadt Berlin auf ihren aschkenasischen Kulturraum übertragen können. Dieser Weg wird um 1800 nicht nur tatsächlich häufig begangen, er wird auch häufig beschrieben, und zwar als ein Weg aus halborientalischer Rückständigkeit zu europäischer Fortschrittlichkeit. Mit dieser chronotopischen Strukturierung, die dem neuzeitlichen Geschichtsdenken entspringt, wird der jüdische Kulturraum Aschkenas in eine östliche und eine westliche Hälfte aufgespalten. Diese Diskursformation lässt sich mit dem historiographischen Konzept einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufschließen. In sichtbaren Körper- und Kleidungsmerkmalen der sogenannten polnischen Juden, vor allem Bart und Kaftan,
3.2 Verpflanzungen
263
nehmen die sogenannten deutschen Juden Relikte einer orientalischen Vergangenheit wahr, die sie selbst im zivilisatorischen Aufklärungsprozess überwunden zu haben für sich in Anspruch nehmen. Durch diese Abgrenzungsbewegungen profilieren die jüdischen Aufklärer und Reformer den von ihnen propagierten Traditionswandel: Als Zwischenstufe auf dem Weg vom Ursprung des Judentums im Morgenland zum modernen europäischen Judentum verstanden, lässt sich am halb-orientalischen Hybridzustand der polnischen Juden die Arbeit an der Tradition als Aufgabe bestimmen, das Ursprüngliche von späteren Zusätzen zu scheiden. Die Juden müssen ihren orientalischen Ursprung mit reflektierter Distanz als ihr antikes Erbe anerkennen, so die im Emanzipationsdiskurs immer wieder artikulierte Forderung, wenn sie ihre halborientalische Rückständigkeit hinter sich lassen und sich dem europäischen Aufklärungszeitalter als würdig erweisen wollen. Die deutsche Sprache und die mit ihr eröffnete heterogen zusammengesetzte Öffentlichkeit verändern die Art und Weise, wie Maskilim und Reformer über das Judentum nachdenken und wie sie sich als Juden positionieren. In diesem Zusammenhang erscheint es als dringende Herausforderung, Deutungshoheit darüber zu erlangen, was das Judentum wesentlich und ursprünglich ausmache. So sucht die Sulamith in der reinen ›Urbildung‹ des antiken Orients nach Anschlusspunkten, die sinnstiftende Funktionen für ein jüdisches Traditionsverhalten unter den Vorzeichen des deutschen Orientalismus übernehmen könnten: Fränkel und Wolf wollen das Judentum durch den Orientalismus vom Orient befreien, indem sie die Juden als eine Europa zugehörige und auf die morgenländische Vergangenheit bezogene Gruppe definieren. Im Druckbild ihrer Zeitschrift schlägt sich dieses Programm insofern nieder, als die hebräische Sprache und hebräische Schriftzeichen gegenüber deutschen Texten in Frakturschrift stark zurückgedrängt und mit didaktischen Erklärungen eingehegt werden.
3.2 Verpflanzungen West-östliche Poetiken bilingualen Schreibens und Übersetzens Als die Erneuerungsversuche des Hebräischen gegen Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum an Zugkraft verlieren, greifen jüdische Aufklärer der zweiten und dritten Generation orientalistische Deutungsangebote auf, um das jüdische Verhältnis zur hebräischen Sprache neu zu definieren. Sie können dabei auf den deutschen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts zurückgreifen, der sich etwa in der Denomination vieler damaliger Universitätsprofessuren für ›orientalische Sprachen‹184 und in der Bezeichnung von christlichen und jüdischen 184 Vgl. Herders Erklärung in Vom Geist der Ebräischen Poesie, dass er das Wort »orientalisch […] für den Hauptbegriff der mit dem Hebräischen verwandten Sprachen« nehme (FHA 5, 764).
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
›orientalischen Buchdruckereien‹ niederschlägt, die Bücher in hebräischen Lettern setzen.185 David Friedländer erklärt 1788, dass die hebräische Sprache, die »aus dem entfernten Orient« stamme, »uns täglich fremder« werde. Gegenüber dieser »jetzt verblühten Sprache« hätten die ins »Abendland« versetzten Juden das Deutsche (respektive Englische, Französische etc.) als »Muttersprache« angenommen: »Wir lernen von früher Jugend an, unsre Vorstellungen und Begriffe, unsre Empfindungen und Leidenschaften mit Zeichen und Worten auszudrücken, die den Zeichen der hebräischen ganz unähnlich sind.«186 Tatsächlich vollzieht Friedländer mit diesem Sprechakt ebendas, wovon er spricht: Er positioniert das (neue) Verhältnis der Juden zu ihrer eigenen Tradition auf einer orientalisch-okzidentalischen Achse, die sich erst unter den sprachlichen und diskursiven Bedingungen des Deutschen ergibt: Nicht Zion ()ציון, nicht Aschkenas ()אשכנז, nicht Galut ()גלות, sondern Abendland und Morgenland strukturieren hier den Tiefenraum jüdischer Traditionen.187 Mit den abendländischen Muttersprachen haben die Juden, legt Friedländer nahe, auch die abendländische Blickrichtung auf das ferne, ursprüngliche Morgenland eingenommen. So wird das jüdische Traditionsverhältnis im Zeichen der Ablösung des Hebräischen durch das Deutsche neu ausgerichtet. Es bleibt allerdings umstritten, welche Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen seien, dass es sich beim Hebräischen um eine ursprüngliche morgenländische Sprache handle. In Reaktion auf Friedländers Umbildungsschrift, in der er 1812 dafür plädiert, die »Ursprache« Hebräisch einzig den Gelehrten zu überlassen und sich ansonsten ganz aufs Deutsche zu verlegen,188 verteidigen mehrere in Breslau veröffentlichte Pamphlete den Gebrauch des Hebräischen.189 So schreibt das betagte Rabbinatsmitglied Salomon Seligmann Pappenheimer, »für den morgenländischen Geschmack der Juden« sei »in der vertraulichen Zusammenkunft mit Gott« nichts anziehender und herzerhebender als die hebräische Sprache, in der auch die Psalmen als »Urbild aller Gebetsformen« abgefasst seien.190 Unmöglich sei es, die heiligen Schriften zu übersetzen, ohne sie zu verfälschen. 185 Iveta Cermanová: The Fall and Rise of Hebrew Book Printing in Bohemia, 1780–1850. In: Hebrew Printing in Bohemia and Moravia. Hg. von Olga Sixtová. Prag 2012. S. 214–237, hier: S. 225 f.; Rachel Heuberger: Hebräische Drucke und Drucker im Frankfurter Raum. Eine Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek. Frankfurt am Main 1994. 186 Friedländer: Über den besten Gebrauch der heiligen Schrift, 1788. S. 39. 187 1819 erklärt Friedländer noch einmal, dass die »morgenländischen Sprachen« nun einmal nicht »überall zu unsrer abendländischen Bildung paßten, und zu unseren Bedürfnissen ausreichten« (Friedländer: Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen, 1819. S. 262). 188 Friedländer: Über die Umbildung der Judenschaften, 1812. S. 236. 189 Lohmann: Friedländer, 2013. S. 393–396. 190 Salomon Seligmann Pappenheimer: Freymüthige Erklärung über die erst jüngst rege gewordene Kritik des Gottesdienst der Juden und deren Erziehung der Jugend, in zwey Abschnitten. Breslau 1813. S. 5.
3.2 Verpflanzungen
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Er verwehrt sich deshalb gegen die Einführung von Gelehrsamkeits- und Beredsamkeitselementen, »die dem Judaismus ganz fremde sind.«191 Die Frage jüdischen Traditionsverhaltens wird um 1800 in der Frage verhandelt, wie nah deutsche Juden – auch und vor allem sprachlich – ihrem morgenländischen Ursprung noch sein können und müssen. Diese Frage gewinnt einige politische Dramatik dadurch, dass sich in ebendieser Zeit das Paradigma des Monolingualismus durchsetzt, das zur Entscheidung für eine Sprache zwingt. Mit dem Aufkommen nationalstaatlichen Denkens wird das aus der Renaissance überkommene Ideal multilingualer Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit in Muttersprache und Fremdsprache gespalten; die Muttersprache wird zum natürlich-ursprünglichen Ausdrucksmedium stilisiert und emotionalisiert.192 Wie der Stil erscheint nun auch die Sprache nicht mehr ohne weiteres frei wählbar, sondern wird an Vorstellungen von Wesenhaftigkeit und Ursprünglichkeit gebunden. In dieser Perspektive erscheint bilinguales Dichten unnatürlich und letztlich unmöglich.193 Ein »wahrer Dichter«, erklärt Herder 1767 in seinen Literaturfragmenten, müsse »in seiner Sprache schreiben« (FHA 1, 369); ein »Original-schriftsteller« könne man nur in der »Muttersprache« sein (FHA 1, 409), während man eine »tote Sprache« wie Latein nur nach den Regeln der Grammatik lerne (FHA 1, 411). Um die lebendige, vertraute Muttersprache gegen die tote, fremde Sprache stark zu machen, bemüht Herder ausgiebig botanische Metaphern; die Denkart eines Dichters sei gleichsam in die Muttersprache »gepflanzet« (FHA 1, 408), und so müsse er seinem »Boden« treu bleiben: Wie Herder im weiten Fortgang seiner Ausführungen noch einmal unmissverständlich postuliert, kann ein Dichter, gemessen am Maßstab von Genialität und Originalität, nicht »mehr als eine einzige Sprache vollkommen fassen« (FHA 1, 412). Das Renaissance-Modell des polyglotten Autors weicht dem nationalliterarischen Modell des muttersprachlichen Originalgenies. Besonders drastisch bringt Friedrich Schleiermacher diese Norm in seinem einflussreichen Akademievortrag Über die verschiedenen Methoden des Über setzens (1813) zur Sprache: »Wie Einem Lande, so auch Einer Sprache oder der andern, muß der Mensch sich entschließen anzugehören, oder er schwebt haltungslos in unerfreulicher Mitte.« Der Muttersprache des eigenen Vaterlandes müsse unbedingte Priorität eingeräumt werden: Wer es darauf absehe, in einer fremden Sprache, etwa der lateinischen oder französischen, so gut und original wie in der eigenen, dem Deutschen, zu schreiben, der betreibe eine »frevelhafte und magische Kunst« ähnlich dem Doppelgängertum eines Gespenstes, »womit Pappenheimer: Freymüthige Erklärung, 1813. S. 14. Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen 1994. S. 132–153. 193 Jan Walsh Hokenson und Marcella Munson: The Bilingual Text. History and Theory of Literary Self-Translation. Manchester/Kinderhook 2007. S. 142. 191
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der Mensch nicht nur der Gesetze der Natur zu spotten, sondern auch andere zu verwirren gedächte.« Dem polyglotten Modell frühneuzeitlicher Gelehrten- und Adelskultur, das hier mit den Sprachen Latein und Französisch aufgerufen wird, erteilt Schleiermacher im Zeichen eines organologisch begründeten Kultur- und Sprachpatriotismus eine deutliche Absage. Bilingualität erscheint in Schleiermachers Argumentation entweder als pragmatische Entscheidung »von Amtswegen« oder als oberflächliches Liebhaberspiel. Wer es hingegen ernst meine mit dem gleichwertigen Gebrauch zweier Sprachen, der erscheint Schleiermacher als aberrantes, bedrohlich-monströses Hybrid: Mehrmals wiederholt er, es sei »gegen Natur und Sitte« und »gegen alle Ordnung und Regel«, wenn jemand ein »Ueberläufer« von der Muttersprache zu einer fremden Sprache werde.194 Die Verabsolutierung einer einzigen Muttersprache zum ausschließlichen Ausdrucksmedium wahrhaft großer Dichtung hat bei Herder und Schleiermacher vor allem zum Zweck, die deutsche Dichtung von ihren übermächtigen Vorbildern zu emanzipieren und das Deutsche gegen das Lateinische und Französische zu positionieren. Die hier propagierten Absetzbewegungen und Essentialisierungen haben indes auch Konsequenzen für den Stellenwert des Hebräischen, das nun als dritte Sprache humanistischer Gelehrsamkeit neben Latein und Griechisch für ›fremd‹ und ›tot‹ erklärt wird. Und das wiederum hat Konsequenzen für die Bedingungen deutschen jüdischen Schreibens um 1800. Die jüdischen Dichter, die um 1800 auf Deutsch und Hebräisch schreiben, fallen zwischen die säuberlich getrennt voneinander aufgestellten Stühle der exklusiv in Muttersprachen begründeten Nationalliteraturen. Sie experimentieren genau zu der Zeit mit bi- und multilingualen Schreib- und Dichtungsweisen sowie mit Praktiken der (Selbst-)Übersetzung, in der diese zu unnatürlichen und irritierenden Hybridphänomenen erklärt und marginalisiert werden. Dieses Spannungsfeld lote ich in diesem Kapitel aus. Der Wechsel von der hebräischen zur deutschen Literatursprache erfolgt, so wird sich zeigen, nicht als eindeutiger Einschnitt und radikaler Bruch. Das Hebräische verschwindet keineswegs abrupt von der Bildfläche; vielmehr bleibt es im jüdischen Traditionsumbau als ein Element präsent, dessen Verhältnis zur deutschen Literatursprache in Nachdichtungen, Übersetzungen, Paratexten und Fußnotenapparaten austariert wird. In den folgenden Einzelstudien zeichne ich ausgewählte Konstellationen nach, in denen das Hebräische um 1800 orientalisiert, ästhetisiert und als ursprüngliche morgenländische Sprache in ein Spannungsverhältnis zum Deutschen gestellt wird. Im Umgang jüdischer reformorientierter Pädagogen mit Naphtali Herz Wesselys hebräischem Mose-Epos wird der Stellenwert verhandelt, den das Hebräische in einer vornehmlich auf die deutsche Sprache ausge194 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens [1813]. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hermann Fischer u. a. 1. Abt. Bd. 11. Berlin/New York 2002. S. 66–93, hier: S. 87 f.
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richteten jüdischen Erziehung haben könne und solle (Kap. 3.2.1). Denkfiguren des Ursprungs dienen in diesem Zusammenhang – unter Rekurs auf den prominenten Stichwortgeber Herder – als Instrumente jüdischen Traditionsumbaus, mit deren Hilfe die jüdische Überlieferung in die Ferne gerückt und dabei mit einem attraktiven Glanz versehen werden kann. Unter den multilingualen und multiskripturalen Vorzeichen der Zeit ist dieser orientalisierende Traditionsumbau von einiger Komplexität. Das Hebräische nämlich schillert, wie ich ausgehend vom Umgang mit der Mehrdeutigkeit des hebräischen Wortes qedem zeigen werde (Kap. 3.2.3), zwischen orientalistischer Beschreibungssprache und orientalischem Projektionsobjekt: Es dient einerseits als Medium des Orientalismus, insofern in hebräischer Sprache auf den Orient Bezug genommen wird, andererseits ist es selbst Objekt des Orientalismus, insofern es als eine morgenländische Ursprache aufgefasst wird. Diese Doppelfunktion des Hebräischen prägt die bilingualen Schreibexperimente von Salomon Jacob Cohen, der seine hebräischen Dichtungen als morgenländische Pflanzen vorstellt, die er mittels deutscher Selbstübersetzung auf nördlichen Boden verpflanzt habe (Kap. 3.2.2 und 3.2.4). Auch Übersetzungen der hebräischen Bibel werden in diesem Kontext als ost-westliche Verpflanzungen imaginiert (Kap. 3.2.5). 3.2.1 Morgenländische Blumen im Gewächshaus jüdischer Pädagogik Zur Rezeption von Wesselys Mose-Epos Shirei Tiferet (1789–1805/1829) Besonders aufschlussreich für den Umgang mit dem Hebräischen in der Umbruchszeit um 1800 ist ein Blick auf den Bereich der Pädagogik, da sich in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen die Frage sprachlicher Sozialisierung mit besonderer Virulenz als eine stellt, die über die Zukunft der gesamten Judenschaft entscheidet. In vielen Lehrbüchern des frühen 19. Jahrhunderts ist von der ›heiligen Sprache‹ ( )לשון הקודשals »unserer heiligen Vatersprache, der einstigen Zierde des Alterthums« die Rede.195 Man betont die morgenländische Eigentümlichkeit und Schönheit der hebräischen Sprache; sie wird als etwas Fremdes präsentiert, das gerade als Fremdes des Erlernens wert sei.196 Wie diese Strategie einer Orientalisierung des Hebräischen profiliert wird, werde ich nun am Beispiel des Umgangs jüdischer Pädagogen mit einem großen Epos nachvollziehen, das Beer A. Bing: ספור בשפת עברית ואשכנזית.עובד ותרצה או ספורת מני קדם. Obed und Thürza oder eine Kunde aus der Vergangenheit, erzählt in hebräischer und deutscher Sprache. Rödelheim 1810. Vorbericht (unpaginiert). 196 Salomon Jacob Cohen will 1802 mit seiner Ebräischen Sprachlehre dazu beitragen, der heutigen Jugend Lust an »unsrer orientalischen Sprache« zu vermitteln (LV, 228 f.). Vgl. auch Moses Philippssohn: מודע לבני בינהoder, Kinderfreund und Lehrer. Ein Lehr- und Lesebuch für die Jugend jüdischer Nation und für jeden Liebhaber der hebräischen Sprache. Erster Theil. Leipzig/Dessau 1808. Vorrede (unpaginiert). 195
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ab 1789 in hebräischer Sprache erscheint und im Deutschen unter dem Titel Die Moseide bekannt wird. Die Shirei Tiferet ( )שירי תפארתdes Kaufmanns, Dichters und Gelehrten Naphtali Herz Wessely,197 der eine wichtige Vorbildfigur für die jungen jüdischen Aufklärer im Preußen der 1780er und 1790er Jahre ist, wirken als erstes Epos hebräischer Sprache stilbildend und werden jahrzehntelang als poetischer Höhepunkt der neuen hebräischen Literatur bewundernd nachgeahmt.198 Wesselys virtuose Beherrschung der hebräischen Sprache begründet um 1800 sowohl seinen Ruhm als auch die Rezeptionswiderstände, die sich seinem Werk entgegenstellen.199 Noch bevor 1789 das erste Bändchen des Epos in hebräischer Sprache im Verlag der Berliner jüdischen Freischule erscheint,200 beginnt Wessely, sich um eine deutsche Übersetzung zu bemühen. Eine deutsche Ausgabe zumindest der ersten vier Gesänge erscheint zu Johannis 1795 im Verlag von Wilhelm Vieweg unter dem Titel Die Moseide.201 So ambitioniert und erwartungsvoll Wesselys Mose-Epos lanciert, übersetzt und beworben wird,202 so frustrierend und entmutigend stellt sich allerdings seine weitere Publikations- und Übersetzungsgeschichte dar. Das aus insgesamt achtzehn Gesängen bestehende hebräische Epos kann zu Lebzeiten Wesselys mangels Unterstützung nicht vollständig erscheinen; erst 1829 gibt Wesselys Sohn Salomon die letzten drei Gesänge im Prager Verlag von Moses Landau aus dem Nachlass heraus. Auch für eine vollständige deutsche Übertragung fehlen zu Wesselys Lebzeiten die Mittel. Nach der Ausgabe der ersten vier Gesänge in deutscher Übersetzung bleibt eine Fortsetzung zunächst aus; ein Pränumerationsaufruf, der 1818 in der Sulamith für eine mit deutschen Anmerkungen versehene Gesamtausgabe des Epos wirbt, bleibt ohne hinreichende Resonanz.203 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, vor diesem publikations- und übersetzungsgeschichtlichen Hintergrund eine literaturgeschichtliche Gebrauchsfunktion der Moseide Wesselys herauszuarbeiten, die sich aus der Historisierung und Orientalisierung der hebräischen Sprache und Poesie ergibt: Wesselys Epos bietet 197 Vgl. für einen kurzen bio-bibliographischen Abriss Michael Studemund-Halévy: Biographisches Lexikon der Hamburger Sefarden. Die Grabinschriften des Portugiesenfriedhofs an der Königstraße in Hamburg-Altona. Hamburg 2000. S. 842–844. 198 Pelli: Haskalah and Beyond, 2010. S. 69–72. Vgl. auch Philippsons Bezeichnung von Wesselys Epos als »Meisterwerk, dessen Ruhm schon zu den festen Besitzthümern Israel’s gerechnet wird« (AZJ 6:1 (1843). S. 6). 199 Kathrin Wittler: Ein hebräischer Klopstock? Naphtali Herz Wesselys Shirei Tiferet und die Bibel-Epik des 18. Jahrhunderts. In: Naharaim 12:2 (2018). S. 153–172. 200 Naphtali Herz Wessely: חבור כולל שמונה עשר שירים.שירי תפארת. Bd. 1. Berlin 5549 [1789]. 201 Hartwig Wessely: Die Moseide in achtzehn Gesängen. Übersetzt nach dem hebräischen Original [von Wilhelm Friedrich Hufnagel, Georg Ludwig Spalding und Emanuel Wessely] mit neuen teutschen Anmerkungen des Verfassers. Bd. 1. Berlin 1795. 202 Vgl. z. B. Berlinische Monatsschrift 12:1 (1794). S. 93–102. 203 Eduard Israel Kley und Emanuel Wessely: Ankündigung. שירי תפארת. Prachtgesänge, oder die Moseïde. In: Sulamith 5:2:2 (1818). S. 118–124.
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sich um 1800 dafür an, das umstrittene und zunehmend prekäre Verhältnis deutscher Juden zur hebräischen Sprache als Verhältnis zu ihrem orientalischen Ursprung zu thematisieren und zu problematisieren. Wessely wird als sprachlichkultureller Grenzgänger inszeniert, der »orientalischen Schmuck und Eleganz in der Sprache mit gründlicher Kenntniß, und kalter philosophischer Beobachtung des Nordens« verbinde; seine Liebe zum Hebräischen erscheint als Liebe zur »morgenländischen Sprache« und zur »orientalischen Litteratur« (CCN, 308– 310),204 die vielen deutschen Juden unzugänglich geworden ist. In diesem Licht erscheint Wesselys hebräisches Werk als ein ebenso ruhmwürdiges wie fremdes Opus, das in der europäischen Gegenwart schwer zu vermitteln sei. 1806, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, veranstaltet Emanuel Wessely eine Neuausgabe der vier ersten Gesänge der Moseide in deutscher Übersetzung. In seiner Vorrede verdeutlicht er das Vermittlungs- und Übersetzungsproblem des wesselyschen Epos mittels orientalistischer Pflanzmetaphorik: Morgenländische Blumen in Germaniens Boden pflanzen, ist ein Unternehmen, das von einem angehenden Gärtner nur schüchtern gewagt und vollendet werden muß. Wird auch die versetzte Pflanze, fern vom vaterländischen Grunde, das noch seyn, was dort sie war? – Nein! Dort prangte sie in stiller Größe; hier bemüht sie sich darum, jedoch umsonst. Dort streuete sie entzückende Düfte; hier blieb ihr nur der Hauch einer werdenden Blüthe. Und dennoch? – Verzeihe, fühlender Leser, daß ich es dennoch wage, Dir dieses Werk zu reichen […]. Ich pflanzte die edle Blume des Orients auf Deutschlands Flur. Verwelkt sie hier – Es sey! sie fällt ein Opfer kindlicher Ergebenheit, und blüht vor Gott, der Ehre deine Aeltern! herab von heiliger Höhe rief.205
Der Übersetzer und Herausgeber Emanuel Wessely inszeniert sich hier in der Doppelrolle eines Gärtners und Sohns. Mit der Spannung zwischen diesen beiden Rollen exponiert er die Aporien hebräischen Schreibens um 1800. In der Rolle des Gärtners überträgt Emanuel Wessely das hebräische Bibel-Epos als »edle Blume des Orients« in die deutsche Sprache und platziert es auf dem deutschen Buchmarkt (»Deutschlands Flur«). Ein solcher west-östlicher Transfer aber erscheint als ein Wagnis der Kulturvermittlung, dessen Scheitern Wessely variationsreich antizipiert: Eine »edle Blume des Orients« sei nur auf ihrem angestammten Boden wirklich edel, während sie auf fremdem Boden ihre »stille[ ] Größe« einbüße und zu verkümmern drohe. Die schwierige Position der hebräischen Dichtungen Wesselys im deutschen Literaturdiskurs um 1800 wird hier mittels botanischer Metaphorik ausgedrückt: Als orientalische Gewächse auf 204
Michel Berr, der einen Teil des Epos ins Französische übersetzt hat, rühmt in Wessely einen Mann, der an den Ufern der Spree die Klänge Assaphs und Davids mit allem ›Prunk des orientalischen Stils‹ (»toute la pompe du style orientale«) habe erschallen lassen (Michel Berr: Traduction du prologue d’un Poëme hebreu, composé à Berlin, dans le dix-huitième siècle. In: Mercure étranger 3:17 (1814). S. 289–297, hier: S. 290). 205 Naphtali Herz Wessely: Die Moseide in achtzehn Gesängen. Uebersetzt nach dem hebräischen Originale von dem Herrn Senior Hufnagel, dem Herrn Professor Spalding, und dem Herausgeber Emanuel Wessely. Bd. 1. Hamburg 1806. S. i f.
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deutscher Flur verstoßen sie gegen die Regeln der Natur. So demonstrativ Wessely sich bemüht zeigt, dem Wunsch seines Vaters nach einer deutschen Übersetzung der Moseide zu entsprechen, so deutlich drückt er aus, für wie gering er die Erfolgschancen dieses Ansinnens hält: »Verwelkt sie hier – Es sey!« In der Antizipation seines Versagens in der Rolle des Gärtners zieht Emanuel Wessely sich auf die Rolle des Sohnes zurück und wiegt die Verschuldung am Werk mit der Verpflichtung dem Vater gegenüber auf. An die Stelle des richtenden Publikums tritt der gesetzgebende Gott, an die Stelle von Autor und Übersetzer treten Vater und Sohn. Metaphern west-östlicher Verpflanzung kommen in der Rezeption der Werke Wesselys immer wieder zum Einsatz.206 Benedict (Baruch) Schottländer legt 1804 in seinem Lesebuch für Kinder jüdischer Nation, das für Israel Jacobsohns reformorientierte Erziehungsanstalt in Seesen bestimmt ist, jüdischen Pädagogen die Rolle von Gärtnern nahe, die die jüdischen Kinder, die »nun einmahl germanisirt« seien, mit dem ihnen fremden »Genius der feinern Bildersprache« des Hebräischen bekannt machen sollten: [F]ührt man nicht auch Kinder in künstliche Gewächshäuser, um sie auch mit ausländischen Pflanzen bekannt zu machen? Der Lehrer thue denn das, was ein erfahrner und gefälliger Gärtner zu thun pflegt, und erkläre den Kindern die ihnen fremden und unverständlichen Redensarten, und befriedige sie, so viel als es ihre Empfänglichkeit zuläßt. Die Mosaide [Wesselys] ließ sich auch vermöge der Erhabenheit ihres Gegenstandes in einen Kinderton, wenn sie das Gepräge eines Gedichts behalten sollte, nicht ganz herabstimmen. Ich that was ich konnte, und travestirte sie in Prosa.207
Wesselys Moseide erscheint hier in ihrer morgenländischen Erhabenheit derart inkompatibel mit der gegenwärtigen Lebensrealität und Auffassungsgabe ›germanisierter‹ jüdischer Kinder, dass sie drastisch ›herabgestimmt‹ werden muss, um als Demonstrationsobjekt didaktisch in Gebrauch genommen werden zu können. Wesselys hebräische Dichtung wird als exotisches Ausstellungsobjekt in Schottländers Lesebuch eingepasst und in prosaisch ›travestierter‹ Form dem staunenden Blick freigegeben. Zu einem deutschen Prosa-Auszug zurechtge206 Vgl. schon [Wilhelm Friedrich Hufnagel]: Morgenländische Blumen auf Leopolds Grab. In: Für Christentum, Aufklärung und Menschenwohl 1:6 (1786/87). S. 466–487, bes. S. 466–476. Mardochai Bondi lobt 1817 in der Sulamith Wesselys Jäten der »verwilderten Sprache« sowie seine »eigenen Pflanzungen« und hebt vor allem die Moseide als »eine unverwelkliche Zierde in dem Kranze seines Nachruhms« hervor (Sulamith 5:1:2 (1817). S. 96). Auch Wolf Aloys Meisel (Leben und Wirken Naphtali Hartwig Wessely’s. Eine biographische Darstellung. Breslau 1841. S. 39) fasst Wesselys Bemühen um eine Bereinigung des rabbinischen Hebräisch in Pflanzenmetaphern: Aus »unendlich wirrem Gestrüppe« habe Wessely mühsam »die zarten Blumen der kindlich-naiven, gemüthlichkräftigen Südsprache« zu bergen gesucht. 207 Benedict Schottländer: Zaphnath-Paneach oder Sammlung moralischer Lehren, Sprüche, Erzählungen und Gedichte, aus dem Talmud und andern heiligen Schriften. Ein Lesebuch für Kinder jüdischer Nation; vorzüglich zum Gebrauch der von dem Herrn Cammeragenten Israel Jacobsohn zu Seesen errichteten Erziehungsanstalt für arme Kinder seiner Nation. Bd. 1. Königslutter 1804. S. v.
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stutzt,208 wird Wesselys großes Epos als ein ausländisches Gewächs vorgestellt, das im modernen Gewächshaus der europäischen Gegenwart allenfalls kümmerlich gedeiht. In der Perspektive reformorientierter jüdischer Pädagogik erscheint das He bräische nicht mehr als selbstverständliches Medium einer lebendigen Tradition, sondern als eine ausgestorbene Fremdsprache, die als Relikt des Altertums Wertschätzung und Erforschung erfahren soll. Verständigungs- und Erziehungsmittel soll nun das Deutsche sein, während das Jiddische ganz ausgeschlossen wird. Deutsch und Hebräisch markieren damit den »doppelten Gesichtspunkte«, unter dem Schottländer die europäische Judenschaft betrachtet wissen will: Zwar seien die Juden einerseits als naturalisierte Franzosen, Deutsche, Polen, Engländer etc. zu verstehen, doch aufgrund ihrer Abstammung »von einer ehemals im Orient […] blühenden Nation und ihrer treuen Anhänglichkeit […] an ihre Religionsgrundsätze und Gebräuche, und zum Theil auch Sprache, machen sie ein besonderes unvermischtes und für sich bestehendes Volk aus.« Das Hebräische fungiert damit als Zeugnis des »uralten Ursprungs« der Judenschaft, die von ihrem modernen, deutschsprachigen Standort auf diesen zurückblickt und sich zu ihm in Beziehung setzt.209 Mit diesem ›doppelten Gesichtspunkt‹ verortet Schottländer die moderne jüdische Diaspora-Existenz in einem west-östlichen Spannungsfeld. Indem er das Hebräische zu einer morgenländischen Ursprache stilisiert, vermeidet er einen radikalen Traditionsbruch. Vielmehr plädiert er, indem er das Hebräische in die chronotopische Ferne des Morgenlands rückt, für einen Traditionsumbau, der die Kräfteverhältnisse zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen so verschiebt, dass sie den gegenwärtigen Erfordernissen der abendländischen Gegenwart angemessen erscheinen und zugleich eine würdigende Haltung zur jüdischen Überlieferung erlauben. Mit der Orientalisierung der hebräischen Sprache und Poesie geht deren Ästhetisierung einher. In der Einleitung zu seiner breit rezipierten Sammlung von Akten-Stücken die Reform der Jüdischen Kolonien in den Preußischen Staaten betreffend (1792) beklagt Friedländer, dass den sogenannten polnischen Juden die »reine Hebräische Sprache« völlig unbekannt sei und dass sie den »ästhetischen Werth der Orientalischen Poesie« nicht zu schätzen wüssten.210 Gerade auf diesen Wert aber kommt es Friedländer nun an. Er proklamiert unter Rekurs auf die Ästhetik als Errungenschaft der Aufklärung einen Bruch mit den überkommenen Standards jüdischer Gelehrsamkeit und deren Erziehungsmethoden.211 In diesem Sinne rekapituliert er 1823 noch einmal, das Bedürfnis, die Bibel verstehen und genießen zu können, sei für junge Juden Ansporn zum »Studium abend Schottländer: Zaphnath-Paneach, 1804. S. 85–101. Ebd., S. 33 f. 210 Friedländer: Akten-Stücke, 1792. S. 43 f. 211 Uta Lohmann: »Ein ganz neues Feld der Erkenntniß«. David Friedländer zur Bedeutung der Ästhetik für die Bibelexegese der Haskala. In: Trumah 16 (2006). S. 49–71. 208 209
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ländischer Schriften« gewesen, »da ihnen die Aesthetik oder die Lehre des Geschmacks und Gefühls ein ganz neues, ihnen bis dahin unbekanntes Feld der Erkenntniss eröffnete«.212 Es ist diese Berührung mit der »Lehre des Geschmacks und Gefühls«, die das Reformjudentum – dem eigenen Verständnis nach – von den Zentren der Talmudgelehrsamkeit in Ostmitteleuropa entfernt. Das ist auch bei dem böhmischen Pädagogen und Maskil Peter Beer spürbar. Dieser rechtfertigt sich 1808 ausführlich dafür, dass er seine jugendgerechte Bearbeitung von Josephus’ Geschichte der Juden unter Verzicht auf hebräische Lettern in deutscher Sprache und lateinischer Schrift veröffentlicht. Dieser Punkt ist Beer so wichtig, dass er ihm eine – eingestandenermaßen »vielleicht allzugroße« – Anmerkung widmet, die sich über sieben Seiten erstreckt und den Haupttext der Vorrede auf zwei Zeilen im obersten Bereich des Satzspiegels zurückdrängt.213 Die Schriftfrage erweist sich in dieser Anmerkung als derart dringend und brennend, weil sie die großen Fragen jüdischen Sprachverhaltens und literarischer Praxis berührt. Eindringlich warnt Beer vor den »neuern hebräischen Belletristen«, die im Übersetzungsfuror bedenkenlos jedem noch so albernen deutschen »Liedchen« oder »Sentenzchen« einen »hebräisch seyn sollenden Kaftan über den Kopf« werfen, um es »so vermummt« in ihren hebräischen Textsammlungen »zur Schau« zu stellen. Sie verstoßen damit seiner Meinung nach gegen jegliche ästhetischen Standards: Ein auf europäischem Boden entstandener Gedanke, gesagt mit für dieses Klima nur passenden Ausdrücken, und ausgemahlt mit nur auf europäische Leser berechneten Bildern, im orientalischen Dichtergewande eingekleidet, verunziert sowohl das europäische Original, als auch die orientalische Einkleidung, und verunstaltet beyde zugleich.
Beer disqualifiziert die hebräische Übersetzung deutscher Dichtung, indem er sie als »orientalische Einkleidung« europäischer Gedanken mit dem »Kaftan« als Kennzeichen der sogenannten polnischen Juden (Kap. 3.1.2) engführt. Sie stehen für ein Traditionsverhalten ein, das Beer als unreflektierte sprachlich-stilistische Vermischung von orientalischen und okzidentalischen Elementen verdammt. Druckbildlich sieht er ein solches Traditionsverhalten in der jüdischdeutschen Schrift manifestiert, die er als »bizarre Gewohnheit, unsere Gedanken in diese characteres arcani einzuhüllen« verurteilt: Ein deutscher Text in hebräischen Lettern kommt ihm wie ein »nach der neuesten Mode gekleideter europäischer Elegant mit einem Turban auf dem Kopfe und Sandalien auf den Füßen« vor. Derartige orientalisch-okzidentalische Hybridgebilde will Beer vermieden wissen. So fordert er – ganz im Sinne des neuen Stilbegriffs (Kap. 2.1.4) – eine Kon David Friedländer: An die Verehrer, Freunde und Schüler Jerusalem’s, Spalding’s, Teller’s, Herder’s und Löffler’s. Hg. von Wilhelm Traugott Krug. Leipzig 1823. S. 76 f. 213 Diese und alle folgenden Zitate aus Peter Beer: Geschichte der Juden von ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft bis zur Zerstörung des zweyten Tempels nach Josephus Flavius zunächst für die jüdische Jugend bearbeitet und mit erläuternden Anmerkungen begleitet. Wien 1808. S. x–xix. Vgl. zu diesem Werk Hecht: Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen, 2008. S. 211–238. 212
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gruenz von Form und Inhalt, eine organische Verbindung von Originalität und Individualität anstelle von äußerer »Einkleidung«, unreflektierter Nachahmung und eilfertiger Übersetzung. Mittels dieser metaphorischen Verdichtung, in der sozialer Reformgeist und literarische Programmatik sich gegenseitig legitimieren, trägt Beer einen innerjüdischen Richtungsstreit aus, der auf die Frage hinausläuft, wie die orientalistisch markierten Traditionen des Judentums positiv zu besetzen und in die Gegenwart zu führen seien. Wie Friedländer und andere Reformer verfolgt Beer ein Programm des Ursprungsbezugs, das die später entwickelten jüdischen Traditionen umgeht. Gegen den hybriden, orientalisch-okzidentalischen ›Kaftan‹-Juden aus Polen setzt Beer den aufgeklärten jüdischen Reformer, der sich bewusst und reflektiert auf die frühen Ursprünge stolzen Hebräertums im Orient zurückbezieht. In diesem Sinne erklärt er seine Bewunderung für das reine, ursprüngliche Hebräisch, wie es in den »frühern und blühendern Zeiten des hebräischen Volkes« in Gebrauch gewesen sei. Um zu dieser lang vergangenen und fern im Orient liegenden Blütezeit Zugang zu finden, brauche es ein Originalgenie. Nur ein ›Originaldichter‹ sei in der Lage, würdige hebräische Dichtungen zu schaffen, weil er sich im poetischen Flug »leicht in die entfernteste Zone, in die früheste Welt- und Zeitperiode hinzuzaubern vermag, um von dort Bilder, Ausdrücke, Handlungen, Colorit und Charakterzüge für seinen Gegenstand zu entlehnen.« Dieses Verlangen nach einem begeisterten Originaldichter nun sieht Beer in Wessely befriedigt. Mit Wesselys Shirei Tiferet werde man, so Beer, »gleichsam« zum biblisch-orientalischen Patriarchenleben in all seiner Sinnlichkeit und Erhabenheit »hingerissen«. Dem Originalgenie Wessely sei es möglich, einen hermeneutischen Flug zu vollbringen, der auf poetischem Wege eine direkte Verbindung zwischen dem deutschen Juden der Gegenwart und dem orientalischen Hebräer der Urzeit herzustellen und die Vielfalt diasporischer Traditionsbildung zwischen diesen beiden historischen Punkten zu überspringen vermöge. Nur solche Dichter, so Beer mit genieästhetischem Elan, seien der Aufgabe gewachsen, das Hebräische in seiner reinen und ursprünglichen Schlichtheit wiederzubeleben: Ihre feurige Phantasie versetzte sie im dichterischen Fluge von den Ufern der Spree und der Oder, an jene des Jordans und Euphrats, um von ihren Gefielden [sic] ächt morgenländische Blumen zu holen; ihr seltnes Dichtergenie, geschmückt mit allen Vorkenntnissen, und ausgerüstet mit allen Hülfs- und Nebenwissenschaften, führte sie nach Baschan und Karmel, um von da ihre Bilder, ganz im Geschmacke des alten Orients zu kopiren; ihr großer poetischer Geist versetzte sie in die Zeiten Hemans, Asaphs und Ethans; ihre gründliche Bekanntschaft mit den meisten morgenländischen Sprachen; ihre ungemeine Belesenheit sowohl in der Geschichte der den alten Israeliten gleichzeitigen und sie umgebenden Nationen, als in den Meisterwerken der größten Dichter alter, mittlerer und neuerer Zeit; ihr unermüdetes Streben, ihr unabläßig anhaltendes Forschen, um gleichsam in das Mark der Bibel einzudringen, worin ihre ungemeine Belesenheit in allen Zweigen der biblischen Litteratur ihnen so wohl zu statten kam, und ihr scharfer kritischer Blick, als auch feiner und gebildeter ästhetischer Geschmack
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verlieh ihnen, diesen Lieblingen der holden Töchter Mnemosynens, kühne Bilder, kraftvolle und energische Ausdrücke, und feine geschmackvolle Wendungen, werth eines Isaias und Hababuks.
Beer versammelt hier sämtliche Topoi der Literaturdebatten des 18. Jahrhunderts. Feurige Phantasie und poetische Begeisterung bringen im Bild des dichterischen Flugs die »kühne[n] Bilder, kraftvolle[n] und energische[n] Ausdrücke« hervor, die der Odendichtung und besonders der Bibelpoesie zugeschrieben worden waren. Wenn Beer postuliert, dass das »Dichtergenie« mit »Vorkenntnissen« aufwarten und in »allen Hülfs- und Nebenwissenschaften« bewandert sein müsse, dann treten allerdings auch die schon in der herderschen Doppelforderung nach reflektierter Nachahmungspraxis und unmittelbarer Originalschöpfung inhärenten Widersprüche zutage. Beer erhebt den aporetischen Anspruch, dass der Dichter Originalgenie und Gelehrter sein müsse, dass er sich also durch »Phantasie« und »Belesenheit« zugleich auszeichne, sich im poetischen Flug schwungvoll in andere Gefilde versetze und sich dieselben doch erst durch »unabläßig anhaltendes Forschen« erschließe. Die Unvereinbarkeit der beiden Bewegungsmetaphern des poetisch-unmittelbaren Fliegens und des gelehrt-hermeneutischen Eindringens nun löst Beer dadurch auf, dass er sie in eine west-östliche Verpflanzungsmetaphorik überführt. Das Projekt deutschen jüdischen Schreibens gewinnt in der botanischen Metapher »ächt morgenländische Blumen zu holen« den Charakter einer anspruchsvollen und prekären Transfer- und Akklimatisierungsaktion, einer Originalschöpfung im Zeichen hermeneutischer Einfühlung. In diesem Anspruch tritt die schwierige, nachgerade unmögliche Lage jüdischer Autoren mitten im Traditionsumbau um 1800 hervor. Die umfassende Historisierung des Altertums und die Orientalisierung des jüdischen Traditionsbestands sperrt diesen für den unmittelbaren Zugriff, zugleich aber bleibt die Erwartung bestehen, dass jüdisches Schreiben natürlich und organisch aus ihm heraus erwachsen und diesen Ursprung bekunden müsse. Die Vorstellung, dass das Hebräische eine morgenländische Ursprache sei, macht seine Erneuerung für die Gegenwart einerseits besonders wünschenswert und anderseits undenkbar. Jüdische Autoren müssen dieser Vorstellung zufolge Gelehrte und Dichter, Orientalisten und Orientalen zugleich sein. Einerseits ist die Kenntnis morgenländischer Sprachen und orientalischer Geschichte erforderlich sowie ein »unabläßig anhaltendes Forschen, um gleichsam in das Mark der Bibel einzudringen«, andererseits wird jüdischen Dichtern eine in ihrer Autorfunktion begründete »feurige Phantasie« zugesprochen. Ebendiesen Spagat im Horizont jüdischer Vielsprachigkeit zu bewerkstelligen, versucht Salomon Jacob Cohen.
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3.2.2 Hebräisch-deutsche, ost-westliche Poesie Cohens Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden (1807) 1807 erscheint in Frankfurt am Main ein schmales Büchlein unter dem hebräisch-deutschen Doppeltitel מטעי קדם על אדמת צפון/ Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden.214 Sein Verfasser Salomon Jacob Cohen (1772–1845) ist zu diesem Zeitpunkt Religionslehrer an der jüdischen Freischule in Berlin. Im Alter von siebzehn Jahren war er 1789, angezogen von der Strahlkraft der preußischen Haskala, aus seiner Heimatstadt Meseritz (Posen) in das Zentrum der jüdischen Aufklärung gekommen. Doch mit seinem Wunsch, sich tatkräftig am Revitalisierungsversuch der hebräischen Sprache zu beteiligen, gelangte Cohen zu spät in die preußische Hauptstadt. Das maskilische Projekt einer Erneuerung der hebräischen Sprache verlor in den folgenden Jahren – zumindest in Berlin – spürbar an Zugkraft und Anhängerschaft.215 Das zentrale Organ der Haskala, die hebräische Zeitschrift Ha-Me’assef ()המאסף, pausierte zwischen 1790 und 1794 und wurde schließlich 1797 endgültig eingestellt. Als Cohen dem Maskil Isaac Euchel einen Brief voller Unternehmergeist mit dem Ansinnen schrieb, den Me’assef fortzuführen, antwortete dieser ihm am 11. August 1800 resigniert, das Projekt einer Erneuerung und Belebung der he bräischen Sprache müsse verloren gegeben werden.216 Cohen aber ließ sich nicht beirren. Der erste Jahrgang seines Neuen Sammlers ( )המאסף החדשerschien 1809 in Berlin, der zweite 1810 in Altona, der dritte und letzte schließlich 1811 in Dessau. Diese Ortwechsel bildeten den Auftakt zu Cohens jahrzehntelanger, weit ausgreifender Suche nach Wirkorten, an denen das Projekt der hebräischsprachigen Haskala anders als in Berlin noch auf Resonanz hoffen durfte. Nachdem er seine Stelle an der jüdischen Freischule in Berlin verloren hatte, reiste Cohen 1813 in die Niederlande, verbrachte dann einige Jahre in London und Hamburg, war ab 1820 in Wien tätig und ließ sich schließlich in Hamburg nieder.217 214 Salomon Jacob Cohen: המחוברים בלשון עברית ומתורגמים, הם שירים חדשים,מטעי קדם על אדמת צפון אשכנזי. Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden. Eine Sammlung neuer Hebräischer Poesien, nebst deutscher Übersetzung. Frankfurt am Main 1807 [Sigle CM]. Eine erweiterte Neuausgabe ohne deutsche Übersetzung erscheint 1818 in Żółkiew bei Lemberg herausgegeben von Abraham Goldberg; eine polnische Übersetzung durch Jacob Tugendhold 1840 in Warschau. Vgl. Bibliotheca Hebraica Post-Mendelssohniana. Bibliographisches Handbuch der neuhebräischen Litteratur seit Beginn der Mendelssohn’schen Epoche bis zum Jahre 1890 [1891–1895]. Hg. von William Zeitlin. Nachdruck New York, NY 1980. S. 59 f. 215 Feiner: Haskala, 2007. S. 369–402; speziell zu Cohen ebd., S. 371 f. 216 Cohens Schreiben und Euchels Antwort sind abgedruckt in dem Briefsteller Chethab Joscher (Stylübung). הוא תבנית אגרת ומליצות עברית ואשכנזית בלשון צחה וטהורה ללמד לבני יהודה, כתב יושר. Auswahl guter hebräischer und deutscher Briefe […] zum Nutzen der israelitischen Jugend. Hg. von Salomon Jacob Cohen. Wien 1820. S. 95 f. Vgl. für eine deutsche Übersetzung Feiner: Haskala, 2007. S. 372; zur Bedeutung von Cohens Briefsteller Judith Halevi Zwick: )20 – מאה16 תולדות ספרות האגרונים (מאה (הבריוונשטעלערס) העבריים. Tel Aviv 1990. S. 101–107. 217 Hans Schröder: Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 1. Hamburg 1851. S. 561–563; Meyer Waxman: A History of Jewish Literature [1936]. Bd. 3. London/New York,
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Cohens Leben und Schaffen waren geprägt von geographisch weit ausgreifenden Reisen, typographischen und übersetzerischen Sprachexperimenten, pädagogischen Unternehmungen, von der Erprobung unterschiedlicher literarischer Stoffe und Gattungen sowohl im Deutschen als auch im Hebräischen, von verschiedenen Zeitschriftenprojekten sowie Kooperationen mit verschiedenen Verlagen.218 Den meisten seiner hebräischen Veröffentlichungen gab er deutsche Übersetzungen bei, die je nach den verlegerischen Bedingungen in hebräischen oder deutschen Lettern gedruckt wurden.219 Cohen wirkte im weiten Sprachund Schrift-Spektrum jüdischer Buchkultur in Europa und zeichnete für Vermittlungs- und Übersetzungsleistungen verschiedenster Art und Richtung verantwortlich.220 Durch seine breit gefächerten publizistischen Tätigkeiten fungierte er als Brückenfigur zwischen der preußischen Haskala in Königsberg und Berlin, deren Aufbruchsstimmung bereits verklungen war, und der zweiten Phase der Haskala in Osteuropa, wo viele seiner hebräischen Veröffentlichungen im Laufe des 19. Jahrhunderts unter Verzicht auf die jeweiligen deutschen Übersetzungen und Beigaben Neuauflagen erlebten.221 Im Folgenden werde ich anhand der Paratexte – von der äußeren Gestalt über Titelei, Widmung, Pränumerantenliste, Vorrede und Inhaltsverzeichnis bis zum Eingangsgedicht – herausarbeiten, wie Cohens Büchlein die von disparaten sprachpolitischen, adressatenspezifischen und kulturellen Bedingungen gekennzeichnete Umbruchsituation um 1800 in eine west-östliche Poetik übersetzt. NY 31960. S. 153–158; Josef Klausner: היסטוריה של הספרות העברית החדשה. Bd. 1. Jerusalem 1960. S. 275–290; Judah Leo Landau: Short Lectures on Modern Hebrew Literature. Johannesburg 1923. S. 111–126. 218 Cohen wird von Simon Szántó 1866 treffend beschrieben als »das leibhaftige Portrait des damaligen auf- und niederwogenden Judenthums« und »das verkörperte theologische Experiment, der wandelnde und ruhelose Reformversuch, des unsteten Verbesserungsstrebens« (Jb. für Israeliten N.F. 1 (1856/66). S. v). 219 Abgesehen von Wiederabdrucken aus dem hebräischen Me’assef bestritt Cohen die ersten drei Jahrgänge der Zeitschrift Erstlingsfrüchte der Zeiten ()בכורי העתים, die er ab 1820 für den Wiener Verlag von Anton Schmid redigierte, nahezu ausschließlich mit deutschen Texten in hebräischen Lettern (Pelli: Haskalah and Beyond, 2010. S. 187–189). Vgl. zur Zeitschrift auch Bernhard Wachstein: Die Hebräische Publizistik in Wien. 1. Teil. In: Die Hebräische Publizistik in Wien in drei Teilen. Bd. 9 der Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutschösterreich. Hg. von der Historischen Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Wien 1930. S. xiii–c und S. 1–296. 220 1823 veröffentlichte Cohen in Hamburg im Verlag von Wilhelm Christian Menck das Antikendrama Dion. Ein historisch-dramatisches Gedicht in fünf Acten ausschließlich in deutscher Sprache; er fertigte 1838 aber auch eine hebräische Übersetzung von Isaak Markus Josts Geschichte der Juden an ( )קורא הדורותan. Sein jüdischer Katechismus Glaubenswurzeln ( )שורשי אמונהerschien 1815 mit einer englischen Übersetzung unter dem Titel Elements of the Jewish Faith in London. Vgl. David B. Ruderman: Jewish Enlightenment in an English Key. Anglo-Jewry’s Construction of Modern Jewish Thought. Princeton, NJ 2000. S. 249–260. 221 Shmuel Feiner: The Neglected Generation: Post-Berlin Maskilim in the Age of Conservatism, 1797–1824. In: Studia Rosenthaliana 40 (2007/2008). S. 205–215, hier: S. 207.
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Abb. 16: Titelblatt von Cohens Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden (1807).
Der Titel מטעי קדם על אדמת צפון/ Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden exponiert das Büchlein als poetische Verpflanzungsaktion vom südlichen Morgenland ins nördliche Abendland. Der Untertitel המחוברים בלשון,שירים חדשים עברית ומתורגמים אשכנזי/ Eine Sammlung neuer Hebräischer Poesien, nebst Deutscher Übersetzung erklärt diese Titelmetapher: Die angekündigten Dichtungen kommen in ihrer hebräischen Sprachlichkeit aus dem (biblischen) Morgenland, aber es sind dezidiert ›neue Hebräische Poesien‹ ()שירים חדשים, die im ›nördlichen Boden‹ des deutschen Buchmarkts Wurzeln schlagen und für diesen übersetzt werden. Nicht die Psalmen, die prophetischen Bücher der Bibel oder Exempel der rabbinischen Literatur werden hier in einer Edition präsentiert, sondern die Originaldichtungen des Autors Salomon Jacob Cohen, der sich auf dem Titelblatt als ›Lehrer der Moral und Hebräischen Sprache bey der jüdischen Freischule in Berlin‹ vorstellt. Die genealogische Pflanzenmetaphorik und die Zweisprachigkeit des Titels geben das Programm für den gesamten Band vor, der zu einem wieder-
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holten Wechsel zwischen hebräischen und deutschen, jüdischen und christlichen Lesegewohnheiten zwingt. Der schmale rechtsbündige Oktavband öffnet sich gemäß hebräischer Leserichtung nach links. Schlägt man das Buch auf, gelangt man zunächst zum Titelblatt (Abb. 16). Die in der Metapher des Buchtitels angelegte Ordnung wird im Druckbild wiederholt, indem sich über dem deutschen ›nördlichen Boden‹ der unteren Seitenhälfte die hebräische Schrift der ›morgenländischen Pflanzen‹ auf der oberen Seitenhälfte erhebt. Den ›hebräischen Poesien‹ gebührt in dieser Anlage ein doppelter Primat der Zeit. Erstens eignet ihrer Sprachlichkeit die Würde uralter Herkunft aus dem Morgenland, zweitens sind sie – auf ›nördlichem Boden‹ – eigenständig geschaffen und erst nachträglich in die jüngere deutsche Sprache übertragen worden. Die Titelmetapher der Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden propagiert somit einen fruchtbaren Austausch zwischen ehrwürdigen hebräischen Literaturtraditionen und dem deutschen Kontext gegenwärtigen hebräischen Dichtens unter Anerkennung ihrer typographisch durch einen Trennstrich markierten Differenz. Das Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis setzt sich in den Verlagsangaben fort. Verlegt im alteingesessenen Verlag von Varrentrapp und Wenner in Frankfurt am Main, wird der Band in der jungen Rödelheimer ›privilegirten orientalischen und occidentalischen Buchdruckerey‹ Wolf Heidenheims gedruckt. Dass Cohen sein Büchlein bei Heidenheim drucken lässt und nicht in der ›orientalischen Buchdruckerey‹ der jüdischen Freischule in Berlin,222 liegt neben institu tionellen und personellen Gründen wohl auch daran, dass der Rödelheimer Drucker zwei entscheidende Vorteile bietet. Erstens hat Heidenheim sich bereits den Ruf erworben, seine Ausgaben mit großer Kennerschaft zu gestalten und hebräische Drucke exzellenter Qualität herzustellen.223 Zweitens gilt Heidenheims Druckprivileg in Rödelheim auch für lateinische Schriften,224 während Cohens deutsche Übersetzung in Berlin in jüdischdeutschem Schriftbild, also in hebräischen Lettern, hätte gedruckt werden müssen, um die Vorgaben der dortigen Konzession einzuhalten.225 Diese Praxis aber wünscht Cohen erklärtermaßen 222 Vgl. zum Kontext Uta Lohmann: »Auf den Namen einer Bürgerschule Ansprüche machen« – Religionsunterricht und staatliche Klassifizierung der Berliner Freischule. In: Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. von Britta L. Behm u. a. Münster 2002. S. 137–165. 223 Paul Arnsberg: »Der das Verborgene zum Lichte brachte«. Wolf Heidenheim – der Rödelheimer »Mendelssohn des Machsor«. In: ders.: Bilder aus dem jüdischen Leben im alten Frankfurt. Frankfurt am Main 1970. S. 119–144; Paul Arnsberg: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Bd. 2. Bearbeitet und vollendet durch Hans-Otto Schwembs. Darmstadt 1983. S. 581–593; Helga Krohn und Katharina Rauschenberger: Juden in Rödelheim. Begleitheft zu der Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1990. S. 23–27. 224 Vgl. den Schriftverkehr im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, F24 C592/3. 225 Uta Lohmann: »Sustenance for the Learned Soul«. The History of the Oriental Printing Press at the Publishing House of the Jewish Free School in Berlin. In: LBI YB 51 (2006). S. 11–40.
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überwunden.226 Die Gestaltung des Titelblatts findet damit gleichsam ein Echo im Namen der Rödelheimer Druckerei, die ein ›orientalisches und occidentalisches‹ Angebot mit hebräischen und deutschen Lettern bieten kann. Dass Cohen seinen Band bei Heidenheim drucken, aber von Varrentrapp und Wenner verlegen lässt, markiert seinen Anspruch, über einen jüdischen Leserkreis hinaus auch christliche Adressaten zu finden und sein Buch auf dem deutschen Literaturmarkt zu platzieren. Dieser Anspruch soll nun im weiteren Gang durch die Paratexte des Bandes konturiert werden. Auf das Titelblatt folgt – weiter in hebräischer Leserichtung – eine Widmung an den »würdigen und berühmten Kenner der alten und neuern Literatur« Johann Joachim Bellermann (1754–1842), der seit 1804 Direktor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster ist.227 Blättert man nun weiter in hebräischer Leserichtung, ergibt sich ein Irritationseffekt. Die Leserin stößt hier auf die letzte Seite des Pränumerantenverzeichnisses und muss dreizehn Seiten vorblättern, um zum Inhaltsverzeichnis und zum Beginn der Vorrede zu gelangen, die in umgekehrter Blätterrichtung von links nach rechts zu lesen ist. Die zunächst in Blätterrichtung und Druckbild manifestierte Dominanz des Hebräischen wird damit abrupt zurückgenommen: Die Vorrede liegt nur auf Deutsch vor; hier ist es das Hebräische, das sich in wenige Fußnotenanmerkungen an den unteren Seitenrand verbannt sieht. Den erzwungenen Wechseln der Lese- und Blätterrichtung in horizontaler Richtung durch die Paratexte des Buches antwortet dann im Hauptteil die Möglichkeit, wie schon im Falle des Titelblatts in vertikaler Richtung zwischen dem oben platzierten hebräischen Original und der unten platzierten deutschen Übersetzung zu wechseln. Die Buchgestaltung erlaubt den Lesern damit durchgängig, die poetischen und poetologischen west-östlichen Bewegungen Cohens zwischen dem Hebräischen und dem Deutschen im Blättern und im Lektüreprozess nachzuvollziehen. In den Gattungsbezeichnungen, die Cohen für seine Dichtungen wählt, erweist sich das spannungsreiche Wechselverhältnis zwischen Deutsch und Hebräisch, Nord und Süd, Abendland und Morgenland, Übersetzung und Original auch als eines zwischen Innovation und Tradition. Das zweisprachige Inhaltsverzeichnis (Abb. 17) teilt die im Band enthaltenen Texte programmatisch den drei Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik zu (CM, i). Abrahams Märtyrerthum in chaldäisch Ur ist als »Epopee« gestaltet, aus dem Leben Davids werden »Einige Psalmähnliche Gesänge« gegeben und als ein »Drama in zwei Acten« wird Naboth, der Jesreelit angekündigt. Cohen begnügt sich also nicht mit 226
Er verlangt, dass »das jüdisch-deutsch Schreiben aufhöre, und dass man die Landessprache auch mit den im Lande üblichen Charakteren schreibe« (Cohen: Chethab Joscher, 1820. Vorrede (unpaginiert)). 227 Peter P. Rohrlach: Johann Joachim Bellermann (1754–1842). Ein gelehrter Berliner Schulmann. In: Altertumswissenschaften in Berlin um 1800 an Akademie, Schule und Universität. Hg. von Bernd Seidensticker und Felix Mundt. Hannover 2006. S. 189–200.
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Abb. 17: Inhaltsverzeichnung aus Cohens Morgenländischen Pflanzen (1807).
lyrischen Dichtungen, sondern will alle drei Großgattungen der modernen Literatur bedienen. Nicht zuletzt Cohens Wahl der Gattungsbezeichnung ›Drama‹ anstelle von Kategorien wie ›Tragödie‹ oder ›Komödie‹ zeigt seinen Willen an, die Erneuerungsfähigkeit des Hebräischen im dreigliedrigen Gattungssystem aus Epik, Lyrik und Dramatik zu erweisen, das sich im ausgehenden 18. Jahrhundert herausgebildet hat.228 Kommen diese Gattungsbezeichnungen im Deutschen mit Selbstverständlichkeit daher, zeigen die entsprechenden hebräischen Gattungsbezeichnungen ihren Neuheitswert für die hebräische Literatur an. Die ›psalmähnlichen Gesänge‹ nennt Cohen – unter Rückgriff auf die vor einigen biblischen Psalmen stehende Angabe mismor le-David ( – )מזמור לדודmismorim chadaschim ()מזמורים חדשים. 228 Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001, bes. S. 198–264.
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Diese neuen Gesänge nach Art der Psalmen sind die einzige hier vertretene Dichtungsgattung, die sich aus der hebräischen Bibel herschreibt und die Cohen mit der Geste der aktualisierenden Nachfolge durch das Adjektiv ›neu/modern‹ ()חדש aufgreifen kann. Die Gattung des Epos hat eine sehr viel jüngere jüdische Tradition: Cohens hebräische Bezeichnung ›Prachtgesang‹ ( )שיר תפארתverweist auf das zentrale Vorbild der Haskala-Literatur, Wesselys ab 1789 veröffentlichtes Mose-Epos Shirei Tiferet ()שירי תפארת, dessen metrische Ordnung Cohens Abrahamide im Übrigen auch wiederholt.229 In der hebräischen Bezeichnung des Dramas Naboth schließlich zeigt sich, dass die dramatische Gattung zu diesem Zeitpunkt in der hebräischen Literatur überhaupt nicht etabliert ist.230 Cohen behilft sich im Hebräischen mit der Formulierung, der Naboth-Stoff werde ›im Modus der Gegenwart erzählt‹ ()יסופר ע“ד ההוה, also im Präsens ohne vermittelnde Erzählinstanz. Der hebräisch-deutschen Gattungsordnung, die Cohen hier vorstellt, liegen damit wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse zugrunde: Der morgenländische ›Genius‹ der hebräischen Sprache soll in seiner ursprünglichen Eigentümlichkeit zur Blüte gebracht und zugleich, genährt aus dem ›nördlichen Boden‹ europäischer Gattungssystematik, in neuen Formen erprobt werden. In seiner deutschen Vorrede erklärt Cohen die Programmatik seines Bandes. Sie setzt mit der Trauer der »hebräischen Muse« um ihre beiden jüngst verstorbenen »ersten Gelehrten und Lieblinge« Johann Gottfried Herder und Naphtali Herz Wessely ein: In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als eben ihr Haupt zu sinken anfing, bothen sich ihr zwei Stützen dar, die Kraft genug besaßen, sie aufrecht zu erhalten. Kaum war nehmlich das Licht des großen brittischen Hebräers, Lowth’s, erloschen, als sie in dem alles um faßenden Genie Herders, der ihrem Geist bis auf die leiseste Spur nachzulauschen verstand, einen ihrer größten Anbeter fand. Zu gleicher Zeit besaß sie in Norddeutschland einen fast noch größeren Verehrer und Liebling. Hartwig Wessely in Berlin betete nicht nur ihre Schönheit an, sondern hat sie auch durch seine Meisterwerke beträchtlich verschönert; indem er die Gabe besaß, die Energie und die genialischen Eigenheiten ihrer Sprache mit einem eignen Geistesschwung, und mit den lieblichsten, nach dem Zeitgeschmack geformten Ideen zu vereinen. Mit dem Tode Herders und Wessely’s, dieser zwei trautesten Freunde unserer orientalischen Dichtkunst, scheint nun auch […] ihr glänzendes Ansehen, und die Schätzung ihres Werthes untergehen zu wollen. (CM, iii)
Cohen stellt hier den Aufschwung, den die Würdigung der hebräischen Sprache und Poesie im 18. Jahrhundert genommen hat, in den Schatten ihres drohenden Untergangs. Nach dem ›brittischen Hebräer‹ Lowth und dem ›alles umfaßenden 229 Vgl. zu Cohens Bewunderung für Wessely seine Ode auf denselben in Salomon Jacob Cohen: מטעי קדם על אדמת צפון. Zolkiew 1818. S. 15–17. Auch Cohens Epos Licht Davids ( )ניר דודvon 1834, das in zwanzig Gesängen die Geschichte Davids behandelt, ist stark an Wesselys Moseide orientiert. Vgl. Waxman: A History of Jewish Literature. Bd. 3 (1960). S. 157 f. 230 Meir Letteris: Zur Geschichte der hebräischen dramatischen Poesie. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 2:3 (1849). S. 254– 264, hier: S. 254.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Genie‹ Herders scheint auf christlicher Seite kein würdiger Erbe in Sicht; die neue Blütezeit der hebräischen Poesie, die – nach ihrem Herabsinken während der ›rabbinischen Periode‹ – mit dem italienisch-jüdischen Dichter und Kabbalisten Mosche Chaim Luzzatto (1707–1746) angebrochen und durch Wessely weitergeführt worden sei, sei nun im Begriff zu verwelken. So markiert Cohen seinen literatur- und sprachgeschichtlichen Ort als einen prekären: Mit dem Tode Herders und Wesselys drohe jetzt, im gerade erst angebrochenen 19. Jahrhundert, das glänzende Ansehen und die Wertschätzung der »orientalischen Dichtkunst« (CM, iii) unterzugehen. Sprachpolitisches Krisenbewusstsein prägt Cohens Buchveröffentlichung. Cohen erklärt diese Krise mit den sozialen und kulturellen Umbrüchen seiner Zeit. Während die wechselvollen Schicksale der jüdischen Nation der hebräischen Muse in einem »ungeheuren Zeitraum« von drei- bis viertausend Jahren von außen nicht existentiell etwas anhaben konnten, gefährdet in Cohens Wahrnehmung nun der »vergiftende[ ] Hauch« der »Aufklärung« die jüdische Kultur von innen. Cohen bejaht zwar die »erfreuliche Idee einer Annäherung«, doch haben diese Entwicklungen seiner Beobachtung nach bedenkliche Ausmaße angenommen, weil man sie »einzig und allein in der Abschaffung der alten Religions-Gebräuche« gesucht habe und mithin »von einem Extrem zum andern« übergegangen sei (CM, v f.). Die begrüßenswerte Überwindung des rabbinischen »Fanatismus« durch Aufklärung und Reform sieht Cohen mithin gegenwärtig in eine traditionsvergessene »Geckrei der Modesüchtigen« umkippen (CM, viii); die hebräische Schrifttradition drohe deshalb gegenüber der deutschen Lesekultur ins Hintertreffen zu geraten. Im Übereifer von Aufklärung und Reform verliere man »alle Achtung und Liebe für die geheiligte[n] Ueberreste« des hebräischen Altertums und »für die uralte ehrwürdige Sprache, für ihre Poesie und den ganzen Schatz ihrer Genialität« (CM, v f.). Gerade die Bildungselite der Judenschaft, die im Einklang mit den Bemühungen christlicher Hebraisten in der Lage wäre, die hebräische Sprache und Dichtung in ihrer antik-orientalischen Schönheit zu würdigen, missachte diese nun: Der kultivirste [sic] Theil der Nation, welcher – nach dem Ausdruck des Herrn Hofraths Eichhorn – von den Schriften des grauen Alterthums nicht bloß einen theologischen Gebrauch machte, sondern sie auch nach Verdienste zu würdigen, und als eine ehrwürdige Literatur der ersten Denker des alten Orients zu achten wußte; eben dieser gebildete Theil giebt jetzt zu ihrem Verfalle nicht wenig Anlaß. (CM, v)231
231 Cohen bezieht sich hier wohl auf Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung ins Alte Testament. Bd. 1. Leipzig 21787. S. iii: »Der bloß theologische Gebrauch, welcher von den Schriften des Alten Testaments gewöhnlich gemacht wird, hat bisher […] verhindert, diese Werke des grauen Alterthums nach Verdienst zu würdigen.«
3.2 Verpflanzungen
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Diesem der hebräischen Muse drohenden Untergang nun stemmt sich Cohen entgegen und beruft sich darauf, dass es durchaus außer ihm selbst noch andere Männer gebe, die den »gebildetsten und moralischsten Theil der jüdischen Na tion« ausmachen und »die Schriften ihrer weisen Vorfahren, als Literatur, schätzen und lieben« (CM, vii f.). Mit ihnen weiß er sich darin einig, dass die hebräische Poesie als »eine ehrwürdige Literatur der ersten Denker des alten Orients zu achten« sei. Nicht eine Rückkehr zum »theologischen Gebrauch« der Heiligen Schrift also, sondern die Pflege der hebräischen »Alterthümer« und ihrer Wertschätzung »als Literatur« propagiert Cohen. Der entscheidende argumentative Schritt liegt hier darin, das Hebräische aus dem religiösen Diskurs heraus und in den literarischen Diskurs hinein zu heben. Cohen will die Frage des gegenwärtigen Stellenwerts des Hebräischen nicht als theologische, sondern als ästhetische verstanden wissen; hier sieht er ein Vermittlungsinstrument, das davor bewahren kann, im Aufbegehren gegen die Halacha gleich die gesamte eigene jüdische Tradition in Bausch und Bogen zu verwerfen: Im literarischen Diskurs lässt sich das Hebräische, so seine Hoffnung, bewahren und wertschätzen. Mit seinen Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden versucht Cohen in diesem Sinne einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen Fanatismus und Modesucht gangbar zu machen. Dieser Mittelweg der Literaturästhetik nun ist ein orientalistischer. Cohen will die hebräische Poesie als orientalische in die deutsche Gegenwart führen und das Hebräische auf diese Weise – als »uralte ehrwürdige Sprache« – neben dem Deutschen aufrechterhalten und pflegen. Mit diesem Ansinnen zieht Cohen die Konsequenz aus dem Wandel, dem um 1800 im Zeichen konkurrierender Vielsprachigkeit der Umgang mit der hebräischen Sprache unterliegt. Die hebräische Poesie als Literatur des morgenländischen Altertums zu begreifen, hat zunächst einmal einen verfremdenden Effekt, macht aber auf neue Weise eine hermeneutische Annäherung und mithin eine Überwindung der zeitlichen und räumlichen Distanz möglich, die sich nun zwischen der europäischen Gegenwart und dem alten Orient auftut. Daraus ergeben sich die literaturpolitischen Absichten, die Cohen mit seinem Band verfolgt: Gegenwärtige Morgenländische Pflanzen, die ich auf nördlichem Boden zu verpflanzen versuche, sollen auch ein Schärflein zur Verbesserung und Verbreitung der hebr[äischen] Lektüre beitragen. Sie sollen […] die Möglichkeit zeigen, wie sehr man auch, mittelst einer richtigen grammatischen Analogie und angemessener Wendungen, diese alte orientalische Sprache kultivieren und beleben kann; oder, um bestimmter zu reden, wie man neuere Ideen und Redensarten mit hebr[äischen] Wörtern ausdrücken kann, ohne dem Genius dieser Sprache zu nahe zu kommen. (CM, viii)
Indem Cohen das Hebräische hier als eine »alte orientalische Sprache« bezeichnet, an deren »Genius« er sich vorsichtig anzunähern gedenke, partizipiert der Maskil aus Meseritz in Posen an der Historisierung, Orientalisierung und Poeti-
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
sierung der Bibel – und damit an der sich um 1800 ergebenden Verschiebung des Orients von einem Stoffrepertoire zu einem sprachlich-poetischen Modus.232 In diesem Sinne offenbart sich der hebräische »Genius« in der eigentümlichen Struktur der hebräischen Sprache, in ihren poetischen Formen und Klängen, die einer orientalischen Frühzeit entstammen. Diesen orientalistischen Zugang zum Hebräischen verbindet Cohen mit dem Wiederaneignungs- und Erneuerungsprojekt der Haskala, wenn er die Überzeugung vertritt, dass in den überlieferten Dokumenten der hebräischen Sprache »Keim und Wurzeln genug vorhanden sind, neue, uns fehlende Wörter zu schaffen und zu bilden.« Gemäß ihrem hier botanisch verbildlichten urzeitlichen Primat soll die hebräische Sprache den Ausgangspunkt modernen jüdischen Dichtens bilden. Statt wie viele andere Maskilim deutsche Texte des 18. Jahrhunderts zu übersetzen, hat Cohen sich deshalb bewusst »eigne Sujets gewählt und sie poetisch bearbeitet« (CM, viii). Aus dem ursprünglichen orientalischen Charakter der hebräischen Sprache und Poesie begründet Cohen die schöpferische Originalität seiner eigenen Dichtungen und inszeniert sich selbst als ein Dichtergärtner, der die ›Keime‹ und ›Wurzeln‹ dieser uralten Sprache zu erneuter und erneuerter Blüte bringt. So schillert bei Cohen der Status des Hebräischen zwischen Objekt und Medium, zwischen tiefer Vergangenheit und Erneuerungshoffnung, Vermittlung und Aneignung. Nun stellt sich die Frage, für welche Leser diese ambitionierte literarische Verpflanzungsaktion gedacht ist und welche Leser damit erreicht werden. Denn Cohens Klage über den Ansehensverlust der hebräischen Sprache ist insofern berechtigt, als die hebräischen Erneuerungsversuche der Berliner Haskala zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend in Resignation übergegangen sind. Cohen hofft erklärtermaßen auf Männer wie den Breslauer Rabbiner Salomon Seligmann Pappenheimer und den Verleger Wolf Heidenheim, die gegenwärtig in Wesselys Nachfolge an der Pflege und Erneuerung der hebräischen Literatur arbeiten (CM, vi f.), und er hofft auf christliche, wohlwollende Kenner in der hebraeophilen Tradition Lowths, Herders und Eichhorns. »Gelehrte[ ] und Lieblinge« der »hebräische[n] Muse« also, unabhängig von Herkunft und Konfession (CM, iii). Das Pränumerantenverzeichnis, das – in lateinischer Schrift – annähernd zweihundert Personen aufführt, die fast dreihundert Exemplare abgenommen haben (darunter 65 aus Berlin und 78 aus Frankfurt am Main), entspricht durchaus diesem Anspruch, versammelt es doch sowohl illustre jüdische Intellektuelle wie Lazarus Bendavid und David Friedländer sowie jüdische Bankiers wie Simon Veit als auch protestantische Theologen wie Johann Gottfried Eichhorn und Pädagogen wie Johann Joachim Bellermann sowie adlige Gönner wie
232 Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagina tion im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. S. 143–146.
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den Reichsgrafen zu Solms-Rödelheim (CM, x–xiii).233 Es spiegelt damit neben der auch in anderen Publikationen dieser Zeit zu beobachtenden regionalen Verteilung, die mit den Wirkkreisen Cohens (Berlin) und seines Verlags (Frankfurt) übereinstimmt, den religiösen und sozialen Umfang des »würdigen gelehrten Publico« (CM, ix) wider, dem Cohen seine Morgenländischen Pflanzen empfiehlt. Die Adressierung verschiedener Leserkreise ist bereits für Cohens Werbestrategien bestimmend, die mit annähernd zweihundert Pränumeranten durchaus beachtliche Erfolge zeigen.234 Cohen lässt eine Probe der deutschen Übersetzung seiner Abrahamide im Juli 1806 im Berliner Preußischen Hausfreund und im Dezember 1806 in hebräischer und deutscher Fassung in der Dessauer Sulamith abdrucken.235 Im Preußischen Hausfreund wird die Übersetzung durch zwei kleine Vorreden des Zeitschriften-Herausgebers Theodor Heinsius und des Gymnasiallehrers Bellermann eingeleitet, die um Unterstützung durch pränumerierende Subskription bitten. Cohens hebräische Dichtungen werden hier bis in den Wortlaut hinein gemäß seinem eigenen Programm mit dem Reiz der Ferne ausgestattet und als seltenes hermeneutisches Erneuerungsprojekt vorgestellt, das den Orient »ins Leben zurück« rufe und »gleichsam näher« rücke.236 Zwischen Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 49. Einige Zahlen zum Vergleich: Isaak Satanows Fabelsammlung Sprüche Asafs ( )משלי אסףvon 1789 verzeichnet gut 260 Subskribenten. Der Me’assef kommt zwischen 1784 und 1788 auf rund dreihundert subskribierte Exemplare; Cohen gelingt mit seiner neuen Folge des Me’assef die Einwerbung von gut 240 Subskribenten, die über 360 Exemplare abnehmen. Im ersten Band von Mendelssohns Tora-Übersetzung sind über fünfhundert Subskribenten aufgeführt. Cohens Bibelausgabe in hebräischen und lateinischen Lettern, die 1824–1827 in Hamburg erscheint, bestellen fast sechshundert Personen (Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 62 f., S. 93 f. und S. 107). Vgl. zur methodischen Herausforderung der Auswertung solcher Verzeichnisse Reinhard Wittmann: Subskribenten- und Pränumerantenverzeichnisse als Quellen zur Lesergeschichte. In: ders.: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982. S. 46–68. 235 Salomon Jacob Cohen: Wörtliche Uebersetzung der hebräischen Epopee: Die Abrahamide. In: Berlin oder der Preußische Hausfreund 1:30 (1806). S. 152–154; Salomon Jacob Cohen: [Probe aus] מטעי קדם על אדמת צפון. Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden. In: Sulamith 1:1:6 (1806). S. 417–424. 236 Heinsius referiert Cohens Bestreben, zu beweisen, dass die »durch ihr Alter, durch die darin verfaßten Urkunden und durch ihre genialische Eigenheiten merkwürdige orientalische [d. h. he bräische] Sprache, mittelst einer richtigen, grammatischen Analogie und angemessener Wendungen kultivirt, und ins Leben zurückgerufen werden könne.« Subskribieren könne man, ergänzt der Herausgeber in einer Fußnote mit genauen Adressangaben, bei Cohen selbst (Bischofstraße 14), beim Prediger Lettow (Spandauer Straße 40) und bei ihm selbst (Poststraße 5). Bellermann schreibt: »Ich habe einen Theil des hebräischen Originals, sowohl von der Abrahamide, als auch von den Psalmenähnlichen Liedern in der Handschrift mit wahrem Vergnügen gelesen, und bin überzeugt, daß nur wenige es dem gelehrten Verfasser nachthun werden. Da man so äußerst selten Schriften in dieser Sprache und von dieser metrischen Gattung in neuern Zeiten erhält: so werden die Freunde dieses Studiums sich über dessen Erscheinung doppelt freuen, und auch diejenigen, die sich nur mit der deutschen Uebersetzung und den deutschen Erläuterungen begnügen, werden sich das Vergnügen nicht versagen, eine gute Sache zu unterstützen, durch welche der ehrwürdige alte Orient uns gleichsam näher gerückt wird« (Vorreden zu Cohen: Wörtliche Übersetzung, 1806. S. 152 f.). 233
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Vaterlandsliedern, gefälligen Idyllen und Berichten über Berliner Bauprojekte ragen 1806 im Preußischen Hausfreund Cohens ›hebräische Gesänge‹ aus dem fernen Orient der Vergangenheit in die mit der französischen Besatzung hadernde preußische Gegenwart hinein.237 Die Werbung für Cohens Gedichtband erhebt sowohl im jüdischen Publikationsmedium der Sulamith als auch im christlich-patriotischen Publikationsmedium des Preußischen Hausfreunds Anspruch darauf, sich als ein hebräisch-deutsches, ost-westliches Vermittlungsprojekt in die Literaturlandschaft der Zeit einzuschreiben.238 Aus dieser Adressierung verschiedener Leserkreise ergibt sich die zweisprachige Verfasstheit der Gesamtpublikation. Cohen erklärt in der Vorrede, einige seiner »wichtigsten Freunde in Berlin« hätten eine deutsche Übersetzung verlangt, um ihnen das Nachschlagen einzelner Wörter zu ersparen (CM, viii f.).239 Die deutsche Übersetzung baut in diesem Sinne eine Brücke zu seinen Erneuerungsversuchen der hebräischen Sprache, sie stellt für einen Teil des Publikums deren Lesbarkeit überhaupt erst her. So steht die deutsche Übersetzung im Dienst des Projekts, die ›hebräische Muse‹ vor dem Untergang zu bewahren; sie ebnet den Weg zu der ›alten orientalischen Sprache‹. Cohens west-östliche Rhetorik erweist sich als eine ehrgeizige Strategie, mit der – in Zeiten jüdischer Vielsprachigkeit und wachsenden Interesses des deutschen Lesepublikums am Orient240 – die Attraktivität der hebräischen Literatur gesteigert werden und ihre Erschließung reizvoll erscheinen soll. Seine Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden stellen den Versuch dar, deutsches jüdisches Schreiben als eine hebräisch-deutsche, ost-westliche Vermittlungsleistung lesbar und attraktiv zu machen.241 Der doppelten Adressierung von Christen und Juden, Liebhabern und Gelehrten, Reformern und Traditionalisten sind freilich zahlreiche Friktionsflächen eingelegt. Wer in welchem Maße auf die deutschen Übersetzungen angewiesen ist, wer sich 237 Zur Zeitschrift während der Besatzungszeit vgl. Ludwig Geiger: Berlin 1688–1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt. Bd. 2. Berlin 1895. S. 221–223. 238 Die Herausgeber der Sulamith berichten, dass Cohen sie gebeten habe, die Probe, der »Tendenz« der Zeitschrift gemäß, in hebräischer und deutscher Sprache aufzunehmen (Sulamith 1:1:6 (1806). S. 417). 239 Angesichts des von Cohen ausführlich beklagten Verfalls der Hebräischkenntnisse unter den Angehörigen der jüdischen Nation kann es sich hierbei sowohl um christliche als auch um jüdische Freunde Cohens handeln. In diesem Sinne mag Berlin hier als ein Signalwort gelesen werden für das Zentrum protestantischer und jüdischer Aufklärung. 240 Ludwig Ammann: Östliche Spiegel. Ansichten vom Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den deutschen Leser, 1800–1850. Hildesheim u. a. 1989. S. 3–5. 241 Eine Sammlung von hebräischen Bibelnachdichtungen, die Cohens Titelgebung imitiert, deutet darauf hin, dass er damit einen Nerv der Zeit trifft. Vgl. Gabriel Berger: נטעי נעמנים מני ארץ קדם הנטועים באדמת המערב. Wien 1814. Aufgegriffen wird Cohens Verpflanzungsfigur auch von dem katholischen Theologen Martinet: Hebräische Chrestomathie, 1837. S. vii. Er druckt Cohens Eingangsgedicht An die Muse und das Epos über ›Abrahams Martyrium‹ in seiner Chrestomathie ab (ebd., S. 211–229). Vgl. ferner Benjamin Kewall: פרחי קדם הלא המה חמשים ושנים משלי איזוף ושני שירי גבורים גדעון ויפתח מעשיהם מלחמותיהם ועתותיהם. Orientalische Blüthen. Enthält 52 Fabeln in Versen und zwei Heldengedichte: Gideon und Jiftach, in hebräischer Sprache. Wien 1843.
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tatsächlich nur mit den deutschen Übersetzungen begnügen mag und wer die deutsche Vorrede und die deutschen Übersetzungen sprachlich nicht zu erfassen in der Lage wäre, ist ebenso offen wie die Frage, welche Leser sich tatsächlich durch die orientalisierenden Allüren des Büchleins anlocken lassen. Der in Cohens Poesiebändchen schriftbildlich und paratextuell manifest werdende Versuch, eine möglichst breite, sprachlich, sozial, religiös und kulturell höchst diverse Leserschaft anzusprechen, lässt mithin die komplexe sprach- und literaturpolitische Lage um 1800 sinnfällig werden. 3.2.3 Uranfang im Osten? Zur Semantik des Östlichen im Hebräischen (misrach und qedem) Cohens deutsche jüdische Poetik des West-Östlichen lässt sich im Kontext der jüdischen Vielsprachigkeit um 1800 durch seinen Gebrauch des hebräischen Titelwortes qedem ( )קדםweiter erhellen. Um das besondere Gebrauchspotential dieses Wortes um 1800 zu erkennen und einzuordnen, ist ein historisch-semantischer Exkurs nötig. Ausgehend von Johann Gottfried Herders und Moses Mendelssohns Nachdenken über Ursprünglichkeit und Uranfänglichkeit werde ich im Folgenden rekonstruieren, welche wechselweisen Veränderungen sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in den deutschen und hebräischen Begriffsfeldern von ›Ursprung‹ und ›Orient‹ ergeben. Herders Denken bewegt sich an der Schnittstelle zwischen nationalkulturellen und anthropologischen Interessen und ist von dem Versuch bestimmt, zwischen theologischem Universalismus und kulturellem Relativismus zu vermitteln.242 So verwendet er zum einen das Wort Volk als generisches Substantiv ohne Plural, das dem anthropologischen Begriff der Menschheit sehr nahe ist, zum anderen als Substantiv mit dem Plural Völker, das in seinem Sprachgebrauch mit dem Begriff der Nation auswechselbar ist und Sprach-, Kultur- und Abstammungs gemeinschaften bezeichnet.243 Es ist der Ursprung, der zwischen diesen beiden Verwendungsweisen ein Bindeglied darstellt: Das Volk ohne Plural ist die Ursprungskategorie der Völker; die Utopie einer deutschen Nationenwerdung ist auf die Vorstellung der Vielfalt nationaler Eigentümlichkeiten als »zerstreuete[ ] Menschheit« (FHA 3, 429) bezogen.244 Ulrich Gaier hat diese Denkfigur Herders 242
Vgl. die Beiträge von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Hans Dietrich Irmscher und Jost Schneider in dem Sammelband Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto. Würzburg 1996. 243 Wulf Koepke: Das Wort »Volk« im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders. In: Lessing YB 19 (1987). S. 209–221. 244 Hans Adler: Weltliteratur – Nationalliteratur – Volksliteratur. Johann Gottfried Herders Vermittlungsversuch als kulturpolitische Idee. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto. Würzburg 1996. S. 271–284; Ulrich Gaier: Volkspoesie, Nationalliteratur, Weltliteratur bei Herder. In: Die europäische République des lettres in der Zeit der Weimarer Klassik. Hg. von Michael Knoche und Lea Ritter-Santini. Göttingen 2007. S. 101–115.
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in seinem Kommentar zu Herders Volkslieder-Ausgaben differenziert erläutert. Vom Volk als dem ursprünglichen Zustand aller einzelnen Menschen und Nationen geht der geschichtliche Weg zur Ausbildung eines individuellen Nationalcharakters: dieser muß durch Vergleichung und Anerkennung fremder Nationalcharaktere von Verirrung und Isolation freigehalten und mit den Fremden zusammen im Volk der Völker, der Menschheit aufgehoben werden. (Kommentar in FHA 3, 876)
In diesem Sinne operiert Herder in seiner Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) mit einem universal-anthropologischen und einem kulturgeschichtlichen Paradigma zugleich, indem er die orientalische Poesie der Hebräer einerseits als allgemeinmenschlichen Uranfang inszeniert, andererseits diesen Ursprungscharakter aber gerade aus ihrer besonderen sprachlich-kulturellen Eigenart heraus erklärt.245 Mit dieser anthropologisch-kulturgeschichtlich doppelt besetzten Ursprungsfigur können die als poetisch erkannten Teile des Alten Testaments zum einen zu hebräischen Nationalgesängen, zum anderen zu Ur-Modellen natürlichen Gefühlsausdrucks erhoben werden. Das Hebräische erscheint als frühe, ursprüngliche Sprache und zugleich als jüdische Nationalsprache. Mit diesen Überlegungen wird Herder zu einem wichtigen Stichwortgeber für die Maskilim, zumal bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Hebräischen.246 Seine anthropologisch und kulturgeschichtlich bestimmte Ursprungsfigur ist für viele jüdische Aufklärer attraktiv, weil sie es ihnen erlaubt, den göttlichen Ursprung der ›heiligen Sprache‹ als biblischen Ursprung sowohl der Menschheit als auch der jüdischen Nation in säkulare Zusammenhänge zu übersetzen: Mit der hebräischen Sprache wurde an Zeiten angeknüpft, die von Juden als Momente nationaler Integrität und Souveränität und von Christen als älteste Menschheitsgeschichte erinnert wurden. Die Schriften der jüdischen Aufklärer sind voll von solchen Ursprungserzählungen, in denen die hebräische Sprache dafür einsteht, dass es Korrespondenzen gibt zwischen dem besonderen Ort der jüdischen Nation und dem als universal geltenden Raum der christlichen Welt.247
Diese doppelt – universal und partikular – bestimmte Ursprungsfigur definiert, wie die jüdischen Aufklärer die Spannung zwischen jüdisch-nationaler und 245 Andrea Polaschegg: Die Verbalwurzel der Hieroglyphe. Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie als Text zwischen zwei wissensgeschichtlichen Paradigmen. In: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Hg. von Daniel Weidner. Berlin 2008. S. 201–223. 246 Moshe Pelli: Haskalah and Beyond, 2010. S. 109–132; Moshe Pelli: »These are the words of the great pundit, scholar and poet Herder…«. Herder and the Hebrew Haskalah. In: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittelund Osteuropas. Hg. von Christoph Schulte. Hildesheim u. a. 2003. S. 107–124. 247 Andrea Schatz: Vorgeschrieben und umgeschrieben. Die ›neue heilige Sprache‹ der jüdischen Aufklärer. In: Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Hg. von Michael Brenner. Göttingen 2002. S. 19–27, hier: S. 21.
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menschheitlich-universaler Geschichte sowie zwischen dem morgenländischen und dem frühen Geist der hebräischen Poesie konzeptualisieren. Unter den vielsprachigen Bedingungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird dieser Fragenkomplex sowohl im Deutschen als auch im Hebräischen verhandelt. Wie orientalistische Ursprungskonzepte Eingang in das maskilische Hebräisch finden und dessen Ausdrucksmöglichkeiten perspektivisch und semantisch erweitern, wie aber im selben Prozess der doppelte Status des Hebräischen als heilige Ursprache und als für die Moderne erneuerte Nationalsprache bis zum Zerreißen gespannt wird, werde ich nun ausgehend von der Begriffsgeschichte derjenigen Wörter nachvollziehen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert im Hebräischen zur Bezeichnung des Orients verfügbar sind oder neu verfügbar werden. Die im Hebräischen übliche Bezeichnung für ›Osten‹ – misrach ( – )מזרחentstammt dem Tanach. Sie bietet eine räumliche Deixis gen Osten, die mit der zeitlichen Konnotation des Tagesanbruchs versehen ist, indem sie den Osten als diejenige Gegend bezeichnet, in der die Sonne aufgeht. Diese Semantik teilt sie mit der lutherschen Prägung ›Morgenland‹,248 mit den lateinischen (oriens), griechischen (anatolé) und arabischen (sharq oder mashriq) sowie mit den in romanischen Sprachen geläufigen Bezeichnungen (zum Beispiel im Italienischen oriente sowie für den Mittelmeerraum levante). Komplementär dazu und auch hier im Einklang mit dem deutschen ›Abendland‹, dem arabischen gharb oder maghrib und dem lateinischen occidens, wird der Westen im Hebräischen mit ma’araw ( )מערבals Richtung angegeben, in der die Sonne untergeht. In den nordwestlich von Jerusalem gelegenen jüdischen Gemeinden ist das Wort misrach im Mittelalter eine wirkmächtige Verbindung mit der Ausrichtung von Gebet, Liturgie und Synagogenraum gen Zion eingegangen. Die Ostung bestimmt nicht nur die architektonische Gesamtanlage vieler Synagogengebäude, sondern auch deren Inneneinrichtung: Mit Ornamenten verzierte Fenster oder Wandtafeln mit dem Schriftzug misrach ( )מזרחmarkieren die jeweilige Ostwand.249 Auch in jüdischen Privathäusern und Laubhütten wird mit MisrachWandtafeln in Form von kalligraphischen Kunstwerken, Zeichnungen, Stickereien, Papierschnitten, Radierungen oder auch Lithographien die Gebetsrichtung gen Osten angezeigt.250 Im religiösen Alltagsleben also sind Wort und Schriftzug misrach mit ihrer Konnotation des Sonnenaufgangs als Orientierungsmarke gen Zion und gen Osten sehr präsent. In der hebräischen Literatur Herbert Wolf: Die Bezeichnungen der Himmelsrichtungen bei Luther. In: Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Hg. von Horst Haider Munske u. a. Berlin/New York, NY 1988. S. 261–278. 249 Katrin Keßler: Ritus und Raum der Synagoge. Liturgische und religionsgesetzliche Voraussetzungen für den Synagogenbau in Mitteleuropa. Petersberg 2007. S. 111 f. und S. 179 f. 250 Michal S. Friedlander: »Jenseits des Stromes«. Sehnsucht, Ambivalenz und das jüdische Bild von Babylon. In: Babylon. Mythos & Wahrheit. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin. Bd. 2. Hg. von Moritz Wullen und Günther Schauerte. Berlin 2008. S. 191–206, hier: S. 199 f. 248
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wird immer wieder die west-östliche Zionide des jüdischen Dichters und Philosophen Jehuda Halevi variiert, der sich von al-Andalus nach dem Heiligen Land sehnt: »Mein Herz im Osten, und ich selber am westlichsten Rand [לבי במזרח ]ואנוכי בסוף מערב.«251 Im Tanach ist indes noch eine zweite Bezeichnung für ›Osten‹ belegt. Qedem ( )קדםkann einerseits Ostgegenden, andererseits Ur- oder Vorzeitigkeit bezeichnen und kommt in der hebräischen Bibel zu gleichen Teilen im räumlichen und im zeitlichen Sinn vor.252 Entsprechend lauten die Übersetzungen für qedem in der Septuaginta anatolé für die Bedeutung ›Osten‹ sowie arché und archaios für die Bedeutung des Ursprünglichen, Vorzeitigen.253 Im nachbiblischen hebräischen Sprachgebrauch wird qedem dann vornehmlich in seiner zweiten Bedeutung – Ur- oder Vorzeitigkeit bzw. Altertum – verwendet. So etwa in einem der berühmtesten, meistvertonten liturgischen Gesänge der jüdischen Tradition. Bis heute wird in Synagogen der Schabbat am Freitagabend mit dem Lied Komm, mein Freund, der Braut entgegen ( )לכה דודי לקראת כלהdes frühneuzeitlichen Kabbalisten und Dichters Schlomo Alkabez begrüßt, das nach seinem Anfangsvers, der dem Hohelied 7,12 entnommen ist, unter dem Titel Lecha dodi bekannt ist.254 In der zweiten Strophe heißt es über die Braut, den Schabbat, sie sei ›von Beginn an, von alters her‹ ( )מראש מקדםeingesetzt. Wie das lateinische principium – im Unterschied zum initium als Anfangspunkt eines Verlaufs in Raum und Zeit – als mitlaufender Anfang Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdringt, so erscheint der Schabbat bei Alkabez (in deutlichem intertextuellem Bezug auf die ersten zwei Verse der Weisheitsrede in Sprüche 8,22–31) als ein Prinzip beziehungsweise, wie Isaac Euchel elegant übersetzt, als »Ziel der Schöpfung beim Vorwurf schon []סוף מעשה במחשבה תחילה.«255 251 Hebräischer Wortlaut und Übersetzung zitiert nach Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd. 4.1. Boston, MA u. a. 1983. S. 215. Vgl. zu Jehuda Halevi als prägendem Modell Sidra DeKoven Ezrahi: Booking Passage. Exile and Homecoming in the Modern Jewish Imagination. Berkeley, CA u. a. 2000. S. 38–51. 252 Der doppelte Verweischarakter – räumlich auf den Osten und zeitlich auf eine Ur- oder Vorzeit – erklärt sich mit Blick auf die Grundbedeutung der Wurzel q-d-m (vorn, nach vorne, vorwärtsgehen). Die Israeliten orientierten sich nach Osten und wussten somit das westlich gelegene Mittelmeer in ihrem Rücken. Entsprechend lag die Himmelsrichtung Osten vorn; der Westen befand sich hinten. Auch die Vergangenheit liegt im biblischen Hebräisch ›vor‹ den Augen der Betrachtenden, während Zukünftiges mit dem verbunden ist, was sich hinter den Sprechern befindet. Vgl. die Artikel zu qadim ( )קדיםsowie qedem und qadam ( )קדםim Theologischen Wörterbuch zum Alten Testament. Hg. von Heinz-Josef Fabry und Helmer Ringgren. Bd. 6. Stuttgart u. a. 1989. Sp. 1159–1174; Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Nachdruck der 17. Auflage von 1915. Berlin u. a. 1962. S. 701; ferner die Einträge zu qedem im Wörterbuch von Jehuda Leib Ben-Ze’ev: ]...[ אוצר השרשים כולל שרשי הלשון העברית. 3 Bde. Wien 1807/1808 (2. Auflage 1816) sowie in der Bearbeitung von Meir Letteris in einer dritten Auflage (1838–1841) und einer nochmals erweiterten vierten Auflage (1862–1864). 253 Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament. Bd. 6 (1989). Sp. 1168. 254 Reuven Kimelman: המשמעות המיסטית.»לכה דודי« וקבלת שבת. Jerusalem 2003. 255 Gebete der hochdeutschen und polnischen Juden. Aus dem Hebräischen übersetzt und mit An-
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Hat misrach im zyklisch erneuerten, geosteten liturgischen Gedenken an Zion seinen prominenten Ort als Bezeichnung des Ostens, fällt dem Substantiv qedem in der Bedeutung ›Osten‹ lange keine prominente Rolle zu,256 denn es ist, dafür bietet Alkabez’ Lecha Dodi ein besonders markantes Beispiel, im nachbiblischen Hebräisch dominant mit einer Semantik des (Ur-)Anfänglichen besetzt. In der historischen Konstellation des ausgehenden 18. Jahrhunderts aber, die von einer Begeisterung für das Frühe, Alte und Ursprüngliche geprägt ist, bietet qedem sich den jüdischen Aufklärern gerade wegen seiner doppelten Semantik als Entsprechung der deutschen Bezeichnungen Morgenland und Orient an.257 In einer Zeit, in der Ursprungserzählungen eine enorme Anziehungskraft ausüben und die Frage des (orientalischen) Ursprungs abendländischer Kultur prominent und kontrovers mit konkurrierenden Angeboten verhandelt wird,258 stellt qedem eine ideale hebräische Bezeichnung für den Orient bereit, da es Semantiken des Östlichen und Orientalischen mit Semantiken des Altertümlichen und Vorzeitigen zu verbinden und in der Ursprünglichkeit der Heiligen Schrift zu legitimieren erlaubt. Es vermittelt den Doppelstatus der hebräischen Poesie und Sprache als zugleich morgenländische und frühe. Das werde ich nun ausgehend von einem hebräischen Stellenkommentar Mendelssohns zu seiner deutschen Tora-Übersetzung (1780–1783) aufschlüsseln. Wie Mendelssohn und seine Mitarbeiter in diesem Kommentar, dem sogenannten Bi’ur ()באור, insgesamt rabbinische jüdische Kommentartraditionen mit philosophischen und ästhetischen Ideen der Aufklärung verbinden, so erfährt auch das biblische Deiktikon qedem in Mendelssohns Kommentierung eine moderne Interpretation, die verschiedene Deutungslinien im Zeichen des neuzeitlichen merkungen begleitet von Isaac Abraham Euchel. Königsberg 1786. S. 300–303. Vgl. für eine andere damalige Übersetzung des Lieds: Gebete der Juden auf das ganze Jahr. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von David Friedländer [1786]. Amsterdam 1807. S. 52; für eine moderne Übertragung Das jüdische Gebetbuch. סדר התפלות. Hg. von Jonathan Magonet. Aus dem Hebräischen übersetzt von Annette Böckler. Bd. 1. Gütersloh 1997. S. 34–37. Herder präsentiert 1802 das Lied zu Bewillkommung des großen Ruhetages der goldnen Zeit in seiner Zeitschrift Adrastea zwischen seinem Aufsatz über die Bekehrung der Juden und einer Sammlung von Jüdischen Parabeln. Er übernimmt abgesehen von geringfügigen Änderungen Euchels Übertragung, ohne dies kenntlich zu machen (Adrastea 2:4 (1802). S. 167–169). 256 Jehuda Leib Minden merkt 1760 in seinem Wörterbuch des Hebräischen ( )ספר מלים לאלוהim Eintrag zu qedem an, dass der Ausdruck misrach üblicher und bekannter sei. 257 So werden im deutsch-hebräischen Teil eines Wörterbuchs aus der Mitte des 19. Jahrhunderts misrach und qedem als zwei unterschiedliche Bedeutungsnuancen von ›Orient‹ aufgefasst. Zum deutschen Lemma ›Osten‹ werden an erster Stelle Bildungen mit misrach versammelt, zum deutschen Lemma ›Morgenland‹ hingegen vorrangig Bildungen mit qedem (Judah Leib Ben-Ze’ev: Ozar Haschoroschim. Hebräisch-deutsches & deutsch-hebräisches Wörterbuch über das alte Testament. Vierte Auflage vermehrt und verbessert von Dr. Meir Letteris. Bd. 3. Wien 1864. S. 30 und S. 222). 258 Andrea Polaschegg: Athen am Nil oder Jerusalem am Ganges? Der Streit um den kulturellen Ursprung um 1800. In: Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Hg. von Alexandra Böhm und Monika Sproll. Würzburg 2008. S. 41–65; Hans Robert Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt am Main 1989. S. 23–66.
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Orientalismus zusammenführt.259 In Genesis 2,8 wird das Paradies ›gen Osten‹ (mi-qedem) verortet: .האדם אשר יצר-בעדן מקדם וישם שם את-ויטע יהוה אלוהים גן Das ewige Wesen, Gott, pflanzte einen Garten in Eden zur Morgenseite, setzte den Mensch dahin, den er gebildet hatte. (JubA 15.2, 21; JubA 9.1, 103)
Ein beachtlicher Teil der Übersetzungs- und Kommentartradition zu dieser Stelle hat sich aus der Polysemie des Wortes qedem ergeben. Da mitunter schwer zu entscheiden ist, ob das jeweils Beschriebene in der Bibel mit der Bezeichnung qedem in zeitliche oder räumliche Ferne gerückt wird, ist die Verortung des Paradieses mi-qedem in einigen frühen Übersetzungen bis hin zur lateinischen Vulgata, die hier den Ausdruck a principio setzt, nicht als Verweis auf den Osten, sondern auf die (Vor-)Vergangenheit interpretiert worden.260 Mendelssohn referiert in seinem Kommentar zu dieser Stelle diese verschiedenen Übersetzungsund Deutungstraditionen. Die aramäische Übersetzung, der Targum Onkelos, habe den Ausdruck mi-qedem in der zeitlichen Bedeutung ›lange vorher‹ übersetzt, die späteren jüdischen Ausleger seien ihm darin gefolgt und sich lediglich uneins gewesen, ob damit gemeint sei, dass Gott den Garten vor der Erschaffung der Welt oder vor der Erschaffung des Menschen gepflanzt habe. Raschi hin gegen habe den Ausdruck räumlich in der Bedeutung ›im Osten Edens‹ verstanden und sei wohl davon ausgegangen, dass Eden selbst wiederum im Westen lag (vgl. JubA 15.2, 40). Mendelssohn nun vollführt in seinem Kommentar eine Synthese der beiden Bedeutungen des Wortes qedem und der sich an diese anschließenden Deutungs- und Übersetzungstraditionen: Doch siehe, im Osten war der Anfang der menschlichen Besiedlung [והנה במזרח היתה התחלת ]הישוב לבני האדם, und von dort aus breitete sich die Gattung aus, und die Völker trennten sich nach ihren Sprachen in ihren Ländern, wie aus allen Erzählungen der Chroniken und den Altertümern jeglicher Nation und Zunge [ ]כמדע מכל ספורי דברי הימי ומקדמוניו של כל עם ולשוןbekannt ist. Sie alle bezeugen, daß in jeglichem Bezirk und jeglichem Landstrich die Besiedlung vom östlichen Land [ ]מארץ המזרחdorthin fortgerückt ist. Und die Schrift erwähnt, daß im Osten der Welt [ ]במזרחו של עולםein behaglicher und ergötzlicher Ort sei, in einem Landstrich gemäßigten Klimas, allerergötzlichst geschaffen, fett und üppig, eine prächtige Pflanzung des Ewigen. Dort bereitete der Heilige, gepriesen sei er, dem Menschen einen Ort, darin zu wohnen, und er beschloß, daß ein Garten an diesem Ort sei. (JubA 15.2, 21; JubA 9.3, 40)
Indem Mendelssohn den Osten der Welt ( )מזרחו של עולםmit dem Anfang der Menschheit ( )התחלת הישוב לבני האדםverbindet, fängt er die Mehrdeutigkeit des Wortes qedem mittels ebenjener Ursprungsfigur auf, die auch Herder wiederholt 259 Einschränkend sei angemerkt, dass nicht restlos gesichert ist, ob der Stellenkommentar zu Genesis 2,8 vollständig von Mendelssohn stammt. Vgl. dazu JubA 9.4, lxix–l xxvii. 260 The JPS Torah Commentary. Genesis בראשית. The Traditional Hebrew Text with the New JPS Translation. Commentary by Nahum M. Sarna. Philadelphia, PA 1989. S. 18; Benno Jacob: Das Buch Genesis. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1934. Stuttgart 2000. S. 85.
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bemüht (z. B. FHA 5, 919), und trägt sie so der biblischen Urgeschichte ein. Diese synthetisierende Erklärung ist – eingeführt durch die adversative Konjunktion »Doch siehe [ – «]והנהals Eigenleistung des Kommentars markiert: eines der Aufklärungsgegenwart entstammenden Kommentars, der auf Mythen, Chroniken und Altertümer verschiedener Nationen blicken und sie zur Erklärung des biblischen Wortlauts heranziehen kann. Die Annahme, dass der Ursprung der Menschheit im Osten liege, wird zu einer anthropologischen Grundwahrheit erklärt, die durch eine plurale Überlieferungslage verschiedener Völker Bestätigung finde. So lässt sich im ersten Buch Mose an den Ausdrücken be-reschit und mi-qedem der Beginn der Schöpfungs- und der Menschheitsgeschichte festmachen: Auf den Anfang der Welt in Genesis 1,1 ()ראשית261 folgt in Genesis 2,8 der Anfang der Menschheit ()התחלת הישוב לבני האדם. Dieser aber liegt, Mendelssohns Kommentar zufolge, im Osten der Welt ()במזרחו של עולם. Aus dieser Deutung folgt eine entscheidende semantische Modifizierung des Wortes qedem. Wenn Mendelssohn nämlich erklärt, dass aus der Perspektive »jeglicher Nation und Zunge [Herv. KW]« der Ursprung der Menschheit im »östlichen Land [ «]ארץ המזרחliege, dann wird die Himmelsrichtungsangabe »zur Morgenseite [ «]מקדםzu einem Zeit-Raum fixiert, der nicht durch eine standortabhängige Orientierung an der Himmelsrichtung Osten definiert wird, sondern durch die Perspektive des europäischen Orientalismus. Damit wird die Polysemie des hebräischen Wortes qedem in einem neuen Referenzsystem ausgerichtet: Qedem bezeichnet hier nicht die aus israelitischer Perspektive östliche Himmelsrichtung, sondern von europäischer Warte den Orient als Kindheitsalter der Menschheitsgeschichte. Wie sich auch im deutschen Sprachgebrauch die Bezeichnungen Morgenland und Orient erst im Laufe des 18. Jahrhunderts von standortgebundenen Bestimmungen der Himmelrichtung Osten zu Bezeichnungen für eine mehr oder weniger geographisch fixierte Region entwickeln, so wird das Wort qedem im hebräischen Sprachgebrauch hier erst zum Synonym des deutschen Morgenlandes, verstanden als das Andere des Okzidents, erklärt. Mit seiner anthropologischen Verortung des Paradieses am östlichen Ursprung des menschlichen Geschlechts, die in der Deutungstradition zu Genesis 2,8 in dieser Form, soweit ich sehe, einen Neuansatz bedeutet, greift Mendelssohn die jüdisch tradierte Urzeit-Semantik des Wortes qedem auf, wie sie liturgisch im Lecha Dodi zum Ausdruck kommt, überträgt sie auf die europäische Ursprungsprojektion ›Orient‹ und partizipiert damit am damaligen orientalistischen Ursprungsdenken. Vor diesem Hintergrund erst wird verständlich, war Mendelssohn übersetzt be-reschit ( )בראשיתim Kommentar zu Genesis 1,1 ähnlich wie mi-qedem im Kommentar zu Genesis 2,8 mit ›im Anfang‹ ()בתחלה. JubA 15.2, 3; JubA 9.3, 3. Vgl. dazu auch Daniel Krochmalnik: Die aufgeklärte Schöpfung. Zur Übersetzung des Biur von Moses Mendelssohn. In: Jüdische Studien als Disziplin – Die Disziplinen der Jüdischen Studien. Fs. der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 1979–2009. Hg. von Johannes Heil und Daniel Krochmalnik. Heidelberg 2010. S. 245–275, hier: S. 269 f. 261
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um Mendelssohn sich anerkennend und, schenkt man seinem Freund Johann Georg Zimmermann Glauben,262 sogar euphorisch über Herders Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774/1776) äußert,263 die bei allen anderen Berliner Aufklärern auf Ablehnung stößt.264 Es ist durchaus denkbar, dass Mendelssohn in Herders stürmischem Genesis-Werk einen Zugang zum ersten Buch Mose als ›ältester Urkunde des Menschengeschlechts‹ eröffnet sieht, den er seinen jüdischen Lesern im Kommentar zu Genesis 2,8 mit der Annahme, dass der Anfang der Menschheit im Osten liege, plausibel zu machen versucht. Das Wort qedem jedenfalls, das bis ins ausgehende 18. Jahrhundert primär in der Bedeutung ›Urzeitlichkeit‹ verwendet worden war, lässt sich um 1800 in seiner zweiten Bedeutung ›Osten‹ aktivieren, um die nun populäre Vorstellung des Orients als Ursprungsraum auszudrücken. 3.2.4 Poetologie des Ursprungs Cohens restauratives Erneuerungsprogramm In ebendieser Bezeichnungsfunktion erlaubt es das Wort qedem, den Kern dessen zu erfassen, was Cohen mit seinem bilingualen Poesiebüchlein Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden (1807) bezweckt.265 Während das Licht – speziell das im Osten (misrach) aufgehende Sonnenlicht der Morgenröte – als Symbol der Aufklärung und der Französischen Revolution Konnotationen radikaler Anfänglichkeit und Diskontinuität gewonnen hat,266 lässt sich mit qedem die Gewinnung ›neuer hebräischer Poesien‹ aus dem Uranfänglichen und Ur262 Der Popularphilosoph und königliche Leibarzt behauptet 1779 im Hannoverischen Magazin, Mendelssohn habe ihm gegenüber gesagt, er finde in Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts »Schätze von tiefer vor ihm nie verstandener Wahrheit, und einen ganz neuen zur Aufklärung der heiligen Schrift vor ihm sonst durch niemand erreichten Orientalischen Geist« (JubA 22, 143 f.). 263 Mendelssohn bekundet am 20. Juni 1780 in einem Begleitschreiben zur Übersendung des ersten Bandes seiner Tora-Übersetzung an Herder Interesse, sich über Herders Hohelied-Übersetzung und die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts auszutauschen (JubA 12.2, 194). 264 Gerhard Sauder: Zur Rezeption von Herders Schrift »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts«. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Hg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1989. S. 268–291. 265 Cohens Buchtitel spielt vermutlich direkt auf Genesis 2,8 an, also auf ebenjenen Vers, in dem die Polysemie des Wortes qedem zum Tragen kommt. Nur dort nämlich trifft in der hebräischen Bibel, soweit ich sehe, eine Verbform des Wortstamms n-t-c a ()נטע, von dem die titelgebende Pluralform ›Pflanzen‹ ( )מטעיםabgeleitet ist, mit einer Nominalform des Wortstamms q-d-m ( )קדםin einem Vers zusammen: »Das ewige Wesen, Gott, pflanzte [ ]יטעeinen Garten in Eden zur Morgenseite [( «]מקדםJubA 15.2, 21; JubA 9.1, 103). 266 Jean Starobinski: 1789. Die Embleme der Vernunft. Hg. von Friedrich A. Kittler. Aus dem Französischen [1973] übersetzt von Gundula Göbel. Paderborn u. a. 1981; Ulrich Im Hof: Enlightenment – Lumières – Illuminismo – Aufklärung. Die »Ausbreitung eines besseren Lichts« im Zeitalter der Vernunft. In: »Und es ward Licht«. Zur Kulturgeschichte des Lichts. Hg. von Maja Silvar. Bern/ Frankfurt am Main 1983. S. 115–135.
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sprünglichen des Morgenlands vermitteln. Das Hebräische soll, so Cohens restauratives Erneuerungsprogramm, als »heilige Sprache« göttlichen Ursprungs und als »alte orientalische Sprache« erneuert, aus der morgenländischen Urzeit in die deutsche Gegenwart verpflanzt werden. In diesem Sinne erhebt Cohen qedem zum Titel- und Leitwort seines Büchleins. Wie aber setzt er es konkret ein und wie nutzt er es als ›Keim und Wurzel‹ (CM, viii), um neue Bedeutungen zu bilden? Wie gelingt es ihm, anders gesagt, die biblische Bezeichnung qedem derart umzufunktionieren, dass sie die europäische Projektion des Orients als Ursprungsraum aufruft? Die Antwort liegt in der bilingualen Struktur der Texte. Cohens Erneuerung der ›heiligen Sprache‹ ergibt sich, so wird zu zeigen sein, aus einem Wechselspiel zwischen seiner Verwendung der stark phrasenhaltigen und figurativ verfahrenden hebräischen Rhetorik der Haskala und seinen deutschen Selbstübersetzungen. Das soll nun ausgehend von einer kurzen Passage aus den Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden herausgearbeitet werden. Nach einem Prolog hebt Cohens Abrahamide mit einem Psalmentopos an: על פלגי מי מנוחות בין הררי ארץ קדם שם בנאות דשא תחת כפת הרקיע .כרע רבץ בין העדרים אברם בנו תרח Bei stillen Bächen, dort zwischen Orients Gebürgen, lagerte sich auf einer grünen Aue, unter des Himmels blauem Zelte, umgeben von seiner Heerde, Abraham, des Terach Sohn. (CM, 10)
Cohen evoziert in diesen drei Versen eine orientalische Hirtenszene, indem er Direktzitate aus dem 23. Psalm (einfach unterstrichen)267 mit einer (doppelt unterstrichenen) Zusammenfügung der biblisch belegten Ausdrücke eretz qedem (›Morgenland‹) und harerei qedem (›Berge des Ostens‹) zur Angabe »zwischen Orients Gebürgen« ( )בין הררי ארץ קדםkombiniert. Er löst das Wort qedem damit aus seinen konkreten biblischen Kontexten und erhebt es, unterstützt durch die deutsche Übersetzung »zwischen Orients Gebürgen«, zum Äquivalent der deutschen Bezeichnung ›Orient‹. Diese Verortung der abrahamitischen Hirtenszene im Orient wird zusätzlich dadurch betont, dass das titelgebende Signalwort qedem den ersten Vers beschließt und durch den deiktischen Hinweis ›dort‹ ()שם gleich zu Beginn des zweiten Verses erneut bekräftigend aufgegriffen wird. Die Wortfolge ›Orient‹ (qedem) / ›Dort‹ (scham) bildet so ein gliederndes Scharnier zwischen den beiden Versen: Vom ›Hier‹ des nördlichen Bodens aus wird das ›Dort‹ des Morgenlands biblischer Zeit evoziert. Cohen setzt in dieser Passage den sogenannten Musivstil, bei dem ein Text weitgehend aus biblischen und zum Teil auch talmudischen Wendungen zusammengefügt wird,268 so ein, dass die 267 Cohen folgt mit den ›stillen Bächen‹ Mendelssohns Übersetzung und mit der ›grünen Aue‹ Luthers Übersetzung. Vgl. JubA 10.1, 36; Evangelische Original-Bibel. Bd. 1 (1741). S. 567. 268 Jutta Schumacher: Hebräischer Musivstil – Bibelreminiszenzen als Bausteine literarischer
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zusammengefügten biblischen Ausdrücke mithilfe der deutschen Übersetzung neue – orientalistische – Bedeutungen und Bedeutungsnuancen gewinnen.269 Im Ergebnis evoziert die Passage ebendie mit dem Pathos der Ursprünglichkeit versehene orientalisch-bukolische Szenerie, die Herder in Vom Geist der Ebräischen Poesie wirkmächtig als für die hebräische Dichtung paradigmatische imaginiert hatte. So überführt Cohen die hebräisch verfasste zeitliche und räumliche Wahrnehmungsordnung der Israeliten in die bilingual strukturierte Wahrnehmungsordnung des frühen 19. Jahrhunderts. Das deiktische Adverb ›dort‹ weist nicht von Jerusalem nach Chaldäa, sondern von Berlin und Frankfurt aus zur chaldäischen Stadt Ur in Mesopotamien, die aus dieser Perspektive ebenso wie Jerusalem zur Ursprungsregion Orient gehört. Erst an der deutschen Übersetzung »zwischen Orients Gebürgen« lässt sich dieser Wechsel der deiktischen Funktion wirklich festmachen, während der hebräische Text ambig bleibt. Zwar zieht Cohen aus Wörtern wie qedem, als ›Keim und Wurzel‹ verstanden, die Blüten seiner ›neuen hebräischen Poesien‹, eindeutige okzidentalisch-orientalische Koordinaten verleiht ihnen aber erst der deutschsprachige Rahmen. Nur auf dem ›nördlichen Boden‹ – vom europäischen Standpunkt aus – kann das Hebräische morgenländisch und ursprünglich im emphatischen Sinne des deutschen Orientalismus erscheinen. Im bilingualen Dichten vollziehen sich, so wird hier sichtbar, Prozesse der Um- und Re-Orientierung. Mit Blick auf die Mehrdeutigkeit des Wortes qedem werde ich Cohens Standortbestimmungen und die dabei zum Tragen kommenden bilingualen Semantiken des West-Östlichen nun anhand seines programmatischen Eingangsgedichts An die Muse ( )אל ההגיוןweiter untersuchen (Abb. 18). Gleich zweimal greift dieses kleine Gedicht das Titelwort qedem ( )קדםauf und bezieht aus dessen doppelter Bedeutung von Osten/Orient und Urzeit/Vorzeit seine Dynamik. Um der konsequent zweisprachigen Textgestaltung interpretatorisch gerecht zu werden, werde ich im Folgenden das hebräische Gedicht im direkten Wechselspiel mit seiner deutschen Übersetzung als ein bilinguales untersuchen und herausarbeiten, inwiefern beide Teile sich einerseits gegenseitig erhellen und andererseits miteinander kontrastieren.
Mosaiken. In: Formelhaftigkeit in Text und Bild. Hg. von Natalia Filatkina u. a. Wiesbaden 2012. S. 153–62. 269 Diese Semantisierung ist der Haskala-Forschung entgangen. Den hebräischen Titel von Cohens Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden hat man fälschlich als ›The Orchards of Ancient Times [sic] on Northern Soil‹ übersetzt (Pelli: Haskalah and Beyond, 2010. S. 70).
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Abb. 18: Eingangsgedicht zu Cohens Morgenländischen Pflanzen (1807).
אל ההגיון אל ראש עפרות תבל שנות קדם בעלומיה עלי נא הגיון שם שאלי דברי שיריך ותנעם המית כנורי ויצלצלו קויה עתה צר ולחם בשער נבקה כל רוח פה הרג ושממון בתלמי שדי שטוח !עופי לי מקדם ומרפא בכנפיך An die Muse Fleuch hin zur Kindheit der Welt, nach Orients glücklicher Urzeit; Freudige Bilder zum Stoff, o Muse! gewähre von dort Meiner schwachtönigen Lei’r. Verstimmt macht hier Mars die Gemüther, Und abgestumpft für Gesang. Mit Mord und Verheerung bestreut Blühende Fluren er itzt. Drum führ’ aus den grauen Vorzeiten Wonnige Lieder herbei, und heilsamen Frieden mit dir! (CM, 1)
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Der Dichter wendet sich an die Muse mit der Bitte, ihm aus des »Orients glücklicher Urzeit« Heilung für die kriegserfüllte Gegenwart zu bringen. Die ersten drei und der letzte Vers des hebräischen Gedichts, das mit seinen sechs dreizehnsilbigen Versen metrisch an Wesselys Moseide orientiert ist, variieren die ins Ferne weisende Bitte des Dichters. Der vierte und fünfte Vers hingegen, die einen Paarreim bilden und dadurch als Einheit abgesetzt sind, beschreiben den düsteren Kriegszustand der Gegenwart.270 Durch die Deiktika »itzt« ( )עתהund »hier« ()פה, die im hebräischen Text durch ihre Position am Anfang des vierten und fünften Verses hervorgehoben sind, wird der situative Standort des Dichters nachdrücklich hervorgehoben. Das Motiv der Abwendung vom Kriegsgeschehen rekurriert, wie noch zu zeigen sein wird, auf einen poetischen Topos, mag im Publikationsjahr 1807 aber auch auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund der napoleonischen Kriege anspielen. Im Oktober 1806 waren die preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt geschlagen worden; Napoleon war – mit direkten Konsequenzen für den in Berlin tätigen Cohen – in die preußische Hauptstadt eingezogen. Wie bereits die bisher analysierten Paratexte die gegenwärtige Situation der Juden im deutschsprachigen Raum präsent halten und den Anspruch formulieren, ›neue‹ bzw. ›moderne‹ Dichtungen zu bieten, so versucht Cohen auch hier die biblische Sprache auf aktuelle politische, historische Umstürze hin transparent zu machen. Die düstere Gegenwartsdiagnose im Mittelteil des Gedichts ist gerahmt von Anrufungen der Muse, die im doppelten Sinne auf eine glücklichere Vergangenheit hin orientiert sind. Dem ›Hier‹ und ›Jetzt‹ der bedrängten Gegenwart wird im zweiten Vers das ›Dort‹ ( )שםdes zeitlich und räumlich fernen Orients gegenübergestellt. Der erste Vers baut ausgehend von der Partikel ›zu/nach‹ ( )אלeine dramaturgische Spannung auf, die erst zu Beginn des folgenden Verses mit dem Imperativ »fleuch« ( )עליsyntaktisch geschlossen wird. In diesem Spannungsbogen zwischen der richtungsanzeigenden Partikel und dem Verb wird eine üppige Variation des im Wort qedem enthaltenen semantischen Feldes von Urzeitlichkeit und Ursprünglichkeit entfaltet: Auf eine Evokation des Schöpfungsursprungs mit einem Direktzitat aus Sprüche 8,26 – »Beginn des Staubes des Erdenrunds [«]ראש עפרות תבל271 – folgt eine weitere Variation dieser Ursprungs 270 In der deutschen Übersetzung stimmen diese Sinneinheiten (Anrufung der Muse – Gegenwartsbeschreibung – Anrufung der Muse) nicht mit den Versgrenzen überein; der Mittelteil reicht hier von der Mitte des dritten Verses bis zur Mitte des fünften Verses. Auch die metrische Struktur zeigt eine Tendenz zum Verschleifen harter Fügungen: Cohen wählt eine Mischform aus durchgehendem Hexameter und Distichon-Struktur: Der erste, dritte und fünfte Vers bilden jeweils einen Hexameter, der zweite, vierte und sechste Vers enden wie ein Pentameter jeweils mit einer Hebung, lösen aber das Aufeinandertreffen zweier Hebungen in der Versmitte, wie es der Pentameter erfordert, jeweils in einen Trochäus auf. 271 So Heymann Arnheims Übersetzung in Die vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift. תורה נביאים כתובים. Nach dem masoretischen Texte. Unter der Redaction von Leopold Zunz übersetzt von Heymann Arnheim, Julius Fürst und Michael Sachs. Berlin 1837/38. S. 642. Cohen übersetzt »ehe
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semantik, indem die ›Jahre der Vorzeit‹ ( )שנות קדםim ›Jugendalter‹ ( )בעלומיםder Welt beschworen werden. Die Weisheitsrede in Sprüche 8,22–31 mit ihrer üppigen, den Schöpfungsbericht zitierenden Ursprungssemantik wird so im ersten Vers von Cohens hebräischem Gedicht verdichtet. Während ›Osten‹ als zweite Bedeutung des Wortes qedem im hebräischen Gedicht nur indirekt nachweisbar ist, wird die poetische Verdichtung alttestamentlicher Ursprungssemantik in Cohens deutscher Übersetzung ausdrücklich orientalisiert, indem er die ›Jahre der Vorzeit‹ ( )שנות קדםmit dem Ausdruck »Orients glücklicher Urzeit« wiedergibt. Der deutsche Vers »Fleuch hin zur Kindheit der Welt, nach Orients glücklicher Urzeit« lässt sich mithin als Ausfaltung der Mehrdeutigkeit begreifen, die dem hebräischen Wort qedem eignet – eine Ausfaltung, die nur im Deutschen so möglich (und nötig) ist. Im letzten Vers des Gedichts gewinnt diese Semantik eine poetologische Dimension. In wörtlicher Übersetzung lautet der hebräische Vers, dessen zweiter Teil ein Direktzitat aus Maleachi 3,20 darstellt: ›Flieg zu mir aus Orient/Vorzeit, damit ich an deinen Flügeln genese!‹ (!)עופי לי מקדם ומרפא בכנפיך. Die Muse soll dem Dichter-Ich im deutschen, kriegsgebeutelten hic et nunc Kraft zu Heilung und Erneuerung spenden, indem sie ihn mit »den grauen Vorzeiten«, mit des »Orients glücklicher Urzeit« in Kontakt bringt. Was aber, mag man fragen, macht eine Musenanrufung eigentlich in einem hebräischen Gedicht? Sie verfügt schließlich in der hebräischen Literatur über keine Tradition. Gemäß Wesselys im Me’assef prominent artikulierter Forderung, heidnische Götternamen keinesfalls in hebräische Dichtungen zu übernehmen,272 vermeidet Cohen jeden Hinweis auf die griechische bzw. römische Mythologie in seinem hebräischen Gedicht; nur in der deutschen Übersetzung wird »Mars« im dritten Vers als Allegorie des Krieges ins Spiel gebracht. Doch beschränkt sich Cohen nicht auf Vermeidungsstrategien. Mit der Musenanrufung vollführt er eine Ersetzungsoperation, die sein Gedicht in ein selbstbewusstes Konkurrenzverhältnis zu griechisch-römischen Poesietraditionen setzt. Denn er apostrophiert dezidiert nicht die römischen Musen, sondern eine hebräische Muse, für die er sich in seinem hebräischen Gedicht – wohl in Anlehnung an zwei Psalmstellen273 – mit dem Wort higajon ( )הגיוןbehilft.274 An dieser Munoch ein Stäubchen vom Erdball da war« (Die heilige Schrift mit möglichster Correctheit des he bräischen Textes. Nebst verbesserter deutscher Uebersetzung. מקרא קדש כלל כל ספרי תורה נביאים וכתובים ] עם תרגום אשכנזי בלשון צחה וקלה...[ מדויק היטב. Teilband: Sprüche Salomons. Hamburg 1827. S. 12). 272 Yotam Cohen: יחסה של ההשכלה היהודית אל תרבות יוון ורומא. כננס על גבי ענק. In: Zion 78 (2013). S. 351–378, hier: S. 359. 273 Psalm 92,4, wo das Wort higajon in direkter Verbindung mit der Leier, dem kinnor, auftaucht, und Psalm 9,17 mit dem Ausdruck higajon selah ()הגיון סלה. 274 In dieser Bedeutung wird das Wort auch für eine Musenanrufung verwendet von Elie Lévy: השירה הזאת שרו היהודים בבית תפילתם פה פאריס ביום הושב החרב לנדן יום.השלום. Hymne à l’occasion de la paix. Chantée en hébreu et lue en français, dans la grande Synagogue, à Paris, le 17 Brumaire an X. Paris [1801]. S. 6 f.
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senanrufung zeigt sich, dass das Verhältnis von Original und Übersetzung in Cohens Poesieband alles andere als eindeutig ist, stellt der hebräische Titel El ha-Higajon ( )אל ההגיוןdes hebräischen ›Originals‹ hier doch sichtlich eine hebräische Nachbildung der konventionellen Anrufung An die Muse dar, die als Titel das deutsche Gedicht ziert. In der von Cohen unternommenen Kultivierung und Belebung des Hebräischen verändert sich die ›alte orientalische Sprache‹. Cohens deutsche ›Übersetzung‹ beschränkt sich nicht auf eine sekundäre Nachbildung des hebräischen ›Originals‹, sondern steuert dessen Semantik und Pragmatik, indem es in qedem den Bedeutungsgehalt ›Osten/Orient‹ und in higajon den Bedeutungsgehalt ›Muse‹ aktiviert. Im spannungsreichen Verhältnis der beiden Gedichte werden mithin die Aporien der allgemeinen damaligen Ursprungsbesessenheit greifbar: Cohens Eingangsgedicht bespielt variationsreich die Klaviatur der Ursprünglichkeitsfaszination, indem es den fernen, vorzeitigen Orient in die europäische Gegenwart hereinruft; in seiner zweisprachigen Verfasstheit aber problematisiert es ebendiese Ursprungssuche, insofern die hebräisch-deutsche Verdopplung nicht eindeutig in einem Verhältnis von originärer Quelle und sekundärer Übersetzung aufgeht. Damit schreiben sich Cohens bilinguale poetische Versuche auf ebenso komplizierte wie eigenwillige Weise in die europäische Literaturtradition ein. Es ist anzunehmen, dass Cohens Evokation einer »hebräischen Muse« (Cm, iii) sowohl in seiner Vorrede als auch in dem Eingangsgedicht auf christliche Umgangs weisen mit dem heidnischen poetischen Topos der Musenanrufung rekurriert. Die poetische Konvention der Musenanrufung nämlich stellt auch in christlichen Ependichtungen der Frühen Neuzeit bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine Herausforderung dar.275 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts führen christliche Epiker eine hebräische Muse ein. Klopstock ersetzt 1755 in der Überarbeitung seines Messias Anrufungen der »Muse« mit Anrufungen der »Sängerin Sions« (vgl. FLA 4, 512) und stellt in seinen Oden die hebräische Muse Siona der vaterländisch-deutschen Muse Teutona gegenüber (HKA W I.1.1, 240 f. und 348 f.); Johann Jakob Bodmer wendet sich 1753 in seinem Kurzepos Joseph und Zulika programmatisch von den »griechischen Musen« ab und der hebräischen »Muse von Sion« zu.276 Wenn Cohen in seinem Eingangsgedicht eine hebräische Muse anruft, kann er sich also auf die Literaturexperimente des 18. Jahrhunderts 275
Jürgen Jacobs: Das Verstummen der Muse. Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im 18. Jahrhundert. In: Arcadia 10 (1975). S. 131–146, hier: S. 132. Vgl. auch Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. S. 175–182; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948]. Tübingen/Basel 111993. S. 235–252. 276 [Johann Jacob Bodmer]: Joseph und Zulika in zween Gesaengen. Zürich 1753. S. 3. In Anlehnung an diese Begriffsprägung erscheint eine Wiener Sammlung frommer Gesänge aus den Werken der vorzüglichsten deutschen Claßiker 1826 unter dem Titel Siona. Taschenbuch für Gebildete: Siona, so heißt es dort auf einem unpaginierten Zwischenblatt, »wird von den christlichen Dichtern als Muse des heiligen Gesanges personificirt, und gilt als Sinnbild der erhabenen Begeisterung und andächtiger Erhebung des Geistes durch die Macht des Gebethes.«
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berufen und die hebräische Muse auch in seiner deutschen Vorrede für eine doppelte – christliche und jüdische – hebraistische Tradition in Dienst nehmen, um sein Poesiebüchlein in den größeren literaturgeschichtlichen Zusammenhang einer Suche nach Anknüpfungspunkten an biblische Traditionen zu stellen. Lyrische Musenevokationen kennt Cohen sicher aus der deutschen Lied- und Odendichtung der Aufklärungszeit.277 Ein Vergleich zwischen Cohens Eingangsgedicht An die Muse und Johann Peter Uz’ Ode Die Lyrische Muse, die 1749 dessen Lyrische Gedichte eröffnet, mag die Transformationen sinnfällig werden lassen, die mit Cohens Hebraisierung der griechisch-römischen Musen einhergehen. »O Muse! fleug mir vor,« bittet der Sprecher in Uzens Ode, und erklärt in einem Seitenhieb gegen die preußischen Kriegslieder Johann Wilhelm Ludwig Gleims, nur von Lust erklinge sein Saitenspiel: »Und nicht von Leichenvollem Sande / Und kriegrischem Gewühl / Und vom gekrönten Sieg im blutigen Gewande.«278 Wie auch in Cohens Gedicht wendet sich der Poet demonstrativ von der Kriegsgegenwart ab und der Muse zu. Während aber der Dichter in Uzens Gedicht sich in horazischer Manier »auf der Ode kühnen Flügeln« in die nächtlichen dionysischen Gefilde der römischen Götterwelt hoch hinauf tragen lässt,279 verharrt der Dichter in Cohens Gedicht an seinem Standort und bittet die Muse, ihm aus der biblischen Vergangenheit Inspiration zu bringen. Der jüdische Dichter der deutschen Gegenwart fordert die hebräische Muse auf, ihn mit des »Orients glücklicher Urzeit« zu verbinden, ihm »von dort« hoffnungsvolle Inspiration – »Freudige Bilder« – in seine düstere Gegenwart zu bringen. Damit kommt in Cohens Musenanrufung der hermeneutische Eigensinn einer poetischen Flugbewegung in die Vergangenheit zum Tragen, die um 1800 besonders als Reise in den Orient Konjunktur hat: Wie zum Beispiel bei August von Platen wird in Cohens Gedicht der poetische Flug »nicht allein als Aufstieg in höhere Sphären, sondern als besondere Zugangsweise des Autors zu einem fernen (Kultur-)Raum entworfen, der zugleich ein fremder ist.«280 Doch fliegt bei 277 Gunter E. Grimm: Antikerezeption am Beispiel anakreontischer Musen-Gedichte. In: Ana kreontische Aufklärung. Hg. von Manfred Beetz und Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 2005. S. 33–46. 278 [Johann Peter Uz]: Lyrische Gedichte. Berlin 1749. S. 5 f. Vgl. zum biographischen und literaturgeschichtlichen Kontext Ernst Rohmer: Zur Einführung. In: Dichter und Bürger in der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach. Hg. von Ernst Rohmer und Theodor Verweyen. Tübingen 1998. S. ix–xxiv; Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5.2. Tübingen 1991. S. 187–205. 279 Vgl. zu poetischen Bewegungen des Stroms, Flugs und Schwungs nach horazischem Modell Ernst A. Schmidt: Horaz und die Erneuerung der deutschen Lyrik im 18. Jahrhundert. In: Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden. Hg. von Helmut Krasser und Ernst A. Schmidt. Tübingen 1996. S. 255–310, bes. S. 288–308. 280 Andrea Polaschegg: Der Flug in die Fremde – der Flug in die Dichtung. Zu einer poetischen und hermeneutischen Denkbewegung um 1800. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. von Hartmut Böhme. Stuttgart/Weimar 2005. S. 648–672, hier: S. 649.
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Cohen nicht der Dichter. Dieser verlangt und vollführt keine poetische Bewegung in den Orient als Raum der Vergangenheit, sondern holt ihn, vermittelt über die Muse, in die abendländische Gegenwart herein. Nicht der Drang der Neugier und Entdeckerlust, nicht das Wagnis einer Reise in die Fremde sind hier ausschlaggebend, sondern eine Figur der Integration des Fernen in das Jetzt. Zielpunkt ist nicht der Orient, sondern Deutschland. Nur so lässt sich die Bewegungsmetapher des poetischen Flugs mit der botanischen Titelmetapher der Morgenländischen Pflanzen auf nördlichem Boden vereinbaren, steht das Konzept der Einpflanzung und Verwurzelung dem Konzept des Flugs in die Höhe und in die Ferne doch eigentlich diametral entgegen. Wurzeln sollen die hebräischen Dichtungen im hiesigen Boden schlagen, sie sollen herangeholt und auf ›nördlichem Boden‹ eingepflanzt werden – und so muss die hebräische Muse nach Deutschland kommen, wo der jüdische Dichter sie auf nördlichem Boden erwartet und ihre Mitbringsel als Gärtner einpflanzt. In dieser Kombination lyrischer Flugtopoi und west-östlicher Verpflanzungsmetaphorik zeichnet sich die poetische Signatur eines spezifisch jüdischen Orientalismus ab. Mit der Transformation klassisch-antiker Poesietraditionen im Rahmen einer Belebung biblisch-hebräischer Dichtungstraditionen vollzieht Cohen die west-östliche Programmatik seines Büchleins, das Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden, eine Sammlung neuer Hebräischer Poesien, nebst Deutscher Uebersetzung bieten soll. Die ›morgenländischen Pflanzen‹ erhalten in Cohens Metaphorik ihren Reiz gerade durch ihre Verpflanzung gen Norden. Mit seiner west-östlichen Hermeneutik, die auf Ursprungstopik setzt und diese zugleich unterläuft, nimmt Cohen eine eigenwillige Haltung zu den sprach- und mediengeschichtlichen Veränderungen seiner Zeit ein und prägt eine besondere, bilinguale Spielart des literarischen Orientalismus aus. 3.2.5 Bibelübersetzung als west-östliche Vermittlung Arbeit an der Tradition in jüdischen Bibelübersetzungen nach Mendelssohn Der Wandel des Stellenwerts, den das Hebräische im jüdischen Selbstverständnis einnimmt, ist – das wurde in den vorhergehenden Ausführungen bereits verschiedentlich deutlich – aufs Engste an die Historisierung, Orientalisierung und Poetisierung der hebräischen Bibel gebunden. Diese bildet den Fluchtpunkt des Traditionsumbaus, der um 1800 von jüdischen Aufklärern und Reformern unternommen wird. Die hebräische Bibel wird als bedeutendstes kulturelles Erbe der Juden und Wertegrundlage des Judentums neu entdeckt und präsentiert.281 281 Yaacov Shavit und Mordechai Eran: The Hebrew Bible Reborn. From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism. Aus dem Hebräischen [2003] übersetzt von Chaya Naor. Berlin/New York, NY 2007; Marc Zvi Brettler und Edward Breuer: Jewish Readings of the Bible. In: The New Cambridge History of the Bible. Bd. 4. Hg. von John Riches. Cambridge 2015. S. 285–313.
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Der Stellenwert des Talmuds, der jahrhundertelang im Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit gestanden hatte, wird demgegenüber reduziert. Zwar sind die jüdischen Aufklärer und Reformer weit davon entfernt, den Talmud – wie von christlicher Seite vielfach und vehement gefordert282 – in Bausch und Bogen zu verwerfen.283 Ins Zentrum ihrer Bemühungen aber rückt nun die Bibel. 1878 erklärt der liberale Rabbiner Ludwig Philippson rückblickend, dass es zur Befestigung jüdischen Glaubens und Lebens ebenso dringlich wie notwendig gewesen sei, »die autoritative Grundlage des Judenthums dem Bewußtsein wieder näher zu bringen und in ihm von Neuem zu stärken.«284 Der Talmud sei dazu nicht mehr geeignet gewesen, vielmehr habe sich eine Rückbesinnung auf die Bibel als Gebot der Stunde erwiesen. Diese ›Wiedergeburt‹ der Bibel (so die Prägung von Yaacov Shavit und Mordechai Eran) wird um 1800 maßgeblich durch Übersetzungen ins Werk gesetzt. Schon 1790 vermerkt Johann Gottfried Eichhorn anerkennend in seinem bibelwissenschaftlichen Rezensionsblatt: »Man scheint mit Ernst darauf bedacht zu seyn, das von Mendelssohn angelegte Werk auszuführen, und der jüdischen Nation in Teutschland nach und nach die sämmtlichen Schriften des A.T. in einer reinen teutschen Uebersetzung zu verschaffen.«285 Die Sulamith kann 1832/33 melden, es fehle »in unsern Tagen unter uns gottlob nicht auch an neuen Übersetzungen der Bibel für Israeliten. Von allen Seiten wird fleißig daran gearbeitet und die Verbreitung des Wortes Gottes bewirkt.«286 In der turbulenten Umbruchphase jüdischen Lebens um 1800 haben diese Bemühungen um eine jüdische Bibel in deutscher Sprache allerdings mit einer zunehmenden Heterogenität ihres jüdischen Publikums zu kämpfen. Das schlägt sich schon in der wechselvollen Publikations- und Rezeptionsgeschichte der mendelssohnschen Übersetzungen nieder. Zwar findet Mendelssohns in Fraktur gedruckte Psalmenübertragung (Kap. 2.2.2), den Neuauflagen und Nachdrucken nach zu schließen,287 einige Resonanz. Zu einem regelrechten Bestseller aber wird sie erst in einer vierbändigen Ausgabe (1785–1790), die den transkonfessionellen ästhetischen Anspruch der Erstausgabe zugunsten einer klar jüdischen Adressierung aufgibt und auf die Traditionen und Lesege So z. B. [Gottlieb Schlegel]: Zusatz zu den Vorschlägen und Mitteln über die bürgerliche Cultur und Religionsaufklärung der Jüdischen Nation, mit einigen Nachrichten von den Juden in Polen und den rußischen Provinzen. Königsberg 1785. S. 69. Vgl. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, 2002. S. 130–133. 283 Pelli: The Age of Haskalah, 1979. S. 48–72; Schulte: Die jüdische Aufklärung, 2002. S. 81–118. 284 AZJ 42:49 (1878). S. 769 f. 285 Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 2:5 (1789/90). S. 870. 286 Sulamith 7:2:6 (1832/33). S. 420. 287 1788, zwei Jahre nach Mendelssohns Tod, bringt Friedrich Maurer eine zweite Auflage heraus, mit der er wahrscheinlich auf einen Raubdruck von 1787 reagiert. 1791 wird ein Raubdruck dieser zweiten Auflage veröffentlicht; 1823 veranstaltet der Wiener Verleger Anton Schmid eine Neuausgabe, der Mendelssohns Lowth-Rezension beigegeben ist. 282
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wohnheiten jüdischer Gelehrtenkultur setzt.288 Mendelssohns Tora-Übersetzung (Kap. 2.2.1) stößt anfangs – als von einer berlinzentrierten Elite wohlhabender Juden mitgetragenes Aufklärungsprojekt – auf erhebliche Vorbehalte und Widerstand vonseiten einiger Rabbiner. Doch dann findet sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Neuausgaben in hebräischen Lettern, die häufig noch durch die aramäische Übersetzung und den Kommentar Raschis ergänzt werden, auch in südlich und östlich von Preußen gelegenen Gebieten Verbreitung.289 Im deutschsprachigen Raum hingegen regt sich bald das Bedürfnis nach Ausgaben in lateinischer Schrift.290 Rahel Varnhagen, die 1814 zum Christentum konvertiert ist, äußert in einem Brief vom 28. Oktober 1817 an ihren Ehemann Karl August Varnhagen den dringenden Wunsch, dass »des Moses Mendelssohn Übersetzung der Bücher Moses, in wirklich deutschen Lettern – aber nicht lateinischen, sondern deutschen wie Luthers Bibel – gedruckt werde.« Sie zeigt sich gewiss, dass die Übersetzung ein »Meisterstück« sei: »ganz deutsch, und doch dem Originale nah. Wer aber kann sie mit den jüdischen Lettern lesen?«291 Im frühen 19. Jahrhundert stellt die hebräische Umschrift für viele Juden im deutschsprachigen Raum keine Leseerleichterung mehr dar, so lässt sich aus dieser Bemerkung schließen, sondern im Gegenteil eine Erschwernis. Aus Rahel Varnhagens brieflicher Äußerung geht jedoch noch mehr hervor. In der Vermutung, dass die Übersetzung ein Meisterstück sei, ist das ganze rezeptionsgeschichtliche Dilemma der mendelssohnschen Tora-Übersetzung im deutschsprachigen Raum verdichtet. Diese nämlich wird zwar immer wieder – etwa 1834 von Heine (DHA 8.1, 71 f.) – als ein Meilenstein deutscher jüdischer Kulturgeschichte erinnert, aber sie wird nicht gelesen, nicht benutzt. Vielmehr greifen viele Juden, »wenn sie die Bibel kennen lernen wollen,« wie 1835 auch Abraham Geiger besorgt feststellt, zur Lutherübersetzung.292 Unter diesen Bedingungen ist der jüdische Bibelgebrauch um 1800 von Ungleichzeitigkeiten, Ausblendungen und Verwerfungen geprägt. Als Rahel Varn288 Die Subskribentenzahlen dieser mit Kommentaren des italienisch-jüdischen RenaissancePhilosophen Obadja ben Jacob Sforno sowie des Maskils Joel Löwe versehenen und in hebräischer Umschrift gedruckten Ausgabe sind sehr hoch; allein im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erlebt die Ausgabe sieben weitere Auflagen (Feiner: Haskala, 2007. S. 265; Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 83). Mendelssohn betrachtet diese Ausgabe, die mit seinem Einverständnis veranstaltet wird, wie die Tora-Ausgabe als ein Instrument zur Bildung der jüdischen Nation (JubA 19, 292 f.; JubA 20.2, 442–444). 289 Weinberg: Einleitung. In: JubA 15.1, lxxxv–cxii; Steven M. Lowenstein: The Readership of Mendelssohn’s Bible Translation. In: Hebrew Union College Annual 53 (1982). S. 179–213; Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 82–109. 290 Vgl. schon die von dem Theologen Josias Friedrich Christian Löffler besorgte und bei Nicolai verlegte Transkription des ersten Bandes: Die fünf Bücher Mose, zum Gebrauch der jüdischdeutschen Nation, nach der Uebersetzung des Herrn Moses Mendelssohn. Erstes Buch. Berlin/Stettin 1780. 291 Rahel Varnhagen: Gesammelte Werke. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Bd. 2. München 1983. S. 492. 292 Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 1:3 (1835). S. 4 44.
3.2 Verpflanzungen
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hagen 1817 nach einer Ausgabe der mendelssohnschen Übersetzung in ›deutschen Lettern‹ ruft, liegt eine solche beispielsweise bereits vor. 1815 hatten David Fränkel und Moses Hirsch Bock in Dessau eine vollständige Ausgabe der ToraÜbersetzung in Fraktur für »Bibelfreunde aller Konfessionen, und zunächst für Israeliten« veranstaltet; und zwar mit der Begründung, dass »in unsern Tagen, wo in Rücksicht der intellektuelen Ausbildung der Israeliten, so Manches eine andere Gestalt angenommen« habe, die Ausgaben in hebräischen Lettern »für viele Israeliten, größtentheils, und für Christen, im Allgemeinen, völlig unbrauchbar« seien.293 Zwar kann die Sulamith einige Jahre später vermelden, dass die erste Auflage der von Bock und Fränkel veranstalteten Ausgabe in Höhe von 1500 Exemplaren vergriffen sei,294 aber in Rahel Varnhagens Berliner Kreise ist sie offenbar nicht vorgedrungen. Während Mendelssohns Tora-Übersetzung östlich von Preußen in einem traditionellen jüdischen Gewand floriert und zwei Dessauer Pädagogen mit einer schlichten Textausgabe in Fraktur den Bedürfnissen ihrer Zeitgenossen Rechnung zu tragen versuchen, stilisieren Varnhagen, Heine und andere sie unbesehen zum Äquivalent der lutherischen Reformationsbibel. Im Umgang mit Mendelssohns Tora-Übersetzung manifestieren sich mithin divergierende jüdische Selbstpositionierungen in einer unübersichtlichen Umbruchszeit. So schlägt sich die intensive jüdische Übersetzungstätigkeit um 1800 in einer verwirrenden buchgestalterischen Vielfalt von Ausgaben einzelner oder mehrerer biblischer Bücher nieder.295 Verschiedene Versuche werden – oft in direkter und mitunter bemerkenswert polemischer Auseinandersetzung mit Mendelssohns Vorbild – in hebräischer und in lateinischer Schrift unternommen; es wird in beide Richtungen transkribiert; man fügt überkommene und eigene Kommentare hinzu oder lässt sie weg; wägt Auslegungen der jüdischen Exegese-Traditionen und der aktuellen protestantischen Bibelkritik ab; diskutiert Verfasserzuschreibungen, Gattungsfragen und ästhetische Wertigkeit; spielt wörtliche gegen sinngemäße Übersetzungen aus. Je nachdem, in welcher Sprache, in welcher Schrift und mit welcher Kommentarausstattung sie sich präsentieren, erreichen die verschiedenen Ausgaben unterschiedlich sozialisierte Leserinnen und Leser. Die fünf Bücher Mose, übersetzt von Moses Mendelssohn. Für Bibelfreunde aller Konfessionen, und zunächst für Israeliten bestimmt. Hg. von David Fränkel und Moses Hirsch Bock. Dessau/Berlin 1815. S. i. 294 Sulamith 7:2:6 (1832/33). S. 420. 295 1789 geben Aaron Wolfssohn und Joel Löwe in Berlin kommentierte Übersetzungen der fünf Schriftrollen Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger und Esther in hebräischer Umschrift als Ergänzungsprojekt zu Mendelssohns Tora-Ausgabe heraus. In Dessau werden die zwölf kleinen Propheten 1805 ins Deutsche übersetzt und in hebräischen Lettern gedruckt. Eine überarbeitete Transkription in lateinischer Schrift von Teilen dieser Ausgabe veröffentlicht Ludwig Philippson 1827 unter dem Namen seines Bruders Phöbus Philippsohn. 293
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Aus diesen Übersetzungs- und Nachdichtungsversuchen einzelner biblischer Bücher gehen in den 1820er und 1830er Jahren schließlich die ersten vollständigen Ausgaben des Tanachs in deutscher Übersetzung und lateinischer Schrift hervor. Von verschiedenen Seiten versucht man, so Abraham Geiger, dem »sehr fühlbaren Bedürfnisse einer wohlfeilen Uebersetzung aller heiligen Schriften der Israeliten« entgegenzukommen.296 Nachdem Salomon Jacob Cohen eine deutsche Übertragung der gesamten Heiligen Schrift (1824–1827) in zweifacher Ausführung – einmal in hebräischer Umschrift, einmal in lateinischer Schrift – herausgebracht hat,297 erscheinen 1837 die von Gotthold Salomon verantwortete Deutsche Volks- und Schulbibel für Israeliten und 1837/38 die von Leopold Zunz redigierte Ausgabe Der vier und zwanzig Bücher der Heiligen Schrift.298 Es folgen weitere Übersetzungs- und Kommentarprojekte, darunter Salomon Herxheimers ›worttreue‹ Übersetzung Der vier und zwanzig Bücher der Bibel (1840–1848) und Ludwig Philippsons Israelitische Bibel (1839–1854). Während Salomon und Zunz sich darauf konzentrieren, dem jüdischen Lesepublikum eine erschwingliche vollständige deutsche Übersetzung des Tanachs in lateinischer Schrift zu bieten, legt Philippson ein umfangreiches Kommentar- und Illustrationswerk mit hebräisch-deutschem Paralleldruck vor, das im 19. Jahrhundert zahlreichen jüdischen Haushalten als Familienbibel dient.299 Mit diesen Unternehmungen erlangen die tiefgreifenden Veränderungen jüdischen Lebens Buchform. Der Traditionsbruch, der mit der Übersetzung, Umordnung und Umgestaltung des jüdischen Textkanons einhergeht, dient wiederum der Traditionsstiftung: In unterschiedlicher Radikalität begreifen die Übersetzer, Kommentatoren und Herausgeber ihre Bibelausgaben als eine Rettung und Aktualisierung jüdischer Traditionen unter modernen Vorzeichen. Besonders prononciert formuliert Philippson 1859 die Zielvorgabe der vielfältigen Übersetzungsbemühungen in einem Aufruf an alle bibeltreuen Israeliten: »Die Bibel ist Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1836). S. 594 f. Nicht korrekt ist die wiederholt kolportierte Annahme, Cohen habe die Ausgabe in hebräischen Lettern zugunsten derjenigen in lateinischer Schrift abgebrochen. So noch Römer: Tradition und Akkulturation, 1995. S. 105; Kollatz: Schrift zwischen Sprachen, 2008/09. S. 362. 298 Vgl. die Rezensionen von Lázár Skreinka: Bemerkungen über die in letztverflossenen Jahren erschienenen deutschen Bibelübersetzungen. 1. Die Bibelübersetzung von Dr. G[otthold] Salomon. In: Literaturblatt des Orients 1:30–34 und 1:47–51 (1840). Sp. 468–470, 491–493, 502–506, 517–521, 535–539, 725–727, 751 f., 757–759, 778–780 und 797 f.; Moses Hess: Bemerkungen über die in letztverflossenen Jahren erschienenen deutschen Bibelübersetzungen. 2. Die Bibelübersetzung unter Redaktion des Dr. Zunz. In: Literaturblatt des Orients 1:35–37, 1:39, 1:41–42 und 1:44–45 (1840). Sp. 549–553, 566–568, 581–583, 616–619, 644 f., 653–657, 686 f. und 706–708. 299 Klaus Herrmann: Ludwig Philippsons Bibelwerk. In: Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräisch-deutsch) in der revidierten Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson. Hg. von Walter Homolka u. a. Freiburg 2015. S. 24–61; Klaus Herrmann: Translating Cultures and Texts in Reform Judaism. The Philippson Bible. In: JQR 14 (2007). S. 164–197; Kathrin Wittler: Towards a Bookish History of German Jewish Culture. Travelling Images and Orientalist Knowledge in Philippson’s Israelitische Bibel (1839–1854). In: LBI YB 62 (2017). S. 151–177. 296 297
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den neueren Juden abhanden gekommen – sie müssen sie wieder haben!«300 Unmittelbar ausgelöst durch Philippsons mit dieser Parole verbundene Ankündigung, seine Bibelausgabe zu stereotypieren und durch eine Israelitische Bibelanstalt verbreiten zu lassen,301 bemühen sich in der zweiten Jahrhunderthälfte Vertreter der Orthodoxie um eine der Halacha konforme deutsche Übersetzung.302 Diese Konkurrenzkonstellation lässt hervortreten, wie im Umgang mit der Heiligen Schrift divergierende Auffassungen jüdischer Tradition ausgehandelt werden. So wütet der Rabbiner Seligmann Bär Bamberger 1860 in einem Pamphlet gegen Philippsons Übersetzung, weil diese ganz entgegen dessen Selbstdarstellung keineswegs traditionell sei, sondern »vielmehr schreiende Verstöße gegen die Tradition« enthalte.303 Was unter jüdischer Tradition zu verstehen sei und was ihr als konform gelten könne, hat im 19. Jahrhundert seine Selbstverständlichkeit verloren und wird kontrovers verhandelt. Diese Verhandlungen finden im Diskurshorizont des Orientalismus statt. 1840 wird im Literaturblatt der jüdischen Zeitschrift Der Orient festgehalten, dass die neuen Übersetzungen der Bibel einer zunehmenden Unkenntnis der hebräischen Sprache Rechnung tragen müssten, die mit der »Europäisierung des Judenthums« einhergehe.304 Das Hebräische wird hier implizit als eine orientalische Sprache vorgestellt; die in dieser Sprache überlieferten jüdischen Traditionsbestände gelten einem ›europäisierten Judentum‹ als nicht mehr unmittelbar zugänglich. In diesem Sinne wird die deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel im 19. Jahrhundert als ein Akt west-östlicher Vermittlung interpretiert und legitimiert. Unter Rückgriff darauf, dass die Verpflanzung zu dieser Zeit eine gängige Metapher sowohl für die Zerstreuung der Juden als auch für das Übersetzen von einer Sprache in die andere ist,305 gibt beispielsweise der ungarische Gelehrte Lázár Skreinka zu bedenken, mit welchen Schwierigkeiten eine Übersetzung der Bibel verbunden sei, indem er sie in ein botanisches Gleichnis bringt, wo eine eben so zarte als heilige Pflanze aus der Milde ihres heimathlichen Südosten in die Frösteley des fremdartigen Nordwest versetzt werden soll. Entweder Acclimatisation durch Annahme einer angemessenen Gestaltung, oder Verkrüppelung und redlicher Untergang ist ihr Loos.306 300
AZJ 23:13 (1859). S. 183. Vgl. auch die Aufrufe in den Beilagen zur AZJ 33:29 (1869) und AZJ 33:40 (1869). 302 Andrea Schatz: »Nichts gegen die Tradition«. Die Entstehung einer Pentateuch-Übersetzung aus dem Streit zwischen Orthodoxie und Reform. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 22 (1995). S. 77–103. 303 [Seligmann Bär Bamberger]: Fackel der Wahrheit. Eine kritische Beleuchtung des Philippson’schen Bibelwerkes, von einem orthodoxen Bibelfreunde. Würzburg 1860. S. 5. 304 Literaturblatt des Orients 1:33 (1840). Sp. 516. 305 Vgl. etwa Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, 1813. S. 70 und S. 83. 306 Skreinka: Die Bibelübersetzung von Dr. G[otthold] Salomon, 1840. Sp. 469. 301
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Wenn Skreinka hier die zielsprachenorientierte Übersetzung mit dem botanischen Begriff der Akklimatisation beschreibt, dann lässt er in seiner Übersetzungsreflexion den Emanzipationsdiskurs durchscheinen, der von Forderungen nach Assimilation dominiert wird (Kap. 3.1.1). Mit dem Ringen um eine jüdische Bibel in deutscher Sprache steht immer auch die Stellung der Juden in der Gegenwart und die Frage ihrer Anpassungs- bzw. Integrationsfähigkeit zur Verhandlung. In diesem Sinne erhebt Skreinka es zu einer existentiellen Überlebensfrage der Juden in der Gegenwart, dass sie zu einer den sprachlichen und geschmacklichen Normen der europäischen Gegenwart »angemessenen Gestaltung« der Bibel gelangen. Nur durch »Acclimatisation« könne die jüdische Überlieferung lebendig gehalten werden und nur so können sich in der Logik des Emanzipa tionsdiskurses auch die Juden als Erben dieser Überlieferung vor »Verkrüppelung« und »Untergang« schützen. In diesem Sinne werden in der jüdischen Übersetzungspraxis ästhetische und politische Konsequenzen aus der Orientalisierung der Heiligen Schrift und der hebräischen Sprache gezogen.307 3.2.6 Zusammenfassung Im Zuge der Schwerpunktverlagerung jüdischer Vielsprachigkeit zum Deutschen wird das Hebräische im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zunehmend als eine orientalische Sprache im emphatischen Sinne vorgestellt und rückt in den Objektbereich des Orientalismus. Aus dieser Konstellation ergibt sich für das Hebräische ein zwischen Objekt- und Beschreibungssprache changierender Status. Im vielsprachigen Umfeld um 1800 gerät der Versuch, auf Hebräisch zu schreiben, in eine Art double-bind-Situation: Wie ein Text sich in einer Ursprache auf deren Ursprung beziehen soll, wie also ein in der orientalischen Sprache Hebräisch verfasster Text orientalistisch sein kann, wird in verschiedenen literarischen Experimenten erprobt, die mit ihren semantischen Ver307 Der in Frankfurt wirkende Reformpädagoge Joseph Johlson rekurriert 1831 wohl nicht zufällig auf die Übersetzungsreflexionen, die Goethe 1819 in den Noten und Abhandlungen zu seinem West-östlichen Divan anstellt (GwöD, 280–283), um sein eigenes ausgangssprachenorientiertes Verfahren, das in mancherlei Hinsicht auf die Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig vorausweist, gegen Mendelssohns zielsprachenorientierte Tora-Übersetzung zu profilieren (Joseph Johlson: Vorrede. In: ders. (Übers.): Die heiligen Schriften der Israeliten. Nach dem masoretischen Texte neu übersetzt. Erster Theil: Die fünf Bücher Mose. Frankfurt am Main 1831. S. iii–xii, hier: S. x). Der Rabbiner Samson Raphael Hirsch hingegen, der als Begründer der sogenannten jüdischen Neo-Orthodoxie gilt, warnt 1859 davor, sich die Psalmen als einen Palmenhain vorzustellen, den man durchwandeln könne: »Man hat uns so sehr gewöhnt, alles aus dem Orient kommende unter dem buntfarbigen Phantasiegewande des ›Orientalischen‹ zu denken und das Charakteristische dieses Orientalischen uns so sehr als ein Compositum von allem Schwülstigen, Uebertriebenen, Ueberladenen, Unnatürlichen, Wunderbaren betrachten gelehrt, daß vielleicht kein Gedanke sich weniger zum Wegweiser bei dem Lesen unserer heiligen Gottesschriften eignen möchte, als die Vorstellung des Orientalischen ihres zeitlichen und räumlichen Ursprungs« (Jeschurun 6:1 (1859/60). S. 23 f.).
3.2 Verpflanzungen
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schiebungen und Ausweitungen, ihren (Selbst- und Rück-)Übersetzungen und Formen bilingualer Textpräsentation sämtlich auf ihr deutschsprachiges Umfeld verweisen. So wird das Hebräische in den Jahrzehnten um 1800 zwischen Vergangenheit und Zukunft, Beschreibungs- und Objektsprache, Heiligem und Profanem, Orient und Okzident, Ursprung und Verfall unterschiedlich ausgerichtet. Während jüdische Pädagogen Naphtali Herz Wesselys hebräisches Mose-Epos als exotisches Gewächs inmitten einer deutschsprachigen Umgebung imaginieren und als solches rhetorisch isolieren, wählen manche Autoren in dieser vielsprachigen Übergangszeit gerade nicht – wie etwa in der Generation zuvor Mendelssohn – je nach Anlass, Absicht und Zielpublikum das Deutsche oder das Hebräische, sondern legen ihre Dichtungen von vornherein auf Zweisprachigkeit hin an und avisieren ein sprachlich heterogen zusammengesetztes Publikum. So lanciert Salomon Jacob Cohen seine hebräischen Dichtungen als Morgenlän dische Pflanzen auf nördlichem Boden und entwickelt aus einem elaborierten Wechselspiel zwischen hebräischem Musivstil und deutschen Selbstübersetzungen eine restaurative Erneuerungspoetologie im Geiste eines modernen jüdischen Orientalismus, die mit der Polysemie des biblischen Begriffs qedem plausibilisiert wird. In der ostentativ bilingualen Faktur seiner Texte zeichnen sich die Strukturen eines dezidiert jüdischen Orientalismus ab. Den Fluchtpunkt der verschiedenen Umgangsweisen mit dem Hebräischen in dieser Zeit bildet die hebräische Bibel. Am Umgang mit der Heiligen Schrift kristallisieren sich die tiefgreifenden Veränderungen jüdischen Lebens in divergierenden Präsentationsformen und Übersetzungskonzepten; Traditionsbruch und Traditionsstiftung gehen hier direkt miteinander einher. In diesem Diskursho rizont begreifen viele jüdische Übersetzer die Herausforderung, eine jüdische Bibel in deutscher Sprache zu erstellen, als eine west-östliche Vermittlungsaufgabe, die einem ›europäisierten Judentum‹ die eigene, fremdgewordene orientalische Überlieferung nahebringen soll. Konfrontiert mit einem sprachlich heterogenen Publikum, experimentierten jüdische Übersetzer und Herausgeber bis weit ins 19. Jahrhundert mit verschiedenen Buchformaten, Druckbildern und anderen Präsentationsstrategien. Im Ringen um eine jüdische Bibel deutscher Sprache wird der jüdische Traditionsumbau mitsamt seinen orientalistischen Implikationen materiell in divergierenden Buchgestaltungen manifest. Es fällt auf, dass in fast allen Auseinandersetzungen mit Phänomenen jüdischer Vielsprachigkeit und insbesondere in Beschäftigungen mit der Frage, wie das Hebräische als orientalische Ursprache in die europäische Gegenwart vermittelt werden könne, der Bildkomplex west-östlicher Verpflanzung auftaucht. Die Verpflanzung wird als poetologische Figur für Übersetzungen der hebräischen Bibel und für hebräisches Dichten auf deutschem Boden bemüht; in Verbindung mit dem Symbol des Gewächshauses werden mit ihr die prekären Rezeptionsbedingungen hebräischer Dichtung um 1800 problematisiert. Diese sprachreflexiven Gebrauchsmomente von Verpflanzungsfiguren, deren Verhält-
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
nis zur ebenso differenzierten wie ideologisierten biologisch-botanischen Metaphorik des deutschen Sprachnationalismus eine eigene Untersuchung wert wäre,308 sollen im Folgenden durch weitere Gebrauchsmomente ergänzt werden, um das Funktionsspektrum der morgenländischen Pflanze im Kollektivsymbolsystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszuloten und auf diesem Wege die Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte diskursgeschichtlich zu erschließen.
3.3 Florio- und Arboriographie Die morgenländische Pflanze als Kollektivsymbol Wenn im 18. und 19. Jahrhundert über Juden, Judentum und jüdische Literatur gesprochen wird, dann geschieht das selten ohne den Gebrauch von Metaphern. Schließlich sind semantische Übertragungsfiguren ein effektives Mittel, um den jeweiligen Argumenten Überzeugungskraft zu verleihen, bestimmte Schluss folgerungen als zwingend erscheinen zu lassen, die eigene Sprechposition von anderen abzugrenzen, Wertungen zu plausibilisieren und Gefühlsgehalte zu vermitteln. Ludwig Philippson, der das jüdische Leben des 19. Jahrhunderts als Publizist, Regionalpolitiker, Übersetzer, Vermittler und Organisator prägt,309 versammelt einige der prominentesten Bildfelder und zeigt ein ausgeprägtes Gespür für deren diskursives Gebrauchspotential, als er 1864 in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums erklärt: Das Judenthum ist weder ein Pflanzen- noch ein Thier-Organismus, so daß man ihm die Wurzel abhauen könnte, daß es abstirbt, oder in das Fleisch einschneiden, daß es verbluten müßte. Es ist auch kein Gebäude, das von Beginn an einem genauen Plane in Fundament-, Mauernund Dachwerk sorgfältig ausgeführt ward, vollendet und abgeschlossen mit seinem Entstehen, so daß, wer den Boden durchwühlt und die Grundmauern erschüttert, es zum Falle brächte.
Wenn man das Judentum als Pflanze, als Tier oder als Gebäude versinnbildlicht, dann lässt sich – so die hier syntaktisch mit der Konjunktion »so daß« vermittelte Einsicht – seine Zerstörbarkeit effektvoll akzentuieren, sei es in der Vorstellung abgehauener Wurzeln, eines verblutenden Körpers oder eines einstürzen308 Vgl. für Belegsammlungen zu diesem Bildfeld Anja Stukenbrock: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945). Berlin/New York, NY 2005. S. 194–201 und S. 263–271. 309 Harald Lordick und Beata Mache: ...nahm in Hauptsachen so entschieden das Wort. Ludwig Philippson – Rabbiner und Publizist (1811–1889). In: Kalonymos 14:4 (2011), S. 1–6; Andreas Gotzmann: Die Brillanz des Mittelmaßes. Ludwig Philippsons bürgerliches Judentum. In: Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Hg. von Guiseppe Veltri und Christian Wiese. Berlin 2009. S. 147–174; Hans Otto Horch: »Auf der Zinne der Zeit«. Ludwig Philippson (1811–1889) – der ›Journalist‹ des Reformjudentums. Aus Anlaß seines 100. Todestages am 29. Dezember 1989. In: LBI Bulletin 86 (1990). S. 5–21; Meyer Kayserling: Ludwig Philippson. Eine Biographie. Leipzig 1898.
3.3 Florio- und Arboriographie
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den Gebäudes. Aus diesem Grund hält Philippson sie für falsch: »Alle diese Gleichnisse hinken.« Nun plädiert er aber keineswegs für einen gänzlichen Verzicht auf übertragene Rede, sondern kontert mit einer anderen Akzentuierung: Nein! Das Judenthum hat zu viel Concretes und Positives, es ist zu sehr eine viertausendjährige geschichtliche Erscheinung, die sich in allen ihren Epochen immer wieder geboren und neu gestaltet hat, im frischesten Leben aus ihrem eigensten Wesen immer wieder erzeugt hat, als daß es von einem bestimmten Punkte aus angegriffen und zerstört werden könnte.310
Wenn Philippson das Judentum hier als ein historisches Phänomen bezeichnet, das sich »im frischesten Leben« aus seinem »eigensten Wesen immer wieder erzeugt«, dann versucht er eine Aktualisierung der Eigenschaft ›zerstörbar‹ dadurch auszuschließen, dass er an die Stelle von konkreten Sinnbildern wie Pflanze, Tier oder Gebäude das vitalistisch gedachte Prinzip der Selbsterzeugung und Selbsterhaltung eines Organismus setzt.311 Unter Rückgriff auf das biologische Denken der Zeit stellt er den ›hinkenden Gleichnissen‹ damit ein anderes gegenüber, das seiner Meinung nach brauchbarer ist, um ein selbstbewusstes Judentum zu propagieren, da es – mangels Angriffsflächen wie Wurzeln, Fleisch oder Fundamenten – als ein biologisches Prinzip keine »bestimmten Punkte« bietet, von denen aus es »angegriffen oder zerstört werden könnte.« Was hier vor sich geht, lässt sich mit der sogenannten Interdiskursanalyse erklären. Jürgen Link hat vorgeschlagen, diskursive Formationen als Resultate einer »Dialektik zwischen Diskursspezialisierung und interdiskursiver Reinte gration des durch Spezialisierung produzierten Wissens« zu begreifen.312 Die interdiskursive Reintegration spezialisierten Wissens wird diesem Ansatz zufolge maßgeblich durch Systeme von Kollektivsymbolen geleistet, mit deren wertender Verwendung diskursive Positionen bezogen werden können.313 Im Unterschied zu motivgeschichtlichen und imagologischen Ansätzen, die ein bestimmtes ›Motiv‹ oder ›Bild‹ diachron (in der Regel zurück bis in die Antike) verfolgen, nimmt die Interdiskursanalyse die synchronen Verbindungen eines Symbols mit ande310
AZJ 28:35 (1864). S. 539 f. Georg Toepfer: Selbsterhaltung. In: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2011. S. 254–270, bes. S. 261 f. Vgl. zum Organismus als integrativem Konzept auch den Sammelband Organismus. Die Erklärung der Lebendigkeit. Hg. von Georg Toepfer und Francesca Michelini. München 2016. 312 Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988. S. 284–307, hier: S. 285. 313 Jürgen Link: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1984. S. 63–92; Axel Drews, Ute Gerhard und Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie. In: IASL 10 (1985). Sonderheft 1. S. 256–375; Frank Becker, Ute Gerhard, Jürgen Link: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: IASL 22 (1997). S. 70–154. 311
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
ren Symbolen – sei es in Oppositionen, Äquivalenzen oder Serien – in den Blick, um die Dynamiken und Mechanismen des Diskurses zu verstehen.314 Statt also zu beschreiben, wie ein bestimmtes ›Motiv‹ oder ›Bild‹ über Jahrhunderte mehr oder weniger unverändert tradiert und reproduziert wird, fragt die Interdiskursanalyse danach, welche Funktionen einem bestimmten Diskurselement in einem bestimmten historischen Kollektivsymbolsystem zukommen bzw. was bestimmte semantische Figuren in einem historisch spezifischen Diskurs leisten. Zwar können überkommene Traditionen aufgegriffen und benutzt werden, die Plausibilität und die Effektivität ihres Gebrauchs aber hängen, so die Annahme, von den diskursiven Bedingungen der jeweiligen Wissenskultur ab; in Philippsons Fall etwa zeittypischen Vorstellungen organischer Entwicklung. Da sich die Forschergruppe um Link vor allem mit Symbolen aus dem Bereich der Technik – etwa Transportmitteln wie der Montgolfière, dem Schiff, der Eisenbahn und dem Flugzeug – beschäftigt hat,315 sind biologische Bildfelder in einem Maße vernachlässigt worden, das ihrem Stellenwert in den Kollektivsymbolsystemen des 19. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Gerade im Industriezeitalter dienen Figuren des Organischen dazu, gegen die Katachresen-Mäander der Techniksymbolik Stellung zu beziehen.316 Während Kollektivsymbole aus dem technischen Bereich sich anbieten, um Vorstellungen der Beschleunigung, des Fortschritts, der Steuerung und des Untergangs zu vergegenwärtigen, liefern der biologische und medizinische Bereich reiches Material für harmonisierende Tendenzen. Insbesondere die Pflanzenmetaphorik bedient insofern konservative Denkmuster, als sie nicht radikalen Auf- oder Abbruch, sondern genealogische Muster der Abstammung und zyklische Modelle des Keimens, Sprießens, Gedeihens und Verwelkens sowie Transferbewegungen ins Bild bringt.317 Mit dieser Struktur bietet sie sich im 19. Jahrhundert für die Verhandlung jüdischer Belange an. Herders dem mechanistischen Denken des 18. Jahrhunderts bewusst entgegengesetzter Gebrauch organischer Metaphorik,318 die Präsenz von Blumen in 314 Link: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen, 1984. S. 64 f. Die Wahl von Symbol als Oberbegriff anstelle der in verschiedenen Disziplinen üblichen Bezeichnungen Allegorie, Emblem, Sinnbild, Sprachbild, Image, Metapher oder Archetyp ist eine pragmatische. Vgl. Becker/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik II, 1997. S. 71 und S. 74. 315 Drews/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik, 1985. S. 286 f.; Becker/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik II, 1997. S. 97 f. 316 Vgl. den kurzen Hinweis bei Drews/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik, 1985. S. 293. 317 Vgl. für Belege, auch zum Gebrauch in übertragener Rede, die Einträge zu blühen bis blümlein (DWb 2 (1860). Sp. 154–167), pfropf bis pfropfung (DWb 13 (1889). Sp. 1795–1798), stamm bis stämmchen (DWb 17 (1919). Sp. 634–648), verblühen bis verblümung (DWb 25 (1956). Sp. 144–147), verwurzeln und verwurzelung (DWb 25 (1956). Sp. 2392 f.) sowie wurzel bis wurzelwerk (DWb 30 (1960). Sp. 2342–2385). 318 Vgl. für eine Belegsammlung Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001. S. 288–319; zur Kontextualisierung Edgar B. Schick: Art and Science. Herder’s Imagery and Eighteenth-Century Biology. In: GQ 41:3 (1968).
3.3 Florio- und Arboriographie
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der Alltagskultur des 19. Jahrhunderts (Kap. 3.3.2) und die Deutungsmacht biologischen und botanischen Wissens bereiten der morgenländischen Pflanze den Boden, auf dem sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kollektivsymbol zur Verhandlung der Lage deutscher Juden und ihrer Überlieferung in Gebrauch genommen wird. Das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze erscheint besonders anschlussfähig, weil es in den Situations- (räumlich), Prozess- (zeitlich) und Strukturtopiken (z. B. mechanisch, organisch), die für moderne Kollektivsymbolsysteme konstitutiv sind,319 vielfältig dynamisiert werden kann. In einer Überblendung der Dichotomien Abendland/Morgenland und Norden/ Süden, wie sie zu dieser Zeit vielfach vorgenommen wird,320 bündelt die morgenländische/südliche Pflanze als interdiskursives Element klimatheoretisches, botanisches, biologisches, kulturelles und genealogisches Wissen. Nord und Süd, jüdisch und deutsch, Abendland und Morgenland, Gegenwart und Vergangenheit, natürlich und künstlich, Heimat und Fremde – all diese Dichotomien werden in der Figur der ost-westlichen, süd-nördlichen Verpflanzung aktiviert. In ihr lassen sich Migration und Genealogie als die beiden zentralen Achsen jüdischer Diaspora-Existenz verschränken. Pflanzenmetaphorik bietet sich mit den Akten der Ent- und Verwurzelung zur Vergegenwärtigung von Migrationsnarrativen an;321 zugleich stellt sie, am prominentesten mit dem Stamm bzw. Stammbaum, ein lang tradiertes Beschreibungsrepertoire für genealogische Herleitungen bereit.322 Auf horizontaler Ebene bringen Pflanzenmetaphern und Verpflanzungsfiguren die Zerstreuung durch Migration ins Sprachbild, auf vertikaler Ebene konkretisieren sie die Genealogie als Verzweigung. Für beide Aspekte finden sich Vorlagen in der Bibel, die sowohl für die Besiedlung von Land als auch für die Genealogie des Volkes Israel und seiner Herrscher Pflanzen- und Verpflanzungsfiguren verwendet und einzelne Menschen wie auch Israel insgesamt in Bäumen versinnbildlicht.323
S. 356–368; Peter A. Zusi: »Kein abgefallenes Blatt ohne Wirkung geblieben«. Organicism and Pluralism in Herder’s Metaphorics of Culture. In: Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Hg. von Sabine Groß und Gerhard Sauder. Heidelberg 2007. S. 89–97. 319 Drews/Gerhard/Link: Moderne Kollektivsymbolik, 1985. S. 269. 320 Dieter Richter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung. Berlin 2009. S. 127–141. 321 Isabel Kranz: Stumme Zeichen, sprechende Blumen. Von einer Geheimsprache der Liebe zur Lust am Spiel. In: dies.: Sprechende Blumen. Ein ABC der Pflanzensprache. Berlin 2014. S. 6 –19, hier: S. 17. 322 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kunst- und Naturwissenschaften. München 2006. 323 Alexander Demandt: Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte. Köln u. a. 2002. S. 20–35. Mehrfach ist im Tanach der metaphorische Gebrauch des Verbs (ver)pflanzen für die Ansiedlung des Volkes Israel belegt (Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 1915. S. 501); vgl. auch Johann Maier: Bausymbolik, Heiligtum und Gemeinde in den Qumrantexten. In: Volk Gottes als Tempel. Hg. von Andreas Vonach und Reinhard Meßner. Berlin 2008. S. 49–106, bes. S. 66–68.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Als Kolonie bzw. »Pflanzvolk«324 verstanden, werden die Juden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert häufig als veredelndes Pfropfreis oder – so beispielsweise Herder 1787 im dritten Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit – als schädigende »parasitische Pflanze auf den Stämmen andrer Nationen« (FHA 6, 491 f.) bezeichnet.325 Sowohl das Pfropfreis als auch der pflanzliche Parasit setzen einen Akt der Transplantation voraus. Unter den diskursiven Bedingungen des Orientalismus wird dieser Verpflanzungsakt kulturgeographisch auf einer orientalisch-okzidentalischen Achse ausgerichtet, um die Juden als ein dem Ursprung nach morgenländisches Volk zu adressieren, das nach Europa versetzt wurde. Das geschieht mit den verschiedensten Aussage-Absichten und Aussage-Effekten je nachdem, wie mit der Ambivalenz umgegangen wird, die der Transplantation eignet: Ist sie einerseits im botanischen Bildfeld möglich, ja liegt sogar nahe, hat sie andererseits im organologischen Denken als ein widernatürliches und gefährliches Verfahren, das das natürliche Wachstum beeinträchtigen muss, einen prekären Status.326 Jüdische Autoren greifen dieses Bildfeld im 19. Jahrhundert auf verschiedene Weise auf. So lässt beispielsweise Salomon Ludwig Steinheim seinen fiktiven Sänger Obadiah ben Amos in dessen Gesängen aus der Verbannung (1837), die noch genauer zu analysieren sein werden (Kap. 4.2.4), den Letzten Exulant vom Geschlechte Jedithuns als »Ein Reislein, ein gesundes / Vom alten Stamm des Bundes!« ansprechen. Dem Heimatland »entrückt«, habe dieses Reislein »den Schnee, des Nordes Wehen« ertragen können, weil sein Gott ihm »Lebenskraft« geschenkt habe:
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Adelung 1 (1793). Sp. 1341. Vgl. zu dieser und korrespondierenden Passagen und ihrem Stellenwert in Herders Denken Emil Adler: Johann Gottfried Herder und das Judentum. In: Herder Today. Contributions from the International Herder Conference. Kurt Mueller-Vollmer. Berlin/New York 1990. S. 382–401; zur wechselvollen Gebrauchsgeschichte des Parasitismus-Konzepts und zu seiner Karriere im Bereich antisemitischer Polemik Alexander Bein: »Der jüdische Parasit«. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13:2 (1965). S. 121–149; Manfred Schneider: Der Jude als Gast. In: Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation. Hg. von Peter Friedrich und Rolf Parr. Heidelberg 2009. S. 49–69; Andreas Musolff: Metaphorische Parasiten und »parasitäre« Metaphern. Semantische Wechselwirkungen zwischen politischem und naturwissenschaftlichem Vokabular. In: Metaphern und Gesellschaft. Die Bedeutung der Orientierung durch Metaphern. Hg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2011. S. 105–119; Georg Toepfer: Parasitismus. In: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2011. S. 1–10; Heiko Stullich: Parasiten, eine Begriffsgeschichte. In: Forum Interdiszi plinäre Begriffsgeschichte 2:1 (2013). S. 21–29. 326 Marcel Janssens: Das Bild der Pflanze und der Organismusgedanke im Schrifttum des jungen Herder. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 66 (1963). S. 30–39, hier: S. 38. 325
3.3 Florio- und Arboriographie
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Es kennt sein wahres Vaterland, Es legt sich still in Gottes Hand. – Und, wühlt der Nord in Blüthenzweigen, Ihm gilt sein Beugen wie sein Neigen. – 327
Über die Bio- und Genea-Logik seiner Abstammung vom »alten Stamm des Bundes« wird die Bindung des in nördliche Gefilde entrückten ›Reisleins‹ an das Judentum mit seiner Bindung an den Orient als »wahre[m] Vaterland« enggeführt. Versteht man die Formulierung »Vom alten Stamm des Bundes« als Enallage, die die theologische Formel des ›alten Bundes‹ als Voraussetzung für den ›neuen Bund‹ des Christentums aufscheinen lässt,328 dann lässt sie sich als subtile Kontrafaktur zur christlichen Substitutionsrhetorik lesen: Statt den alten Bund durch einen neuen aufzuheben, werden die Juden der Diaspora als ausdrücklich ›gesunde Reislein‹ eines alten Stammes definiert, und es wird die lebendige Kontinuität jüdischen Lebens und Glaubens statuiert. Damit konterkariert Steinheims Sinnbild auch eine Deutungstradition, die das Christentum als veredelndes und erneuerndes Pfropfreis auf dem abgestorbenen Stamm des Judentums versteht.329 Denn hier ist es der ›alte Stamm‹ des Judentums selbst, der neue Zweige austreibt. Wie Steinheim ist es auch anderen jüdischen Autoren darum zu tun, die Beständigkeit und Vitalität des Judentums mittels botanischer Metaphorik im Kollektivsymbolsystem zu verteidigen. So postuliert Philippson 1849: Fürwahr, wir wissen, die Zähigkeit und Lebenskraft des israelitischen Stammes ist groß. Zu viele Stürme sind an ihm vorübergezogen, und wenn sie auch von Zeit zu Zeit mächtige Glieder loszureißen vermochten: die Wurzel bleibet bestehen, und ein neuer Frühling treibet wieder saftreiche Schößlinge daraus hervor.330
Im wissensgeschichtlichen Horizont des 19. Jahrhunderts überlagern sich in solchen allegorischen Figurationen des Judentums als Baum – hier im polysemen Substantiv ›Stamm‹ – biologisch-botanische, genetisch-ethnische und kulturellgenealogische Konzepte.331 Das Bildfeld des Floralen und Arborealen bietet im Kollektivsymbolsystem der Zeit vielfältige semantische Übertragungsangebote, 327 Salomon Ludwig Steinheim: Gesänge aus der Verbannung, welche sang Obadiah ben Amos, im Lande Ham. Auf ’s neue herausgegeben. Frankfurt am Main 1837. S. 82 f. 328 Vgl. den entsprechenden Artikel in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. von Hans Dieter Betz u. a. Bd. 1. Tübingen 1998. Sp. 1861–1872. 329 Diese Idee wird zum Beispiel formuliert in Goethes Abhandlung eines fingierten »Landgeistlichen in Schwaben« über Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen von 1773 (MGA 1.2, 436) und bei Johann Ernst Schmidt: Wahre Christusreligion […]. Nebst einem Schreiben des Herrn D. [Johann Salomo] Semler […]. Berlin 1794. S. 116 f. 330 AZJ 13:37 (1849). S. 519. 331 Vgl. für eine bild- und sprachwissenschaftsgeschichtlich orientierte Durchsicht von Baumdiagrammen Simone Roggenbuck: Die Wiederkehr der Bilder. Arboreszenz und Raster in der interdisziplinären Geschichte der Sprachwissenschaft. Tübingen 2005.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
mit denen die Bestimmung des Judentums zwischen Religion, Volk und Kultur austariert und die Komplexität jüdischer Diaspora-Existenz vergegenwärtigt werden kann. Ohne auch nur im Entferntesten den Anspruch zu erheben, die vegetabilen Zonen des Kollektivsymbolsystems in ihrer Weitläufigkeit zu erfassen, soll in diesem Kapitel mit wenigen Schlaglichtern das Gebrauchspotential der morgenländischen Pflanze für die Thematisierung jüdischer Belange beleuchtet werden. Die morgenländische bzw. südliche Pflanze dient, so wird sich zeigen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als vielgebrauchtes Sinnbild für Judentum, Juden und jüdische Überlieferung, mit dem das prekäre und/oder produktive Moment jüdischer Diaspora-Existenz vergegenwärtigt und dramatisiert werden kann. Ich werde zunächst die semantischen Gebrauchspotentiale national kodierter Baumsymbolik in den Blick nehmen (Kap. 3.3.1) und dabei auch – besonders am Beispiel Joel Jacobys (Kap. 3.3.2) – ihre paradoxen Implikationen in den Blick nehmen. Dann werde ich mit Blick auf die Blumeneuphorie der Biedermeierzeit den kulturgeschichtlichen Kontext skizzieren (Kap. 3.3.3), der wichtig ist, um zu verstehen, wie Ludwig Wihl in seinem Gedichtband West-östliche Schwalben (1847) das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze und speziell die sogenannte Selamik literarisch mit emanzipationspolitischen Zielsetzungen verarbeitet (Kap. 3.3.4). Abschließend werde ich aufzeigen, wie Blütezeiten als narrative Elemente in Kombination mit Verpflanzungsmetaphern für die jüdische Geschichtsschreibung fruchtbar gemacht werden (Kap. 3.3.5). 3.3.1 Wurzeln und Wipfel Silvanationale Deutungsmuster und emanzipationspolitische Paradoxa Wie bereits mit dem Titel dieses Kapitels – Wurzeln und Wipfel – angezeigt ist, wird es im Folgenden vor allem um Bäume gehen. Dass das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze, wenn es für jüdische Belange Verwendung findet, eher als Baum denn als Blume aktualisiert wird, und dies ausgerechnet in einer Zeit der Blumeneuphorie (Kap. 3.3.3), ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die alttestamentliche Pflanzenmetaphorik arboreal dominiert ist und auch die nachbiblische jüdische Überlieferung wenig florales Interesse zeigt.332 Es ist auch nicht hinreichend damit erklärt, dass der Baum eine besonders lange und wirkmächtige Tradition als Analogon des Menschen aufzuweisen hat.333 Entscheidend ist vielmehr, dass bestimmte Baumarten national kodiert sind und Bäume mithin – anders als Blumen – für die Zuordnung und Abgrenzung von verschiedenen kulturell differenten Traditionen und Kollektiven eingesetzt werden können.
Jack Goody: The Culture of Flowers. Cambridge u. a. 1993. S. 45–49. Demandt: Der Baum in der Kulturgeschichte, 2002. S. 2–18.
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3.3 Florio- und Arboriographie
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Im 18. und 19. Jahrhundert werden zwei Baumarten – die Eiche und die Linde – als Symbole für den deutschen Nationalcharakter beansprucht.334 Die Eiche wird erstmals durch Klopstock zum deutschen Nationalsymbol bestimmt und dann im medialen Kontext der Befreiungskriege als solches etabliert;335 der Eichenwald wird zum Sinnbild des deutschen Volkes erhoben.336 Als männlich konnotiertes Symbol der Beharrlichkeit und des Widerstandsgeistes steht die Eiche für die Stärke der deutschen Nation. Paul Waglers Sammlung von Dichterstellen zur Eiche im deutschen Liede steckt dieses Assoziationsspektrum ab: Er versammelt Verse zum Eichenkranz als – so die Titel der einzelnen Abschnitte – Ehrenschmuck des deutschen Kriegers und Helden und der deutschen Jungfrau sowie als Dichterlohn; zur Eiche als Sinnbild des freien starken deutschen Vaterlandes, des Landes der Treue und Frömmigkeit und als Symbol des charakterstarken eisenfesten freien Mannes, insonderheit des Helden und des deutschen Vaterlandsfreundes.337 Die Linde hat demgegenüber seit dem Mittelalter ihren angestammten Ort in der Liebeslyrik und vermittelt mit ihren herzförmigen Blättern sowie ihrem süßen Duft eher sanfte Gefühlswerte. So dient sie im 19. Jahrhundert als ein friedliebendes Alternativmodell zur martialischen Eiche, mit dem die träumerische, romantische und später auch gemütliche und bürgerliche Mentalität der Deutschen versinnbildlicht werden soll.338 Den deutschen Eichen- und Lindenbäumen stehen im Symbolsystem der Zeit drei Baumarten gegenüber, die – vor allem unter Rückgriff auf die Psalmen – als arboreale Sinnbilder des Jüdischen in Gebrauch genommen werden können. Palme und Zeder, die in Psalm 92,13 in einem Vergleichsparallelismus auftauchen (»Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon«) und eine lange Tradition als Embleme Israels haben, lassen sich insofern als jüdische Pendants zur deutschen Eiche auffassen, als auch sie
Demandt: Der Baum in der Kulturgeschichte, 2002. S. 232–245. Annemarie Hürlimann: Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation. In: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald. Ausstellungskatalog Akademie der Künste. Berlin 1987. S. 62–68; Peter Albrecht: Die Eiche – ein Baum wie andere auch? In: Nichts als Natur und Genie. Pascha Weitsch und die Landschaftsmalerei in der Zeit der Aufklärung. Ausstellungskatalog Herzog Anton Ulrich-Mu seum Braunschweig. Hg. von Reinhold Wex und Susanne König-Lein. Braunschweig 1998. S. 51–64. 336 Johannes Zechner: Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie, 1800–1945. Darmstadt 2016; Klaus Lindemann: In den frischen Eichenhainen webt und rauscht der deutsche Gott. Deutschlands poetische Eichwälder. In: Der Wald in Mittelalter und Renaissance. Hg. von Josef Semmler. Düsseldorf 1991. S. 200–239. 337 Paul Wagler: Die Eiche in alter und neuer Zeit. Eine mythologisch-kulturgeschichtliche Studie. Zweiter Teil. In: Berliner Studien für classische Philologie und Archaeologie 13:2 (1891). S. 1–128, hier: S. 107–125. 338 Uwe Hentschel: Der Lindenbaum in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Orbis Litterarum 60:5 (2005). S. 357–376; vgl. für Belegsammlungen Emil Plaumann: Die deutsche Lindenpoesie. Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Königlichen Gymnasiums zu Danzig. Danzig 1890; Otto Lohr: Die Linde, ein deutscher Baum. Spandau 1889. 334 335
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Würde, Stärke und Beständigkeit vermitteln.339 Die Trauerweide dagegen, die zumeist – gestützt durch ihre botanische Bezeichnung salix babylonica – unter Rekurs auf den 137. Psalm in den Diskurs eingebracht wird, dient als Sinnbild jüdischen Schmerzes in der Diaspora. Alle drei Bäume – Palme, Zeder und Trauerweide – werden im 19. Jahrhundert in den verschiedensten Konkurrenzkonstellationen und Versetzungsoperationen dazu benutzt, die Position der Juden und ihrer Überlieferung in Deutschland zu verhandeln. Im Kontext biedermeierzeitlicher Weltschmerz-Stimmung (Kap. 4.2.1) hat insbesondere die Trauerweide Konjunktur. So sind Karl Becks Gepanzerte Lieder (1838), die von einer jüdischen Autorposition aus mit Gott und der Welt hadern, nicht nur durchzogen von Trauerweiden; ein Gedicht ist sogar ganz auf die Engführung von gramgebeugtem Sprecher und Trauerweide hin angelegt: »Dir gleich ich ganz, du müder Baum, / Ich neige auch in schwerem Traum / Mein Haupt mit düsterer Geberde / Zum großen, grünen Grab der Erde.«340 Joel Jacoby erhebt die Trauerweide zeitgleich in seinem Gedichtband Harfe und Lyra (1838)341 zu einem Symbol der Juden: »Du mein Volk – Du bist die Trauerweide, die einsam-treu verharrt beim Grabe: beim Grabe Deiner alten Herrlichkeit. Dich beugt kein Sturm, Dich schütteln luftig nur die Winde; und jener Thränenquell, der netzt mit Himmelsthau den müden Stamm, der eben wässert Dir dein ewig Grün« (JH, 47 f.). Im Einklang mit seiner Strategie, die weltgeschichtliche Bedeutung des Judentums im ›Judenschmerz‹ als Inbegriff des ›Weltschmerzes‹ zu begründen (Kap. 4.2.3), präsentiert Jacoby die uralte Trauerweide hier als einen sich selbst erhaltenden Organismus, der sich aus seinen eigenen Tränen speise. Im Horizont organologischen, historistischen und silvanationalen Denkens erweist sich die Trauerweide als ein Sinnbild, mit dem die Besonderheiten des Judentums und seiner Geschichte im Diskurs profiliert werden können. Unter der Ägide Philippsons wird die Trauerweide zur Allegorie des diasporischen Judentums aufgebaut und gegenüber der Eiche als deutschem Nationalsymbol profiliert. In Phöbus Philippsons Novelle Die Marannen, die Ludwig Philippson 1837 in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums abdruckt, erklärt Isaak Abarbanel seinem Sohn Jehudah das Judentum als geschichtliche Größe. Er führt ihn ans offene Fenster und fordert ihn auf: [S]ieh’ jene Trauerweide, ihre herabhangenden Zweige, seit langen Jahren beugen sie Wind und Sturm und Ungewitter, sie senkt sich, schmiegt sich herab, die Zweige aber beschützen 339
Vgl. zur Zeder EJ 4 (2007). S. 535; zur Palme EJ 15 (2007). S. 602 f. Im Tanach ist die Palme Raststätte der Israeliten auf der Flucht (Exodus 15,27; Numeri 33,9), Allegorie des Volkes Israel (1. Könige 7,36; Psalm 92,13) und der Geliebten (Hohelied 7,7–8). Vgl. auch Andrea Moresino-Zipper: Die Judaea-Capta-Münze und das Motiv der Palme. Römisches Siegessymbol oder Repräsentation Judäas? In: Jerusalem und die Länder. Ikonographie – Topographie – Theologie. Hg. von Gerd Theißen u. a. Göttingen 2009. S. 57–72. 340 Karl Beck: Nächte. Gepanzerte Lieder. Leipzig 1838. S. 155 f. 341 Joel Jacoby: Harfe und Lyra. Seitenstück zu den Klagen eines Juden. Berlin 1838 [Sigle JH].
3.3 Florio- und Arboriographie
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ihren Stamm, aber auch jenen starken Eichbaum, den der Sturm zu Boden geschlagen. Der Trauerweide, den Stürmen sich beugend, aber nach ihm sich erhebend, gleichet Israel. Durch Bestehung der kleinlichen Kümmernisse […] widerstehen wir der Zeit mit ihren Schrecknissen und lösen unsere Aufgabe, als Ueberbleibsel vergangener Jahrhunderte für die Ewigkeit zu dauern, ein lebendiges Zeugniß zu geben den Völkern von den Wundern unserer darum unbegreiflichen Geschichte und von der Offenbarung des einigen Gottes. Sieh, darum ist die Rolle, die wir in der Weltgeschichte spielen, keine glänzende, aber eine unvergängliche, keine von der Größe der Erde gehobene, aber eine geistig angestaunte, darum bilden wir kein Reich, aber eine Nation unter den Völkern der Erde, darum sind wir nicht selbstständig und kraftvoll, aber unverwüstliche Denkmäler alten Lebens. Tausende von Nationen sind verschwunden, die Herrschaft der Mauren ist vor unsern Augen zu Nichts geworden, denn sie war eine Herrschaft von dieser Welt und setzte sich starr dem Bestehenden entgegen, wir wichen, rettend unsere Kleinodien, der Allgewalt, die uns nicht zertrümmern konnte.342
Die Trauerweide dient hier als ein Demonstrationsobjekt, anhand dessen der Vater seinem Sohn die Eigentümlichkeit jüdischer Geschichte und die welthistorische Bedeutung Israels erklären kann. Dabei wird die äsopische Fabel von Schilfrohr und Ölbaum, die bei Jean de la Fontaine als Fabel von Schilfrohr und Eiche (Le chêne et le roseau) und in deutschsprachigen Bearbeitungen auch als Fabel von Weide und Eiche tradiert worden war,343 mitsamt ihrer Lehre in die silvanationale und geschichtsphilosophische Ordnung des 19. Jahrhunderts transferiert. Als auszeichnendes Merkmal der Trauerweide und Israels werden Flexibilität bzw. Anpassungsbereitschaft herausgestellt. Während der »starke[ ] Eichbaum« starr und stolz seinen Platz behaupte und deshalb vom Sturm »zu Boden geschlagen« werde, sei die Trauerweide bereit, sich zu beugen; sie »senkt sich, schmiegt sich herab,« und widersteht gerade deshalb »der Zeit mit ihren Schrecknissen«. Anders als die großen Reiche der Griechen, Römer und Mauren, die zwar eine »glänzende« Rolle in der Weltgeschichte spielten, aber irgendwann untergingen, überdauerten die Juden als »unverwüstliche Denkmäler alten Lebens« alle Widrigkeiten, um ein »lebendiges Zeugniß« vom Judentum zu geben. Ihre religiös begründete historische Unvergänglichkeit kompensiert in dieser Logik ihre mangelnde politische Selbstständigkeit und Macht; ihre besondere welthistorische »Aufgabe« rechtfertigt ein Verhalten, das ihre Gegner immer wieder als Unterwürfigkeit und Illoyalität diffamiert haben. Mit ihrer Anpassungsbereitschaft haben die Juden die »Herrschaft der Mauren« ebenso überdauert wie sie, so darf man mit Blick auf den Eichenvergleich folgern, auch die Herrschaft der Deut342
AZJ 1:17 (1837). S. 65 f. Jean de la Fontaine: Sämtliche Fabeln. Vollständige zweisprachige Ausgabe. In den Übersetzungen von Ernst Dohm und Gustav Fabricius, mit den Illustrationen von Grandville sowie mit Anmerkungen, Zeittafel und einem Nachwort von Hermann Lindner. München 1978. S. 82–85; Aesopische Fabeln für die Jugend. Nach verschiedenen Dichtern gesammlet und bearbeitet von August Gottlieb Meißner. Prag/Leipzig 1794. S. 191 f.; eine hebräische Übersetzung ( )הקנה והאלהvon Joel Löwe erschien im Me’assef 6 (1790). S. 208–210. Vgl. zur Transformationsgeschichte dieser Fabel Hans Georg Coenen: Die Gattung Fabel. Infrastrukturen einer Kommunikationsform. Göttingen 2000. S. 201–213. 343
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
schen überdauern werden, weil sie sich nicht »starr dem Bestehenden« entgegensetzen. Die Konkurrenzkonstellation von Trauerweide und Eiche dient hier dazu, das Judentum im silvanational strukturierten Diskurs der Zeit zu positionieren und eine historische Überlegenheit für Israel zu reklamieren, indem herkömmliche Wertungsmuster mithilfe botanischer Metaphorik unterlaufen werden. Die arboreale Nationalsymbolik lässt sich im 19. Jahrhundert aber auch ins Individuelle wenden, wie nun an einem Beispiel aufgezeigt werden soll. In einem Brief vom 24. Januar 1809 an Rahel Levin stellt Karl August Varnhagen einen Vergleich zwischen der gemeinsamen Berliner Bekannten Rebecca Friedländer und seiner Braut an. Während Rebecca Friedländer, die gerade unter dem Pseudonym Regine Frohberg ihren ersten Roman veröffentlicht hat, ihm als ein oberflächliches Produkt der Konvenienz wie ein Baumwipfel erscheint, der ohne Stamm in der Luft schwebe, sieht er in Rahel Levin wahre Tiefe und Größe, vermittelt im Sinnbild eines »ächten« Baums, der »aus tiefer Erde auf kraftvollem Stamm viel höher« rage. Ist es schon höchst ungewöhnlich, im frühen 19. Jahrhundert eine Frau mit einem Baum (statt mit einer Blume oder Efeu) zu vergleichen, geht Varnhagen in seinem Brief noch einen Schritt weiter, um die Eigenwilligkeit und Stärke, die er in Rahel Levin sieht, ins Bild zu bringen: Er kippt es um 180 Grad. Von solchen ›ächten‹ Bäumen gelte, dass sie, »auch wenn man sie umkehrt, nicht verderben können, weil der Wipfel sich zur Wurzel und die Wurzel zum Wipfel sich umbildet.«344 Will Varnhagen mit diesem Sinnbild, das eine lange religiöse und philosophische Tradition hat,345 vor allem seine Bewunderung für die Braut ausdrücken, erfasst Levin sogleich dessen groteskes Potential. In ihrem Antwortschreiben vom 19. Februar 1809 ruft sie: Wie richtig, Geliebter – und wie traurig – vergleichst Du mich – wie überaus witzig, nie hat man etwas erschöpfend Aehnliches über mich gesagt!! – vergleichst Du mich zu einem Baume, den man aus der Erde gerissen hat, und dann seinen Wipfel hineingegraben; zu stark hat ihn die Natur angelegt! Wurzel faßt der Wipfel, und ungeschickt wird Wurzel zu Wipfel! Das, Lieber, leider! leider! bin ich.
Hatte Varnhagens hypothetischer Umkehrung die Annahme einer Symmetrie zwischen Wurzel und Wipfel zugrunde gelegen, kehrt Levin gerade das Asymmetrische und Übertriebene (»zu stark«), das Ungelenke (»ungeschickt«) und Gewaltsame (»gerissen«) hervor. Sie reflektiert das Groteske an dem Vergleich, indem sie erklärt, dass dieser ihr zugleich traurig und witzig erscheine: Er erzeugt gleichsam ein Lachen, das im Halse stecken bleibt. In diesem Sinne nun erhebt Levin das Bild des umgekehrten Baumes ohne Umschweife zum »Epitaph« ihrer Existenz: »Diese Woche habe ich erfunden, was Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 4 (1983). S. 269. Adolf Jacoby: Der Baum mit den Wurzeln nach oben und den Zweigen nach unten. In: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 43:3 (1928). S. 78–85. 344 345
3.3 Florio- und Arboriographie
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ein Paradox ist. Eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt dringt, und mit einer Verrenkung hervorbricht. So bin ich leider! – hierin liegt mein Tod. […] O! Gott! jede Aeußerung – und je kräftiger sie ist! – Ein Schmerz!«346 Das Paradox ihrer Lage begründet Levin hier in ihrer Unzeitgemäßheit; als alleinstehende Frau und gebildete Jüdin sieht sie sich mit zahllosen Kränkungen, Beleidigungen und Einschränkungen konfrontiert.347 Mit der Versinnbildlichung ihrer Existenz in einem umgekehrten, verwachsenen Baum verhandelt Rahel Levin die Frage ihrer geistigen und sozialen Entfaltungsmöglichkeiten in der Frage natürlichen Wachstums und dessen Verhinderung durch widrige Bedingungen. Sie schlägt damit aus einem Paradox rhetorische Funken, das Joel Jacoby wenig später, wie nun gezeigt werden soll, durch die Kopplung der botanischen Metaphorik an Narrative orientalischer Herkunft verschärft und restaurativ zu bewältigen versucht. 3.3.2 Im Metapherngestrüpp Jacobys poetische Irrfahrten im Kollektivsymbolsystem Joel Jacoby verarbeitet in seinen Gedichtbänden, die in den 1830er Jahren mit ihrer hypertrophen Inszenierung des sogenannten Judenschmerzes Furore machen (Kap. 4.2.3), die arborealen Sinnbilder seiner Zeit auf höchst eigenwillige Weise. Seine Dichtungen erweisen sich als regelrechte Interdiskurs-Schleudern; die Lektüre seiner Klagedichtungen hat den Erlebniswert einer AutoscooterFahrt im damaligen Kollektivsymbolsystem. Wie im Folgenden unter Konzen tration auf die Verschränkung von vegetabiler Metaphorik mit orientalistischen Figuren gezeigt werden soll, lassen sie damit die Schwierigkeiten hervortreten, die mit dem Versuch verbunden sind, eine valide deutsche jüdische Sprechposi tion im Emanzipationszeitalter zu finden. Im zehnten Gesang von Jacobys Klagen eines Juden (1837)348 bringt der jüdische Sprecher seine Situation in Deutschland mit einem Vergleich aus dem Bereich der Flora ins Bild: Ich bin wie ein Zweig von dem südländischen Baum, und der Sturm hat mich nach dem Norden getrieben. Hier nahm mich die germanische Erde mitleidsvoll in den treuen Schoß, nährte mich mit ihrem Mark, kleidete mich in ihr Grün, gab mir eine zweite Heimath und gönnte mir die alten Blüthen und einen jungen Stamm. […] Ja – Ihr grüßet mich wie mit heiligem, heimathlichen Gruß, ihr deutsche Wälder, und des Morgenlandes Mährchenträume hör’ ich aus Euren Wipfeln rauschen, hör’ ich aus Euren Nachtigallenchören klingen. Heldengeschichten brausen durch die Eichen, und die Linde flüs Varnhagen: Gesammelte Werke. Bd. 4 (1983). S. 296 f. Klaus Haase: »Laß dies mein Epitaph sein«. Zur Selbstdarstellung in Rahels Briefen. In: Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Hg. von Barbara Hahn und Ursula Isselstein. Göttingen 1987. S. 67–75. 348 Joel Jacoby: Klagen eines Juden. Mannheim 1837 [Sigle JK]. 346 347
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tert Klage, flüstert Sehnsucht. Das ist heimischer Boden, das ist mir vaterländischer Grund! […] Und wehest du mich nicht an mit vaterländischem Zauber, deutsche Poesie, und quillt und strömt aus deinem Born nicht der Tiefsinn des Morgenlandes und seiner reizenden Pracht?! Von der deutschen Lippe wälzt sich der mächtige Psalmengesang, von der deutschen Lippe schwingt sich des Hohenliedes liebeseliger Reigen. Ueber das deutsche Saitenspiel schmettert es wie Schlachtenruf, über das deutsche Saitenspiel bebt es wie Engelsharfen. Das sind heimische Laute, das sind mir vaterländische Töne. […] Ich bin wie ein welker Zweig von dem großen südländischen Baum und der Sturm hat mich nach dem Norden getrieben. Hier nahm mich die germanische Erde in den treuen, trauten Schoß, nährte mich mit ihrem Mark, kleidete mich in ihr Grün, gab mir eine zweite Heimath und gönnte mir die alten Blüthen und den jungen Stamm. Und so wurzle ich in der fremden, gastlichen Erde, und bin gesäugt von deutschem, nordischem Mark. Aber den Wipfel schmückt südliche Gluth, den Wipfel küssen südliche Sonnenblicke und der Heimath phantasiereiche Sängerchöre wohnen in dem südlichen Laub. (JK, 39–43)
Im ersten Abschnitt vergleicht sich der Sprecher mit einem nach Norden verwehten »Zweig von dem südländischen Baum«, der auf deutschem Boden Wurzeln geschlagen habe. Durch einen »Sturm« aus seiner südlichen Heimat vertrieben, wird ihm in Deutschland eine »zweite Heimath« zuteil. Die »germanische Erde« tritt hier in einer Leihmutterfunktion auf, indem sie den passiv erscheinenden Zweig in ihren »Schoß« aufnimmt, ihn nährt und kleidet. Im Ergebnis präsentiert sich der Sprecher im vierten Abschnitt als eine botanische Hybridbildung, die durch spatiale und temporale Verschränkungen konstituiert ist. Zwar wurzele der Zweig nun in deutscher Erde: »Aber den Wipfel schmückt südliche Gluth, den Wipfel küssen südliche Sonnenblicke und der Heimath phantasiereiche Sängerchöre wohnen in dem südlichen Laub.« Der horizontale Versetzungsakt von Süden nach Norden erscheint in die vertikale Struktur der Pflanze verlegt; die Kultur- und Klimageographien der ersten und zweiten Heimat verteilen sich auf Wipfel und Wurzel. Damit wird der einmalige, im Perfekt berichtete Akt der Versetzung eines Zweigs von Süden nach Norden um 90 Grad gedreht und im vertikalen Wachstum des daraus entstehenden Baumes auf Dauer gestellt. Steht dieses eigenartige nord-südliche Gewächs schon in seiner Hybridität quer zu Vorstellungen von organisch gewachsener Kollektivzugehörigkeit, stellt Jacoby überdies die gängige Wurzelsemantik von Heimat- und Herkunftszuschreibungen auf den Kopf, insofern die ›eigentlichen‹ südlichen Wurzeln des Zweigs sich in seinem Wipfel zu erkennen geben. Wie es zu verstehen sein soll, dass der verwehte Zweig auf deutschem Boden einen »jungen Stamm« ausbildet und zugleich seine »alten Blüthen« aus dem Süden behält, versucht Jacoby in den beiden mittleren Abschnitten zu veranschaulichen. Die dabei zum Einsatz kommenden semantischen Verschränkungen zwischen erster und zweiter Heimat sind grammatikalisch in der Vergleichspartikel »wie« konzentriert. Die »deutsche[n] Wälder« grüßen den Sprecher nur wie mit heimatlichem Gruß, und es stellt sich auch sogleich heraus, warum hier im Als-
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Ob-Modus gesprochen wird: Aus den Wipfeln der Eichen und Linden nämlich dringen nicht etwa germanische Heldensagen und deutsche Volkslieder zum Sprecher, sondern »des Morgenlandes Mährchenträume«. Damit geraten die Bezüge der patriotischen Emphase ins Rutschen; die am Ende des zweiten Abschnitts vorgenommene Bündelung des Vorhergesagten durch das Fokuspronomen das349 – »Das ist heimischer Boden, das ist mir vaterländischer Grund!« – ist im wahrsten Sinne des Wortes doppelbödig, nämlich deutsch und orientalisch zugleich. Im dritten Abschnitt wird diese semantische Doppelbödigkeit mit einer poetologischen Variation weiter zugespitzt. Der Sprecher vollführt einen drastischen Bildbruch in der Frage: »Und wehest du mich nicht an mit vaterländischem Zauber, deutsche Poesie, und quillt und strömt aus deinem Born nicht der Tiefsinn des Morgenlandes und seine reizende Pracht!?« Auch dem »vaterländischen Zauber« der deutschen Poesie ist hier ein zweiter – morgenländischer – Boden eingelegt. Diese doppelbödige poetisch-patriotische Inspiration nun ergibt sich aus der nord-südlichen Verschränkung der deutschen jüdischen Sprechposition: »Von der deutschen Lippe wälzt sich der mächtige Psalmengesang«. Berücksichtigt man Jacobys programmatischen Anspruch, mit den Klagen eines Juden das Genre der Psalmen in deutscher Sprache für den modernen jüdischen Schmerz zu erneuern, dann ist diese Aussage auch als eine den gesamten Gedichtband bündelnde performative Selbstaussage zu verstehen. Für Jacobys Diskursposition ist es konstitutiv, das Bezugsobjekt seines vaterländischen Gesangs im Unklaren zu belassen. Jacoby bekräftigt das mit einem erneut pauschal bündelnden Abschlusssatz: »Das sind heimische Laute, das sind mir vaterländische Töne.« Das Fokuspronomen gibt hier wie am Ende des zweiten Abschnitts eine Eindeutigkeit patriotischen Zugehörigkeitsgefühls vor, die sich beim Blick auf die jeweils vorhergehenden semantischen Verschränkungen von morgenländischen und abendländischen Zuweisungen auflöst. Was hier im zurückweisenden Satzanschluss ›Das‹ vermeintlich gebündelt wird, sperrt sich in seiner Disparatheit gegen ebendiese Bündelung, denn die hybride west-östliche, nord-südliche Sprechposition des klagenden deutschen Juden, wie Jacoby sie hier entwirft, entzieht sich der eindeutigen Zuordnung. Als junger Stamm mit alten Blüten, als Bäumchen mit nordischen Wurzeln und südlichem Wipfel präsentiert Jacoby seinen deutschen jüdischen Sprecher in einer botanischen Metaphorik, die nicht nur die Grenzen der Biologie, sondern auch den biedermeierzeitlichen Toleranzbereich für Kata chresen überschreitet und sich – verstärkt durch die repetitive Emphase der die Form der Psalmen zitierenden Parallelismen – unfreiwillig und uneingestanden der Groteske nähert. Jacobys Klagen eines Juden treiben grell hervor, wie schwierig es ist, im Diskurs der Zeit eine Sprechposition zu finden, die zwischen der
Vgl. Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim 22003. S. 402 f.
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Zugehörigkeit zu Deutschland und der Bezogenheit auf das Morgenland ver mittelt. Wie dringlich aber der Versuch erscheint, eine solche Sprechposition zwischen Deutschland und Morgenland auszuhandeln, wird daran deutlich, dass Jacoby ein Jahr später in seinem Seitenstück zu den Klagen eines Juden die Bildfelder noch einmal umsortiert. Im sechsten Gesang erklärt der Sprecher: Da steh’ ich nun im deutschen Eichenwald, auf deutsche Gräber tritt mein Fuß und deutsche Heldensagen und deutsche Heldenseelen grüßen aus den Wipfeln. Da steh’ ich, ein morgenländischer Pilger, mir selbst ein wunderbares Räthselbild, blicke sinnend auf zum deutschen Himmel, blicke fragend auf die deutsche Erde und sehe fragend in mein morgenländisch Antlitz, das der klare Bach zurück mir spiegelt. Wie komm’ ich, müder Sproß, wie komm’ ich unter diese jungen Reiser? Was soll ich hier? Wer hat mich hergeführt in diesen abendländischen Garten? Was will mein Todten-Antlitz bei diesen blühenden Knaben, die mit frechem Finger auf mich weisen, die meine bittre Noth verachten? Ach – ich lechze nach den Palmenhainen meiner Väter, nach den Gräbern meiner Ahnen sehn’ ich mich, und matt und müd’ und müd’ und matt irr’ ich umher, ein Bild des Jammers. (JH, 41 f.)
An die Stelle des vage bündelnden Fokuspronomens das tritt in diesem Gesang das ebenso vage Situationsadverb da,350 das als Auftakt der ersten beiden Sätze die gegenwärtige Lage des jüdischen Sprechers bezeigt, der als »morgenländischer Pilger« fremd in einer durch und durch deutschen Umgebung steht. Morgenländische und abendländische Bildfelder sind hier säuberlich entlang einer Innen-Außen-Kante voneinander getrennt. Der jüdische Sprecher ist eindeutig morgenländisch kodiert; aus den Wipfeln des deutschen Waldes grüßen »deutsche Heldensagen und deutsche Heldenseelen« statt Psalmengesängen und Morgenlandträumen. Die Unklarheit des eigenen Standpunkts äußert sich nun nicht mehr indirekt durch eine Verschränkung divergierender semantischer Felder, sondern wird explizit gemacht: Der Sprecher ist sich selbst ein »Räthselbild« und richtet ratlose Blicke sowie eine ganze Kaskade von Fragen an seine Umgebung und an sein eigenes Spiegelbild. Als »morgenländischer Pilger« erscheint er – betont durch den Chiasmus »matt und müd’ und müd’ und matt« – in der Stofftradition Ahasvers, der dazu verflucht ist, als ein »Bild des Jammers« ewig in der Welt umherzuirren. Auch die Temporalsemantik ist nun aufgetrennt: Der Sprecher wird nicht mehr als junger Stamm mit alten Blüten, sondern als »müder Sproß« zwischen »jungen Reiser[n]« figuriert. Fremd im »abendländischen Garten«, lechzt der Sprecher nach den »Palmenhainen« seiner Ahnen. Allerdings wird er von einem verlockenden Angebot abgelenkt: »Durch des Waldes Halle hör’ ich feierlich die Kirchenglocke läuten, die Kapelle schimmert aus der Ferne, fromme Sängerchöre schweben, und Friede! Friede! säuselt von den Zweigen« (JH, 42 f.). Nicht nur Vgl. Weinrich: Textgrammatik, 2003. S. 557–559.
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germanische Heldensagen rauschen durch die Wipfel des deutschen Waldes, sondern auch die Verheißung, durch Annahme des Christentums vom jüdischen Schmerz erlöst zu werden. Durch einen Schrei aus den Grüften seiner Väter zurückgerufen, hält der Sprecher indes inne und vergegenwärtigt sich seine Zugehörigkeit zur Judenschaft: »Und ich blicke auf die morgenländische Harfe, die mir in der Linken bebt, ich blicke auf die morgenländischen Brüder, auf die morgenländische Pflicht, und ich schaue auf mein morgenländisch Antlitz, das der klare Bach zurück mir spiegelt« (JH, 44). In diesem Moment einer erneuten Selbstbegegnung mit dem eigenen morgenländischen Antlitz geht dem Sänger zwar die welthistorische Mission des Judentums auf, aber diese kann letztlich weder Jacoby noch sein poetisches Alter Ego beim Judentum halten, und so besiegelt er wiederum zwei Jahre später seinen Übertritt zum katholischen Glauben auch poetisch mit dem Bändchen Kampf und Sieg. In den dort enthaltenen Klagen eines Katholiken sortiert er die botanische Metaphorik nochmals um. In einem Gesang An das preußische Vaterland heißt es da: »Du bist der Baum, deß Wipfel strebt zum Himmel, deß Wurzel trinkt die Tiefe; ich: die leise Blüthe, welche Winde schauckeln, die einst als Frucht dich zieret.«351 Vom hybriden Gewächs mit nordischen Wurzeln und südlichem Wipfel über einen müden Spross unter jungen Reisern schließlich auf eine kulturell unmarkierte, potentiell fruchttragende Blüte am gewaltigen Baum Preußens reduziert, stellt Jacoby sich auch poetisch in den Dienst des preußischen Vaterlandes, für dessen Staatsapparat er zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren als Spion tätig ist. So unternimmt Jacoby mehrere Anläufe, um mithilfe botanischer Elemente aus dem Kollektivsymbolsystem seiner Zeit eine deutsche jüdische Sprechposi tion zu finden. In ihren drastischen Bildbrüchen, Widersprüchen und semantischen Umverteilungen vergegenwärtigen Jacobys Dichtungen die diskursive Herausforderung, im Kontext des Orientalismus eine Sprache für jüdische Belange zu finden. Sein Versuch, einen deutschen jüdischen Sänger als Hybridpflanze mit nordischen Wurzeln und südlichem Wipfel vorstellbar zu machen, nähert sich unfreiwillig der Groteske; erst die hierarchischen Organisationsstrukturen von Staat und Kirche bieten ihm im Sinnbild der Zweigstruktur eines Baums eine Möglichkeit der Eingliederung, die ihn von seiner west-östlichen Orientierungslosigkeit erlöst. Seine Positionierungsversuche im Kollektivsymbolsystem der Zeit treiben die Aporien und Zwänge des damaligen Emanzipationsdiskurses hervor. Im Kollektivsymbolsystem des 19. Jahrhunderts ist der Einsatz national kodierter Baumarten, so lässt sich zusammenfassen, eine ebenso produktive wie heikle Strategie jüdischer Selbstpositionierung. Mit Palme, Zeder und Trauerweide können jüdische Autorinnen und Autoren wie Philippson, Levin, Beck Franz Karl Joel-Jacoby: Kampf und Sieg. Regensburg 1840. S. 78.
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und Jacoby sich im silvanationalen Feld verorten; die Diaspora-Semantik der Ver- und Entwurzelung verkompliziert indes diese Standortbestimmungen und treibt das jeweilige Sinnbild nicht selten in Widersprüche. Eine flexiblere Alternative bietet der Einsatz von Blumen. In den folgenden beiden Kapiteln werde ich rekonstruieren, inwiefern Blumen und Blumengrüße jüdischen Autorinnen und Autoren im Kontext biedermeierzeitlicher Flora-Begeisterung dazu dienen, ihre Lage als eine west-östliche zu reflektieren. 3.3.3 Selamik Die orientalische Blumensprache der Biedermeierzeit Das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Blumen.352 Infolge verschiedener öko nomischer, botanischer, kolonialgeschichtlicher und kultureller Entwicklungen gewinnen Blumen um 1800 sowohl im gesellschaftlichen Umgang als auch in der Literatur eine enorme Präsenz.353 Im Unterschied zur von Bäumen und Sträuchern geprägten Gartenkultur des 18. Jahrhunderts setzt der Garten des 19. Jahrhunderts als sogenannter jardin fleuriste auf ein Höchstmaß an Blütenreichtum. Die gärtnerische Gestaltungshoheit wird der Architektur entzogen und an die Botanik gegeben; diese bereichert Blumenbeete und Treibhäuser dank intensivierter Pflanzenakklimatisation und Kreuzungsverfahren mit zahllosen neuen Blumenarten.354 Blumen – bis dahin ein Luxusgut in adligen Orangerien und Glashäusern – wandern nun auch in Hausgärten und in bürgerliche Innenräume: Es wird üblich, die Interieurs von Wohnhäusern mit Zimmerpflanzen zu schmücken oder gar mit privaten Wintergärten auszustatten;355 Tapeten, Geschirr und andere Gebrauchsgegenstände werden mit floralen Mustern überzogen;356 die 352 Nicolette Scourse: The Victorians and their Flowers. London u. a. 1983; Beverly Seaton: The Language of Flowers. A History. London/Charlottesville, VA 1995; Goody: Culture of Flowers, 1993. S. 206–231. 353 Georg Himmelheber: Kunst des Biedermeier. In: Kunst des Biedermeier, 1815–1833. Architektur, Malerei, Plastik, Kunsthandwerk, Musik, Dichtung und Mode. Ausstellungskatalog Bayerisches Nationalmuseum. Hg. von Georg Himmelheber. München 1988. S. 20–52, hier: S. 41. 354 Marie Luise Gothein: Geschichte der Gartenkunst. Bd. 2. Jena 1926. S. 415–432. 355 Vgl. die Abbildungen im Journal des Luxus und der Moden 7 (1792). S. 638 f. und 24 (1809). S. 196 f. sowie die Gemälde von Johan Christian Clausen Dahl: Julie Vogel in ihrem Garten (1828) und Eduard Gaertner: Die Frau des Künstlers mit ihren Kindern (1836) im Ausstellungskatalog Kunst des Biedermeier, 1988. S. 209 f. und S. 213; ferner Judith Vater: Blumenfenster und Biedermeiergärtchen – bürgerliche Blütenwelten im Museum Haldensleben. In: Gärtnerische Wäldchen. Museen und Gartenkunst des 18. Jahrhunderts in Sachsen-Anhalt. Hg. von Christian Juranek. Dößel 2006. S. 227–236. 356 Thilo Tuchscherer: Dedikationstassen – Fragile Geschenke für die Ewigkeit. In: BiedermeierTassen. Widmungen auf Porzellan. Die Sammlung Homann. Hg. von Hildegard Wiewelhove. Stuttgart 2005. S. 9–110, hier: S. 25–54; Hannelore Plötz-Peters: Sel’am – Die Sprache der Blumen auf Porzellanen der KPM Berlin aus Privatsammlungen. In: Keramos 174 (2001). S. 37–52; Hildegard Westhoff-Krummacher: Von der Antikeneuphorie bis zum Blumenglück des Biedermeiers. In: Weißes Gold aus Fürstenberg. Kulturgeschichte im Spiegel des Porzellans 1747–1830. Ausstellungskatalog
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Anfertigung von Kunstblumen wird zu einem beliebten häuslich-privaten Zeitvertreib; Blumen werden getrocknet, geschwefelt, in Alben gesammelt und hinter Glas gebracht.357 In den Großstädten verkaufen Blumenmädchen Schnittblumen; Bouquets werden verschickt und verschenkt; einzelne Blüten zieren die Knopflöcher von Herrenanzügen sowie die Gürtel, Dekolletés, Haarspangen und Hüte von Frauen.358 In Berlin und Weimar etablieren sich Kunstblumen-Fabriken, in denen zum Teil über hundert Mädchen und Frauen damit beschäftigt sind, aus Seide, Seidenwürmerkokons, Papier und anderen Materialien künstliche Blumen zu fertigen.359 Im Kalender-, Almanach- und Anthologiewesen der Zeit bilden Blumenbücher ein eigenes Segment.360 Blumen sind in der Lyrik der ersten Jahrhunderthälfte ubiquitär; die blumenhaltigen Gedichte Goethes werden besonders gern vertont.361 Blumenkult und Literatur sind also eng miteinander verbunden. Das 19. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert der Blumen, es ist auch das Jahrhundert der Blumenlesen. Deutschsprachige Anthologien werden in steigender Menge und zunehmend prächtiger Ausstattung produziert.362 Zeitgenossen beklagen die »Unmasse von poetischen Blumenlesen und Mustersammlungen« und prangern sie als »ein Schmarotzergewächs am Baum unserer Literatur« an.363 Blumen- und Anthologienfuror stehen einander nicht nur aufgrund ihrer Adressierung eines vornehmlich weiblichen Publikums und ihrer Nähe zur TriWestfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und Herzog-Anton-Ulrich-Mu seum. Münster/Braunschweig 1988. S. 112–131, bes. S. 125 f. 357 Sibylle Benninghoff-Lühl: Geflügelte Blumen. Zur Poesie der botanischen Erinnerungszeichen im Nachlass von Jacob und Wilhelm Grimm. In: Brüder Grimm Gedenken 17 (2012). S. 295– 322; Clara Schumann: Blumenbuch für Robert, 1854–1856. Hg. von Gerd Nauhaus und Susanna Kosmale. Bonn u. a. 2006; Clara Schumann: Das Berliner Blumentagebuch, 1857–1859. Hg. von Renate Hofmann. Wiesbaden u. a. 1991. 358 Saskia Durian-Ress: Mode zur Zeit des Biedermeier. In: Kunst des Biedermeier, 1815–1833. Architektur, Malerei, Plastik, Kunsthandwerk, Musik, Dichtung und Mode. Ausstellungskatalog Bayerisches Nationalmuseum. Hg. von Georg Himmelheber. München 1988. S. 65–70; Tione Raht: Die Geschichte der Seidenblumen. Hannover 1981. S. 52–70. 359 Uta Kühn-Stillmark und Walter Steiner: Friedrich Justin Bertuch. Ein Leben im klassischen Weimar zwischen Kultur und Kommerz. Köln 2001. S. 61–65; Raht: Geschichte der Seidenblumen, 1981. S. 8–49; Alfred Meiche: Die Anfänge der Kunstblumenindustrie in Dresden, Leipzig, Berlin und Sebnitz. Dresden 1908. S. 9–24. 360 Die Anzeige eines Blumentaschenbuchs für Frauen und Jungfrauen im Intelligenzblatt der Zeitung für die elegante Welt (Nr. 22 vom 15. Oktober 1822) als »ganz neues Toilettengeschenk für Damen« macht das Profil deutlich: »Diese Bouquets […] empfehlen sich nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch nettes Aeußere, und verdienen ein Plätzchen auf jeder Damentoilette!« 361 Hans Kuhn: Geschlechtsbezogene Blumenmetaphorik in Liedern der Goethezeit. In: Jb. für Volksliedforschung 44 (1999). S. 122–126. 362 Jörg Schönert: Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Zusammenhang von Anthologiewesen und Trivialliteraturforschung. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 9 (1978). S. 272–299. 363 Robert Prutz: Ueber poetische Blumenlesen und Mustersammlungen. In: Deutsches Museum 9:52 (1859). S. 929–938, hier: S. 929; ähnlich Karl Gutzkow: Die Blumenlesler. Zur Literaturgeschichte der neuesten Zeit. In: Deutsches Museum 1 (1851). S. 801–815.
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vialkultur nahe. Sie sind, wie die Metapher des ›Schmarotzergewächses‹ andeutet, etymologisch eng miteinander verbunden: Als Lehnübersetzung aus den griechischen und lateinischen Bezeichnungen Anthologie und Florilegium lädt die Blütenlese zu allerlei (pseudo)etymologischen und floralmetaphorischen Spielereien in der Titelgebung literarischer Auswahlsammlungen ein.364 Besonders üppig ›blüht‹ es in orientalistischen Anthologien, die als Sammlungen exotischer Pflanzen präsentiert werden. Über das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze lassen sich auch jüdische Texte in diesen Anspielungshorizont integrieren. David Friedländer etwa stellt 1791 den Lesern der Berlinischen Monatsschrift eine »Rabbinische Parabel« als ein »Orientalische[s] Produkt« vor: So viel ist gewiss, aus den wenig besuchten Gefilden des Talmuds bringen gewisse Wandrer nichts als Dornen und Unkraut mit; mir schien die beigefügte Parabel eine Blume, die in einer Orientalischen Anthologie einen Platz verdiente. Sie ist zwar von fremder Struktur, von bis zum Blenden hoher Farbe, und verräth überall das heiße Klima, in welchem sie gezogen worden; aber eben deswegen, glaube ich, wird sie für den Liebhaber etwas Anziehendes haben.365
Die florale Spielart des Orientalismus bietet Friedländer hier einen metaphorischen Rahmen, innerhalb dessen er den Reiz des Talmuds in apologetischer Absicht mit dessen Fremdheit – »gerade deswegen« – begründen kann. Dass orientalistische Anthologien besonders intensiv mit floraler Metaphorik umrankt werden, liegt nicht zuletzt daran, dass die eigentümlichste Ausprägung der biedermeierzeitlichen Flora-Begeisterung, die sogenannte Blumensprache (langage des fleurs), ein Import aus dem Orient ist. Durch frühneuzeitliche Reiseberichte aus dem Osmanischen Reich war die Kunde von einer Zeichensprache der Liebe nach Europa gelangt, die Blumen und andere Dinge (etwa Kohle, Mehl und Perlen) zu geheimen Botschaften arrangiere.366 Mit einem solchen Gruß (›Selam‹) könnten die orientalischen Frauen, so hieß es, mit Liebhabern außerhalb des Harems Kontakt aufnehmen.367 Zunächst als Kuriosum gehandelt und 364 Eine gedrängte Zusammenschau bietet Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Die deutschsprachige Anthologie. Hg. von Joachim Bark und Dietger Pforte. Bd. 1. Frankfurt am Main 1970. S. xiii–cxxiv, hier: S. c. 365 Berlinische Monatsschrift 17 (1791). S. 474. 366 Besonders einflussreich waren die Turkish Embassy Letters (1763) von Lady Mary Wortley Montagu und der unter dem Pseudonym ›Du Vignau‹ veröffentlichte Secrétaire turc (1688) von Edouard de La Croix, der in verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen Verbreitung in Europa fand. Vgl. John-Paul Ghobrial: The Whispers of the Cities. Information Flows in Istanbul, London, and Paris in the Age of William Trumbull. Oxford 2013. S. 1–7; Gerhard F. Strasser: »Lettres muettes, ou la manière de faire l’amour en Turquie sans scavoir ny lire ny escrire«. Manuskript und Druck einer türkisch-französischen »Liebes-Chiffre« an der Pforte. In: Opitz und seine Welt. Fs. George Schulz-Behrend. Hg. von Barbara Becker-Cantarino und Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam 1990. S. 505–523. 367 Vgl. für eine kritische Erörterung dieser Annahme Joseph von Hammer-Purgstall: Sur le langage des fleurs. In: Fundgruben des Orients 1 (1809). S. 32–42; Ders.: Nachtrag zum symbolischen Wörterbuche der Hareme. In: Fundgruben des Orients 2 (1811). S. 206–209; Ders.: Ueber die Blu-
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vereinzelt in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts verarbeitet,368 wird das Sprechen durch die Blume im Rahmen der im frühen 19. Jahrhundert wachsenden Blumeneuphorie zu einem breiten, an die Bedürfnisse europäischer Konsumenten angepassten Modephänomen, auf dem eine ganze Buchindustrie aufbaut.369 Vielfach neu aufgelegte Broschüren wie Die Blumen-Sprache oder Bedeutung der Blumen nach orientalischer Art. Ein Toilettengeschenk (1818) werden zu umfangreichen Kompendien ausgeweitet, die ihre Vokabellisten und Gebrauchsanweisungen durch Anekdoten, Mythenerzählungen, etymologische Herleitungen und botanische Erklärungen sowie Illustrationen anreichern. Als international besonders einflussreich und erfolgreich erweist sich Charlotte de Latours Buch Le langage des fleurs (1819),370 das umgehend durch Karl Müchler ins Deutsche übersetzt wird.371 Der Literat und Journalist Johann Daniel Symanski ver öffentlicht kurz darauf sein Kompendium Selam oder die Sprache der Blumen (1820), das im deutschsprachigen Raum zu einem vielkopierten und -variierten Referenzwerk avanciert.372 Die Selamik wird zwar als eine orientalische Kommunikationspraxis vorgestellt, doch man sucht auch bei Römern, Griechen und Germanen nach Spuren men- und Früchtesprache des Harems. In: Morgenblatt für gebildete Stände 1:260 (1807). S. 1037 f. Vgl. ferner den Abschnitt zur Blumensprache im Artikel Zeichensprache in Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft. In alphabetischer Ordnung. Hg. von Johann Georg Krünitz. Bd. 161. Berlin 1834. S. 4 40–478, hier: S. 457–470. 368 [Friedrich Justin Bertuch?]: Sprache durch Blumen. In: Pandora oder Kalender des Luxus und der Moden für das Jahr 1787. S. 48–52; R—d: Wörterbuch der geheimen Zeichensprache, in den Harems der Türken und anderer Morgenländer. In: Pandora oder Kalender des Luxus und der Moden für das Jahr 1789. S. 81–86; Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. Bd. 1. Leipzig 1799. S. 160– 165. Herder mutmaßt 1778 in seiner Erklärung des Hohelieds, dass das erste Lied mit einer Rose übersandt worden sein könnte, denn es sei aus den einschlägigen Reiseberichten hinlänglich bekannt, dass sich »die Morgenländer solche Boten und Briefe der Liebe in Blumengeschenken zusenden« (FHA 3, 434). Christoph Martin Wieland lässt im 13. Gesang seines Versepos Oberon einen »Selam« binden (Christoph Martin Wieland: Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen [1780]. In: ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Bd. 15.1. Berlin/Boston, MA 2012. S. 4 –242, hier: S. 208 f.). 369 Seaton: Language of Flowers, 1995, bes. S. 16–35; Goody: Culture of Flowers, 1993. S. 232–253; Jack Goody: The Secret Language of Flowers. In: Yale Journal of Criticism 3:2 (1990). S. 133–152; Sabine Haass: »Speaking Flowers and Floral Emblems«. The Victorian Language of Flowers. In: Word and Visual Imagination. Studies in the Interaction of English Literature and the Visual Arts. Hg. von Karl Josef Höltgen. Erlangen 1988. S. 241–267; Floriographie. Die Sprachen der Blumen. Hg. von Isabel Kranz u. a. Paderborn 2016; Isabel Kranz: Stumme Zeichen, 2014. S. 6 –19; Isabel Kranz: The Language of Flowers in Popular Culture and Botany. In: The Language of Plants. Science, Philosophy, Literature. Hg. von Monica Gagliano u. a. Minneapolis, MN 2017. S. 193–214. 370 Charlotte de Latour: Le langage des fleurs. Paris [1819]. Die Verfasserin konnte bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert werden; möglicherweise handelt es sich um Louise Cortambert. 371 Charlotte de Latour: Die Blumensprache oder Symbolik des Pflanzenreichs. Aus dem Französischen [1819] übersetzt von Karl Müchler. Berlin 1820. 372 Auf die Ausgabe von 1820 folgt bald [Johann Daniel Symanski]: Selam oder Die Sprache der Blumen. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin [1822].
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floriographischer Praktiken,373 um ihre Universalität zu erweisen. In diesem Fahrwasser wird die osmanische Praxis beherzt an europäische Bedürfnisse angepasst, indem man sie auf Blumen reduziert und das Verfahren der Bedeutungszuweisung ändert. Während die osmanische Selamik Bedeutung auf rein sprachlicher Ebene durch die Verbindung der Ding- oder Blumenbezeichnung mit einem darauf reimenden Vers generiert (etmek/Brot etwa ist zu dechiffrieren als mümkün-mü seni öpmek/Kann ich dich küssen?),374 legen die europäischen Autoren des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der einzelnen Blumen unter Rekurs auf konventionelle Pflanzensymbolik, klassische Mythologie, Volkssagen und Anekdoten fest (von Vergissmeinnicht für Treue, Myrte für Liebe und Narzisse für Selbstsucht über Aloe für Bitterkeit bis hin zur Reseda als Symbol dafür, dass die inneren Vorzüge die äußeren übertreffen).375 Überdies sind zahlreiche deutsche Kompilatoren ausdrücklich darum bemüht, die – besonders in ihrer französischen Vermittlung – als frivol und exotisch empfundene orientalische Blumensprache an biedermeierliche Bedürfnisse anzupassen und aus den vorhandenen Listen und Sammlungen eine »Blumensprache deutschen Geistes und deutschen Herzens« zusammenzuschreiben.376 Bei der sogenannten Blumensprache, wie sie in der Biedermeierzeit floriert, handelt es sich mithin um eine europäische Erfindung, die nur lose auf vermeintliche orientalische Vorbilder rekurriert und, insofern sie aus voneinander abweichenden Vokabellisten besteht und einer Grammatik entbehrt, als ›Sprache‹ dysfunktional ist.377 Sie wird nicht als Kommunikationsmittel benutzt, sondern als Gesellschaftsspiel: So nehmen Blumencharaden und -orakel, Vokabellisten sowie (De-)Kodierungsanleitungen im biedermeierzeitlichen Zeitvertreib neben dem Zeichnen, Sticken und Sammeln von Blumen einen prominenten Platz ein.378 Im pseudo-pragmatischen Rahmen der Selamik, die vom Reiz der Simula373 Jacob Grimm: Bedeutung der Blumen und Blätter. In: Altdeutsche Wälder 1 (1813). S. 131– 160; Carl August Böttiger: Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin. Ein Beytrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum bessern Verständnis der römischen Schriftsteller. Bd. 1. Leipzig 21806. S. 199–256. 374 Edith Gülçin Ambros: The »Language of Flowers« and Ottoman Don Juans (zenpâres). In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 95 (2005). S. 19–43, hier: S. 21 f. 375 Dagmar Schmauks: Pflanzen als Zeichen. In: Zeitschrift für Semiotik 19:1–2 (1997). S. 133–147. 376 Die Blumen-Sprache, nach vaterländischen Dichtungen. Eine Frühlings-Gabe. Zweite, stark vermehrte Auflage. [Hg. von Karl Blumauer]. Hamm 1822. S. 9; ähnlich das Taschenbuch der Blumensprache oder Deutscher Selam. Mit einer Anthologie aus den besten Dichtern zur Charakterisirung der Pflanzen Deutschlands. Hg. von Johann M. Braun. Stuttgart 1843. Vgl. auch die humorigen Varianten, die den Blumen unangenehme Wahrheiten und Mahnungen zuordnen, etwa Baldrian für »Du bist einfältig« und Balsamine für »Deine Verse sind wäßrig« (Jokosus Fatalis: Die Blumensprache, oder Bedeutung der Pflanzen, Blumen und Kräuter, nach Occidentalischer Art. Ein Hülfsund Nothbüchlein. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1827. S. 5). 377 Seaton: Language of Flowers, 1995. S. 112–149; Goody: Culture of Flowers, 1993. S. 251 f. 378 Vollständige Blumensprache, der Liebe und Freundschaft gewidmet, oder neuester Selam des Occidents. Für Alle, welche sich mit Zeichnen, Sticken und Sammeln der Blumen beschäftigen. Nürnberg 1842.
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tion lebt, kommt auch die gesellige Gebrauchsfunktion von Lyrik zum Tragen.379 Beliebt sind neben Blumengrüßen etwa Gedichte bei Übersendung einer Rose oder bei Übersendung eines Blumenkranzes bis hin zu ambitionierten Varianten wie An Sie. Als an ihrer Busenschleife im Aurikel-Bouquet eine Knospe aufging380 oder An F.M., als sie mir für ein Bouquet natürlicher Blumen einige italienische [d. h. künstliche] Blumen schenkte.381 Wie überhaupt Blumen im Ruch der Belanglosigkeit stehen,382 ist die Blumensprache als für ein vornehmlich weibliches europäisches Lesepublikum aufbereitetes orientalisches Haremsphänomen und als pseudo-pragmatischer Rahmen für Gelegenheitsgedichte dem Verdacht der Trivialität, Frivolität und Phantasterei ausgesetzt. Gerade mit diesem Profil aber bilden die Blumeneuphorie und speziell die Blumensprache einen wichtigen Bezugspunkt für die Dichter des 19. Jahrhunderts.383 Heines berühmtes, fast vierhundertmal vertontes Gedicht Du bist wie eine Blume aus dem Buch der Lieder (1827) etwa wird erst vor dem Hintergrund der damals extrem ausdifferenzierten Floralsemantik eindeutig als Parodie erkennbar (DHA 1.1, 260 f.); sein Gedichtzyklus Neuer Frühling (1831) erweist sich als virtuoses poetisches Spiel in 44 Variationen mit dem Blumenfuror der Zeit (DHA 2, 11–30). Besondere Virulenz erlangt die Selamik für die orientalistische Lyrik. So ist die Blumensprache ein spielerisches Element in der chiffrierten poetischen Liebeskommunikation zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Marianne von Willemer, die direkt in den West-östlichen Divan (1819) eingeht.384 Im Kapitel Blumen- und Zeichenwechsel seines Anhangs zum West-östlichen Divan beleuchtet Goethe die Besonderheiten »orientalischer Poesie« im Licht der Gebrauchs lyrik seiner Zeit, wenn er die Selamik als eine Rätselpraxis bestimmt, die den Vgl. für eine reichhaltige Zusammenstellung Symanski: Selam, 1822. S. 515–646. Wilhelm Smets: An Sie. In: Neuer Kranz deutscher Sonette. Hg. von Friedrich Raßmann. Nürnberg 1820. S. 263. 381 Karl Müchler: Gedichte. Zweyte verbesserte Auflage. Bd. 1. Berlin 1802. S. 99 f. 382 Der triviale Nimbus wird auch im Begriff der Floskel tradiert, der vom lateinischen Diminutiv flosculus (›Blümchen‹) abgeleitet ist und im Zuge seiner Eindeutschung im 18. Jahrhundert die pejorative Bedeutung einer inhaltsleeren, abgegriffenen Redensart angenommen hat. Vgl. Vera Binder: Floskel. In: HWdRh 3 (1996). Sp. 371–375; DFWb2 5 (2004). S. 972 f. 383 Philip Knight: Flower Poetics in Nineteenth-Century France. Oxford 1986; Michel Otten: Proust et l’art du sélam. In: Les lettres romanes 39 (1985). S. 73–82; Isabel Kranz: Die stumme Sprache der Blumen. Selamographie in Pixerécourts Les Ruines de Babylone, ou le Massacre des Barmécides (1810). In: Das Melodram. Ein Medienbastard. Hg. von Daniel Eschkötter u. a. Berlin 2013. S. 75–95; Alexander Schwan: »Hebt Euch, Ihr Frühlingsblumen, seinem Fall«. Floriographie in Heinrich von Kleists ›Penthesilea‹. In: Kleist-Jb. 2015. S. 120–129; Christian van der Steeg: Blumensprache. Hebbel, Stifter, Bratranek. In: Variations 19 (2011). S. 87–98. 384 Alexander Schwan: »Blumen müssen oft bezeigen, was die Lippen gern verschweigen«. Floriographie als Sprache der Emotionen. In: Gefühle Sprechen. Emotionen an den Anfängen und Grenzen der Sprache. Hg. von Viktoria Räuchle und Maria Römer. Würzburg 2014. S. 199–221, hier: S. 201–205. 379
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
damals beliebten Charaden und Logogryphen ähnele (GwöD, S. 209–212).385 Goethes theoretische und poetische Verarbeitung der Blumensprache im Divan wiederum wird zum einen den zahllosen populären Selam-Büchern einverleibt,386 zum anderen bietet sie Heine in der Romantischen Schule (1836) eine Anregung, wie die dialogischen Strukturprinzipien des West-östlichen Divans zu erfassen und zu deuten seien: Unbeschreiblich ist der Zauber dieses Buches; es ist ein Selam, den der Occident dem Oriente geschickt hat, und es sind gar närrische Blumen darunter: sinnlich rothe Rosen, Hortensien wie weiße nackte Mädchenbusen, spaßhaftes Löwenmaul, Purpurdigitalis wie lange Menschenfinger, verdrehte Krokosnasen, und in der Mitte, lauschend verborgen, stille deutsche Veilchen. Dieser Selam aber bedeutet, daß der Occident seines frierend mageren Spiritualismus überdrüssig geworden und an der gesunden Körperwelt des Orients sich wieder erlaben möchte. (DHA 8.1, 161)
Dass Heine hier in seiner polemischen Darstellung der Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (so der Titel der Erstfassung von 1832/33), die er unter dem Eindruck von Goethes Tod im Pariser Exil verfasst, ausgerechnet dessen orientalistisches Spätwerk in den Vordergrund rückt und überschwänglich als westlichen Blumengruß an den sinnlichen Orient feiert, hat strategische Gründe. Heine beschließt seine Würdigung des Divans mit dem Hinweis, dass »Goethe, indem er Persien und Arabien so freudig besang, gegen Indien den bestimmtesten Widerwillen aussprach.« Gerade weil Goethe sich einem ganz anderen Orient zuwendet als die Romantiker, die – so Heine weiter – »Hindostan als die Wiege der katholischen Weltordnung« ansehen, kann Heine den West-östlichen Divan, indem er ihm als einem west-östlichen Blumengruß eine eindeutige Botschaft zuweist, als Sprungbrett für seine anschließende Abrechnung mit den Romantikern benutzen und Goethe, der sich mit seinem Divan in die Arme des arabischen und persischen »Sensualismus« geworfen habe, als Gewährsmann gegen den mit indischen Anleihen verbrämten katholischen »Spiritualismus« der Romantiker um die Brüder Schlegel ins Feld führen (DHA 8.1, 161 f.).387 Die Metapher des Selams dient Heine dazu, diese Positionen zuzuspitzen und so polemisch im Feld der deutschen Literatur Stellung beziehen.
385 David Lee: Objektivität oder dichterische Eigenheit? Goethes Verhältnis zu seinen Quellen im »Noten«-Kapitel »Blumen- und Zeichenwechsel«. In: GJb 94 (1977). S. 236–255; Ingeborg H. Solbrig: »Über die Blumen- und Früchtesprache der Hareme«. Eine frühe Anregung zu Goethes Noten und Abhandlungen aus Cottas Morgenblatt? In: The Publications of the English Goethe Society N.S. 40 (1970). S. 117–122; Bernhard Seuffert: Goethes Roman in der »sogenannten Blumensprache«. In: GJb 10 (1889). S. 242–250. 386 Vgl. z. B. Symanski: Selam, 1822. S. 61 f., S. 70 u.ö. 387 Polaschegg: Der andere Orientalismus, 2005. S. 370 f. Vgl. zum Kontext Ernst Behler: Das Indienbild der deutschen Romantik. In: GRM 49 (1968). S. 21–37.
3.3 Florio- und Arboriographie
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3.3.4 Selam an Salem Emanzipationspolitische Selamographie in Wihls West-östlichen Schwalben (1847) Im Kollektivsymbolsystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet sich die Selamik auch für ausdrücklich jüdische Bezugnahmen auf den Orient an. An einem Gedichtbüchlein, das 1847 unter dem Titel West-östliche Schwalben erscheint, werde ich im Folgenden nachvollziehen, wie das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze und speziell die Pseudopragmatik des Blumengrußes im Zeichen jüdischer Emanzipationspolitik literarisch verarbeitet werden. Der aus der Gegend um Aachen stammende Verfasser Ludwig Wihl (1807–1882),388 der unter anderem als Redakteur für Karl Gutzkows Zeitschriftenprojekte tätig gewesen ist,389 präsentiert mit diesem Band, der den »freisinnigen Ständemitgliedern des vereinigten preußischen Landtags hochachtungsvollst von ihrem dankbaren rheinischen Landsmanne« gewidmet ist, eine lyrische Stellungnahme zu den emanzipationspolitischen Debatten des Vormärz.390 Wie Heinrich Bihr in seiner Rezension für den Israelit des neunzehnten Jahrhunderts feststellt, lassen sich Wihls West-östliche Schwalben konkret als poetische Antwort auf eine in den Verhandlungen des Ersten Vereinigten Preußischen Landtages über die Emancipationsfrage der Juden im Juni 1847 aufgeworfene Frage lesen, die Bihr folgendermaßen paraphrasiert: In wiefern darf der Israelite, ohne sein neues Vaterland zu verläugnen, oder an dem Staate, dem er als Bürger angehört, zum Verräther zu werden, Palästina als seine ursprüngliche Heimath preisen, und alten nationalen Erinnerungen nachhängen?
Der Rezensent zollt Wihls West-östlichen Schwalben Anerkennung dafür, dass sie eine abwägende Antwort auf diese Frage geben: »Denn so stark auch des Dichters Verlangen nach der einstigen Heimath seiner Väter ist, so offenbart es sich doch durchgehends, daß derselbe der neueren Zeit und dem deutschen Vaterlande angehören will.«391 Dies ist in der Tat, wie nun zu zeigen gilt, das Kernprogramm 388 ADB 42 (1897). S. 469–472; EJ 21 (2007). S. 57; Westfälisches Autorenlexikon. Hg. von Walter Gödden und Iris Nölle-Hornkamp. Bd. 4. Paderborn 1994. S. 471–473; Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880. Bd. 8.2. Bearbeitet von Herbert Jacob. Berlin 2012. S. 312–314; Jan-Christoph Hauschild: Ludwig Wihl (1806–1882). In: Lebensbilder aus dem Kreis Neuss 2 (1995). S. 48–57. 389 Wolfgang Rasch: »Zuviel Krieg ist gefährlich«. Aus dem Briefwechsel zwischen Karl Gutzkow und Ludwig Wihl 1838–40. In: Gutzkow lesen! Beiträge zur Internationalen Konferenz des Forum Vormärz Forschung. Hg. von Gustav Frank und Detlev Kopp. Bielefeld 2001. S. 123–159. 390 Ludwig Wihl: West-östliche Schwalben. Mannheim 1847 [Sigle WS]. Einige der Gedichte sind vorher oder zeitgleich in Zeitschriften und Taschenbüchern erschienen, z. B. unter dem Titel JehovaLieder in Vom Rhein. Leben, Kunst und Dichtung. Hg. von Gottfried Kinkel. Essen 1847. S. 339–347. 391 Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts 8:43 (1847). S. 337–339. Bihr bezieht sich wohl auf die Behauptung des Staatsministers Ludwig Gustav von Thile, dass »der Jude an und für sich kein Vaterland haben kann, als das, worauf ihn sein Glaube hinweist. Zion ist das Vaterland der Juden. […] [D]ie Juden können nicht Preußen, nicht Deutsche sein vom Grund der Seele« (Vollständige
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Abb. 19: Titelblatt zu Ludwig Wihls West-östlichen Schwalben (1847).
des wihlschen Bandes, das dieser in einer variationsreichen west-östlichen Semantik ausgestaltet. Der Titel West-östliche Schwalben stellt die im Band enthaltenen Gedichte unter das Banner von Zugvögeln, die im Herbst von Norden nach Süden ziehen, um im Frühjahr in den Norden zurückzukehren. Gerahmt werden die Schriftzüge des Titelblatts (Abb. 19) durch ein Ornament stilisierter Flora, das auf die Fülle von Pflanzenmetaphern vorausweist, die Wihls Gedichte durchziehen. Kongruent zur Titelblattgestaltung charakterisiert eine enge Verflechtung von Flug- und Pflanzenmetaphorik das Eröffnungsgedicht des Bandes, eine Anrufung der titelgebenden Schwalben:
Verhandlungen des Ersten Vereinigten Preußischen Landtages über die Emancipationsfrage der Juden. Berlin 1847. S. 195).
3.3 Florio- und Arboriographie
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Ihr Schwalben, die ihr, wenn es eist und schneit Das Morgenland besucht, das sonnigsüße, O bringt, wenn unweit ihr von Salem seid, Ihm meinen Selam bester Herzensgrüße! Sagt ihm, ich möchte gar zu gerne seh’n Das schöne Land der kindlich frommen Sage, Indeß ich hier, wo kalte Stürme weh’n, Vertrauern muß die grauen Wintertage! (WS, 3)
Das Gedicht ist von einer starken Dichotomie zwischen dem idyllisch-freundlichen, südlichen Morgenland und dem kalt-grauen, traurigen Norden bestimmt. Der Dichter befindet sich im Norden – »hier, wo kalte Stürme weh’n« (V. 7) – und bittet die nach Süden ziehenden Schwalben, der fernen Stadt Jerusalem seinen Gruß auszurichten. Mit dem Wortspiel Salem/Selam (V. 3/4) eröffnet dieser Kommunikationsakt einen weiten intertextuellen und semiotischen Anspielungshorizont. Jerusalems auf Genesis 14,18 und Psalm 76,3 zurückgehender hebräischer Name ›Salem‹ erscheint hier als Anagramm des als ›Selam‹ bekannten osmanischen Blumengrußes. Mit der Grußkonstellation dieser Eröffnungsapostrophe an die titelgebenden Schwalben wird der gesamte Gedichtband als Selam lesbar: Der Dichter nähert sich mit einem okzidentalischen Selam poetisch der orientalischen Stadt Salem. Zwar bedient er sich der morgenländischen Selamographie, aber er tut dies von abendländischer Warte: Es ist ein Blumengruß aus dem Okzident in den Orient. Als Zugvögel tragen die Überbringer des Blumengrußes der selamographischen Gedichtkommunikation ein Moment der Zyklik ein. Die Schwalben ziehen jedes Jahr, »wenn es eist und schneit« (V. 1), aus dem Norden in den Süden, kehren aber im Frühling wieder zurück; sie gelten ihrem – nördlichen – Geburtsort gegenüber als besonders treu. Diese Treue nun reklamiert auch der nördliche Dichter für sich. Das zweite Gedicht des Bandes macht unter dem Titel Orient und Occident die Prioritäten deutlich: Was ist für mich der Orient? Ein altehrwürdig Grab, Zu dem ich gern, wär’ mir’s vergönnt, Zög mit dem Pilgerstab! 5
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Ich suchte dann nach Sängerbrauch, Wo einst ein Seher stand; Doch reichte ich von dorten auch Dem Vaterland die Hand. Fänd’ Palmen ich und Eichen da, Ging ich zur Eiche hin Und glaubte mich dem Lande nah, Wo ich geboren bin.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Die Ihr mich einen Juden nennt, Ihr kennt den Juden schlecht, 15 Drum sprecht mir nicht vom Orient, Sprech’ ich von meinem Recht! (WS, 4 f.)
Die Eingangsfrage »Was ist für mich der Orient?« (V. 1) greift den in den emanzipationspolitischen Debatten immer wieder formulierten Vorwurf auf, Juden könnten wegen ihrer Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion keine loyalen Staatsbürger sein. Das Gedicht konterkariert diese Insinuationen mit der lapidaren Antwort, der Orient sei für den Befragten ein »altehrwürdig Grab« (V. 2). Statt das Morgenland in schwärmerischen Zukunftsvisionen zu besingen und mit messianischer Hoffnung aufzuladen, verschiebt der Sprecher das Morgenland mit diesem Echo auf Andreas Gryphius’ Vergänglichkeitsseufzer »Was sind wir Menschen doch! ein Wohnhauß grimmer Schmertzen«392 in die Vergangenheit, nachdrücklicher noch ins Reich der Toten. Der Orient wird hier als eine historische Stätte vorgestellt, zu welcher der Sprecher zwar durchaus zwecks Besichtigung pilgern würde (V. 3). Sein »Vaterland« (V. 8) aber bleibe Deutschland; selbst im Heiligen Land würde sich der Sprecher nach ihm sehnen (V. 7 f.), wie er unter Rückgriff auf die einschlägige nationale Baumsymbolik bekräftigt: Nicht etwa zu den Palmen werde er sich hingezogen fühlen, sondern Eichen suchen, um selbst im Morgenland seinem Geburtsland nahe zu sein (V. 9–12). Liegt schon in der Verschiebung von messianischer Rückkehrhoffnung zu einer bloßen Besichtigung des ›altehrwürdigen Grabs‹ eine entschiedene Entdramatisierung, markiert der jüdische Sprecher durch deren hypothetischen Zuschnitt noch zusätzlich Distanz: Die gesamte Vorstellung einer jüdischen Pilgerreise in den Orient ist unter der Bedingung »wär’ mir’s vergönnt« (V. 3) im Konjunktiv Irrealis gehalten. Der Sprecher würde sie zwar »gern« (V. 3) unternehmen, doch erscheint sie weder dringlich noch möglich. Die diskursive Position der Juden zwischen Orient und Occident wird hier in der Figur eines jüdischen Pilgers vergegenwärtigt, der zwar das Morgenland als historisch bedeutsame Landschaft touristisch bereisen mag, sich aber voll und ganz Deutschland zugehörig fühlt und hier für seine Rechte kämpfen will. In diesem Sinne spricht er in der letzten Strophe das Kollektiv der Christen direkt an: »Drum sprecht mir nicht vom Orient, / Sprech’ ich von meinem Recht!« (V. 15 f.). Als einzelner jüdischer Dichter steht der Sprecher des Gedichts für »den Juden« (V. 14) ein und fordert in dessen generischem Namen eine Ablösung der Debatten um die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte von Fragen nach der orientalischen Herkunft. Indem das Gedicht einen dramaturgischen Bogen von der Eingangsfrage »Was ist für mich der Orient?« zur Forderung des (staatsbürgerli392 Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 1. Tübingen 1963. S. 9.
3.3 Florio- und Arboriographie
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chen) Rechts im letzten Vers schlägt, leistet es eine Arbeit am Diskurs, die vor allem darin besteht, die Frage der Zugehörigkeit der Juden zum Orient mit Figuren der Bezogenheit zu flexibilisieren.393 Grundlage von Wihls Differenzierung zwischen dem Orient der Vergangenheit und dem Okzident der Gegenwart ist ein Niedergangsnarrativ, das er in der organologischen Metapher der Verwilderung verarbeitet: Eine Pflanze wüst und wild Wuchert jetzt aus dem Gefild, Wo die Rose hat geblüht Und das heil’ge Hohelied. Weißt du, wie die Pflanze heißt: Deiner stolzen Rabbi’s Geist! (WS, 24)394
Im Frage-Antwort-Schema der in der Biedermeierzeit beliebten Rätselgedichte wird hier die titelgebende wilde Pflanze zu einer Allegorie des rabbinischen Judentums erhoben, das nicht mehr auf der Höhe des biblischen Judentums sei. Der Blüte der biblischen Liebesdichtung als Rose stellt das Gedicht die gegenwärtige talmudische Gelehrsamkeit als wüstes Unkraut gegenüber. Aus dem »Gefild«, aus dem einst die erhabene Kultur antiken Judentums hervorgegangen ist, kann »jetzt« nur wildes Kraut sprossen.395 Um lebendig blühen zu können, so die implizite Botschaft im Geiste jüdischen Reformwillens, muss das Judentum die morgenländischen Gefilde physisch und mental verlassen und eine reflektierte Distanz zu ihnen einnehmen. In einem Rollengedicht lässt Wihl die Rose von Scharon aus Hohelied 2,1 selbst diese Botschaft in Form eines Wunsches vermitteln: Die Rose Saron’s396 ward ich einst geheißen, Jetzt bin ich nur ein wilder Dornenstrauch; O möchte mich aus meinem Boden reißen Ein starker Wind, ein mächt’ger Sturmeshauch!
Das Schicksal der Blume der Blumen ist an das Schicksal der Stadt der Städte gebunden: »Es sanken nieder meines Glückes Sterne / Mit dir, Jerusalem, o Köni393
In diesem Sinne setzt Wihl seine jüdische Dichterfigur in spannungsreiche Dialogkonstellationen mit biblischen Texten und Figuren. Vgl. z. B. die Apostrophe an die Juden aus Psalm 137 im Gedicht Babels Flüsse (WS, 14 f.), das Gedicht an Jeremias (WS, 26 f.), das Rollengedicht der Hindin aus Psalm 22 als Ahasver im Gedicht Ich bin der Hirsch (WS, 31) sowie das Gedicht an David in Davids Lieder (WS, 36). 394 Mit der als verkürzte Pluralform lesbaren Variante ›Rabbi’s‹ folge ich hier dem Abdruck des Gedichts in Vom Rhein, 1847. S. 345. Der letzte Vers ist in der in den West-östlichen Schwalben abgedruckten Fassung (»Deiner stolzen Rabbi Geist!«) grammatikalisch uneindeutig, da ›Rabbi‹ keine Pluralform ist. 395 Ähnliche Funktionen hat die Adressierung Judäas als »nestberaubte Taube« (WS, 35). 396 Druckfehler »Saroes« geändert zu »Saron’s« nach Berichtigungsverzeichnis am Ende des Bandes.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
gin!« Als verwurzelter Pflanze ist es der Rose von Scharon verwehrt, die Trümmerödnis Jerusalem zu verlassen, wie mittels eines anaphorisch betonten Parallelismus herausgestellt wird: »Umsonst erschaut mein Aug’ die weite Ferne, / Umsonst umschwärmt die Hoffnung mir den Sinn« (WS, 16). Genau das, was im Kollektivsymbolsystem der Zeit immer wieder als Entwurzelung beklagt wird, lässt Wihl die Rose von Scharon als Wunschvision erflehen. Die darin implizierte Bejahung des Lebens in der Diaspora liegt für Wihl in der weltgeschichtlichen Bedeutung des Judentums begründet. In einem Brief vom 16. November 1849 an Heine freut er sich über dessen vermeintliche »Rückkehr zu dem alten Jehova« und erklärt, wohl angeregt von Heinrich Graetz’ Construktion der jüdischen Geschichte (1846): »Das wohlverstandene Judenthum, welches im transmundanen Monotheismus, in einer Persönlichkeit wurzelt, hat eine weltgeschichtliche Mission. Und wir stehen am Vorabend dieser Sendung« (HSA 26, 241).397 Diese Hoffnung legt Wihl in dem Gedicht Glaubensbekenntniß poetisch dar: Wir stammen ab von einem Baum Mit weit verzweigten Aesten, Deß Wurzeln tief im Morgenland, Deß Zweige weit im Westen. Wir nennen unsren Herrn und Gott Den Höchsten und den Besten, Den einst mit uns verehren wird Der Osten und der Westen! (WS, 96)
Wihl formuliert hier ein modernes jüdisches Credo, das die Hoffnung auf eine Universalisierung des Monotheismus – ähnlich wie Steinheim (Kap. 4.2.4) – aus der Diasporasituation heraus begründet. Mit dem Parallelismus »Deß Wurzeln tief im Morgenland, / Deß Zweige weit im Westen« verschränkt er zeitliche und räumliche Koordinaten durch die Überblendung horizontaler und vertikaler Achsen: In der Vertikalen versinnbildlicht der Baum genealogische Bindungen in ihrer zeitlichen Abfolge von Generation zu Generation. In der Horizontalen versinnbildlicht der Baum die Zerstreuung der Juden von ihrer morgenländischen Ursprungsregion in die ganze Welt und vor allem in den Westen. Die Abstammung der Juden weist in die historische ›Tiefe‹ der morgenländischen Ursprungsregion – »Wurzeln tief im Morgenland« – und lässt sich in die ›Weite‹ der geographischen Ausdehnung bis in die Gegenwart – »Zweige weit im Westen« – nachverfolgen. 397 Vgl. Heinrich Graetz: Die Construction der jüdischen Geschichte. Eine Skizze. In: Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 3 (1846). S. 81–97, S. 121–132, S. 361–381 und S. 413–421; dazu Nils Römer: Nachwort. In: Heinrich Graetz: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Hg. von Nils Römer. Düsseldorf 2000. S. 79–90.
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Die Allegorie des Judentums als west-östlicher Stammbaum schließt die messianische Hoffnung auf eine Rückkehr ins Heilige Land aus, wachsen doch Zweige nicht zurück zu ihrem Stamm. Die welthistorische »Sendung« des Judentums, von der Wihl im Brief an Heine schwärmt, besteht vielmehr – so proklamieren es die letzten vier Verse des Gedichts – in der Vereinigung von Ost und West im monotheistischen Glauben. Deutlich zeigt sich hier, wie konstitutiv Flug- und Pflanzenmetaphorik gerade in ihrer Differenz nicht nur für Cohens restaurative Erneuerungspoetologie (Kap. 3.2.4), sondern auch für Wihls poetisch-emanzipationspolitisches Programm sind. Der jüdische Dichter im Norden sendet zwar über die in den Süden ziehenden Schwalben Blumengrüße ins Morgenland, seine Mission aber sieht er als »Zweig« des Judentums »weit im Westen«. Die flexible Flugbewegung dient der Kommunikation, der Interaktion mit den »Wurzeln tief im Morgenland«, das organische Wachstum des Stammbaums aber bestimmt den Ort des Dichters als einen westlichen, so sehr er sich auch seiner morgenländischen Wurzeln bewusst ist und sich ihrer erinnert. Dieser zweigleisigen Metaphorik entspricht die Differenz von Blume und Baum. Ist der Dichter nur ein »Zweig weit im Westen« am großen Stammbaum des Judentums, so kann er doch mit seinen Gedichten einen Selam an Jerusalem zusammenstellen, kann mit seinen Gedichten Blumen auf nördlichem Boden blühen lassen. So lässt sich in Wihls poetischem west-östlichem Kosmos eine tiefe historische Verwurzelung im Morgenland (Baum) mit einer poetischen Produktivität in deutscher Sprache auf dem Boden des deutschen Vaterlandes (Blumen oder neue Triebe am Baumzweig) harmonisieren. In diesem Sinne beschließt den Band ein titelloser Vierzeiler, der sich als direkte Leseransprache wie das letzte Wort des Dichters ausnimmt: Was meinem Herzen ist entsprossen Und blühend keine Grenzen kennt, Ich sang es Euch in Liederglossen, Wozu der Text der Orient. (WS, 150)
Wihl variiert hier den pietistisch-empfindsamen Topos des überquellenden Herzens mit der botanischen Metapher des Sprießens und Blühens.398 Er schlägt damit einen Bogen zurück zum Eingangsgedicht, in dem er den nach Süden ziehenden Schwalben einen Selam seiner »Herzensgrüße« mitgibt. In den beiden letzten Versen schiebt Wihl noch eine weitere metaphorische Variation des jüdischen west-östlichen Verhältnisses hinterher, wenn er seine Gedichte als »Liederglossen« zum »Text« des Orients beschreibt, seine Gedichte also als glosa der biblischen Überlieferung bestimmt: Diese spanische Dichtungsform, die ein vierzei398 Max L. Baeumer: »Fülle des Herzens«. Ein biblischer Topos der dichterischen Rede in der romantischen Literatur. In: SJb 15 (1971). S. 133–156.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
liges Motto nach einem festen Schema variiert,399 wird in der Romantik in die deutsche Literatur entlehnt;400 auch Wihl hat sich in ihr versucht.401 Wie der Selam im Eröffnungsgedicht dient auch diese Metaphorisierung der Gedichte als okzidentalische Glossen eines orientalischen Urtextes im Abschlussgedicht dazu, den Gedichtband zu einem hermeneutischen Vermittlungsprojekt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Morgenland und Abendland zu stilisieren. Wihls Gedichte erscheinen nicht orientalisch, sondern auf den Orient bezogen, sie kommunizieren mit dem ›Text des Orients‹, umspielen ihn, variieren ihn, kommentieren ihn von okzidentalischer Warte. So operiert Wihl poetisch auf einer west-östlichen Achse, um sich zu den emanzipationspolitischen Debatten seiner Zeit zu positionieren. Die Blätter für literarische Unterhaltung erklären in ihrer Rezension des Bandes, Wihl nenne seine Schwalben östlich, insofern er sich dem Orient, und namentlich dem jüdischen Orient, mit seiner Sehnsucht, seiner Begeisterung, seiner Liebe zuwendet, und westlich wol darum, weil er als guter Patriot sie mitten im deutschen Westen, zunächst auf dem preußischen Landtag, unter Dach bringt.
Zwar zollt der Rezensent der emanzipationspolitischen Gesinnung Respekt, kann aber an dem »matte[n], unmelodische[n] Zwitschern« dieser Schwalben nicht recht Gefallen finden, denn Wihl bleibe »selbst auf den Gräbern der Propheten ein echter Preuße« und lasse poetische Ausdruckskraft vermissen.402 Ein ähnliches Urteil fällen viele Zeitgenossen. Heine, der mit Wihl auch publizistisch aneinandergeraten ist,403 bezeichnet ihn wiederholt, etwa in Briefen vom 1. November 1850 an Alfred Meißner und vom 25. Januar 1850 an Heinrich Laube, abfällig als »den trauernden west-östlichen Schwalben-Rabbi Wihl« (HSA 23, 23 und 60).404 Dass die West-östlichen Schwalben eine sehr brüchige Rezeptionsgeschichte aufzuweisen haben und heute nur wenige Exemplare des Bandes nachweisbar
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Werner Helmich: Glosse2. In: RLW 1 (1997). S. 728–730. Paul Gerhard Klussmann: Bewegliche Imagination oder Die Kunst der Töne. Zu Ludwig Tiecks Glosse. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 3. Hg. von Wulf Segebrecht. Stuttgart 1984. S. 343–357. 401 Vier Glossen, u. a. auf Verse von Uhland, bietet Ludwig Wihl: Gedichte. Mainz 1836. S. 189– 202. 402 Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 65 vom 5. März 1848. S. 259 f. Vgl. dagegen die wohlwollende Rezensionsnotiz in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode 33:7 (1848). S. 28. 403 Vgl. zu den Hintergründen DHA 10, 735–759. 404 Vgl. auch Heines Brief vom 1. März 1852 an Alfred Meißner (HSA 23, 185). Wihl wird in diesem Umkreis wiederholt als lächerliche Figur gezeichnet (Alfred Meißner: Heinrich Heine. Erinnerungen. Hamburg 1856. S. 115–137). 400
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sind,405 liegt indes nicht nur an Wihls mittelmäßiger Begabung.406 Vielmehr wird die Vermarktung und Verbreitung des Gedichtbands durch politische Ereignisse – konkret die Unruhen der Märzrevolution und die folgenden Repressionen – erschwert, da sowohl Wihl selbst als auch sein Mannheimer Verleger Heinrich Hoff 1848/49 ins Ausland fliehen müssen, um Haftstrafen zu entgehen.407 Wihl findet in den 1850er Jahren im französischen Exil späte Anerkennung,408 wo man ihn als Gegenmodell zu Heine vorstellt und seine West-östlichen Schwalben ins Französische übersetzt.409 Der Übersetzer Pierre Mercier rühmt Wihls Hirondelles in einem ausufernden Einleitungsessay als besondere – deutsche jüdische, bibelbezogene – Spielart des Orientalismus: Ein jüdischer Dichter, so Mercier, sei in einer besonders glücklichen Position, um seine Leser in die Poesie der Bibel einzuführen, da er mit ihr unmittelbar, ohne exegetische Hürden in der Ursprache vertraut sei. Mercier imaginiert den deutschen jüdischen Poeten in diesem Sinne als ein west-östliches Wesen: Poète oriental dans le cœur, il a l’esprit formé par les sciences de l’Occident. La clarté, la précision, qui nous sont nécessaires, se rencontrent dans cette alliance de la pensée et du rêve. Quand le poète est allemand, comme Louis Wihl, il possède un instrument commode de traduction; et l’inspiration orientale, dans son exubérance, avec toute sa richesse, passe dans la poésie moderne.410
Orientalische Einbildungskraft mit okzidentalischer Wissenschaftlichkeit und Traumhaftigkeit mit gedanklicher Durchdringungskraft verbindend, gelinge es 405 Grundlage der vorliegenden Analyse war ein Exemplar, das sich in der Universitätsbibliothek Augsburg befindet (Signatur 221/GL9951 W662 W5). Die Universitätsbibliothek Heidelberg besitzt ein Exemplar mit der Verlagsangabe Lang in Speyer (Signatur G 7498–4). Es steht zu vermuten, dass der Verleger Lang die zurückgebliebenen Exemplare aus Hoffs Bestand übernommen, das Blatt mit der Widmung an die Mitglieder des vereinigten preußischen Landtags – wohl wegen seiner politischen Brisanz – weggenommen und den Band mit einem neuen Titelblatt versehen hat. 406 Diese Mittelmäßigkeit wird noch in einem späten zionistischen Würdigungsversuch des vergessenen Dichters eingestanden (Theodor Zlocisti: Ludwig Wihl. In: Ost und West 1:4 (1901). Sp. 269–274, hier: Sp. 269). 407 James M. Brophy: Preußische Zensur und deutsche Verleger im Vormärz. Der Fall Heinrich Hoff. In: Zensur im 19. Jahrhundert. Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher. Hg. von Bernd Kortländer und Enno Stahl. Bielefeld 2012. S. 203–227; James M. Brophy: Heinrich Hoff and the Print Culture of German Radicalism. In: Leipziger Jb. zur Buchgeschichte 19 (2010). S. 71–116, bes. S. 112–115; Heinz E. Veitenheimer: Zwei Mannheimer Verleger des Vormärz und der Revolu tion 1848. In: Mannheimer Geschichtsblätter 4 (1997). S. 287–312. 408 Vgl. u. a. Auguste Widal [unter dem Pseudonym Daniel Stauben]: Un poète israélite de l’Allemagne. M. Louis Wihl; sa vie; ses œuvres. In: ders.: Scènes de la vie juive en Alsace. Paris 1860. S. 255–274. 409 Louis Wihl: Les Hirondelles. Poésies allemandes. Traduites en français avec un essai sur la littérature juive par Pierre Mercier. Paris 1860. Die französische Aufmerksamkeit für Wihl wird auch in Deutschland amüsiert registriert: P.K.: Ein deutscher Autor in französischem Gewande. In: Deutsches Museum 11:24 (1861). S. 866 f. 410 Pierre Mercier: Louis Wihl. Sa vie et ses œuvres. Essai sur la littérature juive. In: Louis Wihl: Les Hirondelles. Poésies allemandes. Paris 1860. S. 5–94, hier: S. 55 f.
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gerade einem jüdischen Dichter, der sich an der elaborierten Übersetzungskunst des deutschen Orientalismus geschult habe, den orientalischen Geist in die moderne Dichtung zu überführen. Ähnlich hatte schon Saint-René Taillandier 1851 in der Revue des deux mondes hervorgehoben, dass Wihls Orient nicht wie bei so vielen anderen orientalistischen Dichtern als eine bunte, üppig sinnliche Orgie dargestellt werde. Der berühmte jüdische Dichter (»le poète israélite célèbre«) betätige sich nicht als Kolorist, vielmehr erfasse er mit der Kraft seines Geistes die erhabene Einfalt derjenigen Welt, aus der das Christentum hervorgegangen sei (»la grandeur de ce monde primitif d’où le christianisme est sorti«).411 So sehr Wihls Bedeutung und Qualität als Poet hier überschätzt werden, so aufschlussreich ist der französische Blick auf ihn und seine Dichtungen für das Verständnis der Diversität des Orientalismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Mercier und Taillandier interessieren sich in einem so erstaunlichen Maße für den jüdischen Verfasser der West-östlichen Schwalben, weil er in ihren Augen die besondere, einzigartige Konstellation des deutschen jüdischen Orientalismus verkörpert, die sich ihrer Wahrnehmung nach durch eine besondere Bibelbezogenheit auszeichnet und sich entschieden vom Profil des französischen Orientalismus unterscheidet. Die deutsche jüdische Signatur des wihlschen Orientalismus tritt mithin erst im französischen Erwartungshorizont in aller Deutlichkeit hervor. 3.3.5 Blütezeiten Verpflanzung als Metapher in der jüdischen Geschichtsschreibung Akte der Verpflanzung dienen seit dem 18. Jahrhundert als Strukturierungsmetaphern für die Darstellung der Kontinuität jüdischer Geschichte, die in der christlichen Theologie, den Altertumswissenschaften, der Orientalistik und der Literaturgeschichte sowie in der Geschichtsphilosophie ein notorisches Irrita tionsmoment darstellt. Herder beispielsweise aktualisiert 1769 das prekäre Moment der Verpflanzung in einem Dekadenznarrativ, wenn er beklagt, dass die Juden nach der Babylonischen Gefangenschaft begonnen hätten, »die ursprüngliche[n] reine[n] Orientalische[n] Vorstellungsarten ganz zu verderben, zu verunstalten, und auf hunderterlei fremden, ausländischen Boden bis zur Verwilderung zu pflanzen« (FHA 5, 20). Demgegenüber feiert Franz Delitzsch 1836 die jüdische Poesie als eine in alle Länder der Welt versetzte »orientalische Pflanze«, die »überall […] zu der ergiebigsten Fruchtbarkeit gediehen« sei: »Morgenländisches Volks- und Schriftthum ist im jüdischen Volke als ein fremdartiges, unzerstörbares, unauflösliches Element in die Abendlande herübergekommen.«412 In 411 Saint-René Taillandier: Revue littéraire de l’Allemagne. In: Revue des deux mondes N.F. 21:9 (1851). S. 753–770, hier: S. 762. 412 Franz Delitzsch: Zur Geschichte der jüdischen Poesie vom Abschluss der heiligen Schriften Alten Bundes bis auf die neueste Zeit. Leipzig 1836. S. vii.
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der Metapher der Verpflanzung ist, das zeigt sich in diesen beiden unterschiedlichen Stellungnahmen, die Frage der Akklimatisation angelegt, die verschiedenen gewertet wird. Für die jüdischen Wissenschaftler, die sich ab den 1820er Jahren an moderne Gesamtdarstellungen der jüdischen Geschichte wagen, ist die Verschränkung von Verpflanzungs- und Akklimatisationsschemata von instrumentalem Wert, um ihre Forderungen nach Reform historiographisch zu begründen. So richtet Immanuel Wolf das Projekt einer Wissenschaft des Judentums 1822 in einem Spannungsfeld zwischen ihrer Bezogenheit auf den orientalischen Ursprung des Judentums und ihrer Zugehörigkeit zur gegenwärtigen europäischen Wissenschaft aus: Als »saftreiche und am weitesten verpflanzte Frucht des Morgenlandes« zeichne sich das Judentum vor anderen orientalischen Kulturen des Altertums dadurch aus, dass es in den Juden als »lebendigen Zeugen« im gegenwärtigen Europa fortlebe. Diese sollen sich nun »auf den Standpunkt der Wissenschaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des Europäischen Lebens.«413 Wie dieser Anspruch im Kollektivsymbolsystem der Zeit formuliert wird, soll nun – sehr kursorisch – anhand von jüdischen Geschichtsentwürfen aufgezeigt werden, die im 19. Jahrhundert entwickelt werden.414 In der jüdischen Geschichtsschreibung geht der Bildkomplex der Verpflanzung eine Verbindung mit dem Periodisierungsschema der Blütezeit ein, das sich mit Blick auf das Ideal organischer Entwicklung im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreut.415 Dieses Schema ermöglicht es, die jüdische Geschichte in einer wiederhol- und steigerbaren Abfolge von Wachstum, Blüte, Zerfall und Zukunftshoffnung zu organisieren, dabei die Bemühung um Historisierung mit normativen Wertungen zu verbinden und in der Gegenwart das Potential zu neuer Entfaltung zu erkennen.416 Vor allem aber erweist sich ausgerechnet der normalerweise darstellerisch heikelste Punkt des Blütezeiten-Schemas, nämlich der Wendepunkt zwischen Verfall und erneutem Aufschwung,417 in der jüdischen Geschichtsschreibung als plausibles Gliederungselement, da die Wanderungsbewegungen im Verlauf der Diasporageschichte als Verpflanzungen veranschaulicht werden können, die von einer Blütezeit zur anderen überleiten.
413 Immanuel Wolf [später Wohlwill]: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1:1 (1822/23). S. 1–24, hier: S. 22 und S. 24. 414 Vgl. zum Hintergrund Ismar Schorsch: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism. Hanover, NH 1994. 415 Wolfgang Pfaffenberger: Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung. Frankfurt am Main 1981. 416 Vgl. allgemein zur Leistung von Pflanzenmetaphern für die Darstellung von Entwicklungsprozessen Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978. S. 101–123; Heinz Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1981). S. 88–114. 417 Pfaffenberger: Blütezeiten, 1981. S. 91–105.
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Besonders der Übergang von der ›Blüte‹ jüdischer Kultur in Babylonien zur ›Blüte‹ jüdischer Kultur in al-Andalus wird immer wieder in vegetabile Transplantationsvokabeln gekleidet. Als »die morgenländische Gelehrsamkeit auf Spanischen Boden verpflanzt« wurde, erklärt beispielsweise Isaak Markus Jost 1826 in seiner Geschichte der Israeliten, leiteten die Juden auch den »Strom der Jüdischen Gelehrsamkeit« dorthin.418 Heinrich Graetz beschreibt 1861 das »Aufblühen der jüdisch-spanischen Cultur« in seiner Geschichte der Juden ebenfalls als Ergebnis botanischer Kultivierung: Die »Saat«, welche die jüdischen Gelehrten Babyloniens »ausgestreut« hätten, sei in al-Andalus »herrlich« aufgegangen und habe »die schönsten Früchte« getragen.419 Das Muster der Blütezeit erlaubt es, die Geschichte der Juden in Diaspora als Folge von Wissenstransfers zu erzählen, die das ›Saatgut‹ jüdischer Gelehrsamkeit nacheinander auf verschiedenen orientalischen und europäischen ›Böden‹ aufgehen und zur ›Blüte‹ kommen lassen. Die Zerstreuung des jüdischen Volkes wird so narrativ in Verlaufsmodellen der Natur organisiert.420 Besonders Abraham Geiger macht ausgiebig von Verpflanzungsmetaphern Gebrauch, um die Überlieferungslinien jüdischen Wissens von Babylon nach Spanien bis zur gegenwärtigen Lage in Deutschland nachzuzeichnen.421 So eröffnet er seine Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 1862 mit dem Aufruf, die »Aussaat« heranzubringen und die jüdische Gelehrsamkeit, nachdem sie von Palästina nach Babylonien und von dort nach Spanien getragen worden sei, nun in »Deutschland, der Pflanzstätte des Denkens,« zu neuer Blüte zu bringen.422 Mit der Transportabilität von Saatgut, der Suche nach günstigem Boden sowie förderlichen klimatischen Verhältnissen und schließlich der Entfaltung der Samen zu voller Blüte stellt das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze ein Basisschema bereit, in dem die ›Verpflanzung‹ jüdischen Wissens von Babylonien nach Spanien als Modell für die angestrebte ›Verpflanzung‹ nach Deutschland vorgestellt werden kann: Die Wissenschaft des Judentums lebt von der Hoffnung, dass sich die Bedingungen in Deutschland der jüdischen Gelehrsamkeit als eben418 Isaak Markus Jost: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage, nach den Quellen bearbeitet. Bd. 6. Berlin 1826. S. 121 f. In einem späteren Aufsatz bekräftigt er noch einmal, die Gelehrsamkeit sei »wie die asiatische Palme« mit den Juden verpflanzt worden (Isaak Markus Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden. In: Israelitische Annalen 3:29 (1841). S. 227–229, hier: S. 228). 419 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet. Bd. 5. Leipzig 1861. S. 391 f. 420 In einer ähnlichen Funktion finden Metaphern des Fließens und Strömens Verwendung bei Abraham Geiger: Das Judenthum und seine Geschichte. Bd. 2. Breslau 1865. S. 80. 421 Vgl. zu dieser bedeutenden Persönlichkeit zuletzt den Sammelband Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums. Hg. von Christian Wiese u. a. Berlin/Boston, MA 2013. 422 Abraham Geiger: Der Boden zur Aussaat. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 1 (1862). S. 1–9. In diesem Sinne wird Geiger später als »Sämann der Zukunft« gefeiert von Cäsar Seligmann: Abraham Geiger. In: Liberales Judentum 2 (1910). S. 97–104, hier: S. 97.
3.3 Florio- und Arboriographie
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so günstig erweisen mögen wie Jahrhunderte zuvor unter arabischer Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel. Das Moment natürlicher Zyklik, das der botanischen Metaphorik innewohnt, legitimiert diese Hoffnung. »Das Judenthum«, so Geiger 1862 enthusiastisch, »bedarf nur des befreienden Hauches, um von Innen heraus sich zu verjüngen«.423 Das Besondere des Judentums nämlich liege, wie Geiger 1864 noch einmal erklärt, gerade in seiner Flexibilität: Wie die gesunde Pflanze nach Luft und Licht sich sehnt und dorthin sich ringt, sich hindurchschlingend durch allerhand Hindernisse, so ist es gewissermaßen auch im Judenthume. Luft und Licht verlangt es, und wo sie ihm geboten werden, ist seine Heimath, da fühlt es sich wie im Vaterland, als wäre es seit Jahrhunderten daselbst eingebürgert. […] Ueberallhin vermag es sich zu acclimatisiren, überallhin seine Saaten zu tragen und Antheil zu nehmen an dem dortigen Volksleben, namentlich da, wo tiefere Bildung auch den Boden zu einem geistigen umzugestalten weiß.424
Die Verwendung von Pflanzenmetaphorik ermöglicht es, die Lebendigkeit und Erneuerungsfähigkeit jüdischer Gelehrsamkeit mit biologischer Bildlogik zu beglaubigen und mit einem Bekenntnis zur jeweiligen »Heimath« zu verbinden: Der lebendige Organismus schlage da Wurzeln, wo ihm die Minimalbedingungen zu seiner Existenz geboten werden, und akklimatisiere sich. Die botanische Kategorie der Akklimatisation tritt hier in Analogie zur emanzipationspolitischen Kategorie der Assimilation. Geigers emphatische Verwendung vegetabiler Metaphorik lässt erahnen, dass hier diskurspolitisch einiges auf dem Spiel steht. Tatsächlich erklärt sich der Nachdruck seiner Aussage erst dann, wenn man sie im Kollektivsymbolsystem der Zeit verortet, in dem die morgenländische Pflanze prominent mit ganz anderen Tendenzen verbunden wird: Im Topos jüdischer Wurzellosigkeit, im Vorwurf des Parasitentums, in der Versinnbildlichung des jüdischen Exils als Treibhaus, in dem die morgenländische Pflanze nicht auf natürliche Weise gedeihen könne (Kap. 4.3.3), werden negative Einschätzungen der jüdischen Diaspora situation ventiliert. Geiger stellt sich diesen Schlussfolgerungen entgegen, indem er dasselbe Kollektivsymbol variiert und anders gebraucht. Statt die Entwurzelung entwickelter Pflanzen oder die Verwehung einzelner Zweige zu imaginieren, dynamisiert er das Bildfeld mit dem Element der Saat. Damit kann er erstens gegen den Vorwurf der Wurzellosigkeit und der Illoyalität antreten, denn die Samen der morgenländischen Pflanze können in dieser Bildlogik auf verschiedenen Böden Wurzeln schlagen und Frucht tragen. Zweitens lässt sich damit der Vorwurf des Parasitentums schwächen, denn Saatgut entwickelt eigene Wurzeln, statt auf Kosten anderer Pflanzen zu leben. So kann 423
Geiger: Der Boden zur Aussaat, 1862. S. 6. Abraham Geiger: Vorlesungen über Judenthum. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 3 (1864/65). S. 1–78, hier: S. 3. Vgl. auch ebd., S. 68–78. 424
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
Geiger seine Überzeugung bekräftigen, dass die Juden den jeweiligen Boden als ihr Vaterland begreifen, als wären sie »seit Jahrhunderten daselbst eingebürgert«, und »Antheil« an dem jeweiligen »Volksleben« nehmen. Mit der Fähigkeit zur Akklimatisation, der Suche nach einem »freien Boden« sowie nach »Luft und Licht« evoziert Geiger drittens Vorstellungen freier Natur, die dem Treibhaus direkt entgegenstehen: In seiner Bildlogik wird das Judentum gerade nicht in ein gläsernes Gewächshaus gesperrt und künstlich gezüchtet, sondern sucht sich selbst einen Platz, der seinem Wachstum günstige Bedingungen bietet. Dieses Judentum ist kein zartes, überfeinertes Pflänzchen, sondern ein Saatgut, das zähe, wetterbeständige und anpassungsfähige Gewächse hervorbringt. Indem Geiger seine Metaphorik auf den Boden ausrichtet, auf Erdverbundenheit setzt, erdet er viertens im eigentlichen Wortsinn die gängigen Vorstellungen von Juden und Judentum innerhalb des Kollektivsymbolsystems, wenn er erklärt, dass das Judentum insbesondere da gedeihe, »wo tiefere Bildung auch den Boden zu einem geistigen umzugestalten« wisse.425 Geigers durch vegetabile Metaphorik gestützte Idealvorstellung des Judentums führt ihn zu konkreten Verhaltensforderungen. 1862 mahnt er, er verarge es zwar einem seinem Vaterlande entrissenen Volk nicht, wenn es stolze und wehmütige Erinnerungen an die »Heimathstätte« pflege: Doch der Mann darf nicht dem bitteren Gefühle des erlittenen Verlustes, und sei er der höchste, nachhangen, will er nicht ganz verkümmern; er muß sich in das Unvermeidliche und Unwiederbringliche fügen, sich aufraffend einen Neubau beginnen, mit den Trümmern seiner Habe weiter schaffen. Auch die Flüchtlinge müssen endlich in dem neuen Boden sich befestigen und, ohne ihre eigenthümlichen geschichtlichen Elemente zu verwischen, in dem neugewonnenen Vaterlande feste Wurzeln schlagen.426
In einem aus den Bildkomplexen des Bauens und des Pflanzens zusammengesetzten Katachresen-Mäander fordert Geiger die Juden dazu auf, aus den »Trümmern« ein neues Heim zu bauen und im neuen Vaterland »feste Wurzeln« zu schlagen. Während die sefardischen Juden, die im frühen 17. Jahrhundert aus Spanien nach Amsterdam geflüchtet waren, und die aschkenasischen Juden, die seit dem Mittelalter im deutschen Sprachgebiet lebten, sich ungebührlich von ihrer Umgebung abgesondert hätten,427 sei nun, im postfeudalen modernen Staatensystem, Anpassung das Gebot der Stunde. So nutzt der liberale Rabbiner das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze, um seine reformorientierte Position zu profilieren.428 Es geht nicht darum, orientalische Herkunft und orienta425
Geiger: Der Boden zur Aussaat, 1862. S. 6. Abraham Geiger: Isaak Da Costa. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 1 (1862). S. 223–232, hier: S. 223. 427 Abraham Geiger: Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums [Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, 1872–1874]. In: ders.: Nachgelassene Schriften. Hg. von Ludwig Geiger. Bd. 2. Berlin 1875. S. 33–245, hier: S. 220 f. 428 Ismar Schorsch: Scholarship in the Service of Reform. In: LBI YB 35 (1990). S. 73–101. 426
3.3 Florio- und Arboriographie
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lischen Charakter als Beschreibungskategorien zu verwerfen, sondern darum, sie mit einem Bekenntnis zur europäischen Gegenwart zu verbinden und dadurch die eigene Reformposition als eine reflektierte west-östliche zu bestimmen.429 3.3.6 Zusammenfassung Der Metaphernkomplex west-östlicher Verpflanzung, der im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert von auffallender Virulenz für die Verhandlung jüdischen Schreibens und Übersetzens unter vielsprachigen Bedingungen ist, erweist sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als wichtiger Teil des Interdiskurses. Als Kollektivsymbol gewinnt die morgenländische Pflanze im Diskurshorizont des Orientalismus ein breites Funktionsspektrum für die Verhandlung jüdischer Belange. Klimatheoretisches, botanisches, biologisches, kulturelles und genealogisches Wissen bündelnd, vergegenwärtigt das Bildfeld der morgenländischen Pflanze die beiden zentralen Achsen jüdischer Diaspora-Existenz. Auf horizontaler Ebene versinnbildlicht es mit Verpflanzungsfiguren die Zerstreuung der Juden (Migration), auf vertikaler Ebene konkretisiert es mit Verzweigungsfiguren deren Abstammung (Genealogie). Das Kollektivsymbol der morgenländischen Pflanze wird, wie in einigen Schlaglichtern beleuchtet wurde, auf vielfältige und konkurrierende Weise eingesetzt, um in den Debatten über die jüdische Emanzipation Position zu beziehen. Bewegungen der Ent- und Verwurzelung, des Wachsens und Gedeihens, Blühens und Verwelkens, des Schmarotzertums, des natürlichen Wachstums und der Züchtung im Treibhaus erweisen sich als hochaktive interdiskursive Elemente, mit denen die Anpassungsfähigkeit und die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Kultur sowie ihre Bezogenheit auf ihren orientalischen Ursprung kontrovers verhandelt werden. Mit Metaphern des Säens, Blühens und Erntens werden die Potentiale jüdischer Emanzipation beschworen, mit Metaphern der parasitären Wucherung, des Verwelkens und der Unfruchtbarkeit deren Unmöglichkeit behauptet. Akkulturation bzw. Assimilation wird als Akklimatisation beschrieben; die jeweilige Haltung zur sogenannten Judenfrage wird darin ausgedrückt, ob eine Akklimatisation südländischer Gewächse auf deutschem bzw. nördlichem Boden für möglich und wünschenswert gehalten wird. Die hier verfolgte interdiskursanalytische Heuristik führt vor Augen, welche Vorteile ein gebrauchsgeschichtlicher Ansatz gegenüber imagologischen und motivgeschichtlichen Ansätzen bietet. In gebrauchsgeschichtlicher Perspektive wird erstens sichtbar, dass der Einsatz west-östlicher Arboriographie und Floriographie für jüdische Belange durch diskursgeschichtliche Faktoren bedingt ist, 429 In einem ähnlichen Sinne schreibt die jüdische Gemeinde Bingen 1845 mit reformerischem Elan an die Rabbinerversammlung in Frankfurt am Main: »Die edle Pflanze der Regeneration des geläuterten religiösen Sinnes ist dem vaterländischen, dem deutschen Boden entsprossen« (Protokolle und Aktenstücke der der zweiten Rabbiner-Versammlung. Frankfurt am Main 1845. S. 216).
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3. Zeichensysteme des Orientalismus
die erst bei einer synchronen, kontextsensiblen Betrachtung ins Blickfeld gelangen. Dass die Frage jüdischer Emanzipation in der Frage verhandelt wird, wo und wie Palmen, Zedern und Trauerweiden im deutschen Wald einen Platz finden können, hat seine Voraussetzung in der seit den napoleonischen Kriegen massiv gesteigerten medialen Präsenz silvanationaler Ordnungsmuster. Dass Ludwig Wihl 1847 seinen poetischen Beitrag zu den Debatten über die jüdische Emanzipation als west-östlichen Selam in Szene setzen kann, hat seine Voraussetzung in der biedermeierzeitlichen orientalistischen Mode der sogenannten Blumensprache. Und dass die Verpflanzungsmetapher in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als narratives Gliederungselement Verwendung findet, ist als Adaption der zu dieser Zeit äußerst populären und verbreiteten historiographischen Blütezeiten-Schemata zu sehen. In gebrauchsgeschichtlicher Perspektive rückt zweitens ein so breites Spektrum von divergierenden Verwendungsmöglichkeiten des Kollektivsymbols der morgenländischen Pflanze in Blick, dass Zweifel an der Existenz statischer ›Orientbilder‹ und ›Judenbilder‹ aufkommen müssen. Weit davon entfernt, lediglich mittels Abwehr oder Internalisierung auf von außen herangetragene ›Bilder‹ zu reagieren, machen Autoren ganz verschiedenen biographischen Hintergrunds – von Rahel Varnhagen und Joel Jacoby bis hin zu Ludwig Philippson und Abraham Geiger – auf eigenwillige und eigenständige Weise Gebrauch vom verfügbaren Symbolmaterial, um im Diskurs Stellung zu beziehen. Wie sich gezeigt hat, können mit bestimmten Akzentuierungen, Verschiebungen und Umdeutungen völlig konträre Aussageeffekte innerhalb ein und desselben Bildfelds erzielt werden. Unter Rückgriff auf eine der berühmtesten äsopischen Fabeln lässt sich die Trauerweide von einem Symbol der resignierten Klage zu einem Symbol kluger Widerstandsfähigkeit umdeuten und gegenüber der vermeintlich starken Eiche profilieren. Im anagrammatischen Wortspiel mit Jerusalems Namen ›Salem‹ erhält die türkische Blumengruß-Bezeichnung ›Selam‹ einen jüdischen Eintrag. Der Vorwurf jüdischer Wurzellosigkeit lässt sich durch das Bildelement der Saat unterlaufen, die zu voller Blüte und Frucht aufgehen wird. In gebrauchsgeschichtlicher Perspektive wird mithin greifbar, wie jüdische Autoren mit ihren Selbstpositionierungen den Diskurs und dessen Sagbarkeitsregeln mitprägen. Fragt man danach, mit welchen Absichten und welchen Effekten die morgenländische Pflanze um 1800 im Diskurs metaphorisch zur Verhandlung jüdischer Belange eingesetzt wird, dann lassen sich, anders gesagt, zentrale Diskursdynamiken der deutschen jüdischen Literaturgeschichte im Kontext des Orientalismus nachweisen.
3.4 Fazit
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3.4 Fazit Im Neben- und Gegeneinander verschiedener Sprachen und Schriften, das die Bedingungen jüdischen Schreibens um 1800 maßgeblich prägt, ist der Orientalismus durch interlinguale Ausblendungen, Übernahmen, Verschiebungen und Erweiterungen gekennzeichnet. In den Transferzonen jüdischer Vielsprachigkeit werden Konflikte und Ungleichzeitigen sichtbar, die sich aus dem vielschichtigen Traditionswandel in dieser Umbruchsituation ergeben. Das zeigt sich in der deutschen Bezeichnungspolitik der Emanzipationsdebatten, die sich nicht ins Hebräische übertragen lässt, ebenso wie in einer Kleider- und Körperpolitik, die deutschen reformorientierten Juden als Distinktionsmittel gegenüber ihren vermeintlich rückständigen, ›halb-orientalischen‹ polnischen Glaubensgenossen dient. Die zeitliche und räumliche Ordnung jüdischer Lebenswelten ist, das wird in Euchel hebräischem Briefromanfragment ebenso wie im Reformprogramm der deutschsprachigen Zeitschrift Sulamith deutlich, sprachen- und medien abhängig. Dadurch gewinnt der jüdische Orientalismus dieser Zeit eine eigene Komplexität. Diese steigert sich noch dadurch, dass der Status des Hebräischen zwischen Objekt- und Beschreibungssprache des Orientalismus zu schillern beginnt, als sich das Deutsche als Umgangs- und Literatursprache durchsetzt. Das Hebräische wird einerseits mit zunehmender Emphase als orientalische Ursprache aufgefasst und mithin in den Objektbereich des Orientalismus verschoben, andererseits aber werden bis ins frühe 19. Jahrhundert die Möglichkeiten des Hebräischen für poe tische Bezugnahmen auf das Morgenland in bilingualen Schreibexperimenten ausgelotet. Diese zweisprachigen Autorpositionen erweisen sich bald als prekär. Zum einen gelten die Erneuerungsversuche des Hebräischen spätestens im frühen 19. Jahrhundert als gescheitert; zum anderen festigt sich im frühnationalistischen Kontext der sogenannten Befreiungskriege das Ideologem, dass jeder Mensch – und erst Recht jeder Dichter – nur eine einzige Muttersprache habe. In der Reflexion darüber, wie unter den Vorzeichen des Orientalismus mit dem Hebräischen umzugehen sei, kommen allenthalben Transferfiguren der Verpflanzung zum Einsatz. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts avanciert die aus dem Morgenland gen Norden verpflanzte Pflanze dann zum Kollektivsymbol für die Lage der Juden im Europa der Gegenwart. Als hochaktives interdiskursives Element verbindet sie biologische, emanzipationspolitische und historiographische Diskurse. In der Umbruchsituation um 1800, so lässt sich zusammenfassen, wird das jüdische Verhältnis zum Orient kontrovers im Wechselspiel verschiedener Zeichensysteme – Sprachen, Schriften und Symbole – verhandelt.
4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137 Jüdische Positionen im Konkurrenzfeld der Gefühle Der 137. Psalm ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich.1 Zum einen ist er stärker als andere Psalmen nationalgeschichtlich markiert und von einer Spannung zwischen den Sprecher- und Adressatenrollen der jüdischen Exilanten und der babylonischen Unterdrücker geprägt. Zum anderen ist die Bandbreite der in ihm durchlaufenen Gefühlslagen besonders groß. Sie reicht von Sprechakten der Klage, des Gedenkens an Zion und der Selbstverfluchung (über die körper lichen Synekdochen der Hand und der Zunge) bis zu Flüchen gegen die edomi tischen Verräter und die babylonischen Unterdrücker. Die Komplexität seiner Sprech- und Raumkonstellation sowie das weite Spektrum von Affekten, das der 137. Psalm umfasst, machen ihn zu einem sehr vielseitig verwendbaren Text, der sich im Laufe seiner gewaltigen multimedialen Gebrauchsgeschichte wiederum selbst verändert hat.2 In diesem Kapitel nehme ich den bislang in der Forschung kaum beachteten Medialisierungsschub in den Blick, den der 137. Psalm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfährt.3
1 John J. Ahn: Exile as Forced Migrations. A Sociological, Literary, and Theological Approach on the Displacement and Resettlement of the Southern Kingdom of Judah. Berlin/New York, NY 2011. S. 73–106. 2 Vgl. mit Schwerpunkt auf US-amerikanische Verwendungen David W. Stowe: Song of Exile. The Enduring Mystery of Psalm 137. New York, NY 2016; zur englischen Renaissance Hannibal Hamlin: Psalm Culture in the English Renaissance. Readings of Psalm 137 by Shakespeare, Spenser, Milton, and Others. In: Renaissance Quarterly 55 (2002). S. 224–257; Paula Loscocco: Royalist Reclamation of Psalmic Song in 1650s England. In: Renaissance Quarterly 64 (2011). S. 500–543. Vgl. allgemein zu Gebrauchsphänomenen der Bibel Andrea Polaschegg: Literarisches Bibelwissen als Herausforderung für die Intertextualitätstheorie. Zum Beispiel: Maria Magdalena. In: Scientia Poe tica 11 (2007). S. 209–240; James L. Kugel: Traditions of the Bible. A Guide to the Bible As It Was at the Start of the Common Era. London/Cambridge, MA 1998; James L. Kugel: How to Read the Bible. A Guide to Scripture, Then and Now. New York, NY 2007. 3 Die Forschung zur Rezeptionsgeschichte des Psalms hat die Zeit zwischen der Renaissance und dem 20. Jahrhundert bislang zumeist übersprungen, so etwa zuletzt Susan Gillingham: The Reception of Psalm 137 in Jewish and Christian Traditions. In: Jewish and Christian Approaches to the Psalms. Conflict and Convergence. Hg. von derselben. Oxford 2013. S. 64–82.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
Indem der 137. Psalm das Exil der Juden als eine Situation politischer Unterdrückung in einem weiten Spektrum von Gefühlsabschattungen zu thematisieren und zu reflektieren erlaubt, bietet er in der Biedermeierzeit4 ein ebenso kraftvolles wie heikles Instrument, um im Diskurs Position zu beziehen und die Möglichkeiten jüdischen Sprechens zu reflektieren. Damit stellt dieser Psalm, der im religiösen jüdischen Leben einen prominenten Ort hat,5 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen der wichtigsten Referenztexte für die Suche nach jüdischen Schreiborten und Schreibarten dar. Wie in seinem Gebrauch Konflikte, Umdeutungsversuche, Ausblendungsmechanismen und intermediale Transfers zum Tragen kommen, werde ich in den folgenden Kapiteln anhand ausgewählter Text- und Text-Bild-Ton-Konstellationen nachvollziehen. Zu Orientierung sei der Psalm hier in der revidierten Lutherübersetzung und in der Übersetzung Mendelssohns vorangestellt.
4 Die Epochenbezeichnung ›Biedermeierzeit‹ verwende ich im Anschluss an Friedrich Sengle. Sie erscheint für eine Untersuchung der Frage, wie sich jüdische Autoren im Zeitraum von den 1820er bis in die 1850er Jahre im Feld der deutschen Literatur positionieren, insofern praktikabel, als sie einzelne Bewegungen wie die (Spät‑)Romantik und das Junge Deutschland zu integrieren und das Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution auszuloten erlaubt. Vgl. zur Epochenfrage Wolfgang Bunzel, Peter Stein und Florian Vaßen: ›Romantik‹ und ›Vormärz‹ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. von denselben. Bielefeld 2003. S. 9–46; Michael Titzmann: Zur Einleitung: »Biedermeier« – ein literaturhistorischer Problemfall. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 2002. S. 1–7; Walter Erhart: Das Wehtun der Zeit in meinem innersten Menschen. ›Biedermeier‹, ›Vormärz‹ und die Aussichten der Literaturwissenschaft. In: Euphorion 102 (2008). S. 129–162. 5 Unter der Woche wird er vor dem Tischgebet rezitiert; am Tag des Gedenkens an die Zerstörung des Tempels (9. Av) wird er neben Jeremias Klageliedern, dem Buch Hiob und anderen Trauergesängen vorgetragen (Michal S. Friedlander: »Jenseits des Stromes«. Sehnsucht, Ambivalenz und das jüdische Bild von Babylon. In: Babylon. Mythos & Wahrheit. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin. Bd. 2. Hg. von Moritz Wullen und Günther Schauerte. Berlin 2008. S. 191–206, hier: S. 192).
4.1 »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!«
Übersetzung Luthers (revidiert 2017)
Übersetzung Mendelssohns (1783)
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: »Singet uns ein Lied von Zion!« Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande? Vergesse ich dich dein, Jerusalem, so werde meine Rechte vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. HERR, vergiss den Söhnen Edom nicht den Tag Jerusalems, da sie sagten: »Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!« Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!
An den Flüssen Babels Saßen wir und weinten, Ueberdachten Zions Fall. Unsre Harfen hiengen wir Dort an Weidensträuchen. Denn die uns ins Elend trieben, Forderten Gesang von uns; Unglücksspötter heischten Freude: »Singet uns Gesänge Zions!« Können wir Gesang des Herrn Singen auf entweihtem Erdreich? Jerusalem! vergess’ ich dein; So vergesse meine Rechte – ! Meine Zunge kleb’ am Gaumen, Wenn ich deiner nicht gedenke; Wenn bey jeder Fröhlichkeit Dir nicht eine Zähre fleußt. Gedenke, Herr! den Söhnen Edoms Den Tag Jerusalems! Verheere! riefen sie, verheere, Bis auf den tiefsten Grund! O, du Zerstörerinn! Tochter Babels! Heil dem, der dir vergelten wird, Was du an uns verübst. Heil dem, der deine Brut ergreift, Und an den Fels zerschlägt. (JubA 10.1, 212 f.)
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4.1 »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!« Morgenröten jüdischer Dichtung Der 137. Psalm setzt die Verweigerung in Szene, im Exil Freudenlieder anzustimmen. Diese sind für das gelobte Land reserviert; im Exil bleiben nur Klagegesänge und Tränen. Die Verweigerung wird – so die gängige Lesart – damit performativ besiegelt, dass die trauernden Juden ihre Harfen an die Weidenbäume am Flussufer hängen. Der Akt des Aufhängens aber impliziert die Möglichkeit, die Harfen auch wieder abzunehmen: Es handelt sich um eine vorläufige Verweigerung, die von der Hoffnung auf eine Rückkehr ins gelobte Land und dem festen Gedenken an Zion zehrt. Während die Verweigerung im Psalm selbst an die Dauer des Exils gebunden ist (»Wie könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande?«), deuten jüdische Autoren den performativen Akt im 19. Jahrhundert so um, dass er sich zur ostentativen Bejahung der Diaspora einsetzen lässt. Im Rahmen eines nach Blütezeiten periodisierten Narrativs jüdischer Geschichte
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
(Kap. 3.3.5) wird das Aufhängen der Harfen als Reaktion auf widrige Bedingungen und Unterdrückung gedeutet und zum Charakteristikum von Phasen des Niedergangs bestimmt; mit dem Abnehmen der Harfen und dem Anstimmen neuen Gesangs hingegen wird das Aufleben jüdischen Lebens unter förderlichen Bedingungen gefeiert.6 Im Babylonischen Exil weggehängt, so die Erzählung, sei die Zionsharfe nach Jahrhunderten tristen Daseins auf der Iberischen Halbinsel wieder aufgenommen und angestimmt worden. So beschwört Salomo Löwisohn 1812 in der Sulamith das goldene Zeitalter jüdischer Kultur in Spanien unter muslimischer Herrschaft herauf: Die »holde Zionide – verstummt seit der traurigen Hinwerfung ihrer Harfe an den wilden babylonischen Gestaden – ertönte nun lieblichst wieder an den Ufern des Ebro’s und Guadalquivirs im Munde kräftiger, phantasiereicher Dichter«.7 Mit der christlichen Eroberung und dem damit einhergehenden Leid aber sei sie, so die Erzählung, wieder verstummt. Nun biete sich auf dem deutschen Boden des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, die Harfen wieder zum Klingen zu bringen. Der performative Akt des 137. Psalms dient als ein Strukturierungsmoment der Vergangenheit, mit dem die eigene Position in der Gegenwart bestimmt werden kann. Diese Funktion werde ich in den folgenden Teilkapiteln exemplarisch an einzelnen poetischen Konstellationen herausarbeiten. An Festgedichten aus dem Kontext des Reformjudentums (Kap. 4.1.1), am ersten jüdischen Mose-Epos deutscher Sprache (Kap. 4.1.2) und an einem Einleitungsgedicht zu deutschen Nachdichtungen hebräischer Gesänge (Kap. 4.1.3) werde ich zeigen, wie die Harfen des 137. Psalms demonstrativ von den Weiden genommen werden, um die Möglichkeit jüdischen Freudengesangs in der Diaspora performativ zu beglaubigen. 4.1.1 Jubelklänge der Reform Festgesänge in Synagogen des 19. Jahrhunderts Die Reformbemühungen um 1800 führen zu einer Veränderung jüdischer Gemeindestrukturen und zu einer Neukonzeptualisierung der Synagoge, die bis dahin als streng vom zerstörten Tempel in Jerusalem zu unterscheidender Ver6 Der babylonische Exilpsalm bietet mithin ein jüdisches Modell für den poetischen Topos der zerrissenen Saiten einer Leier, Gitarre oder Laute. Vgl. beispielsweise Nikolaus Lenaus Gedicht An meine Guitarre (1832): »Gitarre, wie du hängst so traurig! / Die Saiten tönen nimmermehr, / Die längst zerrissnen wanken schaurig / Im Abendwinde hin und her. // […] Doch will ich euch nun frisch besaiten, / Dich, meine Leier, dich, mein Herz! / Rückbannen die entflohnen Zeiten, / Die alte Lust, den alten Schmerz!« (Nikolaus Lenau: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 1. Hg. von Herbert Zeman u. a. Wien 1989. S. 127 f.). Vgl. allgemein zu diesem Topos Reinhold Hammerstein: Von gerissenen Saiten und singenden Zikaden. Studien zur Emblematik der Musik. Tübingen/Basel 1994. 7 Salomo Löwisohn: Abenezra ( )אבן עזעund dessen Schriften. In: Sulamith 4:1:4 (1812). S. 217– 222, hier: S. 218 f.
4.1 »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!«
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sammlungs-, Studien- und Gebetsraum gegolten hat. Jüdische Reformer gestalten Synagogen nun als christlichen Kirchen vergleichbare Gotteshäuser und bezeichnen sie programmatisch als ›Tempel‹ (Kap. 2.2.4 und Kap. 6.3). Dieser Prozess der Umgestaltung wird poetisch begleitet und bekräftigt. Zum 25jährigen Jubiläum der Hamburger jüdischen Reformgemeinde kommt im Oktober 1843 Moses M. Haarbleichers Fest-Cantate in einer Komposition des Hamburger Musikers Carl Cobelli (Koppel Zadich) zur Aufführung. Es handelt sich um ein Großereignis: Der Hamburger Korrespondent der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, die den gesamten Text der Kantate abdruckt, 8 hält die anderthalbstündige Aufführung der Kantate, deren Chor- und Solopartien »von 42 größtentheils jüdischen Dilettanten mit vieler Präzision ausgeführt« worden seien, für die wohl »größte musikalische Unternehmung, die in neuerer Zeit beim jüdischen Gottesdienste versucht worden ist.«9 Anleihen bei Jesaja nehmend, spannt Haarbleicher einen weiten Bogen von der biblischen Blütezeit der Israeliten über ihre lange Exilgeschichte in verzagter stummer Trauer bis in die hoffnungsvolle Gegenwart der Hamburger jüdischen Gemeinde. »Einst auf Zions heil’gem Hügel« herrschte – so beschwört die Kantate biblische Zeiten herauf – ein reiches Singen, Tönen und Klingen von Flöten, Harfen und Chören im begeisterten Rausch der Gottesgewissheit.10 »Aber ach!« klagt der Chor: »Ach es sank in Schutt und Asche / Zions alte Herrlichkeit.« Damit verstummten auch Harfe und Flöte, es schwand »die süße Kunst der Töne, / Ewig, ewig floß die Thräne / Und erstickte Klang und Lied.« Haarbleicher lässt den »Betrübten« indes Trost zusprechen, und dieser kulminiert im auffordernden Gestus eines direkt an das Volk Israel gerichteten Chorals: Israel, verzage nicht, Hemme deiner Thränen Lauf. Nicht auf ewig wird von Leiden Tönen deiner Tempel Dom, Zions Harfe an den Weiden Hängen neben Babels Strom. Gottes Macht Scheucht die Nacht, – Israel verzage nicht! Bess’re Zeit Tilgt dein Leid, Harf’ und Orgel schallt empor Wieder dann aus deinem Chor.
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AZJ 7:45 (1843). S. 670–672. Ebd., S. 668. 10 Alle Zitate nach [Moses M. Haarbleicher]: Fest-Cantate. In: Gotthold Salomon: Kurzgefaßte Geschichte des Neuen Israelitischen Tempels in Hamburg während der ersten 25 Jahre seines Bestehens, nebst Anmerkungen und Beilagen. Hamburg 1844. S. 142–147. 9
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
Die Verweigerungsgeste des 137. Psalms wird hier evoziert, um ihre Aufhebung anzukündigen und einzufordern. Die Tränen, die allen Freudesklang ›erstickt‹ haben, sollen versiegen. »Nicht auf ewig« sollen ausschließlich Leidenstöne erschallen. »Bess’re Zeit« tilgt das Leid und lässt ein neues Tönen, Singen und Klingen anheben: »Harf’ und Orgel schallt empor / Wieder dann aus deinem Chor.« Unterstrichen wird dieses Postulat der Erwartung und Hoffnung durch die dem Choral zugewiesene Tonfolge. Er soll zur Melodie des Liedes »Seele, was betrübst du dich« gesungen werden, das 1833 als Variation auf den Psalmvers 42,12 (nach Mendelssohns Übersetzung) in die Rubrik Hoffnung des neuen Allgemeinen Israelitischen Gesangbuchs der Hamburger Reformgemeinde aufgenommen worden war.11 Bleibt die Verheißung zunächst in der Schwebe, stellt sich im weiteren Verlauf der Fest-Cantate heraus, dass die ›bess’re Zeit‹ nicht erst in ferner, ungewisser Zukunft mit der Ankunft des Messias hereinbrechen werde. Über retardierende Zweifelmomente (»Wird aber in dem fernen Lande / Bestehn der alten Lehre Band?«) steuert die Kantate auf die Verteidigung und Feier des Reformprogramms des Hamburger Tempels zu, das Orgelmusik und gemischten Chorgesang in deutscher Sprache vorsieht. Die ›bess’re Zeit‹ ist bereits gekommen; ihre ersten Früchte sollen mit dem 25jährigen Jubiläum der Reformgemeinde gefeiert werden: Entflohen Tonkunst auch und Rede Aus Jacobs Gotteshäusern scheu: Die Zeit erschien, da schwand die Oede Und Lied und Wort erblühten neu.
Die Tonkunst schwingt, so bekräftigt ein darauffolgendes Duett, die »Seelen aufwärts« und erhebt die Brust zur »reinsten Gottesfreude«; die Rede bricht dem »stummen Drang der Herzen« Bahn, und zwar in der deutschen Muttersprache: »Sie muß auch unsers Betens Sprache sein!« Mit emphatischer Deixis verortet die Kantate die Erneuerung jüdischen Lebens als freudiges Tönen, Singen und Klingen im Hamburger Tempel der jüdischen Reformgemeinde: »Es tönet hier die Harfe Zions wieder, / Und deutsch sind uns’re Reden, uns’re Lieder.« Im demonstrativen Vertrauen auf »einen ewigen Sieg durch Gott« kulminiert die Kantate im »Hallelujah, Hallelujah!« des Schlusschors. Der gemeinsame hymnische Lobpreis Gottes besiegelt hier performativ die Überwindung des traurigen Verstummens und Klagens seit dem Babylonischen Exil im Zeichen einer Reformideologie, die das Gedenken an Zion mit einem Bekenntnis zur neuen Heimat zu verbinden sucht und in dieser eine neue Blüte jüdischen Lebens ins Werk setzen will. 11 Allgemeines Israelitisches Gesangbuch, eingeführt in dem Neuen Israelitischen Tempel zu Hamburg. Hg. von Gotthold Salomon u. a. Hamburg 1833. S. 217 f. Vgl. Mendelssohns Übersetzung in JubA 10.1, 71.
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Eine ähnliche Dramaturgie wählt 1866 Salomon Hermann Mosenthal in einem Gelegenheitsgedicht zum vierzigjährigen Amtsjubiläum des Wiener ReformKantors Salomon Sulzer.12 Auf das Tönen der Psalmen in biblischen Zeiten folgten, so evoziert es Mosenthal in seinem Gedicht, Niedergang und Knechtschaft: »Doch ihre Harfen nahmen sie mit sich / Und hingen sie an Babels Trauerweiden!« Die Psalmen gewährleisteten als »unsichtbare Bande« die Tradierung der jüdischen Überlieferung. Selbst dann noch, als sie »in dämmerndes Erinnern« herabgesunken und in »herben Thränen« zerflossen waren, blieben sie abrufbar und erneuerbar. Diese Erneuerung wird im Programm der Reform nicht mehr an die Rückkehr ins gelobte Land und Ankunft des Messias gebunden, sondern findet auf deutschem bzw. österreichischem Boden statt: »Begeistert von der Muse heil’gem Drang« habe Sulzer, so rühmt Mosenthal ihn, die Harfe beherzt vom Baum genommen und es »gottentflammt« dahin gebracht, dass sie »wie unter David’s Fingern« klinge. Damit ist keineswegs eine memoriale Wiederholung oder getreue Nachahmung der biblischen Klänge gemeint, denn Sulzer habe, so heißt es weiter, »die alten heimatlosen Töne« nach den Gesetzen der Schönheit neu gebunden, sie also im Zeichen moderner Ästhetik verändert und damit erneuert. Die politischen Implikationen dieser Darstellung treten hervor, wenn es heißt, dass er sie dadurch befreit habe: »Und wie erlöst aus langer Knechtschaft Banden / Erklangen jubelnd sie im Gotteshaus«.13 Wie Sulzer den Psalmen durch ihre Adaptierung an den Geschmack der Zeit eine neue Heimat in der neuzeitlichen europäischen Musikästhetik verschafft habe, so soll die Emanzipation den Juden, die zu Anpassung bereit sind, eine Heimat in deutschen und öster reichischen Landen geben. Als performatives Referenzmodell mit politischen und ästhetischen Implikationen rührt der 137. Psalm an die grundlegenden Bedingungen jüdischen Lebens und jüdischen Sprechens in der Emanzipationszeit. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welches Reflexionspotential sich daraus für die Möglichkeiten jüdischen Dichtens in deutscher Sprache ergibt. 4.1.2 Poetische Erweckung Steinheims Mose-Epos Sinai (1823) Im Jahr 1823 veröffentlicht der Schriftsteller und Gelehrte Salomon Ludwig (Levi) Steinheim, der in Altona als Arzt tätig ist,14 ein monumentales Mose-Epos in 12 Barbara Boisits: »diese gesungenen Bitten um Emancipation« – Akkulturationsdiskurse am Beispiel von Salomon Sulzers Wirken am Wiener Stadttempel. In: Musikwelten – Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur. Hg. von Beatrix Borchard und Heidy Zimmermann. Wien u. a. 2009. S. 91–107; Tina Frühauf: Salomon Sulzer. Reformer, Kantor, Kultfigur. Berlin 2012. 13 Salomon Hermann Mosenthal: Prolog, dem Gesangskünstler Salomon Sulzer zum vierzigjährigen Dienstjubiläum als Kantor der israelitischen Gemeinde Wiens. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Stuttgart/Leipzig 1878. S. 295–298. 14 LdjA 19 (2012). S. 451–458; »Philo des 19. Jahrhunderts«. Studien zu Salomon Ludwig Stein-
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fünfundzwanzig Gesängen unter dem Titel Sinai.15 Hatte Naphtali Herz Wessely die Gattung des heroischen Epos ab 1789 für den Mose-Stoff auf Hebräisch erprobt (Kap. 3.2.1), unternimmt Steinheim ebendies nun im Deutschen. Über zwölftausend Verse wendet er auf, um das Exodus-Geschehen mit starken Anleihen bei Klopstocks Messias in einem lockeren Wechsel von narrativen und hymnischen Passagen als Kampf zwischen Gut und Böse zu inszenieren.16 Anhand des Beginns von Steinheims Sinai werde ich nachvollziehen, wie er die erneuernde Aneignung des biblischen Stoffs als Versuch vorführt, einen Modus für jüdisches Schreiben in deutscher Sprache zu finden:
Sind die Lüfte des Aufgangs wiedergekehret Mit den fernverklungenen Tönen Sions? Sind es die Flügel unsichtbarer Seraphim, Die mir erwecken das heilige Saitenspiel Salems? 5 Kommt, ihr unsichtbaren Wandrer des Himmels, Kommt und besuchet Obadiahs Dach, des Verbannten! – Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe! Ach wie lange warst du betrübt, meine Seele! In den Hallen des Fremdlings schwiegen die Lieder, 10 Auf unheiligem Boden die Feyergesänge, Seit wir an Babylons Bächen saßen und weinten, Und an die Weiden der Bäche die Harfen hingen. Denn wie mogten wir singen das Lied Jehovahs, Sions Stufengesang im Lande des Fremdlings? 15 Oftmals nur, wenn die Winde des Morgens rauschten, Hallten die Saiten, allein voll Schmerz und Sehnsucht. Leise Töne vernehm ich. – Sie sinken und steigen Wie meines Herzens Wehmuth, wenn ich gedenke Meines verwaisten Volkes in Schmach und Elend; 20 Und Jerusalems Tage, der Tage der Feyer, Als auf Sion thronte der Name Jehovahs.
heim. Hg. von Julius H. Schoeps u. a. Hildesheim 1993; Salomon Ludwig Steinheim zum Gedenken. Ein Sammelband. Hg. von Hans-Joachim Schoeps. Leiden 1966. 15 Das häufig angegebene Erscheinungsdatum 1828 ist falsch. Vgl. zuletzt Hartmut Steinecke: Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) – eine der »literarischen Notabilitäten« des Vormärz. In: Jüdische Literatur in Westfalen. Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Hartmut Steinecke und Günter Tiggesbäumker. Bielefeld 2002. S. 69–88, hier: S. 73. Er hat den Fehler wohl übernommen von Hans Otto Horch: Die Sendung des Doctor Gad. Salomon Ludwig Steinheims Beitrag zur jüdischen Belletristik. In: »Philo des 19. Jahrhunderts«. Studien zu Salomon Ludwig Steinheim. Hg. von Julius H. Schoeps u. a. Hildesheim 1993. S. 159–176, hier: S. 162. 16 Steinheim nähert sich hier im literarischen Medium dem Offenbarungsbegriff, mit dem er sich in den folgenden Jahrzehnten intensiv religionsphilosophisch auseinandersetzen wird. Vgl. sein vierbändiges Hauptwerk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge (1835–1865); dazu Heinz Mosche Graupe: Die philosophischen Motive der Theologie S.L. Steinheims. In: Salomon Ludwig Steinheim zum Gedenken. Ein Sammelband. Hg. von Hans-Joachim Schoeps. Leiden 1966. S. 40–76; Aharon Shear-Yashuv: The Theology of Salomon Ludwig Steinheim. Leiden 1986.
4.1 »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!«
Sei mir geseegnet, Morgenlicht! Du schreitest, Eh dich mein Aug’ erblickt, über Jerusalem, Und von Davids heiligem Hügel her nahst du! 25 Wehe! Was hast du geschauet, Stral des Morgens, Thränenfeuchter Lichtstral, auf jenen Hügeln? Durch einander geworfne, versunkne Trümmer, Wilde Reben und Dorn, und säuselnden Epheu; Aber vergebens umhergeforschet hast du 30 Nach den goldenen Zinnen, den Marmorsäulen. – Sions Stolz ist gesunken! öd’ ist Jerusalem! Auf dem niedergerissenen Heiligthume Wandelt der Fuß der Frevler und der Widersacher, Und entweihet Davids hehre Veste, 35 Und erfüllet den Berg des Gesanges mit Miston. Da, wo Jehovahs Heiligthum seinem Geliebten Einst – o, des thörigten, des abtrünnigen Volkes! – Leuchtete, bauet der Götzendiener Altäre, Bauet Tempel, und opfert unreines Opfer. 40 Schweige, mein Saitenspiel! Weint euch satt, meine Augen, Ob der irrenden Heerde, welcher der Hirt fehlt! Unter die Völker zerstreut, dem Hohne gegeben! Tiefgedrückter Seele, verwilderten Herzens! Also beugen uns deine Gerichte, Jehovah. – 45 Höher erglänzen sonnenverkündende Wolken; Lauter rauscht das Meer ans beschäumte Gestade; Ha! sie kommt, es kommt die Freude des Tages, Gleich einer Braut geschmückt aus der nächtlichen Kammer!
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Und meine Kniee neig’ ich vor meinem Gotte; Nach dem Morgen mein Angesicht, gen Jerusalem. Heil dir, mein Geist! Dir hat Jehovah erwecket Sinais Lied. In Freuden nahet Obadiah, Denn seine Seele wird stark, seinen Gott zu preisen, Und die Tage der Wunder fröhlich zu singen.
Ja, ich weiß es, daß mein Erlöser lebet! – Weiß es! Jehovah kann nimmer des Kindes vergessen! Sag, vergißt denn die Mutter des Säuglings? spricht Er – Und, vergäße sie sein, so dein nicht der Vater! – Bis vollendet die Zahl meiner Tage in Leiden, 60 Will ich Jehovahs Gerichte dulden in Demuth; Denn ich weiß es, Jehovah hat sie gezählet All meine Thränen, und vollenden wird Er, Was Er verheißet: Ich sende dir meinen Gesalbten, Der dich erlösen soll, meinen Erstgebohrnen; – 65 Deiner Knechtschaft Tage sind gezählet, Und aus dem Staub’ empor erhebet dein Gott dich. –
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Sinais Lied ist erwacht, gleich Sions Gesängen; Und von den Fingern gottgesendeter Boten, Unsichtbarer, sind die Augen Obadiahs 70 Aufgethan, zu schauen die Tage der Wunder, Als Er Israels Jammer vernahm in den Höhen, Niederstieg in Herrlichkeit zu der Erden, Sich zu verkünden dem Sohn des sterblichen Weibes, Und die Erlösung vollbracht’ aus doppelter Knechtschaft.17
Das Epos führt den Sänger Obadiah als einen »Verbannten« ein (V. 6), der – eine Apostrophe aus Psalm 42,6 (»Was betrübst du dich, meine Seele«) zitierend – klagt: »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe! / Ach wie lange warst du betrübt, meine Seele!« (V. 7 f.). Diese beiden Verse, die durch ihre auch metrisch durchgeführte parallele Struktur und ihren doppelten Auftakt mit der Klagepartikel »Ach« betont sind, führen das Verstummen mit seelischer Trübsal eng. Der durch den wiederholten Ausruf »wie lange« betonte Aspekt der Dauer wird im Folgenden, mit einem Wechsel zur Kollektivrede, auf das Babylonische Exil datiert: »Seit wir an Babylons Bächen saßen und weinten, / Und an die Weiden der Bäche die Harfen hingen« (V. 11 f.). Das Babylonische Exil markiert die Etablierung einer bestimmten Gefühlslage der Diaspora und entsprechender Aussagemodi, die – angezeigt durch die Präposition »seit« – bis in die Gegenwart des Sängers reichen: »Feyergesänge« (V. 10) werden im Exil nicht gesungen, allenfalls Klagelieder »voll Schmerz und Sehnsucht« (V. 16). Ähnlich wie später Haarbleicher und Mosenthal in ihren Festgedichten evoziert Steinheim die im 137. Psalm vollzogene Singverweigerung hier zu Beginn seines Epos, um den eigenen Gesang wirkungsvoll als Überwindung und Aufhebung ebendieser Verweigerung in Szene zu setzen. Die bis in die Gegenwart andauernde Entsagung des Exils wird performativ vom Sinai-Epos mit der Wiederkehr von »fernverklungenen Tönen Sions« (V. 2) überwunden. Die Harfe des Sängers war lange stumm und seine Seele war lange betrübt, nun aber regt und verändert sich etwas: »Leise Töne vernehm ich« (V. 17). Folgen diese Töne zunächst den wehmütigen Gedanken des Sängers an Jerusalems Pracht und Niedergang (V. 17–21), drängen sie doch bald darüber hinaus. Von den zwei einleitenden rhetorischen Fragen (V. 1–4) über die Herbeirufung der Seraphim durch den doppelten Imperativ »Kommt!« (V. 5 f.) und das Vernehmen »leise[r] Töne« (V. 17) baut die Eingangspasse einen Spannungsbogen bis zu der Feststellung auf: »Sinais Lied ist erwacht« (V. 67). Dieses Erwachen wird als Ergebnis göttlicher Inspiration vorgeführt, die der poeta vates Obadiah empfangen habe: »Dir hat Jehovah erwecket / Sinais Lied« (V. 51 f.). Das jüdische Mose-Epos in deutscher Sprache schöpft – mit einem fiktiven Sänger namens Obadiah ben Amos als Mittlerfigur – ostentativ aus dem 17 Salomon Ludwig Steinheim: Sinai. Gesänge von Obadiah, dem Sohne Amos. Altona 1823. S. 3–5.
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lyrisch-epischen Geist der Bibel, es findet seine Sprache in der Wiederbelebung biblischen Gesangs. Als Erweckung des »heilige[n] Saitenspiel[s] Salems« (V. 4) verweist der Anfang des Textes auf den Ur-Anfang jüdischen Sprechens: »Sind die Lüfte des Aufgangs wiedergekehret« (V. 1), so fragt der Sänger Obadiah, auf einem »Dach« (V. 6) stehend und dem Morgengrauen entgegenblickend, mit »den fernverklungenen Tönen Sions?« (V. 2). Der Sänger ruft das »Morgenlicht« direkt mit einem Segen an (V. 22); seine Sprechposition ist diejenige eines Betenden: »Und meine Kniee neig’ ich vor meinem Gotte; / Nach dem Morgen mein Angesicht, gen Jerusalem« (V. 49 f.). Gedenken, Gebet und Gesang sind als dem Epos initialer Sprechakt auf Jerusalem gerichtet. In enger Verflechtung von religiöser Praxis, poetischer Inspiration und Anfangs- sowie Ursprungserneuerungsfiguren ist der Auftakt des Epos nachdrücklich geostet. Dass das Epos mit dem Anbruch des Tages beginnt, eröffnet – die emphatischen Erneuerungs- und Ursprungsphantasien des 18. Jahrhunderts im Rücken – ein weites Assoziationsfeld. Als Element des Tageszyklus unterstreicht der Morgen das Moment der Wiederkehr; als Topos des Anfangs evoziert das Morgenlicht aber auch allgemein Neubeginn und Erneuerung bis hin zum Anspruch europäischer ›Aufklärung‹ im siècle des lumières; als lux ex oriente schließlich verweist das Morgenlicht hier speziell auf die östliche Lage Zions als Ursprungsregion der Menschheitsgeschichte.18 Alle drei Aspekte sind für die Initiation dieses ersten jüdischen Mose-Epos in deutscher Sprache konstitutiv, das sich als Erneuerung der morgenländischen Ursprünge jüdischen Sprechens geriert und mithin seinen Anfang als Wiederkehr präsentiert. Steinheim belässt es allerdings nicht bei dieser Anfangsfigur. Im weiteren Verlauf der Eingangspassage seines Epos setzt er das globale Wandern des Morgenlichts als dynamisches Verbindungselement ein, mit dem er seinen Sänger in Beziehung zur jüdischen Geschichte und ihrer Topographie setzen kann. Im Verein mit intertextuellen Bezügen zu den Exiltopoi Ägypten und Babylon ergibt sich daraus, wie nun skizziert werden soll, ein komplexes west-östliches Verweissystem für die Sprechsituation des Sängers Obadiah. Der Strahl des Morgenlichts trägt den Erweckungsvorgang des Epos. Er verbindet, von Osten her zum Sänger wandernd, diesen mit der heiligen Stadt Jerusalem: »Du schreitest, / Eh dich mein Aug’ erblickt, über Jerusalem, / Und von Davids heiligem Hügel her nahst du!« (V. 22–24). Dieser »Stral des Morgens« (V. 25) ist doppelt kodiert: Als »thränenfeuchter Lichtstral« (V. 26) transportiert er sowohl den Glanz des orientalischen Ursprungs und die Hoffnung des anbrechenden neuen Tags als auch die jüdische Geschichte von Verfolgung, Unterdrückung und Leid in der Diaspora. 18 Die Formel ex oriente lux, bis ins 18. Jahrhundert auf das Christentum gemünzt, erlangt um 1800 im Zuge orientalistischer Ursprungsfaszination eine geschichtsphilosophische Bezeichnungsfunktion für Referenzen auf den Ursprung der Menschheit. Vgl. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005. S. 178 f.
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Diese Ambivalenz nun bestimmt die gesamte emotionelle Ambivalenz des Eposbeginns, der sich als rhetorischer Befreiungsakt aus der Trübsal der Exilklage zum Freudengesang der Gottesgewissheit und der Erlösungshoffnung darstellt. Auf eine topische Evokation der Stadt Jerusalem mit ihren Trümmern vergangener Größe (V. 27–39) folgt abrupt die Selbstaufforderung »Schweige, mein Saitenspiel! Weint euch satt, meine Augen« (V. 40). Damit wird noch einmal die seit dem Babylonischen Exil eingenommene Verweigerungshaltung aktualisiert: Nur die Klage, die sich permanent an der Grenze zum Verstummen bewegt,19 ist auf »unheiligem Boden« (V. 10) unter Fremden möglich; Tränen sollen den Gesang ersetzen bzw. ersticken. Im folgenden Abschnitt aber kommt »die Freude des Tages, / Gleich einer Braut geschmückt aus der nächtlichen Kammer!« (V. 47 f.). Hier wird manifest, wie in Steinheims Epos religiöses und poetisches Sprechen ineinander geblendet werden. Der Vergleich der Freude des Tages mit einer geschmückten Braut zitiert das Lied Komm, mein Freund, der Braut entgegen ()לכה דודי לקראת כלה, mit dem jüdische Gemeinden freitagabends freudig den Schabbat begrüßen (Kap. 3.2.3). In Steinheims Sinai aber eröffnet der auf Hohelied 7,12 zurückgehende Vergleich nicht die Schabbat-Liturgie, sondern das erste jüdische Mose-Epos in deutscher Sprache. So wird der Affektdramaturgie des Epos-Auftakts die Affektdramaturgie der jüdischen Wocheneinteilung unterlegt. Wie die entbehrungsreiche Werkwoche mit der freudigen Begrüßung des Ruhetags ihr Ende findet, so überwindet Steinheims Sinai den persistierenden Modus der Klage in einem Sprechakt der Freude: »In Freuden nahet Obadiah, / Denn seine Seele wird stark, seinen Gott zu preisen, / Und die Tage der Wunder fröhlich zu singen« (V. 52–54). So inszeniert Steinheim sein Mose-Epos als Befreiung aus dem jüdischen Sprechmodus der Exilklage zum freudvoll gesungenen Heldengedicht: Die Augen Obadiahs werden aufgetan »zu schauen die Tage der Wunder« (V. 70), als Gott sich Mose verkündet hat und »die Erlösung vollbracht’ aus doppelter Knechtschaft« (V. 74). Im gattungsgeschichtlichen Kontext der 1820er Jahre nimmt dieses erste jüdische Mose-Epos in deutscher Sprache eine besondere Position ein. Versepik wird in der Biedermeierzeit in gewaltigem Umfang produziert; zugleich wird in den 1820er und 1830er Jahren über die Legitimität des Epos in der Moderne heftig debattiert.20 Das Versepos ist, mit Friedrich Sengle gesprochen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »eine vieldiskutierte, bereits bedrohte, aber noch al Johannes Anderegg: Zum Ort der Klage. Literaturwissenschaftliche Erkundungen. In: Jahrbuch für Biblische Theologie 16 (2001). S. 185–208, hier: S. 197 f. und S. 201 f.; allgemein Lament in Jewish Thought. Philosophical, Theological, and Literary Perspectives. Hg. von Ilit Ferber und Paula Schwebel. Berlin/Boston, MA 2014. 20 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 2. Stuttgart 1972. S. 626–742; Hans-Wolf Jäger: Versepik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 5. Hg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München/Wien 1998. S. 434–458. 19
4.1 »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!«
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len Experimenten offene und insofern höchst lebendige Form.«21 Steinheim schreibt sich in dieses Feld mit dem Versuch ein, die religiöse Epik des 18. Jahrhunderts für die Suche nach einer selbstbewusst jüdischen Literatur in deutscher Sprache fruchtbar zu machen. Dass der Semantik der Morgenröte dabei eine entscheidende Funktion zukommt, wird deutlich, wenn man den Beginn von Steinheims Sinai mit dem Prolog-Gedicht zu Johann Ladislav Pyrkers Perlen der Vorzeit (1821) vergleicht. Der österreichische Bischof eröffnet seine religiösen Kurzepen, die alttestamentliche Stoffe in katholischer Deutung verarbeiten, mit einem Gedicht an die Harfe, das mit der Frage einsetzt: »Tönest im Abendroth, du goldenbesaitete Harfe / Mir an das Ohr schon wieder die tief erschütternden Klänge?« Wo Steinheim im Erneuerungsschwung der Morgenröte anhebt, da schaut Pyrker »beklommen umher in der Dämmrung« und sucht einen Freund, der ihn »an die Tage der schöneren Vorwelt« mahnen möge. Steinheims Erneuerungspathos der Morgenröte steht Pyrkers resignierte Flucht aus den »Tagen / Lähmender Gegenwart« in die ferne Vorvergangenheit gegenüber.22 Während Pyrker im Dämmerlicht des Abends eine Rückschau eröffnet, die der tristen Gegenwart Heroen der Vergangenheit vorführt, zelebriert Steinheim eine Renaissance jüdischen Sprechens in deutscher Sprache aus den Ursprüngen hebräischer Poesie und Prophetie. Im Feld der religiösen Versepik der Biedermeierzeit gewinnt Steinheims Sinai damit ein eigenständiges Profil. Zugleich aber ist Steinheims Versuch, den Mose-Stoff in einem deutschsprachigen Epos »gleich Sions Gesängen« (V. 67) zu erwecken, der christlichen Poetik und Epik des vorhergehenden Jahrhunderts verpflichtet, besonders Klopstocks Oden und seinem Messias.23 Damit erscheint sein Sinai im Jahre 1823 ein wenig aus der Zeit gefallen.24 Klopstocks Messiade wird in den literaturkritischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts zwar häufig erwähnt, gilt den meisten Ependichtern der Biedermeierzeit mit ihrem ungeheuren Umfang und ihrem extrem hohen Anspruch aber nicht mehr als anschlussfähig.25 Überdies steht Steinheims Orientierung an Klopstocks Messias in einem Spannungsverhältnis zu seiner Ambition, eine eigene Form für die selbstbewusste Aneignung der biblischen Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2 (1972). S. 630. Johann Ladislav Pyrker: Perlen der heiligen Vorzeit. Helias der Thesbit. Elisa. Die Makkabäer. Ofen 1821. S. 5 f. 23 Vgl. zuletzt Steinecke: Steinheim, 2002. S. 73. 24 Das wird nicht zuletzt an der Beurteilung des 1769 geborenen Rezensenten Karl von Reinhard deutlich, der ganz im Geist des 18. Jahrhunderts verkündet, dass Steinheim die »Freunde der heiligen Poesie« mit einem epischen Gedicht auf Moses Leben und Sendung überrasche: »Der Dichter hat ihn in orientalischem Geiste, in einer freien, harmonie- und klangreichen Versart behandelt, die nach dem jedesmaligen Inhalte sehr glücklich wechselt. Eingewebt sind die zartesten idyllischen Scenen neben vielen echt lyrischen Stellen im größten Style, voll wahrer Begeisterung« (Der Gesellschafter 7:165 (1823). S. 797). 25 Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2 (1972). S. 626–628. 21
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Überlieferung im Emanzipationszeitalter zu finden. Steinheim übernimmt mit der Einführung Satans und seines Dieners Adramelech ein theologisch heikles Mittel zur Effektsteigerung aus dem Messias,26 für das schon Klopstock Kritik hatte einstecken müssen (vgl. HKA W IV.3, 281–290). Für ein jüdisches Epos erscheint dies noch problematischer. So sehr etwa Ludwig Philippson Steinheims Absicht anerkennt, dem christlichen Messias Klopstocks seinen jüdischen Sinai an die Seite zu stellen, so sehr missfällt ihm, dass dem Epos insbesondere aufgrund der Einführung eines bösen Prinzips das »echt israelitische Gepräge« fehle, da Steinheim »Elemente in das Dichtwerk hereingebracht, welche der Schrift wie dem wahren Mosaismus ganz zuwider, also auch völlig fremd sind.«27 Philippson formuliert diese Kritik im Rahmen einer Sammelrezension, die 1843 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums unter dem Titel Die drei Mosaiden erscheint. Die Veröffentlichung eines Mose-Epos des österreichischen jüdischen Dichters und Arztes Moritz Rappaport nimmt er zum Anlass,28 um seinen Lesern eine literaturkritische Bestandsaufnahme jüdischer Mose-Epik zu präsentieren. So nachdrücklich er alle drei von ihm besprochenen Epen – Wesselys hebräische Shirei Tiferet (ab 1789), Steinheims Sinai (1823) und Rappaports Moses (1842) – würdigt, kann er doch keinem der drei »die Erreichung des höchsten Zieles« zusprechen, ein sowohl literarischen als auch religiösen Ansprüchen vollauf genügendes Werk jüdischer Literatur hervorzubringen.29 Wessely biete letztlich nur eine poetische Paraphrase der Heiligen Schrift, Steinheim beschädige sein Werk durch fremde Struktur- und Inhaltselemente, und Rappaport drücke seinem Epos einen weichen, romantischen Charakter auf, der im Widerspruch zur »Kraft und Gewaltigkeit des Inhalts« stehe.30 Philippsons Bestandaufnahme kehrt hervor, wie schwierig es ist, eine eigenständige jüdische Literatur in deutscher Sprache herauszubilden. Während das Hebräische bei Wessely als Literatursprache mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Sprechposition und Adressatenkreis als jüdische definiert und in seiner grammatischen Struktur sowie seinem Wortschatz der jüdischen Überlieferung verbunden ist, stellt sich mit dem Übergang zum Deutschen bei Steinheim und Rappaport die Frage nach einer angemessenen Form, die einerseits der Eigentümlichkeit des Judentums Rechnung trägt und sich von christlichen Aneignungen biblischer Stoffe abgrenzt, andererseits aber den literarästhetischen Maßstäben der Gegenwart entspricht. Dass die Auseinandersetzung mit der alttestament lichen Dichtung für die literarischen Innovationen des 18. Jahrhunderts eine so Ernst Osterkamp: Lucifer. Stationen eines Motivs. Berlin/New York, NY 1979. S. 158–178. AZJ 6:2 (1843). S. 21. 28 Moritz Rappaport: Mose. Episches Gedicht. Leipzig 1842. Vgl. schon Moritz Rappaport: Moses, ein Heldengedicht. Proben aus dem dritten Gesange des bald erscheinenden epischen Gedichtes »Moses«. In: Der Orient 1:19–20 und 1:22 (1840). Sp. 302–304, Sp. 317 f., Sp. 349 f. 29 AZJ 6:3 (1843). S. 37. 30 Ebd., S. 36. 26 27
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große Bedeutung hatte (Kap. 2.1), erweist sich für die Versuche jüdischer Literaten, im 19. Jahrhundert in deutscher Sprache Eigenständigkeit zu behaupten, als Fluch und Segen zugleich. Mit der religiösen Heldenepik Klopstocks, Bodmers und anderer steht zwar ein Genre bereit, das die »Kraft und Gewalt« biblischer Stoffe in ambitionierter Weise zu vermitteln erlaubt. Aber es hat eine ausgeprägt christliche Signatur, die sich – wie Steinheims Sinai in Philippsons Augen beweist – nicht ohne weiteres tilgen lässt. Das weniger ausladende Format biedermeierzeitlicher Versepik wiederum, das die hohe Tonlage des religiösen Pathos durch sentimentale, romantische Stimmungsgehalte ersetzt und in einem leichtgängigeren Stil vermittelt, konterkariert – wie Philippson am Beispiel Rappaports erklärt – den erhabenen Charakter der Bibel und speziell der hebräischen Poesie. 4.1.3 Glänzende Trümmer und klingende Ruinen Rappaports Gedicht Zionsecho (1860) Der Versuch, eine angemessene Form, einen Ton und Modus für ein dezidiert jüdisches Sprechen über jüdische Stoffe in deutscher Sprache zu finden, wird im 19. Jahrhundert immer wieder ausdrücklich reflektiert und in Metaphern ausgelotet. Moritz Rappaport wendet 1860 in dem Gedicht Zionsecho eine breit ausgeführte Licht- und Klangregie auf, um seine deutschen Nachdichtungen Hebräischer Gesänge, unter anderem der Zioniden Jehuda Halevis, zu eröffnen: Aus geborstenem Gestein Blinkt es hell wie gold’ges Schimmern, Und ein überird’scher Schein Bricht hervor aus Schutt und Trümmern.
5
10
Einen leisen, leisen Klang Hört man durch Ruinen beben; Blinkt und klingt Jahrtausend’ lang, Wie geheimes Geisterweben. Zionsburg, so hehr und hoch! Dich hat Frevlerhand zerschlagen, Aber deine Trümmer noch Glänzen wie in alten Tagen.
Jeder Stein, verwittert, stumm, Spricht mit hellen Flammenzungen; 15 Über David’s Heiligthum Schweben die Erinnerungen, Jener Tage, jener Zeit, Als du reich an Ruhm und Ehre, Aller Welt hast ausgestreut 20 Deine reiche Gotteslehre.
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Deine Söhne sind zersprengt, Und es braust der Sturm, der scharfe, Doch an jeder Weide hängt Noch die alte Zionsharfe.
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Ob verstummt der Psalter Schall Und gesprungen ihre Saiten, Doch der alte Widerhall Klingt hinein in uns’re Zeiten. Wer mit gläubigem Gemüt Naht den Trümmern, dem Gemäuer, Hört ein leises, leises Lied Tönen die gebrochne Leier:
»[…] Ob zerstoben und verweht, Überall, wie einst im Osten 35 Fest und treu der Jude steht, Unverzagt, ein Gottesposten!« Also tönt es tief und bang Durch Ruinen längst verwittert, Bis der geisterhafte Klang 40 Voller, fast verständlich zittert: »[…] Israel! ein göttlich Bild! Ohne Trübung, ohne Blendung Forsch’ nach Wahrheit, unverhüllt, So vollbringst du deine Sendung.
45 Wo du weilst, ob dort, ob hier, Ob auf dieser, jener Scholle, Licht sei ewig dein Panier, Licht die heilige Parole!
50
Stets soll dich der Strahl umweh’n Dir am Sinai aufgegangen, Und du wirst im Licht ersteh’n Wie du lichtvoll untergegangen!«
Also tönt es tief und bang Durch Ruinen längst verwittert, 55 Bis der geisterhafte Klang Voller, fast verständlich zittert.31
31 Moritz Rappaport: Hebräische Gesänge. Metrisch nachgebildet. Leipzig 1860. S. v–viii. Vgl. biographisch zum Verfasser Karl Emil Franzos: Moritz Rappaport. In: AZJ 56:41, 56:43–44 und 56:46–47 (1892). S. 483–486, S. 510–512, S. 520–522, S. 546–548 und S. 558–560; zum literaturgeschichtlichen Kontext Herlinde Aichner: Die Revolution von 1848 und die Frage der jüdischen Nationalität. L.A. Frankl und M. Rappaport. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–1849. Literarisch-publizistische Auseinandersetzungen. Hg. von Hubert Lengauer und Primus Heinz Kucher. Köln u. a. 2001. S. 333–361.
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Rappaport gießt sein Zionsecho in das (ein)gängige Format der Romanzenstrophe.32 Die rhythmische Bestimmtheit dieser Strophenform steht in Spannung zu der vorsichtigen Anhebungsrhetorik des Gedichts, wie auch die Statik der Ruinenlandschaft in Spannung zu der semantischen Doppelmetaphorik von Schimmer und Echo steht, die in den ersten beiden Strophen die Trümmer Jerusalems durchzieht: »Blinkt und klingt Jahrtausend’ lang, / wie geheimes Geisterweben« (V. 7 f.). In der ersten Strophe leistet der Kreuzreim – Gestein/Schein und Schimmern/Trümmern – eine Verschränkung von düsterem Schutt und hellem Licht; in der zweiten Strophe hört man einen »leisen, leisen Klang« durch die Ruinen »beben« (V. 5 f.). Mit dem durch die Trümmer brechenden Licht und dem durch das Gestein bebendem Klang bereitet Rappaport zwei paradoxe Figuren vor: Die Trümmer der »Zionsburg« glänzen noch wie in alten Tagen (V. 11 f.) und sprechen – obgleich »verwittert, stumm« – »mit hellen Flammenzungen« (V. 13 f.). Die materiale Evidenz des Zerstörten wird hier mit der Lebendigkeit der »Erinnerungen« (V. 16) konterkariert. Die Gebäude mögen in Trümmern liegen, aber der »überird’sche[ ] Schein« (V. 2) der Gotteslehre und der »Klang« (V. 5) ihrer Poesie sind lebendig: Indem sie die ›Ausstreuung‹ der monotheistischen Gotteslehre (V. 19 f.) repräsentieren, dementieren Schimmer und Echo den Untergang Zions. In der sechsten und siebten Strophe variiert Rappaport diese Figur noch ein weiteres Mal. Zwar sind die Juden in alle Welt zerstreut: »Doch an jeder Weide hängt / Noch die alte Zionsharfe« (V. 23 f.). Zwar sind der Psalmengesang verstummt und die Saiten der Zionsharfe gesprungen: »Doch der alte Widerhall / Klingt hinein in uns’re Zeiten« (V. 27 f.). Das gesamte Gedicht zielt in diesem Sinne darauf ab, die Vergangenheit Zions mit der Gegenwart – ›uns’ren Zeiten‹ – zu verbinden. Wie in Friedländers Beschwörung des morgenländischen ›Schimmers‹ der jüdischen Antike (Kap. 2.2.5), in der Empfehlung morgenländischer ›Reminiszenzen‹ für den Synagogenbau (Kap. 6.3) und in den Verpflanzungsfiguren, die im Kollektivsymbolsystem der Zeit für die Lage der Juden herangezogen werden (Kap. 3.3), so setzt auch Rappaport hier Echo und Schimmer als Verbindungsfiguren ein, um aus der deutschsprachigen Gegenwart heraus eine reflektierte Beziehung zum Ursprung des Judentums und jüdischen Dichtens herzustellen. Wie Haarbleicher und Mosenthal, so aktiviert auch Rappaport an der aufgehängten Harfe vor allem die Möglichkeit, sie wieder abzunehmen: Sie hängt ›noch‹ an den Weiden, und zwar sogar, wie es in einer universalisierenden Geste heißt, an ›jeder‹ Weide (V. 23 f.). Und so führen die beiden letzten Drittel des Gedichts vor, wie sich in den Trümmern leiser Gesang vernehmen lässt. Das erste Lied im Lied erinnert das Volk Israel daran, dass es in der Zerstreuung den Gottesglauben als sein unverbrüchliches Eigentum mitgenommen habe, und bekräf32 Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen/Basel 21993. S. 180–187.
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tigt dies mit der chronotopischen Figur »überall, wie einst im Osten« (V. 34). »Voller, fast verständlich« (V. 40) erklingt dann ein zweites Lied im Lied, das vom Kampf Jakobs mit dem Engel erzählt, um ausgehend vom Sieg Jakobs im Morgengrauen schließlich »Licht« als »heilige Parole« Israels auszurufen (V. 48). Mit der nach diesem Lied nochmals wiederholten Erwartung, dass bald »der geisterhafte Klang / Voller, fast verständlich« zittern werde (V. 55 f.), entlässt Rappaport seine Leser dann zu seinen deutschen Nachdichtungen Hebräischer Gesänge, fordert aber, dass sie sich denselben »mit gläubigem Gemüt« (V. 29) nähern müssten, um aufnahmebereit zu sein. Ganz in diesem Sinne lobt der Literat Max (Meir) Letteris in einer Rezension für seine Wiener Mittheilungen die Hebräischen Gesänge Rappaports dafür, dass sie, »als Reflexe der Geschichte, die Vergangenheit mit der Gegenwart verschmelzend, zum Herzen sprechen.« In mehreren Variationen beschreibt er Rappaports Nachdichtungen als Vermittlungsleistungen zwischen Vorzeit und Gegenwart, Orient und Okzident: Rappaport habe es verstanden, als geistreicher Taucher nach Perlen des Orients in die Tiefen der Elegien des Propheten Jeremiah […] einzudringen und das von seiner Muschel gelöste Kleinod heraufzuholen. […] In dem ›Hohenlied Salomonis‹ hat unser Nachdichter jene erotische Weichheit, jene Naturlaute der morgenländischen Liebe wiedergegeben und die scharfen Kanten an einigen Stellen möglichst gemildert, abgerundet und dem modernen Geschmacke gleichsam acclimatisirt, ohne dadurch den antiken Grundton zu verwischen.33
Mit dieser bereinigenden, mildernden, anpassenden Transformation dienen Rappaports Hebräische Gesänge, so Letteris’ an seine deutschsprachige jüdische Leserschaft gerichtete Einschätzung, »unserem neuerwachten Nationalgefühl«. Es ist ein Nationalgefühl, so die Implikation, das in seinem epochenübergreifenden west-östlichen Vermittlungscharakter auf poetische Vermittlung angewiesen ist. 4.1.4 Zusammenfassung Mit dem Verzicht auf das Hebräische und auf Optionen hebräisch-deutscher Bilingualität ergibt sich im 19. Jahrhundert für jüdische Autoren die Notwendigkeit, Stoffe, Formen und Modi zu finden, mit denen eine dezidiert jüdische Literatur in deutscher Sprache geprägt werden kann.34 Die Suchbewegungen, die aus dieser Situation hervorgehen, werden in den untersuchten Versdichtungen darin sichtbar, dass sie die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Sprechens thematisieren und einen eigenen jüdischen Ton und Modus im Deutschen aus poeti Wiener Mittheilungen. Zeitschrift für israelitische Kultur-Zustände 7:18 (1860). S. 69 f. Vgl. grundlegend für den Bereich der Prosa Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837–1922). Frankfurt am Main u. a. 1985. 33
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schen Bewegungen des Erahnens, Erschauens und Erlauschens zu entwickeln suchen, um eine distanzbewusste Verbindung zum morgenländischen Ursprung jüdischer Poesie herzustellen. Die deutsche jüdische Versdichtung des 19. Jahrhunderts verwendet, so zeigt sich am Beispiel Haarbleichers, Mosenthals, Steinheims und Rappaports, erhebliche rhetorische Energie darauf, sich performativ aus einem morgenländischen Ursprung herzuleiten und diesen als Widerschein und Widerklang für die Gegenwart produktiv zu machen. Der 137. Psalm nimmt eine zentrale Stellung in diesen Bemühungen ein, weil sich mit ihm die Möglichkeiten jüdischen Singens jenseits des heiligen Bodens Zions thematisieren und reflektieren lassen. Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt ist in dem Seufzer konzentriert, den Steinheim seinen Obadjah ausstoßen lässt: »Ach, wie lange warest du stumm, meine Harfe!« Mit dem 137. Psalm lässt sich das trauernde Klagen und Schweigen im Exil evozieren, zugleich aber eröffnet die Symbolisierung des Klagemodus in einer aufgehängten Harfe die Möglichkeit zu dessen performativer Überwindung und Aufhebung. Ach, wie lange warst du stumm, meine Harfe, so rufen einige jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts: Nun aber nehme ich dich wieder in die Hand und lasse deine Saiten er klingen. Wie sich besonders deutlich im Kontext der Eröffnung neuer Synagogenbauten und anderer Feste reformorientierter Gemeinden zeigt, wird die Hoffnung der jüdischen Reformbewegung auf eine Renaissance jüdischer Kultur in der deutschen Gegenwart im Akt des Dichtens und Singens performativ beglaubigt. Für diesen Sprechakt ist es konstitutiv, den dritten Teil des Psalms, der die beiden Flüche gegen Edom und Babel enthält, zu unterdrücken, geht es doch gerade um Aussöhnung mit der Umgebung und um das Anstimmen von Freudengesängen im Zeichen einer neuen, vermeintlich ›bess’ren Zeit‹. Weil der dritte Teil des berühmten Psalms aber in Exegese und Liturgie als besonders heikel bekannt ist, macht er sich gerade durch seine Abwesenheit bemerkbar: Latent wird der affektive Spannungsbogen des 137. Psalms auch dann fortgetragen, wenn er nur partiell zitiert wird; und gerade aus dieser Latenz heraus wird im 19. Jahrhundert, so wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein, auf das Gewaltpotential des in der Klage der unterdrückten Juden mitgeführten Grolls immer wieder – mehr oder weniger versteckt – angespielt. Im Kontext des biedermeierzeitlichen Weltschmerz- und Judenschmerz-Diskurses kommt diese affektive Ambivalenz besonders deutlich zum Tragen.
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4.2 Jüdische Zerrissenheit? Poetische Performanz zwischen Wehmut und Unmut Schon im 18. Jahrhundert wird dem weiten emotionellen Bogen des 137. Psalms Aufmerksamkeit zuteil. Der Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger veröffentlicht 1773 eine vierstimmige Komposition zu Mendelssohns Übersetzung des 137. Psalms, um junge Komponisten anzuleiten, wie man Gefühlslagen musikalisch umsetzen könne. Zu diesem Zweck versieht er seine Vertonung mit Angaben zum affektiven Verlauf des Psalms: Auf die »tiefe Wehmut« der ersten beiden Verse folgt im dritten Vers eine »Innere Kränkung des Gemüths«, sodann eine »Melancholische Zärtlichkeit« im fünften Vers, die sich im siebten Vers »in Zorn« wandelt und im abschließenden Fluch »bis zur Wuth« ansteigt.35 Diese Steigerung bis zu höchster Aggression macht den Psalm zu einem heiklen Text; die Flüche am Ende stellen bis heute ein Problem für die Exegese und für den reli giösen Gebrauch des Psalms dar.36 Gerade aufgrund dieses Affektbogens von Wehmut zu Unmut aber erfährt der 137. Psalm einen enormen Medialisierungsschub in der Biedermeierzeit. Mit seiner Evokation einer Unterdrückungssituation trifft der Exilpsalm den politischen Nerv der Zeit und wird auf verschiedene politische Konfliktkonstellationen der Restaurationszeit übertragen.37 Die Resignation, Trauer und Wut der Juden, die nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. nach Babylon verschleppt worden sind und dort von ihren Unterdrückern zum Singen aufgefordert werden, machen den 137. Psalm zu einem höchst populären Referenzmodell für den liberalen Freiheitskampf.38 Zum einen verhilft der Psalm dem Gefühl 35 Johann Philipp Kirnberger: Oden mit Melodien. Danzig 1773. S. 24–30. Vgl. Laurenz Lütteken: Zwischen Ohr und Verstand. Moses Mendelssohn, Johann Philipp Kirnberger und die Begründung des »reinen Satzes« in der Musik. In: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns. Hg. von Anselm Gerhard. Tübingen 1999. S. 135–163, hier: S. 154–158. Dass Kirnberger neben horazischen und pindarischen Oden auch hebräische Poesie aufnimmt, unterschlägt Roman Hankeln: Kompositionsproblem Klassik. Antikeorientierte Versmetren im Liedschaffen J.F. Reichhardts und einiger Zeitgenossen. Köln u. a. 2011. S. 50 f. 36 Siegfried Risse: »Wohl dem, der deine kleinen Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert«. Zur Auslegungsgeschichte von Ps 137,9. In: Biblical Interpretation 14:4 (2006). S. 364–384; Jonathan Magonet: Psalm 137: Unlikely Liturgy or Partisan Poem? In: Jewish and Christian Approaches to the Psalms. Conflict and Convergence. Hg. von Susan Gillingham. Oxford 2013. S. 83–88. 37 Das gilt auch für die Zeit nach 1848. Ferdinand Gregorovius (Gedichte. Hg. von Adolf Friedrich Graf von Schack. Leipzig 1892. S. 13–17) benutzt den 137. Psalm 1855 als Modell für seinen Klagegesang der Kinder Juda in Rom. In Wilhelm Raabes Romandebüt wird der Erinnerungsschwur des 137. Psalms angesichts der Auswanderungswelle nach Amerika für einen Aufruf vaterländischer Verbundenheit adaptiert (Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse [1856]. Hg. von Ulrike Koller. Stuttgart 1981. S. 171). Emanuel Geibel nutzt in dem Psalm wider Babel seiner Heroldsrufe (1871) die Redesituation des Fluchs für eine Drohgebärde gegen Frankreich (Emanuel Geibel: Gesammelte Werke. Bd. 4. Stuttgart/Berlin 41906. S. 246–248). 38 Im Gedichtband Kelch und Schwert (1845) des österreichischen jüdischen Schriftstellers Moritz Hartmann, der das Hussitentum als Modell des Freiheitskampfes für die Demokratie be-
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der Unfreiheit im Repressionssystem Metternichs zu Ausdruck, zum anderen dient er als Darstellungsfolie nicht nur für den griechischen Aufstand gegen die Osmanen in den 1820er Jahren, sondern auch für die nationalen Erhebungen um das Jahr 1830, konkret die liberalen Bewegungen in einigen Kantonen der Schweiz, die französische Julirevolution, die Abspaltung der katholischen Belgier von den protestantischen Teilen der Niederlande, den polnischen Novemberaufstand, die Aufstände in Mittelitalien und das Hambacher Fest.39 Und schließlich wird er als Modellfall jüdischen Exils immer wieder in den politischen Emanzipationsdebatten herangezogen, die ab den 1830er Jahren unter dem Schlagwort der Judenfrage geführt werden.40 So paraphrasiert Ludwig Börne 1832 in seinen Briefen aus Paris den gängigen Vorwurf, die Juden sonderten sich ab und stünden ihrer Umgebung feindlich gegenüber, mit dem Exilpsalm: Und uns jüdisch deutschem Volke sagte man, wir wären aus dem Orient gekommen, hätten zur angenehmen Abwechslung die babylonische Gefangenschaft mit der deutschen vertauscht, wir wären fremd im Lande und wir betrachteten ja selbst unsere Mitbürger als Fremdlinge.41
Wie sich hier andeutet, gewinnt der Psalm im Kontext des Orientalismus eine Doppelfunktion, insofern er allgemein als Modell jüdischen Exils fungiert, mit seinem babylonischen Schauplatz aber zugleich die orientalische Herkunft der Juden aufzurufen und für Exklusionsgesten zu instrumentalisieren erlaubt. Besonders brisant schließlich ist der Umgang mit den Flüchen im dritten Teil des Psalms. Wie eine judenfeindliche Schrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts beweist, können sie als vermeintlicher Beleg für die Feindseligkeit der Juden gegenüber ihrer Umgebung missbraucht werden;42 in Reaktion auf Anfeindungen von christlicher Seite bieten die Flüche aber auch jüdischen Diskursteilnehmern ein performatives Modell für Sprechakte der Selbstbehauptung.43 schwört, taucht die Situation der an den Wassern zu Babel trauernden Juden als Topos der Resignation auf (Moritz Hartmann: Kelch und Schwert. Dichtungen. Leipzig 1845. S. 67 und S. 70). 39 Clive H. Church: Europe in 1830. Revolution and Political Change. London 1983; Jonathan Sperber: Revolutionary Europe, 1780–1850. Harlow 2000. S. 348–362. 40 Vgl. für ein gehässiges Beispiel Hartwig von Hundt-Radowsky: Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit [1819]. Reutlingen 1821. S. v f., wo sich der Verfasser in die Rolle der babylonischen Herrscher begibt und das »Judenvolk« in einem boshaften Psalmen-Cento auffordert, zu frohlocken und zu singen. 41 Ludwig Börne: Briefe aus Paris. Hg. von Alfred Estermann. Frankfurt am Main 1986. S. 581. 42 Christian Ludwig Paalzow: Die Juden. Nebst einigen Bemerkungen über das Sendschreiben an Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin von einigen Hausvätern jüdischer Religion und die darauf erfolgte Tellersche Antwort. Berlin 1799. S. 25. 43 Nicht bestätigen lässt sich die Behauptung, der Fluch werde aufgrund seiner Aggressivität meist gemieden (so z. B. Dieter Scholz: Das Babylon-System. Gefangenschaft, Klage und Rebellion von den Nazarenern bis zu den Rastafari. Zur Rezeption von Psalm 137. In: Babylon. Mythos & Wahrheit. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin. Bd. 2. Hg. von Moritz Wullen und Günther Schauerte. Berlin 2008. S. 181–190, hier: S. 183).
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In den folgenden Teilkapiteln werde ich herausarbeiten, welche literarischen Effekte vor diesem Hintergrund das Affektspektrum des 137. Psalms entwickelt. Ich werde zunächst skizzieren, wie in der Biedermeierzeit ein Zusammenhang zwischen ›Weltschmerz‹ und ›Judenschmerz‹ hergestellt wird (Kap. 4.2.1). Sodann werde ich nachverfolgen, wie Heine in zwei frühen Gedichten den Affektbogen des 137. Psalms zwischen Wehmut und Unmut auslotet und wie er sich schließlich in seinen Hebräischen Melodien mit einer Poetik des Flugs aus dem Erwartungshorizont jüdischer Zerrissenheit herausschreibt (Kap. 4.2.2). In den darauffolgenden beiden Kapiteln werde ich nachzeichnen, wie in den 1830er Jahren zwei sehr unterschiedliche jüdische Literaten – Joel Jacoby und Salomon Ludwig Steinheim – einen heftigen gefühlspolitischen Kampf um poetische Glaubwürdigkeit austragen und dabei auszuhandeln versuchen, ob der zentrale jüdische Affektmodus derjenige der Klage oder der Freude sei (Kap. 4.2.3 und Kap. 4.2.4). 4.2.1 Weltschmerz und Judenschmerz Die Seelenlage der Zerrissenheit in der Biedermeierzeit Neben seinem Gebrauchswert im politischen Diskurs der Restaurations- und Emanzipationszeit ist die Virulenz des 137. Psalms auch dadurch zu erklären, dass er mit seiner Ambivalenz von Trauer und Missmut die extremen Ränder eines damals vielbeschworenen Zerrissenheitsgefühls auslotet.44 Die Zeitgenossen der Biedermeierzeit bringen die Grundstimmung ihrer Epoche auf den von Jean Paul geprägten Begriff des Weltschmerzes, der in den 1830er Jahren zum Modewort avanciert.45 In Novellen wie Alexander von Ungern-Sternbergs Die Zerrissenen (1832) und Ernst Willkomms Die Europamüden (1838) als Seelenlage einer ganzen Generation exponiert,46 bezeichnet er ein sentimentales Leiden an der Unzulänglichkeit der Welt, in das sich Pessimismus, Resignation, Überdruss, Schwermut, Traurigkeit, Unruhe und Zwiespältigkeit mischen. Im deutschsprachigen Raum gelten die Dichtungen Lord Byrons als Inbegriff dieses Zeitgefühls.47 1858 auf die »Weltschmerzperiode« der deutschen Literatur zurückblickend, bezeichnet Friedrich Hebbel Byron als »Hamlet des Jahrhunderts« und sieht in ihm die Kunst ins Extrem getrieben, »an der Sonne nur die Flecken zu 44
Christian Begemann: Zerrissenheit. Überlegungen zum romantischen Thema des Identitätskonflikts. In: Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Hg. von Eijiro Iwasaki. Bd. 2. München 1991. S. 227–235. 45 DWb 28 (1955). Sp. 1685–1689. 46 Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1 (1971), bes. S. 1–33 und S. 221–238. 47 Achim Geisenhanslüke und Frank Erik Pointner: The Reception of Byron in the GermanSpeak ing Lands. In: The Reception of Byron in Europe. Hg. von Richard A. Cardwell. Bd. 2. London 2004. S. 235–268, hier: S. 245 f.; Cedric Hentschel: Byron and Germany. The Shadow of Euphorion. In: Byron’s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe. Hg. von Paul Graham Trueblood. London/Basingstoke 1981. S. 59–90, hier: S. 72 f.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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sehen, und in der Erde nur das Gewürm und die wüsten Todtengebeine zu er blicken«.48 Gehört die Konjunktur des sogenannten Weltschmerzes zum Standardwissen der Literaturgeschichte,49 hat die zentrale Bedeutung jüdischer Topoi und Zuschreibungen für diese Diskursformation bislang allenfalls peripher Beachtung gefunden.50 Dabei steht für die damaligen Zeitgenossen außer Zweifel, dass die Seelenlage der Juden als extremste Ausprägung des Weltschmerzes zu gelten habe. 1838 bemerkt ein anonymer Rezensent in August Lewalds Zeitschrift Europa, »der Schmerz und der Zwiespalt der Juden« seien als »der schrillendste Klagelaut in dem Hilferuf der hoffenden Menschheit« nicht mehr zu überhören. In zahlreichen neueren Romanen und Versdichtungen, darunter Anastasius Grüns Schutt (1835) und Nikolaus Lenaus Savonarola (1837), werde der »Schmerz der Juden« zum Thema gemacht, nachdem Byron zuvor schon »das tiefe Leid der Juden in unsterblichen Gesängen verklärt« habe.51 Byrons Hebrew Melodies (1815/16), darauf deutet der Rezensent hin, haben mit Psalmen-Nachdichtungen wie Oh! Weep for Those und By the Rivers of Babylon We Sat Down and Wept in den 1820er und 1830er Jahren Signalwirkung für das Interesse an diesem Stoff.52 So wird das analog zum Schlagwort ›Weltschmerz‹ gebildete Kompositum ›Judenschmerz‹ in den 1830er und 1840er Jahren als Bezeichnung einer breiten literarischen und bildkünstlerischen Mode vielfach aufgegriffen.53 Karl Gutzkow seufzt 1838 im Telegraphen für Deutschland: »Wo man hinblickt, sehen wir klagende und trauernde Juden, bald sitzen sie auf den Trümmern Jerusalems, bald 48 Friedrich Hebbel: Lyrische Poesie [1858]. In: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Richard Maria Werner. 1. Abt. Bd. 12. Berlin 1904. S. 175–181, hier: S. 177. 49 Klaus Heitmann: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus von See. Bd. 15. Wiesbaden 1982. S. 57–82; Markus Winkler: Weltschmerz, europäisch. Zur Ästhetik der Zerrissenheit bei Heine und Byron. In: Heinrich Heine und die Romantik. Hg. von Markus Winkler. Tübingen 1997. S. 173–190. 50 Vgl. für flüchtige Hinweise auf die »repräsentative[ ] Zeitgemäßheit« jüdischer Zerrissenheit Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1 (1971). S. 10 f. Ein Grund für die zögerliche Auseinandersetzung der Forschung mit dem Diskurszusammenhang von Welt- und Judenschmerz sind sicher die damit verbundenen antisemitischen Deutungstraditionen. Vgl. besonders Josef Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 3. Berlin 41938. S. 337 f. 51 Europa. Chronik der gebildeten Welt 4:2 (1838). S. 181–184. 52 In der Forschung zum europäischen Byronismus werden die Hebrew Melodies vernachlässigt. Vgl. The Reception of Byron in Europe. 2 Bde. Hg. von Richard A. Cardwell. London 2004; Gerhart Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus. Darmstadt 1983; Wilhelm Ochsenbein: Die Aufnahme Byrons in Deutschland und sein Einfluss auf den jungen Heine. Bern 1905. Vgl. zur maskilischen, jiddischen und zionistischen Rezeption Sheila A. Spector: Byron and the Jews. Detroit, MI 2010. 53 Die Titelfigur in Ferdinand Kürnbergers Bestseller Der Amerika-Müde (1855) denkt darüber nach, dass »ein Weltschmerz, Polenschmerz, Judenschmerz der herrschende Inhalt« der modernen europäischen Literatur sei (Ferdinand Kürnberger: Der Amerika-Müde. Amerikanisches Kulturbild. Frankfurt am Main 1855. S. 74).
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
an den Wasserbächen Babylons; was man in der Literatur jetzt anfäßt, ist das historische Pech der Juden«. Enerviert verlangt er, die deutschen Dichter und Künstler möchten endlich »Judenthat« zur Darstellung bringen, statt den »ewigen Judenschmerz« zu überhöhen.54 Diese Konjunktur des sogenannten Judenschmerzes schlägt sich in einer bemerkenswerten Präsenz der Figur des Ewigen Juden nieder. Die Ahasver-Legende gehört zu den beliebtesten literarischen Stoffen der Zeit.55 Mit Blick auf seine endlose Wanderung durch die Weltgeschichte wird Ahasver – ausdrücklich etwa in Julius Mosens Epos Ahasver (1838) – vom Träger von »nur eines Volkes Todesschmerzen« zum Träger von universalem »Weltschmerz« erhoben.56 Als christlich tradierte Figur jüdischer Unerlöstheit erlaubt es der sogenannte Ewige Jude, die »in irdischem Dasein befangene Menschennatur« vorzuführen, die in ihrem »Trotze« gegen Gott an der Welt leiden müsse.57 Damit bietet er eine Projektionsfläche für die religiöse Verunsicherung, den nihilistischen Unwillen und die tränenreiche Schwermut, die das affektive Strukturmuster des Weltschmerzes ausmachen. In diesen begriffs- und diskursgeschichtlichen Rahmen schreiben sich jüdische Autoren ein, als sie die Bedingungen und Möglichkeiten ihres Schreibens reflektieren. Tatsächlich finden sich die allerersten Verwendungen des Begriffs ›Judenschmerz‹ bei Börne und Heine.58 Ludwig Börne fragt 1819 in seiner Rezension einer Inszenierung von Richard Cumberlands Drama The Jew (1794): Wie viele Tausende jenes unglücklichen Volkes mußte Cumberland haben dulden sehen, bis er den ungeheuern Judenschmerz, einen reichen dunklen Schatz, von Geschlecht zu Geschlecht herabgeerbt, auch nur zu ahnen vermochte, bis er zu erlauschen vermochte die Leiden, die nicht klagen, weil sie kein Ohr zu finden gewohnt sind?59
Die Begriffsprägung ›Judenschmerz‹ findet sich hier in eine Semantik des Erhabenen eingebettet. Mit dem mehrdeutigen Adjektiv ›ungeheuer‹ weist Börne dem jüdischen Schmerz Qualitäten des Großen und Gewaltigen, des Schrecklichen und des Unheimlichen zu. Diese erhabene Qualität wird national begründet. Jü54 Karl Gutzkow: Julius Mosens Ahasver [1838]. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 2. Leipzig 1842. S. 154–177, hier: S. 161 f. Vgl. auch Karl Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben. Berlin 1875. S. 49. 55 Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt am Main 2000. S. 4 4. 56 Julius Mosen: Ahasver. Episches Gedicht. Dresden/Leipzig 1838. S. 5. Vgl. Olaf Briese: Weltuntergang mit anschließender Diskussion. Endzeit im Vormärzepos. In: Von Sommerträumen und Wintermärchen. Versepen im Vormärz. Hg. von Bernd Füllner und Karin Füllner. Bielefeld 2007. S. 19–47, hier: S. 31–37. 57 So Mosens Erklärung zu seinem Epos Ahasver, 1838. S. 184. 58 Joseph A. Kruse: Der große Judenschmerz. Zu einigen Parallelen wie Differenzen bei Börne und Heine. In: Ludwig Börne, 1786–1837. Bearb. von Alfred Estermann. Frankfurt am Main 1986. S. 189–197. 59 Ludwig Börne: Der Jude. Schauspiel von Cumberland [1819]. In: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf 1964. S. 286–289, hier: S. 286 f.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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discher Schmerz, wie er hier evoziert wird, verfügt über eine enorme synchrone und diachrone Extension, die durch eine breite Menge (»Tausende jenes unglücklichen Volkes«) und eine tiefe Genealogie (»von Geschlecht zu Geschlecht herabgeerbt«) beglaubigt wird. Das gewaltige, national kodierte Leid, von allen Juden geteilt und über Jahrhunderte tradiert, erscheint in Börnes Umschreibung (»reicher dunkler Schatz«) als ein kostbarer Besitz, als Erbe. Indem Börne darüber staunt, wie es dem nichtjüdischen Dramatiker Cumberland gelungen sei, von außen kommend, diesen ›reichen dunklen Schatz‹ zu erahnen und zu erlauschen, verleiht er dem jüdischen Schmerz eine Aura des Arkanen. Nicht nur kann der Judenschmerz als national kodiertes Gefühl per definitionem nur von Angehörigen des jüdischen Volkes empfunden werden; als ›ungeheurer‹ übersteigt er auch die Grenzen der Wahrnehmbarkeit und der Sagbarkeit. Die jüdischen Leiden sind – so Börnes Darstellung – in ihrer Größe stumm. Börne stattet seinen Neologismus ›Judenschmerz‹ hier mit einer erheblichen ästhetischen und emotionellen Komplexität aus, die in seiner weiteren Karriere in verschiedene Richtungen ausgefaltet und kontrovers diskutiert wird. In einem Brief an Moses Moser vom 18. Juni 1823 bezieht sich Heine direkt auf Börnes Begriffsprägung. Er erklärt, es dränge ihn, in einem Aufsatz für die Zeitschrift des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden »den großen Judenschmerz (wie ihn Börne nennt) auszusprechen«. Dieser Brief, in dem Heine seine Isolation in Lüneburg beklagt, ist von Kopfschmerzen, von »Grämlichkeit« und »Wehmuth« geprägt; Heine erklärt dem Freund, dass er momentan »verdrieslich, mürrisch, enfin unausstehlich« sei. Damit verleiht er dem »großen Judenschmerz« einen persönlichen Erfahrungshintergrund: Mit dem »ungewöhnlichen Rischeß [Judenhass]« der Lüneburger konfrontiert, erfährt Heine das spezifisch jüdische, von Generation zu Generation vererbte Leiden in seiner ganzen affektiven Ambivalenz zwischen Unmut und Wehmut (HSA 20, 96 f.). Ebendiese Gefühlsambivalenz bestimmt die literarischen Ausgestaltungen des sogenannten Judenschmerzes im 19. Jahrhundert; und sie wird maßgeblich durch Referenzen auf den 137. Psalm vermittelt. Der ästhetischen Zuordnung des jüdischen Schmerzes zum Großen, Gewaltigen und Erhabenen, die sich in den von Börne und Heine verwendeten Epitheta abzeichnet und die vielerorts auch mit der Rede vom mehr als ›tausendjährigen‹ Schmerz sowie in Kreuzungen mit dem allenthalben verarbeiteten Ahasver-Stoff unterstrichen wird, entspricht in der literarischen Praxis der Rückgriff auf die biblischen Modelle der Psalmen und der Propheten. Der Rekurs auf die hebräische Poesie soll deutschsprachigen Dichtungen die Tiefe und Größe verleihen, die dem Judentum und dem ihm zugeordneten Schmerz nach allgemeiner Auffassung eignen. In dieser Konstellation überlagern sich, wie nun gezeigt werden soll, poetische Ordnungen der Gefühle und des Orientalismus.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
4.2.2 Die west-östliche Ambivalenz jüdischen Schmerzes Heines An/Klagen (1824) und Hebräische Melodien (1851) Heines Verarbeitung des 137. Psalms in seinem Frühwerk der 1820er Jahre und in seinem Spätwerk der 1850er Jahre bildet eine Klammer um die ebenso intensive wie kontroverse Diskursformation, die in der Biedermeierzeit unter dem Modewort ›Judenschmerz‹ firmiert. In den 1820er Jahren erlangt der babylonische Exilpsalm zentrale Bedeutung für Heines Selbstverständnis, wie seine Briefe an den Berliner Freund Moses Moser bezeugen, der den Psalm offenbar wiederholt und ausdrucksvoll in seiner Gegenwart rezitiert (HSA 20, 239). Nicht nur macht Heine sich den Gedenkschwur des Psalmisten zu Eigen, um seine Anteilnahme am Schicksal des Vereins für die Cultur und Wissenschaft der Juden zu bekräftigen (HSA 20, 133). Auch in zwei frühen Gedichten, die aus einem Brief an Moser vom 25. Oktober 1824 bekannt sind (HSA 20, 177 f.), greift Heine Elemente des 137. Psalms auf: An Edom! Ein Jahrtausend schon und länger, Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, daß ich athme, Dass du rasest, dulde Ich. Manchmal nur, in dunkeln Zeiten, Ward dir wunderlich zu Muth, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut’. Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie Du. (DHA 1.1, 526)
Brich aus in lauten Klagen Du düstres Martyrlied, Das ich so lang getragen Im flammenstillen Gemüth’. Es dringt in alle Ohren, Und durch die Ohren ins Herz; Ich habe gewaltig beschworen Den tausendjährigen Schmerz. Es weinen die Großen und Kleinen, Sogar die kalten Herr’n, Die Frauen und Blumen weinen, Es weinen am Himmel die Stern’. Und alle die Thränen fließen Nach Süden, im stillen Verein, Sie fließen und ergießen Sich all’ in den Jordan hinein. (DHA 1.1, 526 f.)
Heine greift eine lang tradierte typologische Figuration auf, wenn er mit Edom, das im 137. Psalm mit einem Fluch bedacht wird, die Christen der Gegenwart adressiert.60 Die vibrierende Spannung einer höchst asymmetrischen gegenseitigen Duldung (»Du, du duldest, daß ich athme, / Dass du rasest, dulde Ich«) ist, so referiert das Gedicht, im Laufe der Geschichte immer wieder in Gewalt gegen die 60 Israel Jacob Yuval: Two Nations in Your Womb. Perceptions of Jews and Christians in Late Antiquity and the Middle Ages. Berkeley, CA 2006.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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Juden ausgeartet. Indem der Sprecher in der Gegenwart eine Aufhebung der Asymmetrie und eine Angleichung der Juden an die Christen diagnostiziert, trägt er der abgründigen »Freundschaft« das Bedrohungspotential einer Umkehrung der Gewalt ein: »Denn ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du.« Mit dieser Kon-Figuration treibt Heine die Aporien und Aggressionen hervor, die unterschwellig die Anpassungsforderungen im Emanzipationsdiskurs prägen. Auch das zweite Gedicht setzt mit der Apostrophe »Brich aus in lauten Klagen« erhebliche Spannungsenergien frei. Wie Börne in seiner Cumberland-Rezension erklärt, die jüdischen Leiden klagten nicht, »weil sie kein Ohr zu finden gewohnt sind«,61 so erklärt Heines jüdischer Sprecher in diesem Gedicht, dass er das »Martyrlied« lange still und verborgen im Gemüt getragen habe. Nun aber fordert er dieses sein eigenes Lied, das den »tausendjährigen Schmerz« der Juden »gewaltig« beschwöre, nachdrücklich zum Ausbruch »in lauten Klagen« auf. Aus dem Schweigen befreit, dringt es »in alle Ohren« und wird dann in einem hyperbolischen Tränenfluss gen Süden aufgelöst. Der laute Ausbruch des zuvor still ertragenen tausendjährigen Schmerzes erscheint hier als alle dumpfen Anspannungen lösende Erleichterung; die kathartisch freigesetzten Tränen aller Zuhö rerinnen und Zuhörer fließen nun, gleichsam befriedet, »im stillen Verein« in den Jordan. Profan gesagt, inszeniert das Gedicht einen west-östlichen Energieaustausch überschüssiger Emotionen; es führt den in Europa entstandenen Leidensdruck des tausendjährigen Schmerzes in den Orient ab. Zusammen lassen sich die beiden Texte als Variation auf das ambivalente Gefühl jüdischen Schmerzes lesen: Profiliert das Gedicht an Edom den Aspekt des Unmuts im Gestus der Drohung, zelebriert das zweite Gedicht den Aspekt der Wehmut im Tränenfluss des Zionsgedenkens. Damit loten die beiden Gedichte, hervorgegangen aus H eines Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte, speziell seiner Lektüre von Jacques Basnages Histoire des Juifs (1716) und der Arbeit an seinem Prosawerk Der Rabbi von Bacherach, das affektive Spannungsfeld des 137. Psalms für eine Reflexion des eigenen Schreiborts im Deutschland der Gegenwart aus. Im Zeitalter von Restauration und Emanzipation liegt dieser Schreibort auf der Landkarte der Emotionen im Grenzgebiet zwischen Sentimentalität und Aggression, zwischen Wehmut und Unmut. Heine hat diese beiden Gedichte zu Lebzeiten nicht publiziert. In den 1820er Jahren, in der Anfangsphase seiner Schriftstellerkarriere, scheut er vor einer direkten Auseinandersetzung mit jüdischen Stoffen und der öffentlichen Selbstdarstellung als jüdischer Dichter zurück; das Prosafragment Der Rabbi von Bacherach veröffentlicht er erst 1840. In seinem Spätwerk indes, das in der Pariser ›Matratzengruft‹ entsteht, experimentiert Heine ausgiebig und unverdeckt mit jüdischen Stoffen und Formen und positioniert sich damit auch selbst als Dichter noch einmal neu. In mehrfacher Hinsicht schließt er dabei an seine frühe Aus61
Börne: Der Jude, 1819. S. 286 f.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
einandersetzung mit dem Judentum und die damals virulente Konstellation von Welt- und Judenschmerz an. Am deutlichsten tritt das in dem Zyklus Hebräische Melodien seines Gedichtbandes Romanzero (1851) hervor, der sich mit seinem Titel auf Byrons Hebrew Melodies (1815/16) bezieht, diese aber – wie nun zu zeigen sein wird – in einen radikal neuen poetologischen Reflexionshorizont jüdischen Dichtens transferiert. In dem Langgedicht Jehuda ben Halevy, das in der Mitte des Zyklus Hebräische Melodien platziert ist, nimmt Heine die emotional ambivalente Konstellation seiner beiden frühen unpublizierten Gedichte auf, indem er alle drei Sprachgebärden des Psalms – das Zionsgedenken, die Klage und den Fluch – aktualisiert. Das Gedicht beginnt mit einem Zitat des fünften und sechsten Verses aus Psalm 137, das mittels Anführungszeichen als solches markiert ist: »Lechzend klebe mir die Zunge An dem Gaumen, und es welke Meine rechte Hand, vergäß’ ich Jemals dein, Jerusalem –« Wort und Weise, unaufhörlich Schwirren sie mir heut’ im Kopfe, Und mir ist als hört’ ich Stimmen, Psalmodierend, Männerstimmen – (DHA 3.1, 130)
Über eine vage, traumhafte Erinnerung an die synagogale Liturgie führt Heine seine Leser in das Gedicht hinein. Der Erinnerungsschwur des babylonischen Exilpsalms bereitet die Begegnung mit der historisch konkreten Person des titelgebenden jüdischen Dichters Jehuda Halevi vor, die dem als Alter Ego Heines auftretenden Sprecher des Gedichts zwischen dunklen ›Traumgestalten‹ und ›Gespenstern‹ entgegentritt und ihn direkt und »schmerzlich forschend« anblickt (DHA 3.1, 130). So eröffnet Heine sein Gedicht mit der Begegnung von zwei jüdischen Dichtern, die poetische Produktivität aus dem Erinnerungszentrum Zion schöpfen. Jehuda Halevis legendäre Zionsliebe ausführlich ausgestaltend, inszeniert Heine den Bezug auf Jerusalem mit dem Eingangszitat des 137. Psalms auch als auslösendes Moment seines eigenen Gedichts über den berühmten Verfasser der Zioniden. Damit setzt er sich selbst als in Paris wirkender deutscher Poet in eine genealogische Reihe jüdischer Zionsdichtung, die über den sefardischen Dichter Halevi bis zum Psalmisten in Mesopotamien reicht. Spannungen und Verbindungen zwischen diesen vier Kulturräumen – Jerusalem, Babylon, al-Andalus, Paris – bestimmen das gesamte Gedicht. Heine entwirft mit Jehuda ben Halevy eine jüdische Dichtungsgenealogie west-östlicher Schwellenräume und Blütezeiten: Die im spanisch-maurischen »Goldzeitalter« (DHA 3.1, 150) entstandene jüdische Poesie ist ebenso wie die im üppig-sinnlichen Babylon florierende Aggada und Heines in Paris entstandenes Gedicht auf
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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das schweigende Erinnerungszentrum Jerusalem hin orientiert.62 Vermittelt durch die Integration des 137. Psalms trägt Heine dieser west-östlichen genealogisch-poetischen Raumordnung die affektive Ambivalenz jüdischen Schmerzes ein. Der zweite Teil des heineschen Gedichts beginnt mit dem ersten Vers von Psalm 137: Bey den Wassern Babels saßen Wir und weinten, unsre Harfen Lehnten an den Trauerweiden – Kennst du noch das alte Lied? Kennst du noch die alte Weise, Die im Anfang so elegisch Greint und sumset, wie ein Kessel, Welcher auf dem Herde kocht? (DHA 3.1, 135 f.)
Die Szenerie des Psalms wird hier über drei Verse hinweg anzitiert, um dann mit einem Gedankenstrich abgebrochen zu werden durch die Frage: »Kennst du noch das alte Lied?« Wie schon zu Beginn des ersten Gedichtteils wird der Psalm auch hier über Operationen des Erinnerns als ein ›altes Lied‹ aus tiefer Vergangenheit herangeholt. Betont durch einen Parallelismus mit dem ersten Vers der folgenden Strophe (»Kennst du noch die alte Weise«), wird der Psalm hier als Lied in Erinnerung gerufen; und zwar als ein Lied mit einer spezifischen Struktur und Dramaturgie, das anfangs »so elegisch / Greint und sumset« wie ein auf dem Herd kochender Pfeifkessel. Die Verbindung von gattungspoetischer Zuordnung und häuslicher Kochmetaphorik erschöpft sich beileibe nicht in einem witzigen Stilbruch. Vielmehr legt sie nahe, dass der Psalm nur in elegischem Ton beginnt, dieser dann aber bis zu einem schrillen Pfeifen – dem Fluch – anwächst. Gedenkt der Sprecher zunächst wehmütig des elegischen Anfangs, vollzieht er in den folgenden Strophen die affektive Entwicklung des Psalms bis zum Schmerz- und Wutausbruch nach. So vergegenwärtigt Heine mit dem steigenden Druck des Wasserdampfs im Pfeifkessel den Spannungsaufbau des 137. Psalms von einer kollektiv wehmütigen Trauerszene an den Wassern Babels zum Wut ausbruch und Fluch gegen die babylonischen Unterdrücker in der persönlichen Aneignung durch den Sprecher: Lange schon, jahrtausendlange Kocht’s in mir. Ein dunkles Wehe! Und die Zeit leckt meine Wunde, Wie der Hund die Schwären Hiobs. Dank dir, Hund, für deinen Speichel – Doch das kann nur kühlend lindern – 62 Kathrin Wittler: »Mein westöstlich dunkler Spleen«. Deutsch-jüdische Orientimaginationen in Heinrich Heines Gedicht Jehuda ben Halevy. In: HJb 49 (2010). S. 30–49.
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Heilen kann mich nur der Tod, Aber, ach, ich bin unsterblich! Jahre kommen und vergehen – In dem Webstuhl läuft geschäftig Schnurrend hin und her die Spule – Was er webt, das weiß kein Weber. Jahre kommen und vergehen, Menschenthränen träufeln, rinnen Auf die Erde, und die Erde Saugt sie ein mit stiller Gier – Tolle Sud! Der Deckel springt – Heil dem Manne, dessen Hand Deine junge Brut ergreifet Und zerschmettert an der Felswand. Gott sey Dank! die Sud verdampfet In dem Kessel, der allmählig Ganz verstummt. Es weicht mein Spleen, Mein westöstlich dunkler Spleen – (DHA 3.1, 136)
Es ist der sogenannte Judenschmerz, der hier ›greint und sumset‹, kocht und brodelt: »Ein dunkles Wehe!« Mit der Correctio »lange schon, jahrtausendlange« deklariert der Sprecher sein eigenes Leid zum Leid seines ganzen Volkes und baut sich in einer Überblendung von Anleihen an die Leidensfiguren Ahasver, Lazarus und Hiob zum Träger jüdischen Schmerzes auf. Das Leid und die Schwären Hiobs (vgl. etwa Hiob 2,7) werden verschränkt mit einer neutestamentlichen Episode, in der Hunde die Schwären von Lazarus lecken (Lukas 16,20–21). Der Größe des Leids korrespondiert seine Unheilbarkeit. Die Zeit könne seinen Schmerz nur lindern, nicht heilen, denn die Erlösung des Todes, so klagt der Sprecher in der Rolle des Ewigen Juden, sei ihm verwehrt: »Aber, ach, ich bin unsterblich!« Zwei Strophen, die jeweils mit dem Vers »Jahre kommen und vergehen« beginnen, vergegenwärtigen die gewaltige Dauer, das »jahrtausendlange« Ertragen unerträglichen Leids, im Hin und Her eines besinnungslos mechanischen Verwebens von Schicksalsfäden und im Rinnen und Versickern von Menschentränen. Zerklüftet von Gedankenstrichen führen diese Strophen die Zerrissenheit des am Schmerz der Welt und der Juden leidenden Sprechers vor, halten mit der Ausgangsmetapher des Pfeifkessels aber zugleich das Erreichen des Siedepunkts und damit die Auflehnung gegen den Leidensdruck als Möglichkeit offen. Schließlich kulminiert die aufgebaute Spannung in der Tat in einem mehrfach kodierten Ausbruch. Das schnurrende Weben und stille Weinen, das Greinen und Sumsen des Kessels und die Klagen des zu einem Hiob-Lazarus-Ahas-
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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ver-Hybrid aufgebauten Sprechers werden mit einem Gedankenstrich und dem Ausruf »Tolle Sud!« abgebrochen. Der Schmerz, der in dem Ausruf »Ein dunkles Wehe!« zwar rätselhaft, tief und groß, aber passiv leidend erschienen war, ist zu einer wild brodelnden Masse angewachsen, die sich im Kessel bzw. im Gemüt des Sprechers wie toll gebärdet. Hier nun kocht dem Kessel das Wasser über – »Der Deckel springt« – und im selben Moment geht dem Sprecher gleichsam die Galle über. Er schleudert den Fluch des 137. Psalms heraus: »Heil dem Manne, dessen Hand / Deine junge Brut ergreifet / Und zerschmettert an der Felswand.« In einer dichten Überlagerung verschiedener Bildbereiche und Intertexte wird in dieser Passage der affektive Spannungsbogen des 137. Psalms mit dem Leid der gesamten jüdischen Diasporageschichte aufgefüllt und im ›kochenden‹ Gemüt des in der Rolle Ahasvers, Hiobs und Lazarus sprechenden Ich konzentriert. Dass diese Passage abstruse Fehldeutungen erfahren hat,63 ist nicht nur auf ihre extreme intertextuelle und metaphorische Dichte zurückzuführen. Es erklärt sich auch mit dem Aggressionspotential, das sich aus Heines Verarbeitung des 137. Psalms ergibt. Das Psalmenzitat ist hier nicht wie zu Beginn des heineschen Gedichts mittels Anführungszeichen und nicht wie zu Beginn des zweiten Gedichtteils durch die anschließende Frage »Kennst du noch das alte Lied?« als Intertext gekennzeichnet. Vielmehr folgt der Fluch abrupt nach einem Gedankenstrich auf das konkrete Überkochen des Wasserkessels und den im selben Bild transportierten Wutausbruch des Sprechers. Während sich Heine mit den beiden vorherigen Teilzitaten aus Psalm 137 – wie auch sonst in seinem Werk – an der lutherschen Übersetzung orientiert,64 weicht er mit dem Zitat des Fluchs recht weit von ihr ab.65 Dadurch ist der heikle Fluch weniger deutlich als Zitat erkennbar als die beiden anderen Teile des Psalms.66 Nicht nur das: Da die namentliche Adressierung Babels fehlt, bleibt der Fluch nicht auf die historische 63 Vgl. den Kommentar in DHA 3.1, 911, wo es heißt, dass in der Kochmetaphorik eine »positiv gefärbte Verwendung [...] vorherrschend« und der Fluch am Ende als Ausdruck des »Glück[s] eines frühen Todes« zu verstehen sei. Dass der Kommentar diesen Teil des Gedichts gründlich missversteht, hat auch Inge Rippmann bemerkt; sie unterstellt allerdings ohne textlichen Anhaltspunkt, dass Heine Jehuda Halevi die Schlussverse des Psalms »nachdichten« lasse (Inge Rippmann: »Sie saßen an den Wassern Babylons«. Eine Annäherung an Heinrich Heines »Denkschrift über Ludwig Börne«. In: HJb 34 (1995). S. 25–47, hier: S. 31 und S. 46, Anm. 19). Prawer verallgemeinert den Fluch zu einem »outburst of rage against the corruptions of the contemporary world« (Siegbert Salomon Prawer: Heine’s Jewish Comedy. A Study of his Portraits of Jews and Judaism. Oxford 1983. S. 574). 64 Peter Guttenhöfer: Heinrich Heine und die Bibel. In: Heinrich Heine und die Religion. Ein kritischer Rückblick. Hg. von Ferdinand Schlingensiepen und Manfred Windfuhr. Düsseldorf 1998. S. 35–47. 65 Heines Fassung ist auffallend nah an Mendelssohns Übertragung: »Heil dem, der deine Brut ergreift, / Und an den Fels zerschlägt« (JubA 10.1, 213). 66 Noch im neuesten Interpretationsversuch wird das Zitat denn auch überlesen und behauptet, der Fluch werde im Gedicht gar nicht zitiert (Peter Routledge: »Jehuda ben Halevy« and the Restructuring of Memory within Poetic Discourse. In: HJb 54 (2015). S. 58–83, hier: S. 78). Eine korrekte Identifizierung der Psalm-Zitate im Rahmen einer umsichtigen Lektüre des Gesamtzyklus bietet Gerhard Sauder: Blasphemisch-religiöse Körperwelt. Heinrich Heines Hebräische Melodien. In:
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Konstellation des ›alten Liedes‹ beschränkt; die im Personalpronomen dein implizierte Adressierung eines ›Du‹ ist hier für verschiedene Besetzungen – etwa mit dem (nichtjüdischen) Leser des Gedichts – offen. So entwickelt sich der Nachvollzug des Psalms in Heines Gedicht von der erinnernden Evokation des ›alten Liedes‹ aus dem Babylonischen Exil zur brisanten Aktualisierung des Fluchs in der europäischen Gegenwart. Der 137. Psalm bleibt nicht als Lied im Lied eingehegt, sondern entfaltet seine performative Wirkung auf der Sprechund Adressierungsebene des Gedichts selbst. Heines poetische Aneignung und Aktualisierung des 137. Psalms dient zunächst einmal der Thematisierung und radikalen Zuspitzung des biedermeierzeitlichen Modephänomens des sogenannten Judenschmerzes, zielt letztlich aber auf dessen Überwindung ab. Der aggressive Sprechakt löst, analog zum abspringenden Deckel des Pfeifkessels, den extremen, über Jahrhunderte aufgebauten Leidensdruck des ›dunklen Wehes‹ und führt zu Beruhigung und Erleichterung: »Gott sey Dank! die Sud verdampfet / In dem Kessel, der allmählig / Ganz verstummt.« Während 1824 das Aggressionspotential des unter Leidensdruck gewachsenen Unmuts in An Edom! als Drohung unausgesprochen im Raume stehen bleibt und in Brich aus in lauten Klagen in einem hyperbolischen Tränenfluss den Jordan herunter abgeführt wird, inszeniert Heine 1851 in Jehuda ben Halevy eine Befreiung aus dumpfem Gram und Leid durch die Erneuerung eines biblischen Sprechakts. Dieser Vollzug sprachlicher Aggression hat auch eine literaturgeschichtliche Funktion, insofern Heine hier die ganze literarische Mode des Welt- und Judenschmerzes in einem kalkuliert banalen Sinnbild hochkochen, explodieren und verstummen lässt. Mit dem Beschluss der Strophe – »Es weicht mein Spleen, / Mein westöstlich dunkler Spleen« – stellt Heine diese literaturgeschichtliche Konstellation und sein eigenes Verhältnis zu ihr in den Kontext des Orientalismus. Es lohnt sich, den semantischen Nuancierungen dieser mittels einer Correctio betonten Formulierung nachzugehen, da sie die Selbstpositionierung Heines präzisieren helfen. Mit der Bezeichnung der in den vorhergehenden Strophen drastisch entfalteten Gefühlslage als ›Spleen‹ bekräftigt Heine, dass er eine ganz spezifische literaturgeschichtliche Konstellation aufruft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vor seiner Aneignung durch Charles Baudelaire – ist der ›albionische‹ oder ›brittische Spleen‹ als stehende Wendung für eine besonders den Engländern zugeschriebene Launenhaftigkeit, Verdrießlichkeit und Hypochondrie in Gebrauch.67 Wie die Milz (σπλήν) in der Antike als Sitz von Ärger und Traurigkeit gilt, so bezeichnet auch der moderne Spleen ebendiese beiden Gefühlslagen bzw. Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Hg. von Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart 1977. S. 118– 143, hier: S. 128. 67 Angelika Corbineau-Hoffmann: Spleen. In: HWdPh 9 (1995). Sp. 1422 f.; DWb 16 (1905). Sp. 2650; Angus Gowland: Melancholy, Spleen, Hypochondria. Mental Diseases in Europe and England from the Sixteenth to the Eighteenth Century. In: Missvergnügen. Zur kulturellen Bedeutung
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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deren spannungsreiche Mischung. Als berühmtester und extremster Vertreter dieser psychischen Konstitution gilt Byron, dessen »Weltschmerz« man auf den legendären englischen »Nationalspleen« zurückführt.68 In Heines Gedicht Jehuda ben Halevy nun, das mit Prinzessin Sabbath und Disputazion den Zyklus der Hebräischen Melodien bildet, wird mit dem ›Spleen‹ vor diesem Hintergrund auf den Verfasser der Hebrew Melodies angespielt. Heines Hebräische Melodien präsentieren sich freilich nicht als Neuauflage der von Byron inspirierten Poetisierungen des sogenannten Judenschmerzes, sondern kehren sich demonstrativ von ihnen ab und befreien sich aus diesem Genre und dem damit verbundenen statischen Zustand einer Zerrissenheit zwischen Ost und West. Nachdem der westöstlich dunkle Spleen gewichen ist, schwingt sich Heines Alter Ego auf sein wieder heiter wieherndes »Flügelrößlein« und fliegt »zurück nach Spanien« zu dem Dichter Jehuda Halevi (DHA 3.1, 136 f.). Mit der Auflösung der Drucksituation des Pfeifkessels befreit sich der Dichter aus der Dunkelheit exilischen Grams und reist auf Pegasus’ poetischen Schwingen zu den Schwellenräumen und Blütezeiten jüdischer Dichtung in Orient und Okzident. Heines Gedicht ist über weite Strecken ein explorativer Text; er ist bestimmt von Bewegungen des Flugs und der Reise und setzt damit eine neue, dynamisierte Westöstlichkeit an die Stelle der Zerrissenheit, die in den Judenschmerz-Dichtungen der Biedermeierzeit dominiert hatte.69 So reflektiert Heine durch die Verarbeitung des 137. Psalms die Bedingungen und Möglichkeiten jüdischen Dichtens in deutscher Sprache. Lotet er 1824 in zwei unveröffentlichten Gedichten den affektiven Spannungsbogen des Psalms zwischen Wehmut und Unmut aus, befreit er sich in seinem späten Langgedicht von dem Topos jüdischer Zerrissenheit mithilfe einer Poetik des Flugs. Wie die literarische Mode des sogenannten Judenschmerzes, die Heine hier ironisch reflektiert und überwindet, in den 1830er Jahren die deutschen Dichtungsprojekte jüdischer Autoren steuert, werde ich nun in den folgenden zwei Kapiteln am Beispiel der Konkurrenzkonstellation zweier sehr unterschiedlicher Literaten aufrollen.
von Betrübnis, Verdruss und schlechter Laune. Hg. von Alfred Bellebaum und Robert Hettlage. Wiesbaden 2012. S. 95–116, hier: S. 110–112. 68 Hebbel: Lyrische Poesie, 1858. S. 177. 69 Anders als ein Interpret behauptet, der den Vers »Mein westöstlich dunkler Spleen« aus seinem – jüdisch markierten – Kontext herauslöst und ihn unter Ausblendung des Verbs »weicht« zu einer Lektüreanweisung für den gesamten Romanzero erhebt (Robert Steegers: »Mein westöstlich dunkler Spleen«. Heines »Romanzero« als »Feuerwerk zur Goethefeyer«. In: Goethe im Vormärz. Hg. von Detlev Kopp und Hans-Martin Kruckis. Bielefeld 2004. S. 71–108, hier: S. 103), erlangt das auf den West-östlichen Divan Goethes verweisende Adjektivkompositum »westöstlich« eine neue, den goetheschen Divan überbietende Dimension nicht durch Heines Integration amerikanischer Stoffe in den Romanzero, sondern durch seine Reinterpretation im Zeichen jüdischer Dichtungsgenealogie von Babylon über Spanien in die Pariser Gegenwart.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
4.2.3 »Dein Schmerz? Er ist erheuchelt!« Jacobys Klagen eines Juden (1837) und der Kampf um Glaubwürdigkeit Es gibt wohl kaum jemanden, an dem sich die Zeitgenossen des Vormärz intensiver und aggressiver abarbeiten als an Joel Jacoby (1811–1863), der als politischer Renegat und religiöser Konvertit in den 1830er Jahren zu einer Skandalfigur wird. Sein schlechter Leumund hallt durch sämtliche Dokumente literarischen Lebens der Biedermeierzeit. Friedrich Engels zum Beispiel ätzt 1840 über die Vielseitigkeit dieses Mannes, »dem die rothe Mütze und der Purpur Davids, der Frack eines anstellungshungrigen Candidaten und das Bußhemd des Katechumenen« gleich gut stünden.70 Woher diese Empörung? 1811 in Friedeberg in der Neumark (Pommern) als Sohn jüdischer Eltern geboren,71 besucht Jacoby in Königsberg das Gymnasium und studiert von 1830 bis 1833, allerdings anscheinend ohne sich zu immatrikulieren, Philosophie und Philologie in Berlin und Halle. In dieser Zeit macht er die Bekanntschaft von Karl Gutzkow und Heinrich Laube und verfasst einige politische Schriften, in denen er für den Liberalismus und die jüdische Emanzipation eintritt. Ab 1834 distanziert er sich von der Revolutionsverherrlichung und dem Liberalismus seiner Frühschriften und läuft auf die Gegenseite über: Bei regelmäßiger Besoldung steht er nun als Geheimagent sowie später auch als Zensor im Dienst der Berliner Polizei. Seinem politischen Seitenwechsel lässt Jacoby am 20. August 1839 eine Konversion zum christlichen Glauben folgen. Statt aber seine Loyalität als preußischer Staatsdiener mit der Annahme der evangelischen Konfession zu besiegeln, wählt er die katholische Kirche, die in den seit 1815 zu Preußen gehörenden Westprovinzen Rheinland und Westfalen dominiert und in dieser Zeit heftige Machtkämpfe mit dem preußischen Staat ausficht. Damit verleiht er seiner idiosynkratisch restaurativen Haltung Ausdruck, die Klerikalismus und Rabbinismus gegenüber Protestantismus und Reformjudentum präferiert. Seinen politischen und religiösen Gesinnungswandel macht Jacoby in Zeitungserklärungen, in Streitschriften, die den katholischen Standpunkt in Preußen verteidigen, und in mehreren Gedichtbänden zu einer öffentlichen Angelegenheit. Mit den Klagen eines Juden (1837) besingt er Gram und Weh moderner 70 Friedrich Engels: Joel Jacoby [1840]. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Gesamtausgabe. Hg. von den Instituten für Marxismus-Leninismus bei den Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abt. 1. Bd. 3.1. Berlin 1985. S. 95–97, hier: S. 95. 71 Das Geburtsjahr ist – wie viele Details in Jacobys Leben und Wirken – nicht restlos gesichert. Der folgende kurze biographische Abriss basiert auf Archivmaterial, das ich andernorts im Rahmen einer literatursoziologischen Studie vorstellen werde. Vgl. vorläufig Wolfram Siemann: Bilder der Polizei und Zensur in Raabes Werken. Realgeschichtliche Grundlagen und Antwortstrukturen. In: Jb. der Raabe-Gesellschaft 28 (1987). S. 84–109, bes. S. 98–100; Horst Denkler: Das »wirckliche Juda« und der »Renegat«. Moses Freudenstein als Kronzeuge für Wilhelm Raabes Verhältnis zu Juden und Judentum. In: GQ 60 (1987). S. 5–18.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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jüdischer Zerrissenheit und erklärt den ideologischen Hintergrund dazu in seinen Religiösen Rhapsodien (1837); im Folgeband Harfe und Lyra (1838) klingen Kirchenglocken vernehmlich durch die Verse; im Januar 1840 legt er der Öffentlichkeit mit dem Band Kampf und Sieg (1840) seine Bekehrungsgeschichte in Klagegesängen vor.72 Mit der öffentlichen Bekanntgabe und Poetisierung seiner politischen und religiösen Seitenwechsel macht sich Jacoby zur skandalumwitterten Symbolfigur für ideologischen Opportunismus und jüdische Zerrissenheit im Zeitalter von Restauration und Emanzipation. Diese literarische Selbstinszenierung in vier dicht aufeinanderfolgenden Gedichtbänden und ihre kontroverse Aufnahme werde ich im Folgenden nachzeichnen. In den Reaktionen auf Jacoby und seine literarische Selbstinszenierung treten, so wird sich zeigen, die Schwierigkeiten jüdischer Selbstpositionierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts drastisch hervor. Am 3. März 1837 druckt die Allgemeine Zeitung von und für Bayern die Meldung eines Korrespondenten aus Preußen: »Jacobi’s Klagen eines Juden gehen hier von Hand zu Hand, und werden als eine wichtige Erscheinung betrachtet.« Man sehe »einer heftigen Polemik dieses Buches« entgegen.73 In der Tat arbeiten sich in den folgenden Wochen und Monaten zahlreiche Kritiker an diesem Gedichtbändchen ab. Ob in kurzen oberflächlichen Rezensionsnotizen oder langen eingehenden Verrissen und Lobeshymnen – an diesem Gedichtband kommt 1837 niemand vorbei. Was hat es mit dem schmalen Bändchen auf sich, was macht es zu einem derartigen Aufreger? In der Vorrede seiner Klagen eines Juden exponiert Jacoby den jüdischen Schmerz als Zentralaffekt seiner Gedichte und erhebt ihn – ganz dem Zeitgeist entsprechend – zum höchsten Inbegriff des Weltschmerzes: Die Geschichte biete »keinen so tragischen und […] keinen so welthistorischen Schmerz, als er in den Anschauungen und Conflicten der modernen Juden« liege (JK, vi). Als einen solchen inszeniert er sich selbst: Er präsentiert sich als »strenger Jude« im Sinne historischen Nationalbewusstseins und orthodoxer Lebensführung, der aber »christlich gesinnt« sei und an die Notwendigkeit des Christentums für die Vollendung der Geschichte glaube (JK, xii). Diese Verbindung eines »strengen Partikularismus« in Bezug auf jüdische und einer »christlichen Allgemeinheit in Bezug auf europäische Kreise und Interessen« definiert Jacoby als den »Kern der Schmerzen« des modernen Juden (JK, xiv f.); zwischen diesen beiden Polen bewegt sich seine Poetisierung jüdischer Zerrissenheit. In einer Zeit, in der religiöse Versdichtungen Hochkonjunktur haben, sind Jacobys Klagen eines Juden keineswegs vorbildlos. Verschiedene damalige Beobachter stellen sie in einen Kontext mit den überwältigend erfolgreichen Paroles 72 [Joel Jacoby]: Klagen eines Juden. Mannheim 1837 [Sigle JK]; Joel Jacoby: Religiöse Rhapsodien. Blätter für die höchsten Interessen. Berlin 1837; Joel Jacoby: Harfe und Lyra. Seitenstück zu den Klagen eines Juden. Berlin 1838 [Sigle JH]; Franz Karl Joel-Jacoby: Kampf und Sieg. Regensburg 1840. 73 Allgemeine Zeitung von und für Bayern 4:62 (1837). Unpaginiert.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
d’un croyant (1833) von Félicité de Lamennais.74 In gut vierzig lyrischen Ge sängen, die im Duktus biblischer Prophetie und christlich-katholischer Liturgie verfasst sind, verkündet der Abbé in seinen Paroles d’un croyant einen fortschrittlichen, liberalen und sozialen Katholizismus und leitet seinen Bruch mit der Kirche ein.75 Einmal ganz abgesehen von den tiefen inhaltlichen Differenzen zwischen Lamennais’ neo-katholischem sozialrevolutionärem Schwung und Jacobys restaurativem Bekenntnis zum rabbinischen Judentum und zur katholischen Kirche, zeigen sich auch im Formalen erhebliche Unterschiede. Während Lamennais sein Programm dem gemeinen Volk als Erbauungsliteratur zu vermitteln trachtet, indem er seine Paroles d’un croyant stilistisch zwischen Gebet, Predigt und Prophetie in der Schwebe hält, richtet sich Jacoby mit seinen Klagen eines Juden an ein literarisches Publikum und tritt mit ambitioniertem künstlerischen Innovationsanspruch auf. In seiner langen Vorrede, die von vielen Rezensenten als prätentiös empfunden wird,76 berichtet Jacoby ausführlich, wie schwierig es gewesen sei, für den »erhabenen Stoff« des jüdischen Schmerzes eine angemessene Form zu finden, da die in der deutschen Literatur gängigen Muster hier versagten. Die Prosa erreiche keine hinreichende Stilhöhe, der Reim bringe etwas unpassend »Modernes, Pikantes und Wortspielartiges« hinein, und griechische Versmaße seien zu sehr an die »Wesenheit« der klassischen Antike gebunden. Lange habe er gesucht und experimentiert: »Ich wählte erst den gereimten, später den ungereimten Vers in verschiedenen Sylbenfällen; aber beide genügten mir nicht« (JK, xxiii f.). Als er schon habe aufgeben wollen, so schildert Jacoby mit Erweckungspathos, habe er zum Psalter gegriffen, sich »mit aller Inbrunst eines leidenschaftlichen und schmerzlich-ringenden Gefühls […] in die heiligen Gesänge« versenkt (JK, xxv) und den »Parallelismus der Alten« als eine ebenso ursprüngliche wie ideale Ausdrucksform für sein modernes Leid und Weh entdeckt (JK, xxviii). Diese Entdeckung setzt Jacoby in seinen Klagen eines Juden um. Er reizt die Toleranzgrenzen der deutschen Sprache für Wiederholungsstrukturen bis aufs Letzte aus, um seine Dichtungen mit dem parallelismus membrorum zu strukturieren, der im
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Aaron Bernstein [unter dem Pseudonym A. Rebenstein]: Herr Jacoby, ein klagender Jude, als Juden-Ankläger. In: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz 21:29–30 (1837). S. 144, S. 148 und Beilage zu 21:30 (1837). S. 149 f., hier: S. 149; Gutzkow: Rückblicke auf mein Leben, 1875. S. 112; vgl. auch die Sammelrezension im Allgemeinen Repertorium für die theologische Literatur und kirchliche Statistik 7:25 (1839).S. 241–257. 75 [Félicité de Lamennais]: Paroles d’un croyant, 1833. Paris 1834. Vgl. Julian Strube: Ein neues Christentum. Frühsozialismus, Neo-Katholizismus und die Einheit von Religion und Wissenschaft. In: ZRGG 66:2 (2014). S. 140–162, hier: S. 154–160. 76 Eduard Meyen in seiner Rezension für die Literarische Zeitung 4:10 (1837). Sp. 181 f.; Karl Gutzkow: Joel Jacoby [1837]. In: ders.: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg 1838. S. 309–323, hier: S. 313; Carové in seiner Rezension für die Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1:24 (1838). Sp. 191.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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18. Jahrhundert als Strukturprinzip der hebräischen Poesie bestimmt worden war (Kap. 2.1.3). In seiner Konsequenz ist Jacobys ambitionierter Versuch einer Erneuerung der Psalmenform im 19. Jahrhundert singulär. Das spiegelt sich auch in den Reaktionen der Zeitgenossen wider, die durchweg ausdrücklich auf die formale Innovation verweisen und ihr auch einige Anerkennung zollen.77 Gutzkow ist einer der Wenigen, die den Versuch, einen »neuen Psalterion« zu dichten, auf formaler Ebene für missglückt halten, da das Prinzip des Parallelismus im Deutschen – so Gutzkow in einem ironischen Strukturzitat – »sehr schwerfällig, sehr langweilig und sehr ohnmächtig« wirken müsse.78 Zwar mag man aus literaturkritischer Sicht in der Tat befinden, dass Jacobys moderne Psalmen nicht nur inhaltlich, sondern auch formal eine Schmerzgrenze überschreiten. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive aber ist Jacobys Versuch als Ausnahme-Experiment höchst aufschlussreich. Dass hier 1837 ein Autor in einem Erweckungserlebnis die Psalmen als ideale Ausdrucksform für seinen modernen jüdischen Schmerz entdeckt haben will und unter Verzicht auf Metrik (Antike) und Reim (Moderne) mit dem syntaktisch-semantischen Strukturprinzip des Parallelismus eine dritte – als orientalisch markierte – Möglichkeit formaler Gestaltung von Lyrik durch- und vorführt, bringt den eigentümlichen Bedeutungsverlust zu Bewusstsein, den die Psalmen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert erlitten haben. Jacobys Klagen eines Juden zeigen, wie stark das ästhetische Potential einer eigenständig jüdischen Literatur in deutscher Sprache durch die literaturkritischen und wissenschaftspolitischen (Negativ‑)Kanonisierungsprozesse der vorhergehenden Jahrzehnte bestimmt ist (Kap. 2.1 und Kap. 2.3). Nutzt Jacoby in formaler Hinsicht den jüdisch-orientalisch markierten Parallelismus der Psalmen als Strukturprinzip, greift er in motivischer Hinsicht auf das Affektspektrum des babylonischen Exilpsalms zurück, um die Möglichkeitsbedingungen jüdischen Sprechens in der Diaspora zu reflektieren. Der zweite Gesang der Klagen eines Juden variiert die Kommunikationssituation und den affektiven Verlauf des 137. Psalms mit einer Wechselrede zwischen einem christ77 Blätter für literarische Unterhaltung 20:102 (1837). S. 411 f.; Zeitschrift für Philosophie und katholische Theologie 6:3 (1837). S. 139. Carové gesteht Jacoby in seiner Rezension bei aller Kritik zu, den Parallelismus »mit großem Geschick« durchgeführt zu haben (Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1:24 (1838). Sp. 191). Karl Rosenkranz (Aus einem Tagebuch. Königsberg Herbst 1833 bis Frühjahr 1846. Leipzig 1854. S. 208 f.) notiert 1838 in seinem Tagebuch, Jacoby habe »Haller’s Restaurationstheorie in psalmodirende Verse« gebracht. Vgl. auch Max Ring: Erinnerungen. Bd. 2. Berlin 1898. S. 155 f.; Heinrich Laube: Gesammelte Werke in fünfzig Bänden. Hg. von Heinrich Hubert Houben. Bd. 40: Erinnerungen 1810–1840 [1875]. Leipzig 1909. S. 321. 78 Gutzkow: Joel Jacoby, 1837. S. 312 und S. 321 f. Skeptisch äußert sich auch ein Rezensent mit dem Kürzel ›F.v.Schz.‹ über Jacobys Versuch, seinen Schmerz in »gezwungener, dem orientalischen Sprachstil nachgebildeter Prosa« zur Darstellung zu bringen (Bemerker Nr. 1. Beilage zum Gesellschafter 21 (1837). S. 210). Engels (Joel Jacoby, 1840. S. 96) mokiert sich 1840 in Gutzkows Telegraphen für Deutschland über den »Pseudoparallelismus« der Dichtungen Jacobys.
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
lichen und einem jüdischen Sänger (JK, 10–16). In einer Fußnote zeigt Jacoby sich bemüht, die »grellen Töne und die Herbigkeit dieser Elegie« zu rechtfertigen: Im Bestreben, den Gram in all seinen emotionellen Schattierungen zu zeigen, habe er »neben der sanften Melancholie auch den Trotz nicht zurückweisen« dürfen (JK, 10 f.). So apologetisch er in dieser Anmerkung auftritt, verwendet er den 137. Psalm an anderer Stelle doch, um den jüdischen Schmerz bis hin zu einer triumphal-trotzigen Siegesgeste zu überhöhen. Er inszeniert einen Wettgesang der Unsterblichen, in dem zum Schluss auch »des Juden Lied« ertönt: »Und jene Harfe begann zu beben, die einst geklungen hat bei Babels Trauerweiden; und jene Stimme begann zu weinen, die schon Jahrtausende klagt um ihre Kinder« (JK, 60). Nach diesem Klagegesang, den Jacoby mit einer Kaskade von Unsagbarkeitstopoi evoziert, sind sich alle Beteiligten des Wettstreits einig, dass dem jüdischen Sänger der Sieg gebühre: »des Juden Leid, des Juden Lied, das ist die Krone aller Schmerzen. Der Jude soll der König sein, der König sein; der König vom Gram, der König vom Wehe« (JK, 61). Die anagrammatische Engführung von Leid und Lied begründet hier die poetische Überlegenheit des jüdischen Sängers; seine Klage ist »die Krone aller Schmerzen.« Jüdisches Dichten findet dieser Darstellung zufolge im Modus der Klage zu sich selbst. Den derart überhöhten Judenschmerz nun universalisiert Jacoby zum Weltschmerz Europas. Im sechzehnten Gesang gewahrt der Sänger, »daß gleiche Qual und gleicher Schmerz, wie meines Volkes Erbtheil, erfüllt die heutige Welt« (JK, 81). Die Welt sei »zum ewigen Juden geworden« (JK, 81 f.). In diesem universalisierten Sinne erscheinen im sechsundzwanzigsten Gesang die rhetorischen Fragen des 137. Psalms nicht mehr auf die (babylonische) Exilsituation und den Untergang Zions bezogen, sondern auf das Gräber- und Trümmerfeld Europa: Wohl ziemt in düst’rer Zeit ein düst’res Wort, und Blumen sind kein Schmuck für Trauernde. Wie soll ich sagen einen freundlichen Spruch, da mir die Seele bangt in schwermuthsvoller Ahndung? Wie soll ich zum raschen Tanz beflügeln den Fuß, da er über Gräber schwankt und über Trümmer? Wie soll ich flechten einen hellen, einen duftigen Kranz, da es gilt zu schmücken die Todten und die Sterbenden? (JK, 118)
Indem Jacoby seinen Klagen eines Juden in prophetischen Endzeitvisionen ebendie welthistorische und tragische Größe zu verleihen versucht, die er in seiner Vorrede für den modernen Judenschmerz reklamiert, macht er die Funktion des 137. Psalms in der Biedermeierzeit explizit, als Ausdruck von Judenschmerz ein Paradigma des Weltschmerzes zu bieten. Während viele andere jüdische Autoren der Zeit diese Stimmungslage dadurch zu überwinden suchen, dass sie in ihren Dichtungen die Trauerharfen des 137. Psalms feierlich von den Weiden nehmen und aufs Neue zum Klingen bringen (Kap. 4.1), sieht Jacoby »Heil« und »Frieden« aus anderer Richtung aufziehen. Er beschließt den Band mit einem Zerstörungsakt:
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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Da hab’ ich die Trauerharfe zerbrochen, den Grüften und Gräbern sagt’ ich Ade! Mein Thränenfest – das ist vollendet, die Wange glüht vom frischen Morgenhauch. Denn im Preisgesang des Maien-Engels, denn im Glanz der Frühlingsfahne sah ich prangen ein Zeichen, hört’ ich klingen eine Botschaft, die Heil und Frieden, Lust und Jugend ruft in die kranke Menschenbrust. Und komm’ ich wieder, komm’ ich wieder, sollen Heil und Frieden, Lust und Jugend Euch verkünden meine Töne. (JK, 129 f.)
Jacoby nimmt hier die »Trauerharfe« nicht auf, um ihre Tauglichkeit für Freudengesänge zu erweisen, sondern zerbricht sie. Er findet Erneuerung nicht im Judentum, sondern in einer fremden, heil- und friedenbringenden »Botschaft«, die unschwer als Botschaft Christi zu entschlüsseln ist.79 So stellen seine Klagen eines Juden den großangelegten Versuch dar, sich gerade im Klagemodus aus demselben herauszuschreiben und sich gerade mit einer Aktualisierung des Psalmenmodells von der jüdischen Überlieferung zu befreien. In seinem Seitenstück zu den Klagen eines Juden, das Ende 1837 (vordatiert auf 1838) unter dem Titel Harfe und Lyra erscheint, zeigt sich Jacoby ebenso überrascht wie erfreut ob des ungemein großen Nachhalls, den seine Klagen eines Juden und seine Religiösen Rhapsodien gefunden haben. Noch einmal besingt er wortreich seine Hin- und Her-Gerissenheit zwischen Judentum und Christentum, die er jetzt auch als Orientierungskrise zwischen jüdischer Klagetradition und heiterer klassischer Antike inszeniert. So entwirft er das Szenario eines Jünglings, der sich zunächst in heiterem Singen und der Geselligkeit mit Mädchen ergeht (JH, 68). Als er in einer idyllischen Stadt am Rhein durch die Gassen zieht und »auf tändelnder Saite die hellen, die glühenden, die sprühenden Melodien« spielt, gerät er vor ein finsteres Haus. Den heiter-unbeschwerten, sommerlichen Freudenliedern des jungen Sängers prallt hier der »dunkle, morgenländische Klagechor« in einem »Schmerzensruf« mit längst vergessen geglaubten »langen, bangen Trauerweisen« entgegen. Die »längst verhallten Elegien der Väter« erinnern ihn an seine Zugehörigkeit zu diesem Volk. Seinen »Brüdern« lange entfremdet, zieht es den jungen Sänger nun zu ihnen; er betritt das dunkle Haus und sieht dort die ikonische Klagegruppe des 137. Psalms vor sich: »Wie einst die Väter saßen an Babylons Gewässern, wie dort die Greise jammerten, die kinderlosen Mütter weinten,« so klagen auch diese Juden »Jerusalem, Jerusalem!« (JH, 70–72). Verwirrt fragt der Sänger einen Greis, was all dies bedeute. Der schaut ihn mit Verachtung an und erklärt ihm, dass der 9. Av sei, der Tag, »an dem einst fiel Jerusalem, an dem der heilige Tempel sank« (JH, 73). Diese Begegnung führt zur Rückbesinnung des Sängers, er fühlt sich »angeweht vom Geist« und glaubt, »eine Heimath bei Israel, eine Heimath in seinen Klageliedern« gefunden zu ha79 In den Religiöse Rhapsodien bezeugt Jacoby im selben Jahr auf knapp zweihundertfünfzig Seiten seine Hinneigung zur Restauration und zum Christentum, hält »die ewige unsichtbare Kirche« aber noch als transkonfessionelle Chiffre für alle Offenbarungsreligionen offen (Jacoby: Religiöse Rhapsodien, 1837. S. 149).
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ben. Hatte Jacobys Sänger am Ende der Klagen eines Juden noch seine jüdische Trauerharfe zerbrochen und der christlichen Frühlingsbotschaft entgegengeblickt, zerstört er nun ebenso demonstrativ die Embleme klassisch-antiker Heiterkeit – »Da zerriß ich meinen bunten Dichterkranz, da zerbrach ich meine helle Liederlaute« (JH, 76 f.) – und sinkt ins jüdische Klagekollektiv.80 Im folgenden Gesang ruft der Sprecher seinen Freunden zu, sie sollten später »des dunkeln, morgenländischen Mannes« gedenken, »der als Knabe hell die Laute schlug« (JH, 80). In unfreiwillig komischen Versen macht der Sänger explizit, was er mit dieser demonstrativen Umorientierung beweisen will: »Ich bin nicht flach und abgeschmackt, in meiner Seele blüht der Tiefsinn […]; in meiner Rechten brauset die heilige Harfe« (JH, 90). Diese Behauptung von Tiefsinn kommt so trotzig und so gestelzt einher, dass sie als performativer Selbstwiderspruch dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit eine Steilvorlage bietet. Die Wiederannäherung ans verlorene Judentum dient offenbar vor allem dazu, der Sängerfigur die erhabene Größe jüdischen Leids zu verleihen; sie erscheint als (Masken-)Spiel oder Heuchelei, zumal zugleich Kirchenglocken verheißungsvoll durch die Verse von Harfe und Lyra klingen und mit dem Folgeband Kampf und Sieg (1840) dann auch in der Tat die Konversion dokumentiert wird. Mit der Poetisierung seiner religiösen und politischen Seitenwechsel treibt Jacoby nicht nur das vielbeschworene Zerrissenheitsgefühl der Biedermeierzeit auf die Spitze. Er beschwört auch die zu dieser Zeit virulente Frage herauf, wie individuell und national kodierte Gefühle literarisch authentisch vermittelt werden können. Der Theologe Johann Peter Lange macht auf diesen Punkt aufmerksam, wenn er in seiner Rezension der Klagen eines Juden für die Evangelische Kirchen-Zeitung erklärt, dass es geraten sei, zunächst einmal nach dem »subjektiven Ernste« des vorliegenden Werkes zu fragen: In dieser Zeit der Seelenwanderungen, der Gemüthsmetamorphosen, oder der poetischen Spiele mit dem tiefsten Todesernst, und mit dem Heiligen selbst, in einer Zeit, wo sogar ein Byron in Hebräischen Gesängen über die Schmach Jerusalems klagt, wo Göthe als Sufi im westöstlichen Divan ein orientalisches Wohlleben führt, wo Victor Hugo in seinen Orientalen bald im Geiste eines Sultans, bald im Tone eines Arabischen Beduinen singt, wo Rückert als 80 Mit diesen religiös-poetologischen Zerstörungsakten variiert Jacoby ein legendäres Bekehrungserlebnis der katholischen Literaturtradition, das dem bedeutendsten neulateinischen Dichter des 17. Jahrhunderts zugeschrieben wird. Einer mündlich tradierten, seit dem späten 18. Jahrhundert auch schriftlich kolportierten Legende zufolge spielte Jacob Balde als Student in Ingolstadt zu nächtlicher Stunde am Fenster einer schönen jungen Frau, um die er warb, auf seiner Laute. Als er aus einem nahen Kloster den sakralen Gesang des Stundengebets hörte, hielt er erschüttert in seiner weltlichen Liebeständelei inne, zerschlug seine Laute an einer Mauer und beschloss, dem Jesuitenorden beizutreten. Breit ausgemalt wird das Bekehrungserlebnis zum Beispiel bei Johann Baptist Neubig: Bavaria’s Musen in Joh. Jak. Balde’s Oden aus dem Latein in das Versmaß der Urschrift übersetzt. München 1828. S. xvii–xx. Vgl. zum Zusammenhang Günter Hess: Fracta Cithara oder Die zerbrochene Laute. Zur Allegorisierung der Bekehrungsgeschichte Jacob Baldes im 18. Jahrhundert. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 605–631; Hammerstein: Von gerissenen Saiten, 1994. S. 54–66.
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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ein Bramine der Indianischen Flur Sprüche der Weisheit dichtet, und wo beinahe Claus Harms sich hätte verleiten lassen, Makamen in seine Predigten einzuflechten als ein Surrogat des Redens mit Zungen […].81
Lange reiht Jacobys Klagen eines Juden hier in ein ganzes Panorama poetischer Maskenspiele mit religiös und kulturell kodierten Rollen ein, das von Byrons Hebrew Melodies (1815/16) über Goethes West-östlichen Divan (1819), Victor Hugos Orientales (1829) und Friedrich Rückerts Weisheit des Brahmanen (1836–1839) bis hin zu dem durch Makamen-Übersetzungen inspirierten Appell des Kieler lutherischen Pastors Claus Harms reicht, in Zungen zu reden (1833).82 Die Konjunktur von Formen indirekten Sprechens wie der Allegorie, der Ironie und der Rollenrede, die nicht zuletzt durch die restaurative Zensurpolitik bedingt ist, erfährt in der Biedermeierzeit eine zwiespältige Wertung.83 Stehen die Literaturkritiker all den »poetischen Spiele[n] mit dem tiefen Todernst«, wie Lange sie nennt, schon grundsätzlich skeptisch gegenüber, finden sie in Jacobys Klagen eines Juden einen Extrem- und Ausnahmefall vor. Jacoby nämlich macht als Konvertit und Renegat mit seiner irisierenden Autorfunktion den Rollenwechsel selbst zum Thema und verleiht dem orientalistischen Maskenspiel unter Verzicht auf jede Ironie eine existentielle Dimension. Seine Klagen eines Juden sind eine Provokation, weil sie sich jeder eindeutigen Festlegung entziehen und mit exzessiver Ratlosigkeitssemantik auf der Grenze zwischen verschiedenen Sprechpositionen operieren.84 Jacoby hat das Paradoxon, das seine Dichtungen in eine Endlosschleife des Zugehörigkeitskonflikts treibt, schon früh in der radikalliberalen Skizzensammlung Bilder und Zustände aus Berlin (1833) formuliert: »O es ist ein unseliges Gefühl, in dieser christlichen Welt als Jude umhergehen und die verhasste, durch Leiden liebgewonnene orientalische Larve bis ans Grab mit sich schleppen zu müssen«.85 Jacobys Konflikt liegt darin, dass er sein Judentum als eine Maske begreift, die nicht abnehmbar ist. Ordnungskategorien wie Innen/Außen, Sein/Schein, Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit und Identität/Alterität verschwimmen hier. Als Drama des Versuchs, sich die »orientalische Larve« des Judentums wechselweise abzureißen und wie-
Evangelische Kirchen-Zeitung 11:35 (1837). Sp. 274. Claus Harms: Mit Zungen! lieben Brüder, mit Zungen reden! In: Theologische Studien und Kritiken 6:1 (1833). S. 806–828. 83 Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1 (1971). S. 12. 84 Tatsächlich treibt die mäandernde Widersprüchlichkeit der Klagen manche Rezensenten zur Verzweiflung. Ein Rezensent formuliert höflich, dass der Verfasser offenbar »innerlich in einem Zustande größter Zerwürfniß und vieler Widersprüche sich befindet« (Literarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt 8:48 (1837). Sp. 377–379, hier: Sp. 378). Immer wieder werden den Dichtungen pathologische Züge diagnostiziert, so z. B. von Abraham Geiger in der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie 3 (1837). S. 471). Friedrich Engels (Jacoby, 1840. S. 95) ist überzeugt, man habe »einen Halbwahnsinnigen« vor sich. 85 Joel Jacoby: Bilder und Zustände aus Berlin. 2 Bde. Altenburg 1833. S. 4 4. 81
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der aufzusetzen, treiben die Klagen eines Juden ebendie literarischen Glaubwürdigkeitsdiskurse in die Aporie, die sie zu bedienen suchen. Damit lassen sie ein zentrales darstellungsästhetisches Problem der Epoche wie in einem Brennspiegel zutage treten. Vor dem Hintergrund des Postulats, dass eine kulturell und individuell bestimmte Denkart in einer ihr charakteristischen Schreibart verkörpert werden müsse (Kap. 2.1.4), gilt eine Kongruenz von Form und Inhalt als Maßstab poetischer Glaubwürdigkeit; und diese Kongruenz wird seit der Schwerpunktverlagerung vom Nachahmungs- zum Originalitätsparadigma direkt an die Autorfunktion gebunden. Schon in der Rezeption von Byrons Hebrew Melodies tritt dieser Problemzusammenhang hervor. In Kooperation mit dem jüdischen Komponisten Isaac Nathan entstanden, 86 gehören die Hebrew Melodies zu den national kodierten und auf die vermeintliche Authentizität mündlicher Überlieferung setzenden Airs und Melodies, die in diesen Jahrzehnten mit George Thomsons Scottish Airs (1793), Thomas Moores Irish Melodies (1808) sowie zahllosen Nachahmungen und Varianten auf dem britischen Buchmarkt große Erfolge verzeichnen.87 Aus verschiedenen Gründen fallen sie allerdings aus dem Rahmen.88 Ein besonderes Irritationsmoment liegt für die Zeitgenossen darin, dass sich mit Byron ausgerechnet ein für seine Exzentrizität und Frivolität bekannter Autor anschickt, die sakrale hebräische Poesie nachzuahmen.89 In den Reaktionen auf die Hebrew Melodies wird mit besonderer Schärfe der Vorwurf der Scheinheiligkeit (hypocrisy) erhoben, der mit Blick auf den Wertungsmaßstab der Aufrichtigkeit (sincerity) die Rezeption des virtuos in wechselnden Posen auftretenden und hinter diversen Masken sprechenden Autors Byron insgesamt bestimmt.90 Deutlich wird das etwa an Langes spitzer Bemerkung, dass »sogar ein Byron« nun in die Rolle des alttestamentlichen Propheten Jeremia schlüpfe und die Zerstörung Jerusalems beklage. 86 Vgl. für kommentierte Editionen Thomas L. Ashton: Byron’s Hebrew Melodies. London 1972; Lord Byron und Isaac Nathan: A Selection of Hebrew Melodies, Ancient and Modern [1815/16]. Hg. von Frederick Burwick und Paul Douglass. Tuscaloosa/London 1988. 87 Joseph Slater: Byron’s Hebrew Melodies. In: Studies in Philology 49:1 (1952). S. 75–94; Terence Allan Hoagwood: From Song to Print. Romantic Pseudo-Songs. New York, NY 2010. 88 Toby R. Benis: Byron’s Hebrew Melodies and the Musical Nation. In: Romanticism/Judaica. A Convergence of Cultures. Hg. von Sheila A. Spector. Farnham/Burlington 2011. S. 31–44, hier: S. 31 f.; Tom Mole: The Handling of Hebrew Melodies. In: Byron. Heritage and Legacy. Hg. von Cheryl A. Wilson. New York, NY 2008. S. 103–113. 89 Jeremy Davies: Jewish Tunes, or Hebrew Melodies. Byron and the Biblical Orient. In: Byron and Orientalism. Hg. von Peter Cochran. Newcastle 2006. S. 197–214. 90 Angela Esterhammer: The Scandal of Sincerity. Wordsworth, Byron, Landon. In: Romanticism, Sincerity and Authenticity. Hg. von Tim Milnes und Kerry Sinanan. Basingstoke 2010. S. 101– 119; Jerome McGann: Byron and the Anonymous Lyric [1992]. In: ders.: Byron and Romanticism. Hg. von James Soderholm. Cambridge 2002. S. 93–112; Anastasia Risch: »... wir schaffen aus Ruinen«. Der Byronismus als Paradigma der ästhetischen Moderne bei Heine, Lenau, Platen und Grabbe. Würzburg 2013. S. 95–109; Nicole Frey Büchel: Perpetual Performance. Selfhood and Representation in Byron’s Writing. Tübingen 2007. Vgl. allgemein auch Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. Cambridge, MA 1972.
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Vor diesem Hintergrund nun bemängelt Lange an Jacobys Klagen eines Juden ein Übergewicht des Formwillens gegenüber der Tiefe ihres inhaltlichen Gehalts. Damit ist er nicht allein. Die Feststellung einer Diskrepanz zwischen Form und Inhalt läuft wie ein roter Faden durch die Beurteilungen der Klagen eines Juden.91 So kommt beispielsweise der jungdeutsche Literaturkritiker Ferdinand Gustav Kühne zu dem Ergebnis, dass Jacoby »ein falscher Prophet, und ein ebenso falscher Dichter« sei, weil aus »der reichen und oft mächtig brausenden Diction dieser Psalmodie […] ein ziemlich dürres und durchlöchertes Glaubensbekenntnis« hervorblicke.92 Das Glaubwürdigkeitsproblem Jacobys soll nun noch einmal genauer ausgehend vom ersten Gesang der Klagen eines Juden in den Blick genommen werden. Der moderne jüdische Sprecher tritt aus seinem Kollektiv heraus und wendet sich eingangs mit einer Zurechtweisung an die Christen: Ihr singet von Euren Schmerzen, Ihr singet Euer Weh und Ihr singt von Eurem Gram. Eure Schmerzen sind erheuchelt, das Weh ist erfunden und Euer Gram ist nichtig. Denn das Heil ist Euch verliehen und der Trost ist über Euch gekommen. (JK, 1)
Über mehrere Strophen hinweg, immer wieder auf die affektive Trias von Schmerz, Weh und Gram zurückkommend, die den gesamten Band durchzieht (vgl. z. B. JK, 17 f. und 51 f.), präsentiert sich der Sprecher nach diesem Auftakt als der strenge, aber christlich gesinnte Jude der Vorrede: Er kenne den christlichen Gott der Liebe, seine »trostlose Seele« strebe in »wilden Schmerzen« nach ihm (JK, 6), aber sein Gott, der Eifersüchtige, verbiete es: »Mein Gott ist der Gott des Gerichtes und des Zornes« (JK, 5). Und so bleibe er ohne Erlösung, ohne Freiheit, ohne geschichtliche Entwicklung im Zustand der Trostlosigkeit, der Knechtschaft und der Starre: Ich habe keinen Gott der Liebe, der sich meiner erbarmet und der mich erlöset hat. […] Ich bin der Knechtschaft nicht entbunden, und die Freiheit ist mir nicht verheißen. […] Für mich waltet keine versöhnende Geschichte und keine fortschreitende Entwicklung. (JK, 5)
Jacoby inszeniert seinen jüdischen Sprecher in einem christlichen heilsgeschichtlichen Deutungsrahmen als Ahasver, indem er seinen ewigen Schmerz und seine ewige Wanderschaft in der Unerlöstheit durch Christus begründet. Der Sprecher
91 Friedrich Wilhelm Carové etwa staunt, wie »ein so ausgezeichnetes Talent in so ungeheure Geistesverwirrung verfallen« und seine »Gedanken- und Gefühls-Verwirrung […] mit so ernster, psalmodisch-pietistischer Miene« darbieten könne (Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1:23–25 (1838). Sp. 191 und Sp. 200). Ein anderer Rezensent vergleicht den »höchst widrigen Eindruck« der Klagen eines Juden mit dem, »was man empfindet, wenn ein gebildeter Tollhäusler in schöner Sprache mit vielen halblichten Momenten sein Schicksal beklagt« (Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 54:50 (1838). S. 11 f.). 92 [Ferdinand Gustav Kühne]: Christen und Juden. In: Zeitung für die elegante Welt 37:102–103 (1837). S. 405–408 und S. 411 f., hier: S. 412.
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erscheint eingesperrt in sein Judentum, während den Christen »Heil« und »Trost« zuteilwird.93 Die Vorstellung jüdischer Unerlöstheit nun nimmt der Sprecher zur Grundlage, um den Christen die Empfindung von Schmerz, Weh und Gram abzusprechen. In einer trotzig-wütenden Volte der Verneinung und Verachtung reklamiert der Sprecher, darauf steuert der Gesang zu, den Ausdruck von Schmerz allein für sich als jüdischen Sänger: Was singet Ihr von Euren Schmerzen, was singet Ihr Euer Weh, und was singet Ihr von Eurem Gram. Ich will Euch singen vom gramreichen Schmerz, mein schmerzliches Weh will ich Euch singen, meinen wehevollen Gram. Denn mein Schmerz ist der König des Grams, mein Wehe ist die Krone der Schmerzen, und mein Gram ist der Gipfel des Wehes. (JK, 9)
In chiastischer Hyperbolik und emphatischen Parallelismen sucht der Sprecher hier seinen mangelnden Trost mit der Größe seines Leids zu kompensieren und die christlichen Weltschmerz-Dichtungen mit der Monumentalität des Judenschmerzes zu übertrumpfen. Mit dieser Inszenierung jüdischen Leids provoziert Jacoby einen jüdischen Gegengesang, der Anfang Oktober 1837 mit einer Titeladresse An den klagenden Juden in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums erscheint. Der Verfasser, der mit »Berlin / W.O.« zeichnet, widerlegt in einem variierenden Rewriting Schritt für Schritt die Postulate der ersten Klage eines Juden. Den an die christlichen Dichter gerichteten Vers Jacobys (»Ihr singet von Euren Schmerzen, Ihr singet Euer Weh und Ihr singt von Eurem Gram«) beantwortet der anonyme Berliner Einsender mit einer korrigierenden Verneinung: »Sie singen wohl, – doch nicht von ihren Schmerzen, / Sie singen nicht von ihrem Weh und Gram.« Der folgende Vorwurf an die Christen (»Eure Schmerzen sind erheuchelt, das Weh ist erfunden und Euer Gram ist nichtig«) wird in der Antwort aus Berlin direkt auf den klagenden Juden selbst umgelegt: »Dein Schmerz? Er ist erheuchelt – nicht im Herzen, / Erfunden ist dein Weh, nichtig dein Gram!« Anstelle von Jacobys hyperbolischer Trias (»König des Grams«, »Krone der Schmerzen« und »Gipfel des Wehes«) sieht der Berliner Autor in den Klagen eines Juden das »jämmerliche Psalmenjammern« eines Verwirrten, der sich nicht entscheiden könne, ob er »Jude oder Christ« sein wolle. Höhnisch wird Jacobys Klage aufgegriffen, er habe »keinen Gott der Liebe« und sein Gott sei »kein Erbarmer«, um als lachhafte Privatidiosynkrasie abgeschmettert zu werden: »Dann Gott erbarm’! dann ist’s Jacoby’s Gott!« Nach einigen launig-aggressiven Versen, die Jacobys Zerrissenheits
93 Angesichts dieser Eröffnungsverse erscheint es nur folgerichtig, dass man in Jacoby den Ewigen Juden »in concreter Gestalt« sieht und ihn zum »Ahasver des 19. Jahrhunderts« erklärt (Zeitschrift für Philosophie und katholische Theologie 6:3 (1837). S. 139).
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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pathos ins Lächerliche ziehen, endet das Gegengedicht mit der Versicherung, dass das Haus Israel vor derlei knabenhaften Angriffen wohlgeschützt sei.94 In seiner Vehemenz und in seinem zügellosen Spott lässt dieser Gegengesang allerdings erahnen, welch eine Bedrohung Jacoby darstellt, indem er öffentlich als Jude spricht. Mit der Replik »Dein Schmerz? Er ist erheuchelt« benennt der Berliner Anonymus den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Kontroverse um Jacoby: seine in Frage stehende Glaubwürdigkeit. Während Jacoby im konservativen und katholischen Lager – oft verbunden mit expliziten Hoffnungen auf seinen baldigen Übertritt zum christlichen Glauben95 – für seinen authentischen Ausdruck jüdischer Zerrissenheit gepriesen wird,96 lautet das nahezu einhellige Urteil aller anderen christlichen und jüdischen Beobachter auf Heuchelei.97 So kann Friedrich Wilhelm Carové in seiner Besprechung für die Hallischen Jahrbücher nur einen »fingirten Schmerz« in Jacobys Klagen erkennen;98 ein Frank furter Rezensent zeigt sich in Abraham Geigers Wissenschaftlicher Zeitschrift für jüdische Theologie angewidert von dem »erheuchelten Schmerz, Jude sein zu müssen und nicht Christ sein zu dürfen.« Die von Jacoby bezogene Position als streng orthodoxer, aber christlich gesinnter Jude erscheint als eine unmögliche und mithin unglaubwürdige: Jemand, der wie Jacoby »rabbinischer Jude sein und eine christliche Weltordnung anerkennen« wolle, kenne »weder die Ansichten, welche der erstere hat, noch die Ansprüche, welche die andere macht.«99 Als ein Protagonist der literarischen Judenschmerz-Mode wird der Verfasser der Klagen eines Juden zur Zielscheibe derjenigen liberalen jüdischen Autoren und Literaturkritiker, die eine das Judentum selbstbewusst bejahende Position in der deutschen Literatur zu finden suchen. So wettert der liberale Rabbiner Ludwig Philippson 1838 in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums gegen die falschen Juden, die vom Weltenweh und Weltenschmerz, vom Judenweh und Judenschmerz leiern und psalmodieren. Diese Alle, entnervte Seelen, in deren Herzkammer nicht ein Tropfen des warmen Lebensblutes des Judenthums pulsirt, die, weil sie eben thränen wollen, sich an die Bäche von Babel versetzen, die wir längst nicht mehr kennen und bewandeln, […] diese 94
AZJ 1:80 (1837). S. 319 f. Zeitschrift für Philosophie und katholische Theologie 6:3 (1837). S. 135–142; Zeitschrift für Theologie 2:6 (1841). S. 146–224; Literarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt 8:48 (1837). Sp. 377–379. 96 So ist etwa davon die Rede, dass in Jacobys Klagen eines Juden »nichts Gemachtes, Angekünsteltes zu Tage komme, sondern ächte Naturtöne aus tiefster Brust« (Berliner politisches Wochenblatt 37:7 (1837). S. 39); ein anderer Rezensent findet, das Dichtwerk sei von »seltener Lauterkeit der Empfindung im Innern« (Blätter für literarische Unterhaltung 20:102 (1837). S. 411 f.). Wolfgang Menzel lobt das »Darstellungstalent« des Verfassers und spielt Jacobys Klagen gegen die vermeintlichen »Extravaganzen« Heines aus (Morgenblatt für gebildete Stände 31 (1837). Literatur-Blatt 94. S. 373–375). 97 Vgl. z. B. Gutzkow: Joel Jacoby, 1837. S. 312; Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 54:50 (1838). S. 11 f. 98 Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1:23–25 (1838). Sp. 193 und Sp. 200. 99 Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 3 (1837). S. 474. 95
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Alle wissen vom Judenthume so wenig, daß man sie als Juden verachten muß. Wir haben diese Richtung von Anfang an von uns gewiesen.100
Philippsons Forderung, dass man diese »falschen Juden« als Juden »verachten« müsse, lässt erahnen, warum gerade Jacoby besonders großes Aufsehen und besonders vehementen Widerspruch erregt: Er eignet sich nicht – wie etwa Byron – als nichtjüdischer Autor den modischen Affekt des sogenannten Judenschmerzes an, sondern beansprucht für sich, als Jude für die Juden sprechen zu können. Im Kontext der intensiven Debatten, die im 19. Jahrhundert unter dem Druck von Emanzipationspolitik, reformerischen Bewegungen und steigenden Konversionsraten über Inhalt, Bedeutung und Wesen des Judentums geführt werden, bedroht er damit das Ansehen der jüdischen Gemeinschaft. Philippson unternimmt deshalb in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums einen regelrechten Feldzug gegen ihn.101 Als positive und glaubwürdige Gegenfigur, die für eine Überwindung unproduktiven Jammers durch jüdische Glaubensgewissheit einsteht, würdigt Philippson den Hamburger Arzt, Philosophen und Dichter Salomon Ludwig Steinheim.102 4.2.4 Verheißung des Westens Steinheims Gesänge aus der Verbannung (1829/1837) und der Affekt der Freude Salomon Ludwig Steinheims Gesänge aus der Verbannung werden 1837 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums als ein Pionierwerk gefeiert. Bisher, so hebt die Rezension an, habe sich »die deutsch-jüdische Muse« jenseits der Prosa entweder – wie in Steinheims Epos Sinai – auf die Schilderung »uralte[r] Zustände« beschränkt oder – so in den reformerischen Gesangbüchern – »alle edle stolze Eigenthümlichkeit« der modischen Angleichung preisgegeben. Demgegenüber sei es Steinheim in seinen Gesängen aus der Verbannung nun gelungen, eine »israelitische[ ] Zeitpoesie« zu schaffen, die sich in selbstbewusster Eigenständigkeit den Herausforderungen der Gegenwart stelle. Er sei der erste, der »als Jude in der deutschen literarischen Welt« auftrete und anstelle von ewigem Schmerz und unfruchtbaren Klagen auf überraschende und mitreißende Weise »eine Emancipation des innersten jüdischen Lebens« poetisch vollziehe. Damit gelinge es ihm, 100
AZJ 2:114 (1838). S. 460. Am 20. Dezember 1837 schreibt er an seinen Bruder Phöbus, er müsse Jacoby »ernstlich litterarisch totschlagen« (zitiert nach Meyer Kayserling: Ludwig Philippson. Eine Biographie. Leipzig 1898. S. 75 f.). Am 4. Januar 1838 bringt er eine vernichtende Kritik des Gedichtbands Harfe und Lyra (AZJ 2:2 (1838). S. 8), wenig später eine ausführliche Aburteilung (Literarisches und homiletisches Beiblatt der AZJ 2:1–2 (1838). S. 2 f. und S. 6 f.; AZJ 2:12 (1838). S. 46 f.). 102 Philippson druckt 1843 Steinheims Straflied aus den Gesängen aus der Verbannung (1837) ab, um den jüngsten Schmähungen des Judentums, »die aus dem Schooße desselben selbst hervorgegangen« seien, etwas entgegenzusetzen (AZJ 7:45 (1843). S. 675 f.). Vgl. auch die Würdigung von Abraham Geiger: Salomon Ludwig Steinheim. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 10 (1872). S. 285–292, bes. S. 286. 101
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diejenigen anzusprechen, die »die lebendige Judenheit« bildeten. Wie Gutzkow »Judenthat« statt »Judenschmerz« fordert,103 so sieht der mit ›B.C.‹ zeichnende Rezensent in Steinheim das Potential, statt die sattsam bekannten »Judenthränen« auszulösen, »ein lebensfrohes gottbewußtes Israel« zu befördern, »das seinen Beruf in der durchlebten Vergangenheit und in der anbrechenden Zukunft begriffen hat, und danach thut!«104 Damit bietet der Rezensent eine wirkungsästhetische Reformulierung des ideologischen Standpunkts und literaturpolitischen Anspruchs, mit denen Steinheim selbst in seinem Gedichtband auftritt und sich, wie nun nachvollzogen werden soll, gegenüber Jacoby profiliert. Nachdem Steinheim 1823 mit seinem Sinai das erste jüdische Mose-Epos in deutscher Sprache mit in Morgenlicht getauchtem Erneuerungspathos eröffnet hat (Kap. 4.1.2), setzt er sein Projekt, eine eigenständige jüdische Sprechposition in der deutschen Literatur zu finden, mit kürzeren lyrischen Texten fort, die in verschiedenen jüdischen und nichtjüdischen Periodika erscheinen.105 1829 veröffentlicht er den zu Wohltätigkeitszwecken bestimmten Gedichtband Gesänge aus der Verbannung, welche sang Obadiah ben Amos, im Lande Ham;106 1837 erscheint er in einer zweiten, erweiterten Auflage für ein breiteres Publikum.107 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, baut Steinheim in diesem Gedichtband das schon am Anfang des Sinai-Epos programmatisch gesetzte und performativ vollzogene Moment der glaubensgewissen Freude zum affektiven Kern authentischer jüdischer Literatur aus. Die Behauptung eines spezifisch jüdischen, religiös in seiner Deutung der Offenbarungslehre begründeten Gefühlswissens dient ihm dazu, sich von Byrons Hebrew Melodies und Jacobys Klagen eines Juden abzugrenzen und ihnen gegenüber Glaubwürdigkeit für sich zu reklamieren. In den Gesängen aus der Verbannung präsentiert Steinheim den Sänger Obadiah ben Amos, der schon im Untertitel des Sinai-Epos – Gesänge von Obadiah, 103
Gutzkow: Julius Mosens Ahasver, 1838. S. 161. AZJ 1:79 (1837). S. 315 f. 105 Vgl. einen Hymnus aus dem Sinai sowie Herold des Sommers, Die Flöte und An meinen Freund im schleswig-holsteinischen Taschenbuch Eidora 1 (1823) S. 10–12, S. 50 f., S. 272 f. und S. 369; die Gedichte Lied der Liebe, Sholion, Der Aeronaut sowie einige Gesänge Obadiahs des Sohnes Amos in Eidora 4 (1826). S. 127–129, S. 163–165 und S. 216–225; Gesänge Obadiah’s in: Der Jude 1:4, 1:7 und 1:15 (1832). S. 25, S. 49, S. 113 f. Steinheims Gedichte Israel in der Verbannung und Straflied werden auch in eine wichtige Anthologie aufgenommen: Libanon. Ein poetisches Familienbuch. Hg. von Ludwig August Frankl. Wien 21855. S. 249 f. 106 Salomon Ludwig Steinheim: Gesänge aus der Verbannung, welche sang Obadiah ben Amos, im Lande Ham. Zum Besten für Beförderung zünftigen Handwerks unter den Israeliten allhier. Altona 1829. Am 18. Juni 1832 schickt Steinheim ein Exemplar zusammen mit anderen Veröffentlichungen an einen Freund aus Studientagen, den Kieler Theologieprofessor August Detlev Twesten (Salomon Ludwig Steinheim und Johanna Steinheim: Briefe. Hg. von Jutta Dick und Julius H. Schoeps. Hildesheim 1996. S. 48). 107 Salomon Ludwig Steinheim: Gesänge aus der Verbannung, welche sang Obadiah ben Amos, im Lande Ham. Auf ’s neue herausgegeben. Frankfurt am Main 1837 [Sigle SG]. Anders als Steinecke (Steinheim, 2002. S. 73) behauptet, handelt es sich bei den Gesängen aus der Verbannung keineswegs um »eine Art Kurzform« einer Episode aus dem Gesamtgeschehen des Sinai-Epos. 104
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dem Sohne Amos – als fiktiver Verfasser angegeben war, als pseudo-historische Figur, die im Alexandria des 3. Jahrhunderts v. d. Z. lebt. Steinheim zieht sich auf die Rolle des Herausgebers und Rahmenerzählers zurück und maskiert seine eigene Autorschaft in der Sängerfigur: In den Erläuterungen für das größere Publikum, die Steinheim der zweiten Auflage hinzufügt, erklärt er unter Anspielung auf seinen eigenen ursprünglichen Namen Salomon Levi108 und sein Epos, Obadia ben Amos sei »ein unbekannter Dichter aus dem Stamme der Leviten«, der auch ein »größeres Gedicht« unter dem Titel Sinai verfasst habe (SG, 89). Im zwölften Regierungsjahr des Pharaos Ptolemaios II. Philadelphos, so die von Steinheim entworfene situative Rahmenstruktur, ruft Obadiah ben Amos seinen Sohn Eliakim zu sich und trägt ihm auf, in den Morgenstunden der folgenden Tage zu ihm zu kommen, um Gesänge niederzuschreiben, die er ihm diktieren werde. Dieses Rollenspiel hat eine historische Reflexionsfunktion. Denn in den Gesängen aus der Verbannung wird mit zahlreichen Andeutungen nahegelegt, die Situation der Juden im Deutschland der Gegenwart in derjenigen der Juden im hellenistischen Alexandria zu spiegeln. In beiden Zeit-Räumen versuchen Juden die Bürgerrechte zu erlangen und ihre eigenen Traditionen und Überlieferungsbestände in die herrschende Kultur und Sprache zu übersetzen, sie passen ihre Namen an, kommunizieren auf Griechisch bzw. Deutsch und übersetzen die Tora in diese Sprachen.109 So können sich Steinheims Leser bei Obadiahs Kommentar über die Septuaginta (SG, 57) an die kontroversen Debatten um Mendelssohns Übersetzung der Tora ins Deutsche erinnert fühlen. Die mit solchen so ziokulturellen Veränderungen einhergehende Bedrohungswahrnehmung von Entfremdung, Konversionswellen und einer daraus folgenden Auflösung des Gemeindezusammenhalts, die im frühen 19. Jahrhundert nicht nur Rabbiner notorisch beschwören, wird in Obadiahs Gesängen eingehend thematisiert. Obadiah diktiert Gesänge des »Unmuths« ob der Verfälschung der reinen monotheistischen Offenbarung und des Glaubensabfalls (SG, 32); er singt ein Straflied gegen den Abtrünnigen, der seine Vorfahren und seine Sitten verleugne (SG, 37 f.). Das Gedicht Der Wiederkehrende veranlasst Eliakim zu einem tiefen Seufzer: »Auch ihm war«, vermerkt Steinheim in der Rolle des Herausgebers, »ein Freund entfremdet, aber nicht wiedergekehrt« (SG, 15 f.). Wie der Zuhörer Eliakim die Gesänge seines Vaters auf seinen eigenen Erfahrungshorizont bezieht, so können und sollen auch Steinheims jüdische Leser die Gesänge des hellenistischen Juden Obadiah auf ihre eigene Lage im 19. Jahrhundert beziehen, die von einem zähen 108
Vgl. zu den Umständen der Namensänderung Arno Herzig: Salomon Ludwig Steinheims Herkunft aus dem Westfalen des Ancien régime. In: »Philo des 19. Jahrhunderts«. Studien zu Salomon Ludwig Steinheim. Hg. von Julius H. Schoeps u. a. Hildesheim 1993. S. 225–252, bes. S. 234. 109 Victor Tcherikover: Hellenistic Civilization and the Jews. Jerusalem/Philadelphia, PA 1959. S. 344–377; Harald Hegermann: The Diaspora in the Hellenistic Age. In: The Cambridge History of Judaism. Hg. von William David Davies u. a. Bd. 2. Cambridge 1989. S. 115–166.
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Kampf um Emanzipation geprägt ist. So macht Steinheim mit seinen Gesängen aus der Verbannung ein epochengeschichtliches Reflexionsangebot. Beide Dia spora-Situationen werden als gefährliche Übergangszeiten ineinander geblendet, in denen »der Druck gemäßigt, aber nicht gehoben; oder die Freiheit nahe, aber nicht völlig erreicht ist.« In einer solchen Zeit, erklärt Obadiah, gerate alles aus den Fugen und dem Judentum drohe dadurch Gefahr, dass »keine Furcht mehr zurückhält, keine Hoffnung mehr stärkt« (SG, 58). Er könne nur darauf setzen, dass – so der deutliche Appell an Steinheims jüdische Leser – spätere Generationen das Bewusstsein ihrer Berufung auch in solchen unruhigen Umbruchszeiten nicht verlieren werden. Was hat es aber mit dieser jüdischen Berufung auf sich? Obadiah erklärt seinem Sohn Eliakim, die Milde des Königs, die Freilassung der jüdischen Kriegsgefangenen und die Übersetzung der Heiligen Schrift ins Griechische hätten in ihm die Hoffnung geweckt, dass die jüdische Offenbarung bald allen Menschen zuteilwerde, sich also der Glaube an den einzigen Gott in der ganzen Welt verbreiten werde und die Erfüllung aller Verheißungen in Aussicht sei. Einige Gesänge sind in diesem Sinne der »Freude« gewidmet, die Obadiah »empfand über die Hoffnung einer großen Verbreitung der Offenbarung Sinais« (SG, 30). Dahinter steht eine ganze religiöse Weltanschauung. Steinheim präsentiert die Zerstreuung der Juden als »jüdische Sendung«, die alle Menschen zur »Wahrheit der Lehre Moses« führen solle (SG, 46). Mit dem Babylonischen Exil habe das Volk Israel zu seiner Berufung gefunden, »ein Lehrer der Völker zu seyn und die Lehre des freien Geistes rund um die bewohnte Erde durch sein lebendiges Beispiel zu tragen und sie ringsum zu begründen« (SG, 45). Steinheim bringt das auf die Formel, dass Israel auf Erden ein »Pilgrim« Gottes sei: »Unser Volk wird wandern in Knechtesgestalt, sich zerstreuen, und ein Pilgrim sein hienieden, um dort einst Bürger zu werden« (SG, 2). Die religionsphilosophische Pointe dieser Denkfigur liegt darin, dass sie den Widerspruch zwischen der an einen historischen Zeitpunkt gebundenen religiösen Offenbarung und der philosophischen Auffassung menschheitsgeschichtlicher Entwicklung aufzulösen beansprucht.110 Während das Judentum in der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts als anachronistisch aus der Antike in die moderne Welt hineinragender partikularistischer Fremdkörper gilt,111 der eigentlich durch das Christentum hätte aufgelöst werden müssen, versucht Steinheim die universalgeschichtliche Bedeutung des Judentums mit einem eigenwil-
110
Die offenbarte Religion folge, so erklärt Steinheim, nicht einer organischen Geschichtsentwicklung, sondern einer epistemischen; sie habe »ihre Geschichte in Absicht auf die Erkenntniss« der Offenbarungslehre (Salomon Ludwig Steinheim: Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge, ein Schiboleth. Bd. 1. Frankfurt am Main 1835. S. 28). 111 Hans Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber. Tübingen 1967.
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ligen epistemologischen Begriff der Weltmission zu erweisen.112 Diese Mission fasst er in die Metapher eines Stroms, der von seiner Quelle im Osten westwärts ziehe, »wachsend, von neuen Quellen und Bächen genährt« (SG, 2). So definiert Steinheim die Berufung des Judentums als eine Bewegung von Zion weg hinaus in die Welt. Die Gesänge aus der Verbannung sind damit zwischen einer ostwärts gerichteten trauernden Sehnsucht nach Zion und einer westwärts gerichteten sendungsbewussten Hoffnung auf weltgeschichtliche Erfüllung aufgespannt. So beschreibt Obadiah im Gedicht Die Doppelquelle den Fluss seiner Tränen als einen mal schmerzlichen, mal tröstlichen Strom in wechselnder Richtung: Bei Sonnenaufgang fließen seine Tränen aus dem östlichen »Lande der Väter«; gen Abend aber, wenn das Licht »gen Westen sich neigt«, fließen sie nach dem »Lande der Freiheit« (SG, 7 f.). Ist der Osten chronotopisch mit Zion als Herkunftsort der Juden eindeutig fixiert, hat der Westen in Steinheims Gesängen den Charakter einer irisierenden Chiffre, hinter der momentweise Amerika, Italien und Frankreich aufscheinen.113 Vor dem Hintergrund seiner Bestimmung des jüdischen Offenbarungsbegriffs als in die Welt zu tragendes Prinzip lässt Steinheim seinen Obadiah in den Gesängen aus der Verbannung kein Bekenntnis zur hellenistischen alias deutschen Heimat formulieren, wie es zahlreiche Festgesänge der jüdischen Reformbewegung (Kap. 4.1.1) tun. Vielmehr propagiert Obadiah die Emigration gerade im Moment einer – wenn auch langsamen, von Widerständen und Rückschlägen geprägten – Verbesserung der jüdischen Lebensbedingungen. Er will weder in Alexandria bleiben noch ins Land der Väter gen Osten zurückkehren, sondern in die entgegengesetzte Richtung, gen Westen, ziehen. Nachdem er Eliakim seine Gesänge diktiert hat, brechen Vater und Sohn tatsächlich in Richtung des süditalienischen Tarents – »einer schönen Stadt der damals mächtigen Römer« (SG, 75) – auf. Dieses sendungsbewusste Reiseprogramm nun setzt Steinheim auch persönlich um. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner Gesänge aus der Verbannung erklärt Steinheim, er habe dieselbe auf einer Reise, die derjenigen Obadiahs und Eliakims »nicht unähnlich« gewesen sei, »in traulich-innigem Zusammenleben« mit seinem Freund Gabriel Riesser vorbereitet (SG, xiv).114 Entsprechend widmet er dem Rechtsanwalt und Kämpfer für die jüdische Emanzipation diese zweite Ausgabe in Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Tage im kurhessischen 112 Vgl. das Kapitel Sieg der Offenbarung als Weltreligion in Steinheim: Die Offenbarung, 1835. S. 358–364. 113 Hinter dem Sohn des Meeres etwa, der ahnend »gen Westen« schaut und schließlich die »neue Veste des Niedergangs« betritt (SG, 19 f.), lässt sich Kolumbus vermuten. Das Neue Vestland wird im gleichnamigen Gedicht als Abendland und Land der Freiheit besungen (SG, 24). 114 Riesser hat die Drucklegung in Frankfurt besorgt. Vgl. Riessers Briefe an Steinheim vom 10. Juni 1837 und vom 3. August 1837 (Gabriel Riesser: Briefe an Salomon Ludwig Steinheim. Hg. von Marcus Brann. In: Jahr-Buch zur Belehrung und Unterhaltung 47 (1899). Beigabe zum Jüdischen Volks- und Haus-Kalender für das Jahr 1900. S. 51–107, hier: S. 63 f. und S. 67).
4.2 Jüdische Zerrissenheit?
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Bockenheim bei Frankfurt am Main, das Riesser sich kurz zuvor aufgrund der drückenden Verhältnisse in Hamburg als neuen Wohnort gewählt hatte.115 Was aber soll nun an dem Besuch Steinheims bei Riesser in Bockenheim Obadiahs und Eliakims Reise nach Tarent ähnlich sein? Steinheims Andeutungen müssen rätselhaft bleiben und prätentiös erscheinen, solange man nicht um seine privaten Umstände weiß. Er und seine Frau hegen 1836 den Plan, nach Frankreich auszuwandern, und lösen Anfang 1837 ihren Haushalt in Altona auf.116 Sie halten sich einige Zeit in Heidelberg und anderen Orten in Süddeutschland auf und sind im Mai 1837 bei Gabriel Riesser in Bockenheim zu Gast. Schließlich kehren sie nach Altona zurück, statt nach Frankreich zu emigrieren.117 Ihr Fortgang und ihre Rückkehr werden zu einer öffentlichen Angelegenheit. Im ersten Heft der Altonaer Zeitschrift Der Freihafen, die der jungdeutsche Schriftsteller Theodor Mundt herausgibt, wird im März 1838 eine ausführliche Meldung zur Rückkehr Steinheims nach Altona eingerückt, die Philippson wenig später in seiner Allgemeinen Zeitung des Judenthums nachdruckt.118 »Der bekannte Arzt und Schriftsteller Dr. Steinheim«, heißt es da, habe vor wenigen Wochen von Neuem seinen Wohnsitz in Altona erwählt. Wir freuen uns, daß dieser ausgezeichnete Mitbürger eine Verstimmung, die ihm vor einiger Zeit eine Auswanderung aus der Heimath wünschenswerth machte, jetzt überwunden zu haben scheint. Dr. Steinheim wandte sich nämlich von hier fort, aus Ueberdruß an den bürgerlichen Verhältnissen seiner jüdischen Glaubensgenossen, die sich in hiesigen Gegenden allerdings noch nichts weniger als erfreulich anlassen.
Mit dieser Erklärung werden Steinheims Auswanderungspläne zu einem emanzipationspolitischen Symbolakt erklärt, der auf die schlechten »bürgerlichen Verhältnisse« der Juden in Hamburg und Altona aufmerksam macht. Die freudige Nachricht, dass Steinheim seine »Verstimmung« überwunden habe und zurückgekehrt sei, gibt Anlass für eine starke Kritik an den beiden Städten, die mit ihrer diskriminierenden Politik die dort ansässigen Juden zur Auswanderung trieben und so riskierten, »ausgezeichnete Mitbürger« wie Steinheim und Riesser, der vor einigen Jahren »aus einem ähnlichen Gefühl der Mißstimmung« seine Verhältnisse in Hamburg aufgegeben habe, zu verlieren.119 Vgl. zum Kontext Mosche Zimmermann: Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Juden in Hamburg, 1830–1865. Hamburg 1979. 116 Vgl. Riessers Brief an Steinheim vom 20. September 1836 (Riesser: Briefe, 1899. S. 59). 117 Vgl. Riessers Brief an Steinheim vom 13. April 1838 (Riesser: Briefe, 1899. S. 68 f.); ferner einen Brief der jungen Ottilie Assing, die mit den Steinheims befreundet ist, an Theodor Mundt (zitiert bei Jutta Dick: Emanzipiert aber keine Frauenrechtlerin! Ottilie Assing, ein engagiertes Leben zwischen Europa und Amerika. In: Salondamen und Frauenzimmer. Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten. Hg. von Elke-Vera Kotowski. Berlin u. a. 2016. S. 39–52, hier: S. 41). 118 AZJ 2:36 (1838). S. 145. 119 Der Freihafen 1:1 (1838). S. 215–217. 115
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Werden Steinheims Migrationsbewegungen hier von liberaler Seite als politisches Druckmittel benutzt, begreift Steinheim selbst sie offenbar als konkrete Umsetzung seiner Auffassung von der weltgeschichtlichen Mission des Judentums. Die Steinheims kehren zwar Ende November 1837 nach Altona zurück, geben ihre Auswanderungspläne aber nicht auf. 1845 ziehen sie schließlich nach Italien,120 wo sie jahrelang in möblierten Wohnungen leben. Nur zweimal kehren sie für kurze Reisen nach Deutschland zurück.121 Steinheim vollzieht gemeinsam mit seiner Frau ebendie jüdische Sendung, die er in seinen Gesängen aus der Verbannung und in seinem religionsphilosophischen Werk über den Offenbarungsbegriff postuliert; er macht seinen eigenen Körper zu einem Zeichen politischen Unmuts, indem er als »Pilgrim« Gottes agiert. Die Funktion des Westens als verheißungsvolle Chiffre schlägt sich in den Suchbewegungen nieder, die die Steinheims in Richtung Süddeutschland, Frankreich, Altona und Italien unternehmen.122 Vor diesem Hintergrund werden die Konfliktlinien der poetischen Gefühlspolitik, die Steinheim in seinen Gesängen aus der Verbannung betreibt, greifbar.123 Mit erheblichem rhetorischem Aufwand und religionsphilosophischem Einsatz zielt Steinheim auf die Überwindung des Klagemodus durch den Freudengesang glaubensgewisser Erlösungshoffnung: Meinen Jammer kanntest du, Fremdling; Mein Trost blieb dir verborgen!
Der Fremdling sang meine Sehnsucht, Mein Schmachten nach dem Gute der Freiheit; 5 Denn der Fremdling kannte die Freiheit, Der Edle starb für die Freiheit.
120 Einem Schreiben Steinheims an den Vorstand der jüdischen Gemeinde zufolge aus gesundheitlichen Gründen. Vgl. Hans-Joachim Schoeps: Salomon Ludwig Steinheim. Leben – Werk – Einordnung. In: Salomon Ludwig Steinheim zum Gedenken. Ein Sammelband. Hg. von demselben. Leiden 1966. S. 3–39, hier: S. 20 (Anm. 49). 121 Steinheim: Briefe, 1996. S. 7 und S. 371. 122 Moritz (Mosche) Steckelmacher folgt Steinheims Selbstinszenierung, wenn er 1888 mutmaßt, die »fortdauernde Unzufriedenheit« habe Steinheim wohl veranlasst, »in seinen vorgerückten Mannesjahren westwärts zu wandern, sich, wie es scheint, in einer Art Selbstverbannung, nach Rom zu dauerndem Aufenthalte zu begeben« (Moritz Steckelmacher: Salomon Ludwig Steinheim als Dichter und Religionsphilosoph. Vortrag, gehalten im Mendelssohn-Verein zu Frankfurt am Main am 29. Februar 1888. In: Populär-wissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum für Gebildete aller Konfessionen 8:7–9 (1888). S. 145–152, S. 178–182 und S. 207–211, hier: S. 147). Dass es sich hierbei um eine eng an den Gesängen orientierte Stilisierung handelt, wird nicht zuletzt an der Angabe der Himmelsrichtung deutlich: Dass Rom von Altona aus »westwärts« liegen soll und nicht – wie in jahrzehntelanger Italiensehnsucht beschworen – im Süden, erklärt sich nur im Spiegel von Steinheims Ost-West-Inszenierung. 123 Steinecke (Steinheim, 2002. S. 73) behauptet wenig überzeugend im Anschluss an Horch (Die Sendung des Doctor Gad, 1993. S. 163), Steinheim weise in den Erläuterungen seiner Gesänge aus der Verbannung auf Byron »als Vorbild« hin und stelle seine Gesänge damit in den Rahmen der Weltschmerz-Dichtung der 1820er Jahre. Wie zu zeigen sein wird, ist das Gegenteil der Fall.
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Er sang die Schmach Israels, Seine Leier klagte zur Harfe, Unter Thränen Zions Erinnerung, 10 Denn er kannte die Schmach der Knechtschaft. Er sang den Zorn Israels. Seine Lieder tobten mit Zions; Er ergrimmte dem Unterjocher, Er selbst vom Volke der Feinde.
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Unsere Hoffnung sang der Fremdling. Die Hoffnung kannte der Edle, Auf den großen Tag der Erlösung, Auf die Rückkehr in die Heimath. Schmach und Sehnsucht, Zorn und Hoffnung, Alle Wünsche des Erdenseyns Kannte und sang der Fremdling, Sein Lächeln, sein Weinen war lieblich. Meinen Jammer kanntest du, Fremdling, Mein Trost blieb dir verborgen. (SG, 42 f.)
Der jüdische Sänger wendet sich hier an einen nichtjüdischen »Fremdling«, der in die Rolle eines Juden zu schlüpfen versucht habe. In den Erläuterungen, die der zweiten Auflage von 1837 hinzugefügt sind, erklärt Steinheim ausdrücklich, auf wen dieses Gedicht zu übertragen sei: Byron (SG, 90). In der Gegenüberstellung des jüdischen Sängers Obadiah, hinter dem er spielerisch seine eigene Autorfunktion verbirgt, und des nichtjüdischen Dichters Byron setzt Steinheim auf eigenwillige Weise Hebraismus und Hellenismus in eine Konkurrenz des Gefühlswissens. Byron, der 1824 im griechischen Befreiungskampf »für die Freiheit« (V. 5) gestorben war, habe zwar in seinen Hebrew Melodies »Schmach und Sehnsucht, Zorn und Hoffnung« (V. 19) des Volkes Israel nachempfinden und besingen können, doch den Kern der jüdischen Gefühlslage habe der Philhellene nicht zu vermitteln vermocht: »Meinen Jammer kanntest du, Fremdling, / Mein Trost blieb dir verborgen« (V. 1 f. und V. 23 f.). Die Vergleichbarkeit der modernen griechischen (Gefühls‑)Lage mit der jüdischen Diaspora-Erfahrung stößt hier Steinheim zufolge an eine Grenze. Der »Fremdling« Byron wird über die Behauptung eines bestimmten Gefühlswissens ausgeschlossen; seine Nichtzugehörigkeit auch metrisch betont, indem in der Apostrophe »du, Fremdling« zwei betonte Silben am Komma aufeinanderstoßen. Wie Steinheim in den Erläuterungen deutlich macht, bringt er Byrons Hebrew Melodies zwar größten Respekt entgegen, aber sie erweckten doch einen falschen Eindruck:
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Nur die tiefe erhaltende Kraft jenes zerknirschten Herzens, das punctum saliens unseres Trostes, war ihm ein Aeußerliches; das gewahrte er nicht. Deshalb tragen seine Melodies nur die Gefühle der Wehmuth, und geben das Bild einer, zwar im Sinken großen, und großartig leidenden, allein doch immer sinkenden Nation. (SG, 90 f.)
Die Vorstellung des jüdischen Volkes als einer »zwar großartig leidenden, allein doch immer sinkenden Nation« präsentiert Steinheim als eine (christliche) Fehl einschätzung. Die jüdische Gefühlslage beschränke sich nicht auf »Wehmuth«, sondern sei innerlich gestärkt durch einen »Trost«, der nur von wahren Juden gefühlt werden könne, weil die »tiefe erhaltende Kraft« des jüdischen Herzens sich aus der jüdischen Offenbarung nähre und dieses »punctum saliens unseres Trostes« in der weltgeschichtlichen Sendung des Judentums sowie der damit verbundenen Erlösungshoffnung begründet sei.124 In diesem Sinne spricht Steinheim dem philhellenischen Poeten eine authentische jüdische Sprechposition ab und reklamiert demgegenüber für sich selbst ein exklusiv jüdisches Gefühlswissen, aus dem sich auch die poetische Berufung ergebe. Der jüdische Sänger müsse, erklärt er, »als Repräsentant aller Edlen seiner Genossenschaft« auftreten und »als Dolmetsch ihres mehr oder weniger dunkeln Bewußtseins« fungieren. Dieses »Bewußtsein seines welthistorisch merkwürdigen Volkes« nun definiert Steinheim als »ein Bewußtsein des Trostes im Gefühle einer hehren Bestimmung« (SG, vii). Der spezifisch jüdische Trost, den zu vermitteln er als seine Aufgabe ansieht, ergibt sich Steinheim zufolge nicht aus dem Beklagen des Vergangenen, sondern aus dem Schweifen der Gedanken in die »unerschöpfliche Ferne« der Zukunft: Der Sänger Obadiah wende seinen Blick mithin »nicht rückwärts nach der kleinen Quelle, dem Punkte des Ursprungs; nein! Er schaut hinaus, und folgt des Stromes weiterer, breiterer, und höherer Wallung bis – wer nennet die nebelbedeckte Mündung in das geahnte Weltmeer?« (SG, viii). Wie Zunz seine Vision der jüdischen Literatur als Teil der Weltliteratur im Bild des Stromes, der ins Meer fließt, zu fassen versucht (Kap. 2.3.4), so evoziert Steinheim hier die jüdische »Bestimmung« als Teil des großen Stroms, den »das heilige, große Weben und Treiben der Menschengeschichte« bilde (SG, viii). Mit dieser offensiv optimistischen Haltung tritt Steinheim an, die jüdische Poesie aus »Wehmuth« und »Dunkelheit« (SG, ix) zu befreien. Gegen die notorische Rückwendung nach Zion fordert er einen hoffnungsvollen, sendungsbewussten Blick gen Westen. Die Bewegung ins Weite und Zukünftige öffnet und dynamisiert den Bezug auf Zion, das hier als Quelle einen Anfangspunkt bildet, von dem die Geschichte des jüdischen Volkes als Strom wegdrängt. Damit löst er die west-östliche Spannung, in der sich deutsche Juden bewegen, ins Visionäre auf. 124 Das Judentum gilt Steinheim als einzige echte Offenbarungsreligion, das Christentum sei dagegen nur eine Mischreligion aus heidnisch-philosophischen und jüdisch-offenbarungsbezogenen Elementen. Vgl. Graupe: Die philosophischen Motive der Theologie Steinheims, 1966. S. 46.
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Mit diesem poetischen Anspruch profiliert sich Steinheim nicht nur gegen nichtjüdische Dichter wie Byron, die sich jüdische Modelle und Stoffe aneignen. In seiner Anmerkung zum Klaggesang des Fremdlings erklärt er weiter: Traurig, oder vielmehr kläglich, ertönten dagegen jüngst aus einer Hauptstadt des nördlichen Deutschlands die ›Klagen eines Juden‹ wie sie sich nennen. Sie sind der Ausdruck des Schreckens und der Zerrissenheit, die an ähnliche Gemüthszustände einer geistigen Nachbarschaft erinnern, und dem Gefühle des Juden durchaus fremd. Sie haben deshalb bei Allen, die sich noch im organischen Lebenskreise unseres Volkes rüstig bewegen, einen abstoßenden, widerwärtigen Eindruck hinterlassen, der zum feierlichen Protest gegen sie auffordert. Der Seelenzustand ihres Verfassers darf daher nur als individueller, ihm eigner, angesehen werden, als die geistige Verfassung eines Gemüthes, dem es zwischen den beiden Religionsheubündeln noch am zulänglichen Grunde, sich zu bestimmen und einzubeißen, fehlt. Allein auch dieser – ohne große Prophetengabe läßt sich das voraussehen – wird nicht lange fehlen; und es ist zu vermuthen, daß es der Bündel sein wird, der – die wenigsten Disteln enthält, der dem kläglichen Juden am lieblichsten zulächeln dürfte. Wir aber sagen uns los von jeder Gemeinschaft mit dieser Kläglichkeit, und betheuern feierlich, daß unsern Freunden und uns selbst solche widerwärtige Empfindungen durchaus fremd sind und abgeschmackt erscheinen. (SG, 91)
In einer Art modernem Bannspruch verweist Steinheim hier den Verfasser der Klagen eines Juden aus der Gemeinschaft derjenigen, die sich noch »im organischen Lebenskreise unseres Volkes rüstig bewegen« und spricht ihm eine authentische jüdische Sprechposition ab. Die starke Affektreaktion, die mit den Adjektiven ›abstoßend‹ und ›widerwärtig‹ vermittelt wird, verweist ebenso wie die emphatische Wiederholungsstruktur dieser Passage auf das Konkurrenzpotential Jacobys.125 Der enorme Erfolg der Klagen eines Juden bedroht aus Steinheims Sicht sowohl allgemein den Ruf der Juden als auch sein persönliches Projekt, den vermeintlich jüdischen Modus der Klage durch freudige Glaubensgewissheit und jüdisches Sendungsbewusstsein zu ersetzen. Seine Gesänge aus der Verbannung sind nicht nur Gesänge, die in der Verbannung gesungen werden, sondern sie sollen die Juden auch gleichsam aus der Verbannung heraussingen, sie aus der Verbannung befreien. Indem sie eine westwärts gerichtete Berufung und den Trost der Glaubensgewissheit propagieren, sollen sie in jüdischen Lesern den optimistischen Affekt der Freude wecken. In diesem Kampf um Deutungshoheit und Glaubwürdigkeit behauptet Steinheim, dass die Klagen des – so das mehrfach variierte Wortspiel – »kläglichen Juden« Jacoby »dem Gefühle des Juden durchaus fremd« seien, und plausibilisiert das mit der Versicherung, dass der Verfasser sich zweifelsohne bald dem Christentum hingeben werde.
125 Gleich zweimal wird »feierlich« die Abneigung beteuert, dem »widerwärtigen Eindruck« folgt noch einmal die Bekräftigung »widerwärtige[r] Empfindungen« und gleich doppelt wird versichert, dass die von Jacoby vermittelten Empfindungen den wahren Juden »fremd« seien.
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4.2.5 Zusammenfassung Die Konturierung jüdischer Sprechpositionen in der deutschen Literatur ist in den 1820er und 1830er Jahren, als der sogenannte Judenschmerz als besondere Ausprägung des biedermeierzeitlichen Weltschmerzes zum literarischen Modephänomen avanciert, eine gefühlspolitische Herausforderung. Mit Heine, Jacoby und Steinheim habe ich drei Autoren in den Blick genommen, die mit dieser Herausforderung auf unterschiedliche Weise umgehen. Lotet Heine in den 1820er Jahren das affektive Spektrum des 137. Psalms zwischen Wehmut und Unmut aus, ruft er in seinem späten Langgedicht Jehuda ben Halevy die biedermeierzeitliche Diskursformation jüdischer Zerrissenheit noch einmal als ›west östlichen Spleen‹ auf, um sich mit einer heiter-ironischen Poetik des Flugs aus ihr herauszuschreiben. Heines Poetisierungen des 137. Psalms in seinem Frühwerk der 1820er Jahre und in seinem Spätwerk der 1850er Jahre bilden eine Art literaturhistorische Klammer um die gefühlspolitische Konfliktlage der 1830er Jahre, in der jüdische Autoren um eine glaubwürdige Sprechposition ringen. Während Jacoby darauf abzielt, den sogenannten Judenschmerz maximal zu steigern, trachtet Steinheim danach, ihn mit jüdischem Sendungsbewusstsein in visionären Optimismus zu verwandeln. Während Jacoby der Weltschmerz-Mode mit einer Rhetorik der Überbietung begegnet, verhält sich Steinheim zu ihr mit einer Rhetorik der Überwindung, die er in einem exklusiv jüdischen Gefühlswissen des Trostes begründet. Jacobys Klagen eines Juden und Steinheims Gesänge aus der Verbannung korrelieren Gefühls- und Orientordnung auf unterschiedliche Weise. Während Jacobys moderne Psalmen jüdischen Schmerz als zwischen Ost und West mäandernde Zerrissenheit vorführen, versucht Steinheim den Topos west-östlicher Zerrissenheit in jüdisches Sendungsbewusstsein gen Westen umzulenken und den Modus der Klage durch glaubensgewisse Freude zu überwinden. Emanzipationspolitik ist, so zeigt sich hier, im Bereich des Literarischen auch Gefühlspolitik: Jacobys poetische Hyperbolik jüdischen Schmerzes läuft den Versuchen jüdischer Reformer zuwider, mit optimistischer Rhetorik den Affekt der Freude im Judentum stark zu machen. So werden sehr unterschiedliche Auffassungen davon ventiliert, was unter der allenthalben beschworenen west-östlichen Zwischenposition der Juden zu verstehen und wie sie zu werten sei.
4.3 Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne Die Multimedialität des 137. Psalms Die gefühlspolitischen Konflikte, die in der Konkurrenz zwischen Joel Jacoby und Salomon Ludwig Steinheim hervortreten, gewinnen unter den multimedialen Bedingungen der Biedermeierzeit an Dramatik. Durch Eduard Bendemanns
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sujetprägende sentimentale Trauerszene Gefangene Juden in Babylon (1832) avanciert der 137. Psalm zu einer Ikone biedermeierlichen Weltschmerzes und fordert gemeinsam mit Bendemanns zweitem großen Gemälde Jeremias auf den Trümmern Jerusalems (1835) zu kontroversen Auseinandersetzungen über die einem jüdischen Bildmotiv angemessene Darstellungsästhetik heraus (Kap. 4.3.1). In Form von Bibelillustrationen und lebenden Bildern wandern beide Motive in die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts und werden für jüdische Selbstinszenierungen adaptiert (Kap. 4.3.2). Fanny Lewald greift die kunstkritischen Debatten und intermedialen Aneignungsformen der Gemälde in ihrem Roman Jenny (1843) auf, indem sie Bendemanns Gefangene Juden durch ihre fiktiven Figuren als tableau vivant nachstellen und die Aggressionspotentiale des Psalms in einer Gesangsdarbietung ausagieren lässt (Kap. 4.3.3–4). Anhand eines fotografischen Porträts Lewalds werde ich schließlich aufzeigen, inwiefern die Autorin mit ihrer intermedialen Aneignung des 137. Psalms auch ihren eigenen Schreibort unter den Bedingungen des Orientalismus reflektiert (Kap. 4.3.5). So wird sich in den folgenden Teilkapiteln zeigen, welche Relevanz die Medialisierung des 137. Psalms in den 1830er und 1840er Jahren für die Verhandlung jüdischer Belange im Kontext des Orientalismus hatte. 4.3.1 Der »orientalische Charakter« im »Reflex nordischer Anschauung« Bendemanns Gemälde Gefangene Juden (1832) und Jeremias (1835) Bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts wird der 137. Psalm ikonographisch in synekdochalen Emblemkonstellationen (Weide und Harfe) tradiert, die zwar mitunter – so etwa im Fall der zwei Medaillon-Illustrationen des Berliner Künstlers Johann Heinrich Meil zu Mendelssohns Psalmenübersetzung (1783) – auch eine einzelne Sängerfigur einschließen, nicht aber das an den Wassern Babels sitzende Kollektiv der klagenden Juden zeigen. Das ändert sich, als Eduard Bendemann 1832 eine jüdische Trauergruppe ins Zentrum seines Monumentalgemäldes Gefangene Juden in Babylon rückt (Tafel I).126 Mit diesem Gemälde, das 1832 zunächst in Düsseldorf und dann an zahlreichen anderen Orten ausgestellt wird, erlangt der damals erst zwanzigjährige Maler Berühmtheit; es gehört zu den meistbesprochenen und ‑reproduzierten Gemälden der ersten Jahrhunderthälfte (Abb. 20).127 Neben Carl Friedrich Lessings Trauerndem Königspaar 126 183×280 cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln. Eine eigenhändige Kopie (63×94 cm) befindet sich als Dauerleihgabe im Museum Kunstpalast, Düsseldorf. 127 Das Bild wird noch vor seiner Fertigstellung von Ferdinand Ruscheweyh in Kupfer gestochen und vom Kunstverein für die Rheinlande und Westphalen erworben (Guido Krey: Gefühl und Geschichte. Eduard Bendemann (1811–1889). Eine Studie zur Historienmalerei der Düsseldorfer Malerschule. Weimar 2003. S. 88 f.). Es wird auch in anderen Stichen und Lithographien sowie in Form großer farbiger Wandschmuck-Lichtdrucke vertrieben (Sigrid Achenbach: Eduard Bendemann. 1811–1889. Die Werke in den Staatlichen Museen zu Berlin und im Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Berlin 2007. S. 91 f. und Kat.-Nr. D35). Franz Kugler
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
Abb. 20: Kupferstich von Ferdinand Ruscheweyh nach Eduard Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon (1832).
(1830) werden Bendemanns sogenannte ›Trauernde Juden‹ bzw. ›Trauernde He bräer im Exil‹ zu einer Ikone der Düsseldorfer Malerschule.128 Das Bild gilt als paradigmatisches Beispiel für den bald stereotypen »Düsseldorfer Schmerz«129 der hockend brütenden, verhüllten Trauerfiguren, die im Schülerkreis um Wilhelm von Schadow entstehen. Wie allgegenwärtig das Sujet der ›Trauernden Juden‹ in der Biedermeierzeit ist, illustriert neben diversen Parodien Karl Gutzkows Kommentar, Bendemanns babylonische Juden hätten eine derartige Berühmtheit erlangt, dass man sie »schon auf Stickmustern, Tabacksdosen und Bilderbogen zum Ausmalen für Nürnberger Tuschkastenkünstler« erblicken könne.130 Diese Breitenwirkung bis in die – bringt eine Umrissradierung mit Beschreibung im Museum. Blätter für bildende Kunst 1:1 (1833). S. 3–5. 128 Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung, 1819–1918. Ausstellungskatalog Museum Kunstpalast Düsseldorf. Bd. 2. Hg. von Bettina Baumgärtel. Petersberg 2011. S. 162–167; Elke von Radziewsky: Kunstkritik im Vormärz. Dargestellt am Beispiel der Düsseldorfer Malerschule. Bochum 1983. 129 Dieses Schlagwort prägt Karl Immermann: Düsseldorfer Anfänge. Maskengespräche [1840]. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Benno von Wiese. Bd. 4. Frankfurt am Main 1973. S. 549– 651, hier: S. 646. 130 Karl Gutzkow: Wilhelm Schadow (1837). In: ders.: Gesammelte Werke. Serie 1, Bd. 9: Oeffentliche Charaktere. Jena [1875]. S. 242–255, hier: S. 251. Vgl. für weitere Beispiele Christian Daniel Rauch: Familienbriefe 1796–1857. Hg. von Monika Peschken-Eilsberger. München 1989. S. 372 f.;
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auch jüdische – Alltagskultur hinein verleiht der Gebrauchsgeschichte von Bendemanns Gemälde zentrale Bedeutung für die Frage nach dem diskursiven Ort deutscher Juden im Orientalismus.131 Im Kontext der sogenannten Judenfrage nämlich entzünden sich an Bendemanns Gemälde kunst- und literaturkritische Debatten darüber, ob und in welchem Maße Juden als Orientalen dargestellt werden sollten. Anhand dieser Debatten werde ich im Folgenden herausarbeiten, wie orientalistische Zuschreibungen im 19. Jahrhundert für die Einschätzung und Wertung der Repräsentation von Juden verwendet werden und welche Konsequenzen das für die Möglichkeiten jüdischer Selbstdarstellung hat. Im Bildvordergrund von Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon sind fünf Figuren um den von Wein umrankten Stamm einer Weide gruppiert. Ihre Blickrichtung lenkt den Betrachter von rechts nach links: Die junge Frau in der rechten Bildhälfte hat die Augen niedergeschlagen, das Mädchen zu ihrer Linken verbirgt ihren Kopf im Schoß des zentral positionierten Greises; dieser blickt mit einer Wendung des Kopfes nach – aus Sicht des Betrachters – links, der Blick der Mutter aus dem Bild hinaus ist im Profil zu sehen, ihr Säugling schließlich wendet den Betrachtern den Rücken zu und blickt auf die Stadtansicht im Hintergrund. Die Figuren im Vordergrund heben sich deutlich, fast collagenhaft, von diesem Bildhintergrund ab.132 Zu sehen ist eine staubige Wüstenlandschaft mit Palmen sowie vereinzelten Menschenfiguren und Kamelen. Am Ufer des EuChristian Scholl: Später Orientalismus. Eduard Bendemanns Gemälde Wegführung aus der babylonischen Gefangenschaft. In: Vor den Gemälden. Eduard Bendemann zeichnet. Bestandskatalog der Zeichnungen und Skizzenbücher eines Hauptvertreters der Düsseldorfer Malerschule in der Göttinger Universitätskunstsammlung. Hg. von Christian Scholl und Anne-Katrin Sors. Göttingen 2012. S. 57–65, hier: S. 59–61; »An den Wassern Babylons saßen wir«. Figurationen der Sehnsucht in der Malerei der Romantik. Ferdinand Olivier und Eduard Bendemann. Ausstellungskatalog Museum Behnhaus Drägerhaus Lübeck. Hg. von Alexander Bastek und Michael Thimann. Petersberg 2009. S. 155. 131 Friedlander (Jenseits des Stromes, 2008. S. 197–200) nennt als überlieferte Zeugnisse für die Verbreitung des Motivs in der jüdischen Alltagskultur einen Schachteldeckel aus Papiermaché und eine Petit-Point-Stickerei aus dem frühen 19. Jahrhundert sowie ein Secher la-Churban und zionistische Postkarten, Briefmarken und Werbebroschüren aus dem frühen 20. Jahrhundert. Ludwig Philippson lässt dem Deckel eines Prachtalbums, das er 1842 Moses Montefiore als Ehrengeschenk übermittelt, Oppenheims Einsetzung Josuas durch Moses und Bendemanns Gefangene Juden einbinden (Kayserling: Philippson, 1898. S. 84). Vgl. für weitere Beispiele By the Rivers of Babylon. The Story of the Babylonian Exile. Ausstellungskatalog Bible Lands Museum Jerusalem. Hg. von Filip Vukosavović. Jerusalem 2015. S. 74 f., S. 86 und S. 92; Michael Berkowitz: Art in Zionist Popular Culture and Jewish National Self-Consciousness, 1897–1914. In: Arts and Its Uses. The Visual Image and Modern Jewish Society. Hg. von Ezra Mendelssohn und Richard I. Cohen. Oxford/New York, NY 1990. S. 9–42, hier: S. 34; ferner die Postkartensammlung der Israelischen Nationalbibliothek, Jerusalem, Signaturen TM 8* 484.1 und TM 8* 484. 132 Cordula Grewe: Christliche Allegorie und jüdische Identität in Eduard Bendemanns »Gefangene Juden in Babylon«. In: »An den Wassern Babylons saßen wir«. Figurationen der Sehnsucht in der Malerei der Romantik. Ferdinand Olivier und Eduard Bendemann. Ausstellungskatalog Museum Behnhaus Drägerhaus Lübeck. Hg. von Alexander Bastek und Michael Thimann. Petersberg 2009. S. 41–56, hier: S. 51.
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phrat erstreckt sich die Stadt Babylon mit angedeuteten hängenden Gärten; in der Mitte ragt ein hoher Turm auf. Durch die Wiedergabe des ersten Verses von Psalm 137 in den vergoldeten Rahmenzwickeln wird der Bildgegenstand eng an seine Textvorlage gebunden. Der so ins Bild gebrachten, in den Requisiten Kette und Harfe symbolisierten Spannung von Trauer im Babylonischen Exil und Hoffnung auf die Rückkehr nach Zion ist eine christliche Symbolik eingetragen.133 Weinreben – Symbol der Eucharistie – umranken die alte Weide, die für das Alte Testament bzw. das Judentum steht und deren Zweige nur auf der rechten Seite hervorragen, während die an eine Madonna gemahnende Mutter mit Kind in der linken Bildhälfte gänzlich von Weinblättern überdacht ist. Die in der romantischen Kunst beliebte rundbogige Bildbegrenzung zitiert die architektonische Form einer Lünette und hier ganz konkret zwei nazarenische Lünettenfresken der Casa Bartholdy in Rom.134 Mit seiner Situierung im Babylonischen Exil, das protestantische Theologen um 1800 mit wertenden Implikationen als historische Trennlinie zwischen Hebraismus und Judaismus verstehen,135 verweist auch das Sujet selbst auf eine christliche Erlösungserwartung. Vor diesem Hintergrund lässt sich Bendemanns Darstellung der trauernden Juden als eine Aufforderung zur Konversion deuten.136 Die damaligen Rezeptionszeugnisse indes geben kaum Interesse am christlichen Bezugssystem des Gemäldes zu erkennen. Obgleich Bendemanns Eltern wenige Monate vor seiner Geburt vom Judentum zum Christentum konvertiert waren und Bendemann selbst evangelisch getauft und konfirmiert worden war,137 wird sein Gemälde als jüdisches Bild eines jüdischen Künstlers wahrgenommen.138 Die Ausblendung christlicher Verweise wird dadurch erleichtert, dass die trauernden Juden in Bendemanns Gemälde für sich stehen, statt – an judenfeindliche 133 Hans Wille: »Die trauernden Juden im Exil« von Eduard Bendemann. In: Wallraf-RichartzJb. für Kunstgeschichte 56 (1995). S. 307–316. 134 Bendemann hat die beiden für den preußischen Generalkonsul Jakob Ludwig Salomon Bartholdy geschaffenen Fresken von Friedrich Overbeck (Die sieben mageren Jahre) und Philipp Veit (Die sieben fetten Jahre) sicherlich während seines Romaufenthaltes gesehen, als er mit der Konzeption der Gefangenen Juden begann. 135 Ekkehard Stegemann: »Die Halbierung der ›hebräischen Religion‹«. De Wettes Konstruktion von ›Hebraismus‹ und ›Judentum‹ zum Zwecke christlicher Aneignung des Alten Testaments. In: Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts. Hg. von Hans-Peter Mathys und Klaus Seybold. Basel 2001. S. 79–95, bes. S. 87–95; James Pasto: Islam’s »Strange Secret Sharer«. Orientalism, Judaism, and the Jewish Question. In: Comparative Studies in Society and History 40 (1998). S. 437–474, hier: S. 4 44–449. 136 So Cordula Grewe: Christliche Allegorie und jüdische Identität, 2009. S. 41–56. 137 Krey: Gefühl und Geschichte, 2003. S. 25–28. 138 Helmut Börsch-Supan: Zur Urteilsgeschichte der Düsseldorfer Malerschule. Eduard Bendemanns Gemälde »Trauernde Juden«. In: Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Beiträge zur Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 4. Hg. von Kurt Düwell und Wolfgang Köllmann. Wuppertal 1985. S. 219–226.
4.3 Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne
Tafel I: Eduard Bendemann: Gefangene Juden in Babylon (1832).
Tafel II: Henri Lehmann: La Fille de Jephté (1835).
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
Bildtraditionen anschließend – als Opponenten des Christentums aufzutreten. Das Gemälde fordert nicht zur Entschlüsselung typologischer Figurationen auf, sondern bietet den Betrachtern an, sich in die sentimentale Gestimmtheit der Figuren einzufühlen.139 Wirkmächtig verbindet es biedermeierzeitlichen ›Weltschmerz‹ mit jahrhundertealtem ›Judenschmerz‹ (Kap. 4.2.1) und öffnet es damit politischen Deutungen: Neben einem sentimental gefärbten Ausdruck allge meiner politischer Resignation infolge der Enttäuschung nationalliberaler Hoffnungen – besonders nach dem gescheiterten polnischen Novemberaufstand (1830/31)140 – sieht man in dem Gemälde auch eine Stellungnahme zur sogenannten Judenfrage.141 Diese Deutungsansätze werden vor dem Hintergrund einer damals im Kunstbetrieb ausgiebig debattierten deutsch-französischen Konkurrenzkonstellation verhandelt. Während in der französischen Orientmalerei erotische und gewalttätige Motive eines orient imaginaire das Feld bestimmen, dominieren in Deutschland Genre- und Landschaftsbilder.142 Mit seinem weitgehenden Verzicht auf orientalisierende Elemente zugunsten einer beruhigten, an der italienischen Renaissance orientierten Anlage, die klassische Allgemeingültigkeit vermittelt,143 139 Das Innovative dieser Darstellungsweise wird deutlich, wenn man sie mit Wilhelm von Kaulbachs Monumentalgemälde Die Zerstörung Jerusalems (1846) vergleicht, das sowohl christlich-jüdische als auch protestantisch-katholische Konkurrenzverhältnisse in einem antijüdischen Bildprogramm verarbeitet (Karl Möseneder: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht«. Über Wilhelm von Kaulbachs ›Die Zerstörung Jerusalems‹. In: Münchner Jb. der bildenden Kunst 47 (1996). S. 103–146; Wolfgang Becker: Jüdisches in der Bildkunst des 19. Jahrhunderts. Variationen zu Kaulbach’s »Zerstörung Jerusalems«. In: Judenhass – Schuld der Christen?! Versuch eines Gesprächs. Hg. von W.P. Eckert und E.L. Ehrlich. Essen 1964. S. 257–290; Peter Dittmar: Christliche Restauration und Antijudaismus. Aspekte der Kunst der deutschen Romantik. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hg. von Rainer Erb und Michael Schmidt. Berlin 1987. S. 329–364). Zu Bendemanns Antwort auf Kaulbach mit seinem Monumentalgemälde Wegführung aus der babylonischen Gefangenschaft (1872) vgl. Scholl: Später Orientalismus, 2012. S. 61–65. 140 Krey: Gefühl und Geschichte, 2003. S. 115. Vgl. als Beleg eine Nürnberger Illustration zu Des Polen Klage (Abb. 38 in: Dokumente zur Geschichte der deutsch-polnischen Freundschaft, 1830–1832. Hg. von Helmut Bleiber und Jan Kosim. Berlin 1982); zum Kontext: Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft. Hg. von Peter Ehlen. München 1982. Es bestehen auch Verbindungen zu bildlichen Darstellungen des griechischen Aufstands gegen die Osmanen (1821–1829). Der junge Maler Adolf Teichs lehnt sich mit seinem Gemälde Gefangene Griechen von Mamluken bewacht (1836) an Bendemanns Gefangene Juden an (Erika Günther: Die Faszination des Fremden. Der malerische Orientalismus in Deutschland. Münster 1990. S. 30 f. und Abb. 4). Delacroix hatte 1824 mit den Scènes des Massacres de Scio. Familles grecques attendant la Mort ou l’esclavage (Louvre, Paris) bereits eine vielbesprochene Trauerszene geschaffen (Hans Körner: Paris – Düsseldorf. Die französische Malerei und die Düsseldorfer Malerschule. In: Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung, 1819–1918. Ausstellungskatalog Museum Kunstpalast Düsseldorf. Bd. 1. Hg. von Bettina Baumgärtel. Petersberg 2011. S. 89–101). 141 Hermann Püttmann: Die Düsseldorfer Malerschule und ihre Leistungen seit der Errichtung des Kunstvereines im Jahre 1829. Ein Beitrag zur modernen Kunstgeschichte. Leipzig 1839. S. 4 4. 142 Karin Rhein: Deutsche Orientmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwicklung und Charakteristika. Berlin 2003, bes. S. 112–140. 143 Scholl: Später Orientalismus, 2012. S. 58.
4.3 Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne
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folgt Bendemann den gemäßigten Gepflogenheiten der deutschen Orientmalerei. Als Bendemanns Bildfindung in der französischen Malerei aufgegriffen wird, erfährt sie, dem französischen Geschmack der Zeit entsprechend, eine entschiedene Orientalisierung.144 Eine Zwischenposition, die das Konkurrenzverhältnis zwischen deutscher und französischer bildkünstlerischer Bibelinterpretation sinnfällig werden lässt, nimmt Henri (Heinrich) Lehmanns 1836 im Pariser Salon ausgestelltes Gemälde La Fille de Jephté (1835) ein, das deutlich auf Bendemanns Gefangene Juden rekurriert (Tafel II).145 Lehmanns Darstellung steht genau zwischen den prunkvoll-erotischen, koloristischen Gemälden des französischen Orientalismus und der fein lasierenden, an der italienischen Renaissance orientierten deutschen Malerei in nazarenischer Tradition, wie sie Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon mit der Verbindung von akademischem Idealismus und Detail-Naturalismus bzw. Illusionismus repräsentiert. Der seit 1832 in Paris lebende Ingres-Schüler, der aus einer Hamburger jüdischen Familie stammt,146 lässt in diesem Gemälde seine künstlerische Ausbildung in Deutschland und seine Nähe zu den Nazarenern bzw. zur Düsseldorfer Malerschule erkennen, kombiniert diese Prägung aber mit einer für die französische Malerei der Zeit charakteristischen Feminisierungs- und Orientalisierungstendenz. Lehmann zeigt eine pyramidal gruppierte Trauergruppe junger Frauen um die Tochter Jephthas (Abb. 21), die sich vor ihrer Opferung ins Gebirge zurückgezogen hat (Richter 11,37–40); Harfen und Lauten evozieren die hebräische Klagetradition der Psalmen und der Propheten. Wie Bendemann für seine Gefangenen Juden wählt Lehmann mit dem Rückzug von Jephthas Tochter einen handlungsarmen Moment – nach der Begegnung von Vater und Tochter und vor der dra144 Vgl. z. B. das Gemälde Captivité des Juifs à Babylone (1837) des Ingres-Schülers Romain Cazes (Romain Cazes (1808–1881), peintre secret du Second Empire. Inventaire des œuvres offertes au musée Ingres par Melle Marie Paul-Cazes. Hg. von Georges Vigne. Montauban 1995. S. 30 f.); insgesamt Nicole Brandmüller: Von Harfen in den Weiden. »Die trauernden Juden im Exil« in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. In: »An den Wassern Babylons saßen wir«. Figurationen der Sehnsucht in der Malerei der Romantik. Ferdinand Olivier und Eduard Bendemann. Ausstellungskatalog Mu seum Behnhaus Drägerhaus Lübeck. Hg. von Alexander Bastek und Michael Thimann. Petersberg 2009. S. 59–70; Nicole Brandmüller: »Die trauernden Juden im Exil«. Ein Thema der Europäischen Malerei im 19. und 20. Jahrhundert. Dissertation Erlangen 2007. 145 128×161 cm, Mairie-Musée de Bourron-Marlotte (Seine et Marne). Vgl. Les Juifs dans l’orientalisme. Ausstellungskatalog Musée d’art et d’histoire du Judaïsme.Hg. von Laurence Sigal-Klagsbald u. a. Paris 2012. S. 132 f.; zu Leben und Werk Marie-Madeleine Aubrun: Henri Lehmann, 1814– 1882. Portraits et décors parisiens. Ausstellungskatalog Musée Carnavalet. Paris 1983; Les élèves d’Ingres. Ausstellungskatalog Musée Ingres. Hg. von Marie Hélène Lavallée und Georges Vigne. Montauban 1999. S. 135–137 sowie die Memoiren des jüngeren Bruders Rudolf Lehmann: Erinnerungen eines Künstlers. Berlin 1896. 146 Der Vater Leo Lehmann ist als erfolgreicher Porträt- und Miniaturmaler in Hamburg tätig. Die Lehmanns sind entfernt mit Heine verwandt; dieser lässt sich 1841 von Henri Lehmann porträtieren und mokiert sich 1843 in seiner Lutezia über die Konversion der Familienmitglieder (DHA 14.1, 62 f., dazu ebd., S. 683–686).
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4. Klagen, Gedenken und Fluchen mit Psalm 137
Abb. 21: Reproduktionsgraphik nach Lehmanns Gemälde La Fille de Jephté (1836).
matischen Opferung – zum Bildgegenstand.147 In dieser Neigung zu statischen Sujets manifestiert sich ein verändertes Verhältnis zum biblischen Text. Die Gemälde aus dem Umfeld der Düsseldorfer Malerschule wollen nicht dramatische Handlungen mit der Auswahl eines prägnanten Moments umsetzen, sondern die Gefühlsgehalte der Poesie des Alten Testaments vermitteln.148 In diesem Sinne 147 Das Sujet wird erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umfeld der Düsseldorfer Malerschule gängig. Vgl. allgemein Jephthas Tochter. Eine alttestamentliche Geschichte in Eichstätt. Eine Ausstellung zur Rezeption von Ri 11,30–40 in Bildender Kunst, Literatur und Musik, mit einem Werkverzeichnis Johann Michael Baaders (1729–1792). Hg. von Klaus Walter Littger. Wiesbaden 2003. Carl Oesterleys rundbogiges Ölgemälde der Tochter Jephthas (Landesmuseum Hannover) ist inspiriert von Lord Byrons Gedicht Jephtha’s Daughter aus den Hebrew Melodies (1815/16) und entsteht 1835 in Düsseldorf unter Schadows Leitung; Oesterley berichtet in Briefen an seine Frau Sophie, dass zeitgleich eine andere Darstellung desselben Sujets dort in Arbeit sei (Renate Senf: Das künstlerische Werk von Carl Oesterley. Göttingen 1957. S. 20 f. und S. 123 f.). Dabei könnte es sich um ein rundbogiges Gemälde von Julius Hübner handeln, das vermutlich als Gemeinschaftsarbeit mit Bendemann entstanden ist (vgl. Ausstellungskatalog »An den Wassern Babylons saßen wir«, 2009. S. 142 f.). 148 In begeistertem Tonfall hatte Herder 1783 die Tochter Jephthas »wie sie zum Tode geht und
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dienen ihre jeweiligen Textvorlagen als Motto: Wie Bendemann den Psalmvers in den Rahmenzwickeln seines Gemäldes anbringt, ergänzt auch Lehmann den entsprechenden Text (hier dem Erwartungshorizont des französischen katholischen Publikums gemäß auf Latein) in den vergoldeten Zwickeln des rundbogigen Rahmens. Auch mit seiner Gruppierung der Figuren und ihrer Trauerhaltung zitiert Lehmann das Gemälde Bendemanns. Aber er zeigt nicht mehrere Generationen vom Greis bis zum Säugling, sondern ausschließlich junge, den Typus der ›schönen Jüdin‹ repräsentierende Frauen,149 die in kostbare, orientalisch anmutende Gewänder gehüllt sind. Lässt Lehmann keinen Zweifel daran aufkommen, dass die dargestellten Jüdinnen als Orientalinnen zu sehen sind, stellt Bendemann mit seiner idealisierenden Umsetzung das Allgemeinmenschliche der Klage aus und setzt historisch-kulturelle Markierungen nur äußerst zurückhaltend ein. Die topischen Elemente der Palmen und Kamele im Bildhintergrund bewirken allenfalls eine zarte Evokation des biblisch-orientalischen Altertums; die klassisch-antike Monumentalästhetik in der Tradition der italienischen Renaissance dient der zeitlos idealisierten Darstellung einer Klassizität im Sinne des Humanitäts ideals. In der Folge zeichnen sich an der Rezeption der Gemälde Bendemanns und Lehmanns die ästhetischen Konfliktlinien des bildkünstlerischen Orientalismus ab. Dass Lehmann seinen Figuren »ein schönes orientalisches Costüm« gegeben habe, wird 1836 in der ausführlichen Besprechung von Ernst Kolloff für das schornsche Kunstblatt wohlwollend vermerkt.150 Demgegenüber lobt August Hagen an Bendemanns Gefangenen Juden, dass nichts Buntes die Würde der Trauernden störe: »Sie sind sämmtlich in grobe Wollenzeuge gehüllt, tüchtig, aber keineswegs orientalisch prunkhaft.«151 Die weibliche Attraktivität des prachtvoll-orientalischen Fremden, wie sie in der französischen Malerei der Zeit Konjunktur hat und bei Lehmann in gemäßigter Form zur Ausführung kommt, gibt hier eine Negativfolie ab für die klassisch idealisierte – ›keineswegs orientalisch prunkhafte‹ – Darstellungsweise Bendemanns. Diese wird in den Debatten über die kulturelle, ethnische und soziale Zugehörigkeit der Juden immer wieder thematisiert. Als Gemälde, das die »orientalisch-alttestamentarische« Richtung der Düsseldorfer Schule maßgeblich beeinflusst habe, obwohl es »zu gekünstelt und die Chöre der Jungfrauen um sie klagen« als »lyrische[s] Gemälde« entworfen und bemängelt, dass die Deutschen bei den Begebenheiten der Bibel »nur auf die Epopee verfielen« (FHA 5, 1162 f.). 149 Vgl. zu diesem Typus Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993; Nadia Valman: The Jewess in Nineteenth-Century British Literary Culture. Cambridge 2007; Éric Fournier: La »belle Juive« d’Ivanhoé à la Shoah. Paris 2012. 150 Morgenblatt für gebildete Stände 30 (1836). Kunst-Blatt 33. S. 131. 151 August Hagen: Ueber drei geschichtliche Gemälde der Düsseldorfer Schule. Königsberg 1833. S. 6.
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Abb. 22: Lithographie von Carl Wildt nach Eduard Bendemanns Gemälde Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem (1835).
wenig morgenländisch« sei,152 wirft Bendemanns Bild die Frage auf, wie griechisch bzw. zeitlos klassisch Juden aussehen dürfen und wie orientalisch sie aussehen müssen. Deutlicher noch als an den Gefangenen Juden wird wenige Jahre später an Bendemanns Monumentalgemälde Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem (1835) die Darstellungsästhetik von Juden debattiert;153 der zunehmende Erfolg des französischen bildkünstlerischen Orientalismus schlägt sich jetzt spürbar in den Reaktionen nieder. Auch dieses Gemälde (Abb. 22), das als Auftragswerk für den preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. entstanden ist, greift mit seiner Trauerfigurengruppe einen berühmten, vielgebrauchten alttestamentlichen Klagetext auf.154 Berühmte Vorbilder sind Michelangelos Jere Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835). Kunst-Blatt 74. S. 306. Das Bild gilt als kriegszerstört. Vgl. zu Entstehung und Rezeption Konrad Renger: Eduard Bendemanns »Jeremias«. Vorzeichnungen und Würdigungen eines verlorenen Hauptwerkes der Düsseldorfer Malerschule. In: Ars naturam adiuvans. Fs. Matthias Winner. Hg. von Victoria von Flemming und Sebastian Schütze. Mainz 1996. S. 621–637; Christian Scholl: Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem (1834–1835). In: Vor den Gemälden. Eduard Bendemann zeichnet. Bestandskatalog der Zeichnungen und Skizzenbücher eines Hauptvertreters der Düsseldorfer Malerschule in der Göttinger Universitätskunstsammlung. Hg. von Christian Scholl und Anne-Katrin Sors. Göttingen 2012. S. 81–85. Vgl. für eine Reproduktion von 1903 die Postkartensammlung der Israelischen Na tionalbibliothek, Jerusalem (Signatur TM 8* 350). 154 Im frühen 19. Jahrhundert erscheinen etliche Übersetzungen und Nachdichtungen der Klagelieder als Einzelpublikationen ähnlich dem Psalter, darunter Carl Wilhelm Brumbeys Klage-Lieder Jeremiä (1814), Franz-Joseph Weinzierls Klagelieder des Propheten Jeremias und die übrigen Gesänge der Heiligen Schrift (1824), Franz Wenceslaus Goldwitzers Klagelieder des Propheten Jeremias 152
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mias in der Sixtinischen Kapelle und Rembrandts Gemälde von 1630; vornehmlich aber findet sich das Motiv des trauernd sinnenden Jeremia in illustrierten Bibeln und ist somit ähnlich wie das Sujet der Gefangenen Juden eng an den Text der Heiligen Schrift gebunden.155 Die Physiognomien und Requisiten des bendemannschen Gemäldes sind wie schon im Falle der Gefangenen Juden allenfalls andeutungsweise orientalisch aufgefasst, sodass deren Einordnung im Auge des Betrachters liegt. Johanna von Haza-Radlitz etwa lobt 1837 in einer vielbeachteten, unter Pseudonym veröffentlichten Schrift, dass in Bendemanns Jeremias »theils in der ganzen Architectur der zerstörten Stadt, theils in den Gestalten selbst und deren Bekleidung, hauptsächlich aber in dem wunderherrlichen, glühend klaren Himmel auf das allerglücklichste und treuste der orientalische Charakter festgehhalten ist.«156 Der Kunsthistoriker Hermann Püttmann hingegen vertritt 1839 in seinen Bemerkungen über Bendemanns Jeremias eine gegenteilige Ansicht: [D]as Streben, den Typus des jüdischen Charakters, wie er in Geschichte und Gegenwart sich als Reflex nordischer Anschauungen kund gibt, treu wiederzugeben, ließ ihn auf die Vortheile einer glänzenden Farbengebung und selbst vielleicht auf physische und antiquarische Treue verzichten. Das Bild hat nach unsrer Ansicht, trotz des hellen, glühenden Lufttons, der Architektur der Stadttrümmer und der fremdartigen Gewandung keineswegs den orientalischen Charakter festgehalten, und ein nordischer, melancholischer Nebelschleier scheint die verschiedenen Gruppen zu bedecken. Allein diese Eigenthümlichkeit nähert die Vorstellung unserm Verständniß und vermittelt sehr glücklich den Uebergang aus der alten in die neue Geschichte.157
Nach ›physischen‹ und ›antiquarischen‹ Kriterien sind Juden in Püttmanns Augen zwar grundsätzlich orientalisch. Bendemann aber stelle bewusst anders als die Franzosen mit ihrer »glänzenden Farbgebung« nicht den konkret sichtbaren »orientalischen Charakter« der Juden dar, sondern setze die Idee der jüdischen Diaspora als west-östliches Vexierspiel bildlich um, indem er den jüdischen Charakter als »Reflex nordischer Anschauungen« zeige. Püttmann lobt dieses Verfahren, weil es zwischen den Hebräern der biblischen Zeit und den Juden der Gegenwart zu vermittle und mithin die jüdische Klage »unserm Verständniß« annähere. Püttmann zollt damit der hermeneutischen Leistung einer Malerei Anerkennung, die im Verzicht auf eine archäologisch und physiologisch authentische (1828), Karl Wilhelm Wiedenfelds Jeremiah’s Klagelieder (1830) und J. Hirschfelds Klagelieder Jeremiah’s und die Trauergesänge der Israeliten (1831). 155 Christian Tümpel: Rembrandt. Überarbeitete Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 2006. S. 4 4–46. 156 [Johanna von Haza-Radlitz]: Kreuz- und Queergedanken eines Ignoranten vor den Düsseldorfer Bildern über die Düsseldorfer Bilder und manches Andre. Zur Erinnerung für Freunde. Dresden 1837. S. 30 f. Vgl. auch Hermann Freiherr von Friesen: Drei Briefe zu Widerlegung der Kreuz- und Quergedanken eines Dresdener Ignoranten […]. Dresden 1837. S. 39–42. 157 Püttmann: Die Düsseldorfer Malerschule, 1839. S. 45 f.
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Umsetzung eine gedankliche Wahrheit ins Bild bringe und durch darstellerische Fremdheitsreduktion Verstehensprozesse im Dienste der Emanzipation der Juden anstoße. Um dieses Argument zu untermauern, verschiebt Püttmann die Ost-West-Dichotomie auf eine Nord-Süd-Achse und verknüpft sie mit humoralpathologischen Konzepten: Über das feurige südliche Temperament der orientalischen Juden sieht Püttmann einen »nordische[n], melancholische[n] Nebelschleier« gelegt. Im west-östlichen, süd-nördlichen, alt-neuzeitlichen, bild-textlichen Grenzbereich des bendemannschen Jeremias sieht Püttmann eine ideelle Vermittlung ermöglicht, die den als Verständigungshindernis verstandenen »orientalischen Charakter« der Juden im »Reflex nordischer Anschauungen« aufhebt und so die physische Alterität der Juden in der Idee ihrer Akkulturation transzendiert. Dass eine solche, den physisch sichtbaren ›orientalischen Charakter‹ transzendierende Strategie indes keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stößt, referiert Franz Kugler in seiner Rezension des Jeremias: Einige Leute wundern sich, dass der Maler hier keine Juden, einer besonderen Nationalität gemäss, sondern überhaupt nur schöne und edle Menschen dargestellt habe. Ich weiss nicht recht, was ich aus dieser Ansicht machen soll. Was für Juden verlangt ihr? etwa jene knechtischen, gemeinen Physiognomieen, wie sie die Mehrzahl dieses unglücklichen Volkes durch die barbarische jahrtausendlange Unterdrückung, mit der eure Väter dasselbe behandelt, angenommen hat? Oder wollt ihr irgend eine jener heutigen orientalischen Racen dargestellt sehen, wie uns z. B. Horace Vernet jüngst in seiner Rebecca am Brunnen, statt einer Scene des frommen Patriarchenlebens, ein modernes aegyptisches Genrebild vorgeführt hat? Alles dies möchte wenig für das auserwählte Volk Gottes, dem er, den Büchern der Schrift zufolge, seine höchsten Gnaden zugewendet hatte, und welches in einer idealeren Bildung den Stempel dieses göttlichen Verkehres tragen muss, passend sein.158
Kugler spielt die zeitlose Idealisierung Bendemanns zum einen gegen die tagesaktuelle Judenkarikatur aus, die »mit krummer Nase, vorstehenden Augen und hängender Unterlippe« auf die »gemeinen Physiognomieen« der damaligen Juden setze, und zum anderen gegen den französischen Orientalismus eines Horace Vernet, dessen einige Jahre später entstandener Jeremias (1844) als folkloristisch ausstaffierter, magerer Beduine auf den Trümmern Jerusalems kauert. Solche Darstellungsweisen konterkarieren, so Kugler, die biblische Würde des auserwählten Volkes. Bewahrt werden müsse, erklärt er ganz im Sinne der damaligen Gepflogenheiten für christliche Bibelillustrationen,159 der überzeitliche Gültigkeitsstatus des historischen Geschehens und damit dessen Exempelfunktion: Nur in einer idealisierenden, gleichsam ›klassischen‹ Darstellungsweise können 158
Franz Kugler: Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem. Oelgemälde von E. Bendemann. In: Museum. Blätter für bildende Kunst 4:18 (1836). S. 137–142, hier: S. 138. 159 Hildegard Fuchs: Bibelillustrationen des 19. Jahrhunderts. Erlangen 1986. S. 11–13; Cordula Grewe: Painting the Sacred in the Age of Romanticism. Farnham/Burlington 2009, bes. S. 203–251; Michael Wheeler: The Bible in Art. In: The New Cambridge History of the Bible. Bd. 4. Hg. von John Riches. Cambridge 2015. S. 693–706.
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die biblischen Geschichten seiner Meinung nach ein »Spiegelbild unserer eigenen Gemüthszustände« abgeben.160 Während Vernet fordert, sich für Darstellungen des biblischen Altertums an den gegenwärtigen Arabern zu orientieren,161 verteidigt Kugler – wie im Übrigen auch viele französische Künstler und Kunstkritiker162 – die Schönheitsideale der Renaissance und verwehrt sich gegen eine Überblendung der »einstige[n] Nationalphysiognomie des jüdischen Volkes« mit zeitgenössischen Orientalen. Er beharrt darauf, dass dem biblischen Geschehen nur das idealisierende Historiengemälde gemäß sei, nicht aber ein »modernes aegyptisches Genrebild« wie etwa Vernets ›Rebekka am Brunnen‹.163 Wie Püttmann kombiniert Kugler in seinem Lob des bendemannschen Gemäldes den Aspekt der Gattung (hoher Stil des Historiengemäldes) mit einem hermeneutischen Aspekt (Annäherung und Vertrautheit durch zeitlose Idealisierung). Beide verwenden Metaphern aus dem Bereich der Optik, um die Beschränkung auf einen »Reflex« oder »Schimmer« kultureller Fremdheit im idealisierten Allgemeinmenschlichen als ästhetisches Ideal zu statuieren. Püttmanns Anerkennung dafür, dass Bendemann den jüdischen Charakter im »Reflex nordischer Anschauungen« zeige, und Kuglers Bekräftigung, dass man nur einen »gewissen Schimmer jener orientalischen Heimath« sehen wolle, decken sich bis in die Metaphorik hinein mit David Friedländers reformorientierter Forderung an seine jüdischen Zeitgenossen, einen morgenländischen Schimmer durch ihre europäische Bildung hindurchscheinen zu lassen (Kap. 2.2.5). So wird anhand der bendemannschen Darstellungsästhetik die emanzipationspolitische ›Judenfrage‹ verhandelt.164 Bendemanns Gemälden wird einerseits zugestanden, dass sie darstellungsästhetisch die Bezogenheit der Juden auf das Morgenland mit ihrem Anspruch auf Zugehörigkeit zu Deutschland austarieren, andererseits ist auch in Deutschland die Forderung verbreitet, Juden seien als Orientalen darzu160
Kugler: Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem, 1836. S. 138. Horace Vernet: Opinion sur certains rapports qui existent entre le costume des anciens Hébreux et celui des Arabes modernes. (Lu à l’Académie en 1847). Paris 1856, bes. S. 5–8. 162 Zum Widerstand gegen Vernets Position vgl. Jan de Hond: Der religiöse Osten. In: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky. Ausstellungskatalog Kunsthalle der Hypo-Kultur stiftung. Hg. von Roger Diederen und Davy Depelchin. München 2010. S. 133–153, hier: S. 136 f. Insbesondere in Deutschland können sich orientalistische Bibeldarstellungen in der Malerei nicht durchsetzen (Rhein: Deutsche Orientmalerei, 2003. S. 70–73). 163 Kugler: Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem, 1836. S. 137 f. Diese Position vertritt auch Julius Schnorr von Carolsfeld: Betrachtungen über den Beruf und die Mittel der bildenden Künste Antheil zu nehmen an der Erziehung und Bildung der Menschen, nebst einer Erklärung über Auffassungs- und Behandlungsweise der Bibel in Bildern. In: ders.: Die Bibel in Bildern. Leipzig 1860. Nachdruck Zürich 1972. S. vii–x, hier: S. ix. 164 Heinrich Laube imaginiert einen vor Bendemanns Jeremias-Gemälde stehenden jüdischen Ausstellungsbesucher, der »den Unglückstempel Palästina’s heut noch auf seinem Antlitze« trage »wie der Prophet auf diesem Bilde« und seinen Schmerz (»Das Wort Jude heißt so viel als Weh in der Weltgeschichte«) widergespiegelt sehe (Mitternachtszeitung für gebildete Stände 11:106 (1836). S. 421 f.). 161
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stellen.165 Die Augsburger Allgemeine Zeitung fragt beispielsweise, wie es sein könne, dass Bendemanns Jeremias »an Gestalt und Gesichtszügen mit Sokrates verwandt, daß in den sämtlichen Gestalten gar nichts Morgenländisches, sondern alles ächt griechisch« sei.166 Mit äußerstem Nachdruck kritisiert im September 1835 ein Rezensent im Kunstblatt das Fehlen jeglichen orientalischen Charakters in Bendemanns Gemälde. Im Propheten Jeremia müsse man einen »gottgesandten, furchtlosen Orientalen« sehen, der bei der Erstürmung Jerusalems »wie ein klagender Morgenländer in Heulen oder Wehklagen« bewegt sei und nicht etwa »stumm und versunken« vor sich hin brüte wie in Bendemanns Bild. Bendemanns Gemälde entspreche in keiner Weise den aus den biblischen Quellen abzuleitenden Erwartungen: Statt ein »Bild des Orients« zu bieten, liefere er ein gekünsteltes »westöstliches Bild«. Genau die orientalisch-okzidentalische Vermittlungsleistung also, für die andere Kunstkritiker das Gemälde loben, erregt bei diesem Rezensenten Anstoß. Was Püttmann und Kugler mit den optischen Metaphern des ›Reflexes‹ und ›Schimmers‹ als würdige Annäherung durch Idealisierung des historisch und kulturell Fremden preisen, wird von diesem Rezensenten als inhaltlichästhetische Unentschiedenheit abgewiesen. Während Kugler und Püttmann den emotionalen Effekt von Bendemanns ›Judenbildern‹ gerade in ihrer universalisierenden Idealisierung und der damit garantierten Funktion als ›Spiegelbild unserer eigenen Gemüthszustände‹ begründet sehen, koppelt dieser Rezensent sein Mitgefühl an die Anschauung kulturell-historischer und ethnischer Spezifizität: Er vermisst erstens den »finstern Ernste« und Rachegeist des Alten Testaments, über den in Bendemanns Gemälde »der mildere Hauch des christlichen Glaubens« geweht sei. Zweitens kritisiert er, dass sich das Orientalische nicht in Gestalt und Physiognomie der Bildfiguren zeige, drittens schließlich meint er, dass man sich für die Architekturdarstellung doch nach den bekannten ägyptischen und phönizischen Stilen hätte richten können, um zu kompensieren, dass es keine überlieferten Zeugnisse für den »hebräischen Baustyl« gebe. Zu guter Letzt schließt der Rezensent die »höchste technische Vollendung« und die kühle ›nordische‹ Farbigkeit des bendemannschen Gemäldes mit dessen mangelnder emotionaler Wirkung kurz: »Wir fühlen kein Leid mit, wir sehen nichts vom Orient.«167 Ernst Kolloff berichtet, dass Bendemanns Jeremias zwar auch in Paris günstige Aufnahme finde, man aber eine »für den orientalischen Himmel zu blasse und zu kalte Farbgebung« tadele (Morgenblatt für gebildete Stände 30 (1836). Kunst-Blatt 43. S. 174). 166 Augsburger Allgemeinen Zeitung 39 (1836). Beilage Nr. 253 vom 9. September 1836. S. 2022. 167 Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835). Kunst-Blatt 74–75. S. 305–307 und S. 309–311. Die Verfasserschaft des Artikels ist ungeklärt; das Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv des Deutschen Literaturarchivs Marbach vermerkt nur ein Fragezeichen (Auskunft von Birgit Slenzka, E-Mails vom 24. und 25. September 2012). Karl Schnaase, der zu dieser Zeit für die Kunstberichterstattung aus Düsseldorf zuständig ist, rezensiert die Ausstellung erst im November 1835 (Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835). Kunst-Blatt 89. S. 365 f.). Es wurde Karl Immermann hinter der Rezensi165
4.3 Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne
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Die Darstellungsästhetik von Juden gerät so im Diskurshorizont des Orientalismus zu einer Frage von Authentizität bzw., kunstgeschichtlich gesprochen, von Realismus. Die Beurteilung des Kunstblatt-Rezensenten ist im Kontext einer zunehmenden Kritik am Nazarenismus zu sehen, der seit den 1820er Jahren die deutsche Malerei dominiert. Dies zeigt sich besonders in seiner Forderung nach erkennbaren ethnischen Charakteristika, die Bendemanns Jeremias nicht erfülle: Hier ist fast Alles blond und gelockt, die Kindlein sind ganz deutsch, Jeremias selbst ist ein abendländisches Modellgesicht, […] eine Frau links, mit einem Krieger im Schoße, könnte man fast für Thusnelda mit dem verwundeten Hermann halten. Nirgends etwas morgenländisches Gepräge, das charakteristisch andeutet, dies könnten und müßten nur die Israeliten sein.168
Ähnlich rügt Adolph Menzel, der die Wirklichkeitsnähe der französischen Malerei lobt und in der Folgezeit den Realismus in Deutschland prägen wird, in einem Brief an Carl Heinrich Arnold vom April 1836 den »Mangel aller National-Charakteristick« in Bendemanns Jeremias: »Die Weiber sind blond, braun im Haar, und ihr Fleisch nicht von südlichem Blut durchströmt, sondern weiß, nordisch kühl gehalten. Von National-Physiognomie keine Spur.«169 Menzels Kritik ist auf seine Lektüre von Johann Gottfried Schadows National-Physionomieen oder Beobachtungen über den Unterschied der Gesichtszüge (1835) zurückzuführen.170 Wie sich an diesem Tafelwerk des Berliner Bildhauers zeigt,171 basiert die Kategorie der ›National-Physiognomie‹ zu dieser Zeit auf einem Konglomerat von historischen, biologischen, kulturellen und ästhetischen Mustern. In den Debatten über Bendemanns Gemälde tritt hervor, dass in dieser unübersichtlichen Lage überhaupt erst einmal Parameter gefunden werden müssen, nach denen die Darstellung von Juden beurteilt werden könnte. Neben den auf Reiseeindrücken basierenden Gemälden des französischen Orientalismus – etwa Eugène Delacroix’ La noce juive (1841) – werden dabei vor allem die Bibel und das Wissen von ihr als Referenz herangezogen.172 Während manche Kritiker einen on vermutet. Ein Vergleich mit gesichert von ihm stammenden Äußerungen über Bendemanns Gefangene Juden erweist das allerdings als unplausibel (Morgenblatt für gebildete Stände 25 (1832). Kunst-Blatt 81. S. 321 f.; Karl Immermann: De la peinture en Allemagne au XIXe siècle. Hg. von Henrik Karge. In: Immermann-Jb. 3 (2002). S. 9–50, hier: S. 33). 168 Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835). Kunst-Blatt 74. S. 306. 169 Adolph Menzel: Briefe. Hg. von Claude Keisch und Marie Ursula Riemann-Reyher. Bd. 1. München 2009. S. 84. Vgl. zum Kontext Hubertus Kohle: Adolph Menzel als Kunsttheoretiker. In: Adolph Menzel im Labyrinth der Wahrnehmung. Kolloquium anläßlich der Berliner Menzel-Ausstellung 1997. Hg. von Thomas W. Gaethgens u. a. Berlin 2002. S. 181–190, bes. S. 183. 170 Vgl. den Kommentar in Adolph Menzel: Briefe. Bd. 1 (2009). S. 346. 171 Gottfried Schadow: National-Physionomieen oder Beobachtungen über den Unterschied der Gesichtszüge und die äußere Gestaltung des menschlichen Kopfes, in Umrissen bildlich dargestellt auf Neun und Zwanzig Tafeln, als Fortsetzung des Policlet oder Lehre von den Verhältnissen des menschlichen Körpers [deutsch-französische Parallelausgabe]. Berlin 1835. 172 Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 2 1997. S. 66.
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thematischen Orientalismus französischen Typs in Bendemanns Gemälden vermissen, finden andere unter Rückgriff auf die Poetizität der Bibel in der formalen Gestaltung und Stimmung der bendemannschen Bildwerke den orientalischen ›Geist‹ des Alten Testaments verwirklicht. Die bildkünstlerische Dimension der politischen ›Judenfrage‹ wird, wie nun in wenigen Schlaglichtern gezeigt werden soll, an Bendemanns Gemälden vor dem Hintergrund der Umwälzungen im Bibel- und Dichtungsverständnis um 1800 und der in diesem Kontext etablierten Ursprungsrhetorik verhandelt (vgl. Kap. 2.1). Friedrich von Uechtritz bestimmt 1840 als »Mutter und Quelle« von Bendemanns Werk »jenes geheimnißvolle Element, das ich nicht anders, als durch das Wort ›Orientalismus‹ klar zu machen weiß.« Durch Bendemanns Bilder fühle man sich versetzt in biblische Gegenden und Zeiten: Ein objectives, historisches, geistig-natürliches Leben zeigt sich hier bis zu höchster Wahrheit und Anschaulichkeit ausgedrückt, aber als eines, von dem der Künstler selbst erfüllt ist, in welchem er athmet und lebt. Die eigenthümlich durchgeistigte Psalmenstimmung seiner Seele webt uns aus diesen Darstellungen entgegen; die Formen sind […] ein Abglanz seiner eignen angebornen Natur, doch zugleich in idealer Reinigung zum Spiegelbilde eines eignen Geistes geläutert. Der tieffste Inhalt des Bildes offenbart sich als der innigste dieses Geistes, der dabei, wie die Natur und Seele des Künstlers, als Vertreter eines großen, welthistorischen Volksthums erscheint.173
Wenn Uechtritz hier in Bendemanns Gemälden einen »Abglanz« der ihm »angebornen Natur« sieht, der zum »Spiegelbilde eines eignen Geistes geläutert« sei, dann projiziert er die optischen Figuren von west-östlichem Reflex und Schimmer, die Püttmann und Kugler für ihre Beurteilung verwenden, auf den Künstler und dessen Verhältnis zu seinem Werk. Indem Uechtritz den Künstler in einem Vergeistigungsverhältnis zu seinem orientalischen Volk beschreibt, aktualisiert er die doppelte Kodierung genealogischen Wissens durch Evolution und Tradi tion, Vererbung und Überlieferung.174 Auf der einen Seite fungiert der Orientalismus als »Mutter« einer biologischen Genealogie, die sich bis zur »angebornen Natur« Bendemanns fortsetzt. Auf der anderen Seite ist der Orientalismus die »Quelle« der jüdischen (Text-)Tradition und ihrer »durchgeistigte[n] Psalmenstimmung«. Deutlich klingt herdersches Ursprungspathos an, wenn Uechtritz ein »geistig-natürliches Leben« in Bendemanns Bildern ›atmen‹ und ›leben‹ sieht. Uechtritz bemisst die Qualität der bendemannschen Gemälde nicht primär an der Authentizität von Physiognomie, Bekleidung sowie Farbgebung, sondern an dem Empfindungsgehalt einer synästhetischen Psalmenstimmung morgenländischen Ursprungs, die abendländisch geläutert sei. 173 Friedrich von Uechtritz: Blicke in das Düsseldorfer Kunst- und Künstlerleben. Bd. 2. Düsseldorf 1840. S. 99 f. 174 Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kunst- und Naturwissenschaften. München 2006.
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Noch enger bindet Otto Friedrich Gruppe in seiner Rezension für die Allgemeine Preußische Staatszeitung vom 24. April 1836 den Jeremias an dessen he bräische Textquelle. Er zollt »dem treuen Festhalten an der alten Urkunde« Respekt und bemüht zur formal-ästhetischen Verteidigung der auf eine zentrale Heldenfigur verzichtenden, in Einzelgruppen zerfallenden Komposition des Gemäldes, die ähnlich schon Delacroix in seinem vieldiskutierten Gemälde Scènes des massacres de Scio (1824) erprobt hatte,175 das Wissen um ein Strukturelement hebräischer Poesie: die »Figur der Accumulation«. In der hebräischen Dichtung werde, räsoniert der Rezensent, »mit immer neuen Parallelzügen dasselbe oder Aehnliches gesagt, statt einer planmäßig fortschreitenden und konzentrirten poetischen Wirkung. Hiervon nun scheint sich in dem Bilde etwas abzuspiegeln.«176 Während der anonyme Kunstblatt-Rezensent den morgenländischen Geist vergeblich in physiognomischen, gestischen und architektonischen Details sucht, findet Gruppe ihn in der Komposition des Gemäldes, die ihn an den pa rallelismus membrorum der biblischen Poesie gemahnt. Es ist die Bibelwissenschaft in der Tradition Herders, die mit ihrer Würdigung der alttestamentlichen Texte als morgenländische Poesie des Altertums (Kap. 2.1.2–3) hier offenkundig auch den Blick auf die bildlichen Darstellungen von Juden verändert und den Schwerpunkt von den Gegenständen zum ›Geist‹ zu verlagern erlaubt. Bendemanns Gemälde bieten sich, indem sie handlungsarme poetische Textpassagen der Heiligen Schrift bildkünstlerisch umsetzen, für einen solchen bibelwissenschaftlich konditionierten Blick an, sie geraten dadurch aber auch zu einem Austragungsort für den Wettstreit der Künste. Von Schriftstellerseite nämlich wird die Neigung der Düsseldorfer Maler, poetische Stoffe bildlich zu interpretieren, als Übergriff auf ureigenstes literarisches Terrain kritisiert: Gegenstände wie der Jeremias oder Lessings Trauerndes Königspaar seien, so Karl Gutzkow, »im Grunde keine Gegenstände der Malerei. Nur der Dichter kann sie erfassen, weil Gedanken, Reflexionen, historische Urtheile mit ihnen verknüpft werden müssen.«177 Dem Kunsthistoriker Franz Kugler hingegen dient Bendemanns Jeremias als Beleg für seine Diagnose, dass die bildende Kunst der Literatur überlegen sei, weil sie eine Orientierungs‑, Ordnungs- und Veredelungsfunktion übernehme, während die gegenwärtige Literatur sich in den Wirrnissen der Moderne verliere und damit deren zersetzende Wirkung noch steigere. Betrachte 175
Ekaterini Kepetzis: Familien im Krieg – Zum griechischen Freiheitskampf in der französischen Malerei der 1820er Jahre. In: Graecomania. Der europäische Philhellenismus. Hg. von Gilbert Heß u. a. Berlin/New York, NY 2009. S. 133–170, hier: 137–139. 176 Allgemeine Preußische Staats-Zeitung. Nr. 114 vom 24. April 1836. S. 469 f. 177 Gutzkow: Wilhelm Schadow, 1837. S. 254; ähnlich Immermann (Henrik Karge: »… erhielt die Praxis der Kunst hier ihr Komplement, die Theorie.« Karl Immermann, Karl Schnaase und Friedrich von Uechtritz als Mentoren der Düsseldorfer Malerschule. In: Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung, 1819–1918. Ausstellungskatalog Museum Kunstpalast Düsseldorf. Bd. 1. Hg. von Bettina Baumgärtel. Petersberg 2011. S. 63–75, hier: S. 66) sowie Adolph Menzel im Brief an Carl Heinrich Arnold vom April 1836 (Menzel: Briefe. Bd. 1 (2009). S. 83).
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man die jungdeutsche Literatur, so gewinne man den Eindruck, in einer »Zeit der Verwirrung und Auflösung« zu leben, die bildende Kunst hingegen biete »alles dasjenige, was wir in der Literatur vermissen; hier sehen wir die Aufgaben – seien sie ernst und tiefsinnig, oder heiter und spielend – mit reinem, unschuldigem Sinne aufgenommen, mit Liebe und Wahrheit durchgebildet, mit Kraft und Ausdauer zum ergreifendsten Leben vollendet.« Bendemann bringe mit seinen menschlich-würdevoll trauernden Hebräern eine idealisierte Vergangenheit der Juden zur Darstellung, und dies erhebe ihn über die Tendenzliteratur mit ihrer Zeitgebundenheit.178 Die Diagnose eines medial unterschiedlichen Umgangs mit den Turbulenzen der Zeit meint damit in Bezug auf Bendemanns ›Judenbilder‹ ganz konkret auch einen medial unterschiedlichen Umgang mit der sogenannten Judenfrage. So spielt Püttmann die erhabene Klassizität der bendemannschen Gemälde und ihre hermeneutische Vermittlungsleistung gegen die zeitgenössischen Judenschmerz-Dichtungen aus: [K]eine poetische Arbeit moderner Juden hat nur im Entferntesten eine ähnliche Wirkung: den Schmerz des Volkes wahr ins Licht treten zu lassen, hervorgebracht, und die Klagen des Juden Joel Jacoby z. B., in ihrem modern füßlichen Castratenton stehen im Vergleich zu dem Jeremias wie ein Marionettenspiel zu einer Sophokleischen Tragödie.179
Während Jacobys Versuch, dem modernen jüdischen Leid mit seinen Klagen eines Juden (1837) poetisch zu Ausdruck zu verhelfen (Kap. 4.2.3), mit der Theaterk leinform des Marionettenspiels abgewertet wird, adelt Püttmann Bendemanns Gemälde der Gefangenen Juden als klassische Tragödie.180 Der klassischen, männlichen Reife der bendemannschen Gemälde stellt er Jacobys Dichtungen gegenüber, die nicht in klassische Metren gebunden sind, einen vermeintlichen künstlich hohen »Castratenton« pflegen und als Gliederpuppenspiele durch einen impotenten Budenzauberer mechanisch bewegt werden. Bendemann lässt, folgt man Püttmann, den »Schmerz des Volkes wahr ins Licht treten«, weil er zur Rückbesinnung auf das stolze antike Hebräertum aufruft und an den würdevollen Ursprung der jüdischen Klagetradition heranführt, statt über die Unbill der Gegenwart zu lamentieren.181 Der kunstkritische Diskurs über Bendemanns Gemälde lässt so die ästhetischen Erwartungshorizonte der Zeit sichtbar werden und kehrt ihre enge Bindung einerseits an die politischen Debat178
Kugler: Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem, 1836. S. 137 f. Püttmann: Die Düsseldorfer Malerschule, 1839. S. 4 4 f. 180 Arnold Ruge pflichtet ihm bei: So verfehlt der Jeremias malerisch sei, so wenig habe er doch »mit den erlogenen Klagen des Juden« Jacoby zu tun (Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 2:200 (1839). Sp. 1598). Vgl. Scholl: Später Orientalismus, 2012. S. 59 f. 181 Entsprechend basiert der komische Effekt der zahlreichen Parodien auf Bendemanns Trauergemälde häufig auf der Ersetzung der alten Hebräer durch gegenwärtige Juden. Eine Karikatur etwa zeigt drei ›Börsenjuden‹ in moderner Kleidung, die statt über die Verbannung über finanzielle Einbußen trauern (Wespen. Satirisch-humoristisches Stichblatt 6:29 (1867). S. 116). 179
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ten der sogenannten Judenfrage sowie andererseits an die Orientalisierung der Bibel hervor. 4.3.2 Bildwanderungen Bibelillustrationen und lebende Bilder nach Bendemanns ›Trauernden Juden‹ Dank ihres enormen Erfolgs übersteigt die Wirkung der bendemannschen Gemälde bei weitem den im engeren Sinne kunstkritischen Rahmen. In den 1830er Jahren wird ihre Darstellungsästhetik nicht nur bei Püttmann in intermedialen Vergleichen mit Jacobys Klagegesängen verhandelt,182 um grundlegende Darstellungsfragen und deren politische Implikationen zu thematisieren. Karl Gutzkow etwa bezeichnet Jacoby als einen »Hanswurst, der darum so lächerlich wirkt, weil er den Traurigen, Klagenden spielt und mit seiner Pritsche und dem buntlappigen Kleide ganz die Stellung nachahmt, welche für Bendemanns Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem allerdings passend ist.«183 In einem Fortsetzungsroman von 1849 heißt es über einen jüdischen Besucher, dessen Gesicht ausführlich als eine an Shylock erinnernde »häßliche Larve« beschrieben wird: »Der ganze scheußliche Kerl – ein schroffer Gegensatz zu Bendemanns berühmten ›Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem‹ – hätte ein treffliches Titelkupfer zu Joel Jacobis ›Klagen eines Juden‹ abgegeben.«184 Dass der Frankfurter Verleger Siegmund Schmerber seine Ausgabe von Steinheims Gesängen aus der Verbannung mit einer Lithographie nach Bendemanns Gefangenen Juden (1832) als Frontispiz ausstattet,185 beweist sein Gespür für die darstellungsästhetischen Wertungsmaßstäbe des Emanzipationsdiskurses. So wandern Bendemanns Gemälde in die verschiedensten Medien und Kontexte. Im Gravitationsfeld des Orientalismus machen seine Bildfindungen beachtliche Karrieren sowohl im Bereich der Bibelillustration als auch im Bereich bürgerlicher Geselligkeitsformen. Die Gefangenen Juden und der Jeremias werden als Illustrationen in zahlreiche christliche und jüdische Bibelausgaben des 19. Jahrhunderts integriert. Sie finden sich beispielsweise in der Pictorial Bible des Londoner Verlags von Charles Knight und in der Israelitischen Bibel von Ludwig Philippson.186 Während die Abstinenz von orientalistischen Elementen die Inte182
Vgl. u. a. Kühne: Christen und Juden, 1837. S. 412. Telegraph für Deutschland 2:92 (1838). S. 234. 184 Anonym: Die Tante am Rhein (Fortsetzung). In: Carinthia 39 (1849). S. 5–8, hier: S. 7. 185 Vgl. Riessers Brief an Steinheim vom 3. August 1837 (Riesser: Briefe, 1900. S. 67). 186 Bendemanns Jeremias ist in den ersten beiden Auflagen der Pictorial Bible (1838 und 1839) in den Klageliedern platziert; in einem Nachstich von R. Staines ziert das Gemälde dann gar 1856 als Frontispiz den dritten Band einer Neuauflage. Die Gefangenen Juden finden sich als Illustration zu Jeremia 39–44 im zweiten Band (1848) von Philippsons Israelitischer Bibel. Vgl. zum Verhältnis der beiden Ausgaben und den darin enthaltenen Bildern Kathrin Wittler: Towards a Bookish History of German Jewish Culture. Travelling Images and Orientalist Knowledge in Philippson’s Israelitische Bibel (1839–1854). In: LBI YB 62 (2017). S. 151–177. 183
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Abb. 23: Kopfleistenillustration in Pfeilstückers Illustrierter Hausbibel (1888).
gration von Bendemanns Gefangenen Juden in eine 1845 in Leipzig herausgegebene Lutherbibel ermöglicht, die neben Stichen nach Renaissancegemälden auch vier Stiche nach Werken der neueren deutschen Kunst enthält,187 werden Bendemanns Sujets in späteren Bibelausgaben nachdrücklich orientalisiert. In einer großen Illustrierten Hausbibel von 1888, die Kupferstiche und Holzschnitte nach assyrischen Reliefs, ägyptischen Gräbern und botanischen Fachwerken mit Abbildungen nach orientalistischen Gemälden und Fotografien aus Reiseberichten kombiniert, werden die Klagelieder Jeremias gerahmt von zwei Trauerfiguren, die Bendemanns berühmte Darstellungen aufgreifen.188 Die Kopfleistenillustration von Richard Brend’amour zeigt eine Jeremia-Figur in der von Bendemann geprägten Pose (Abb. 23); die Schlussvignette zeigt einen zusammengekauerten Greis, der in Haltung, Gestik und Requisiten (Harfe und Ketten) Bendemanns Darstellung der Gefangenen Juden zitiert, anstelle einer kleinen, schlichten Harfe aber ein riesiges, prächtiges Instrument mit ägyptisierendem Fuß zur Seite hat (Abb. 24). Bendemanns Trauerfiguren werden hier einem ikonographischen Orientalisierungsprogramm einverleibt, das sich der Heinrich Merz: Die neueren Bilderbibeln und Bibelbilder. Eine Überschau. In: Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule und Haus 3 (1860). S. 81–92, S. 105–111, S. 120–125, S. 132–144, S. 167– 174; 4 (1861), S. 78–80, S. 103–112, hier: S. 107. Vgl. auch die Illustration zum 137. Psalm in einer katholischen Ausgabe: Der Psalter. Allioli’s Uebersetzung. Mit Original-Zeichnungen von Joseph, Ritter von Führich. In Holzschnitt ausgeführt von Kaspar Oertel. Leipzig 1875. S. 337. 188 Illustrierte Hausbibel. Nach der deutschen Übersetzung von Dr. Martin Luther. Mit über tausend Abbildungen und Karten, Erläuterungen und einer Familien-Chronik. Hg. von Friedrich Pfeilstücker. Berlin 1888. S. 948 und S. 954. 187
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Abb. 24: Schlussvignette in Pfeilstückers Illustrierter Hausbibel (1888).
durch archäologische Funde bedingten Vermehrung medialen Bibelwissens verdankt.189 Zugleich aber werden ägyptisches und babylonisches Exil ikonographisch so gekreuzt, dass die historisch-kritische Aufgliederung der Bibel in verschiedene ethnographische Wissenssegmente und archäologische Rekonstruk tionen in der ästhetischen Bildlogik des Orientalismus wieder zusammengeführt wird. Besondere Bedeutung gewinnen die beiden Trauergemälde Bendemanns für die im 19. Jahrhundert ausgesprochen beliebte intermediale Inszenierungspraxis lebender Bilder. Neben frei komponierten tableaux vivants werden vor allem bekannte Gemälde in geselligen Kontexten nachgestellt und in der Regel von einem Musik- oder Gedichtvortrag begleitet. Schauspieler oder Verwandte und Freunde des anwesenden Publikums stellen, in entsprechender Kostümierung für wenige Minuten unbeweglich verharrend, ein gerahmtes Tableau.190 Bendemanns Ge189 Steven W. Holloway: Expansion of the Historical Context of the Hebrew Bible/Old Testament. In: Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation. Bd. 3.1. Hg. von Magne Sæbø. Göttingen 2013. S. 90–118; John Rogerson: Expansion of the Anthropological, Sociological and Mythological Context of the Hebrew Bible/Old Testament. In: ebd., S. 119–133; Othmar Keel: Iconography and the Bible. In: The Anchor Bible Dictionary. Hg. von David Noel Freedman. Bd. 3. New York, NY 1992. S. 358–374; Othmar Keel: Die Rezeption ägyptischer Bilder als Dokumente der biblischen Ereignisgeschichte (Historie) im 19. Jahrhundert. In: Ägypten-Bilder. Akten des »Symposions zur Ägypten-Rezeption«. Hg. von Elisabeth Staehelin und Bertrand Jaeger. Göttingen/Freiburg (Schweiz) 1997. S. 51–79. 190 August Langen: Attitüde und Tableau in der Goethezeit. In: SJb 12 (1968). S. 194–258; Birgit Jooss: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999; Jörg Traeger: Grenzformen der Kunst in der Goethezeit. Zur Ästhetik des Künstlichen. In: Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann. Hg. von Ernst Hinrichs und Klaus Zernack. Tübingen 1997. S. 181–265; Gisold Lammel: Lebende Bilder – Tableaux vivants im Berlin des 19. Jahrhunderts. In: Studien zur Berliner Kunstgeschichte. Hg. von Karl-Heinz Klingenburg. Leipzig 1986. S. 221–243 und S. 322–327; Norbert Miller: Mutmaßungen über lebende Bilder. Atti
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mälde der Gefangenen Juden und des Jeremias bieten sich dafür in besonderem Maße als Vorlagen an, da sie den technischen Bedingungen einer solchen Nachstellung mit ihrer übersichtlichen, bühnenhaften Anlage und der Dominanz von kaum in die Raumtiefe hinein gestaffelten und wenig bewegten Figurengruppen im Vordergrund entgegenkommen.191 Dass Bendemanns Gemälde sich besonders gut in lebende Bilder umwandeln lassen, ist kein Zufall. Schließlich sind sie selbst in der intermedialen Kunstpraxis in Düsseldorf entstanden, in der Literatur, Musik und bildende Kunst gezielt verbunden werden und in der insbesondere die Inszenierungspraxis lebender Bilder beliebt ist.192 Bendemanns Gemälde der Gefangenen Juden wird 1832 bereits kurz nach seiner Ausstellung in der Akademie am Berliner Hof als tableau vivant gestellt;193 im Frühjahr 1833 wird es im Rahmen des Düsseldorfer Dürer-Festes, unterlegt mit einer Vertonung des 137. Psalms von Otto Nicolai, vor 150 Zuschauern gegeben;194 Bendemann selbst inszeniert frei komponierte lebende Bilder des Auszugs aus Ägypten, die seine Bildfindung der Gefangenen Juden aufgreifen, für eine große Festveranstaltung anlässlich des Besuches des preußischen Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm IV. in Düsseldorf.195 Bendemanns Gemälde bleiben das gesamte 19. Jahrhundert hindurch beliebte Vorlagen für tableaux vivants und werden zu diesem Zweck später auch als preisgünstige Reproduktionsfotografien im Visitenkartenformat vertrieben. In einem Handbuch für lebende Bilder von 1876 kehrt die kunstkritische Kontroverse um die Darstellungsästhetik von Bendemanns ›Trauernden Juden‹ wieder. Die Getüde und »tableau vivant« als Anschauungsformen des 19. Jahrhunderts. In: Das Triviale in Literatur, Musik und Bildender Kunst. Hg. von Helga de la Motte-Haber. Frankfurt am Main 1972. S. 106– 130. 191 Ursula Peters: Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland, 1839–1900. Köln 1979. S. 213–217; Jooss: Lebende Bilder, 1999. S. 169–172. 192 Immermann: Düsseldorfer Anfänge, 1840. S. 551; Achenbach: Eduard Bendemann, 2007. S. 28; Gabriele Ewenz: »… dass der Künstler selbst ein Dichter sei«. Das Verhältnis von Poesie und Malerei in der Düsseldorfer Malerschule. In: Die Düsseldorfer Malerschule und ihre internationale Ausstrahlung, 1819–1918. Ausstellungskatalog Museum Kunstpalast Düsseldorf. Bd. 1. Hg. von Bettina Baumgärtel. Petersberg 2011. S. 263–271. Für viele Gemälde der Düsseldorfer Malerschule posieren Künstler aus dem Freundeskreis; so ist in dem Greis der Gefangenen Juden Bendemanns Lehrer Wilhelm von Schadow erkennbar. Die so entstandenen Gemälde werden wiederum von Freunden als lebende Bilder nachgestellt und als solche in Stichen und Zeichnungen festgehalten. Vgl. Volker Frech: Lebende Bilder und Musik am Beispiel der Düsseldorfer Kultur. Magisterarbeit Köln 1999, bes. S. 8 f.; Lammel: Lebende Bilder, 1986. S. 225. 193 Frech: Lebende Bilder, 1999. S. 14. 194 Karl Leberecht Immermann: Briefe. Bd. 2. Hg. von Peter Hasubek. München 1979. S. 188– 192. 195 Vgl. den Bericht von Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sämtliche Briefe. Hg. von Helmut Loos und Wilhelm Seidel. Bd. 3. Kassel u. a. 2010. S. 290–296, hier: S. 293 f.; Krey: Gefühl und Geschichte, 2003. S. 32 und S. 87; Wolfgang Sandberger: Historismus? Mendelssohn und die Zukunft der Vergangenheit. Ein synästhetisch-klassizistisches ›Manifest‹ aus dem Jahr 1833. In: Mendelssohns Welten. Zürcher Festspiel-Symposium 2009. Hg. von Laurenz Lütteken. Kassel 2010. S. 24–47.
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fangenen Juden werden nicht nur im Abschnitt »Die Bibel« zur Nachstellung empfohlen, sondern tauchen noch einmal im Abschnitt »Aus der classischen Tragödie« auf. Dort allerdings sind sie als einziges Bildthema mit einer langen Erklärung versehen. Empfohlen wird, die Trauergruppe als vollständig weiße ›Marmorgruppe‹ vor einer Säule statt vor einer Trauerweide zu inszenieren. Während Sebastiano del Piombos Gemälde der neutestamentlichen Auferweckung des Lazarus auch als Marmorgruppe in der Kategorie »Bibel« verbleibt, fallen die alttestamentlichen ›Trauernden Juden‹ offenbar aus der biblischen Kategorie heraus, wenn sie als Marmorgruppe gestellt werden, sie wechseln vom biblischen Fach ins klassisch-griechische. Für diesen Registerwechsel seien aber, so der Handbuchverfasser, »einige Winke und eine kleine Abänderung« nötig.196 Bendemanns ›trauernde Juden‹ nähern sich, so scheint hier impliziert, zwar dem ›Klassischen‹ an, müssen aber modifiziert werden, um tatsächlich die Kriterien für diese Kategorie zu erfüllen. Mit ihrer kulturästhetischen Grenzstellung, die in diesem Anleitungsbuch noch einmal offenkundig wird, sowie ihrer produktions- und reproduktionsästhetischen Nähe zur Praxis der lebenden Bilder bieten die bendemannschen Gemälde ein ebenso differenziertes wie ambivalentes Medium zur jüdischen (Selbst-)Repräsentation im 19. Jahrhundert. Anfang April 1868 werden Bendemanns Gefangene Juden in Wien als lebendes Bild gestellt. Das tableau vivant ist Teil einer aufwändigen Wohltätigkeitsveranstaltung, die der österreichische jüdische Unternehmer und Bankier Eduard Todesco zugunsten des Israelitischen Waisenfonds in seinem prächtigen Domizil an der Ringstraße ausrichtet.197 Auf ein kurzes humoristisches Theaterstück und einen Gesangsvortrag von Caroline von Gomperz-Bettelheim folgt eine Darbietung, die in einem Wechsel von Liedvorträgen und lebenden Bildern die Geschichte des Volkslieds Revue passieren lässt. Eingangs mit Sangbarkeit, Mündlichkeit und kollektiver Verfasserschaft die wichtigsten Topoi des Volkslieds beschwörend, erinnert der Verfasser Salomon Hermann Mosenthal im Prolog an die Homer zugeschriebenen Epen, die ossianischen Gesänge und die Nibelungen als Urgründe des Volkslieds, um dann auf die Psalmen als Inbegriff früher Volkspoesie hinzuleiten. »Wehmütige Akkorde« begleiten eine Evokation der Edmund Wallner: Eintausend Sujets zu Lebenden Bildern. Ein Verzeichniß von mehr als 1000 kleineren wie größeren Genrebildern, historischen Gruppen und biblischen Tableaux, welche sich zur Darstellung im Familienkreis wie für größere Gesellschaften besonders eignen. Erfurt 2[1876]. S. 27 und S. 31. 197 Mara Reissberger: Zum Problem künstlerischer Selbstdarstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Die Lebenden Bilder. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert. Hg. von Herbert Zeman. Graz 1982. S. 741–769; Mara Reissberger: Gestaltungsprinzipien des Festsaalbereichs in Hansens Zinspalais. In: Mara Reissberger und Renate Wagner-Rieger: Theophil von Hansen. Wiesbaden 1980. S. 229–235 und S. 266–288, hier: S. 278–284 (Anm. 53); ferner – allerdings in tendenziöser Weise Karikaturen als Quellen missbrauchend – Karlheinz Rossbacher: Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der liberalen Ära zum Fin de Siècle. Wien u. a. 2003. S. 115–137, bes. S. 133–137. 196
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Trümmerstadt Jerusalem, die Topoi der Klagelieder Jeremias mit Topoi der Psalmen, insbesondere des 137. Psalms, kreuzt: Ach, wie liegt sie so einsam da, Eine Wittwe in Trauer, Die Stadt, die Zions Könige sah, Zertrümmert ist ihre Mauer! Die Sänger aus dem Heiligthum Gestoßen unter die Heiden, Und ihre Harfen hängen stumm An Babels Trauerweiden. Die sehnsuchtsvolle Klage rauscht Durch die Blätter der Palmen, Und noch ein spät Jahrtausend lauscht Den wehmutsvollen Psalmen.198
Eine »Jüdische Psalmenweise«199 führt daraufhin zu dem lebenden Bild nach Bendemanns Gemälde, das die Reihe der Tableaux eröffnet und – im Wiener Studio Adèle nachgestellt200 – als Fotografie überliefert ist (Abb. 25).201 Der Bildregisseur Franz Gaul hat Bendemanns Figurengruppe auf drei Personen reduziert. In der Rolle des Greises sitzt Abraham (?) d’Israeli mit künstlich vergrößertem Bart und einem turbanartig um den Kopf geschlungenen Tuch zwischen den beiden jungen Frauen Julie Goldschmidt und Elise Sichrovsky. Mit einer vorsichtig orientalisierten Kostümierung und der Konzentration auf die Vermittlung des Stimmungsgehalts der Trauer durch Mimik und Gestik aktualisiert das ta bleau vivant das west-östliche Profil seiner Vorlage. Die drei jüdischen Freunde der Familie Todesco begeben sich hier in die Rolle der exilierten Hebräer an den Wassern Babels, gehen aber nicht völlig in dieser Rolle auf. Der Reiz der ›Belebung‹ von Gemäldevorlagen besteht darin, dass sie sowohl die Laien-Schauspieler, die den geselligen Zirkeln des jeweiligen Publikums entstammen, als auch die Gemäldevorlage in einem neuen Licht erscheinen lässt. Im Falle dieser Nachstellung von Bendemanns Gefangenen Juden in Babylon durch drei Wiener Juden im Palais Todesco wird der Effekt dadurch gesteigert, dass im Akt der Inszenierung 198 Salomon Hermann Mosenthal: Das Volkslied. Ein Gedicht mit Liedern und Bildern. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Stuttgart/Leipzig 1878. S. 328–341, hier: S. 330. 199 So die Angabe bei Mosenthal; Ludwig Speidels Bericht zufolge handelte es sich um eine Klagemelodie, die am Vorabend von Jom Kippur gesungen wird (Die Presse 21:93 (1868)). 200 Vgl. zum komplizierten Verhältnis von lebendem Bild und Fotografie, auch mit Blick auf repräsentative Veranstaltungen im Palais Todesco, Mara Reissberger: Das Lebende Bild und sein »Überleben«. Versuch einer Spurensicherung. In: Fotogeschichte 14:51 (1994). S. 3–18; Mara Reissberger: Die »Sprache« der lebenden Bilder. In: Sabine Folie und Michael Glasmeier: Tableaux vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Ausstellungskatalog Kunsthalle Wien. Wien 2002. S. 189–210; zur Nähe von Salonmalerei und Kunstfotografie auch Peters: Stilgeschichte der Fotografie, 1979. S. 213–273. 201 Für die Bereitstellung der Fotografie, die Identifikation der Personen und wertvolle Hinweise danke ich Mara Reissberger, Wien.
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Abb. 25: Fotografie eines lebenden Bildes nach Bendemanns Gefangenen Juden, Wien 1868.
eine spannungsreiche genealogische Verbindung zwischen den alten Hebräern und den Juden der Gegenwart hergestellt wird. Als erste Station in einer multimedialen Darbietung der Geschichte des Volkslieds ist diese Spiegelungskonstellation jüdischer Diaspora-Situationen eingelassen in ein Narrativ, das über den Minnesang, das Ännchen von Tharau, die Marseillaise und das Gaudeamus-igitur-Lied der nationalliberalen Studenten bis zur österreichischen Kaiserhymne führt. Ein allegorisches Schlusstableau – »Das Volkslied, getragen von den Kindern aller Nationen« – beschließt den Reigen aus Wort, Klang und Bild. Damit wird die Pluralität der Völker im generischen Konzept des Volks aufgehoben. Einen Bogen von den Urgründen des Volkslieds bei Homer, Ossian, den Nibelungen und den Psalmen bis zu dessen Apotheose im allegorischen Schlusstableau spannend, schafft Mosenthal einen inklusiven historisch-anthropologischen Rahmen. Die das lebende Bild nach Bendemanns Gefangenen Juden konstituierende Spannung zwischen den alten Hebräern im babylonischen Exil und den Wiener Juden der Gegenwart wird im Gesamtarrangement aufgehoben in der Pluralität der Ursprünge und Träger des Volkslieds. Diese Positionsbestimmung des jüdischen Großbürgertums wird in der Wiener Presse zum Anlass für einige spitze Bemerkungen genommen.202 Die Mor Neutral bleibt dagegen das Fremden-Blatt 22:93 (1868). S. 5 f.
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gen-Post unterstellt unter Anspielung auf die jüdische Herkunft der Familienmitglieder, dass die Genealogie »wohl nur aus Opportunitätsgründen« vom »Anfang des Volkslieds« auf den Trümmern Jerusalems »bis an […] die österreichische Volkshymne« geführt werde.203 Die Presse fragt angesichts des Tableaus der Gefangenen Juden, wer »auf wehmütige Gedanken« hätte verfallen können, »da das Alles sich in den glanzvollen Räumen des Herrn Ritters v. Todesco auf der Ring straße abspielte?« und setzt drei bedeutungsschwangere Auslassungspunkte hinter die Frage.204 Sprechen die einen der Kontinuitätslinie von psalmischen Klagen zur österreichischen Kaiserhymne die Plausibilität und damit den Juden die gesellschaftliche Zugehörigkeit ab, vermitteln die anderen ihr Ressentiment gegen den jüdischen Bankier, indem sie das Elend jüdischen Exils in Anbetracht des aus ihrer Sicht überwältigenden Wohlstands des Hauses Todesco für eine Anmaßung erklären. Die Aneignung des bendemannschen Gemäldes durch Nachstellung erweist sich, das lässt sich aus diesen Reaktionen schließen, unter den Bedingungen weitverbreiteten Ressentiments als ambivalentes Medium jüdischer Selbstdarstellung. Anhand der fiktiven Nachstellung desselben Gemäldes in Fanny Lewalds Tendenzroman Jenny (1843) soll nun genauer nachvollzogen werden, wie diese Ambivalenzen im Diskurskontext des Orientalismus zum Tragen kommen und wie die performative Dynamik der Rollenaneignung als Anlass zur Verhandlung der jüdischen Emanzipationsfrage dient. 4.3.3 Im Kampf mit den »orientalischen Elementen« Der Emanzipationsdiskurs in Lewalds Roman Jenny (1843) Fanny Lewald (1811–1889) gehört zu den erfolgreichsten politisch engagierten Schriftstellern des 19. Jahrhunderts.205 Die Autorin von über zwanzig Romanen, autobiographischen Schriften sowie zahlreichen Novellen und Zeitschriftenbeiträgen wächst im preußischen Königsberg als Tochter jüdischer Eltern auf, lässt sich als junge Frau evangelisch taufen und beginnt 1845 im Alter von vierunddreißig Jahren ein selbstständiges Leben als Schriftstellerin in Berlin zu führen. Ihr zweiter, vielbeachteter Tendenzroman Jenny (1843) verarbeitet einige autobiographische Momente und hat einen starken politischen Appellcharakter.206 Morgen-Post vom 2. April 1868. S. 1. Die Presse 21 (1868). Abendblatt 91 vom 1. April 1868. 205 Christina Ujma: 200 Jahre Fanny Lewald – Leben, Werk und Forschung. In: Fanny Lewald (1811–1889). Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen. Hg. von Christina Ujma. Bielefeld 2011. S. 7–35; Margaret E. Ward: Fanny Lewald. Between Rebellion and Renunciation. New York, NY 2006; Krimhild Stöver: Leben und Wirken der Fanny Lewald. Grenzen und Möglichkeiten einer Schriftstellerin im gesellschaftlichen Kontext des 19. Jahrhunderts. Oldenburg 2004; Gabriele Schneider: Fanny Lewald. Reinbek bei Hamburg 1996, Brigitta van Rheinberg: Fanny Lewald. Geschichte einer Emanzipation. Frankfurt am Main u. a. 1990. 206 [Fanny Lewald]: Jenny. Von der Verfasserin von »Clementine«. 2 Bde. Leipzig 1843 [Sigle LJ]. Vgl. auch die auf einer 1872 von Lewald für die Gesamtausgabe ihrer Werke geglätteten Textfassung 203
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Protagonisten des Romans sind die beiden Kinder des wohlhabenden und gebildeten jüdischen Bankiers Meier: die lebhafte, scharfsinnige Jenny und ihr älterer Bruder Eduard, ein junger Arzt und Kämpfer für die Emanzipation der Juden. Interreligiöse Liebe ist ein zentrales Thema des Romans.207 Jenny entbrennt in Liebe zu ihrem protestantischen Hauslehrer Gustav Reinhard, Eduard verliebt sich in Clara Horn, Tochter einer christlichen, judenfeindlich eingestellten Kaufmannsfamilie. Beide Liebes- und Heiratsprojekte scheitern an religiösen Differenzen und sozialpolitischen Hindernissen; Reinhard liiert sich stattdessen mit Jennys christlicher Hausfreundin Therese und Clara mit dem ebenfalls christlichen Engländer William Hughes. Eduard verschreibt sich daraufhin als Junggeselle vollkommen dem Kampf um die bürgerliche Gleichstellung der Juden, und auch Jenny bleibt zunächst alleinstehend. Als sie Jahre später eine zweite Liebesbeziehung mit dem liberal eingestellten Grafen Walter eingeht, endet diese für beide tödlich: Walter kommt in einem Duell ums Leben, das er in Reaktion auf eine judenfeindliche Beleidigung seiner Braut gefordert hatte, und Jenny stirbt gebrochenen Herzens an seinem Totenbett. Der Roman endet mit einem kämpferisch-prophetischen Ruf Eduards über Jennys Grab: »›Wir leben‹, sagte er, mit der Begeisterung eines Sehers – ›um eine Zeit zu erblicken, in der keine solche Opfer auf dem Altare der Vorurtheile bluten! Wir wollen leben, um eine freie Zukunft, um die Emancipation unsers Volkes zu sehen!‹« (LJ 2, 306). Dieser Appell ist aus einer krisenhaften Gegenwart in die Zukunft gerichtet, aus einer Gegenwart, die der Roman als Übergangsphase im Emanzipationsprozess darstellt. Die Bankiersfamilie Meier besitzt ein Treibhaus, das, wie Hughes bekundet, zu den »reichsten und schönsten« gehört, die ihm bekannt sind (LJ 1, 171). Mit seinen exotischen Tropenpflanzen weckt dieser Wintergarten Claras Neugier, und sie erhält schließlich von ihren Eltern die Erlaubnis, die Meiers zu besuchen und ihn zu besichtigen. In Vorfreude auf den Treibhaus-Besuch erglühen Clara und Eduard »vor Lust«, als ihre Blicke sich begegnen (LJ 1, 173); am Tag der Verabredung lässt Eduard den Frühstückstisch unter die Orangen setzen, deren Blüten »am üppigsten« duften, und trägt dem Gärtner auf, ein prächtiges Bouquet zu arrangieren (LJ 1, 189). Um die Implikationen dieser Szene zu verstehen, muss man sich den kulturgeschichtlichen Stellenwert von Gewächshäusern im 19. Jahrhundert vergegenwärtigen. Ein privater, direkt an die Gesellschaftsräume grenzender Wintergarten ist in den 1830er und 1840er Jahren eine auch technisch neue und äußerst kostspielige Einrichtung, die dem Adel und dem gehobenen Bürgertum vorbehalten ist.208 In der Tradition höfischer Orangerien steberuhende Neuauflage: Fanny Lewald: Jenny. Roman. Mit einem Nachwort. Hg. von Ulrike Helmer. München 1996; zur Genese des Romans Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte [1861–1863]. Hg. von Ulrike Helmer. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989. S. 35–37, S. 4 4–46, S. 57, S. 68 f. und S. 77 f. 207 Vgl. allgemein zu diesem Thema Eva Lezzi: »Liebe ist meine Religion!« Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2013. 208 Marie Luise Gothein: Geschichte der Gartenkunst. Bd. 2. Jena 1926. S. 418 f.; Stefan Koppel-
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hend, ist das Gewächshaus im Imaginationshaushalt der Zeit – wie sich etwa an den Odalisken in Carl Blechens Gemälde des Palmenhauses auf der Pfaueninsel bei Potsdam zeigt (1832/34)209 – ein erotisch und orientalisch konnotierter Ort.210 Der sinnverwirrende Reiz tropischer Treibhausgewächse besetzt im Diskurs der Zeit die antithetische Symbolstelle zum deutschen aufgeräumten Forstwald, der als Inbegriff christlicher Tugendordnung gilt.211 Entgegen der verbreiteten Annahme, dass der französische Décadence-Topos des Treibhauses als Ort verbotener sexueller Lust erst mit Theodor Fontanes Roman L’Adultera (1880) in die deutsche Literatur gelangt sei,212 muss die von Lewald entwickelte Szene als eine frühe literarische Verarbeitung dieses Motivs im Rahmen der engen Sagbarkeitsregeln biedermeierzeitlicher Literatur gelten, denn sie evoziert mit den zitierten Andeutungen ein stereotypes Verführungs szenario: Der jüdische Arzt Eduard lockt die christliche Jungfrau Clara mit der exotischen Üppigkeit gezüchteter Pflanzen in seinen Einflussbereich. Lewald spielt gezielt mit den Erwartungen, die sich aus diesem Symbolsystem ergeben, indem sie leichte Verschiebungen und Umbesetzungen vornimmt. Das potentielle Verführungsszenario zwischen Eduard und Clara wird im weiteren Textverlauf in eine familiär-idyllische Frühstücksszene unter den Orangenbäumchen gewendet, sodass die erotischen Nebenbedeutungen in der Latenz verbleiben. Dieser Einsatz des Treibhausmotivs offenbart ein Grundprinzip des Romans. Lewald integriert konsequent Diskurselemente, die mit ihren stereotypen Implikationen für das politische Projekt der jüdischen Emanzipation potentiell bedrohlich sind, und variiert oder verschiebt sie. Im Falle des Wintergartens treibt sie dieses Spiel noch weiter: Indem sie das Treibhaus im weiteren Verlauf des Ro mans zu einer literarischen Allegorie jüdischen Exils aufbaut, verleiht sie ihm eine sozialpolitische Dimension und lenkt Eduards und Claras private Affekte kamm: Künstliche Paradiese. Gewächshäuser und Wintergärten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1988. S. 50–53; Ruth-Maria Ullrich: Glas-Eisenarchitektur. Pflanzenhäuser des 19. Jahrhunderts. Worms 1989; Georg Kohlmaier und Barna von Sartory: Das Glashaus. Ein Bautyp des 19. Jahrhunderts. München 1981. S. 45–64. Vgl. zu privaten Wintergärten Matthias Hahn: Schauplatz der Moderne. Berlin um 1800 – ein topographischer Wegweiser. Hannover 2009. S. 259 f. und S. 267–269; Mara Reissberger: Aspekte zur Genese der Bauaufgabe großbürgerliches Wohnhaus – großbürgerliche Wohnung bei Theophil Hansen. In: Mara Reissberger und Renate Wagner-Rieger: Theophil von Hansen. Wiesbaden 1980. S. 217–228 und S. 252–265, hier: S. 227 und S. 264 (Anm. 76). 209 Carl Blechen. Zwischen Romantik und Realismus. Ausstellungskatalog Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. Hg. von Peter-Klaus Schuster. Berlin 1990. S. 123 f. 210 Koppelkamm: Künstliche Paradiese, 1988. S. 19 f. und S. 47–49. 211 Michael Flitner: Gibt es einen ›deutschen Tropenwald‹? Anleitung zur Spurensuche. In: Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Hg. von Michael Flitner. Frankfurt am Main/New York, NY 2000. S. 9–19, hier: S. 9 f. 212 So Roger Bauer: Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons. Frankfurt am Main 2001. S. 200; allgemein Roger Bauer: Das Treibhaus oder der Garten des Bösen. Ursprung und Wandlung eines Motivs der Dekadenzliteratur. Mainz 1979; Heide Eilert: Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman »L’Adultera«. In: SJb 22 (1978). S. 494–517.
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des Begehrens, wie nun zu zeigen sein wird, auf eine emanzipationspolitische Ebene der Fürsprache und der Fürsorge um. Nach dem Besuch im meierschen Hause entspinnt sich ein Gespräch zwischen Eduard, Clara und Hughes über das soeben besichtigte Treibhaus, das mit deutlichen Textsignalen eine Allegorese einfordert. Als Clara ihre Begeisterung für die Tropengewächse im meierschen Treibhaus damit begründet, dass ihr die menschliche Sorge für Pflanzen Zutrauen einflöße, schränkt Hughes ein, dies könne »doch nur da der Fall sein, wo nicht Prunksucht und Speculation an der Pflege der Blumen Theil haben« (LJ 1, 201 f.). Das der Handels- und Börsenwelt zugehörige Schlagwort der »Speculation« weist Hughes’ Kommentar als Vorbehalt gegen aus seiner Sicht moralisch fragwürdige Finanzgeschäfte aus; die Assoziation von »Prunksucht« bringt den Luxuscharakter eines solchen privaten Wintergartens in einen scharfen Gegensatz zum Anbau heimischer Nutzpflanzen. Damit artikuliert Hughes gängige bürgerlich-protestantische Ressentiments,213 die den Bankier Meier zum Typus des durch Geldgeschäfte zu Wohlstand gekommenen Parvenüs stempeln. Eduard zeigt sich ebenfalls kritisch dem Treibhaus gegenüber, kontrastiert aber in seiner Replik Hughes’ Rhetorik des neidischen Verdachts mit einer Rhetorik politisch engagierten Mitleids: Es liegt etwas Unnatürliches in der Farbenpracht und dem Duft dieser erkünstelten Vegeta tion, das mich ebenso unangenehm berührt, als die Bewegung der freien Thiere des Waldes in den engen Käfigen der Menagerie. Für mich ist alles Geschaffene nur schön an dem Ort, für den es geschaffen. […] [M]ir erscheint die Zusammenstellung einer Masse von Pflanzen aus den verschiedensten Welttheilen, die alle nur ein factices, krüppelhaftes Dasein führen, oft wie eine Verwirrung des Geschmackes; und wenn es nicht wissenschaftlichen Zwecken gälte, möchte ich lieber auf alle exotischen Gewächse verzichten, als sie so kümmerlich gedeihen sehen. Ich sehe ihnen immer an, was sie sein könnten, wenn sie in ihrer Heimat und frei wären, und die armen, kranken Verbannten thun mir leid. (LJ 1, 203 f.)
Die Künstlichkeit der aus ihrem angestammten Vegetationsbereich gerissenen Treibhausgewächse, die Eduard dreifach ins Feld führt (›etwas Unnatürliches‹, ›erkünstelt‹, ›factice‹) und ästhetisch abwertet (»Verwirrung des Geschmackes«), erscheint hier deckungsgleich mit ihrer biologischen ›Krüppelhaftigkeit‹ bzw. ›Kümmerlichkeit‹. Damit greift Eduard den rousseauistischen Topos vom Treibhaus als Symbol künstlicher Natureinhegung und widernatürlich vorgreifender Kindeserziehung auf,214 den er mit den Oppositionspaaren Heimat/Verbannung 213
Die Figur des Engländers Hughes ist, wie nicht nur diese Stelle belegt, keineswegs so tolerant und anerkennend gegenüber Juden, wie Ulla Schacht glauben machen will (Geschichte in der Geschichte. Die Darstellung jüdischen Lebens in Fanny Lewalds Roman »Jenny«. Wiesbaden 2001. S. 102–108). 214 Kristin Heinze: Das ›Treibhaus‹ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädagogik als Wissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Hg. von Michael Eggers und Matthias Rothe. Bielefeld 2009. S. 107–131.
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und Freiheit/Gefangenschaft ins Politische wendet. Die Attribute der Tropengewächse – exotisch, südlich, verpflanzt, unterdrückt, beklagenswert – verweisen in diesem Aussagezusammenhang auf das Signifikat ›Juden‹, zumal Eduards Mitleid mit den »armen, kranken Verbannten« den biblischen Begriff der Verbannung aufruft 215 und die Verpflanzung südlicher Gewächse in nördliche Gefilde in dieser Zeit als Kollektivsymbol zur Thematisierung jüdischen Schicksals allgegenwärtig ist (Kap. 3.3). Claras Reaktion auf Eduards politisch engagierte Rede wider die Haltung von Tropenpflanzen komplettiert das allegorische Panorama von Sichtweisen auf die ›Judenfrage‹ schließlich mit einer philosemitischen Variante. Sie legt ein weiblich kodiertes Gefühl der Fürsorgepflicht an den Tag, das die Ursachen des bemitleidenswerten Zustands weder erkennt noch zu beseitigen sucht, da im mitleiderregenden Moment selbst die Anziehungskraft der südlichen Gewächse (und im übertragenen Sinne der Juden) begründet liegt: »Ich habe die südlichen, schönen Gewächse dennoch lieb […], und vielleicht ist es Mitleid mit den Gefangenen, das mich so unwiderstehlich zu ihnen zieht« (LJ 1, 204). Während Eduard als jüdischer Kämpfer für die Emanzipation sein Augenmerk auf die Existenzbedingungen der Pflanzen legt, führen Hughes aus der Position protestantisch-bürgerlichen Vorurteils und Clara mit ihrem philosemitischen Mitleid verschiedene Umgangsweisen mit diesen Pflanzen bzw. den Juden vor. In einem Spannungs- und Steigerungsverhältnis zu dieser Treibhaus-Allegorie thematisiert Lewalds Roman die orientalische Herkunft der Juden mittels Verweisen auf bestimmte Körpermerkmale. Ein Freund der Familie Meier namens Steinheim,216 der aus einem orthodoxen jüdischen Elternhaus stammt, wird mit der Beschreibung eingeführt, er habe eine große, kräftige Figur und einen vollblütigen, rotbraunen Teint. Sein krauses schwarzes Haar, die dunkeln Augen und der starke bläuliche Bart konnten ebenso gut dem Südländer als dem Juden gehören, und machten, daß er von vielen Leuten für einen schönen Mann gehalten wurde, während Andere die kohlschwarzen Augen starr und unheimlich, die Schultern hoch, den starken Hals zu kurz und Hände und Füße zu groß fanden, daß dieses Alles ihm jeden Anspruch auf Schönheit unmöglich mache. (LJ 1, 32 f.)
Mit den zwei Wahrnehmungsmöglichkeiten der attraktiven Exotik und der abstoßenden Karikatur aktualisiert diese Beschreibung die für das frühe 19. Jahrhundert typische Ambivalenz in der Bewertung männlicher jüdischer Körperlichkeit.217 Gleichsam als Antitypus zu Steinheim wird Jennys späterer Verlobter Gustav Reinhard eingeführt: 215
Adelung 4 (1793). Sp. 990. Die Zeitgenossen lesen die Figur als Karikatur auf Salomon Ludwig Steinheim, der sich über diese Kränkung in einem Brief vom 18. Februar 1845 bei Ludmilla Assing beklagt (Steinheim: Briefe, 1996. S. 213). 217 Jewish Masculinities. German Jews, Gender, and History. Hg. von Benjamin Maria Baader u. a. 216
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Weit über die gewöhnliche Größe, schlank und doch sehr kräftig gebaut, hatte er eine jener Gestalten, unter denen man sich die Ritter der deutschen Vorzeit zu denken pflegte. Hellbraunes, sehr weiches Haar, und große blaue Augen, bei graden regelmäßigen Zügen, machten das Bild des Deutschen vollkommen, und ein Ausdruck von melancholischem Nachdenken gab ihm in Jenny’s Augen noch höhere Schönheit. (LJ 1, 64)
Dem ›südländisch‹ aussehenden Juden Steinheim mit seinen unregelmäßigen Körperformen steht in einer frappierenden Stereotypik Reinhard mit seinen »regelmäßigen Zügen« gegenüber, dem den Wahrnehmungsgewohnheiten der Romanfiguren gemäß in jeder Hinsicht eine »höhere Schönheit« zukommt als Steinheim. Auf den Projektionscharakter dieses archetypischen »Bild[es] des Deutschen« macht die Erzählinstanz explizit aufmerksam mit dem Hinweis, Reinhard habe eine Gestalt, unter der »man sich die Ritter der deutschen Vorzeit zu denken pflegte.« Jennys verklärte Sicht auf ihren Hauslehrer wird hier in das generalisierende Indefinitpronomen »man« eingebettet; sie partizipiert an der invented tradition deutscher Ritterlichkeit. In beiden Fällen evoziert die Figurenbeschreibung national kodierte bildliche Imaginationstraditionen, die in der ersten Jahrhunderthälfte sehr populär sind und durch Reproduktionen weite Verbreitung finden: Strukturiert das Genre der Judenkarikatur die Beschreibung Steinheims,218 dienen im Falle Reinhards die stilisierten christlich-deutschen Sujets der Nazarener als Wahrnehmungsfolie.219 Während die Bildkunst der Nazarener in der Beschreibung Reinhards nur als kollektive Vorstellung zitiert wird, wird die literarische Inszenierung Steinheims als wandelnde Judenkarikatur weiter ausgeführt. Steinheim präsentiere sich, so setzt sich die Beschreibung fort, in einer sehr studirte[n] Toilette, der aber bei gesuchter Eleganz jeder Geschmack abging. Er trug an jenem Morgen einen kurzen dunkelgrünen Ueberrock, zu dem eine ebenfalls grüne Atlasweste und mehr noch ein dunkelrother türkischer Shawl sonderbar abstach, den er unter der Weste kreuzweise über die Brust gelegt und mit einer großen Brillantnadel zusammengesteckt hatte. Handschuhe, Stiefel und Frisur waren nach der modernsten Weise gewählt, aber all das stand ihm, als ob er es eben wie eine Verkleidung angelegt hätte. Es war für den feinen Beobachter etwas Unharmonisches in der ganzen Erscheinung, das störend auffallen konnte. (LJ 1, 33)
Steinheim repräsentiert hier das Klischee eines jüdischen Stutzers in übertrieben elegant-modischer Kleidung. Als ein solcher Geck fungiert er in zweifacher Hinsicht als Abweichungsphänomen bürgerlicher Körper- und Kleidungsnormen: Zum einen steht er in der soziokulturellen Tradition des Parvenüs, der seine nieBloomington, IN 2012; George L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity. Oxford/New York, NY 1996. 218 Peter Dittmar: Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation. München 1992; Eduard Fuchs: Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte [1921]. Nachdruck Berlin 1985. 219 Die Nazarener – Vom Tiber an den Rhein. Drei Malerschulen des 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog Landesmuseum Mainz. Bearbeitet von Norbert Suhr und Nico Kirchberger. Regensburg 2012.
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dere Herkunft durch seine unvollkommene Beherrschung bürgerlicher Verhaltenscodes verrät.220 Zum anderen verstößt er gegen die seit der Französischen Revolution etablierte Verpflichtung des männlichen Geschlechts zum A-Modischen, die John C. Flugel 1930 auf das Schlagwort Great Masculine Renunciation gebracht hat.221 Indem der Geck sich in einer Weise modisch ausstaffiert, wie sie im 19. Jahrhundert nur noch Frauen zugestanden wird, verkörpert er das Andere der bürgerlichen europäischen Moderne und ihres uniformen Männlichkeits ideals.222 Mit dem Hinweis auf Steinheims »sehr studirte Toilette« wird das mimische, künstliche Element seines Aufzugs betont, der »wie eine Verkleidung« wirke. Im Hintergrund steht hier eine Vorstellung von jüdischer Akkulturation als einem performativen Projekt,223 das auf den Berliner Theaterbühnen der Zeit als nie ganz gelingendes Unterfangen dem Gelächter preisgegeben wird.224 Diese Figur fügt Lewald in eine Generationenfolge ein. Steinheims Mutter begegnet im Roman in der Rolle einer traditionellen alten Jüdin. Sie erzählt »mit schnarrender Stimme und jüdischem Jargon« (LJ 1, 194) allerlei Gerüchte und berührt die anderen Romanfiguren unangenehm durch »ihre Sprechwuth und ihre unaufhörlichen Gesticulationen« (LJ 1, 197). Steinheim und seine Mutter betreten die Bühne der Romanhandlung mithin in jüdisch markierten Varianten von stereotypen Rollen des Komödienfachs: der Alten als Trödeljüdin und des Liebhabers als Assimilationsgeck. Das zentrale komische Prinzip der in dieser Zeit so beliebten Possenfigur des jüdischen Gecks besteht darin, dass dessen jüdische Charakteristika immer wieder unter der dünnen Oberfläche erlernter Manieren und erarbeiteter Bildung hervorbrechen.225 Solche angeblichen Restbestände jüdischer Verhaltensweisen werden in Lewalds Roman orientalistisch gedeutet. Im Gespräch mit Hughes entschuldigt Eduard Steinheims Marotte, unablässig Zitate aus dem klassischen
220 Sarah Juliette Sasson: Longing to Belong. The Parvenu in Nineteenth-Century French and German Literature. New York, NY 2012. 221 John C. Flugel: The Psycholology of Clothes [1930]. London 41966. S. 111. 222 Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Stuttgart 2013, bes. S. 80–123. 223 Steven E. Aschheim: Reflections on Theatricality, Identity, and the Modern Jewish Experience. In: Jews and the Making of Modern German Theatre. Hg. von Jeanette R. Malkin und Freddie Rokem. Iowa City, IA 2010. S. 21–38, bes. S. 21. 224 Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York, NY 1994; Hans-Peter Bayerdörfer: »Harlekinade in jüdischen Kleidern«? – Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Bd. 2. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen 1989. S. 92–117. 225 Notorische Berühmtheit erlangt der Berliner Schauspieler Albert Wurm mit seinen Privatvorführungen, in denen er gebildete Jüdinnen mimt, die in feinstem Hochdeutsch Schiller deklamieren, im Verlauf ihres Vortrags jedoch zunehmend in einen ›jüdelnden‹ Ton abrutschen (Neubauer: Judenfiguren, 1994. S. 127).
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Literaturkanon einzuflechten, damit, dass diese Angewohnheit »gewissermaßen nationell« sei: Es walten in uns unverkennbar noch orientalische Elemente vor, und noch heute finden Sie, bei dem polnischen Juden zum Beispiel, eine Lust an kleinen Erzählungen, wie nur irgend ein Orientale sie haben kann. Er liebt es, sich in Bildern und Gleichnissen auszudrücken, und mag gern Das, was er zu sagen hat, mit einer jener Anekdoten begleiten, die oft schlagend genug sind und deren seine alten Bücher zu Tausenden enthalten. Solche wird nun Steinheim nicht leicht zu benutzen wagen, aber er kann nicht von dieser Gewohnheit loskommen, und die Citate aus neuen und alten Werken müssen ihm als Aushülfe dienen. (LJ 1, 206)
Eduard deutet Steinheims Vorliebe für Bildungszitate als Kompensation (»Aushülfe«) für eine jüdische Neigung zu den anekdotischen Erzählungen der Aggada, die er kaschieren müsse, um den Assimilationserfolg nicht zu gefährden. Diese Neigung ist nach Eduards Überzeugung bei gebildeten Juden zwar weniger ausgeprägt als bei den rückständigeren »polnischen Juden«, ragt aber dennoch als archaischer Rest störend in die Gegenwart hinein und erzeugt bei Hughes und auch bei Eduard, wie er zugibt, Widerwillen: Steinheims Zitiermarotte vergegenwärtigt ebenso wie sein eklektischer Kleidungsstil den Umstand, dass die sozialdisziplinatorische Regulierung jüdischer Eigenheiten unvollständig ist.226 Dass Eduard sich mittels der ersten Person Plural (»uns«) ausdrücklich in diese Diagnose einschließt, also auch sich selbst nicht frei von ›orientalischen Elementen‹ sieht, unterstreicht das selbstreflexive Moment des performativen Akkulturationsprojektes.227 Eduard stellt die Emanzipation als Befreiung von äußeren wie auch inneren Zwängen dar: Dem äußeren Anpassungsdrang steht in dieser Logik der innere Zwang der ›orientalischen Elemente‹ entgegen. Die Mutter von Jennys Verlobtem Reinhard lässt eine genau analog strukturierte Auffassung verlauten, als sie ihrem Sohn ihr Misstrauen gegenüber dem »jüdische[n] Element« in Jennys Verhalten erklärt. Jenny entspreche nicht ihrem Ideal einer sittsamen häuslichen Frau, weil sie Fehler habe, die »gewissermaßen 226 Als Hughes mit Eduard später über Clara und seine Absichten spricht, sie zu ehelichen, antwortet Eduard mit einem Gleichnis. Darauf versetzt Hughes »höhnisch«: Das »Gleichniß mag recht schön sein […], ich bin nur leider nicht in der Stimmung, Ihre poetischen Produktionen zu bewundern.« Dieser Kommentar trägt durch die indirekte Bezugnahme auf die Unterhaltung über Steinheim eine subtile Spitze in das Gespräch ein; Hughes erinnert Eduard gleichsam daran, dass auch er wie Steinheim ›noch orientalische Elemente‹ in sich trage. Eduard kann daraufhin nur mit Mühe einen Wutausbruch unterdrücken (LJ 2, 79). 227 Diesen Punkt entschärft Lewald in ihrer späteren Bearbeitung des Romans, indem sie das Personalpronomen »uns« durch die distanziertere Pluralform »Juden« ersetzt und die regionale Kategorisierung des »polnischen Juden« tilgt: »Es walten in den Juden noch die alten orientalischen Elemente vor; und noch heute hat z. B. der ungebildete Jude seine Lust an kleinen Erzählungen, wie der Orientale« (Lewald: Jenny, 1872. S. 98). Auf Grundlage welches Textbefunds Gudrun MarciBoehncke (Fanny Lewald. Jüdin, Preußin, Schriftstellerin. Studien zu autobiographischem Werk und Kontext. Stuttgart 1998. S. 224) die Beobachtung macht, Eduard spreche sich dezidiert gegen eine synonyme Verwendung der Bezeichnungen ›Jude‹ und ›Orientale‹ aus, muss wohl offen bleiben, da die Verfasserin keine Quellenangabe macht.
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nationell« seien: »Die Lebhaftigkeit, das südliche Feuer der Juden fällt bei der Hefe der Nation als eine unerträgliche Manier auf. Ihr Sprechen, ihre Geberden sind carrikirt. Davon ist der Gebildete frei, die unruhige Lebhaftigkeit indessen bleibt ein hervorstechender Zug der Juden« (LJ 1, 179–182). Wie Eduard in seiner Kategorisierung des ›polnischen Juden‹, so vertritt auch Reinhards Mutter die Ansicht, dass ungebildete und sozial niedrig gestellte Juden228 deutlicher ihre »südliche« Abkunft verraten als gebildete, dass aber auch bei diesen Reste derselben zu beobachten seien, von denen sie nicht ›loskommen‹. In beiden Äußerungen – des akkulturierten jüdischen Arztes und der Pfarrersfrau – werden diese orientalischen bzw. südlichen Reste als störende Anachronismen gewertet. In der Figurenkonstellation des Romans treten so einerseits Steinheims Mutter als Typus der alten, traditionellen, hässlichen und Jenny als Inkarnation der jungen, gebildeten, schönen Jüdin sowie andererseits Steinheim als Repräsentant einer nur unvollständig-äußerlichen und Eduard als Vertreter einer seelisch durchbildeten Assimilation in das Abstufungsverhältnis eines Entwicklungsmodells, das auf die vollständige Überwindung orientalischer Charakterzüge und Körpermerkmale in der Zukunft zielt. Damit wird die Aporie wiederholt, die in der zweideutigen Forderung nach ›Verbesserung‹ den gesamten Emanzipationsdiskurs prägt: Zur Bedingung der Emanzipation der Juden wird ihre Emanzipation vom Judentum gemacht (Kap. 3.1.1). Dieses Dilemma spitzt Lewald in ihrem Roman zu, indem sie ihre jüdischen Figuren in einem lebenden Bild nach Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon posieren lässt. Die orientalischen Charakteristika, die ansonsten im Roman mit Ressentiment behaftet sind, werden hier, wie nun zu zeigen sein wird, nach außen gekehrt und dadurch für einen Moment in ihrer Wertung umgekehrt.229 4.3.4 Im Treibhaus gefangen, im Gesang befreit Bendemanns Gefangene Juden als lebendes Bild in Lewalds Roman Jenny (1843) Am Silvesterabend des Jahres 1832 geben die »herrlichen Tropengewächse« des meierschen Treibhauses (LJ 1, 252), das direkt an den Salon grenzt, den Hintergrund für ein lebendes Bild nach Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon (Abb. 20) ab.230 Bereits als Allegorie jüdischer Diaspora überdeterminiert, 228
So die Bedeutung des Ausdrucks »Hefe der Nation« (Adelung 2 (1793), S. 1055 f.). Das ist bisher nicht in der Forschung bemerkt worden; überhaupt haben die orientalistischen Wertungsstrukturen des Romans immer wieder simplifizierende Behandlungen erfahren. Selbst ein neuerer Beitrag, der mit Blick auf Lewalds Roman das lange dominierende Erklärungsschema des Selbsthasses produktiv hinterfragt, wird der Komplexität des Orientalismus in Lewalds Jenny nicht gerecht (Traci S. O’Brien: Enlightened Reactions. Emancipation, Gender, and Race in German Women’s Writing. Bern 2011. S. 177–201). 230 Lewald hat eine der zahlreichen Reproduktionen von Bendemanns Monumentalgemälde 1832/33 vermutlich auf der Reise mit ihrem Vater durch die preußischen Gebiete oder während ihres anschließenden Aufenthaltes bei Verwandten in Breslau gesehen (Lewald: Meine Lebensgeschichte. 229
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wird der Wintergarten hier als Bildhintergrund gleichsam wie ein lebendes Bild des biedermeierlichen Genres der Tropenmalerei eingesetzt, das zu dieser Zeit in Panoramen, auf Photographien, Postkarten und Bildtapeten Konjunktur hat.231 Was geschieht nun mit Steinheim und Jenny, deren jüdisch-orientalische Charakter- und Körpermerkmale im Roman als Irritationsmomente thematisiert werden, als sie vor diesem tropischen Hintergrund Bendemanns Gefangene Juden stellen? Steinheim, der als hässlich-groteske Judenkarikatur in den Roman eingeführt worden war, wandelt sich im lebenden Bild zum würdevollen Hebräer: Steinheim, der den Greis darstellte, war durch seine kräftige Gestalt und sein ausdrucksvolles Gesicht, das durch den künstlichen Bart und die orientalische Kopfbedeckung an Bedeutung gewann, vortrefflich für seine Stelle geeignet. Eine junge Verwandte des Hauses […] repräsentirte die junge Frau mit dem Kinde. Zu Steinheims Füßen ruhte, verhüllten Angesichts, Therese, und – die rechte Hand auf die Laute gelehnt, das schöne Haupt auf den andern Arm gestützt, saß Jenny an Steinheim’s Seite. Man konnte nichts Edleres, nichts Ergreifenderes sehen, als den Ausdruck hoffnungsloser Trauer in ihren jugendlich zarten Zügen. (LJ 1, 252 f.)
Die orientalische Verkleidung kehrt dieser Ekphrasis zufolge den würdevollen Charakter der jüdischen Figuren hervor: Steinheims Gestalt und Gesicht gewinnen durch die orientalischen Requisiten »an Bedeutung« und Jennys Antlitz kommt in diesem Umfeld zu voller Geltung. Die Christin Therese hingegen, die innerhalb der Figurenkonstellation des Romans einen blassen, braven, bescheidenen Antityp zur lebhaft-neugierigen Jenny abgibt, erscheint »verhüllten Angesichts« und wird so in der Bildregie anonymisiert; auch die syntaktische Dramaturgie der Beschreibung geht über sie gleichsam als Staffage-Element hinweg, um nach einem typographisch betonten syntaktischen Bruch mit zwei parallel angelegten Appositionen auf Jenny hinzuleiten. Die ekphrastische Umkehrung der Blickführung des bendemannschen Gemäldes, die auf die Mutter mit Kind hinleitet, ist durchaus programmatisch zu verstehen. Denn das fiktive lebende Bild geht ebendie darstellungsästhetischen Risiken ein, die Bendemann meidet. Bendemann versammelt in seinem Gemälde Bd. 2 (1862), bes. S. 63–67). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Lewald das Gemälde außerdem als lebendes Bild inszeniert gesehen hat, denn es wurde sowohl 1832 in Berlin als auch 1833 in Königsberg als tableau vivant gestellt (August Hagen: Ueber die zweite Kunst- und Gewerbeausstellung in Koenigsberg. In: Museum 1:16 (1833). S. 121–123). Mit der Inszenierungspraxis lebender Bilder ist Lewald seit ihrer Jugendzeit durch Tanzabende in den Häusern der Familie Oppenheim in Königsberg vertraut (Lewald: Meine Lebensgeschichte. Bd. 1 (1861). S. 187); in Breslau liest sie Goethes Roman Wahlverwandtschaften (ebd., Bd. 2. S. 71). Vgl. auch Peter M. MacIsaac: Rethinking Tableaux Vivants and Triviality in the Writings of Johann Wolfgang von Goethe, Johanna Schopenhauer, and Fanny Lewald. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 99 (2007). S. 152–176. 231 Nana Badenberg: Ansichten des Tropenwaldes. Alexander von Humboldt und die Inszenierung exotischer Landschaft im 19. Jahrhundert. In: Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Hg. von Michael Flitner. Frankfurt am Main/New York, NY 2000. S. 148–173; Sven Werkmeister: Die Tropen des Amazonas. Zur deutschen Kulturgeschichte des südamerikanischen Waldes. In: Ost-westliche Kulturtransfers. Orient – Amerika. Hg. von Alexander Honold. Bielefeld 2011. S. 193– 219, hier: S. 201.
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drei Generationen vom Säugling über Frauen im gebärfähigen Alter bis zum Greis und umgeht die wirkmächtige Darstellungstradition der Judenkarikatur unter anderem dadurch, dass er keinen jungen, virilen Mann zeigt. Das lebende Bild hingegen tritt zu dieser Karikaturtradition in ein direktes und kritisches Kommentarverhältnis, indem die zentrale Rolle des Greises mit dem knapp dreißigjährigen Steinheim besetzt wird, der zu Beginn des Romans in der stereotypen Rolle des grotesken jüdischen Gecks eingeführt worden war. Lewalds Roman macht sich hier die Effekte des Reproduktionsprinzips lebender Bilder für einen literarischen Kommentar zur Darstellungsästhetik von Juden im Emanzipationszeitalter zunutze. Das tableau vivant erwirkt einen Rollenwechsel im Akkulturationstheater: Aus der stereotypen Konstellation der judenfeindlichen Posse wird Steinheim in ein antikes Historiendrama versetzt. War seine moderne Toilette eingangs als eine mit seinem Körper im Widerstreit stehende »Verkleidung« kritisiert worden, die einen störenden Eindruck des Unharmonischen hinterlasse, wird die orientalische Kostümierung im lebenden Bild als eine authentische, harmonische Ergänzung des jüdischen Körpers inszeniert.232 Erst die alttestamentlich-orientalische Staffage des lebenden Bildes gibt Steinheim jenen edlen Ernst, jene Stimmigkeit, die ihm in seinem Versuch, einen modernen Elegant darzustellen, abgeht. Steinheim wird durch die Bildtradition antiker Hebräer aus der Bildtradition der Judenkarikatur befreit. Die hebräische Antike kann es hier an würdevoller Bildmacht mit der »deutschen Vorzeit« aufnehmen, an die Reinhards Körpergestalt Jenny erinnert. Mittels dieser intermedialen Inszenierung des 137. Psalms wendet der Roman die orientalische Herkunft zum Ausweis jüdischer Dignität. Steinheim und Jenny werden in die Ursituation des jüdischen Exils zurückversetzt; die jüdischorientalische Genealogie in ihrer konstitutiven Zwiegesichtigkeit von biologischer Vererbung und kultureller Textüberlieferung dient als Bindeglied in diesem Symbolsystem. Durch das schöne Gesicht der jungen Jenny leuchtet die mehrtausendjährige kollektive Trauer eines Volkes, leuchtet eine Trauer, die den eigenen biographischen Horizont weit in die historische Tiefe hinein überschreitet und sich dadurch auch dem eigenen Wollen und Handeln entzieht: »Man konnte nichts Edleres, nichts Ergreifenderes sehen, als den Ausdruck hoffnungsloser Trauer in ihren jugendlich zarten Zügen.« Möglich ist das allerdings nur in der Einhegung eines ephemeren lebenden Bildes. Außerhalb dieses Rahmens, im Alltag deutscher Bürgerlichkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie Lewald ihn in ihrem Roman darstellt, scheint es für dieses würdevolle antik-orienta 232
Dass dabei durchaus entscheidend ist, um welchen Orient es geht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der »türkische[ ] Shawl« (LJ 1, 33), den Steinheim als Teil seines modernen eklektischen Aufzugs trägt, nicht einmal von ferne den Effekt hat, den die biblisch-orientalische Kostümierung des lebenden Bildes hervorbringt: Das zeitgenössische Osmanische Reich passt in dieser ästhetischen Logik zu den uralten Formen des jüdischen Körpers und des jüdischen Antlitzes ebenso schlecht wie Atlaswesten und Brillantnadeln.
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lische Erbe keinen Raum zu geben. Ebendiese Spannung charakterisiert das Spektrum orientalistischer Zuschreibungen in Lewalds Roman. In der Romanfiktion ist die Begeisterung der Gäste angesichts des lebenden Bildes allgemein. Die Betrachter sind sich einig, dass »diese Darstellung einen lebhafteren Eindruck mache als Bendemanns Bild selbst, während sonst fast immer dergleichen weit hinter dem Original zurückbleibt« (LJ 1, 253). Urheber der erfolgreichen Bildinszenierung ist der mit der Familie befreundete Maler Erlau. Als Hughes ihn fragt, warum das lebende Bild einen »so erschütternden Eindruck« mache, antwortet er: »Sie haben heute zum ersten Mal trauernde Juden gesehen, während Bendemann trauernde Düsseldorfer in fremdartiger Kleidung gemalt hat!« (LJ 1, 257 f.). Die ephemere Reproduktion verdankt ihre überwältigende Wirkung laut Erlau einer kalkulierten Bildregie, die auf einer Besetzung der Rollen mit Juden basiert. Erlau begründet diese Strategie in einem ausführlichen Bildkommentar, der die kunstkritischen Debatten über Bendemanns Gemälde (Kap. 4.3.1) aufgreift: »Ich liebe die Juden; sie sind nicht mehr Das, was sie vor tausend Jahren gewesen sein mögen, aber es ist noch Originalität, Race in ihnen, und darum sind sie für den Maler interessant. Nun dachte ich, wenn ein Jude den Muth hat, Juden zu malen; wenn dieser Maler Bendemann ist, da muß es ein Stück Arbeit werden, das Hand und Fuß hat. Ich dachte, er würde sich köstliche Gestalten, üppige Weiber mit Flammenaugen gewählt haben – nicht doch! so weit reicht sein Muth nicht. Er nimmt ein Sujet aus dem Judenthume, aber er tauft seine Juden, er übersetzt sie ins Düsseldorf’sche, und nun sitzen die deutschen Mamsellen und sehen, so hübsch sie sind, doch nur aus, wie Düsseldorfer Gärtner, denen die Raupen den Kohl aufgefressen haben.« Hughes lachte – »Was ist da zu lachen?« fragte Erlau, der ganz ernsthaft wurde, sobald es die Kunst galt, die er heilig hielt. »Gestehen Sie, es ist, wie ich sage. Ist schon irgend ein Mensch so thöricht gewesen, sich blonde, deutsche Modelle zu nehmen, wenn er neapolitanische Fischer malen wollte? Das thut Niemand. Würde nicht alle Welt lachen, es abgeschmackt finden, wenn man Zigeuner mit der Physiognomie eines phlegmatischen Holländers malte? – oder Parias mit goldblonden Locken und einer Lilienhaut? Auch dem Paria muß sein Recht werden, sonst laßt ihn lieber ungemalt und ungeschoren; und dasselbe verlange ich für die Juden. Sehen Sie einmal den Steinheim, die Jenny an; denken Sie an das junge Weib, das Sie heute im Tableau gesehen; sind das nicht Köpfe, die sich mit allen italienischen Modellen messen können?« Hughes gab es zu, daß auch ihm, trotz der widerwärtigen Carrikaturen, die man unter den Juden sähe, eine Menge wahrer Schönheiten sowol [sic] unter Männern als Frauen aufgefallen wären. »Das sage ich ja«, eiferte der Maler. »Es ist mit den Juden wie mit den Fürstenhäusern und dem hohen Adel, die sich auch so untereinander rekrutiren. Die Race artet aus ins Krüppelhafte oder sie veredelt sich. Sehen Sie die feinen Glieder, das Auge! Die Ueppigkeit des Orients, die finden Sie heute noch oft bei den Juden und die Beweglichkeit ihrer Züge empfiehlt sie dem Maler. Darum wählte ich heute das Bild und diese Personen zu dem Bilde; und ich wollte, Bendemann selbst hätte es gesehen. Da er sich hoffentlich nicht schämt, ein Jude zu sein, hätte er an dieser Darstellung vielleicht den Muth gewonnen, Juden zu malen; denn, unter uns gesagt, feig sind die Juden doch! – « (LJ 1, 258–260)
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Gerade die orientalischen Reste an jüdischen Körpern, die von anderen Figuren im Roman als störende Assimilationshindernisse abgewertet worden waren, sind – verstanden als Reste von »Originalität« – aus Erlaus Sicht »für den Maler interessant«. Während Kunstkritiker wie Hermann Püttmann und Franz Kugler den weitgehenden Verzicht auf orientalische Elemente in Bendemanns Gemälden gelobt hatten, vermisst Erlau in denselben eine weiblich kodierte »Ueppigkeit des Orients«. Dem gemäßigten Idealstil der Düsseldorfer Malerschule hält Erlau Vorstellungen entgegen, die in der Tradition der opulenten Orientmalerei der französischen Romantik stehen; seine Bildregie konfrontiert Bendemanns idealisiertes Bild der Klage mit einem sinnlich-orientalistischen Konkurrenzmodell.233 Um seine Position deutlich zu machen, wirft Erlau Bendemann einen Registerfehler vor: Statt feuriger »üppige[r] Weiber« habe er Düsseldorfer Gärtner gemalt, statt den uralten jüdischen Schmerz abzubilden, habe er die Trivialität biedermeierlicher Kleinstsorgen (ein paar angenagte Kohlköpfe) ins Bild gesetzt. Erlaus Beschreibung travestiert Bendemanns Gemälde vom genus sublime zum genus humile und bringt damit Hughes zum Lachen. Analog zu Steinheims groteskem Auftreten als Elegant wird der Übersetzungsversuch Bendemanns als ein scheiternder charakterisiert: In der travestierenden Vermittlung Erlaus bringen die ›Trauernden Juden‹ den komischen Effekt einer Katachrese hervor.234 Die Kunstdebatten der Zeit aufgreifend, in denen unter anderem an Bendemanns Gefangenen Juden die Möglichkeiten einer Erneuerung der Historiendurch die Genremalerei diskutiert werden,235 stellt Erlaus Bildkommentar die beiden in den 1830er Jahren dominanten Schulen und Erwartungshorizonte der bildenden Kunst einander gegenüber; er interpretiert und korrigiert mit seinem lebenden Bild eine Ikone des deutschen naturalistischen bzw. illusionistischen Idealismus nach der Manier des französischen Orientalismus. Dass eine Stellungnahme in dieser kunstkritischen Debatte mit Blick auf Bendemanns Gemälde immer auch einen Kommentar zur ›Judenfrage‹ impliziert, wird daran deutlich, dass Erlau Bendemanns bildkünstlerische Übersetzungsleistung mit der Konversion parallelisiert (»aber er tauft seine Juden, er übersetzt sie ins Düssel233 Vgl. zum Verzicht auf weibliche Erotik in der Düsseldorfer Malerschule auch Püttmann: Die Düsseldorfer Malerschule, 1839. S. 90. 234 Ebenden komischen Effekt, den Erlau mit seiner parodistischen Bildbeschreibung erzielt, erwirkt auch der selbst der Düsseldorfer Schule zugehörige Künstler Adolph Schroedter mit seinem parodistischen Gemälde Die trauernden Lohgerber (1832), indem er eine Redensart (›Den Lohgerbern schwimmen die Felle davon‹) als triviale Genreszene umsetzt und mit unangemessen gemäßigt wirkender Trauermimik und -gestik kombiniert (Börsch-Supan: Zur Urteilsgeschichte der Düsseldorfer Malerschule, 1985. S. 222). 235 Alexander Bastek: Allegorie der Sehnsucht. Ein Trauer- und Sehnsuchtsmotiv zwischen Historie, Allegorie und Genre. In: »An den Wassern Babylons saßen wir«. Figurationen der Sehnsucht in der Malerei der Romantik. Ferdinand Olivier und Eduard Bendemann. Ausstellungskatalog Mu seum Behnhaus Drägerhaus Lübeck. Hg. von Alexander Bastek und Michael Thimann. Petersberg 2009. S. 11–21, hier: S. 11 f.; Krey: Gefühl und Geschichte, 2003. S. 85.
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dorf’sche«) und beidem eine Absage erteilt: Erlau setzt bildkünstlerisch und sozial auf den Reiz der Differenz. Weder befürwortet er eine Aufhebung von Fremdheit, wie sie Bendemanns Gemälde vollbringt, noch bringt er den Juden Akzeptanz in ihrer Fremdheit entgegen, vielmehr kultiviert er eine Faszination für die Juden wegen ihrer Fremdheit. Erlaus Kategorie des südlichen Typs ist insofern intern hierarchisch gestaffelt, als sie abgesehen von den Italienern nicht etwa Völker (z. B. Araber, Inder), sondern mit Zigeunern und Parias, den Unberührbaren im indischen Kastensystem, soziale Randgruppen versammelt. Die Juden nehmen in dieser Gruppe – als ›Nation‹ und Randgruppe zugleich – eine Zwischenposition ein. Mit dieser prekären ästhetischen Grenzposition innerhalb des südlichen Modell-Faches wird bereits zu Beginn des Romans gespielt. Als Erlau in einer geselligen Runde die Theaterschauspielerin Giovanolla für ihre »Feueraugen«, ihre vollen Züge und üppigen Formen als den »Typus einer italienischen Schönheit« preist, kontert Claras Bruder Ferdinand Horn abfällig: »Wenn sie nur nicht so verdammt jüdisch aussähe«, und betont, dass diese Person ihm »wirklich mit all ihrer gepriesenen italienischen, oder sagten Sie orientalischen Schönheit?« zutiefst missfallen habe (LJ 1, 2 f.). Die süffisante Verschiebung Horns von der italienischen zur orientalischen Schönheit innerhalb des südlichen Fachs drängt den jüdischen Typus vom klassischen Schönheitsideal Italiens weg hin zu den niedriggestellten Randgruppen der Zigeuner und Parias. Erlaus rhetorische Frage, ob Steinheim und Jenny sich etwa nicht »mit allen italienischen Modellen messen können«, antwortet gleichsam verspätet auf Ferdinand Horns suggestive Frage in der Eingangsszene des Romans und (re‑)integriert die Juden unter Verweis auf ihren morgenländischen Ursprung (es sei »noch Originalität« an ihnen) in den klassischen Schönheits kanon. Auch diese ethno-ästhetische Aufwertung lebt freilich vom Vorurteil. Die Ambivalenz in der Wertung Steinheims bei seiner Einführung in den Roman (hässlich-karikaturesk oder schön-exotisch) findet ein biologistisches Echo in Erlaus Diktum »Die Race artet aus ins Krüppelhafte oder sie veredelt sich.« Erlaus Würdigung der Juden ist gebrochen in der Annahme ihrer Degeneration. Sein kleiner Vortrag drückt mit der dramaturgischen Schleife von plakativem Philosemitismus (»Ich liebe die Juden«) zu einer essentialisierenden Abwertung (»feig sind die Juden doch!«) im heimlich-vertraulichen Ton des Tabus (»unter uns gesagt«) eine zwiespältige Haltung aus.236 Der weitgehende Verzicht auf orientalisierende Elemente in Bendemanns Darstellung wird in Erlaus Logik mit der angeblichen Feigheit der Juden begründet. Sich selbst hält der Maler demgegenüber zugute, die Juden ästhetisch als Orien236 Nicht nur diese Ambivalenz entgeht Schacht: Geschichte in der Geschichte, 2001. S. 101, die in Erlau den einzigen »ausgesprochene[n] Judenfreund« des Romans sieht, der frei von Vorurteilen sei (ebd., S. 108).
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talen zu ihrem Recht kommen zu lassen, ihre Differenz zu würdigen statt zu verstecken. Diese Strategie einer aufwertenden Orientalisierung wird im Fortgang der Szene auf eine moralische und politische Ebene gehoben. Eduard nämlich, der mit Steinheim zu Hughes und Erlau tritt und sich in das Gespräch einmischt, bestätigt Erlaus Feigheitsdiagnose am Beispiel von Michael Beers im Dezember 1823 mit großem Erfolg in Berlin uraufgeführtem Drama Der Paria,237 in dem dieser die Unterdrückung »sub rosa« male (LJ 1, 262 f.). Eduard kritisiert Beers Vorgehen einer verdeckten Verhandlung von Konflikten und Problemen deutscher Juden in völlig anderen historischen kulturellen Kontexten und wendet sich damit gegen das zu dieser Zeit – maßgeblich bedingt durch die Einschränkungen der Zensur – häufig eingesetzte Prinzip der Allegorie.238 Diese Diskus sion lässt sich auch als Metakommentar verstehen. Erlaus kunstkritische und Eduards literaturkritische Polemiken gegen eine nur indirekte Verhandlung der ›Judenfrage‹ legitimieren Lewalds stark referentiell angelegten Tendenzroman, der vom ersten Satz an mit konkreten Jahres- und Ortsangaben sowie Bezügen auf historische Ereignisse aufwartet, dessen erzählte Zeit unmittelbar an das Publikationsjahr 1843 heranreicht, und der keinen Hehl daraus macht, ganz konkret die Lage der deutschen Juden in den 1830er und 1840er Jahren problematisieren zu wollen. Dass Lewald mit Erlaus kunstkritischer Stellungnahme zu Bendemanns Gemälde und der anschließenden politisch-poetologischen Debatte über Darstellungsformen der Juden zentrale Momente des damaligen Diskurses aufnimmt und den Nerv der Zeit trifft, belegt nicht zuletzt Ludwig Philippsons Entscheidung, ebendiese Passage in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums als Anhang zu seiner sehr kritischen Besprechung vollständig abzudrucken mit der Begründung, diese Stelle des Buches biete »allein, ohne aus dem Zusammenhange gerissen zu sein, ein höheres Interesse« für seine jüdischen Leserinnen und Leser. Philippson interessiert sich also gerade für diejenige Passage des Romans, die jüdische Eigenheit als orientalische statuiert, während ihn dessen assimilatorische Tendenzen bedenklich stimmen. Er vermutet eine christliche Verfasserin hinter dem Werk, denn sie »kennt das Judenthum nicht. Sie faßt es nur von der einen Seite, von der es freilich jetzt auch von vielen, weltlich gebildeten Juden nur verstanden wird: als Negation des Christenthums.« Von seinen Inhalten und »von Michael Beer: Der Paria. Trauerspiel in einem Aufzuge. Stuttgart/Tübingen 1829. Vgl. zum Kontext Jürgen Stenzel: Assimilation durch Klassik. Michael Beers ›Der Paria‹, Heine, Goethe. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1987. S. 314–335. 238 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 31993. S. 31 und S. 39 f. Dass es sich bei dieser Frage um ein virulentes literaturpolitisches Thema der Zeit handelt, belegt ein Brief Heines vom 21. Januar 1824 an Moses Moser, in dem er sich kritisch zu Beers Paria-Juden-Analogie äußert und sein Drama Almansor von Beers Paria abzugrenzen versucht (HSA 20, 137), ebenso wie die Erörterung bei Berthold Auerbach: Michael Beer. Biographie und Kritik. In: ders.: Gallerie der ausgezeichnetsten Israeliten aller Jahrhunderte, ihre Portraits und Biographien. Bd. 5. Stuttgart 1838. S. 19–35, hier: S. 24. 237
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seinem die Phantasie beschwingenden, das Gemüth anregenden Alterthum, von seiner den Willen anfeuernden, begeisternden Mission hat sie keine Ahnung.«239 Das eigenartige Verhältnis zwischen Philippsons Verriss des Romans und seinem Abdruck einer längeren Passage daraus spiegelt die dem Roman selbst inhärente Spannung zwischen Selbstbehauptung und Selbstverneinung, zwischen Auf- und Abwertungen des orientalischen Erbes wider. Der Orientalismus dient dabei – gerade mit seinen ambivalenten Untertönen – als prekäres Mittel jüdischer Selbstverständigung. Die orientalische Herkunft der Juden wird in Lewalds Roman in einem komplexen intermedialen Kommentierungsverhältnis entfaltet, das über die semantisch überdeterminierte Text-Bild-Relation des fiktiven lebenden Bildes hinaus schließlich noch, wie nun gezeigt werden soll, auf die Musik erweitert wird. Auch hier nimmt Lewald eine typische Geselligkeitsform der Biedermeierzeit auf.240 Während Erlaus lebendes Bild allgemein Bewunderung erregt, zeigt eine Gesangsdarbietung Jennys gegen Ende des Romans, die ebenfalls auf den 137. Psalm Bezug nimmt, eine zutiefst verstörende Wirkung. Auch hier gibt es – nach dem Scheitern aller privaten und gesamtgesellschaftlichen Hoffnungen der Romanfiguren – eine kunstdilettantische Vorstellung; statt eines stummen Bildes ist es jetzt jedoch das angestammte Medium der Psalmen, das zum Ausdruck uralten jüdischen Schmerzes wird: der Gesang. Jenny wird bei der geselligen Abendveranstaltung einer Freundin um einen Liedvortrag am Klavier gebeten und entschließt sich, nachdem sie ein judenfeindliches Gespräch über ihr Verhältnis zu Graf Walter hat belauschen müssen, Byrons Mädchen von Juda in der Vertonung von Friedrich Wilhelm Kücken zu singen: Ihre starke, metallreiche Stimme schien von dem Schmerz in ihrer Brust einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefste Trauer klang aus ihren Tönen und als sie die zweite Strophe mit den Worten endete: ›O Vaterland süß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott sein?‹ wagte Niemand zu athmen, und Alle standen wie festgebannt und beherrscht durch die Gewalt des Schmerzes, der in diesen Tönen zu Gott rief und von ihm Rache erflehte. Dann ging der Gesang wieder zu wehmütiger Klage über, Jenny’s Stimme wurde weicher, bis sie nochmals mächtig erklang in den Worten: ›in Knechtschaft des Feindes der Jude verlacht‹, und endlich matt in dem Wunsche erstarb: ›O Vaterland süß, o Vaterland mein! könnt ich nur im Tode vereinet dir sein!‹ (LJ 2, 258 f.)
Jenny wird in dieser Szene als ein jüdischer Klangkörper beschrieben, durch den zwei verschiedene Gefühle – Rachebegehren auf der einen, wehmütiger Schmerz 239
AZJ 8:7 (1844). S. 96–98. Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900. Leipzig 1969, bes. S. 27–37; Nicolai Petrat: Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815–1848). Hamburg 1986; Andreas Ballstaedt und Tobias Widmaier: Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis. Stuttgart 1989. 240
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auf der anderen Seite – hindurchlaufen, die sich in Härte (»starke, metallreiche Stimme«) und Weichheit ihrer Stimme (»Jennys Stimme wurde weicher«) abwechseln bis hin zum performativen Verebben des Gesangs im verbal geäußerten Todeswunsch (»und endlich matt in dem Wunsche erstarb«).241 Die Gäste sind durch dieses bewegte An- und Abschwellen jüdischer Rede »wie festgebannt« und für die Dauer der Darbietung zu erstarrter Leblosigkeit gebracht (»wagte niemand zu atmen«). Die Szene dreht damit die Machtkonstellation des lebenden Bildes um: Waren dort stumme, trauernde, in Ketten festgehaltene Juden dem (nichtjüdischen) Blick ausgesetzt, also in einem doppelten Sinne im sentimentalen Bild gefangen, »beherrscht« hier Jenny als ›Mädchen von Juda‹ mit der »Gewalt des Schmerzes« und der »Macht« ihres rachedurstigen Gesangs die (nicht jüdischen) Zuhörenden. Hatte das lebende Bild lediglich die ersten beiden Verse des Psalms in einem sentimentalen Setting bildlich umgesetzt, ist diese Szene in ihrer Gesamtkonstellation dem 137. Psalm nachgebildet. Die verstörte Jenny wird zum Singen aufgefordert und trotz ihrer entsprechenden Bitte nicht aus der gesellschaftlichen Verpflichtung eines Gesangvortrags entlassen. Damit wird die Aufforderung der babylonischen Unterdrücker an die Juden variiert, zu »singen und in unserem Heulen fröhlich [zu] sein« (Psalm 137). Jennys Anrufung des ›Rachegottes‹ greift in diesem Kontext den psalmischen Fluch gegen Babel auf. Lewald überträgt die archetypische Sprechsituation der Juden im Babylonischen Exil in den großbürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts, um die Position einer deutschen Jüdin der Gegenwart zu verhandeln. Das Lied aktualisiert den Psalmengesang als Sprechhandlung, statt ihn nur als stummes Bildmotiv der Klage aufzugreifen, und verwehrt sich damit – anders als das Bild der Gefangenen Juden – einer sanft-melancholischen Kontemplation: Das im Gesang artikulierte Rachebegehren ist direkt übertragbar auf das nichtjüdische Publikum. Jennys Darbietung ist ein Akt der Aggression, und dementsprechend reagiert die gesellige Runde verstört: »Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu hören, in Vieler Augen standen Thränen; Andre sahen sich befremdet an« (LJ 2, 259 f.). Die Szene verkehrt für einen Moment die soziokulturellen Machtverhältnisse, und sie verkehrt für einen Augenblick die Zeitverhältnisse, indem dieser Gesang wie ein »Gespenst« die ewige »Wahrheit« jüdischen Schicksals mit der Angst- und Gruselsemantik von Schauerromanen in den heiter-biedermeierlichen Abend hineinträgt (LJ 2, 259 f.). Der mediale Wechsel zur Wort-Klang-Verbindung erhält in Bezug auf den jüdischen Körper zusätzliche Virulenz, insofern dessen Bewegungen und Stimme im Kontext des Akkulturationsprojektes als domestikationsbedürftig gelten. Wie 241 In der Überarbeitung von 1872 ist der Ton von Fluch und Rache stärker betont. Statt von »Schmerz« ist hier die Rede von »Zorn in ihrer Brust« und »Gewalt des Zornes« (Lewald: Jenny, 1872. S. 302).
4.3 Zitierte Texte, lebende Bilder, gewaltige Töne
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prekär und symbolisch aufgeladen die jüdische Stimme in Lewalds Roman ist, wird – abgesehen von der »schnarrenden Stimme« der Mutter Steinheims (LJ 1, 194) – an Hughes’ Bemerkung deutlich, es sei schade, dass man mit Eduard so vorsichtig umgehen müsse, »weil man nur zu leicht diese Saite seines Gemüthes berührt, die ewig in Klagetönen erklingt, in Dissonanzen, für die es nun einmal noch keine Auflösung gibt« (LJ 1, 212). In der Metapher des jüdischen Körpers als dissonant klingendem Zupfinstrument wird die Vorstellung eines besonderen Klagemodus jüdischer Poesie mit dem Stereotyp des schnarrenden Mauscheltons zu einer Kritik am Projekt der Emanzipation verbunden: In der Moderne klingt der urtümliche Harfenklang der Psalmen schief. Die optischen Dissonanzen in der Erscheinung Steinheims (»etwas Unharmonisches«) und die klanglichen Dissonanzen in Eduards Emanzipationsrhetorik sind in dieser Logik Belege dafür, dass sich die Kluft zwischen morgenländischem Ursprung und deutscher Gegenwart nicht überspannen lässt; dass es für die sogenannte Judenfrage »nun einmal noch keine Auflösung gibt.« Gegen assimilatorische Modernisierungsversuche setzt der Roman eine genealogisch begründete Würde der Fremdheit, die sich allerdings nur in ephemeren Inszenierungen ausagieren lässt. Wie Steinheim in der historisch entrückten Rolle eines klagenden Hebräers des morgenländischen Altertums vorübergehend zu sich selbst findet, so entfaltet Jennys Gesang eine Gewalt, die sich jeder Anpassung oder gar Anbiederung verweigert und in der nackten Archaik einer ewigen jüdischen »Wahrheit« auftritt. Damit ergibt sich für die Integration des 137. Psalms ein intermediales Komplementär- und Steigerungsverhältnis vom ersten zum zweiten Romanteil. Im ersten Teil wird in der bildlich-theatralen Umsetzung des 137. Psalms eine jüdisch-orientalische Genealogie etabliert, im zweiten Teil übernehmen Wort und (Körper-)Klang diese Funktion: Einzelne jüdische Figuren werden so im Roman zu transhistorischen Ausdrucksträgern des jüdischen Volkes gemacht.242 Wie sind diese Darstellungsstrategien literaturgeschichtlich zu verorten? Lewalds Roman ist sichtlich in der Salonkultur seiner Zeit verwurzelt. Ein von Zuschreibungs- und Lesefehlern gezeichneter intertextueller Verweis lässt sinnfällig werden, wie jüdisch kodierte Texte und Bilder in diesen geselligen Verwendungszusammenhängen eine Eigendynamik entfalten. Das von Jenny vorgetragene Lied stammt nämlich nicht wie im Roman angegeben von Byron. Es handelt sich um eine deutsche Nachdichtung des Liedes The Maid of Judah des Unterhaltungsmusikers jüdischer Herkunft Charles Sloman (1808–1870), der als Improvisator in den Londoner song and supper clubs, Vorläufern der music halls, berühmt
242 Dies wird nicht nur in Jennys Gesangsdarbietung sinnfällig: Als Jennys Vater dem adligen Walter seine bittere Einsicht mitteilt, die öffentliche Meinung sei »ein für allemal« gegen die Juden, tönt diesem »der Schmerzensschrei eines ganzen Volkes« entgegen (LJ 2, 187–189).
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geworden war.243 Lydia Hecker (1802 bis nach 1875),244 die Verfasserin der deutschen Nachdichtung, die ebenso wie die Vorlage viele Anleihen beim 137. Psalm nimmt, hatte 1842 den Gedichtband Schlüsselblumen veröffentlicht, der auch Das Mädchen von Juda enthält. Lewalds Zitate lassen allerdings darauf schließen, dass ihr nicht dieser Band vorlag, sondern die Liedfassung Friedrich Wilhelm Kückens. Nur dort nämlich findet sich die von Lewald zitierte Ellipse »in Knechtschaft des Feindes [ist] der Jude verlacht«,245 die vermutlich auf einen Lesefehler zurückzuführen ist: In Heckers Gedicht ergibt sich durch einen anderen Buchstaben (Land »Juda« statt Kollektivsingular »Jude«) und ein Komma (»der« ist Relativpronomen statt Artikel) ein anderer Sinn: »In Knechtschaft des Feindes, der Juda verlacht.«246 Dass diese Zuschreibungs- und Lesefehler weder den Zeitgenossen noch späteren Forschern aufgefallen sind, belegt ihre eminente kohärenz- und evidenzstiftende Wirkung. Der Eigenname ›Byron‹ erfüllt ebenso zuverlässig seine Funktion, ein breites Assoziationsfeld um die wirkmächtige Verbindung von Welt- und Judenschmerz herum aufzurufen (Kap. 4.2.1), wie der Kollektivsingular ›Jude‹ die Applikabilität des Rollengedichts auf die Kommunikationssituation zwischen Jenny und ihrem Publikum sehr viel stärker fördert als die ortsgebundene Bezeichnung ›Juda‹ es vermöchte. Gerade in diesem freien, trivialisierenden Gebrauch textlicher, bildlicher und musikalischer Kodierungen jüdischen Gefühls kann Lewald in ihrem Roman Jenny Topoi effektiv reflektieren und variieren – sei es in einem expliziten Konkurrenzverhältnis (lebendes Bild nach Bendemanns Gemälde) oder in stillschweigenden Umetikettierungen und Umdeutungen (judenfeindliche Possen und Karikaturen, Sloman/Hecker und Byrons Welt- und Judenschmerz). Dabei kommt dem Orientalismus große Bedeutung zu. Sei es mit judenfeindlichem Ressentiment (Reinhards Mutter) oder in apologetischem Ton (Eduard), in philosemitischer Begeisterung (Erlau) oder in würdigender Ekphrasis (Er zählinstanz) – die Bewertung des Jüdischen kreist in diesem Roman um die an243 The Encyclopedia of Romantic Literature. Hg. von Frederick Burwick. Bd. 3. Malden, MA u. a. 2012. S. 659; David Worrall: Theatric Revolution. Drama, Censorship and Romantic Period Subcul tures 1773–1832. Oxford 2006. S. 8 f. und S. 349; zu den song and supper clubs vgl. ebd., S. 241–246. Der Text des Liedes ist abgedruckt bei Samuel Dobell: Miscellaneous Pieces in Poetry and Prose. London 1840. S. 138. 244 Leben und Werk der Tochter des Kammerjustiziars Friedrich Wilhelm Paalzow (1774–1850) und Ehefrau des Medizinalrates Justus Friedrich Karl Hecker (1795–1850) sind unerschlossen. Für einen kurzen biographischen Hinweis und eine Auswahl ihrer Gedichte vgl. die Anthologie Deutschlands Dichterinnen. Hg. von Hermann Kletke. Berlin 2[1853/54]. S. 189–201 und S. 388. 245 Friedrich Wilhelm Kücken: Compositionen für Gesang. Op. 34: Fünf Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte. Leipzig o.J. Nr. 2: Das Mädchen von Juda. Gedicht von Lyda [sic] Hecker geb. Paalzow. 246 [Lydia Hecker]: Schlüsselblumen. Gesammelt für Freunde. Berlin 1842. S. 5. Vgl. auch [Lydia] Hecker: Gedichte. Berlin 1858. S. 7 f. Diese Fassung hat Hecker mit dem Hinweis »Nach dem Englischen« versehen.
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geblich orientalischen Reste, die sich an oder in jüdischen Körpern und Charakterzügen verraten, die sich gegen alle Domestizierungsversuche sträuben und nur dann Stolz und Würde behaupten, wenn sie als solche (an)erkannt und mit einer harmonierenden Einkleidung versehen werden. Lewalds Text führt die zentrale emanzipationspolitische Streitfrage des orientalischen Ursprungs der Juden in ambivalenten Variationen und Wertungen vor und erprobt den Orientalismus in intermedialen Verschränkungen als Mittel jüdischer Selbstbeschreibung und Selbstbehauptung. Der Tendenzroman, der für weibliche und jüdische Emanzipation eintritt, treibt in der konkreten literarischen Umsetzung seines Programms gerade dessen innere Widersprüche hervor und löst es in disparaten Sprechpositionen und Werturteilen auf. Indem der Roman unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstellt und zueinander in teils offene, teils verdeckte Konflikt- und Konkurrenzverhältnisse treten lässt, ist er ein Dokument für die heikle und produktive Disparatheit jüdisch-orientalischer Verbindungen sowie für ihre Inklusionsund Exklusionspotentiale im Emanzipationszeitalter. Die ambivalenten Gebrauchspotentiale orientalistischer Zuschreibungen, die Lewald in ihrem Roman durchspielt, so soll nun aufgezeigt werden, kommen auch in der Wahrnehmung und in der Selbstdarstellung der Autorin zum Tragen. 4.3.5 Fanny Lewald im Wintergarten Fotografische Stillstellung im Zuschreibungswald Als Erfolgsschriftstellerin und Ehefrau Adolf Stahrs, der sich für sie von seiner ersten Frau hat scheiden lassen, ist Fanny Lewald in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine berühmte Persönlichkeit. Sie veröffentlicht Fortsetzungsromane für die Gartenlaube, führt in den 1850er und 1860er Jahren gemeinsam mit ihrem Mann einen Salon in Berlin,247 bezieht entschieden Stellung zu politischen Fragen, baut sich ein Netzwerk von Bekannten auf und veröffentlicht Anfang der 1860er Jahre ihre Lebensgeschichte in drei Bänden. Bewusst gestaltet sie ihr Bild in der Öffentlichkeit und legt dabei auch ein ausgeprägtes Gespür für neue Medien an den Tag: Früh interessiert sie sich für die Darstellungsmöglichkeiten der Fotografie; sie sammelt nicht nur fotografische Porträts und Stadtansichten, sondern posiert auch gern und häufig selbst für Fotografen.248 So lässt sie
Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin/New York, NY 2000. S. 233–240. 248 Vgl. z. B. ihren Brief vom 18. Mai 1864 an Carl Alexander von Sachsen-Weimar (Mein gnädigster Herr! Meine gütige Korrespondentin! Fanny Lewalds Briefwechsel mit Carl Alexander von Sachsen-Weimar, 1848–1889. Mit einer Einführung von Eckart Kleßmann und Anmerkungen von Rudolf Göhler. Weimar 2000. S. 191). 247
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Abb. 26: Fanny Lewald in ihrer Wohnung in der Matthäikirchstraße 21, Berlin.
sich beispielsweise im Wintergarten ihres Berliner Domizils in der Matthäikirchstraße 21 porträtieren, das sie von 1860 bis 1885 bewohnt (Abb. 26).249 Lewald ist – soweit erkennbar – von Gummibäumen (ficus elasctica), einer Birkenfeige (ficus benjaminii) und einer Flamingoblume (anthurium) umgeben; bei dem Gewächs, das sich um die Brüstung rankt, handelt es sich augenscheinlich um Wein. Mit dieser Fotografie präsentiert Lewald sich zum einen als wohlhabende Bürgersfrau, die über ein großes Haus mit einem privaten Wintergarten – im 19. Jahrhundert ein wichtiges Statussymbol – verfügt.250 Zum anderen aber erscheint diese Fotografie wie eine Nachstellung des lebenden Bildes, das sie in ihrem frühen Roman Jenny imaginiert hatte. Die gealterte Erfolgsautorin blickt den Betrachtern hier gleichsam aus der Perspektive der im lebenden Bild ›trauernden Juden‹ entgegen. Lewald allerdings trauert nicht, sitzt nicht gramgebeugt und gesenkten Blickes in orientalischer Gewandung unter den exotischen Pflanzen, sondern blickt, aufrecht stehend und in bürgerlich-herrschaftlichen Habit gekleidet, direkt in die Kamera. Damit setzt sich die Autorin in ein ebenso spannungs- wie beziehungsreiches Verhältnis zu ihrem literarischen Werk. Versteht man Lewalds Porträt tatsächlich als Zitat, dann fungiert die Kulisse des Winter249 Unter der Fotografie ist handschriftlich vermerkt: »Zur Erinnerung an Mathäikirchstraße / Ostern 1860 – Ostern 1885 / Adolf Stahr / Fanny Lewald Stahr«. 250 Porträts bürgerlicher Frauen in Wintergärten sind ein beliebtes Sujet der Zeit. Vgl. für ein Modekupfer Ingeborg Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 1983. S. 58.
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gartens hier nicht nur als Statussymbol, sondern akzentuiert mit ihren tropischen Pflanzen – ebenso wie im Roman – die jüdische ›orientalische‹ Herkunft der Autorin. Lewald präsentiert sich in dieser Fotografie ähnlich ihrer fiktiven Protagonistin Jenny als vollends akkulturierte und zum Christentum konvertierte gebildete bürgerliche Frau, deren jüdische Herkunft gleichwohl von ihr selbst und von ihrer Umgebung in Erinnerung gehalten wird. Zahlreiche Äußerungen über Lewalds ›orientalische‹ Physiognomie und ihr ›südliches‹ Naturell belegen, dass Lewald die im 19. Jahrhundert virulenten orientalistischen Bezeichnungs- und Beschreibungsmuster, die sie in ihrem Roman auffächert, konstant am eigenen Leib erfahren hat. Wie in Lewalds Roman allenthalben nach Spuren und Zeichen orientalischen Ursprungs gesucht wird, so schreiben die Zeitgenossen der Autorin ihrer Physiognomie und ihrem Charakter orientalische Merkmale zu.251 Das fotografische Porträt Lewalds im Berliner Wintergarten fügt sich in diesen diskursiven Zusammenhang ein, indem es die Gesichtszüge der Porträtierten mit ihrer exotischen Umgebung in Beziehung zu setzen erlaubt und zugleich ausstellt, dass ebendiese Umgebung eine mittels Illusionstapeten und Stellwänden strukturierte Wohnungseinrichtung des gehobenen Bürgertums im modernen Berlin ist. Der Wintergarten kann in Lewalds Roman und in dieser Fotografie in Verbindung mit anderen vermeintlichen Zeichen und Spuren orientalischen Ursprungs als Zitat dienen, bleibt aber – als künstlich angelegtes Einrichtungselement – eine Allusion, die nicht Zugehörigkeit, sondern Bezogenheit manifestiert. Fanny Lewald präsentiert sich hier nicht als Orientalin, sondern als eine deutsche Erfolgsschriftstellerin und bürgerliche Salongastgeberin jüdischer Herkunft. Mit einer solchen genealogischen Figur stellt Lewald sich 1861 auch ausdrücklich im Eröffnungssatz ihrer Lebensgeschichte vor: »Ich bin am 24. März des Jahres 1811 zu Königsberg in Preußen geboren, und stamme von väterlicher und mütterlicher Seite aus jüdischen Fami lien ab.«252 Vor diesem Hintergrund kehren alle Ambivalenzen genealogischer (Selbst-) Zuschreibung, die explizit und implizit den Roman Jenny durchziehen, im fotografischen Porträt der Verfasserin wieder. Als Auftragswerk unterliegt die Fotografie zwar bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle der Porträtierten, doch hängt das Ergebnis vom ausführenden Fotografen und von den jeweiligen Betrachtern ab. Die sich daraus ergebende Instabilität der Deutungshoheit spiegelt 251 Ihr Mann erinnert sich in seinem Italien-Reisebericht, wie er der »Dichterin Fanny Lewald mit den edlen, scharfgeschnittenen, nach dem Oriente hindeutenden Zügen« einst in einer Kutsche gegenüber gesessen habe (Adolf Stahr: Ein Jahr in Italien. Bd. 3. Oldenburg 21854. S. 28). Der Maler Rudolf Lehmann (Erinnerungen eines Künstlers, 1896. S. 202) rekapituliert in seinen Erinnerungen, Lewald sei »eine stattliche Erscheinung, mit orientalischen, nicht unschönen, fast zu kräftigen Zügen« gewesen. Gustav Karpeles findet 1890 in Lewald »viel von dem jüdischen Naturell, welches die tropische Wärme des Enthusiasmus mit der Eisregion der Verstandesschärfe von je wirksam zu verbinden wußte« (AZJ 54:47 (1890). S. 603). 252 Lewald: Meine Lebensgeschichte. Bd. 1 (1861). S. 5.
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sich in der Fotografie selbst: Dass Lewald leicht erhöht gegenüber dem Standpunkt der Kamera auf einer Art Treppengalerie steht und den Betrachter von dieser Position aus, fest auf die Brüstung gestützt, anblickt, vermittelt den Eindruck bürgerlicher Repräsentanz. Zugleich macht aber die Brüstung mit ihren gedrechselten Gitterstäben bewusst, dass Lewald sich hier im eigentlichen Wortsinn hat einfangen lassen: Aufgrund der technischen Bedingungen der Fotografie in dieser Zeit ist sie gezwungen, mehrere Minuten lang unbeweglich auszuharren; die Fotografie bannt sie hinter die Brüstung des Wintergartens und hält sie dort fest; an einem Ort, der sowohl sexuell als auch kulturell überdeterminiert ist. Zwischen Illusionstapete, Stellwand, Rankengewächsen, Gummibäumen und dem Brüstungsgitter steht Lewald hier in einem Spiegelkabinett von Zuschreibungen, die ihre Autorfunktion im 19. Jahrhundert maßgeblich strukturieren. Die Fotografie lässt sich in dieser Perspektive als Verbildlichung ihrer schwierigen Schreibsituation auffassen: Selbstbewusst und direkt ihre Betrachter wie ihre Leser ins Auge fassend, versucht Lewald sich gleichsam freizukämpfen, indem sie in Auseinandersetzung mit den ihr angetragenen Zuschreibungen eine eigene Sprechposition bezieht und gerade orientalistische Figuren und Elemente gezielt nutzt, um Deutungsmacht zu gewinnen. In ihrem Ringen um eine eigene Sprechposition lotet sie die Grenzen des Diskurses aus; und indem sie sich feste Topoi und Zuschreibungsmechanismen für ihre Zwecke aneignet und transformiert, macht sie ebendiese Diskurselemente und -verfahren als solche sichtbar. 4.3.6 Zusammenfassung Eduard Bendemann trifft 1832 mit seinem außerordentlich erfolgreichen Monumentalgemälde Gefangene Juden in Babylon, das eine jüdische Trauergruppe an den Ufern des Euphrats in klassisch gemäßigter Idealisierung zeigt, den Nerv der Biedermeierzeit. Das Gemälde erlangt ungeheure Popularität in der Alltagskultur, weil es den sogenannten Judenschmerz als Weltschmerz ins Bild bringt. An den Reaktionen auf sein Gemälde lässt sich nachzeichnen, wie kontrovers die Darstellungsästhetik der Juden als Frage des Orientalismus verhandelt wird. Diese Frage, das heißt, ob und in welchem Maße Juden als Orientalen darzustellen und anzusehen seien, strukturiert mit all ihren ambivalenten Wertungsimplikationen auch die Adaptionen des Bildes für Bibelillustrationen und als lebende Bilder, sei es real in den 1860er Jahren im Haus der Wiener Familie Todesco und im Wintergarten Fanny Lewalds oder fiktiv in ihrem Tendenzroman Jenny (1843). In verschiedenen geselligen Gebrauchssituationen werden so in der Biedermeierzeit mit dem 137. Psalm jüdische Selbstpositionierungen erprobt, die immer auch Selbstpositionierungen im Diskursfeld des Orientalismus sind.
4.4 Fazit
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4.4 Fazit In der Biedermeierzeit erfährt der 137. Psalm einen enormen Medialisierungsschub. Man findet in ihm nicht nur den politischen Zeitgeist der Restauration zum Ausdruck gebracht, sondern sieht in ihm auch eine archetypische Artikulation des sogenannten Judenschmerzes, der als höchste Steigerung der allerorten beschworenen zerrissenen Gefühlslage des sogenannten Weltschmerzes gilt. Vor diesem Hintergrund dient der babylonische Exilpsalm jüdischen Autorinnen und Autoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein Reflexionsmedium ihrer Schreibbedingungen und ihrer Position im Literaturdiskurs. So lotet Heine 1824 als junger Dichter in zwei damals unveröffentlichten Gedichten das brisante affektive Spektrum des Psalms zwischen Wehmut und Unmut aus und reflektiert die poetische Judenschmerz-Mode dann 1851 noch einmal mit der Distanz des Rückblicks in seinem Langgedicht Jehuda ben Halevy, indem er den ›westöstlich dunklen Spleen‹ seiner jüdischen Sprechinstanz hochkochen, im Fluch explodieren und kathartisch entweichen lässt, um sich dann mittels einer Poetik des Flugs aus der statischen Lage jüdischer Zerrissenheit zu befreien. In verschiedenen poetischen Gattungen vom Festgesang bis zum Epos wird der 137. Psalm als Moment des Verstummens im Exil evoziert, um das eigene Sprechen in deutscher Sprache performativ als (Selbst-)Befreiung aus dem Modus der Klage und als Erneuerung freudigen Singens zu feiern. Die dabei zum Tragen kommende Spannung zwischen den Affektmodi der Freude und der Klage bestimmt sämtliche poetische Aufnahmen des Psalms. So handeln Joel Jacoby und Salomon Ludwig Steinheim ihren Anspruch auf poetische Glaubwürdigkeit und ihre Deutungshoheit über authentisches jüdisches Sprechen mittels literarischer Gefühlspolitik aus. Während Jacoby den sogenannten Judenschmerz im Medium seiner Klagen eines Juden poetisch übersteigert und seinen jüdischen Sänger als zwischen Ost und West zerrissene Figur inszeniert, setzt Steinheim der Konjunktur von Juden- und Weltschmerz demonstrativ jüdische Freudengesänge entgegen. In Steinheims poetischem Programm blickt der jüdische Sänger nicht »rückwärts« gen Zion, sondern vorwärts und »hinaus« gen Westen in die Zukunft der Weltgeschichte. Was als ›echtes‹ und ›tiefes‹ jüdisches Gefühl gelten kann, wer als Jude und für Juden sprechen darf und welche Formen dafür als angemessen erachtet werden können, erscheint in dieser Konfliktkonstellation als Streitfrage von politischer Tragweite, denn im Horizont des Emanzipationsdiskurses wird dabei immer auch der gesellschaftliche Status der Juden in der Gegenwart verhandelt. Vor diesem Hintergrund kreist die Aufnahme von Bendemanns außerordentlich populären Gemälden Gefangene Juden in Babylon (1832) und Jeremias auf den Trümmern Jerusalems (1835) um die Frage, ob und wie Juden als Orientalen darzustellen seien. Diese Frage nimmt Lewald in ihrem Tendenzroman Jenny (1843) auf, indem sie Bendemanns Gemälde als lebendes Bild nachstellen und
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von den Romanfiguren ausführlich reflektieren lässt. In dieser theatralen Anverwandlung und einer weiteren, musikalischen Interpretation des 137. Psalms lässt Lewald im affektiven Spektrum von Wehmut bis Unmut die orientalische Alterität jüdischer Figuren im fiktiven Raum vorübergehend zu machtvoller Wirkung gelangen. Damit reflektiert der Roman in einem komplexen intertextuellen Geflecht die zentralen Aporien der Debatten um die sogenannte Judenfrage mithilfe orientalistischer Gefühlsfigurationen. Der 137. Psalm dient als Reflexionsmedium sowohl der Möglichkeit als auch der Unmöglichkeit jüdischen Sprechens in der Biedermeierzeit.
5. Fichtenbaum und Palme Heines deutsche jüdische Poetik der Einsamkeit Die Schlaglichter der vorangegangenen Kapitel auf Konstellationen, in denen sich die Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte zeigt, tragen zur Erhellung einiger bislang wenig berücksichtigter Aspekte der literaturgeschichtlichen Umbruchszeit zwischen 1750 und 1850 bei. Ein vertieftes und differenziertes Verständnis von Veränderungen im Literatursystem einer bestimmten Epoche zu ermöglichen und die Vorstellungen zu modifizieren, die man sich von dieser Epoche macht, ist Aufgabe einer Literaturgeschichte wie der vorliegenden; und wenn dies gelungen ist, ist viel erreicht. Die Literaturgeschichtsschreibung birgt darüber hinaus aber noch ein Versprechen. Das Versprechen nämlich, dass sie einzelne literarische Kunstwerke neu zu sehen und zu verstehen erlaubt. Auf einen Versuch, dieses Versprechen einzulösen, lasse ich es in diesem Kapitel ankommen. Im Folgenden verorte ich eines der berühmtesten Gedichte Heinrich Heines im orientalistischen Kontext seiner Entstehungs- und Veröffentlichungszeit und arbeite auf diesem Wege heraus, wie es als werk- und literaturgeschichtlicher Ausnahmetext die Möglichkeitsbedingungen deutschen jüdischen Schreibens zwischen dem Natürlichkeitsparadigma des 18. Jahrhunderts und dem Künstlichkeitsparadigma der Ästhetik der Moderne in höchst verdichteter Form reflektiert. Ich beginne mit einigen ersten Beobachtungen an diesem auf den ersten Blick simplen Gedicht: Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden auf kahler Höh’. Ihn schläfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme, Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand. (TLI, 94; BdL, 137)1 1 Da in der folgenden Untersuchung Fragen der Zyklusanordnung, der Buchgestalt und des Druckbilds einbezogen werden, kann die Restitution der Düsseldorfer Heine-Ausgabe nicht als Textgrundlage genutzt werden. Stattdessen zitiere ich nach den jeweiligen Erstausgaben, und zwar
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Sowohl auf formaler als auch auf semantischer Ebene zeichnet sich das Gedicht durch kontrastive Symmetrie aus. In der ersten Strophe wird das Bild eines Fichtenbaums aufgebaut, der in der winterlichen Kälte nördlicher Gefilde auf einer Anhöhe steht. Die zweite Strophe evoziert eine Palme, die in der glühenden Hitze des Orients auf einer Felsenwand situiert ist.2 In den Bereichen Vegetation (Fichte/Palme), Geographie (Norden/Morgenland) und Klima (Kälte/Hitze) wird maximaler Kontrast erzeugt und in einem Analogieverhältnis gespannt gehalten: In beiden Fällen ist die Umgebung der Bäume karg und lebensfeindlich (kahl/brennend), die Topographie erhöht und steil (Höhe/Felsenwand). Sowohl der Fichtenbaum als auch die Palme sind »einsam« (V. 1 und V. 7). Die statische Schematik dieser kontrastiven Raumordnung wird durch Verben, Adverbien und Partizipien sanft ins Schwingen gebracht. Der Fichtenbaum »steht einsam« (V. 1), ihn »schläfert« (V. 3), er »träumt« von einer Palme (V. 5). Diese wiederum »trauert«, und zwar »einsam und schweigend« (V. 7). Durch die Anthropomorphisierung der beiden Bäume gewinnt die Gegenüberstellung kognitive und emotionale Komplexität; sparsam gesetzte Präpositionen steigern die Deutungsoffenheit der poetischen Konstellation. So stellt die Verbform »träumt« mit der Präposition »von« (V. 5) eine Relation zwischen den beiden Kontrasträumen her, die den Objektstatus der Palme verunsichert. Ob die Palme ein ›Traumbild‹ ist oder – innerhalb der poetischen Fiktion – auch unabhängig vom Traum des Fichtenbaums existiert, lässt sich nicht entscheiden. Ebenso offen sind mangels eines Präpositionalobjekts Anlass und Gegenstand der Trauer, die der Palme zugewiesen wird. Sie trauert »einsam und schweigend« – trauert sie, weil sie einsam ist und eines Gesprächspartners ermangelt oder weil sie aus anderen Gründen schweigen muss oder will? Trauert sie, weil sie sich »auf brennender Felsenwand« befindet? Trauert sie um etwas? Um wenn ja, um was? Ist ihre Trauer auf ihren strukturellen Konterpart, den Fichtenbaum, bezogen? Oder absolut, objektlos? All das bleibt in der Schwebe. Dieser semantischen Ambivalenz korrespondieren feine Nuancierungen in der rhythmischen Struktur des Textes. Das Gedicht ist mit acht Versen zu jeweils drei Hebungen und dem Reimschema abcb, das mit einem unreinen Reim in der ersten Strophe – »Höh’« (V. 2) auf »Schnee« (V. 4) – pragmatisch gehandhabt wird, in der sogenannten Volksliedstrophe gehalten, die in der Romantik besonders populär wird und durch Heines frühe Lyrik eine eigene wirkmächtige Prä-
die Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) mit der Sigle TLI und das Buch der Lieder (1827) mit der Sigle BdL. Briefe von und an Heine werden nach der Säkularausgabe (HSA) angegeben; der Wortlaut wurde mit den im Heine-Portal (www.heine-portal.de) verfügbaren Neukollationierungen abgeglichen und entsprechend angepasst. 2 In zwei eigenhändigen Albumblattfassungen Heines aus den 1840er Jahren heißt es »Auf glühender Felsenwand« (V. 8). Vgl. DHA 1.2, 813 f.; Christian Liedtke: »Eine ganze Ladung Schmeichelworte«. Neue Heine-Briefe (Berichtszeitraum 2005–2012). In: HJb 51 (2012). S. 185–214, hier: S. 190.
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gung erhält.3 Während die Volksliedstrophe sich durch ihre einfache Handhabung im 19. Jahrhundert auch dem gelegentlichen Verseschmieden anbietet, nutzt Heine ihre Flexibilität zur Komplexitätssteigerung. Ist die metrische Struktur des Gedichts insgesamt durch lockere Regelmäßigkeit geprägt, erzeugt Heine mittels Interpunktion gezielt rhythmische Brüche und Stauungen.4 In der ersten Strophe fordert ein Semikolon eine Zäsur: »Ihn schläfert; mit weißer Decke« (V. 3). Die Semantik der subjektlosen Akkusativ-Verbalkonstruktion »ihn schläfert« wird hier konterkariert, indem der Vers gerade nicht einschläfernd dahinplätschert, sondern durch eine Zäsur zwischen zwei direkt aufeinander folgenden unbetonten Silben aus dem Takt gebracht wird. Der rhythmische Bruch bereitet gleichsam darauf vor, dass die scheinbar wohlige Schläfrigkeit unter »weißer Decke« eine trügerische Metapher ist: Die Decke nämlich besteht nicht aus wärmenden Daunen, sondern aus klirrend kaltem »Eis und Schnee« (V. 4). Auch in der zweiten Strophe werden die Erwartungen, die semantisch durch den Strophenbeginn »Er träumt von einer Palme« (V. 5) geweckt werden, im darauffolgenden Vers mit einer Stauung gebrochen: »Die, fern im Morgenland« (V. 6). Ohne das Komma nach dem bestimmten Artikel wäre der Vers hürdenlos als dreihebiger Jambus zu lesen. Die Interpunktierung des Satzteils »fern im Morgenland« als syntaktischer Einschub verlangt hingegen eine Betonung des bestimmten Artikels und erzeugt so einen harten, doppelt betonten Versbeginn (betonte Silbe ›die‹ – Kommapause – betonte Silbe ›fern‹), der im folgenden Vers mit dem Spondäus »Einsam« (V. 7) ein Echo findet. Während der Reiz eines gedanklichen Schweifens in die Ferne für gewöhnlich darin liegt, dass dies hürdenlos und unbehelligt von realen Um- und Widerständen geschehen kann, blockiert das Komma hier für einen Moment, gleich einem Stolper- oder Grenzstein, den träumerischen Weg ins ferne Morgenland. Und dieses Morgenland erweist sich dann in den folgenden Versen auch keineswegs als verheißungsvolle Alternative zum kargen, kalten Norden, sondern als dessen ebenso triste südliche Entsprechung. Das Adjektiv »einsam« nun, das in der ersten wie in der zweiten Strophe als Adverb gebraucht wird, erweist sich als Schlüsselwort des kurzen Textes, insofern es dessen kontrastsymmetrische Struktur grammatisch, klanglich und semantisch bündelt. Zum einen ist »einsam« das einzige bedeutungstragende Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen/Basel 21993. S. 106– 114; Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart/Weimar 21997. S. 80 f.; Hans H. Hiebel: Heinrich Heines postromantische Romantik – Thesen zu Heines Liebesgedichten im Lyrischen Intermezzo und in der Heimkehr – »Absolute Liebe« und »Musikalisierung«. In: Harry… Heinrich… Henri… Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Hg. von Dietmar Goltschnigg u. a. Berlin 2008. S. 17–32, hier: S. 28. 4 Heine stellt seine Interpunktion in vielen seiner Gedichte in den Dienst der Textrhythmisierung und legt deshalb zeitlebens im Kontakt mit seinem Verleger Wert auf eine korrekte Wiedergabe seiner Zeichensetzung. Vgl. Jochen Zinke: Autortext und Fremdeingriff. Die Schreibkonventionen der Heine-Zeit und die Textgeschichte des »Buches der Lieder«. Hamburg 1974. S. 279. 3
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5. Fichtenbaum und Palme
Wort, das in diesem kurzen Gedicht zweimal – einmal in jeder Strophe – auftaucht, zum anderen erhält es innerhalb des Gedichts durch eine Häufung des Diphthongs ei ein klangliches und durch eine Häufung des Morphems ein ein grammatisches Echo. So bildet »einsam« im ersten Vers eine Assonanz mit dem unbestimmten Artikel »ein« (»Ein Fichtenbaum steht einsam«); wieder aufgegriffen wird der Laut mit dem Adjektiv »weiß« im dritten Vers und mit dem Substantiv »Eis« im vierten Vers. In der zweiten Strophe lässt sich mit dem unbestimmten Artikel im sechsten Vers (»einer«) und dem Partizip »schweigend« im siebten Vers wiederum eine Häufung dieses Lauts ausmachen, die sich der Assonanz annähert (»Einsam und schweigend trauert«). Die beiden unbestimmten Artikel, mit denen Fichtenbaum und Palme versehen sind, teilen über den Gleichklang hinaus das Morphem ein und dessen numerische Bedeutung mit der Deriva tionsbasis des Adjektivs »einsam«. Als Singularformen, die auch als Zahladjek tive bzw. Numeral-Artikel aufgefasst werden können, unterstreichen sie grammatikalisch-morphologisch den Bedeutungsgehalt von Vereinzelung, Einsamkeit und Alleinsein, der dem Adjektiv »einsam« eignet: Ein Fichtenbaum steht einsam, eine Palme trauert einsam. Ausgehend von dieser grammatisch, klanglich und semantisch verdichteten Einsamkeitskonstellation soll im Folgenden den beiden Hauptherausforderungen nachgegangen werden, die das Gedicht damaligen wie heutigen Lesern stellt. Zum einen erzeugt es einen Irritationseffekt, indem es durch Signalwörter einen romantischen, orientalistischen Erwartungshorizont aufruft, diesen aber konterkariert. Zum anderen verführt das Gedicht durch grammatische und gattungsästhetische Signale dazu, nach einer übertragenen, allegorischen Bedeutung zu suchen, verweigert sich aber einer eindeutigen Feststellung derselben. Diese beiden Texteffekte sollen nun herausgearbeitet werden. Mit einer im eigentlichen Wortsinn umständlichen Heuristik werde ich die Gebrauchs- und Deutungsgeschichte des Gedichts aufrollen und dann untersuchen, welchen semiotischen Rahmen die ersten beiden Veröffentlichungskontexte – Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) und Buch der Lieder (1827) – für den Text abstecken. In der reflektierten Konfrontation des Textes als Kunstwerk mit seiner Gebrauchs- und Deutungsgeschichte sowie seinen Publikationskontexten wird sich erweisen, dass das Gedicht in mehrfacher Hinsicht – in Heines lyrischem Frühwerk, in der Lyrik seiner Zeit und in seiner umfangreichen Rezep tion – ein ›einsamer‹ Text ist: Als ästhetisches Ausnahmephänomen und performative Verweigerungserklärung stellt dieses Gedicht, so die im Folgenden zu plausibilisierende These, einen Schlüsseltext der deutschen jüdischen Literaturgeschichte dar.
5.1 Rätsel der Einsamkeit
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5.1 Rätsel der Einsamkeit Die Gebrauchs- und Deutungsgeschichte des Gedichts 1822 in Berlin entstanden, wird das Gedicht von Fichtenbaum und Palme zum ersten Mal in dem Band Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) gedruckt. Fünf Jahre später übernimmt Heine den Zyklus Lyrisches Intermezzo in sein Buch der Lieder (1827), das zu einem der erfolgreichsten und berühmtesten Gedichtbände der deutschen Literatur avanciert. Das Fichtenbaum-Gedicht sticht selbst unter den populärsten Gedichten des Bandes noch heraus. Nicht nur wird es schon in auffallend vielen Rezensionen emphatisch hervorgehoben (HUZ 1, 190 f., 307, 312, 317 und HUZ 5, 84 f.),5 es wird auch besonders früh – nämlich schon ab Mitte/Ende der 1820er Jahre – vertont6 und in Anthologien aufgenommen.7 Als das Buch der Lieder ab Mitte der 1830er Jahre einen mächtigen und schwärmerischen Popularitätsschub erfährt, ist das Fichtenbaum-Gedicht also bereits weithin bekannt.8 Der frühe Erfolg setzt sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Allein bis 1860 findet es in über dreißig deutsche Anthologien Eingang (vgl. DHA 1.2, 626–633); mit über zweihundert Vertonungen ist es das zweitmeistvertonte Gedicht aus Heines Werk überhaupt.9 Eine Fülle von Zitaten, 5 Diese Lobreden setzen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Die »Krone aller Heineschen Natursymbolik« erblickt in diesem Gedicht beispielsweise Alexander Pache: Naturgefühl und Natursymbolik bei Heinrich Heine. Ein Beitrag zur Würdigung seiner Kunst und Persönlichkeit. Hamburg/Leipzig 1904. S. 31. 6 Der Stettiner Musikdirektor Carl Loewe vertont 1826 Heines Fichtenbaum-Gedicht sowie zwei weitere Gedichte aus dem Lyrischen Intermezzo (Günter Metzner: Heine in der Musik. Bibliographie der Heine-Vertonungen. Bd. 11. Tutzing 1993. S. 9). 7 Vgl. u. a. Ferdinand Stolles Blüten und Perlen. Die Herrlichsten der ächten deutschen Lyrik in ein Diadem gewunden für Deutschlands sinnige Frauen (Leipzig 1831), K.E. Philipp Wackernagels Auswahl deutscher Gedichte, für höhere Schulen (Berlin 1832), Ignaz Thomas Scherrs Bildungsfreund. Ein Lesebuch für den häuslichen Kreis und für höhere Volksschulen (Zürich 1835), Ernst Ludwig Rochholzens Schulanthologie Die Lieder der Jugend (Bern 1835), Gustav Schwabs Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte. Eine Mustersammlung mit Rücksicht auf den Gebrauch in Schulen (Leipzig 1835), August Lewalds Album des Boudoirs (Leipzig/Stuttgart 1836) sowie Wilhelm Wackernagels Lesebuch Proben der deutschen Poesie (Basel 1836). 8 Die zunächst eher dürftigen Verkaufszahlen der Druckfassungen – 1823 in den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo und 1827 im Buch der Lieder – sind kein zuverlässiger Anhaltspunkt für die Verbreitung des Gedichts. Vielmehr verdankt es seine Popularität zeittypischen Umgangsformen mit Lyrik im Rahmen damaliger Geselligkeitsformen. So liest Heine 1822/23 in Berlin seine Tragödien und Gedichte beim Teetisch der Byron-Übersetzerin Elise von Hohenhausen vor, den u. a. Rahel und Karl August Varnhagen von Ense, Eduard Gans, Lazarus Bendavid, Wilhelm Hensel sowie Helmina von Chézy besuchen (Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. Hg. von Michael Werner. Bd. 1. Hamburg 1973. S. 55). In einem Brief an seinen Berliner Freund Moses Moser vom 25. Oktober 1824 bemerkt Heine, er habe auf seiner Reise durch Sachsen und Thüringen sowie in Göttingen bemerkt, dass »meine kleine Gedichte sich auf eine sonderbar heimliche Art verbreiten« (HSA 20, 180). 9 Nur Heines Gedicht Du bist wie eine Blume aus dem Zyklus Die Heimkehr ist noch öfter, knapp vierhundertmal, vertont worden (Metzner: Heine in der Musik. Bd. 11 (1993). S. 492 und S. 496).
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5. Fichtenbaum und Palme
Nachahmungen, Variationen, Parodien und Deutungsversuchen zeugt nicht nur von seiner enormen Verbreitung,10 sondern offenbart auch eine bemerkenswerte Vielfalt an manchmal produktiven, in jedem Fall aber literaturgeschichtlich und hermeneutisch aufschlussreichen Missverständnissen. 5.1.1 Morgenlandtraum? Zum Irritationspotential des Gedichts Dass die im 19. Jahrhundert dominante sentimentale Lektüre von Heines Buch der Lieder, die mit ihrer Ausblendung von parodistischen Übertreibungen und ironischen Brüchen zu einem Paradefall ›misslungener Rezeption‹ avanciert ist,11 auch das Fichtenbaum-Gedicht erfasst, reflektiert schon Heine selbst in einem typographischen Selbstkommentar. Als er seinen Gedichtzyklus Neuer Frühling, der strukturell und thematisch eng auf den früheren Zyklus Lyrisches Intermezzo bezogen ist, 1831 in die zweite Auflage des zweiten Teils seiner Reisebilder einfügt, stellt er ihm eine ›zensierte‹ Version des Fichtenbaum-Gedichts als Motto voran (Abb. 27). Offenbar kann er – kaum acht Jahre nach der Erstveröffentlichung des Gedichts – darauf setzen, dass die Leser die getilgten Bestandteile aus dem Gedächtnis zu ergänzen in der Lage sind und zu einer Reflexion darüber angestoßen werden, was an diesem harmlosen Text zensurbedürftig sein soll. Daraus ergibt sich ein gestaffelter Witz. Vordergründig überführt der soeben nach Paris geflüchtete politische Schriftsteller die Zensur der Absurdität. Hintergründig aber macht Heine mit den Auslassungen sichtbar, wie das Gedicht mit dem literarischen Erwartungshorizont seiner Leser spielt. Übrig geblieben nämlich sind mit ›Fichtenbaum‹, ›einsam‹, ›Norden‹, ›träumt‹, ›Palme‹ und ›fern‹ ebendie Signalwörter, die eine naive Lesart des Gedichts als romantisch-orientalistisches Sehnsuchtsgedicht auslösen können, während die Störungen dieses Erwartungsschemas der fiktiven Zensur zum Opfer gefallen sind: Die Beschreibung der lebensfeindlichen Umgebung der beiden Bäume ist ebenso getilgt wie der 10 Heinrich von Treitschke (Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3. Leipzig 1885. S. 713) befindet, dass das Gedicht »nur durch übermäßige Wiederholung seinen Zauber verloren« habe. 1843 wird in einem Conversationsblatt für gebildete Stände in einem Märchen eine Elfenkönigin aus dem fernen Indien herbeibeschworen, »wo die einsame Palme träumt von dem einsamen Fichtenbaum an eisiger Küste des Nordpols« (HUZ 7, 314). Hermann Cohen entwickelt seine Gedanken über Die dichterische Phantasie und den Mechanismus des Bewußtseins anhand von Heines Gedicht (Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 6 (1869). S. 173–263, bes. S. 195–215). Kory Elisabeth Rosenbaum bringt 1906 in den Lustigen Blättern eine Nachdichtung im Stil Frank Wedekinds (Kory Towska: Buch der Lieder, nachgedichtet von unseren Modernen. In: Lustige Blätter 21:7 (1906)). Vgl. ferner zu einigen lyrischen Rekursen auf das Gedicht Richard M. Meyer: Motiv-Wanderungen. In: Deutsche Dichtung 25 (1898/99). S. 25–28. 11 Alberto Destro: Das »Buch der Lieder« und seine Leser. Die Prämissen einer mißlungenen Rezeption. In: LGW-Interpretationen 51: Zu Heinrich Heine. Hg. von Luciano Zagari und Paolo Chiarini. Stuttgart 1981. S. 59–73; Günter Häntzschel: Ein entdornter Heine. Zur Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: HJb 21 (1982). S. 90–110.
5.1 Rätsel der Einsamkeit
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Abb. 27: Motto zum Zyklus Neuer Frühling in der zweiten Auflage des zweiten Teils der Reisebilder (1831) Heines.
rhythmische Entschläferungsbruch im dritten Vers der ersten Strophe und – durch Streichung des Kommas – der harte Beginn mit zwei betonten Silben im zweiten Vers der zweiten Strophe. Übrig bleibt ein Torso, der Vervollständigungsmechanismen nach konventionellen Mustern freien Lauf lässt. Wie Heine 1826 an anderer Stelle druckbildlich augenfällig hat werden lassen, dass sich die Borniertheit der Zensoren in ihrer Zensurpraxis selbst bezeugt,12 so führt er mit dieser mutwillig verstümmelten Fassung des eigenen Gedichts die Borniertheit seiner Leser vor und liefert damit einen kritischen Kommentar zur frühen Rezeption seines Gedichts. Statt nun in den Chor der Forscherinnen und Forscher einzustimmen, die den sentimentalisierenden Umgang mit Heines Gedichten als Trivialisierung und Fehllektüre beklagen, unternehme ich in diesem Kapitel den Versuch, die Gebrauchs- und Deutungsgeschichte des Fichtenbaum-Gedichts – auch und gerade in ihren Missverständnissen und Fehlinterpretationen – für dessen hermeneutische Erschließung produktiv zu machen, indem ich die Reaktionen auf den Text als Effekte desselben begreife. Ausgehend von der Einsicht, dass die Untersu Diese Pointe setzt Heine in seiner berühmtesten typographischen Zensurpersiflage, im Buch Le Grand (1826), wo auf den Satzbeginn »Die deutschen Censoren« in einem mehrzeiligen Block von Auslassungsstrichen das Wort »Dummköpfe« folgt (DHA 10, 201). Vgl. Reiner Marx: Heinrich Heine und die Zensur – Der Dichter als ihr Opfer und geheimer Nutznießer. In: Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa. Hg. von Gabriele B. Clemens. Ostfildern 2013. S. 249–258, hier: S. 256. 12
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5. Fichtenbaum und Palme
chung von Rezeptionsweisen eines Textes zu dessen Verständnis beitragen kann,13 frage ich danach, warum und wie Heines Gedicht bestimmte Lektürehaltungen, Über- und Umschreibungen, Aneignungen und Ausdeutungen provozieren konnte. Was genau also ist an dem Gedicht so irritierend und überfordernd, dass es – wie Heine in seinem typographischen Selbstkommentar suggeriert – gern überlesen wird? Dass allein schon die unauflösliche Differenz und überwindliche Distanz zwischen den beiden Bäumen für die Leser des 19. Jahrhunderts aufreizend ist, lässt sich aus den zahlreichen poetischen Antworten, Anleihen und Illustrationen schließen, die das getrennte Baumpaar vereinigen. Während Illustratoren ihre sentimentalen Bildkompositionen mit verbindenden Elementen ausstatten,14 manche Zeitgenossen ›Ahnungen‹ von Vereinigung und Auflösung in den Text hineinlesen (HUZ 5, 84) und andere die Unmöglichkeit einer Vereinigung ironisch aufgreifen,15 reagiert Luise Gräfin zu Stolberg-Stolberg in den 1840er Jahren mit einem gereimten Vierzeiler auf Heines Gedicht, der die harte Gegenüberstellung in einer erotischen Vereinigungsvision verflüssigt: Die Palme seh’ ich dort sich neigen Zum Tannenbaum, der sie geträumt: Es schmilzt der Schnee von seinen Zweigen In’s Meer, das ihren Fuß umschäumt.16
Mit einem Sturzbach erwärmten Schnees wird Heines einsam und schweigend trauernde Palme hier gleichsam zur meerschaumgeborenen Venus umfiguriert, die ihren männlichen Konterpart erhitzt und ihm seinen Traum erfüllt. Dass die Gesamtkonstellation des heineschen Gedichts einer Auflösung oder Vereinigung Erich Mayser: H. Heines »Buch der Lieder« im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1978. S. 90. Günter Häntzschel: Gedichte und Illustrationen in Anthologien und Prachtausgaben. In: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Einzelstudien, Teil 2. Hg. von Monika Dimpfl und Georg Jäger. Tübingen 1990. S. 85–115, hier: S. 95–98. 15 Vgl. etwa eine Beschreibung des Pariser Jardin des Plantes als Idylle des biblisch prophezeiten Tierfriedens (Jesaja 11,6): »Der Affe vom Aequator kann jeden Tag dem Eisbär vom Pol ein Gesicht schneiden, die Antilope ruhig unter den Augen des Jagd-Leoparden und des Tigers weiden. […] Die Sehnsucht des einsamen Fichtenbaumes ist hier gestillt, denn er kann der geliebten Palme, wie Ritter Toggenburg, tagtäglich ins Fenster schauen, die nie die Gardinen vorzieht« ([Hermann Orges]: Pariser Briefe. In: Allgemeine Zeitung. Beilage zur Nr. 234 vom 21. August 1852. S. 3738–3740, hier: S. 3738). Vgl. ferner die sarkastische Aufnahme des Gedichts in Heinrich Seidel: Neues von Leberecht Hühnchen und anderen Sonderlingen. Der Vorstadtgeschichten zweiter Band. Leipzig 1888. S. 37–41: Am Weihnachtsabend singt ein Fräulein am Klavier Ein Fichtenbaum steht einsam, während ein Major sich nach ihr verzehrt, bis sie ein Weilchen allein gelassen werden: »Fichtenbaum und Palme hatten sich gefunden und standen nicht mehr einsam, sondern hielten sich zärtlich umschlungen. Und da die schlanke Palme um Einiges den etwas untersetzten Fichtenbaum überragte, so hatte sie sanft den Wipfel geneigt und wahrhaftig, sie küssten sich.« 16 [Luise zu Stolberg-Stolberg]: Psychorama eines Scheintoten. Leipzig 1847. S. 16. Vgl. zur Verfasserin Paul Kahl: »…sollte, jetzt, unvorbereitet, plötzlich dieser Dämon bei uns ausbrechen…« Zwischen Konstitution und Gottesgnadentum. Aus den Briefen von Karl August Varnhagen von Ense an Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg. In: SJb 47 (2003). S. 11–37. 13 14
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entbehrt, provoziert die königstreue Dichterin zu einer poetischen Antwort auf den jungdeutschen Schriftsteller, in der sich das Baumpaar der Vorlage unversehens in einer sinnlichen Orgie vereint findet. Eine noch größere Herausforderung als die fehlende Vereinigung aber stellt, den Rezeptionszeugnissen nach zu urteilen, die triste Signatur des Morgenland traums dar. Von den herkömmlichen Ingredienzen eines Traums vom südlichen Morgenland – sinnlichen Abenteuerphantasien, bezaubernden Klängen, betörenden Düften und gesellig-pittoresken Szenen – ist in Heines Gedicht nichts zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu hören. In zahlreichen Anleihen und Überschreibungen des Textes wird diese Ödnis kurzerhand durch die konventionellen Muster sentimentaler Morgenlandsehnsucht ersetzt. In einem gemütlichen Tirol-Reisebericht etwa wird 1846 von einem greisen Hirten berichtet, der auf seine Herde herabblicke: »Es fror ihn und vielleicht hat’s ihn auch geschläfert, vielleicht hat er auch wie der nordische Fichtenbaum vom Morgenlande geträumt, von einer warmen Felsenwand, auf der die jungen Kamele schläfernd um ihn herspringen.«17 In dieser Reminiszenz an Heines Gedicht ist die Felsenwand von einer ›brennenden‹ zu einer ›warmen‹ gemildert; die Kamele, die hier ins Traumbild gesprungen sind, komplettieren den Morgenland-Topos. Die Konventionen des biedermeierlichen Orientalismus haben sichtlich den Wortlaut des Gedichts verdrängt. Solche Ersetzungsmechanismen beschränken sich keineswegs auf das für süßlich-trivialisierende Lektürehaltungen berüchtigte 19. Jahrhundert, wie die in der Düsseldorfer Heine-Ausgabe gebotene Paraphrase des Gedichts zeigt: »in kahler Einsamkeit, unter winterlicher Schneedecke, schlummert der nördliche Baum und sehnt sich nach der fernen Geliebten, die in einer wärmeren, freundlicheren Umwelt lebt« (DHA 1.2, 814). Offenbar verführen – ganz wie Heine es in seinem typographischen Selbstkommentar nahelegt – die Signalwörter Norden, Traum, Palme und Morgenland dazu, die wirkmächtige Gegenüberstellung von warmem, sanftem, arkadischem Süden und rauem, hartem Norden18 über das Gedicht zu legen und zu übersehen, dass von einer »freundlicheren Umwelt« in Heines Gedicht keine Rede sein kann. Das Verstörungspotential dieses Verstoßes gegen das konventionelle Muster eines Morgenlandtraums scheint so groß zu sein, dass viele Interpreten sich nur damit zu helfen wissen, ihre eigene Lese-Erfahrung in das Gedicht selbst zu projizieren und zu unterstellen, der Fichtenbaum habe Visionen einer freundlicheren Umgebung, die sich dann als Selbsttäuschung entpuppten.19 Ein solcher psycho Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846. S. 505. Dieter Richter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung. Berlin 2009. S. 143–158. 19 Philipp F. Veit: Heine’s Arbor / Fichtenbaum und Palme. In: The Germanic Review 51 (1976). S. 13–27, hier: S. 23 f.; Hans-Jürgen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche. In: The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Hg. von Hans-Jürgen Schrader u. a. Tübingen 1996. S. 5–44, hier: S. 18. 17 18
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5. Fichtenbaum und Palme
logisch beschreibbarer Desillusionierungsprozess aber findet in dem Gedicht nicht statt. Zahlreiche andere Gedichte Heines, besonders im Lyrischen Intermezzo, steuern tatsächlich auf triumphal enttäuschende oder verstörende Schluss pointen zu und operieren mit Stilbrüchen.20 Im Fichtenbaum-Gedicht ist dies aber nicht der Fall; anders als manche Forscher glauben machen wollen,21 sendet dieser Text keine Ironie-Signale. Die in vielen Gedichten Heines – etwa Nr. VII aus dem Zyklus Die Heimkehr (BdL, 185) – zum Tragen kommenden Verfahren von Hyperbolik, Stilbruch und Katachrese fehlen hier.22 Das Gedicht folgt mit seiner ebenso schlichten wie strikten Symmetrie zweier Extreme, die nur durch das fragile Band ambivalenten Träumens verbunden sind, einer anderen poetischen Logik. Die Desillusionierung wird nicht innerhalb des Gedichts als drastische Pointe gesetzt, sondern den Lesern als Erkenntnisleistung überlassen: Das gesamte Gedicht steht mit seiner symmetrischen Kontrastkonstellation orientalistischen Lesererwartungen entgegen. Verstörend an diesem Gedicht ist, dass sein Orient weder sinnlich noch warm noch pastoral ist, sondern genauso karg und lebensfeindlich wie der Norden. In aller Konsequenz hat, soweit ich sehe, unter den Interpreten jüngerer Zeit einzig Wolf Wondratschek in diesem Sinne zwischen dem Gedicht selbst und dem orientalistischen Erwartungshorizont unterschieden, den es aufruft und konterkariert. Der Fichtenbaum träume nicht von einer orientalistischen Kitschszenerie, so Wondratschek, sondern »vom brüderlichen Leid und der entsetzlichen Gemeinsamkeit im Schweigen und im Einsamsein; träumt, selbst gequält, doch nur von anderen Qualen.« Der Traum biete keinen Trost, sondern die »überraschende Wahrheit«, dass der Süden »eben auch nur die Hölle« sei.23
20
Destro: Das »Buch der Lieder« und seine Leser, 1981. S. 60 f. Johann Jokl behauptet, das Gedicht setze so viele Antithesen, dass sie »ins Komische umkippen« (Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe. Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Opladen 1991. S. 148). 22 Es ist nicht zuletzt dieser Verzicht auf einen pointierten Bruch, der den Erfolg des Gedichts bedingt. So rühmt Gustav Schwab das Fichtenbaum-Gedicht 1828, weil es zeige, dass Heine »nicht durchaus nothwendig die Folie der Gemeinheit und Rohheit […] hinterlegen muß, um den Lebensschmerz zu malen« (HUZ 1, 317). Um die Mitte des Jahrhunderts heißt es in einem Lesebuch, das Fichtenbaum-Gedicht gehöre zu den wenigen Gedichten Heines, die nicht in »bittere, herbe Ironie« umschlügen, sondern für das »Leid des Gemüths einen edleren, gefaßten, würdigen Ausdruck« fänden (Lesebuch-Kommentar von Carl Theodor Kriebitzsch, abgedruckt in August Lüben und Carl Nacke: Einführung in die deutsche Literatur, vermittelt durch Erläuterung von Musterstücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Für den Schul- und Selbstunterricht. Bd. 3. Leipzig 21864. S. 367). Vgl. auch HUZ 1, 369 f. 23 Wolf Wondratschek: Was träumt die Palme? [1983]. In: 1400 Gedichte und ihre Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Bd. 4. Leipzig 2002. S. 194–196, hier: S. 195 f. 21
5.1 Rätsel der Einsamkeit
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Mit einer solchen stupend schlichten Wahrheit wollen sich viele Leser des Gedichts indes bis heute nicht zufrieden geben.24 Der Fichtenbaum ›steht‹, so die Annahme, nicht einfach auf kahler Höh’, sondern er steht auch für etwas.25 Nur: für was? Diese Frage hat in den letzten zweihundert Jahren eine Fülle von Deutungsangeboten provoziert. Heines Gedicht weckt nicht nur das Bedürfnis, die statische Gegenüberstellung der beiden Bäume in Vereinigungsvisionen aufzulösen, es stiftet nicht nur mit einschlägigen Signalwörtern dazu an, die konventionellen Muster eines Morgenlandtraums über den Text zu legen. Darüber hinaus provoziert es allegorische Auslegungsversuche. Wie aber ruft der Text diesen Effekt hervor? Wieso fordert er zur Suche nach übertragenen Bedeutungsebenen heraus? Die zahlreichen Nachahmungen und Evokationen des Gedichts, die – wie schon in der damaligen Literaturkritik tadelnd angemerkt wird26 – eine Tendenz zu Narrativierung, psychologisierender Vervollständigung, Ausschmückung und Ausdeutung aufweisen,27 könnten die Vermutung nahelegen, dass die Knappheit des Textes für diesen Effekt verantwortlich zu machen sei. Die Kürze selbst aber kann es nicht sein, denn diese charakterisiert den Großteil der Gedichte im Lyrischen Intermezzo. Um die Frage beantworten zu können, warum das Fichtenbaum-Gedicht in besonderem Maße allegorische Deutungsversuche provoziert, 24
So moniert Schrader, dass Wondratschek den Sinn des Gedichts »allein im Expliziten seiner Aussagen« finde (Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 33). 25 So wird der Text etwa als ein »Gleichnis« aufgefasst, dem Heine »einen seltsam tiefen, ewig gültigen Sinn« untergelegt habe (Pache: Naturgefühl und Natursymbolik, 1904. S. 31 und S. 141). 26 Im Rheinischen Volksblatt wird 1840 beanstandet, das Gedicht Verlorne Liebe von Wolfgang Müller von Königswinter erinnere mit seinen Schlussversen »zu sehr« (HUZ 5, 300) an Heines Fichtenbaum-Gedicht: »O, du verglühest tief im Süd, / Und ich vereise hoch im Nord. // Was trieb uns über Meer und Land? / Wir wissens nicht und glühn vor Scham – / Du fehlest mir, ich fehle dir, / Und beide welken wir vor Gram« (Wolfgang Müller [von Königswinter]: Junge Lieder. Düsseldorf 1841. S. 42 f.). Während Müller in Balladenmanier eine Liebesgeschichte konkret ausgestalte, so das Rheinische Volksblatt, werde dies in Heines Gedicht dem Leser überlassen; dies sei ein Qualitätsmerkmal »der ächten Poesie« (HUZ 5, 301). Vgl. ähnlich HUZ 10, 742 f. Die Leipziger Blätter für literarische Unterhaltung verteidigen 1848 Heines Fichtenbaum-Gedicht gegen eine Kritik Arnold Ruges, der in Heines Gedicht einen »psychologischen Verlauf« vermisst und geurteilt hatte, das Gedicht sei »ein leerer Witz« (Arnold Ruge: Sämmtliche Werke. Bd. 3. Mannheim 21847. S. 24). Ruge verkenne, so die Blätter für literarische Unterhaltung, dass Heine weder ein Märchen noch eine Fabel habe fabrizieren, »sondern kurz und gut das Gefühl der Verlassenheit und der Sehnsucht ausdrücken« wollen (HUZ 9, 729). 27 Der österreichische Dichter Anton Alexander Graf von Auersperg bietet in seinem Gedicht Pinie und Tanne mit Narrativierung, Dialogisierung, Versöhnungsvision und einem politischen Deutungsschlüssel all das auf, was Heines Gedicht vermeidet (Anastasius Grün: Gedichte. Leipzig 1837. S. 159–163). Georg Scheurlin verarbeitet Heines Text 1837 in einer romantischen Schauerballade, die von Richard Wagner vertont wird (vgl. Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Hg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf. Bd. 1. Leipzig 1967. S. 357). Scheurlins Gedicht erscheint zunächst unter dem Titel Der Tannenbaum (Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1838. Hg. von Adelbert von Chamisso und Gustav Schwab. Leipzig [1837]. S. 133 f.), später ändert er den Titel zu Der Fichtenbaum (Georg Scheurlin: Gedichte. Ansbach 1851. S. 117).
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5. Fichtenbaum und Palme
ist zu klären, worin es sich von den anderen Gedichten des lyrischen Frühwerks Heines und der zeitgenössischen Lyrikproduktion insgesamt unterscheidet; es gilt anders gesagt zu berücksichtigen, was es nicht ist, was in ihm abwesend ist. 5.1.2 Ein Rätselgedicht Aufforderung zur Allegorese Während sich das Fichtenbaum-Gedicht auf den ersten Blick mit seinen zwei Volksliedstrophen, die Liebessehnsucht in Naturmetaphorik übertragen, scheinbar nahtlos in den Zyklus Lyrisches Intermezzo und in die Lyrikproduktion der Zeit einfügt, fällt es bei genauerer Betrachtung völlig aus dem Rahmen.28 So fehlt in diesem kleinen Text, wie auch manchem Interpreten aufgefallen ist,29 das paradigmatische Konstituens lyrischer Rede: das literaturwissenschaftlich ebenso sagenumwobene wie umstrittene sogenannte lyrische Ich.30 Nicht nur sucht man das Pronomen ›Ich‹ vergeblich, das Gedicht vermittelt auch keine durch eine Naturwahrnehmung ausgelöste spezifische Subjekterfahrung.31 Im Fichtenbaum-Gedicht ist das Oppositionspaar eines Hier und eines Dort, das viele Gedichte der Zyklen Lyrisches Intermezzo und Heimkehr strukturiert, von der Perspektive des Sprecher-Ichs auf eine Ding-Perspektive verschoben: »Nicht das Ich träumt hier von der Geliebten dort, sondern der Fichtenbaum von der Palme«.32 Schon in der damaligen Literaturkritik wird das als überraschend und bemerkenswert empfunden (HUZ 1, 368; HUZ 5, 84; HUZ 12, 366). Tatsächlich bildet das Gedicht damit in Heines lyrischem Frühwerk und insbesondere unter den männlichen Liebesklagen des Lyrischen Intermezzos eine Ausnahme. Nur ein einziges anderes Gedicht des Zyklus kommt ebenfalls ohne Ich-Perspektive aus und ist ganz auf die Anthropomorphisierung einer Pflanze konzentriert, und auch von diesem unterscheidet sich das Fichtenbaum-Gedicht, wie zu zeigen sein wird, durch ein wichtiges Merkmal. Es handelt sich um Nr. X: 28 Den Ausnahmecharakter dieses Gedichts konstatiert auch Alberto Destro: Auf Flügeln des Gesanges – nach der östlichen Gartenheimat. Das Motiv des Orients in der Lyrik Heines. In: Aspekte der Romantik. Hg. von Sven-Aage Jørgensen u. a. Kopenhagen/München 1983. S. 107–127, hier: S. 109–112. Zu dieser Diagnose passt, dass das Gedicht bei Michael Perraudin (Heinrich Heine. Poetry in Context. A Study of Buch der Lieder. Oxford u. a. 1989), der Heines Gedichte in der Lyrikproduktion der Zeit und deren epigonalen Zitierverfahren zu verankern sucht, keine Berücksichtigung findet. 29 Schrader: Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 15 f. 30 Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, 1997. S. 181–213. 31 Zur Unabhängigkeit einer solchen Vermittlung von Subjekterfahrung von dem Pronomen ›Ich‹ vgl. Hans Lösener: Subjektivierung und Artikulation. Zum Begriff des lyrischen Ichs. In: Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770–2006). Hg. von Jutta Schlich und Sandra Mehrfort. Heidelberg 2006. S. 1–17; Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995). S. 38–57. 32 Dietrich Weber: ›Gesetze des Standpunkts‹ in Heines Lyrik. In: Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1965. S. 369–399, hier: S. 380 f.
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Die Lotosblume ängstigt Sich vor der Sonne Pracht, Und mit gesenktem Haupte Erwartet sie träumend die Nacht. Der Mond, der ist ihr Buhle, Er weckt sie mit seinem Licht, Und ihm entschleiert sie freundlich Ihr frommes Blumengesicht. Sie blüht und glüht und leuchtet, Und starret stumm in die Höh; Sie duftet und weinet und zittert Vor Liebe und Liebesweh. (BdL, 119)
Während die statische Kontrastkonstellation des Fichtenbaum-Gedichts nur sanft durch anthropomorphisierende Verben, Partizipien und Adverbien ins Schwingen gebracht wird, zeichnet sich das Lotosblume-Gedicht durch eine regelrecht vibrierende Statik aus. In parataktisch-parallelistischer Reihung zieht Heine hier alle Register orientalischer Sinnlichkeit: »Sie blüht und glüht und leuchtet / […] Sie duftet und weinet und zittert« (V. 9 und V. 11). Gekreuzt werden diese beiden Verse synästhetischer Üppigkeit mit zwei Versen schmerzlicher Privation, die einen im Fichtenbaum-Gedicht (Höh’/Schnee) ebenfalls zu findenden unreinen Endreim aufweisen: »Und starret stumm in die Höh / […] Vor Liebe und Liebesweh« (V. 10 und V. 12). Nun könnte man versucht sein zu behaupten, der einzige elementare Unterschied zum Fichtenbaum-Gedicht bestehe darin, dass das Lotosblume-Gedicht das Sehnsuchtsmotiv unerfüllt bleibender Liebe vertikal umsetzt, während das Fichtenbaum-Gedicht auf einer horizontalen Achse operiert. Der Unterschied zwischen den beiden Gedichten geht jedoch tiefer, denn er liegt auf der Ebene des bedeutungszuweisenden Verfahrens. Mit seiner engen Verwebung von Naturphänomen (Nachtgewächs), mythischkosmischer Dimension (Erde/Mond) und anthropomorphisierender Liebessemantik weist sich das Lotosblume-Gedicht als eine natursymbolische Variation auf das den gesamten Zyklus durchziehende Liebesthema aus. Der pragmatische Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen ist als Naturvorgang in sich schlüssig und kohärent. Für das Fichtenbaum-Gedicht gilt dies nicht. Nördlicher Fichtenbaum und morgenländische Palme stehen nicht in einem ›natürlichen‹ Verhältnis zueinander, sondern sind allein durch das zarte Band des Traums bzw. die Komposition des Gedichts verbunden. Die Position einer einzelnen Fichte auf einem kahlen Berg und mehr noch die Lage der Palme auf einem steilen Felsen entbehren jeder topographischen Plausibilität; und ihr Verhältnis zueinander hat – anders als im Falle von Mond und Lotosblume – keinen Anhaltspunkt in botanischen Gegebenheiten. Die Baumkonstellation des Fichtenbaum-Gedichts ist einem Maße stilisiert, das jeden pragmatischen Erfahrungszusammenhang aus-
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schließt und einen Eindruck von Emblemhaftigkeit hervorruft.33 Wie die pictura eines barocken Emblems veranlasst es seine Leser, nach einer inscriptio und einer subscriptio zu suchen, die die Bedeutung des Bildes aufschlüsseln, während sich die symbolische Bedeutung des Lotosblume-Gedichts aus dem in ihm entworfenen pragmatischen Zusammenhang ergibt. Dieser Unterschied lässt sich mit den um 1800 als zwei paradigmatische Textstrategien etablierten Verfahren des Symbols und der Allegorie korrelieren.34 Das Symbol ist durch Kontiguität bestimmt, es ist ein motiviertes Zeichen, dessen Bedeutung in einem Element der textuell evozierten oder erzählten Welt verankert ist. Die Allegorie ist demgegenüber ein arbiträres Zeichen, insofern in ihm zwei oder mehr diskontinuierlich miteinander verbundene Bedeutungsschichten nebeneinander stehen, die über Analogien erschlossen werden müssen.35 Tatsächlich ist die Differenz dieser beiden bedeutungsgenerierenden Verfahren ausgerechnet an Heines Fichtenbaum-Gedicht prominent verhandelt worden. Als Karl Kraus sich 1906/10 polemisch über Heine und die Folgen auslässt, spielt er das Modell goethescher Erlebnislyrik,36 exemplifiziert an Goethes Wandrers Nachtlied/Ein gleiches, gegen Heines Suche nach »weltläufigen Allegorien« aus: In Heines Fichtenbaum-Gedicht kann er lediglich eine »kunstvolle Attrappe« und »bloße Plastik einer Naturanschauung« erkennen.37 Einmal abgesehen von den ideologischen Implikationen dieser Einschätzung und ihrer polemischen Zuspitzung, lässt sich Kraus’ Eindruck von Allegoriehaftigkeit als Effekt des Gedichts 33 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3. Stuttgart 1980. S. 559. 34 Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963; Bengt Algot Sørensen: Die »zarte Differenz«. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 632–641; Michael Titzmann: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 642–665. 35 Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, 1997. S. 144–149; Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 21988, bes. S. 77; Jonathan Culler: Literary History, Allegory, and Semiology. In: New Literary History 7 (1976). S. 259–270, hier: S. 263 f. Vgl. ferner zur literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung Bengt Algot Sørensen: Symbol und Allegorie. Ein literaturwissenschaftliches Begriffspaar? In: Orbis Litterarum 37 (1982). S. 289–301; Christoph Brecht: »Schneller als die Gegenstände selber dich vorüberfliehn«. Zum Rückbau der Alternative von Allegorie und Symbol. In: Aktualität des Symbols. Hg. von Frauke Berndt und Christoph Brecht. Freiburg im Breisgau 2005. S. 185–205; Formen und Funktionen der Allegorie. Hg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. 36 Gerhard Kaiser: Was ist ein ›Erlebnisgedicht‹? Johann Wolfgang Goethe: »Es schlug mein Herz…«. In: ders.: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan. Frankfurt am Main 1987. S. 117–144. 37 Karl Kraus: Heine und die Folgen [1910]. In: ders.: Heine und die Folgen. Schriften zur Literatur. Ausgewählt und erläutert von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1985. S. 35–71, hier: S. 47 f. Vgl. ähnlich Georg J. Plotke: Heinrich Heine als Dichter des Judentums. Ein Versuch. Dresden 1913. S. 75 f. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser Kategorien vgl. Wilhelm Dilthey: Heinrich Heine [1876]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. von Ulrich Herrmann. Göttingen 1970. S. 205–244, hier: S. 205.
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beschreiben, der durch bestimmte Textsignale – vor allem eine grammatische Auffälligkeit – hervorgerufen wird. Anders als im Lotosblume-Gedicht nämlich setzt Heine im Fichtenbaum-Gedicht unbestimmte Artikel ein. Dass in einem so kurzen, im Präsens gehaltenen Gedicht indeterminierte Artikel verwendet werden, ist höchst ungewöhnlich. Die kataphorische Verweisfunktion unbestimmter Artikel, einen Gegenstand erstmalig in einen Aussagezusammenhang einzuführen, der im weiteren Verlauf näher bestimmt wird,38 kommt in der Regel bei Anfängen narrativer Texte und in balladesken Gedichten zum Tragen, etwa in Goethes Sah ein Knab ein Röslein stehen oder in Heines Prolog zum Lyrischen Intermezzo mit Märchen-Incipit: »Es war mal ein Ritter, trübselig und stumm« (BdL, 109).39 Lyrische Texte ohne narrativen Zug beginnen demgegenüber in der Regel mit determinierten, anaphorischen Artikeln. Das gilt für Heines Gedicht von der sich ängstigenden Lotosblume ebenso wie für das Gros der Gedichte dieser Zeit. Ludwig Uhland etwa, der damals mit Abstand erfolgreichste Lyriker, ruft einzelne Landschaftselemente in der Regel vom ersten Vers an mit bestimmten Artikeln und einem ausgeprägt deiktischen Gestus auf.40 Wie Konrad Ehlich mit Blick auf Joseph von Eichendorffs Gedicht Lockung dargelegt hat, fungiert der bestimmte Artikel in solchen Fällen als ein Bekanntheitsoperator, der direkt bei Eröffnung des jeweiligen Gedichts die Leser zur Aktivierung eines gemeinsamen Wissens herausfordert.41 Der bestimmte Artikel dient also hier als Mittel der Evokation mit Unmittelbarkeitseffekt; er wirkt gleichsam – frei mit Eichendorffs bekanntem poetologischem Gedicht gesprochen – als Wünschelrute, die das Zauberwort treffen und dadurch das Lied wecken soll, das in allen Dingen schläft.42 Über ebendiesen in der Lyrik der Zeit ubiquitären Gestus mokiert sich Heine in Nr. XXV des Lyrischen Intermezzos, indem er ihn im wahrsten Sinne des Wortes aushöhlt: »Die Linde blühte, die Nachtigall sang, / […] Die Blätter fielen, der Rabe schrie hohl« (BdL, 131).43 Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim 22003. S. 407–432. Im Gedicht Nr. XL des Lyrischen Intermezzos verdichtet Heine dieses grammatische Muster zum Minimalgerüst einer unglücklichen Liebesgeschichte: »Ein Jüngling liebt ein Mädchen, / die hat einen Andern erwählt; / Der Andre liebt eine Andre, / Und hat sich mit dieser vermählt« (BdL, 144). 40 Vgl. Ludwig Uhland: Gedichte. Stuttgart/Tübingen 21820. S. 14 (»Da liegen sie alle, die grauen Höhn, / Die dunkeln Thäler, in milder Ruh«); S. 22 (»Droben stehet die Kapelle, / Schauet still in’s Tal hinab«); S. 70 (»Will ruhen unter den Bäumen hier, / Die Vöglein hör’ ich so gerne«); S. 93 (»Wird das Lied nun immer tönen / Mit dem ernsten, scharfen Laut?«). 41 Konrad Ehlich: Linguistisches Feld und poetischer Fall – Eichendorffs ›Lockung‹ [1998]. In: ders.: Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 2. Berlin/New York, NY 2007. S. 369–397, hier: S. 377. 42 Vgl. das Gedicht Wünschelruthe (1835): »Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort« (Joseph Freiherr von Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann. Bd. 1.1. Stuttgart u. a. 1993. S. 121). 43 Überhaupt beweist Heine ein ausgeprägtes Gespür für die Effekte von ana- und kataphorischen Artikeln; so spielt er im Lyrischen Intermezzo effektvoll mit dieser Differenz, um die Konventionalität des Modells romantischer Seelenliebe ironisch zu kommentieren (TLI, 92). 38 39
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Das Fichtenbaum-Gedicht nun verhält sich nicht parodistisch zum Evoka tionsgestus damaliger Naturlyrik, sondern stellt ihm – signalisiert durch unbestimmte Artikel – ein ganz anderes Textverfahren entgegen. Stützt die anaphorische Verweisstruktur bestimmter Artikel in lyrischen Texten symbolische Verfahren der Bedeutungsgenerierung, dient die kataphorische Verweisstruktur der unbestimmten Artikel in Heines Gedicht als Anweisung zur Allegorese, insofern sie über die Konkretion zweier Bäume hinausweist, eine generische Exemplarizität suggeriert und damit zur Suche nach anderen Bedeutungsebenen anstiftet: Hier stehen nicht ein bestimmter Fichtenbaum und eine bestimmte Palme in ihrer jeweiligen Umgebung und gewinnen aus ihrem pragmatischen Zusammenhang heraus Bedeutung, sondern ein Fichtenbaum und eine Palme stehen offenbar für etwas anderes. Damit unterscheidet sich Heines Gedicht grundlegend von den natursymbolischen Stimmungsgedichten seiner Zeit. Wie Erich Mayser beobachtet, ist die »Allegoriehaftigkeit des Bildes vom Fichtenbaum und der Palme« dem Volkslied und dem romantischen Kunstlied in dieser Form fremd.44 Mit seiner durch unbestimmte Artikel und Verbformen im Präsens charakterisierten grammatischen Struktur ruft das Fichtenbaum-Gedicht ein ganz anderes lyrisches Genre auf: Es erinnert an die Witz- und Rätselgedichte, die ebenso wie Charaden, Logogryphen und Blumengrüße in der biedermeierzeitlichen Lesekultur Verbreitung finden.45 Auch Goethe experimentiert in seinem lyrischen Spätwerk, das für Heines Buch der Lieder prägend ist,46 auf anspruchsvolle Weise mit diesem Genre.47 Typisch ist für diese Rätselgedichte eine durch unbestimmte Artikel signalisierte allegorische Struktur.48 Sichtbar wird das an Goethes 1815 in der Rubrik Parabolisch publizierten Erklärung einer antiken Gemme, die mit den Versen »Es steht ein junger Feigenstock / In einem schönen Garten« beginnt (MGA 11.1.1, 50), an Schillers Turandot-Rätselgedichten aus den Jahren 1801 bis 1805, darun Mayser: Heines »Buch der Lieder« im 19. Jahrhundert, 1978. S. 187 f. Margarete Zuber: Die deutschen Musenalmanache und schöngeistigen Taschenbücher des Biedermeier, 1815–1848. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 13:54a (1957). Archiv für die Geschichte des Buchwesens (VI). S. 869–960, hier: S. 876 und S. 927. Vgl. z. B. die Sammlungen Das sinnreiche Buch; oder Charaden, Räthsel und Logogryphen auf alle Tage im Jahr. Hg. von Theodor Hell [d.i. Karl Gottfried Theodor Winkler]. Leipzig 21812; Deutsches Räthselbuch. Eine vollständige Sammlung der besten deutschen Räthsel, Charaden und Logogriphen. Bd. 1. Halle/Berlin 1812. 46 Norbert Altenhofer: Ästhetik des Arrangements. Zu Heines »Buch der Lieder« [1982]. In: ders.: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main/ Leipzig 1993. S. 154–173 und S. 286–288, hier: S. 160–164; Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3 (1980). S. 535 f. 47 Gerhart von Graevenitz: Gewendete Allegorie. Das Ende der »Erlebnislyrik« und die Vorbereitung einer Poetik der modernen Lyrik in Goethes Sonett-Zyklus von 1815/1827. In: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre. Hg. von Eva Horn und Manfred Weinberg. Opladen/ Wiesbaden 1998. S. 97–117, bes. S. 112–117. 48 Vgl. zur Verwandtschaft von Rätsel und Allegorie auch Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, 1988. S. 36. 44 45
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ter Auf einer großen Weide gehen und Es steht ein groß geräumig Haus,49 an Max von Schenkendorfs Christus-Gedicht Ein Gärtner geht im Garten (1814),50 und an Hoffmann von Fallersleben Hagebutte-Gedicht Ein Männlein steht im Walde (1843).51 Im Lyrischen Intermezzo variiert Heine dieses Genre mit einem Vierzeiler, der dem Rätsel (»Es fällt ein Stern herunter / Aus seiner funkelnden Höh’«) die Auflösung auf dem Fuße folgen lässt: »Das ist der Stern der Liebe, / Den ich dort fallen seh’« (BdL, 163).52 Die Krux des Fichtenbaum-Gedichts nun liegt darin, dass es sich zwar an die Struktur der Rätselgedichte anlehnt und den allegorischen Enträtselungsdrang seiner Leser herausfordert, im Unterschied zu diesen aber weder einen klaren Lösungsweg vorgibt noch in den Schlussversen eine Auflösung bietet.53 Die Deutungsoffenheit, die sich daraus ergibt, manifestiert sich in einer gewaltigen Zahl kontroverser Auslegungsversuche dieses kleinen Textes, die zu klären versuchen, wofür Fichtenbaum und Palme stehen. Die vier wichtigsten Interpretationsansätze stelle ich im Folgenden kurz vor, bevor ich dann im zweiten Teil dieses Kapitels einen eigenen Vorschlag unterbreiten werde. 5.1.3 Deutungsansätze Liebespaar, kosmischer Gegensatz, Orientsehnsucht, jüdische Zerrissenheit? Mit Blick auf die Position des Gedichts in einem Zyklus von 66 lyrischen Varia tionen über das Thema unerfüllte Liebe54 liegt es nahe, Fichtenbaum und Palme als Repräsentanten eines voneinander getrennten Liebespaars zu verstehen.55 Ge49 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Peter-André Alt u. a. Bd. 1. München/Wien 2004. S. 4 43–450. 50 Max von Schenkendorf: Poetischer Nachlaß. Berlin 1832. S. 165 f. 51 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Funfzig neue Kinderlieder. Nach Original- und bekannten Weisen mit Clavierbegleitung von Ernst Richter. Zweiter, unveränderter Abdruck [der Erstausgabe von 1845]. Heidelberg 1866. S. 39. 52 Vgl. auch ein Gedicht im Zyklus Neuer Frühling (1831), das in der dritten Strophe eine Ausdeutung des in den ersten beiden Strophen entworfenen Landschaftsbildes bietet (DHA 2, 30). 53 Vgl. zur Lösbarkeit als Bedingung für das Rätsel Alfred Schönfeldt: Zur Analyse des Rätsels. In: ZfdPh 97:1 (1978). S. 60–73, bes. S. 66. 54 Vgl. zum literaturgeschichtlichen Stellenwert Martin Lindner: »Noch einmal«. Das tiefenpsychologische und künstlerische Konservieren der Erinnerung an den »Liebesfrühling« in Liebeslyrik-Zyklen 1820 bis 1860. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 2002. S. 39–77. 55 Bernd Kortländer: »Ich bin ein deutscher Dichter«. Liebe und Unglück in Heines »Buch der Lieder«. In: HJb 45 (2006). S. 59–73, hier: S. 64; Bernd Kortländer: Poesie und Lüge. Zur Liebeslyrik des »Buchs der Lieder«. In: Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile. Hg. von Gerhard Höhn. Frankfurt am Main 1991. S. 195–213, hier: S. 207; Gertrud Waseem: Das kontrollierte Herz. Die Darstellung der Liebe in Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Bonn 1976. S. 142; Walter A. Berendsohn: Die künstlerische Entwicklung Heines im Buch der Lieder. Struktur- und Stilstudien. Stockholm 1970. S. 47; Walter Wadepuhl: Heinrich Heine. Sein Leben und seine Werke. Köln 1974. S. 67; Norbert Fuerst: The Victorian Age of German Literature. Eight Essays. London 1966. S. 81 f.; Gustav Karpeles:
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stützt wird diese Lesart dadurch, dass Heine statt einer ›Fichte‹ einen grammatisch männlichen ›Fichtenbaum‹ von einer grammatisch weiblichen ›Palme‹ träumen lässt und das Gedicht damit nahtlos in die heterosexuelle Geschlechterordnung des Zyklus einfügt, in dem durchweg ein männliches Ich zu weiblichen Geliebten spricht, von diesen träumt oder sich nach diesen verzehrt. Wie Hans-Jürgen Schrader allerdings zu Recht anmerkt, bleiben in der Deutung des Gedichts als »Allegorie erotischer Liebessehnsucht« die Oppositionspaare Norden/Morgenland und Kälte/Hitze weitgehend blinde Motive.56 Auch der formale Ausnahmecharakter des Textes bleibt unberücksichtigt, wenn er thematisch auf ein zyklisches Serienelement des Lyrischen Intermezzos reduziert wird. Demgegenüber hebt eine zweite Lesart das Gedicht weit aus seinem zyklischen Kontext der Liebesvariationen heraus und erklärt die symmetrische Kontraststruktur selbst, verstanden als Spiegel eines universalen Gegensatzprinzips, zur Aussage des Gedichts. In dieser Perspektive erscheint es als ein paradigmatischer Text sowohl für den romantischen und biedermeierlichen Zeitgeist der ›Zerrissenheit‹ als auch speziell für Heines legendären Seelenzwiespalt (HUZ 1, 36, 37 und 129). Diese Lesart hat bis in den Gymnasialunterricht des 19. Jahrhunderts hinein gewirkt: »Dergleichen Gegensätze«, referiert ein Lesebuchkommentar zu Heines Gedicht, »bieten nicht bloß die Verschiedenheiten der Völker, namentlich die der kalten und heißen Zone dar, sondern auch die einzelnen Menschen in Charakter und Temperament, in Alter und Geschlecht, ja sie zeigen sich oft genug in ein und derselben Menschenbrust.«57 Zwar trägt diese universalistische Lesart der Kontrastsymmetrie des Gedichts Rechnung, sie reduziert aber die Oppositionspaare Palme/Fichte, Hitze/Kälte und Morgenland/Norden auf den strukturalen Aspekt der Gegensätzlichkeit und läuft damit Gefahr, diese in Beliebigkeit aufzulösen und ästhetizistisch zu relativieren bzw. zu neutralisieren.58 Eine dritte Lesart des Gedichts, der zufolge Fichte und Palme als Synekdochen für Okzident und Orient stehen,59 rückt demgegenüber gerade das Oppositionspaar Norden/Morgenland ins Zentrum. Als Ausdruck von Orientsehnsucht verstanden, haben sich Anwendungsspektrum und Identifikationspotential des Textes als außerordentlich breit erwiesen.60 Heinrich von Treitschke findet 1885 die Vom Fichtenbaum und der Palme. In: ders.: Heinrich Heine und seine Zeitgenossen. Berlin 1888. S. 67–75, hier: S. 70 f. 56 Schrader: Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 18. 57 Lüben/Nacke: Einführung in die deutsche Literatur. Bd. 3 (1864). S. 367. 58 So sieht Sengle (Biedermeierzeit. Bd. 3 (1980). S. 559 f.) in Heines Fichtenbaum-Gedicht einen Text von »absoluter Vieldeutigkeit«, der auf »den hinter allen Entzweiungen stehenden Weltriß« verweise. Er variiert damit eine Selbstaussage Heines, durch dessen Herz »der große Weltriß« gehe (DHA 7.1, 95). 59 Mirjam Weber: Der »wahre Poesie-Orient«. Eine Untersuchung zur Orientalismus-Theorie Edward Saids am Beispiel von Goethes »West-östlichem Divan« und der Lyrik Heines. Wiesbaden 2001. S. 29 f. 60 Dietmar Goltschnigg: Traditionszusammenhänge der österreichischen Moderne (am Beispiel
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»Wandersehnsucht der Germanen« in Heines Gedicht vermittelt;61 Georg J. Plotke kann es 1913 zu einem »frühen rassenbewußten Zionistengedicht« erklären.62 Dass für Orientsehnsucht und Wanderlust ausgerechnet ein Gedicht in Anspruch genommen wird,63 das mit der statischen Gegenüberstellung zweier verwurzelter Bäume allem Bewegungs- und Begegnungsdrang eine Absage erteilt und das Morgenland als einen kahlen, brütend heißen Ort der Trauer und des Schweigens präsentiert, verdankt sich den eingangs skizzierten orientalistischen Vervollständigungsmechanismen, die – ausgelöst durch die Signalwörter ›Norden‹, ›träumt‹, ›Palme‹ und ›Morgenland‹ – unbesehen konventionelle Muster eines Morgenlandtraums über das Gedicht legen. Das eigentümliche Profil des Morgenlands in Heines Gedicht kommt in einer vierten Lesart zum Tragen, die einen ganz bestimmten – den biblischen, jüdischen – Orient adressiert sieht und davon ausgeht, dass Heine in der Opposition von Fichte und Palme, Kälte und Hitze, Norden und Morgenland seinen persönlichen Zwiespalt als deutscher Jude zum Ausdruck bringe.64 In dieser Perspektive erscheint das Gedicht als ein frühes Kondensat der heineschen Kontrastpoetik,65 die Martin Walser als produktive Spannung aus den Lebens- und Schaffensbedingungen des deutschen jüdischen Dichters herzuleiten versucht hat.66 Die Konstellation des Gedichts wird dabei ebenso wie andere Kontrast- und Sehnsuchtskonstellationen von Norden und Orient, die Heines Werk durchziehen,67 auf der Heine- und Büchner-Rezeption). In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin 2007. S. 169–179, hier: S. 174. 61 Treitschke: Deutsche Geschichte. Bd. 3 (1885). S. 713. 62 Plotke: Heinrich Heine als Dichter des Judentums, 1913. S. 75. 63 Der mit Heine befreundete Orientalist Hermann von Pückler-Muskau stellt Heines Fichtenbaum-Gedicht dem zweiten Band seines Reiseberichts Aus Mehmed Ali’s Reich (1844) als Motto voran. 64 So sieht Karlheinz Fingerhut in dem Text eine »unerfüllbare Liebes- und Sehnsuchts-Beziehung der beiden Persönlichkeitsteile des sich als Deutscher fühlenden Juden Heine« (Karlheinz Fingerhut: »Wenig Blätter Freuden, / Ganze Hefte Leiden«. Heines Liebeslyrik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 50:1 (2003). S. 24–43, hier: S. 33). Vgl. auch die Verortung Heines ›zwischen Fichtenbaum und Palme‹ aufgrund seiner »jüdischen Herkunft und Bibelnähe« in Joseph A. Kruse: Heinrich Heine und der Orient. In: Der Deutschen Morgenland: Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Hg. von Charis Goer und Michael Hofmann. München 2008. S. 165–178, hier: S. 165; ferner schon Pache: Naturgefühl und Natursymbolik, 1904. S. 160: »Das Problem seines Lebens, das jeden Juden ungelöst und qualbringend begleitet, […] scheint mir in diesem kurzen, schlichten Lied die poetischste und wunderbarste Kristallisation gefunden zu haben, dem Dichter selbst vielleicht ganz unbewußt.« 65 Gerhard Höhn: Kontrastästhetik. Heines Programm einer neuen Schreibart. In: Heinrich Heine. Ein Wegbereiter der Moderne. Hg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2009. S. 43–66. 66 Martin Walser: Heines Tränen. In: HJb 21 (1982). S. 206–227. 67 Vgl. etwa in einem Brief an Wilhelm Smets vom 24. Dezember 1821 (HSA 20, 44 f.), im Buch Le Grand von 1826 (DHA 6, 173 f.), im Reisebild Die Stadt Lukka und in den Englischen Fragmenten von 1831 (DHA 7.1, 186 f. und 262 f.). Vgl. mit weiteren Beispielen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 31. Die west-östliche bzw. nord-südliche Kontrastkonstellation taucht auch immer
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Heines ›jüdisches Wesen‹68 oder sein ›existentielles Interesse‹69 zurückgeführt und biographisch mit seiner jüdischen Sozialisierung und seiner Haltung zum Judentum begründet.70 Allerdings hat es sich als ausgesprochen schwierig erwiesen, diese Lesart präzise und überzeugend am Text selbst zu plausibilisieren. So formuliert Siegbert Salomon Prawer sehr vorsichtig, »one my, I suppose, attach some biographical significance to the poem in which a Northern pine tree yearns for an Eastern palm« – eindeutig nachweisbar sei das aber nicht.71 Tatsächlich haben sich einige Interpreten bei dem Versuch, biographische Gehalte in dem Gedicht dingfest zu machen, in Widersprüchen verfangen, da in der Regel diffus bleibt, welcher Baum für was genau (den Dichter? einen Teil seiner Persönlichkeit? ein kulturelles Erbe?) stehen soll.72 Der Drang, dem Gedicht eine persönliche Selbstaussage abzuringen – einem Gedicht, wohlgemerkt, das sich der ersten Person Singular vollständig enthält – blockiert eine klare Ausdeutung seiner Bedeutungsstruktur. Das allegorische Rätselgedicht lässt sich schwerlich als Gefühlsausdruck verstehen. Jenseits vager Assoziationen und biographistischer Kurzschlüsse sind zwei umsichtige Versuche unternommen worden, einen jüdischen Erfahrungsgehalt wieder in Beurteilungen von Heines Schaffen auf. Vgl. besonders eine Rezension im Rheinisch-Westfälischen Anzeiger vom 7. Juni 1822, deren Verfasser (»‑Schm-«) bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert werden konnte (HUZ 1, 39 f.). Eberhard Galley vermutet, dass sich hinter diesem Kürzel Chamisso verberge (HUZ 1.2, 14). Vgl. zu dieser Rezension auch Mayser: Heines »Buch der Lieder« im 19. Jahrhundert, 1978. S. 113–116. 68 Mounir Fendri: Halbmond, Kreuz und Schibboleth. Heinrich Heine und der islamische Orient. Hamburg 1980. S. 75. Vgl. auch Fendris Einschätzung: »Vielen gilt es als selbstverständlich, Heine in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Orient zu begreifen. Er war schließlich Jude und als solcher ein ›Orientaler‹« (ebd., S. 9). Diese Aussage mag naiv anmuten, gibt die Forschungslage aber angemessen wieder. Vgl. etwa Ruth L. Jacobi: Heinrich Heines jüdisches Erbe. Bonn 1978. S. 140: Heines Vorliebe für »orientalische Naturschilderungen, orientalische Pracht und überschwengliche Ausdrucksweise« lasse sich nicht zuletzt auf sein Judentum zurückführen. 69 Kruse: Heinrich Heine und der Orient, 2008. S. 168; ähnlich Weber: Der wahre Poesie-Orient, 2001. S. 82. 70 Ohne weitere Erklärung meint Ludwig Rosenthal (Heinrich Heine als Jude. Berlin u. a. 1973. S. 224), die »Erwägung der Möglichkeit einer Taufe« möge Heine zu dem Fichtenbaum-Gedicht angeregt haben. 71 Siegbert Salomon Prawer: Heine’s Jewish Comedy. A Study of his Portraits of Jews and Judaism. Oxford 1983. S. 96. 72 Lydia Fritzlar (Heinrich Heine und die Diaspora. Der Zeitschriftsteller im kulturellen Raum der jüdischen Minderheit. Berlin/Boston, MA 2013. S. 93–98) beispielsweise behauptet bar kulturhistorischer oder interpretatorischer Nachweise zunächst: »Die Fichte ist in der Metaphorik der jüdischen Tradition Sinnbild des Fremden, des bedrohlich Wirkenden, kann mithin für das nichtjüdische Umfeld gelesen werden.« Wenig später suggeriert sie indes, nicht die Fichte selbst, sondern deren widrige Umgebung stehe für die nichtjüdische Umgebung, in die die Fichte – nun verstanden als Sinnbild Heines – sich nicht integrieren könne und wolle. Von einer oberflächlichen Textbehandlung zeugen auch die Ausführungen von Paul Peters: Fichtenbaum und Palme. Politik und Poesie in Heines Orientalismus. In: Wenn die Rosenhimmel tanzen. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Rüdiger Görner und Nima Mina. München 2006. S. 128–153.
5.1 Rätsel der Einsamkeit
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in dem Text nachzuweisen. Philipp F. Veit hat sich dem Text mit einem entstehungsgeschichtlichen und werkbiographischen Ansatz genähert.73 Er ist allerdings auf Rückprojektionen von Heines Spätwerk auf dessen frühes Schaffen angewiesen; seine Spekulationen über mögliche jüdische Quellen des Gedichts nehmen sich recht gewagt aus. Der Vermutung, ein Midrasch zum Psalmvers 92,13 sei die Quelle des Gedichts,74 ist – einmal ganz abgesehen von Heines nicht hinreichenden Hebräischkenntnissen – entgegenzuhalten, dass andere Spekulationen über mögliche Anregungen für das Fichtenbaum-Gedicht größere Überzeugungskraft haben.75 In der Düsseldorfer Heine-Ausgabe wird angenommen, Heine sei durch die Berliner Uraufführung der Oper Aucassin und Nicolette am 26. Februar 1822 zur Abfassung des Textes inspiriert worden.76 Mit gleicher Berechtigung ließe sich das Gedicht auf eine Szene in dem persischen Liebesroman Medschnun und Leila beziehen,77 den Heine für sein Almansor-Drama benutzt hat.78 Fokussiert man statt der Palme die Fichte, könnte man Heines Gedicht auch als Antwort auf eine Passage in Torquato Tassos Schäferspiel Aminta (1573/80) lesen, auf das er über Jahre hinweg wiederholt zu sprechen kommt (DHA 10, 203; DHA 12.1, 281 f.).79 Die Vielzahl möglicher Quellen und Anregun73 Philipp F. Veit: Heine’s Arbor / Fichtenbaum und Palme. In: The Germanic Review 51 (1976). S. 13–27. 74 Veit folgt Karpeles: Vom Fichtenbaum und der Palme, 1888. S. 71 f. Vgl. Midrasch Tehilim oder Haggadische Erklärung der Psalmen. Nach der Textausgabe von Salomon Buber zum ersten Male ins Deutsche übersetzt und mit Noten und Quellenangaben versehen von August Wünsche. Bd. 2. Trier 1893. S. 81 f. 75 Karl Hessel (Heinrich Heine: Dichtungen. Ausgewählt und erläutert. Bonn 1887. S. 314) vermutet die Anregung für das Gedicht in einem Aufsatz von Friedrich Wilhelm Carové: Ansichten der Kunst des deutschen Mittelalters. In: Taschenbuch für Freunde altdeutscher Zeit und Kunst auf das Jahr 1816. [Hg. von Friedrich Wilhelm Carové und Eberhard von Groote]. Köln 1815. S. 43–95, hier: S. 69. 76 Die Oper präsentiert eine Liebesgeschichte zwischen dem adligen, christlichen Aucassin und der aus dem Morgenland geraubten, getauften und gemeinsam mit Aucassin erzogenen Nicolette. Ihre Wiedervereinigung nach schmerzlicher Trennung wird durch den Vortrag einer Romanze eingeleitet: »Wohl trauert verwittwet die Palme, / Ihr weilt der Geliebte so fern« (David Johann Ferdinand Koreff: Aucassin und Nicolette, oder: Die Liebe aus der guten alten Zeit, nach der Sage eines provenzalischen Troubadours. Eine romantische Oper. In: Berlinischer Taschen-Kalender auf das Schalt-Jahr 1820. S. 221–299; Berlinischer Taschen-Kalender auf das Gemein-Jahr 1821. S. 131–190, hier: S. 185 f.). Heine rezensiert die Aufführung am 14. März 1822, verfasst ein Sonett auf diese Oper (DHA 1.1, 459) und erklärt wenig später, ihn habe »der anmuthige Kontrast vom ernsten Abendlande und dem heitern Orient« ergötzt (DHA 6, 27). Vgl. ferner DHA 6, 17 und 33 sowie den Kommentar in DHA 1.2, 812–814; Heinrich Uhlendahl: Fünf Kapitel über H. Heine und E.T.A. Hoffmann. Dissertation Berlin 1919. S. 24–33 und S. 80 f. 77 Fendri: Heine und der islamische Orient, 1980. S. 188. Ein üppiger Palmbaum im Garten erinnert den traurig schmachtenden Medschnun an seine Geliebte Leila (Dschami: Medschnun und Leïla. Ein persischer Liebesroman. Aus dem Französischen übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und drei Beilagen versehen von Anton Theodor Hartmann. Bd. 2. Amsterdam 1808. S. 7 f.). 78 Almansor imaginiert sich zweimal als Medschnun auf einem steilen Felsen sitzend (DHA 5, 19 und 64). Vgl. auch Heines Brief an Sethe vom 14. April 1822 (HSA 20, 50). 79 Torquato Tasso: Amyntas, Hirten-Gedichte. Aus den Italiänischen übersetzet von Johann Hein-
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gen erschwert den Versuch, die Deutung des Gedichts als Ausdruck jüdischer Erfahrung über die Identifikation einer jüdischen Vorlage zu plausibilisieren. Von einer anderen Seite – der Rezeption des Gedichts – hat sich Hans-Jürgen Schrader der Frage genähert. Er versucht nachzuweisen, dass das Gedicht jüdischen Leserinnen und Lesern spezifische Identifikationsangebote mache.80 Seine Funde allerdings entstammen ausnahmslos dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert;81 für eine spezifisch jüdische Rezeption des Gedichts in den Jahrzehnten direkt nach der Erstveröffentlichung im Jahr 1823 bringt er keinerlei Belege bei. Und so ist es reine Spekulation, das Fichtenbaum-Gedicht sei von jüdischen Lesern spontan »als exemplarischer Ausdruck eigener Erfahrungen« verstanden worden.82 Zwar sprechen manche christliche Antworten auf das Gedicht dafür, dass man das Gedicht als Artikulation aus einer jüdischen Sprechposition heraus verstanden hat;83 über die Lektüre-Erfahrungen jüdischer Leser im 19. Jahrhundert aber ist damit noch nichts gesagt. rich Kirchhoff. Hannover 1742. S. 27 f.: »Der Tannen-Baum liebt seine Tanne, / Der Fichten-Baum liebt seine Fichte; / Der Oehl-Baum machet auch ein sehr verliebt Gesichte; / Ein Weiden-Baum liebt seine Weide, / Und eine Büch hat an der andern ihre Freude.« Auch alle weiteren relevanten und mir bekannten deutschen Übersetzungen – anonym 1766, Walter 1794, Schaul 1808, Danford 1821 – setzen ›Fichte‹ oder ›Fichtenbaum‹ für das italienische Wort pino (vgl. Torquato Tasso: Aminta. Hg. von Giuseppe Lipparini. Mailand 1982. S. 29: »L’abete ama l’abete, il pino il pino, / L’orno per l’orno, e per la salce il salce / E l’un per l’altro faggio arde e sospira«). 80 Hans-Jürgen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche. In: The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Hg. von Hans-Jürgen Schrader u. a. Tübingen 1996. S. 5–44. Vgl. auch Chaim Shoham: Fichte und Landschaft. Ein romantisches und ein zionistisches Modell. (Vergleichende Betrachtung eines Gedichtes von Heinrich Heine und von Lea Goldberg). In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen 1988. S. 329–338; zu den hebräischen Übersetzungen des Gedichts Jakob Raphael: Heinrich Heine – Eine hebräische Bibliographie. In: HJb 7 (1968). S. 39–57, bes. S. 42. Vgl. für einen Überblick jüdischer Heine-Rezeption Lothar Kahn und Donald D. Hook: The Impact of Heine on Nineteenth-Century German-Jewish Writers. In: The Jewish Reception of Heinrich Heine. Hg. von Mark H. Gelber. Tübingen 1992. S. 53–65; Itta Shedletzky: Zwischen Stolz und Abneigung. Zur Heine-Rezeption in der deutsch-jüdischen Literaturkritik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Bd. 1. Tübingen 1988. S. 200–213. 81 Für die Zeit um 1900 lassen sich einige weitere Beispiele hinzuzufügen; in diesen Jahren wird Heines Fichtenbaum-Gedicht tatsächlich häufig mit Fragen jüdischer Emanzipation und Judenfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Der Journalist Moritz Szeps präsentiert 1888 im Wiener Tagblatt eine eigenwillige narrative Auslegung des Gedichts im Kontext des Streits um ein Heine-Denkmal (HuN 1, 293). Vgl. dazu Goltschnigg: Traditionszusammenhänge, 2007. S. 174. Der Satiriker Alexander Moszowski überführt die zweite Strophe des Fichtenbaum-Gedichts in einer Burleske, die 1902 im Berliner Überbrettl-Theater aufgeführt wird, in den aktuellen Kontext des Kolonialismus und banalisiert sie mit der abgewandelten Schlusspointe eines anderen heineschen Gedichts (HuN 1, 206). Vgl. Peter Sprengel: Heine auf dem Überbrettl. Mit einer ungedruckten Satire von Alexander Moszkowski: »Die Enthüllung des Heine-Denkmals« (1902). In: HJb 26 (1987). S. 169–192. 82 Schrader: Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 34. 83 Leberecht Dreves verlegt 1841 die heinesche Kontrastkonstellation in das Herz eines »Lebens-
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Weder Veits entstehungsgeschichtlicher noch Schraders rezeptionsgeschichtlicher Zugang zu Heines Fichtenbaum-Gedicht also können die Annahme, Heines Fichtenbaum-Gedicht verarbeite jüdische Erfahrung oder drücke dieselbe aus, hinreichend begründen und überzeugend belegen. Bei beiden erweist sich der unmittelbare Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang des Gedichts als blinder Fleck. Ebendieser soll nun ausgehend von seinen Publikationskontexten – den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) und dem Buch der Lieder (1827) – beleuchtet werden, um unter Rückbindung an den ästhetischen Eigensinn des Textes klären zu können, inwiefern sich eine jüdische Bedeutungsebene in ihm finden lässt. Als Schlüssel zum Verständnis des Gedichts werden sich erstens der Kontext des Orientalismus, der in der Forschung zu Heines frühen Gedichten bislang nicht hinreichend berücksichtigt worden ist, 84 und zweitens seine gattungsästhetische Bestimmung als allegorisches Rätselgedicht ohne Auflösung erweisen.
5.2 Privationen Das Gedicht in seinen Publikationskontexten Die Entstehung des Gedichts von Fichtenbaum und Palme fällt in die entscheidende Konstitutionsphase von Heines Selbstverständnis als deutscher jüdischer Autor. In den Berliner Jahren lanciert er zum einen seine Karriere als Schriftsteller und setzt sich zum anderen in neuer Weise und Intensität mit jüdischer Geschichte und Tradition auseinander.85 Dies ist mehr als eine zufällige Koinzidenz. müden« und endet mit der tröstlichen Versicherung, Gott im Himmel sehe, dass in seinem Herzen der »Schmerz der ganzen Welt« brenne (Leberecht Dreves: Gedichte. Hg. von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin 1849. S. 4 44 f.). Die Übersetzerin Elise von Hohenhausen dichtet 1852 nach ihrem Besuch an Heines Krankenlager ein Sonett An Heinrich Heine, das die Palme zu einem Emblem Jesu umfunktioniert und sich in christlichen Erlösungshoffnungen für Heine ergeht (Magazin für die Literatur des Auslandes 25:35 (1856). S. 140). Vgl. zum Hintergrund Markus Hänsel: »Ich stand an Deinem Lager Schmerz durchdrungen«. Elise von Hohenhausen und Heinrich Heine. In: HJb 24 (1985). S. 227–235. Karl Gutzkow benutzt in seiner Erzählung Die Curstauben (1852) Zitate des Fichtenbaum-Gedichts zur Charakterisierung einer romantischen jüdischen Schwärmerin, die aufgrund ihres »südlichen Ursprungs« eine exotische Attraktion für die männliche Stadtbevölkerung darstellt: »Leontine Simonis war jene einsame Palme aus dem Morgenland ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine, nur mit dem Unterschied, daß sie selbst bereits tief im Lande der Fichtenbäume wohnte und unter dem scharfen Luftzuge des Nordens oft, wie sie sagte, unbeschreiblich frieren mußte« (Karl Gutzkow: Die Curstauben [1852]. In: ders.: Gesammelte Werke. Zweite, wohlfeile Ausgabe. Erste Serie, Bd. 3: Kleine Romane und Erzählungen II. Jena [1879]. S. 261–296, hier: S. 263–266). 84 Vgl. dazu kritisch Weber: Der wahre Poesie-Orient, 2001. S. 28; für eine Belegsammlung aus Heines Gesamtwerk Michael Birkenbihl: Die orientalischen Elemente in der Poesie Heinrich Heines. In: Analecta Germanica. Hg. von Anton Glock u. a. Amberg 1906. S. 263–322. 85 Nach seinen desillusionierenden Erfahrungen mit den Burschenschaften in Bonn und Göttingen kommt Heine in Berlin ab Ende März 1821 mit Eduard Gans, Leopold Zunz, Moses Moser und Immanuel Wolf [später Wohlwill] in Kontakt, die im November 1819 den Verein für Cultur und
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Die Herausbildung seines Selbstverständnisses als junger deutscher Dichter ist – in einem Spannungsfeld zwischen privater Reflexion und öffentlicher Präsenta tion86 – aufs Engste mit der Herausbildung seines Selbstverständnisses als Jude verbunden.87 Im Rückblick reflektiert Heine am 7. März 1824 in einem Brief an Rudolf Christiani, wie sich dieser Prozess in seinem literarischen Schaffen niedergeschlagen hat: Ich liebe sogar im Grunde das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust u[nd] Freude dran, u[nd] meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls, wie meine zwey Bücher ein Archiv deutschen Gesanges sind. Mein erstes Buch ist auch in seiner Äußerlich[kei]t ganz deutsch, damals war die Liebe zum Deutschen noch nicht in mir getrübt; mein 2tes Buch ist nur innerlich deutsch; doch fremdartiger ist seine Aeußerlichkeit. Daß aus Unmuth gegen das Deutsche meine Muse sich ihr deutsches Kleid etwas fremdartig zuschnitt, ist wahrscheinlich. Zu diesem Unmuth haben triftige Gründe, gerechter Ennui Anlaß gegeben. (HSA 20, 148 f.)
Heine bestimmt hier seine ersten beiden Buchpublikationen – die Ende 1821 bei Friedrich Maurer erschienenen Gedichte und die im April 1823 bei Ferdinand Dümmler erschienenen Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo – als Marksteine eines intensiven und schmerzhaften Selbstreflexionsprozesses unter den frustrierenden Bedingungen judenfeindlichen Ressentiments. Sein dabei geWissenschaft der Juden gegründet haben. Vgl. Edith Lutz: Der »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden« und sein Mitglied H. Heine. Stuttgart/Weimar 1997, bes. S. 121–266. Vgl. allgemein zu Heines Haltung zum Judentum und seinem Selbstverständnis Israel Tabak: Judaic Lore in Heine. The Heritage of a Poet. Baltimore, MD 1948; Hartmut Kircher: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973; Rosenthal: Heinrich Heine als Jude, 1973; Jacobi: Heinrich Heines jüdisches Erbe, 1978; Prawer: Heine’s Jewish Comedy, 1983; Regina Grundmann: »Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo«. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk. Stuttgart/Weimar 2008. Vgl. für eine kritisch-methodologische Reflexion Jeffrey L. Sammons: Who Did Heine Think He Was? [1999]. In: ders.: Heinrich Heine. Alternative Perspectives 1985–2005. Würzburg 2006. S. 189–206. 86 Während Heines Beschäftigung mit dem Judentum in dem zunächst unveröffentlichten Fragment Der Rabbi von Bacherach und in privaten Gedichten stattfindet (HSA 20, 177 f.), fürchtet er, dass öffentliche Hinweise auf sein Judentum seinem Ansehen als Dichter schaden könnten. Schon in einem Brief an Christian Sethe äußert der 18-Jährige im Herbst 1816 seine Befürchtung, dass »Christliche Liebe die Liebeslieder eines Juden nicht ungehudelt lassen wird« (HSA 20, 22); in einem schwarzhumorigen Brief an Moses Moser vom 23. Mai 1823 präsentiert Heine eine »Selbstpersifflage« als »jüdischer Dichter« (HSA 20, 85–88). Im Juni 1823 bittet Heine seine Freunde, ihm mitzuteilen, falls in der Presse seine jüdische Religionszugehörigkeit erwähnt werde (HSA 20, 99 und 102). In einem Brief vom 8. August 1826 an Moser erklärt Heine seine Auswanderungsabsicht mit der »Qual persönlicher Verhältnisse (z. B. der nie abzuwaschende Jude)« (HSA 20, 265). Vgl. auch HSA 20, 92 f., 106 f. und 385. 87 Robert C. Holub: Personal Roots and German Traditions. The Jewish Element in Heine’s Turn Against Romanticism. In: Heinrich Heine und die Romantik. Heinrich Heine and Romanticism. Hg. von Markus Winkler. Tübingen 1997. S. 40–56; Itta Shedletzky: »Niemals von jüdischen Verhältnissen sprechen…«. Zum jüdischen Subtext in Heines »Ideen. Das Buch Le Grand«. In: Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hg. von Klaus Briegleb und Itta Shedletzky. Hamburg 2001. S. 49–64; Michael Werner: Heinrich Heine – Über die Interdependenz von jüdischer, deutscher und europäischer Identität in seinem Werk. In: Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848. Hg. von Walter Grab und Julius H. Schoeps. Stuttgart/Bonn 1983. S. 9–28.
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wachsener »Unmuth gegen das Deutsche« schlage sich darin nieder, dass die »Äußerlichkeit« des zweiten Buches »fremdartiger« sei, dass er also den deutschen Gehalt des Buches durch dessen Anlage und Gestalt gezielt verfremdet habe. Als Verfremdungsinstrument zur Thematisierung seiner Position als jüdischer Dichter in Deutschland dient Heine, so wird sich zeigen, in der Gestaltung seiner Texte – wie auch in Privatbriefen dieser Zeit (HSA 20, 50 und 136 f.) – der Orientalismus.88 5.2.1 Nord-Süd-Kontraste Das Gedicht in den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) Der Band Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo wird der literarischen Öffentlichkeit mittels einer Verlagsanzeige, die im April 1823 in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen erscheint, als ein sorgsam komponiertes nord-südliches Kontrastwerk präsentiert. Die »im südlichen Spanien« spielende Tragödie Almansor kontrastiere, heißt es da, formal und stofflich mit der »im nördlichen Schottland« spielenden Tragödie William Ratcliff: Während das eine Drama sich »durch antikartige Form und orientalische Diction« auszeichne, atme das andere den »Geist des englischen Radikalismus« und erprobe naturmystische Veranschaulichung. Das zwischen den beiden Tragödien platzierte Lyrische Intermezzo schließlich wird als ein »Lieder-Cyklus« angekündigt, den »derselbe rothe Faden durchzieht, der das Buch zu einem Ganzen verbindet« (HUZ 1, 94). So wird der dramatisch-lyrische Mischband als ein Ganzes präsentiert, das Nord-Süd-Spannungen in Form und Inhalt durch den thematischen ›roten Faden‹ unerfüllter Liebe verbinde. Diese Anzeige vergegenwärtigt, dass Heine der Zusammenstellung seiner Texte nicht erst in der Spätphase seines Schaffens, als er sich selbst in einem Brief an Julius Campe vom 12. August 1852 als »großer Meister in der Anordnung« rühmt (HSA 23, 221), einige Aufmerksamkeit widmet und dass er an der zeittypischen Faszination für Fragen der Textanordnung und der Zyklik partizipiert.89 Motivisch wie stilistisch sind die beiden Dramen kontrastiv aufeinander bezogen. So tauchen die schicksalhaften »Nebelbilder« (TLI, 63 und 66) und »Nebelarme« (TLI, 29 und 52), die William Ratcliff seine schottisch-düstere Atmosphäre verleihen, als Vision auch in der Schlussszene des mediterranen Almansor auf (TLI, 245); die metaphernlastige Sprache der Liebe wiederum, die die ›orien talische Diction‹ des Almansor charakterisiert, wird als Traumbild im William Weber: Der wahre Poesie-Orient, 2001. S. 77–86; Ritchie Robertson: Heines orientalische Masken. In: Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Hg. von Eijiro Iwasaki. Bd. 10. München 1991. S. 126–132. 89 Altenhofer: Ästhetik des Arrangements, 1982; Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart/Weimar 32004. S. 60 f. Vgl. auch Helen Meredith Mustard: The Lyric Cycle in German Literature. New York, NY 1946. S. 91–113. 88
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Ratcliff aufgerufen (TLI, 30 f.). Beide Dramen enden nach Verwicklungen, die ein und demselben Muster folgen, im gemeinsamen Verzweiflungstod des Liebespaars. Zwischen den beiden Tragödien platziert, bildet das Lyrische Intermezzo mit seinen 66 Variationen auf das Thema unerfüllter Liebe gleichsam die Achse, an der die Handlungs- und Figurenkonstellationen der nördlichen und der südlichen Tragödie aufeinander gespiegelt werden können. Mit dem Thema der unerfüllten Liebe einen Bogen vom schottischen Hochland nach al-Andalus schlagend, präsentiert Heine den dramatisch-lyrischen Mischband als traditionsbewusste Zusammenführung weit auseinanderliegender Stoffe in einem »Archiv deutschen Gesanges« (HSA 20, 148). Mit den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo zieht hier also ein junger Autor sämtliche Kultur-, Stil- und Gattungsregister, die zu seiner Zeit zur Verfügung stehen, und tritt mit dem Anspruch auf, sie in möglichst extremer Reichweite virtuos zu bespielen. So fungiert die ›maurische‹ Tragödie Almansor nicht nur als südliches Pendant zur ›schottischen‹ Tragödie William Ratcliff, sondern wird durch ihre Position am Ende des Bandes und durch ein vorangestelltes Motto als Verdichtung und Versöhnung sämtlicher aufgerufener Konflikte und als Zusammenführung von Klassik und Romantik sowie der drei Großgattungen Epik, Dramatik und Lyrik präsentiert (TLI, 131). Darüber hinaus verleiht speziell die Tragödie Almansor Heines ›Archiv deutschen Gesanges‹ eine ›fremdartige‹ Note und verhilft seinem ›Unmuth gegen das Deutsche‹ zu Ausdruck: Das Drama ist immer wieder – wie von Heine selbst antizipiert (HSA 20, 78, 80 und 115) – als polemische Allegorie auf die jüdische Emanzipation in Deutschland gelesen worden.90 Das Fichtenbaum-Gedicht nun, als Nummer XXXI des Lyrischen Intermezzos im ungefähren Mittelbereich des Bandes platziert, erscheint wie ein lyrisches Konzentrat der programmatischen nord-südlichen bzw. west-östlichen Kon trastanlage der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo. Und wie der morgenländische Almansor eine jüdische allegorische Bedeutungsebene durchscheinen lässt, so wird – wie zu zeigen ist – auch durch bestimmte Textsignale nahegelegt, das Morgenland des Fichtenbaum-Gedichts als jüdisches zu lesen. Heine markiert, wie nun aus einer Analyse des Gedichts mit Blick auf seinen Zykluskontext entwickelt werden soll, den ›fremdartigen Zuschnitt‹ des Bandes und 90
Willibald Alexis sieht Heine, der sich seines Wissens »nicht zum christlichen Glauben« bekenne, 1825 in einer anonymen Rezension mit »polemischer Satyre gegen das Christenthum« auftreten: »Boßhafte Leute könnten die Hälfte aller Verhältnisse auf unsere Zeiten anwenden; man könnte in den getauften Mauren andere Getaufte, und in dem glänzenden Gastmahl, das irgend eines Banquiers unserer Zeiten erblicken, wo mit ängstlicher Sorgfalt, neben dem aufgetragenen Schweinebraten, alles vermieden wird, was an das Ehemals erinnern könnte« (HUZ 1, 200). In einem Brief vom 19. Dezember 1825 an Moses Moser berichtet Heine, er habe die Rezension »mit innerem Mißbehagen« gelesen: »Daß man den Dichter herunterreißt kann mich wenig rühren; daß man aber auf meine Privatverhältnisse so derbe anspielt oder, besser gesagt anprügelt, das ist mir sehr verdrießlich« (HSA 20, 229, vgl. auch 235).
5.2 Privationen
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seinen programmatischen Anspruch einer virtuosen Aneignung literarischer Traditionen subtil als Ergebnis seines Selbstverständigungsprozesses als deutscher jüdischer Autor. Sowohl thematisch als auch formal ist der Gedichtzyklus Lyrisches Intermezzo – wie Heine selbst brieflich reflektiert (HSA 20, 91 f.) – äußerst reduziert; die 66 durchnummerierten und zum Großteil zweistrophigen Gedichte bilden teils Serien, teils kontrastieren sie miteinander – durchweg aber entstehen aus ihrer Ordnung fein nuancierte Korrespondenzen um das Thema unerfüllter Liebe.91 Das Gedicht Nr. I des Lyrischen Intermezzos gibt mit einer Engführung von Dichtung und Liebesweh den Ton der folgenden Gedichte vor: Aus meinen Thränen sprießen Viel blühende Blumen hervor, Und meine Seufzer werden Ein Nachtigallenchor. Und wenn du mich lieb hast, Kindchen, Schenk’ ich dir die Blumen all’, Und vor deinem Fenster soll klingen Das Lied der Nachtigall. (TLI, 71)
Volksliedanleihen und Signalwörter romantischer Lyrik wie »Thränen«, »Seufzer«, »Blumen« und »Nachtigall« sowie »klingen« eröffnen hier einen Erwartungshorizont, der in den folgenden Gedichten immer wieder durch abrupte Wechsel zwischen leichter Tändelei und tränenreicher Klage, zarter Romantik und boshafter Ironie, Feinheit und Derbheit, Volkslied- und Konversationston kalkuliert gebrochen wird.92 Wie sich an der frühen Rezeption nachweisen lässt, weckt dieses erste Gedicht indes nicht nur Erwartungen romantischer Liebeslyrik, sondern hat in den Ohren zeitgenössischer Leser einen orientalischen Klang. So erklärt Willibald Alexis 1825 in seiner Rezension der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo, nach einem solchen Eröffnungsgedicht stehe zu erwarten, dass die Gedichte des Zyklus »voll orientalischen Bilderschwulstes seyn müßten«, wie es in vielen der »gewöhnlichen schmachtenden und tändelnden Liebesgedichte[ ]« dieser Zeit der Fall sei (HUZ 1, 187 f.); und Adolph Müllner findet im cottaschen Morgenblatt, dass die Liebe im Lyrischen Intermezzo »ziemlich orientalisch« singe (HUZ 1, 127). 91 Keineswegs ist der Zyklus als ›Roman‹ der Liebe Heines zu seiner Cousine Amalie aufzufassen (so z. B. noch Wadepuhl: Heinrich Heine, 1974. S. 67). Vgl. für eine einschlägige Korrektur dieser Auffassung William Rose: The Early Love Poetry of Heinrich Heine. An Inquiry into Poetic Inspira tion. Oxford 1962. 92 Günter Oesterle: Der kühne Wechsel von Volksliedton und Konversationston in Heines Buch der Lieder. In: Heinrich Heine. Ein Wegbereiter der Moderne. Hg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2009. S. 67–78.
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5. Fichtenbaum und Palme
Die Gedichte rufen offenbar den Erwartungshorizont der von Sengle so genannten »Biedermeier-Anakreontik« auf, die in den 1810er und 1820er Jahren ihre verspielte, kühne Erotik gern in orientalischem Gewand präsentiert.93 Mit Goethes West-östlichem Divan (1819) und Friedrich Rückerts Östlichen Rosen (1822), die in einigen Rezensionen der heineschen Gedichte explizit als Vergleichsfolie herangezogen werden (HUZ 1, 25 f., 30 f. und 191), erreicht diese in Zeitschriften und Almanachen weit verbreitete Spielart orientalistischer Dichtung in den Jahren direkt vor Erscheinen der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo einen Höhepunkt. Ihre orientalische Signatur erhalten diese ›schmachtenden und tändelnden Liebesgedichte‹ nicht zuletzt durch ihre Blumigkeit im eigentlichen wie im übertragenen Sinn.94 Ähnlich setzt Heine in seinem Drama Almansor, das auf das Lyrische Intermezzo folgt, eine ›blumige‹ Bildersprache mit floralen und selamographischen Kontrast- bzw. Umkehrfiguren ein (TLI, 193 und 203),95 um die angestrebte ›orientalische Diction‹ zu erzielen (vgl. HSA 20, 80). Einige Gedichte des Lyrischen Intermezzos bedienen tatsächlich den orien talistischen Erwartungshorizont der Zeit mit ›blumiger‹ Bildlichkeit. So wird in Nr. VIII die Geliebte auf »Flügeln des Gesanges« zu den »Fluren des Ganges« getragen, wo in einem rotblühenden Garten Veilchen kichern und kosen und Rosen einander Märchen erzählen. Der poetische Flugtopos verbindet in diesem Gedicht das europäische Hier mit dem indischen Dort; Deiktika und bestimmte Artikel beschwören eine üppige, wasserreiche orientalische Landschaft herauf, die mit einer anthropomorphisierten Flora aus Lotosblumen, Veilchen und Rosen bestückt ist. Die synästhetische Morgenlandvision einer Rast der Liebenden unter »dem Palmenbaum« hat hier die Gegenweltfunktion einer üppig ausstaffierten orientalischen Idylle (TLI, 75 f.).96 In einem solchen Umfeld nimmt sich das Fichtenbaum-Gedicht, das auf den ersten Blick wie eine verdichtete Spiegelung der Gesamtanlage der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo erscheint, merkwürdig aus. Mit seiner Evoka 93 Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2 (1972). S. 514–516. Noch Friedrich von Bodenstedts erfolgreiche Pseudo-Übersetzung Lieder des Mirza-Schaffy (1851) generiert sich – bis in seine mediale Vermarktung hinein – aus einer orientalistischen Biedermeier-Variante anakreontischer Topoi und Formen. Vgl. Sebastian Donat: Übersetzung als Brücke zwischen poeta und philologus. Das Phänomen Friedrich Bodenstedt. In: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hg. von Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig. Bern u. a. 2010. S. 161–175, hier: S. 172 f. 94 Annemarie Schimmel: »Meiner Wünsche Blumengarten«. Friedrich Rückerts Anverwandlungen orientalischer Gartenpoesie. Würzburg 2011. 95 Mit der Blumensprache wird Heine auf verschiedenen medialen Wegen konfrontiert. Vgl. beispielsweise die selamographische Szene in der Oper von Koreff: Aucassin und Nicolette, 1820/21. S. 283–288. 96 Wolfgang Preisendanz: Glückslandschaften als Gegenwelt. Modalitäten des Idyllischen bei Heine. In: LGW-Interpretationen 51: Zu Heinrich Heine. Hg. von Luciano Zagari und Paolo Chiarini. Stuttgart 1981. S. 112–123, hier: S. 119; vgl. zu diesem Gedicht auch Ignace Feuerlicht: Heines »Auf Flügeln des Gesanges«. In: HJb 21 (1982). S. 30–49.
5.2 Privationen
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tion zweier Bäume in kahler Umgebung bildet das Gedicht nicht nur eine Ausnahme in diesem Zyklus und in Heines Werk insgesamt, es hebt sich auch markant von der Blumeneuphorie der Biedermeierzeit und insbesondere von deren orientalistischen Spielarten ab, die durch einen entschieden sensualistischen Einschlag gekennzeichnet sind. Die Kontrastkonstellation von Fichtenbaum und Palme aktualisiert nicht etwa die gängige west-östliche Differenz zwischen europäischem Spiritualismus und orientalischem Sensualismus, sondern stellt dem kargen Norden ein ebenso karges Morgenland gegenüber. Als lebensfeindliche, nur mit einer vereinzelten Palme bestückte Ödnis steht das Morgenland des Fichtenbaum-Gedichts in einem Verhältnis der Privation zu seiner Umgebung. Dieses privative Verhältnis bietet einen wichtigen Anhaltspunkt für die Frage nach der jüdischen Bedeutungsebene des Gedichts. In der damaligen Ordnung orientalischer Dinge nämlich ist Blumenlosigkeit ein Alleinstellungsmerkmal des jüdischen, monotheistischen Orients. Während der indisch-persische und der osmanische Orient in zeitgenössischen Darstellungen von Floralsemantik förmlich überquellen und letzterer der biedermeierlichen Geselligkeit das Spiel der Blumensprache beschert hat (Kap. 3.3.3), ist die Überlieferung sowohl des antiken Israel als auch der jüdischen Diaspora durch eine markante Abwesenheit von Blumen gekennzeichnet. Der Garten Eden ist blumenlos; Verpflanzungsmetaphorik und Baumsymbolik finden in der Bibel und in der jüdischen Überlieferung zwar durchaus Verwendung, Blumen aber sucht man – auch in jüdischen Zeremonien und Ritualen – nahezu vergebens.97 Entsprechend besitzt das Judentum auch im literarischen Diskurs der Biedermeierzeit eine karge, blumenlose Signatur.98 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das Fichtenbaum-Gedicht mit der eigenwilligen Zuordnung in Verbindung zu bringen, die Heine immer wieder für Spiritualismus und Sensualismus vorgenommen hat. Lebensfreude, Heiterkeit, Gesundheit, Lust und Konkretheit sieht Heine bei den Hellenen und den polytheistischen Orientalen gegeben; Juden und Christen hingegen weiß er eines Sinnes in Freudlosigkeit, Trübsinn, Krankheit, Keuschheit und Abstraktheit (DHA 5, 143; DHA 10, 125 f.; DHA 11, 18 f.; DHA 15, 45 f. und 112). Legt man diesen Deutungsrahmen an das Gedicht an, wie es sich in seinem Publikationskontext von 1823 darstellt, dann erscheint die symmetrische Kontrastkonstellation von Fichtenbaum und Palme als Allegorie auf die von Heine wiederholt thematisierte »Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Germanen«, insofern das Morgenland hier ähnlich präsentiert wird, wie Heine sich in einer Notiz aus den 1830er Jahren Judäa denkt: als »Mark Brande[n]burg des Orients« (DHA 15, 187). Jack Goody: The Culture of Flowers. Cambridge u. a. 1993. S. 45–49. Als Beispiel seien Karl Becks Gepanzerte Lieder (1838) genannt, wo das »nackte Judenthum« als »schroffer Fels am einsamen Gestade« allegorisiert wird, an dem die Gnade Gottes schnell vorüber »ins blütenvolle Leben« fließe, weil sie den Felsen scheue, wo »keine Blume keimt und keine Frucht« (Karl Beck: Nächte. Gepanzerte Lieder. Leipzig 1838. S. 70 f.). 97 98
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5. Fichtenbaum und Palme
Quer zum dichotomischen Verhältnis von europäischem Spiritualismus und orientalischem Sensualismus stehend, erinnert das Gedicht von Fichtenbaum und Palme mit seiner Traumverbindung zwischen Norden und Morgenland an Heines fixe Idee einer spiritualistischen ›Wahlverwandtschaft‹ von Christen und Juden. Dem ›fremdartigen Zuschnitt‹, den Heine seinem zweiten Buch Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo nach eigenem Bekunden aus berechtigtem »Unmuth gegen das Deutsche« verpasst hat (HSA 20, 148), ist mithin in subtilen Korrelationen und Spiegelungen eine jüdische Bedeutungsschicht eingetragen. Ist Almansor als Allegorie auf die jüdische Emanzipation lesbar, findet Heines ›Unmuth gegen das Deutsche‹ in Form eines jüdisch konnotierten Orientalismus Niederschlag, der sich durch seine Abweichung auszeichnet: Im Kontext blumenreicher ›orientalischer Diction‹ gewinnt das Morgenland des FichtenbaumGedichts sein jüdisches Profil durch Vegetationslosigkeit und signalisiert damit eine privative Distanz zu den konventionellen Mustern des Orientalismus, die Heine ansonsten in dem Band aufgreift. Indem es die Gesamtanlage des Bandes in verdichteter Form zu wiederholen scheint, diese letztlich aber unterläuft, erlangt das Gedicht von Fichtenbaum und Palme eine herausgehobene Position, deren poetologisches Reflexionspotential nun mit Blick auf seinen zweiten Veröffentlichungskontext – fünf Jahre später im Buch der Lieder – eruiert werden soll. 5.2.2 Performanz des Schweigens Das Gedicht im Buch der Lieder (1827) Während in den Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo die Zentral- und Ausnahmestellung des Fichtenbaum-Gedichts nicht sofort ins Auge fällt,99 ist das Fichtenbaum-Gedicht im Buch der Lieder als Nummer XXXIII genau in der Mitte des weiterhin 66 nummerierte Gedichte umfassenden Lyrischen Intermezzos platziert und typographisch wie zykluskompositorisch freigestellt (Abb. 29).100 Sein Verhältnis zum Gesamtzyklus wird in diesem Buchkontext neu ausgerich99 Thematisch-motivisch ist es in eine lockere Reihe von Gedichten eingebunden, die von der Ferne zwischen Liebenden handeln; ein Vierzeiler, der das Thema der Ferne mit einer kosmischen Apostrophe variiert, ist direkt auf derselben Buchseite platziert; mit der Nummer XXXI ist das Gedicht nur vage im numerisch mittleren Bereich des Zyklus untergebracht. Die mittige Nummer XXXIII fehlt in dieser Ausgabe – wohl aufgrund eines Druckfehlers – gänzlich, das auf den mit der Nummer XXXII versehenen Vierzeiler folgende Gedicht trägt ebenfalls die Nummer XXXII. 100 Der Vierzeiler, der in der Ausgabe von 1823 auf derselben Seite abgedruckt gewesen war, ist getilgt; das Fichtenbaum-Gedicht steht nun isoliert zwischen zwei mehrstrophigen Gedichten, die keinen direkten thematischen Bezug herzustellen erlauben, allein auf einer Seite. Nur in der ersten Auflage allerdings steht es der Nummerierung nach genau in der Zyklusmitte: Bei der Überarbeitung des Buchs der Lieder für die zweite Auflage (1837) scheidet Heine das besonders frivole Gedicht Nr. XXXVII aus (DHA 1.1, 462; DHA 1.2, 1130 f.), sodass auf den nicht nummerierten Prolog nur noch 65 nummerierte Gedichte folgen.
5.2 Privationen
487
tet.101 Die okzidentalisch-orientalische Achse, die mit dem ›nördlichen‹ Drama William Ratcliff und dem ›orientalischen‹ Drama Almansor den Band der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzos bestimmt, fällt weg; das Fichtenbaum-Gedicht steht nun in einem werkpolitisch strukturierten Rahmen: Das Buch der Lieder versammelt mit chronologisch nach ihrer Entstehungszeit geordneten Gedichtzyklen das lyrische Frühwerk Heines (vgl. HSA 20, 272 und 275 f.).102 Diese Anlage unterstreicht Heines Verleger Julius Campe buchgestalterisch mittels einer Ausstattung, die Heine unter die klassischen Schriftsteller der deutschen Literatur einreiht.103 Als Sammelausgabe des lyrischen Frühwerks macht Heines Buch der Lieder zwar zunächst buchhändlerisch kein Glück, doch ab Mitte der 1830er Jahre avanciert der anfängliche Ladenhüter zu einem der populärsten Gedichtbände des 19. Jahrhunderts und erlebt, mit nur wenigen Änderungen und Überarbeitungen,104 zahlreiche Auflagen.105 Ausgehend von der Titelblattgestal101 Vgl. zur Position im Zyklus auch Jeffrey L. Sammons: Heinrich Heine, The Elusive Poet. London/New Haven, CT 1969. S. 49 f.; Mustard: The Lyric Cycle in German Literature, 1946. S. 94. 102 Auf die Jungen Leiden, 1817–1821 folgen das Lyrische Intermezzo, 1822–1823 und Die Heimkehr, 1823–1824, sodann Aus der Harzreise, 1824 und Die Nordsee, 1825–1826. Durch Ergänzungen und Umstellungen hat Heine in der Fassung von 1827 den Zykluscharakter des Lyrischen Intermezzos stärker herausgearbeitet. Ihm ist nun ein Traumbild als Prolog vorgeschaltet; darauf folgt als Nr. I das neu hinzugefügte Gedicht Im wunderschönen Monat Mai (BdL, 112), das in Kongruenz zum knospenden Frühling den Auftakt einer Liebesgeschichte evoziert und damit den Reigen lebens-, jahres-, tageszeitlicher Kontrastierungen eröffnet, der den Zyklus bis zur poetologischen Selbsteinsargung am Ende durchzieht. Der Zyklus Lyrisches Intermezzo ist wiederum eng auf die ersten 88 Gedichte des folgenden Zyklus Die Heimkehr bezogen. Vgl. Altenhofer: Ästhetik des Arrangements, 1982; Jokl: Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe, 1991. Das Zyklusarrangement wird auch von den Rezensenten eigens hervorgehoben (HUZ 1, 338 und 285 f.). 103 Statt der zeitgenössischen Konjunktur verhältnismäßig günstiger Taschenbuchausgaben zu folgen, greift Campe für Heines Buch der Lieder auf die um 1800 etablierten Standards – großzügiges Format und zweifache Ausführung – der Erst- und Werkausgaben Klopstocks, Wielands, Goethes und Schillers zurück. Vgl. Campes Brief an Heine vom 15. Dezember 1826 (HSA 24, 27); zu Campes Sorgfalt in Ausstattungsfragen Edda Ziegler: Julius Campe. Der Verleger Heinrich Heines. Hamburg u. a. 1976. S. 273–281; zum Kontext Matt Erlin: Necessary Luxuries. Books, Literature, and the Culture of Consumption in Germany, 1770–1815. Ithaca, NY 2014, bes. S. 53–77. In einem Brief an Immermann vom 18. August 1827 verkündet Campe, dass Heines Buch der Lieder »eins der elegantesten Bücher ist, die in diesem Jahre erschienen sind« (zitiert nach Peter Hasubek: Dreiecksverhältnis. Campe – Immermann – Heine. Mit 28 unveröffentlichten Briefen Julius Campes an Immermann. In: HJb 30 (1991). S. 11–68, hier: S. 39). In auffallend vielen Rezensionen wird die Buchgestaltung lobend hervorgehoben (HUZ 1, 287, 289 und 321), und auch Heine, der an der Drucklegung aufgrund seiner Englandreise kaum beteiligt gewesen ist, zeigt sich höchst zufrieden (HSA 20, 303). 104 Während Heine sonst für verschiedene Ausgaben Texte neu kombiniert und zusammenstellt, entwickelt er in Bezug auf das Buch der Lieder ein editorisches Werkbewusstsein (vgl. Zinke: Autortext und Fremdeingriff, 1974. S. 177), das auf die Wahrung von dessen einheitlichem Charakter setzt (HSA 21, 199 und 303). 105 Manfred Windfuhr: Heinrich Heines deutsches Publikum (1820–1860). Vom Lieblingsautor des Adels zum Anreger der bürgerlichen Intelligenz. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Hg. von Alberto Martino. Tübingen 1977. S. 260–283; Erhard Weidl: Die zeitgenössische Rezeption des »Buchs der Lieder«. In: HJb 14 (1975). S. 3–23.
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5. Fichtenbaum und Palme
Abb. 28: Titelblatt des Buchs der Lieder (1827).
Abb. 29: Seite aus dem Buch der Lieder (1827).
tung (Abb. 28) dieses Gedichtbands soll nun die Frage geklärt werden, welchen Deutungsrahmen er dem Gedicht von Fichtenbaum und Palme verleiht. Bis ins frühe 19. Jahrhundert ist der Titel Buch vor allem für religiöse Literatur (Erbauungs-, Andachts-, Gebet- und Gesangbücher), für Ratgeberliteratur (›Hülfsbücher‹) und für pädagogische Lese- und Lehrbücher üblich. Als sich im 19. Jahrhundert der Buchmarkt stetig erweitert, wird die Bezeichnung Buch zunehmend auch als Titel für Gedichtsammlungen und Lyrikanthologien ohne religiöse Gebrauchsfunktion attraktiv.106 Gegenüber den überkommenen umständlichen Gesangbuchtiteln – etwa Gesang-Buch erbaulicher und geistreicher Kirchen-Lieder, Geistreiches Gesang-Buch, den Kern alter und neuer Lieder in sich haltend oder Geistreiches Gesang-Buch bestehend aus den schönsten und besten 106 So firmieren ab den 1830er Jahren einige deutsche Lyrik-Anthologien als Buch oder Büchlein. Vgl. etwa Liederbuch für deutsche Künstler (1833), Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte (1835), Das Büchlein junger Lieder (1837), Das Buch der Liebe und der Freundschaft (1844), Das Buch für fromme Kinder (1844), Das Buch der Lieder oder Lyriker der Gegenwart (1846), Das Buch der guten Laune (1847), Buch religiöser Lyrik (1852), Buch deutscher Lyrik (1853), Das Buch der Balladen (1865). Vgl. zur analogen Entwicklung im englischsprachigen Raum Anne Ferry: Tradition and the Individual Poem. An Inquiry into Anthologies. Stanford, CA 2001. S. 19.
5.2 Privationen
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Liedern – greift man nun mit schlichten Genitivverbindungen auf das Titelformat der Bibel zurück, die nicht nur im superlativischen Genitiv als ›Buch der Bücher‹ bekannt ist, sondern auch in ›Bücher‹ – etwa die fünf Bücher Mose, das Buch der Könige, das Buch Hiob und das Buch der Psalmen – eingeteilt ist.107 Mit dem Untertitel Das Buch Le Grand seiner 1826 im zweiten Teil der Reisebilder erschienenen Ideen und seinem Buch der Lieder ist Heine ein Vorreiter dieses Trends zur modernen Adaption des biblischen Titelformats.108 Als Heine sich 1827 für den Titel Buch der Lieder entscheidet, kann er mit ihm indes noch zwei weitere literarische Traditionsbestände und Assoziationsbereiche aufrufen, die sich in den Jahrzehnten zuvor mit der Betitelung als Buch verbunden haben: Volksliteratur und Orientliteratur. In der Herder-Werkausgabe, die sich Heine 1821 in Göttingen ausleiht, sind die Stimmen der Völker in Liedern und einige Teile der Blumenlese aus morgenländischen Dichtern in ›Bücher‹ eingeteilt.109 Diese Bezeichnungspraxis setzt sich im frühen 19. Jahrhundert im Umfeld der Sammlung und Nachdichtung von Volksdichtung fort. Die schon mit dem Anklang an die Bibel sowie an Gesang- und Hilfsbücher in den Titelbestandteilen Buch und Lied angelegte Vorstellung von Volksnähe festigt sich in der Romantik durch die frühgermanistische Beschäftigung mit sogenannten ›Volksbüchern‹ und ›Volksliedern‹.110 So bietet die einflussreiche Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) von Achim von Arnim und Clemens Brentano dem Untertitel zufolge Alte deutsche Lieder;111 Joseph Görres stellt 1807 Die teutschen Volksbücher vor,112 und Johann Gustav Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen, die auch für eine Sammlung Deutscher Volkslieder (1807) verant-
107 EJ 8 (2007). S. 551–553; TRE 7 (1981). S. 272–275. Analog zur verbreiteten hebräischen Bezeichnung ( )ספר תהיליםund zum lateinischen Titel Liber Psalmorum der Vulgata wird auch im Deutschen vom Buch der Psalmen gesprochen. Vgl. EJ 16 (2007). S. 663. In der Lutherübersetzung des Neuen Testaments wird zweimal auf das »Psalmbuch« verwiesen (Lukas 20,42; Apostelgeschichte 1,20). 108 Der Titel Das Buch Le Grand erinnert den Rezensenten Joseph Lehmann an das ›Buch Hiob‹ und das ›Buch Esther‹ (HUZ 1, 255). Deutlich wird dieser Resonanzraum in Leopold Komperts Novelle Die Heineanerin (1842), in der die Protagonistin Heines Buch der Lieder zum Objekt einer emphatisch-empfindsamen Wiederholungslektüre macht und ihm damit eine Bedeutung zuschreibt, die sonst nur der Bibel zukommt: »›Das Buch der Lieder‹ war ihr das Buch aller Bücher, ihr Alles geworden« (HUZ 7, 97). 109 Es handelt sich um die von Johann von Müller herausgegebenen Bände 8 und 9 der Abteilung Zur schönen Literatur und Kunst der Ausgabe von Herders Sämmtlichen Werken, die 1807 in Tübingen erschienen waren. Vgl. Walter Kanowsky: Heine als Benutzer der Bibliotheken in Bonn und Göttingen. In: HJb 12 (1973). S. 129–153, hier: S. 133. 110 Hans Joachim Kreutzer: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977, bes. S. 16–122. 111 Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Hg. von Achim von Arnim und Clemens Brentano. 3 Bde. Heidelberg 1806–1808. 112 Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetterund Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat. Heidelberg 1807.
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5. Fichtenbaum und Palme
wortlich zeichnen, veröffentlichen ihre Bearbeitung einer frühneuzeitlichen Sammlung von Ritterromanen 1809 unter dem schlichten Titel Buch der Liebe.113 Derselbe Titel – Buch der Liebe – taucht gut zehn Jahre später auch in einem ganz anderen, orientalistischen Kontext als deutsche Entsprechung des persischen Usch Nameh auf: Goethe übernimmt in seinen West-östlichen Divan (1819), der für Heines Buch der Lieder prägend ist,114 das persische Titelformat zweier Langgedichte aus der Hafis-Übersetzung von Joseph von Hammer-Purgstall (Moganniname – das Buch des Sängers und Sakiname – das Buch der Schenken)115 und verwendet es für die Überschriften der einzelnen Zyklen seines Divans, beginnend mit Moganni Nameh. Buch des Sängers über Hikmet Nameh. Buch der Sprüche bis hin zu Chuld Nameh. Buch des Paradieses. Mit dieser orientalistischen Variante der Präsentation von Kapiteln als ›Bücher‹ findet Goethe nicht zuletzt in Heines direktem Umfeld eifrige Nachahmer.116 Vor diesem literaturgeschichtlichen Hintergrund erweist sich der Titel der heineschen Gedichtsammlung als ebenso anspielungs- wie voraussetzungsreich. In eleganter Fraktur, gesperrt gedruckt, ruft er die Bibel, besonders das Lied der Lieder und das Buch der Psalmen, das altdeutsche Volksbuch und Volkslied sowie die orientalische Lyrik des Hafis und die west-östlichen Dichtungen des späten Goethe auf. Wie die Verfasserangabe »H. Heine« auf dem Titelblatt den Vornamen des Dichters im Unklaren belässt und sich der Identifikation als jüdischer Harry oder christlicher Heinrich entzieht,117 so gewinnt der Titel Buch der Lieder 113 Buch der Liebe. Hg. von Johann Gustav Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen. Berlin 1809. Vgl. zum Kontext Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen, 1780–1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin/New York, NY 1988. S. 288–303. 114 Heines Beschäftigung mit Goethes Divan wird besonders an dem 1825 entstandenen, zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Gedicht Zum Ostwind sprach ich deutlich, das starke Anleihen bei zwei Suleika-Gedichten (Ach, um deine feuchten Schwingen sowie Was bedeutet die Bewegung?) nimmt (DHA 1.1, 527). Vgl. Barker Fairley: Heine, Goethe and the Divan. In: German Life and Letters 9 (1956). S. 166–170; George F. Peters: »So glücklich, so hingehaucht, so ätherisch«. Heines Beurteilung des »West-östlichen Divan«. In: HJb 22 (1983). S. 30–46; Renate Stauf: Ein verschoben geschliffener Spiegel. Goethes West-östlicher Divan und Heines Buch der Lieder. In: Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800. Hg. von Carsten Rohde und Thorsten Valk. Berlin/Boston, MA 2013. S. 321–337; Karlheinz Fingerhut: Assimilation und Transformation. Goethe-Reminiszenzen in Heines Werk. In: »Misère allemande« / »Deutsche Misere«. Hg. von Lucien Calvié und François Genton. Grenoble 1998. S. 167–190, hier: S. 169–175. 115 Mohammed Schemsed-din Hafis: Der Diwan. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph von Hammer. Bd. 2. Stuttgart/Tübingen 1813. S. 484–504. 116 So schickt Heines Bonner Studienfreund Johann Baptist Rousseau das Manuskript seines Buchs der Sprüche, einer Nachahmung des gleichnamigen Zyklus aus Goethes Divan, 1822 an Heine und widmet ihm – dem »wackern Freunde« – die Druckfassung (Johann Baptist Rousseau: Buch der Sprüche. Für Freunde der Hafisklänge. Hamm/Münster 1824). Vgl. zum Verhältnis der beiden ungleich begabten und erfolgreichen Literaten DHA 10, 558–561; Gerd Heinemann: Die Beziehungen des jungen Heine zu Zeitschriften im Rheinland und in Westfalen. Untersuchungen zum literarischen Leben der Restaurationszeit. Münster 1974. S. 7–75; ferner Heines briefliche Erwähnungen Rousseaus (HSA 20, 62, 76, 161, 169 und 186). 117 Bis zu seiner Taufe im Jahr 1825, mit der er den Vornamen Heinrich annahm, trug Heine den
5.2 Privationen
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seinen Reiz daraus, dass er sich nicht eindeutig einer bestimmten Traditionslinie zuordnen lässt, sondern, indem er ein ganzes Spektrum von Referenzen aufruft, Eigenständigkeit markiert. In seiner schlichten Originalität, die einige Nachahmer findet,118 positioniert der Titel den Gedichtband in einem komplexen Umordnungsprozess literarischer Referenzsysteme am »Ende der Kunstperiode« (DHA 12.1, 47). Während Heines Frühwerk vornehmlich als Auseinandersetzung mit der Romantik gelesen wird,119 vergegenwärtigt die literaturgeschicht liche Einordnung seines Buchs der Lieder, dass Heine eine Vielzahl verfügbarer Dichtungstraditionen und Schreibweisen – darunter das Volkslied, die Lyrik des 18. Jahrhunderts und orientalische Poesie – aufgreift, nachahmt und über bietet.120 Die Titelvignette, die zwischen dem Schriftzug »Buch der Lieder« und der Verfasserangabe »H. Heine« auf dem Titelblatt prangt, unterstreicht diesen Anspruch auf traditionsbewusste Eigenständigkeit. Der Holzschnitt zeigt eine mit Akanthuszweigen verzierte Lyra, hinter der links Eichen- und rechts Lorbeerzweige hervorragen. In Korrespondenz mit der titelgebenden Gattungsbezeichnung ›Lieder‹ betont die Lyra das Moment der Sangbarkeit der in diesem ›Buch‹ gedruckten Gedichte und stellt den Verfasser in eine Traditionslinie mit antiken Sängern und neuzeitlichen Odendichtern. Eichen- und Lorbeerlaub symbolisieren den der Lyra entlockten Gesang und stellen mit ihrer nationalkulturellen Markierung deutsches und griechisch-römisches Altertum unter einem Vornamen Harry, den er auch weiterhin im Familienkreis benutzte. In Frankreich firmierte er unter dem Namen Henri Heine; seinen Vornamen Heinrich schrieb er nur in förmlicher Korrespondenz aus, seine Werke tragen durchweg die Verfasserangabe »H. Heine« (vgl. mit Faksimiles von Unterschriftenvarianten aus verschiedenen Lebensphasen Erhard Weidl: Heinrich Heines Arbeitsweise. Kreativität der Veränderung. Hamburg 1974. S. 19–21). Vgl. auch Heines Schilderung in den Memoiren (DHA 15, 84–86). 118 Karl Herloßsohn (1848) und Friedrich Konrad Müller von der Werra (1866) kopieren Heines Titel Buch der Lieder direkt für ihre eigenen Gedichtsammlungen. 119 Michael Perraudin: Illusions Lost and Found. The Experiential World of Heine’s Buch der Lieder. In: A Companion to the Works of Heinrich Heine. Hg. von Roger F. Cook. New York, NY 2002. S. 37–53, hier: S. 4 4; Hiebel: Heinrich Heines postromantische Romantik, 2008, bes. S. 31; Christian Liedtke: »Mondglanz« und »Rittermantel«. Heinrich Heines romantische Masken und Kulissen. In: Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003. S. 237–256; Gert Sautermeister: Zeit- und Selbstkritik im Medium der ästhetischen Form. Analysen zu Heines Buch der Lieder. In: Cahier d’études germaniques 34 (1998). S. 203–219; Heinrich Heine und die Romantik. Heinrich Heine and Romanticism. Hg. von Markus Winkler. Tübingen 1997. 120 Günter Oesterle: Imitation und Überbietung. Drei Versuche zum Verhältnis von Virtuosentum und Kunst. In: Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne. Hg. von Hans Georg von Arburg. Göttingen 2006. S. 47–59; Jokl: Von der Unmöglichkeit romantischer Liebe, 1991. S. 121 f.; Manfred Windfuhr: Heine und der Petrarkismus. Zur Konzeption seiner Liebeslyrik [1966]. In: Heinrich Heine. Hg. von Helmut Koopmann. Darmstadt 1975. S. 207–231; Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3 (1980). S. 468–591; Stuart Atkins: The Evaluation of Heine’s Neue Gedichte. In: Wächter und Hüter. Fs. Hermann J. Weigand. Hg. von Curt von Faber du Faur u. a. New Haven, CT 1957. S. 99–107.
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5. Fichtenbaum und Palme
Titel nebeneinander, der sich als moderne Adaption biblisch-orientalisch-altdeutscher Simplizität präsentiert. Am Titelblatt des Buchs der Lieder lässt sich mithin erkennen, wie die Altertumskonkurrenzen des 18. Jahrhunderts und die damit verbundenen Auffassungen von Poesie (Kap. 2.1) ins literarische Leben der Biedermeierzeit transferiert werden. Die Bezugssysteme des griechisch-römischen, jüdisch-orientalischen und des nordisch-deutschen Altertums sind zwar weiter präsent,121 ihre Erscheinungsformen und Funktionen aber wandeln sich im Zeichen einer neuen Auffassung und Praxis von Lyrik. So hat die Lyra zwischen 1790 und 1830 unter Bezeichnungen wie Lyragitarre oder Apollo-Leier in Mischformen von Gitarre und Harfe als Musikinstrument Konjunktur;122 als Schmuckelement, etwa als Seitenwange von Tischchen, verziert sie die Möbel der Salons, in denen an Hausabenden gemeinsam gelesen und gesungen wird.123 Mit seiner Ausstellung von Liedhaftigkeit, seinen subtilen Traditionsbezügen und seiner ironischen Verarbeitung der zeitgenössischen Konversationskultur – am bekanntesten in dem Gedicht Sie saßen und tranken am Theetisch – lässt sich das Buch der Lieder als eine Reflexion der Möglichkeiten lyrischen Sprechens in dieser Zeit lesen. In diesem Kontext nun gewinnen die privativen Markierungen des Fichtenbaum-Gedichts – Einsamkeit, Kahlheit/Leere, Schweigen, Trauer – an Schärfe, insofern sie als Negation der bürgerlich-geselligen Lyrikproduktion und Lyrikrezeption erscheinen. Der durch das doppelte Auftreten des Adjektivs ›einsam‹ besonders markierte Entzug von Geselligkeit müsste nicht per se als Affront verstanden werden; schließlich hat Einsamkeit gerade in der Romantik und gerade in der Lyrik der Biedermeierzeit als literarisches Thema Konjunktur.124 Mit seiner Konstellation zweier einzelner anthropomorphisierter Bäume steht das Gedicht indes eigentümlich quer in dem breiten literarischen Resonanzraum, den das schillernde Adjektiv ›einsam‹ in den 1820er Jahren aufruft. Es nimmt sich wie ein Kahlschlag der literarischen Wälder aus, in denen zu dieser Zeit – häufig in Verbindung mit nationaler Semantik125 – die sogenannte ›Waldeinsamkeit‹ als Korrelat der romantischen Dichterseele ausgestaltet wird.126 In Heines Gedicht Perraudin: Poetry in Context, 1989. S. 119–142. Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900. Leipzig 1969. S. 144–147. 123 Georg Himmelheber: Kunst des Biedermeier. In: Kunst des Biedermeier, 1815–1833. Architektur, Malerei, Plastik, Kunsthandwerk, Musik, Dichtung und Mode. Ausstellungskatalog Bayerisches Nationalmuseum. Hg. von Georg Himmelheber. München 1988. S. 20–52, hier: S. 43. 124 Eine Belegsammlung für Heines Literarisierungen von Einsamkeit bietet Sikander Singh: Heines Einsamkeiten. In: »…und die Welt ist so lieblich verworren«. Heinrich Heines dialektisches Denken. Hg. von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld 2004. S. 191–214. 125 Klaus Lindemann: »Deutsch Panier, das rauschend wallt«. Der Wald in Eichendorffs patriotischen Gedichten im Kontext der Lyrik der Befreiungskriege. In: Eichendorff und die Spätromantik. Hg. von Hans-Georg Pott. Paderborn 1985. S. 91–131. 126 Stefan Nienhaus: »Waldeinsamkeit«. Zur Vieldeutigkeit von Tiecks erfolgreichem Neologismus. In: Raumkonfigurationen in der Romantik. Hg. von Walter Pape. Tübingen 2009. S. 153–160; 121
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5.2 Privationen
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wird keine Seelenlandschaft entfaltet; Einsamkeit ist hier keine Stimmung, denn das menschliche Subjekt einer entsprechenden Landschaftserfahrung fehlt.127 Hier erlebt kein lyrisches Ich die schauervolle oder idyllische Einsamkeit eines Waldes; hier stehen zwei Bäume vereinzelt in öder, vegetationsloser Umgebung. Diese gleichsam nackte Einsamkeit erscheint wie ein Gegenentwurf zu den zu dieser Zeit populären trivialisierten Formen gefühliger Einsamkeit.128 Während sich zahlreiche Gedichte des Buchs der Lieder als Lieder präsentieren oder Lieder enthalten und Liedhaftigkeit evozieren oder reflektieren,129 ist das lakonische Gedicht Nummer XXXIII ein Lied über die Abwesenheit von Liedern und Liedhaftigkeit. Was in der ersten Strophe nur implizit über die Schläfrigkeit des Fichtenbaums erschließbar ist, wird mittels des Partizips »schweigend« in der zweiten Strophe explizit: Es ist zwar das zweitmeistvertonte Gedicht Heines überhaupt, in ihm selbst aber herrscht Schweigen. Hier gibt es – im Unterschied zu den anderen Gedichten des Zyklus – weder Monolog noch Dialog, weder Gesang noch Flüstern, ja nicht einmal ein Rascheln oder Rauschen. Inmitten der variationsreichen Liebesklagen und Liedreflexionen des Buchs der Lieder ist von einem Fichtenbaum die Rede, der einsam auf einer Anhöhe stehend von einer Palme träumt, die »einsam und schweigend trauert« (V. 7). Diese privative Semantik konterkariert das Programm des Buchs der Lieder, dessen Sprecher-Ich nach jedem Einsargungsversuch seiner »alten, bösen Lieder« (BdL, 170) doch wieder neu in Liebesklagen anhebt, Zwiegespräche mit Geliebten eröffnet und diese in unzähligen Variationen besingt. Strukturell und rhythmisch als Volksliedstrophe zwar nahtlos in seine Umgebung eingefügt, vollzieht das Fichtenbaum-Gedicht auf semantischer und pragmatischer Ebene innerhalb des Lyrischen Intermezzos (und des Buchs der Lieder insgesamt) performativ eine privative Bewegung, insofern es in der Zyklusmitte gleichsam eine Pause des Schweigens einlegt. Das wäre im Prinzip nicht ungewöhnlich. Die Poeten der Zeit strukturieren ihre Gedichtzyklen häufig durch Momente des Verstummens und durch Pausen. So setzt Wilhelm Müller dieses Mittel gezielt in seinen Sieben und siebzig Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten (1821) ein, denen das Lyrische Intermezzo nach Heines eigenem Bekunden »seinen geheimsSonja Klimek: Waldeinsamkeit – Literarische Landschaft als transitorischer Ort bei Tieck, Stifter, Storm und Raabe. In: Jb. der Raabe-Gesellschaft 2012. S. 99–126; Michael Paul Hammes: »Waldeinsamkeit«. Eine Motiv- und Stiluntersuchung zur Deutschen Frühromantik, insbesondere zu Ludwig Tieck. Dissertation Frankfurt am Main 1933. 127 Vgl. zu dieser Kategorie David Wellbery: Stimmung: In: ÄGB 5 (2003). S. 703–733. 128 In seiner späten Novelle Waldeinsamkeit (1841) reflektiert auch Tieck die Trivialisierungserscheinungen, die den Erfolg seiner Wortschöpfung begleiten (Ludwig Tieck: Schriften. Bd. 12. Hg. von Uwe Schweikert. Frankfurt am Main 1986. S. 857–935). Einen Abgesang auf den Topos der Waldeinsamkeit bietet Heine in seinem gleichnamigen Gedicht, das 1851 im Romanzero erscheint (DHA 3.1, 79–83). 129 Barker Fairley: Heinrich Heine. An Interpretation. Oxford 1954. S. 1–23.
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5. Fichtenbaum und Palme
ten Tonfall« verdankt (HSA 20, 250).130 In dem Zyklus Die schöne Müllerin folgt auf ein exklamatorisch-euphorisches Gedicht mit dem Titel Mein! ein Gedicht mit dem Titel Pause, in dem der Sprecher auf dem Höhepunkt der Gefühls intensität erklärt, er könne nicht mehr singen, da sein Herz zu voll sei. Diese Erklärung besiegelt er mit einem performativen Akt (»Meine Laute hab’ ich gehängt an die Wand«). Die zweite Strophe der Pause lässt dann aber wieder »ein Lüftchen« über die Saiten wehen und leitet in den zweiten Teil des Zyklus über: »Ist es der Nachklang meiner Liebespein? / Soll es das Vorspiel neuer Lieder sein?«131 Diese folgen denn auch tatsächlich, bis der Dichter im Epilog als Sprecher auftritt und den Zyklus beschließt.132 Heine verwendet in seinem Lyrischen Intermezzo in lockerer Anordnung ganz ähnliche Elemente, um den Zyklus mit Momenten des Verstummens, des Neuansatzes, der Beschließung und erneuten Öffnung zu strukturieren. Das Schweigen der Palme in Heines Fichtenbaum-Gedicht allerdings ist von anderem Format. Es geht nicht in einer Pausenfunktion für die Zykluskomposition auf; es erscheint nicht als ein momentanes Verstummen des gefühlsbeseelten Sängers, sondern als ein totales, zeitenthobenes Schweigen, das als Partizip an das Trauern der Palme gebunden ist. Ursache und Bezugsobjekt dieser Trauer wiederum bleiben im Gedicht offen und lassen sich auch nicht innerhalb des Zykluskontexts klären. Die allegorische Rätselstruktur des Textes weist über diesen Kontext hinaus. Und so gilt es zu der Frage zurückzukehren, wofür der schläfrig träumende Fichtenbaum und die schweigend trauernde Palme stehen, die einsam mitten in einem Zyklus voller blumen- und wortreicher Liebeslieder platziert sind. Eine mögliche Antwort soll nun über ihren intertextuellen Verweis horizont erschlossen werden. In höchst reduzierter Stillstellung evozieren der Fichtenbaum und die Palme, so werde ich im Folgenden plausibilisieren, zwei wirkmächtige performative Modelle poetischer Verzichts- und Verweigerungserklärung: ein römisches und ein jüdisches. 5.2.3 Hängende Harfen Embleme poetischer Verweigerung Die auf einer Felsenwand trauernde und schweigende Palme des heineschen Fichtenbaum-Gedichts hat Assoziationen des 137. Psalms hervorgerufen,133 der für Heine in Berlin zu einem zentralen Referenztext jüdischen Gedächtnisses avanciert (Kap. 4.2.2). Warum sich diese Assoziation einstellt, ist freilich bislang Nigel Reeves: The Art of Simplicity. Heinrich Heine and Wilhelm Müller. In: Oxford German Studies 5 (1970). S. 48–66. 131 Wilhelm Müller: Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Dessau 1821. S. 29. 132 Vgl. Mustard: The Lyric Cycle in German Literature, 1946. S. 80–91. 133 Vgl. z. B. Veit: Fichtenbaum und Palme, 1976. S. 21. 130
5.2 Privationen
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nicht geklärt worden. Zunächst einmal lassen sich auf der Ebene der Textsemantik Auslöser für diese Assoziation festmachen. Hätte Heine statt der Palme eine Weide gesetzt, wäre sie in Kombination mit den Elementen Morgenland, Schweigen, Trauer und Felsen unmittelbar als Zitat des 137. Psalms erkennbar, zumal ein Felsen in dem Fluch auftaucht, der den Psalm beschließt.134 Die Palme hingegen wirkt in dem Syntagma der zweiten Strophe deplatziert. Ihr fehlt in diesem Gedicht, einmal abgesehen davon, dass ihre Situierung auf einer »Felsenwand« räumlich schwer vorstellbar ist, eine nach den konventionellen Mustern des Orientalismus zu erwartende Landschaftskulisse, die hier eher ›Wüstensand‹ passend erscheinen ließe. Durch diese semantischen Irritationen wird die gewöhnliche Funktion der Palme als Synekdoche des Orients von ihrer allegorischen Tradition als Sinnbild Israels bzw. des Judentums unterlaufen.135 Indem Heine verschiedene topische Elemente zweier ikonischer Szenerien – des 137. Psalms und des heiter-südlichen Morgenlandtraums – zusammenschiebt, verschiebt er in seinem Gedicht beide auf eine allegorische Artifizialität hin. Diese Beobachtungen nun werfen die Frage auf, wie es um das nördliche Pendant der Palme bestellt ist. Neben seiner einschlägigen Funktion als dunkel-düsteres Landschaftselement des Nordens ruft der Fichtenbaum, wenn man die historische Übersetzungspraxis berücksichtigt, eine poetologische Tradition auf, die der römischen Literatur entstammt.136 In Vergils siebter Ekloge eröffnet Corydon den Sängerwettstreit mit einer Bitte an die Nymphen, ihm zum Sieg zu verhelfen; sonst müsse er seine Flöte an die heilige – dem Hirtengott Pan geweihte – Pinie hängen (»hic arguta sacra pendebit fistula pinu«).137 Im deutschen Sprachraum des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nun wird sacra pinu nicht mit ›heilige Pinie‹ wiedergegeben, sondern als ›heilige Fichte‹ oder ›heiliger Fichtenbaum‹ übersetzt und zitiert.138 Dass diese Szene des römischen Sängerwettstreits 134 Diesen wiederum zitiert Heine 1851 in seinem späten Langgedicht Jehuda ben Halevy unter intertextuellem Verweis auf sein eigenes Fichtenbaum-Gedicht als »Felswand« (DHA 3.1, 136). Vgl. Kathrin Wittler: »Mein westöstlich dunkler Spleen«. Deutsch-jüdische Orientimaginationen in Heinrich Heines Gedicht Jehuda ben Halevy. In: HJb 49 (2010). S. 30–49, hier: S. 38 f. 135 EJ 15 (2007). S. 602 f. 136 Das entgeht Schrader (Fichtenbaums Palmentraum, 1996. S. 21), der Fichte und Tanne für austauschbar hält. 137 Publius Vergil Maro: Opera. Hg. von Roger A.B. Mynors. Oxford 1969. S. 18. 138 Publius Virgil Maro: Werke in drei Bänden. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Bd. 1. Braunschweig 1799. S. 79; Virgils Eklogen. Übersetzt von Heinrich P.C. Esmarch. Schleswig [1787]. S. 32; Virgils Eklogen, nebst einem Anhange einiger Idyllen. [Übersetzt von Hermann Heimart Cludius]. Bremen 1781. S. 74; Des Publius Virgilius Maro Hirtengedichte zum Vergnügen des Witzes und zur Verbesserung des Geschmacks mit Anmerkungen und gegen über gesetzten Latein in deutschen Versen herausgegeben von Johann Daniel Overbeck. Mit einer Vorrede des Herrn Professors Gottsched begleitet. Helmstede 1750. S. 119. Vgl. für eine Übersicht deutscher Übersetzungen Franz Ludwig Anton Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie. Bd. 2.2. Leipzig 1834. S. 1203–1206. Eine literarische Verarbeitung, die Heine bekannt gewesen sein könnte, bietet [Christian Felix Weiße]: Amazonen-Lieder. Zwote vermehrte Auflage. Leipzig 1762. S. 11 f. und S. 19. Vgl. zum Hintergrund Gerhard Sauder: Christian Felix Weißes Amazonen-Lieder im Siebenjährigen Krieg. In: »Krieg ist
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5. Fichtenbaum und Palme
sich in ihrem performativen Moment – dem Aufhängen eines Saiteninstruments an einen Baum – mit dem berühmten zweiten Vers des 137. Psalms überschneidet (»Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande«), ist manchem Übersetzer und Kommentator aufgefallen.139 Beide Modellsituationen werden bis weit ins 19. Jahrhundert ikonographisch als Dichtungsembleme tradiert: An Bäumen hängende oder lehnende Musik instrumente wie Lyra, Harfe und Flöte zieren beispielsweise frühneuzeitliche Poetische Wälder (sylvae lyricae), die das Format der gleichnamigen römischen Sammlung übernehmen,140 ebenso wie Psalmenausgaben.141 Diese Traditionslinien setzen sich, oft nur noch lose mit der römischen und der jüdischen Urszene verbunden, bis in die Lyrikproduktion zu Heines Zeit fort.142 Betrachtet man Fichtenbaum und Palme vor diesem Hintergrund isoliert als Embleme, dann lassen sie sich in ihrer symmetrischen Gegenüberstellung als Zitate der beiden performativen Modellsituationen poetischen Schweigens lesen, die sich aus Vergils siebter Ekloge und dem 137. Psalm herschreiben. Einer eindeutigen Festlegung auf diese Lesart aber verweigert sich der Text. Das Rätselgedicht – das ist konstitutiv für seine Struktur – bleibt rätselhaft.
mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007. S. 193–214. 139 Der Weilburger Gymnasiallehrer Alexander Weinrich etwa lässt Corydon 1786 in einer freien Übersetzung der siebten Ekloge erklären, er werde seine Flöte im Falle einer Niederlage »stumm an diesem geheiligten Fichtenbaum hängen« ([Alexander Weinrich]: Virgils VIIte Ekloge frey übersezt. In: Der Teutsche Merkur 19:3 (1786). S. 85–89, hier: S. 86). In der Buchausgabe seiner Übersetzung erklärt er diesen Kapitulationsakt unter Verweis auf Psalm 137 als ein »Zeichen der Traurigkeit« (Virgils Hirtengedichte, in deutsche Jamben und Hexameter frey übersezt und mit Anmerkungen begleitet [von Alexander Weinrich]. Marburg 1789. S. 89). Der Theologe Karl Wilhelm Justi verweist in seinen Anmerkungen zum 137. Psalm auf Vergils siebte Ekloge, zitiert sie in Weinrichs Übersetzung und übernimmt dessen Deutung (Nationalgesänge der Hebräer. Neu übersetzt und erläutert von Karl Wilhelm Justi. Marburg 1803. S. 147 f.). 140 Besonders prominent in Jacob Baldes Sylvae Lyricae (21646). Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4.1. Tübingen 2006. S. 80–83; Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ›bei Gelegenheit‹. Heidelberg 1988. 141 Vgl. für mittelalterliche Beispiele Susan Gillingham: The Reception of Psalm 137 in Jewish and Christian Traditions. In: Jewish and Christian Approaches to the Psalms. Conflict and Convergence. Hg. von Susan Gillingham. Oxford 2013. S. 64–82 und Abb. 1 und 3; für die Frühe Neuzeit Hannibal Hamlin: Psalm Culture in the English Renaissance. Readings of Psalm 137 by Shakespeare, Spenser, Milton, and Others. In: Renaissance Quarterly 55 (2002). S. 224–257, bes. S. 233–239; Paula Loscocco: Royalist Reclamation of Psalmic Song in 1650s England. In: Renaissance Quarterly 64 (2011). S. 500–543, bes. S. 518–529; für ein zeitnahes Beispiel Johann Wilhelm Meils Schlussvignette zu Mendelssohn Psalmenübersetzung (1783). 142 Wenn Müller seinen Waldhornisten in der Pause die Laute an die Wand hängen lässt, dann ist kaum zu entscheiden, ob er diesen performativ-poetologischen Topos der jüdischen Tradition des 137. Psalms oder der römischen Tradition der siebten Ekloge Vergils entleiht oder ob die performative Geste sich hier bereits als Topos und zyklisches Strukturmoment verselbstständigt hat.
5.3 Fazit
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5.3 Fazit Heines deutsche jüdische Poetologie und die Ästhetik der Moderne Die Betrachtung des Gedichts in seinem Publikationskontext ist von heuristischem Wert, weil sie den besonderen literaturgeschichtlichen Status des Gedichts zu konturieren erlaubt: Das privative Stillstellungsverhältnis des Gedichts zu seinem Publikationskontext lässt konkret werden, wie es in Beziehung zu den Dichtungstraditionen steht, die mit dem Titelblatt des Buchs der Lieder aufgerufen werden. Während altdeutsche Volkslieder, griechische Oden und die morgenländische Poesie der Hebräer im 18. Jahrhundert mit Vorstellungen von Ursprünglichkeit aufgeladen und mit einem entsprechenden Gestus nachgeahmt worden waren, ist das Fichtenbaum-Gedicht durch eine markante Atemporalität gekennzeichnet. Die Bezogenheit des Fichtenbaums auf die Palme ist in keiner Weise zeitlich spezifiziert, obwohl mit dem Morgenland ein paradigmatischer Ursprungsraum aufgerufen wird; das gesamte Gedicht ist mit seinen sparsam gesetzten Präsensformen und Partizipien von frappierender Zeitlosigkeit. Weder wird intensive Gegenwärtigkeit produziert noch bezieht der Text sich in irgendeiner Weise auf Vergangenheit oder Zukunft. Ebenso entschieden konterkariert er die Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Natürlichkeit, die sich mit den evozierten Dichtungstraditionen verbinden und die noch in der damals dominanten romantischen Naturlyrik kultiviert werden. Im Fichtenbaum-Gedicht wird die Natur weder mittels Deiktika aufgerufen noch mittels Apostrophen angerufen, sondern in emblemhafter Manier als höchst stilisierte Kulisse aufgestellt, die jeder topographischen Plausibilität und eines ›natürlichen‹ pragmatischen Zusammenhangs entbehrt. Es erscheint damit als Beendigungsgeste ursprungsbesessener Vorstellungen von Naturpoesie und als Verweigerungsgeste gegenüber der damaligen Lyrikproduktion. Darin liegt seine literaturgeschichtliche Bedeutung als Ausnahmetext. Während Rolf Lüdi behauptet, das Fichtenbaum-Gedicht werde im Lyrischen Intermezzo »deformatorisch-projektiv« der dominierenden lyrischen Liebeskonstellation untergeordnet und bringe mithin kein poetologisches Verfahren zur Anwendung,143 hat sich in der hier unternommenen – bewusst umständlichen – Analyse gezeigt, dass das Gedicht eine poetologische Aussagekraft entfaltet, die sich aus seiner privativen Performanz im Publikationskontext ergibt. Das Gedicht thematisiert nicht ausdrücklich das Dichten oder den Dichter, aber es vollzieht poetologische Reflexion als einen poetischen Sprachakt, indem es etwas in und mit der Sprache tut.144 Es ruft Einsamkeit als situative wie seelische Lage auf 143 Rolf Lüdi: Heinrich Heines »Buch der Lieder«. Poetische Strategien und deren Bedeutung. Frankfurt am Main u. a. 1979. S. 124 f. und S. 176 f. Vgl. für einen Versuch, Heines Gedichte poetologisch zu lesen, auch Karl-Heinz Fingerhut: Heines poetologische Gedichte. In: ders.: Standortbestimmungen. Vier Untersuchungen zu Heinrich Heine. Heidenheim 1971. S. 9–52. 144 Vgl. Armin Paul Frank: Theorie im Gedicht und Theorie als Gedicht. In: ders.: Literaturwis-
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5. Fichtenbaum und Palme
und geriert sich, indem es dies tut, selbst als einsamer Text. Damit evoziert es die im 18. Jahrhundert viel diskutierte Denkfigur, dass gerade die Privation – und ganz besonders der Entzug von Geselligkeit – eine Bedingung von literarischer Produktivität ist.145 Mit der symmetrischen Kontrastkonstellation von nördlichem Fichtenbaum und morgenländischer Palme ist dieser privativen Performanz eine kulturelle Markierung eingetragen, die das Gedicht speziell als Reflexion auf die Möglichkeiten deutschen jüdischen Schreibens zu lesen erlaubt. In seiner Gebrauchs- und Deutungsgeschichte sowie in den beiden Publikationskontexten der Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo (1823) und des Buchs der Lieder (1827) gewinnt das Fichtenbaum-Gedicht als jüdisch konnotierte Abweichung von konventionellen orientalistischen Mustern Profil. Vor der Folie der performativen Verweigerungsgeste der siebten Ekloge und des 137. Psalms reflektiert Heine mit dem Gedicht von Fichtenbaum und Palme die Unmöglichkeit seines Schreibens als Bedingung seiner Produktivität: In der privativen Struktur des Gedichts schlägt sich nieder, dass der deutsche jüdische Schreibort eine reflektierte Distanz zum eigenen Dichten und zur Lyrik der Zeit einfordert.146 In dieser Konfiguration liegt die literaturgeschichtliche Bedeutung dieses kleinen Textes. Aus der Unmöglichkeit seiner Schreibsituation heraus erschließt Heine mit diesem Gedicht neue Horizonte für das lyrische Sprechen in der Moderne.
senschaft zwischen Extremen. Aufsätze und Ansätze zu aktuellen Fragen einer unsicher gemachten Disziplin. Berlin/New York, NY 1977. S. 131–169 und S. 187–193, hier: S. 136 f.; Walter Hinck: Das Gedicht als Spiegel der Dichter. Zur Geschichte des deutschen poetologischen Gedichts. Opladen 1985. S. 10; allgemein auch Olaf Hildebrand: Einleitung. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Hg. von demselben. Köln 2003. S. 1–15. Der Begriff der poetologischen Lyrik wurde geprägt von Alfred Weber: Kann die Harfe durch ihre Propeller schießen? Poetologische Lyrik in Amerika. In: Amerikanische Literatur im 20. Jahrhundert. American Literature in the 20th Century. Hg. von Alfred Weber und Dietmar Haack. Göttingen 1971. S. 173–191. 145 Mark-Georg Dehrmann: Produktive Einsamkeit. Studien zu Gottfried Arnold, Shaftesbury, Johann Georg Zimmermann, Jacob Hermann Obereit und Christoph Martin Wieland. Hannover 2002; Kathrin Wittler: Einsamkeit. Ein literarisches Gefühl im 18. Jahrhundert. In: DVjs 87:2 (2013). S. 186–216. 146 Die Gesamtkonstellation, die hier herausgearbeitet wurde, verdichtet Heine zeitgleich mit der Vorbereitung seines Buchs der Lieder im Herbst/Winter 1826 in seinen Ideen. Das Buch Le Grand: Er imaginiert sich in einer Zukunftsvision selbst als Greis, dem ›rosenwangige Knaben‹ »die alte Harfe in die zitternde Hand« drücken, ihm lachend sein langes Schweigen vorwerfen und ihn auffordern, wieder zu singen. Mit dem Ergreifen der Harfe lässt Heine hier seine frühe Lyrik wieder »erwachen« und evoziert sie mittels eines Defilees von romantischen Signalwörtern (Tränen, blühen, süße Töne der Wehmut, Sterne, Nächte, Mondlicht, Nachtigallen, Ferne, Seele, verhallen). Dieses »Lied von den Blumen der Brenta« ist als nostalgische Evokation des frühen lyrischen Werks sein »letztes Lied«, auf welches das Schweigen des Todes folgt. Den Grabstein des Dichters dann zieren keine Blumen, sondern ein Baum: »Ich hätte gern eine Palme, aber diese gedeiht nicht im Norden. Es wird wohl eine Linde sein« (DHA 6, 177 f.).
5.3 Fazit
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Dass Heines Gedichte einen literaturgeschichtlichen Umbruch markieren, ist eine verbreitete Auffassung,147 die im Übrigen seiner Selbsteinschätzung folgt.148 Seine Gedichte gelten der Literaturgeschichtsschreibung als »entscheidende Relaisstation auf dem Weg von der Lyrik als Natur zur Natur als Lyrik« im 19. Jahrhundert, da sie die im 18. Jahrhundert geprägte Vorstellung einer ursprünglichen Naturpoesie im Sinne einer ›natürlichen‹ Hervorbringungsweise von Lyrik, die in der Romantik noch weiterlebt, ironisieren und mit ostentativer Künstlichkeit konterkarieren.149 Damit bereiten sie der Ästhetik der Moderne den Weg, die Kunst als Anti-Natur zu begründen sucht: Die Erfahrung vom Ende der Naturpoesie habe schließlich, so Hans Robert Jauß, zu einer Ästhetik ohne Natur geführt; der moderne Dichter könne und dürfe weder nach der Natur noch wie die Natur schöpferisch tätig sein.150 In Heines Lyrik treten diese widerstreitenden Paradigmen miteinander auf und gegeneinander an. Durch Mittel wie Stilbruch, Hyperbolik und Katachrese desavouiert Heine in vielen seiner Gedichte die Suggestion von ›Natürlichkeit‹ als bloße Konvention,151 legt das künstlerisch-sprachliche Material frei,152 ironisiert die Topoi romantischer Naturevokation durch semantische Trivialisierung und formale Artistik153 und spottet ihrer mit satirisch beschwipsten Anthropomorphisierungen in einer Art Disney-Rokoko.154 Die Artifizialität des Fichtenbaum-Gedichts aber ist von anderer Art. Sie dient nicht der Ironisierung und Trivialisierung, sie kommt ohne Polemik, Brüche, Katachresen und Hyperbolik aus. Statt sich an den Natürlichkeitstopoi der damaligen Lyrik abzuarbeiten, findet Heine mit seiner Adaption des Rätselgedicht147 Peter Uwe Hohendahl: Schwelle und Übergang. Heinrich Heines Position in der modernen europäischen Literatur. In: Heinrich Heine. Ein Wegbereiter der Moderne. Hg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2009. S. 17–31. 148 Vgl. Heines Erklärung, mit ihm sei »die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward« (DHA 15, 13). 149 Ulrich Breuer: »Farbe im Reflex«. Natur/Lyrik im 19. Jahrhundert. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus u. a. Bern 2005. S. 142–164, hier: S. 158 und S. 164. Vgl. zur Unterscheidung zwischen Natur als Hervorbringungsweise und als Gegenstand Norbert Mecklenburg: Naturlyrik und Gesellschaft. Stichworte zu Theorie, Geschichte und Kritik eines poetischen Genres. In: Naturlyrik und Gesellschaft. Hg. von Norbert Mecklenburg. Stuttgart 1977. S. 7–32, hier: S. 10 f. 150 Hans Robert Jauß: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt am Main 1989. S. 119–156. 151 Markus Winkler: ›Dichterliebe‹ und ›Dichtermärtyrtum‹ in Heines »Buch der Lieder«. Zum Konflikt zwischen Naturpoesie und Konvention in einigen »Heimkehr«- und »Intermezzo«-Gedichten. In: »…und die Welt ist so lieblich verworren«. Heinrich Heines dialektisches Denken. Hg. von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld 2004. S. 309–339; Oesterle: Der kühne Wechsel von Volksliedton und Konversationston, 2009. S. 67–78. 152 Lüdi: Heinrich Heines »Buch der Lieder«, 1979, bes. S. 126. 153 Breuer: Natur/Lyrik im 19. Jahrhundert, 2005. S. 157. 154 Donald C. Riechel: »Du bist wie eine Blume«. Notes on Heine’s Flower Shop. In: Fide et Amore. Fs. Hugo Bekker. Hg. von William C. McDonald und Winder Mc Connell. Göppingen 1990. S. 289–308.
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5. Fichtenbaum und Palme
genres gleichsam stillschweigend eine tatsächlich neue lyrische Sprache, die manchen Interpreten als Vorgriff auf die Chiffrenhaftigkeit moderner Lyrik erschienen ist.155 Damit steht das Fichtenbaum-Gedicht als verblüffende Ausnahme in Heines Werk und in der Lyrik der Zeit. Als Allegorie, die ihre Artifizialität ausstellt, und als ein Rätselgedicht, das sich seiner Auflösung verweigert, generiert Heines Text aus dem Reflexionshorizont deutschen jüdischen Schreibens eine lyrische Sprache, die über die ästhetischen Paradigmen seiner eigenen Zeit weit vorausweist.
155 So sieht Sengle (Biedermeierzeit. Bd. 3 (1980). S. 560) in der Kontrastkonstellation des Gedichts eine »Chiffre« und wertet das Gedicht als eine »Vorform« des symbolistischen Gedichts. Vgl. auch die Lesarten als – so der Untertitel des Aufsatzes – Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche (Schrader: Fichtenbaums Palmentraum, 1996) und als verdeckte und chiffrierte Adressierung einer jüdischen Zielgruppe (Veit: Fichtenbaum und Palme, 1976. S. 17). Klaus Brieglebs Annahme einer globalen Chiffrierung des heineschen Werks scheint demgegenüber wenig hilfreich (vgl. die Übersicht in Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. 2. Frankfurt am Main u. a. 1981. S. 666–671). Vgl. allgemein auch Edgar Marsch: Die lyrische Chiffre. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. In: Sprachkunst 1 (1970). S. 207–240.
6. Fazit Morgenländischer Glanz Mit einem Panorama von Einzelstudien hat diese Arbeit die Möglichkeitsbedingungen und Darstellungsformen deutscher jüdischer Literatur im Zeitraum von ca. 1750 bis 1850 aus dem Diskurshorizont des Orientalismus erschlossen. Die deutsche jüdische Literatur geht, so das Ergebnis, aus der intensiven Auseinandersetzung mit einem zentralen Referenztext hervor: der hebräischen Bibel. Diese durchläuft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Diskurs eine Historisierung, Poetisierung und Orientalisierung. Mit dem Signum des Ursprünglichen versehen, wird sie nun als ein dem frühen Morgenland entstammendes Textkorpus verstanden, das zu erheblichen Teilen poetische Qualitäten aufweist. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Literaturgeschichte. Die lux ex oriente stellt, so lässt sich zusammenfassen, um 1800 einen Fluchtpunkt jüdischen Schreibens im deutschsprachigen Raum dar. Der Topos ex oriente lux ist in diesem Zusammenhang mehr als eine Floskel. Die Historisierung, Poetisierung und Orientalisierung der hebräischen Bibel erlaubt es den Verfechtern eines umfassenden jüdischen Traditionsumbaus, die heiligen Schriften in einem neuen – nämlich poetischen und morgenländischen – Licht erscheinen zu lassen. So erklärt David Friedländer 1812, dass der in den biblischen Büchern wirkende »Geist des Alterthums […] anziehend für Kopf und Herz ist, und daß die glühenden Farben des orientalischen Styls einen unnachahmlichen Glanz auf das Ganze streuen.«1 In die Ferne rückende Wissensbestände werden orientalisiert, um sie als etwas Fremdes und Ursprüngliches, mit morgenländischem Glanz versehen, wieder in den Diskurs hereinzuholen. Die Orientalisierung dient dazu, die vielbeschworene Entfremdung von der ›jüdischen Tradition‹ als eine gezielte Verfremdung zu gestalten, durch die überhaupt erst eine ›jüdische Tradition‹ als solche sichtbar – und attraktiv gemacht werden kann. Die reformerische Dynamik von Traditionsbruch und Traditionsstiftung, die um 1800 jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum tiefgreifend verändert, lässt sich mithin in der Figur einer Modifizierung jüdischen Selbstverständnisses durch den Orientalismus greifen, die in einem Spannungsverhältnis zu orientali1 David Friedländer: Ueber die, durch die neue Organisation der Judenschaften in den Preußischen Staaten nothwendig gewordene, Umbildung ihres Gottesdienstes in den Synagogen, ihrer Unterrichts-Anstalten, und deren Lehrgegenstände, und ihres Erziehungs-Wesens überhaupt [1812]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 227–238, hier: S. 235.
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6. Fazit
sierenden Fremdzuschreibungen unternommen wird.2 In vielen der Texte, die hier zur Untersuchung standen, verneinen jüdische Autorinnen und Autoren eine Zugehörigkeit zum Orient, indem sie umso facettenreicher ihre Bezogenheit auf bestimmte Zeit-Räume des Morgenlands gestalten. In den verschiedensten Variationen und Metaphern von Reflex, Schimmer und Abglanz über Echo, Anklang und Reminiszenz bis hin zu verpflanzten Wurzeln und verwehten Wipfeln bemühen sie Verbindungs-, Brücken- und Vermittlungsfiguren des West-Östlichen, um sowohl ihre Zugehörigkeit zu Deutschland als auch ihre Bezogenheit auf das Morgenland zu statuieren. In Konkurrenz zur Exklusion von Juden als Fremden und auch in Konkurrenz zu west-östlichen Kodierungen jüdischer Zerrissenheit, wie sie beispielsweise Joel Jacoby ins Extrem treibt (Kap. 4.2.3), entwickeln verschiedene Autorinnen und Autoren Modelle einer jüdischen Bezogenheit auf den Orient der Vergangenheit, die mit der Zugehörigkeit zur deutschen Gegenwart vereinbar sind. Friedländers Metapher des morgenländischen Schimmers (Kap. 2.2.5) gehört ebenso dazu wie Steinheims Programm einer jüdischen Sendung gen Westen (Kap. 4.2.4); west-östliche Verpflanzungsfiguren finden für Übersetzungsreflexionen, poetologische Programme im Zeichen jüdischer Vielsprachigkeit (Kap. 3.2) und für emanzipationspolitische Belange Verwendung (Kap. 3.3). Die verbreitete Annahme, deutsche Juden hätten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert um eine Europäisierung und De-Orientalisierung des Judentums bemüht,3 um den an sie herangetragenen Assimilationsforderungen zu genügen, erweist sich in Anbetracht dieser Untersuchungsergebnisse als korrekturbedürftig. Viele Juden unternehmen um 1800 keine Europäisierung, sondern eine historisch differenzierte und ästhetisch nuancierte Orientalisierung des Judentums bzw. seiner Ursprünge, um eine jüdische Sprechposition von europäischer Warte für sich reklamieren zu können. Unter dem Druck der Emanzipationspolitik haben diese verschiedenen west-östlichen Modellierungen jüdischer Diaspora-Existenz freilich einen Widerhaken. Wenn Friedländer 1819 verlangt, dass die Juden seiner Zeit einerseits ihren orientalischen Ursprung ›durchschimmern‹ lassen, andererseits aber ihre erworbene okzidentalische Bildung ›beurkunden‹ sollten,4 dann verlangt er von 2 Diese Dynamik lässt sich als ein Beispiel für die von Amos Funkenstein (The Dialectics of Assimilation. In: Jewish Social Studies N.S. 1:2 (1995). S. 1–14) postulierte Dialektik von Assimila tion und Selbstbehauptung bzw. die von David Sorkin (The Impact of Emancipation on German Jewry. A Reconsideration. In: Assimilation and Community. The Jews in Nineteenth-Century Europe. Hg. von Jonathan Frankel und Steven J. Zipperstein. Cambridge 1992. S. 177–198) beobachtete Entstehung einer deutschen jüdischen Subkultur verstehen. 3 Vgl. zuletzt Susannah Heschel: German Jewish Scholarship on Islam as a Tool for De-Orientalizing Judaism. In: New German Critique 39:117 (2012). S. 91–107. 4 David Friedländer: Ueber die Verbesserung der Israeliten im Königreich Pohlen. Ein von der Regierung daselbst im Jahr 1816 abgefordertes Gutachten [1819]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Uta Lohmann. Köln u. a. 2013. S. 249–300, hier: S. 269.
6.1 Sprachen, Schriften und Schreibweisen des Orientalismus
503
ihnen den Beweis, dass sie, obwohl (dem Ursprung nach) Orientalen, doch keine Orientalen (mehr) sind, sondern sich orientalistisch auf ihren Ursprung beziehen können (Kap. 1.8). Um diese ambivalente Doppelrolle als Orientalen dem Ursprung nach und Orientalisten in der Gegenwart zu plausibilisieren, sind deutsche jüdische Reformer wie Friedländer auf eine innerjüdische Kontrastfolie angewiesen. Unter Aufspaltung des jüdischen Kulturraums Aschkenas grenzen sie sich von den sogenannten polnischen Juden ab, die ihrer Meinung nach in einem halb-orientalischen Status verharren (Kap. 3.1.2). Sie profilieren ihren europäischen Standpunkt durch eine euphorisch-aufwertende Orientalisierung der antiken Hebräer und der hebräischen Bibel und stabilisieren ihre Sprechposition durch eine herablassend-abwertende Orientalisierung der Talmudgelehrten, die aus dem (polnischen) Osten der Gegenwart stammen und es aus ihrer Sicht an einem ästhetisch reflektierten und historisch differenzierten orientalistischen Traditionsverhalten fehlen lassen. Im Gebrauch orientalistischer Bezüge verbinden sich mithin um 1800 Glanz und Elend der deutschen jüdischen Kulturgeschichte. Was bedeutet all das nun aber für die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten deutschen jüdischen Schreibens?
6.1 Sprachen, Schriften und Schreibweisen des Orientalismus Die deutsche jüdische Literatur geht aus einem spannungsreichen Wechselspiel von verschiedenen Sprachen, Schriften und Schreibweisen hervor. In den Jahrzehnten um 1800 sind alle jüdischen Schreibversuche im deutschsprachigen Raum auf die eine oder andere Art und Weise auf das Hebräische bezogen, sei es im Haskala-Projekt einer Erneuerung der heiligen Sprache, in Form von deutschen Bibelübersetzungen und Bibelnachdichtungen, bilingualen Schreibexpe rimenten und Selbstübersetzungen, in der Verwendung von hebräischen Lettern für deutschsprachige Texte, in aus mehreren Schriften zusammengesetzten Druckbildern oder in einzelnen Fußnotenhinweisen (Kap. 3.2). Diese verschie denen Verwendungsweisen des Hebräischen implizieren immer auch eine Stellungnahme im Diskursfeld des Orientalismus. Denn infolge der Historisierung, Poetisierung und Orientalisierung, die die hebräische Bibel im 18. Jahrhundert durchläuft, wird auch die hebräische Sprache als eine ursprüngliche und orientalische im emphatischen Sinne aufgefasst. Das macht ihre Adaption für deutsche jüdische Schreibversuche einerseits besonders attraktiv und andererseits besonders heikel. Schreiben jüdische Autoren auf Hebräisch und in hebräischer Schrift, dann legen sie sich damit in der Logik des damaligen Diskurses auf die Rolle von Orientalen fest. Um als Orientalisten sprechen zu können, müssen sie zum Deutschen als Beschreibungssprache des Orientalismus übergehen. Um 1800 wird auf vielfältige Weise mit Kombinationen und Übergängen zwischen diesen beiden Optionen experimentiert.
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6. Fazit
Mit ihrer poetischen Doppelkompetenz im Deutschen und Hebräischen positionieren sich einige jüdische Autoren in einer anspruchsvollen Doppelrolle als zugleich orientalische und orientalistische Autoren. Sie erproben im Bereich der Sprach- und Schriftverwendung vielfältige deutsch-hebräische Poetiken des West-Östlichen, um ihre Sprechposition als eine dem deutschen Literaturdiskurs zugehörige, aber in besonderer Weise auf das Morgenland bezogene zu konturieren. Diese bilingualen Autorpositionen erweisen sich allerdings bald als prekär. Zum einen ist es kaum möglich, unter Umgehung des ›halb-orientalischen‹ rabbinischen Schrifttums ein vermeintlich ursprüngliches und reines Hebräisch zu reaktivieren, zum anderen steht das bilinguale Schreiben in Widerspruch zu der sich in ebendieser Zeit durchsetzenden Vorstellung, jeder Mensch könne nur eine einzige ihm natürliche ›Muttersprache‹ haben und nur in dieser authentisch sprechen. Unter diesen Voraussetzungen tritt das Hebräische zunehmend als Sprache jüdischen Schreibens hinter das Deutsche zurück. Zwar wird der Verlust hebräischer Sprachkompetenz noch bis weit ins 19. Jahrhundert notorisch beklagt;5 zwar präsentieren sich Übersetzungsprojekte als notwendig unzureichende kompensatorische Antworten auf diesen Verlust.6 Aber jiddische und hebräische Wörter kommen nun in der Regel allenfalls noch als Kolorit und Reminiszenzen in deutschsprachigen Texten zum Einsatz.7 Fallen die hebräische Sprache und die hebräische Schrift als Markierungen einer jüdischen Autorposition und einer jüdischen Zielgruppe weg, dann stellt sich die Frage, was einen Text eigentlich zu einem jüdischen macht. Diese Frage, die bis heute eine Herausforderung für Bestimmungsversuche der sogenannten deutsch-jüdischen Literatur darstellt (Kap. 1.6), wird kontrovers diskutiert, seit sich in den 1770er Jahren die ersten jüdischen Autoren mit deutschsprachiger Dichtung aufs literarische Parkett gewagt haben (Kap. 2.1.5). Ludwig Philippson thematisiert noch 1843 in einer Bestandaufnahme jüdischer Mose-Epen, wie schwierig es sei, eine eigenständige jüdische Literatur in deutscher Sprache herauszubilden. Während Naphtali Herz Wesselys hebräischsprachiges Mose-Epos mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als jüdisch gelten kann, stellt sich im Falle der deutschsprachigen Mose-Epen Salomon Ludwig Steinheims und Mo5
[Jeremias Heinemann?]: Ueber die Vernachläßigung der hebräischen Sprache bei den heutigen Juden in Deutschland. (Aus den Briefen eines Lehrers an seine Schüler). In: Allgemeines Archiv des Judenthums 1 (1842). S. 239–249 und S. 289–292. 6 Die Feststellung, dass unter den Israeliten »der Sinn für ihre alterthümlichen Schriften und ihre ehemalige, ehrwürdige Muttersprache jetzt so sehr gesunken« sei, gerät nachgerade zu einer stehenden Wendung. Vgl. P[höbus] [eigentlich Ludwig] Philippsohn: Vorwort. In: ders.: Die Propheten Hosea, Joel, Jonah, Obadjah und Nahum in metrisch-deutscher Uebersetzung. Halle 1827. S. v–x, hier: S. x. 7 Benjamin Maria Baader: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870. Bloomington, IN 2006. S. 99–133; Mark H. Gelber: Heines jüdischer Wortschatz. In: Harry… Heinrich… Henri… Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Hg. von Dietmar Goltschnigg u. a. Berlin 2008. S. 111–120.
6.1 Sprachen, Schriften und Schreibweisen des Orientalismus
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ritz Rappaports die Frage nach einer passenden, erkennbar ›jüdischen‹ Form (Kap. 4.1.2). Versuche, für ein dezidiert jüdisches Sprechen einen spezifischen Ton, Modus und Stil in deutscher Sprache zu finden, werden im 19. Jahrhundert immer wieder unternommen, als Herausforderung reflektiert und metaphorisch auf ihre Realisierbarkeit hin abgetastet. In vielen Fällen werden dabei Bezugnahmen auf das biblische Morgenland gezielt eingesetzt, um – mit Friedländer gesprochen – einen unnachahmlichen Glanz auf das Ganze zu streuen. Der gefühlspoetische Konkurrenzkampf, den in den 1830er Jahren Joel Jacoby und Salomon Ludwig Steinheim ausfechten (Kap. 4.2.3 und Kap. 4.2.4), lässt grell hervortreten, dass die Suche nach jüdischen Ausdrucksformen in deutscher Sprache von der heiklen Frage begleitet wird, was unter den Vorzeichen modernen Traditionsverhaltens (noch) eine authentische jüdische Sprechposition ausmache. Darf, wer konvertiert ist oder – wie Byron – nie dem Judentum angehört hat, in der Rolle eines Juden und gar stellvertretend für die Juden sprechen? Kann man eine ›jüdische‹ Schreibweise annehmen oder ergibt eine solche sich aus einem wie auch immer zu bestimmenden jüdischen Geist oder Wesen? Die Projektionen und Zuschreibungen, die schon in den 1770er Jahren in der Erwartung zum Ausdruck kommen, dass Benjamin Veitel Ephraim und Isaschar Falkensohn Behr sich durch eine besondere Schreibweise als jüdische Autoren verraten müssten (Kap. 2.1.5), gewinnen unter diesen Voraussetzungen im Laufe des 19. Jahrhunderts an Zugkraft. Je schwerer es fällt, einen Autor und sein Werk als ›jüdisch‹ zu klassifizieren, desto häufiger wird auf Stilzuschreibungen zurückgegriffen. So nimmt Richard Otto Spazier 1835 ein Kapitel über Heine in Eugen Graf Brezas Gallerie der ausgezeichnetsten Israeliten aller Jahrhunderte zum Anlass für eine allgemeine Reflexion Über die israelitische Poesie seit der Zerstreuung des Volks bis auf die neueste Zeit. Spaziers Überlegungen laufen darauf hinaus, die Unmöglichkeit jüdischen Dichtens in der Diaspora zu behaupten. Während Wessely, den er nur vom Hörensagen namhaft machen kann, mit seiner Entscheidung für die hebräische Sprache auf einen größeren Wirkungskreis verzichtet habe, seien die Poeten, die in der deutschsprachigen Literatur Beachtung fänden, ausnahmslos zum Christentum konvertiert. Ihre Herkunft aber können sie Spazier zufolge nicht verleugnen. Für die jüdischen Schriftsteller der Gegenwart – allen voran Heine – sei eine besondere Affinität zu einer »fragmentarischen Dichtungsweise« charakteristisch, die das allgemeine Zerrissenheitsgefühl der Zeit ins Extrem treibe.8 Solche Projektionen einer zeitdiagnostisch verwertbaren, angeblich charakteristisch jüdischen Schreibweise werden bis ins 20. Jahrhundert unter Rekurs auf
8 Richard Otto Spazier: Heinrich Heine. Ueber die israelitische Poesie seit der Zerstreuung des Volks bis auf die neueste Zeit. In: Gallerie der ausgezeichnetsten Israeliten aller Jahrhunderte, ihre Portraits und Biographien. Hg. von Eugen Graf Breza. Stuttgart 1835. S. 108–120, hier: S. 115 f.
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6. Fazit
orientalistische Zuschreibungen formuliert. So erklärt Oskar Weise in seiner Ästhetik der deutschen Sprache (1903): Ein Erzeugnis orientalischer Denkweise und Geistesart ist ferner jener prickelnde Feuilletonstil, der besonders von den jüdischen Schriftstellern ausgegangen ist. Er wurde von Heinrich Heine in die literarische Welt eingeführt, aber auch von den hervorragendsten Vertretern des ›Jungen Deutschlands‹ wie Börne u. a. eifrig gepflegt.9
Dass um 1900 solche Zuschreibungen einer jüdisch-orientalischen Schreib- und Denkweise vorgenommen werden können, hat seine Voraussetzung in den diskursgeschichtlichen Transformationen um 1800, die ich in dieser Arbeit rekon struiert habe.
6.2 Deutsche, jüdische, orientalistische Perspektiven der Literaturgeschichte In der Umbruchszeit um 1800 ergibt sich aus den Interferenzen zwischen drei verschiedenen Suchbewegungen eine einzigartige Konstellation. Da ist erstens das Ringen um eine eigenständige deutsche Nationalkultur im Kontext langwieriger Staatenbildung, zweitens die Entwicklung eines modernen jüdischen Traditionsverhältnisses unter den Bedingungen tiefgreifender sprach- und kulturgeschichtlicher Veränderungen und drittens die in besonderem Maße bibelwissenschaftlich und literarisch geprägte Herausbildung eines deutschen Orientalismus. Aus dieser Konstellation ergeben sich sprach-, stil- und gefühlspolitische Konfliktfelder, die im Medium der Literatur und ganz besonders im Bereich der Lyrik und der Versepik Gestalt gewinnen und kontrovers besetzt werden. Mit der literaturgeschichtlichen Rekonstruktion dieser Konstellation rücken die spannungsreichen Wechselverhältnisse zwischen deutschen, jüdischen und orientalistischen Aspekten der Literaturgeschichte um 1800 in den Blick. Indem diese Arbeit den historischen Überschneidungsbereich zwischen den Untersuchungsfeldern der Germanistik, der Jüdischen Studien und der Orientalismusforschung ausgelotet hat, bietet sie allen drei Disziplinen neue Perspektiven und mag dazu anregen, scheinbar selbstverständliche Vorannahmen zugunsten eines gesteigerten Komplexitätsbewusstseins aufzulösen. Wird die deutsche Literaturgeschichte als deutsche jüdische Literaturgeschichte betrachtet, und wird sie auf ihre diskursiven Voraussetzungen im Orientalismus hin geprüft, dann ergeben sich einige heuristisch wertvolle Blick- und Schwerpunktverschiebungen. Es werden Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Konfliktzonen sichtbar, die vermeintlich wohlbekannte Entwicklungen in einem neuen Licht erscheinen lassen. Jüdische Traditionen und Positionen sind in den Jahrzehnten Oskar Weise: Ästhetik der deutschen Sprache [1903]. Leipzig/Berlin 41915. S. 257.
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6.2 Deutsche, jüdische, orientalistische Perspektiven der Literaturgeschichte
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um 1800, so hat sich in den Einzelstudien dieser Arbeit gezeigt, in mehrfacher Hinsicht konstitutiv für den Literaturdiskurs im deutschsprachigen Raum; und der Orientalismus spielt für die dabei entstehenden Dynamiken eine entscheidende Rolle. Eine kleine Lese der literaturgeschichtlichen Neuakzentuierungen, die sich aus der Untersuchungsperspektive dieser Arbeit ergeben, mag dieses Erkenntnispotential noch einmal vergegenwärtigen. Bei der Suche nach einer eigenständigen deutschsprachigen Nationalliteratur, die es mit der französischen und englischen aufnehmen kann, orientieren sich die Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts nicht nur an Griechen, Römern und nordischen Barden, sondern auch an den Hebräern und dem mit ihnen verbundenen Modell morgenländischer Ursprungspoesie. Die gattungspoetischen und ästhetischen Umstellungen, die im 18. Jahrhundert die Weichen für die deutsche Literaturgeschichte stellen, werden in intensiver Auseinandersetzung mit der sogenannten hebräischen Poesie vorgenommen, die als eine Poesieform der morgenländischen Frühzeit mit eigentümlichen Strukturprinzipien entdeckt und zu einem Paradigma lyrischen Sprechens erhoben wird. Diese literaturkritischen Debatten über die hebräische Poesie verlaufen in einem synchronen Zusammenhang über Sprach- und Schriftgrenzen hinweg. Erst in dieser Perspektive lässt sich Mendelssohns Bedeutung als jüdischer Aufklärer in den literaturgeschichtlichen Konstellationen des 18. Jahrhunderts voll würdigen und nachvollziehbar machen, wie die Umwälzungen im Literaturdiskurs des 18. Jahrhunderts zum einen das jüdische Wissen von der Bibel grundlegend verändern und wie zum anderen dieses neu formatierte jüdische Wissen von der Bibel wiederum in den deutschsprachigen Literaturdiskurs der Zeit Eingang findet. Die Vorstellungen, die man sich von den biblischen Hebräern und der hebräischen Poesie macht, wirken sich auf den Umgang mit jüdischen Autoren der Gegenwart aus. An der Indienstnahme der ersten jüdischen Dichter deutscher Sprache für Projektionen einer kulturspezifischen Schreib- und Denkart werden die Prämissen und Implikationen neu aufkommender Autorschafts- und Stilkonzepte sichtbar. Die Schwerpunktverschiebung vom Nachahmungs- zum Originalitätsparadigma wird im Diskurshorizont des Orientalismus anhand der jüdischen Autorfunktion erprobt und plausibilisiert. Die betreffenden Autoren gehen sehr unterschiedlich mit den Erwartungen um, die an sie herangetragen werden. Sie sind in diesem Zusammenhang nicht als passive Projektionsflächen zu verstehen, sondern als Diskursakteure, die selbst Position beziehen und mit nuancierten Argumentationsstrategien mitbestimmen, welchen Stellenwert jüdische Traditionen im Literaturdiskurs erhalten. Wenn sie biblische Texte in poetischen Übersetzungen zum Leuchten bringen (Mendelssohn, Friedländer), ihr Werk als Ergebnis einer umfassenden körperlichen und sprachlichen Selbstzivilisierung im Sinne der europäischen Aufklärung inszenieren (Behr, Maimon), ihr bilinguales Schreiben in einen west-östlichen poetologischen Rahmen fassen (Cohen), den biedermeierzeitlichen Topos
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6. Fazit
des Judenschmerzes breitenwirksam übersteigern (Jacoby), für das Judentum ein westliches Sendungsbewusstsein visionieren (Steinheim) oder mit einem Tendenzroman zu den Debatten über die jüdische Emanzipation Stellung beziehen (Lewald), dann gestalten sie – sei es in peripherer oder aufsehenerregender Weise – die Regeln des Diskurses mit. Besonders sinnfällig wird die Bedeutung jüdischer Positionen und Traditionen für die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte in dem Medialisierungsschub, den der 137. Psalm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfährt. Jüdische Künstler und Schriftsteller sind maßgeblich daran beteiligt, dass der sogenannte Judenschmerz zur extremsten Ausprägung des biedermeierzeitlichen Weltschmerzes erklärt wird, und schreiben sich auf konfliktreiche Weise in diesen Gefühlsdiskurs ein. Mit seinem Affektspektrum von Wehmut bis Unmut dient der 137. Psalm dazu, die jüdische Diaspora-Situation im Horizont eines allgemeinen Epochengefühls der Zerrissenheit zu thematisieren und west-östlich zu kodieren. Die Einsicht, dass der Orientalismus in vielfacher Hinsicht die Möglichkeitsbedingungen und Darstellungsformen der deutschen jüdischen Literatur um 1800 bestimmt, erweitert das Verständnis auch der bekanntesten Phänomene deutscher jüdischer Literatur- und Kulturgeschichte. Dazu gehört nicht zuletzt der Goethe-Kult deutscher Jüdinnen und Juden.10 In den Einzelstudien dieser Arbeit hat sich mehrfach gezeigt, dass im Diskurshorizont des Orientalismus für viele jüdische Autoren ein poetisches Werk des Weimarer Klassikers einen wichtigen Referenztext darstellt, das bislang in diesem Zusammenhang überhaupt nicht berücksichtigt worden ist: der West-östliche Divan. Schließlich erscheint auch der Orientalismus in einem anderen Licht, wenn nach seiner Bedeutung für die deutsche jüdische Literaturgeschichte gefragt wird. In den Bezugnahmen jüdischer Autorinnen und Autoren auf das Morgenland wird greifbar, welches poetische und poetologische Potential der Orientalismus um 1800 mit seinen differenzierten Gebrauchsmöglichkeiten birgt. Neben den ästhetischen Übersetzungsreflexionen Friedländers, den fiktionalen Raum-ZeitSpiegelungen Euchels, der west-östlichen Poetologie Cohens, den Morgenröten jüdischen Dichtens bei Steinheim, Rappaport und anderen ist es vor allem Heines in seiner Kürze großes Gedicht von Fichtenbaum und Palme (1822), das als nördlich-morgenländische Allegorie deutschen jüdischen Schreibens durch den Orientalismus hindurch einen Weg in die Ästhetik der Moderne bahnt. Wie am Eingang dieses Panoramas des Orientalismus (in) der deutschen jüdischen Literaturgeschichte um 1800 ein kleines Panorama stand (Kap. 1.8), so soll 10 Wilfried Barner: Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer. Wolfenbüttel/Göttingen 1992; Goethe in German-Jewish Culture. Hg. von Klaus L. Berghahn und Jost Hermand. Rochester, NY u. a. 2001.
6.2 Deutsche, jüdische, orientalistische Perspektiven der Literaturgeschichte
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nun auch am Ausgang eines stehen. Anhand des sogenannten maurischen Stils, der im 19. Jahrhundert an vielen Orten im deutschsprachigen Raum für die Sy nagogenarchitektur Verwendung findet – besonders berühmt die 1866 eingeweihte Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin (Tafel III) – und kontrovers diskutiert wird, werde ich in diesem zweiten kleinen Panorama noch einmal wichtige Aspekte der in dieser Arbeit rekonstruierten Diskurskonstella tion aufzeigen und einen Ausblick auf die Epochenschwelle um 1900 eröffnen. Es mag zunächst verwundern, dass es im letzten Teil einer vorrangig der Literatur gewidmeten Arbeit um Architektur gehen soll, und überdies um ein so deutungsbedürftiges Phänomen wie den orientalistischen Synagogenbaustil. In der Forschung ist umstritten, welche Absichten die beteiligten Architekten, Auftraggeber und Behörden mit der Wahl orientalischer Stile verbanden, wie Berichterstatter und jüdische Gemeindemitglieder diese einschätzten, welche Assoziationen man mit solchen repräsentativen, prächtig-orientalisch anmutenden Synagogen verband und welche gesellschaftlichen Folgen ihre Erbauung in zahlreichen Städten im deutschsprachigen Raum hatte. Wurden die orientalischen Stile den jüdischen Gemeinden aufgezwungen oder von diesen selbst präferiert? Und wenn ja, warum? Beförderten repräsentative Synagogenbauten in orientalischem Stil feindliche Gefühle gegenüber den Juden oder deren gesellschaftliche Akzeptanz? Nahm man die betreffenden Gebäude pauschal als orientalisch wahr oder dachte man bei ihrem Anblick speziell an die goldenen Zeiten jüdisch-arabischer Kultur in Sefarad? Die in dieser Arbeit unternommene Rekonstruktion der Bedeutung, die der Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte des Zeitraums ca. 1750 bis 1850 entfaltet hat, hält für die Klärung dieser Fragen einige wichtige Fingerzeige bereit. Wie im Folgenden zu erweisen sein wird, kommen im Umgang mit der orientalisierenden Synagogenarchitektur des 19. Jahrhunderts ebendie west-östlich strukturierten Denkfiguren und Argumentationsmuster zum Einsatz, die sich im jüdischen Traditionsumbau um 1800 im Bereich der Literatur ausgeprägt haben. Gebäude sprechen nicht, sie erklären sich nicht. Umso aufschlussreicher sind historische Äußerungen über solche Gebäude. Über diese Versprachlichungen – poetischer wie prosaischer Natur – werde ich im Folgenden zu erschließen versuchen, wie die Synagogenarchitektur im Diskurshorizont des Orientalismus und in der deutschen jüdischen Kulturgeschichte zu verorten ist. Gerade von literaturwissenschaftlicher Warte lassen sich, so wird sich zeigen, neue Perspektiven dafür eröffnen, welche Wirkungen der orientalisierende Synagogenbau im Wahrnehmungshorizont des 19. Jahrhunderts entfaltete. Der jüdische Traditionsumbau nach orientalistischen Maßstäben gewinnt, so wird sich zeigen, im Umbau jüdischer Sakralarchitektur konkrete Gestalt und offenbart in seiner Bewertung sowohl die Chancen als auch die Ambivalenz jüdischer Traditionsstiftung im Zeichen des deutschen Orientalismus.
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6. Fazit
Tafel III. Emile de Cauwer: Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin (1865).
6.3 Maurischer Styl
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6.3 Maurischer Styl Orientalismus und Sefardismus im Synagogenbau des 19. Jahrhunderts Im Zeitalter der Emanzipation wandelt sich die Bedeutung, die dem Synagogenbau beigemessen wird. Bis ins späte 18. Jahrhundert gelten Synagogen als streng vom zerstörten Tempel in Jerusalem zu unterscheidende Versammlungs-, Stu dien- und Gebetsräume ( בית מדרש ובית תפילה,)בית כנסת. Sie sind zwar innenarchitektonisch mitunter kunstvoll gestaltet, nach außen hin aber – auch zum Schutz vor christlicher Gewalt – zumeist eher unscheinbar. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ändert sich das; Synagogen werden nach dem Vorbild christlicher Kirchen als Sakralräume verstanden: als Gotteshäuser, die erbauend und erhebend auf die Gläubigen wirken sollen und in Reformgemeinden gar als neue ›Tempel‹ bezeichnet werden.11 Befördert durch staatliche Regulierungsmaßnahmen wird es üblich, die Zugehörigkeit zum Judentum durch regelmäßige Gottesdienstbesuche auszudrücken. Repräsentative Sakralbauten sollen das Judentum nun selbstbewusst ins Stadtbild integrieren und der »public celebration of Judaism« dienen.12 Diese neue Funktionsbestimmung der Synagoge macht es nötig, architektonisch Neuland zu betreten. Denn dafür, wie eine jüdische Sakralarchitektur zu gestalten sei, gibt es kaum Modelle. Aus der biblischen Zeit sind keine baulichen Überreste bekannt; über die Gestalt des Jerusalemer Tempels lässt sich nur spekulieren.13 Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind für den Synagogenbau keine gedruckten Bauanweisungen, keine Handbücher und auch keine Vorbildersammlungen verfügbar, auf die Architekten zurückgreifen könnten.14 Die architektonische Gestaltung neuer Synagogen ist vor diesem Hintergrund für Auftraggeber und Architekten eine Herausforderung, die in unterschiedlicher Weise umgesetzt und kontrovers diskutiert wird.15 11 Michael A. Meyer: »How Awesome is this Place!« The Reconceptualisation of the Synagogue in Nineteenth-Century Germany. In: LBI YB 41 (1996). S. 51–63; Synagogenarchitektur in Deutschland. Dokumentation zur Ausstellung »... und ich wurde ihnen zu einem kleinen Heiligtum...« – Synagogen in Deutschland. Hg. von Harmen H. Thies und Aliza Cohen-Mushlin. Petersberg 2008. 12 Saskia Coenen Snyder: Building a Public Judaism. Synagogues and Jewish Identity in Nineteenth-Century Europe. London/Cambridge, MA 2013. S. 5. Vgl. zu diesem Aspekt auch Richard I. Cohen: Celebrating Integration in the Public Sphere in Germany and France. In: Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models. Hg. von Michael Brenner u. a. Tübingen 2003. S. 55–78; Harold Hammer-Schenk: Jüdische Selbstdarstellung im Synagogenbau in Böhmen, Mähren und Wien im 19. Jahrhundert. In: »Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!« (Num 24,5). Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. Hg. von Rainer Kampling. Frankfurt am Main 2009. S. 133–155. 13 Zu Rekonstruktionsversuchen und Bedeutungszuweisungen der Neuzeit vgl. William J. Hamblin und David Rolph Seely: Solomon’s Temple. Myth and History. London 2007. S. 165–203. 14 Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933). Bd. 1. Hamburg 1981. S. 345. 15 Carol Herselle Krinsky: Synagogues of Europe. Architecture, History, Meaning. New York, NY 1985, bes. S. 72–88; Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981; Pierre Genée: Synagogen in
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6. Fazit
Bautechnologische Innovationen treffen in dieser Zeit auf überkommene Stilvorgaben, während im Heiligen Land archäologische Ausgrabungen vorangetrieben werden; neue Reproduktionstechniken und Publikationsmedien beschleunigen die Verbreitung konkurrierender Modelle und Stilvorgaben. Gemäß dem im 19. Jahrhundert dominanten architekturtheoretischen Postulat, dass ein Gebäude den spezifischen ›Charakter‹ seiner Bewohner bzw. Benutzer und seine Zweckbestimmung zum Ausdruck bringen müsse, gilt es einen Stil zu finden, der dem Ursprung und den Traditionen der Juden ›charakteristisch‹ zum Ausdruck verhilft. Der gotische Stil ist so stark als nationaler deutscher Kirchenbaustil konnotiert,16 dass er für Synagogen lange Zeit kaum in Frage kommt. Der Rundbogenstil als noch unvollendete Vorstufe der (deutschen) Gotik ist eher denkbar; als im engeren Sinne für die Juden charakteristischer Stil kann indes auch er nicht gelten.17 Um Synagogen als jüdische Sakralbauten zu kennzeichnen, greifen in dieser Situation viele der – zunächst vornehmlich christlichen – Architekten auf orientalisierende Elemente zurück.18 Sie sollen der jüdischen Charakterisierung dienen, indem sie auf die Herkunft der Juden aus dem (biblischen) Orient verweisen. Der Synagogenbau wird so zu einem Experimentierfeld verschiedener – byzantinischer, maurischer, islamischer, romanischer, klassizistischer, gotischer, assyrischer und ägyptischer – Stile, die jeweils weder terminologisch noch konzeptuell eindeutig definiert sind.19 Mit unterschiedlichen Motiven sind viele der an der Planung von Synagogenbauten beteiligten Akteure daran interessiert, diese mittels orientalischer Stilelemente von christlichen Gotteshäusern abzugrenzen.20 Entsprechende ForderunÖsterreich. Wien 1992; Ron Epstein-Mil: Die Synagogen in der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation. Zürich 2008. 16 Winfried Woesler: Ist die Gotik von »deutscher Art«? In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto. Würzburg 1996. S. 375–385. Vgl. zu den Debatten über den schließlich ab Ende der 1840er Jahre anerkannten französischen Ursprung der Gotik Michael J. Lewis: The Politics of the German Gothic Revival. August Reichensperger. London u. a. 1993. 17 Der Komponist und Musiker Moritz Hauptmann benennt diesen Zwiespalt am 5. Juli 1841 in einem Brief, in dem er die neue, 1839 eingeweihte Synagoge in Kassel, die der Architekt Albrecht Rosengarten im neuromanischen Stil gestaltet hat, mit der von Gottfried Semper entworfenen, 1840 eingeweihten neuromanischen Synagoge in Dresden vergleicht, die im Innern mit vielen orientalisierenden Elementen ausgestattet ist (Moritz Hauptmann: Briefe an Franz Hauser. Hg. von Alfred Schöne. Bd. 1. Leipzig 1871. S. 296). 18 So wird etwa der byzantinische Stil als morgenländische Variante des romanischen Stils aufgefasst und scheint deshalb manchen geeignet für Synagogenbauten. Vgl. Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 224–229. 19 Vgl. mit aussagekräftigen Beispielen Krinsky: Synagogues of Europe, 1985. S. 76. 20 Zeitschriften dienen als Forum für die damit verbundenen Debatten. Die Allgemeine Zeitung des Judenthums zitiert 1867 unter dem Titel Jüdische Baukunst ausführlich aus einem Aufsatz eines christlichen Architekten und verbreitet damit dessen Überlegungen zur »Sinn- und Stammesverwandtschaft« der Araber mit den Juden unter einem jüdischen Lesepublikum (AZJ 31:1 (1867). S. 5–8).
6.3 Maurischer Styl
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gen werden nicht zuletzt von den jeweiligen Baubehörden erhoben.21 Zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden und innerhalb derselben sind orientalisierende Stile zwar umstritten,22 aber viele scheinen sie präferiert zu haben.23 Der Elsässer Aaron Meyer zum Beispiel berichtet 1859 im Univers israélite von der Einweihung der neuen Synagoge in Genf und zeigt sich begeistert: »Avec son grand dôme au centre et ses quatre minarets aux quatre coins, notre temple représente un véritable temple oriental, tout à fait conforme à l’origine et aux traditions de notre religion.«24 Wie Meyer bestimmen im 19. Jahrhundert viele Juden ihre Traditionen dem Ursprung nach als orientalische und schreiben sie auf diesem Wege in die genealogischen Konkurrenzen des historistischen Zeitalters ein. In diesem Sinne gibt der jüdische Architekt Ludwig Levy 1891 noch einmal mit Blick auf die Synagoge in Kaiserslautern zu bedenken, dass »ein rein romanisches Gotteshaus leicht den Charakter einer christlichen Kirche, nicht aber den besonderen einer Synagoge erhält. Der Stempel der Heimath, den der israelitische Ritus trägt, ward daher Veranlassung den romanischen Formen morgenländische Anklänge zu geben.«25 Dass »morgenländische Anklänge« in der Synagogenarchitektur als »Stempel der Heimath« dienen können, ist eine damals verbreitete Auffassung. So befindet ein 1869 in der Allgemeinen Zeitung des Ju21 So bemängelt die belgische königliche Baukommission 1874, dass die geplante neue Synagoge in Brüssel trotz Verzicht auf gotische Anleihen mit ihrem romanischen Stil immer noch zu sehr an katholische Kirchen erinnere, und fordert ein stärker orientalisierendes Dekor, das den orientalischen Ursprung (»l’origine orientale«) und das hohe Altertum der israelitischen Religion (»la haute antiquité de la religion hébraïque«) markieren müsse (zitiert nach Jean Pierre Francotte: Les relations de la communauté israélite de Belgique avec le pouvoir central (1830–1940). Brüssel 1972. S. 60). Vgl. zum Kontext Thomas Gergely: Naissance d’une Synagogue. In: La Grande Synagogue de Bruxelles. Contributions à l’histoire des Juifs de Bruxelles, 1878–1978. Brüssel 1978. S. 77–94. 22 Ein Beispiel bieten die Streitigkeiten um die Synagoge in Kassel in den frühen 1830er Jahren (Rudolf Hallo: Kasseler Synagogengeschichte. Synagogen und Friedhöfe, Kunst und Handwerk der Juden in Kassel. In: ders. u. a.: Geschichte der Jüdischen Gemeinde Kassel unter Berücksichtigung der Hessen-Kasseler Gesamtjudenheit. Bd. 1. Hg. von der Israelitischen Gemeinde Kassel. Kassel 1931. S. 9–108). Später personifiziert sich dieser Dissens in dem jüdischen Architekten Edwin Oppler, der neugotische Entwürfe anbietet, und dem christlichen Architekten Adolf Wolff, der Synagogen in orientalisierendem Stil entwirft (Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 321). Vgl. für eine Rechtfertigung des maurischen Stils ferner Ludwig Förster: Das israelitische Bethaus in der Wiener Vorstadt Leopoldstadt. In: Allgemeine Bauzeitung 24 (1859). S. 14–16; für eine Polemik dagegen Albrecht Rosengarten: Die architektonischen Stylarten. Eine kurze, allgemeinfassliche Darstellung der charakteristischen Verschiedenheiten der architektonischen Stylarten. Braunschweig 3 1874. S. 431 f. 23 Dass die Wahl orientalisierender Stile allein auf christliche Architekten zurückzuführen und den jüdischen Gemeinden aufoktroyiert worden sei, ist mithin eine nicht haltbare Behauptung. So z. B. Uri R. Kaufmann: Juden – Teil der deutschen Nation? In: Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie. Hg. von Monica Juneja und Margrit Pernau. Göttingen 2008. S. 187–205, hier: S. 192. 24 Aaron Meyer: Inauguration de la synagogue de Genève. In: L’univers israélite. Journal des Principes conservateurs du Judaïsme 14:12 (1859). S. 581–583, hier: 582. 25 Ludwig Levy: Synagoge in Kaiserslautern. In: Deutsche Bauzeitung 25:1 (1891). S. 1.
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6. Fazit
denthums referierter belgischer Artikel über Jüdische Baukunst, diese müsse notwendig »den Stempel des hohen Alterthums« tragen und werde »das Andenken an das Vaterland wecken müssen, dessen Gedächtnis sie [die Juden] alle so heilig und treu bewahren«. Für den anonymen Verfasser besteht deshalb kein Zweifel, dass das Gebäude, »welches jene Verbannten des Orients vereinigen wird, […] vor allem einen orientalischen Charakter tragen« müsse.26 Orientalisierende Elemente werden in diesem Sinne als probates Auszeichnungsmittel jüdischer Traditionsverbundenheit und Eigenständigkeit verstanden. So begründet 1858 der jüdische Architekt Otto Simonsohn, ein Schüler Gottfried Sempers, seine Entscheidung, die Leipziger Synagoge »im maurischen Style« nach dem Vorbild der Alhambra zu erbauen, mit dem Argument, dieser sei ihm als »der charakteristischste« erschienen: Das Judenthum hängt mit unerschütterter Pietät an seiner Geschichte: seine Gesetze, Sitten und Gebräuche, die Organisation des Cultus, kurz, sein ganzes Wesen lebt in den Reminiscenzen an das Mutterland, dem Orient. Ihnen muß der Architekt Rechnung tragen, will er dem Gebäude einen typischen Stempel aufdrücken, und es bleibt ihm Freiheit genug, wenn er nur geschickt aus den Blumen des Orients sich das Rechte herauszuwählen versteht: er verfalle nicht in todte Nachahmung, sondern erfasse verständig die gebotenen Motive und verarbeite sie harmonisch zu einem neuen, die mancherlei von unserem Zeitalter gestellten Anforderungen nicht verläugnenden Ganzen.27
Wie Levy und der anonyme belgische Rezensent, so benutzt auch Simonsohn die Metapher eines dem Bau aufzudrückenden ›Stempels‹, um die funktionale und repräsentative Charakterisierungsaufgabe auf einen Begriff zu bringen. Die auffallend einhellig verwendete Metapher der Einprägung ist eng mit einem zweiten Metaphernbereich verbunden, der immer wieder in Beschreibungen des Synagogenstils zur Anwendung kommt. Zur Gestaltung eines jüdischen Sakralbaus müsse der Architekt, so Simon sohn, »den Reminiscenzen an das Mutterland, de[n] Orient« Rechnung tragen. Wenn Simonsohn hier von ›Reminiszenzen‹ spricht, dann bestimmt er ähnlich wie Levy mit der Rede von ›morgenländischen Anklängen‹ und der belgische Autor mit den Begriffen ›Andenken‹ und ›Gedächtnis‹ das Judentum nicht als dem Orient zugehörige, sondern als auf den Orient bezogene Religion. Er legt Wert darauf, dass die orientalischen Reminiszenzen, die auf die uralte Abkunft der Juden verweisen sollen, mit den Anforderungen der Gegenwart zu einem harmonischen »Ganzen« verbunden werden. Die architektonische Gestaltung eines modernen Synagogenbaus kommt in dieser Perspektive einer doppelten Vermittlungsleistung zwischen Ost und West sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. Antike und Moderne gleich: Aufgabe des Architekten ist es, in 26 AZJ 33:37 (1869). Feuilleton-Beilage. S. 753 f. Auf dieser Grundlage wird hier allerdings auch der maurische Stil als unpassend deklariert, da die »Kunst der Kalifen« nichts mit der »Religion der Propheten« zu tun habe. 27 Otto Simonsohn: Der Neue Tempel in Leipzig. Berlin 1858. S. 3.
6.3 Maurischer Styl
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einer west-östlichen und antik-modernen Harmonisierungsleistung baukünstlerisch den Anspruch der Juden zu statuieren, unter Beibehaltung ihrer aus dem Orient stammenden und auf diesen bezogenen Traditionen einen Platz in der deutschen Gegenwart einzunehmen.28 Anlässlich von Grundsteinlegungen und Einweihungen neuer Synagogenbauten treten solche Strategien west-östlicher Selbstpositionierung besonders deutlich hervor, denn als öffentliche Gebäude stellen Synagogen zwar ein weithin sichtbares, aber auch deutungsbedürftiges Statement dar. Am 18. Oktober 1842 wird, um ein Beispiel zu nennen, die Grundsteinlegung zum neuen Synagogenbau der Hamburger Reformgemeinde mit einem Festmahl beschlossen. Das Gemeindemitglied Moses M. Haarbleicher steuert einige Tischlieder bei, darunter eines unter dem Titel Geist des Tempels. In diesem Tischlied wird die zu bauende Hamburger Synagoge als ein Muster dafür gefeiert, »Wie alte sich und neue Welt / Und West und Osten schön verbinden.«29 Diese Verbindung stifte der »Tempel« durch seine Doppelfunktion einerseits als repräsentatives »ächtes deutsches Gotteshaus« und andererseits als Stätte der Bewahrung morgenländischen Erbes: Des Einen Gottes feste Lehre Ererbt er aus dem Orient, Und wahret treu im Occident Des alten Bundesvolkes Ehre.
Der umarmende Reim, der die Balance zwischen dem Universalanspruch des Monotheismus (»Des Einen Gottes feste Lehre«) und der jüdischen Partikularauszeichnung (»Des alten Bundesvolkes Ehre«) hält, rahmt die harmonische Verbindung zwischen den paargereimten Polen Orient und Okzident im Paradigma der Genealogie: Die Bewahrung des antiken morgenländischen Erbes in der abendländischen Gegenwart wird hier zum Programm erhoben. So ist auch das ausdrückliche Bekenntnis zum »deutschen Vaterlande« zu verstehen, auf das das Tischlied zusteuert. Haarbleicher unternimmt den Versuch, jüdische Religion und Kultur auf poetischem Wege als orientalisches Erbe »mit engstem Bande« der deutschen Kultur zu verbinden. Er formuliert eine Strategie der Selbstpositionierung, die nicht auf Selbstaufgabe, sondern auf Bezüglichkeit und Vermittlung setzt. Ein »ächt deutsches Gotteshaus« soll die Synagoge sein: ein Ort, an dem sich Orient und Okzident »schön verbinden« können, indem der uralte Ursprung im Morgenland mit der abendländischen Gegenwart harmonisiert wird. Ähnlich plädiert Leopold 28 Vgl. zur Vereinigung von Nostalgie und Fortschrittsgeist im orientalistischen Synagogenbau auch Cyril Reade: The Neue Synagoge on the Orianienburgerstraße. An Oriental Face to a Modern Body. In: ders.: Mendelssohn to Mendelssohn. Visual Case Studies of Jewish Life in Berlin. Bern 2007. S. 121–157. 29 Dieses und die folgenden Zitate nach [Moses M. Haarbleicher]: Geist des Tempels. In: Gotthold Salomon: Kurzgefaßte Geschichte des Neuen Israelitischen Tempels in Hamburg während der ersten 25 Jahre seines Bestehens, nebst Anmerkungen und Beilagen. Hamburg 1844. S. 137.
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6. Fazit
Zunz 1823 für die »angemessene Vereinigung der alten und neuen Synagoge«, also von Orthodoxie und Reform, die er als »Versöhnung zwischen ächter Religiosität des Morgenlandes, und ächter Cultur des Abendlandes« versteht.30 So präsentiert sich das reformorientierte deutsche Judentum architektonisch und rhetorisch als west-östliche Vermittlungsleistung. Damit kommt der Orientalisierung eine doppelte Funktion zu: Sie soll der Behauptung von Eigenständigkeit dienen und zugleich Integration befördern.31 Simonsohn geht davon aus, dass ein Synagogenbau, der sowohl dem orientalischen Ursprung der Juden als auch den Anforderungen der Gegenwart gerecht werde, »sich als eigenthümlich von anderen, ihm fremden, [Gebäuden der Umgebung] absondern, und doch freundschaftliche Aufnahme unter ihnen finden wird.«32 Da die Behauptung von Eigenständigkeit jedoch als Absonderung auch negativ gewertet werden kann, handelt es sich bei dieser west-östlichen Positionsbestimmung um eine Gratwanderung. Die Ambivalenz, die dem deutschen jüdischen Orientalismus grundsätzlich eignet, kennzeichnet auch die Aufnahme der Synagogenarchitektur: Orientalisierende Kultgebäude können einerseits selbstbewusst Eigenständigkeit und Würde markieren, andererseits aber auch Assozia tionen von Separatismus und Reaktionen der Befremdung hervorrufen.33 Vielversprechend ist der Einsatz orientalisierender Stile im Synagogenbau, weil er den faszinierenden Reiz des Morgenlandes ausspielt. Mit diesem Reiz könne man, so die Hoffnung, dem orientalischen Ursprung der Juden eine glanzvolle Gegenwartspräsenz verleihen. Gewagt hingegen scheint die Errichtung orienta lisierter jüdischer Sakralbauten, weil diese zur Bekräftigung des Vorwurfs missbraucht werden können, die Juden seien illoyale Fremdlinge. So vermutet Max Grunwald 1901 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, die zumeist nichtjüdischen Architekten hätten mit ihrem Rückgriff auf orientalische Muster »unbewußt Judenfeinden, wie Lagarde, zu Dank gearbeitet.«34 Judenfeindliche Instrumentalisierungen der orientalisierenden Synagogenstile sind in der Tat nachweisbar. Paul de Lagarde lässt 1881 verlauten, die Juden betonten ihre Fremdheit durch den Styl ihrer Synagogen alle Tage selbst auf auffälligste Weise. Was soll es bedeuten, Ansprüche auf den Ehrennamen eines Deutschen zu erheben, und die heiligsten Stätten, die
30 Leopold Zunz: Predigten, gehalten in der neuen Israelitischen Synagoge zu Berlin [1823]. Berlin 1846. S. vii. 31 Die Leipziger Illustrirte Zeitung etwa zeigt sich 1864 begeistert, dass der neue Synagogenbau in Berlin »sowohl eine der ersten Zierden Berlins als auch ein rühmliches, für alle Zeit bleibendes Denkmal der Intelligenz und der Culturhöhe bilden wird, auf welcher die Judenschaft von Berlin sich befindet« (Illustrirte Zeitung 22:43:1107 (1864). S. 204). 32 Simonsohn: Der Neue Tempel in Leipzig, 1858. S. 3. 33 Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 61. 34 Max Grunwald: Wie baut man Synagogen? In: AZJ 65:10 (1901). S. 115–117, hier: S. 116.
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man hat, in maurischem Style zu bauen, um nur ja nicht vergessen zu lassen, daß man Semit, Asiat, Fremdling ist?35
Eine österreichische jüdische Zeitschrift zitiert 1891 den in dieselbe Richtung zielenden Kommentar eines Ingenieurs über die von dem Architekten Ludwig Förster geplante Synagoge in Graz: Wenn es dem israelitischen Volke ernst ist mit der Assimilirung, wenn sich die Juden nicht fortwährend in Gegensatz stellen wollen zu dem christlichen Geist und der europäischen Moral, so hätten sie für ihren Tempelbau in Graz einen Styl wählen sollen, welcher mit den europäischen weniger im Widerspruche steht. Es ist außerordentlich zu bedauern, daß sie einen uns unangenehmen orientalischen Baustyl gewählt haben.36
Zumeist hat sich die bisherige Forschung vor diesem Hintergrund auf die Frage kapriziert, inwiefern der Eindruck von Fremdheit und Alterität, den die orien talisierenden Stile erzeugen, den deutschen Juden letztlich geschadet und ihre Exklusion legitimiert habe.37 Diese Frageperspektive ist nicht nur wegen ihrer teleologischen Implikationen problematisch. Sie erscheint auch insofern revi sionsbedürftig, als sie der strategisch pauschalisierenden und simplifizierend manichäischen Rhetorik von Antisemiten wie Lagarde folgt und damit die komplexen Dynamiken ausblendet, die im 19. Jahrhundert mit orientalistischen (Selbst-)Zuschreibungen verbunden sind. Lagardes summarische Interpretation der orientalisierenden Stile, die er mit dem Asyndeton »Semit, Asiat, Fremdling« zum Ausdruck bringt, ist eben nur eine von vielen möglichen. Die Absichten und Wirkungen, die sich mit den orientalisierenden Stilen im Synagogenbau verbinden, lassen sich nicht auf eine exkludierende Wirkung im Sinne eines othering reduzieren. Vielmehr sind die orientalisierenden Stile so populär und umstritten zugleich, weil sie im historistischen Zeitalter eine schillernde Position im Konkurrenzkampf verschiedener kultureller Genealogien einnehmen. Gotische, klassische, romanische, orientalische Stile kommunizieren verschiedene Auffassungen davon, wie es um den Charakter bzw. das Wesen der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft bestellt ist. Hinter der das 19. Jahrhundert bestimmenden Frage »In welchem Style sollen wir bauen?«38 verbergen sich Fragen kultureller Sinnstiftung: Wer sind wir? Woher 35 Paul de Lagarde: Die Stellung der Religionsgesellschaften im Staate. In: ders.: Deutsche Schriften. Bd. 2. Göttingen 1881. S. 17–36, hier: S. 23. 36 Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 1:30 (1891). S. 548. Der Redakteur der Zeitung hält dagegen, dass man es Antisemiten nie recht machen könne und fügt hinzu, der Vorschlag für einen orientalisierenden Synagogenbau sei im Übrigen angenommen worden. 37 Vgl. stellvertretend für viele Suggestionen dieser Art Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 62: Die »jüdische Gemeinde glaubte es sich leisten zu können, mit diesen Stilformen auftreten zu können. Daß dies ein Irrtum war, werden die Debatten über die Verwendung orientalischer Stile an Synagoge des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts zeigen.« 38 Heinrich Hünsch: In welchem Style sollen wir bauen? Karlsruhe 1828.
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6. Fazit
kommen wir? Auf welchen Ursprung können wir uns zurückbeziehen? Wie verhält sich unser Ursprung zu anderen nationalkulturellen Ursprüngen? Und wie ist das gegenwärtige Verhältnis zu diesen Ursprüngen zu bestimmen? Die Streitfrage, ob die Juden als unverbesserliche Fremde zu betrachten seien oder Teil der deutschen Nation sein könnten, ist eine besonders plakative Variante dieser Gemengelage verschiedener genealogischer (Selbst‑)Zuschreibungen. Um die Positionen präzise bestimmen zu können, die deutsche Juden in diesem Diskurs einnehmen, ist es unabdingbar, dem breiten Möglichkeitsspektrum des Orientalismus gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die Versuche, den Charakter und Ursprung der Juden architektonisch als einen morgenlän dischen zur Geltung zu bringen, führen in ein Feld orientalistischen Wissens, das sich damals zunehmend ausdifferenziert. So ist der Einsatz orientalisierender Stile im Synagogenbau durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch eng auf die wechselnden Moden des Orientalismus bezogen, die jeweils bestimmte A spekte, Räume und Zeiten des Orients mit je eigenen ästhetischen und politischen Konnotationen privilegieren: zunächst Ägypten, dann al-Andalus, schließlich Ba bylon. Im frühen 19. Jahrhundert werden – vor dem Hintergrund der Ägyptomanie und der damals üblichen Vorstellung vom Aussehen des Jerusalemer Tempels – einige Synagogen mit ägyptisierenden Stilelementen versehen. Auch das verfügbare Zuschreibungsrepertoire unterstützt diese Stilwahl. Man sucht mit ägyptisierenden Formen architektonisch der Zweckbestimmung dieser Gebäude für jüdische Gemeinden Rechnung zu tragen, weil Festigkeit, Ruhe, Alter und Düsternis bis hin zu Resistenz und Rohheit sowohl den Juden als auch den Ägyptern zugeschrieben werden.39 Um die Jahrhundertmitte erlangt indes ein anderer Orient Prominenz. Befördert durch die romantische Spanienbegeisterung werden nun arabisch-maurische Stile im Synagogenbau populär.40 Im Zuge der aufsehenerregenden Ausgrabungen in Mesopotamien finden schließlich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch assyrische Elemente Eingang in die Synagogenarchitektur.41 Die Privilegierung speziell dieser drei Orientkulturen folgt zwar den allgemeinen Moden des europäischen Orientalismus, gibt aber auch zu erkennen, inwiefern bei aller Abhängigkeit von umfassenderen Entwicklungen eine spezifisch jüdische Ordnung des Orients zu veranschlagen ist. Alle drei Orientkulturen – Ägypten, al-Andalus, Babylon – zeichnen sich durch je besondere, 39 Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 58–85; Friederike Werner: Ägypten als Inbegriff des Erhabenen in der Baukunst. In: Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimaginationen von der Antike bis heute. Hg. von Wilfried Seipel. Wien 2000. S. 83–104; zum internationalen Kontext Diana Muir Appelbaum: Jewish Identity and Egyptian Revival Architecture. In: Journal of Jewish Identities 5:2 (2012). S. 1–25. 40 Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 251–309; Hannelore Künzl: Islamische Stilelemente im Synagogenbau des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u. a. 1984. 41 Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 304 f.
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spannungsreiche Beziehungen zur jüdischen Geschichte aus, die sie für Aktualisierungen im Zeichen eines deutschen jüdischen Orientalismus besonders interessant machen, während beispielsweise das fernöstliche Asien und Persien in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle spielen. Der Verweis auf bestimmte Orientkulturen eröffnet ein jeweils spezifisches Anspielungspotential, das sich erst aus dem historischen Wissenshorizont der Zeit erschließt. Das soll nun anhand des sogenannten maurischen Stils genauer nachgewiesen werden, der im 19. Jahrhundert, wie das Wochenblatt des Architektenvereins zu Berlin 1867 vermerkt, »als der specifisch jüdische« bei besonders vielen Synagogen zur Anwendung kommt.42 Während wiederholt in Zweifel gezogen worden ist, ob der maurische Stil speziell das jüdische Sefarad aufrufe oder nicht vielmehr die Juden pauschal als Orientalen ausgrenze,43 wird im Folgenden nachzuweisen sein, dass er für die meisten damaligen Zeitgenossen als gotischsarazenischer Synthesestil über die assoziative Brücke des Alhambra-Palasts den historischen Zeit-Raum Sefarad evoziert, der als ein Modellfall west-östlicher Vermittlung für deutsche jüdische Belange in Anspruch genommen werden kann. Die Mode maurischer Synagogen insbesondere im deutschsprachigen Raum verdankt sich der romantischen Spanienbegeisterung, die im frühen 19. Jahrhundert Europa erfasst. Die frühneuzeitliche leyenda negra, die Spanien bis weit ins 18. Jahrhundert als ein Land des religiösen Fanatismus und der Intoleranz schwarzgemalt hatte, bekommt zunehmend Konkurrenz durch eine Aufwertung des vorinquisitorischen mittelalterlichen Spanien als Blütezeit der Wissenschaften und Künste und als Zeitalter der Toleranz;44 die Alhambra wird im frühen 19. Jahrhundert »als das eigentliche Symbol des arabischen Spaniens […] zu einem der Sinnbilder romantischer Phantasie.«45 Dieses Sinnbild wird sowohl textlich als auch bildlich vermittelt. Aufwändige Kupferstichwerke präsentieren den Palast in allen Details seiner Pracht einem europäischen Publikum. James Cavanah Murphy macht mit den Arabian Antiquities of Spain 1815 den Anfang, es folgen John Frederick Lewis’ Sketches and Drawings of the Alhambra sowie die Zitiert nach Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 290. Ivan Davidson Kalmar: Moorish Style. Orientalism, the Jews, and Synagogue Architecture. In: Jewish Social Studies 7 (2001). S. 68–100, hier: S. 70; ähnlich bereits Stefan Koppelkamm: Der imaginäre Orient. Exotische Bauten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa. Berlin 1987. S. 100. 44 Werner Brüggemann: Die Spanienberichte des 18. und 19. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Formung und Wandlung des deutschen Spanienbildes. In: Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens. Bd. 12. Hg. von Johannes Vincke. Münster 1956. S. 1–146; Ulrike Hönsch: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum »Hesperischen Zaubergarten«. Tübingen 2000. 45 Brüggemann: Die Spanienberichte, 1956. S. 70. Vgl. zum Alhambra-Palast und seiner Rezeption Schätze der Alhambra. Islamische Kunst aus Andalusien. Ausstellungskatalog Haus der Kulturen der Welt. Berlin 1995. 42 43
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6. Fazit
Monuments arabes et moresques d’Espagne von Girault de Prangey und in den Jahren 1842 bis 1845 die Plans, Elevations and Details of the Alhambra von Owen Jones.46 Der amerikanische Schriftsteller Washington Irving veröffentlicht 1832 seine höchst erfolgreichen Reiseskizzen unter dem Titel The Alhambra. Atmosphärische und strukturelle Anleihen bei Tausendundeine Nacht nehmend, verwebt Irving Tagebuchnotizen und Erinnerungen mit Aufzeichnungen mündlicher Erzählungen (»legends«) zu pittoresken Szenen. Als romantisch-einsamer Dichter führt er seine Leser in Reminiszenzen, träumerischen Spaziergängen und historischen Evokationen durch die verlassenen Gemäuer des Alhambra-Palastes in ein romantisch-ritterliches maurisches Spanien der Vergangenheit.47 Als romantisches Sinnbild Spaniens gerät die Alhambra zu einer Ikone, in der sich heterogene Elemente – christliche, muslimische, jüdische und römische, sarazenische, gotische – synthetisieren lassen.48 Infolge dieser textlich und bildlich beförderten Alhambra-Begeisterung findet der sogenannte maurische Stil Eingang in die historistische Architektur des 19. Jahrhunderts. Empfohlen wird er allerdings nicht für repräsentative Gebäude. Vielmehr findet er für exklusive Phantasiebauten wie Gartenschlösschen in fürstlichen Parkanlagen sowie besonders nach der Reichsgründung in Deutschland auch für großstädtische Vergnügungsstätten wie Kaffeehäuser, Bäder, Zoos, Wintergärten, Panoramen und Varieté-Theater Verwendung.49 Vor diesem Hintergrund muss es als eine durchaus heikle Angelegenheit erscheinen, den maurischen Stil für jüdische Sakralbauten zu nutzen.50 So warnt die Wiener Allgemeine Bauzeitung 1885, dass man mangels eines ›eigentlichen‹ Synagogenstils zwar »die Elemente bunten maurischen Styles« für Synagogen verwenden könne: Es wäre jedoch weit gefehlt, diesen Styl nunmehr als allgemeinen Synagogen-Styl zu betrachten. In Frankreich und speziell in Paris, wo der maurische Styl mit besonderer Vorliebe für gewisse Gebäude ausgesprochen weltlich heiteren Charakters angewendet wird, würde eine
46 Koppelkamm: Der imaginäre Orient, 1987. S. 61–76; Michael Scholz-Hänsel: »Antiguedas arabes de Espana«. Wie die einst vertriebenen Mauren Spanien zu einer Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert verhalfen. In: Europa und der Orient 800–1900. Hg. von Gereon Sievernich und Henrik Budde. Gütersloh/München 1989. S. 368–382. 47 Washington Irving: The Complete Works. Hg. von Richard Dilworth Rust. Bd. 14: The Alhambra [1832]. Hg. von William T. Lenehan und Andrew B. Myers. Boston, MA 1983. 48 Brüggemann: Die Spanienberichte, 1956. S. 75. 49 Uta Caspary: Alhambra in der Mark. Maurische Architektur in Berlin und Brandenburg im 19. Jahrhundert. In: Brandenburgische Denkmalpflege 15 (2006). S. 5–15; Koppelkamm: Der imaginäre Orient, 1987. S. 21, S. 26 und S. 91. 50 Zumal zum Beispiel die Architekten der 1861 eingeweihten neuen Synagoge in Stuttgart tatsächlich die von Karl Ludwig von Zanth nach dem Vorbild der Alhambra gestaltete Schlossanlage des Königs von Württemberg Wilhelm I. zum Vorbild nehmen, die sich in direkter Nähe befindet (vgl. Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland, 1981. Bd. 1. S. 276–280).
6.3 Maurischer Styl
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im maurischen Styl ausgeführte Synagoge, in oft unliebsamer Weise an Gebäude oben erwähnter Bedeutung erinnernd, den Eindruck eines Profanbaues machen.51
Die Anwendung des maurischen Stils im Synagogenbau ist mithin umstritten und hat erheblichen Rechtfertigungsbedarf. Warum aber wird er dann verwendet? In Rechtfertigungen dieser Wahl werden die verschiedensten Argumente vorgebracht, etwa die Verwandtschaft zwischen Arabern und Juden,52 die Kompensationsfunktion mangels materieller Vorbilder für einen genuin jüdisch-antiken Baustil, oder auch der allgemeine Verweis auf den orientalischen Ursprung der Juden. Besonders naheliegend aber scheint für die Zeitgenossen die Assoziation eines west-östlichen Grenzraums als Begründung, warum gerade der maurische Stil den jüdischen Charakter von Synagogenbauten anzeigen soll. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Vermutungen darüber angestellt, ob in der morgenländischen Architektur der ›Sarazenen‹ der Ursprung der Gotik liege;53 bildliche Darstellungen der Alhambra verleihen diesen Vermutungen Plausibilität und assoziative Evidenz.54 So begründet Max Grunwald seine Empfehlung des gotischen Stils für Synagogenbauten nicht etwa damit, dass er besonders deutsch sei, sondern damit, dass der Gotik ein »dem Wesen des Judenthums verwandter west-östlicher Charakter« eigne.55 Immer wieder wird die allgemeine Spanienfaszination aus dem orientalisch-okzidentalischen Zwischenstatus der Region hergeleitet. Für die Romantiker bezieht die spanische Poesie ihren Reiz nicht allein aus der Idealisierung des mittelalterlichen Rittertums, sondern – so August Wilhelm Schlegel 1808 in einer Vorlesung – aus »der Verbindung von hohem begeistertem Ernst in Gefühlen, die eigentlich aus dem Norden abstammen, mit dem lieblichen Anhauch des Südens und dem blendenden Pomp des Orients«.56 Adolf von Schack, der ausgiebig den Orient sowie Südwesteuropa bereist und mit seinen Schriften über die Literatur und Kultur der Araber auf der Iberischen Halbinsel die romantische Spanienfaszination in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt, fasst 1888 begeistert seine Erinnerungen an Granada zusammen:
51 Julius Deutsch: Die Synagoge in Cöln. In: Allgemeine [Wiener] Bauzeitung 50 (1885), S. 74 f. und T. 49–52. 52 So etwa [Louis Jacobi]: Die neue Synagoge in Homburg. In: Der Taunusbote 5:47–49 (1866). Unpaginiert. Vgl. zur Identifikation des Verfassers Heinz Grosche: Geschichte der Juden in Bad Homburg vor der Höhe, 1866 bis 1945. Frankfurt am Main 1991. S. 17. 53 Koppelkamm: Der imaginäre Orient, 1987. S. 62; Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Bd. 1 (1981). S. 237–239. 54 Tonia Raquejo: The »Arab Cathedrals«. Moorish Architecture as Seen by British Travellers. In: The Burlington Magazine 128:1001 (1986). S. 555–563. 55 Max Grunwald: Wie baut man Synagogen? In: AZJ 65:10 (1901). S. 115–117, hier: S. 117. 56 August Wilhelm von Schlegel: Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Vorlesungen. Bd. 2. Heidelberg 21817. S. 165. Vgl. auch Friedrich Schlegels Vorlesungen von 1812 über die Geschichte der alten und neuen Literatur (KFSA 6. S. 262 f.).
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6. Fazit
Gibt es noch einen anderen Ort, wo sich so die Vegetation des Südens mit der des Nordens vereinigt, wo zugleich der Genius des Orients sich in den Palmenwipfeln wiegt und die Elfen des Abendlandes unter Erlenbüschen ihren Reigen ziehen? Aber das Herrlichste habe ich noch nicht erwähnt, die Alhambra mit ihrem Löwenhof, ihren von schlanken Säulchen getragenen Hallen und ihren Balkonen, von denen der Blick bald in tiefe stromdurchrauschte Schluchten hinab, bald zu den Schneebergen der Sierra Nevada hinübergleitet.57
Als ein solcher orientalisch-okzidentalischer Grenzraum scheint das im Monument der Alhambra symbolisierte Spanien vielen Zeitgenossen intuitiv besonders gut zu den Juden in der Diaspora zu passen. Eine Illustrierte etwa erklärt 1862 zur Stuttgarter Synagoge: Es galt vornämlich für die Israeliten als Abkömmlinge des Orients und nunmehrige Bewohner des Occidents, die in beiden Himmelsstrichen vorkommenden Tempelformen in eine besondere, von neutralem Charakter, zu verschmelzen; zu diesem Zweck erschien der maurische Baustyl als der geeignetste.58
Der maurische Stil wird als ein west-östlicher Verschmelzungsstil vorgestellt, der die zentrale Charakteristik der Juden – »Abkömmlinge des Orients und nunmehrige Bewohner des Occidents« zu sein – auszudrücken vermag. Der maurische Stil scheint, anders gesagt, besonders geeignet für die Gestaltung jüdischer Gotteshäuser, weil al-Andalus als west-östlicher Grenzraum den west-östlichen Grenzstatus der Juden in Europa widerspiegele und an ihre Rolle als Vermittler orientalischen Wissens nach Europa erinnere. Diese Rolle wird seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder hervorgehoben (vgl. z. B. DV 1781, 34 f.). Die Juden erscheinen als besondere Agenten des west-östlichen Wissenstransfers, den die arabische Eroberung der Iberischen Halbinsel nach sich gezogen hat. In Verbindung mit dem Orientalismus, Hispanismus, Mittelalterkult und anderen Diskursen der Zeit stellt der Sefardismus im 19. Jahrhundert insbesondere in England und Deutschland zwei politische Systeme – den ethnischen und religiösen Pluralismus der convivencia unter islamischer Herrschaft und Alfonso X. sowie die Vertreibung und Inquisition unter katholischer Herrschaft – als historische Modelle zur Verhandlung aktueller Fragen bereit.59 Im Zuge der allgemeinen romantischen Faszination für das mittelalterliche Spanien avanciert das ›goldene Zeitalter‹ jüdischer Philosophen und Dichter in Sefarad im 19. Jahrhundert zu einem attraktiven historischen Modell für die Versuche deutscher Juden, ihre Bezogenheit auf einen orientalischen Ursprung mit der Statuierung von Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft zu vermitteln. Adolf Friedrich Graf von Schack: Ein halbes Jahrhundert. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Bd. 1. Stuttgart/Leipzig 1888. S. 345. Vgl. ähnlich ebd. Bd. 2. S. 294 f. 58 Freya. Illustrirte Blätter für die gebildete Welt 2 (1862). S. 59. 59 Yael Halevi-Wise: Introduction: Through the Prism of Sepharad. Modern Nationalism, Literary History, and the Impact of the Sephardic Experience. In: Sephardism. Spanish Jewish History and the Modern Literary Imagination. Hg. von Yael Halevi-Wise. Stanford, CA 2012. S. 1–32. 57
6.3 Maurischer Styl
523
Diese Modellfunktion Sefarads für deutsche Juden ist, angestoßen durch einen Aufsatz von Ismar Schorsch,60 in den vergangenen Jahrzehnten intensiv beforscht worden.61 Sie schlägt sich im 19. Jahrhundert in verschiedenen Bereichen vom religiösen Ritus bis zur Belletristik nieder,62 nachdem sich eine zunehmende Wertschätzung der sefardischen Kultur bereits in der preußischen Haskala des ausgehenden 18. Jahrhunderts abgezeichnet hatte.63 Während die polnischen Juden einer unbewussten und hybriden halb-orientalischen Rückständigkeit geziehen werden (Kap. 3.1.2), gelten die sefardischen Juden als Agenten einer bewussten kulturellen west-östlichen Vermittlung.64 Damit bieten sie für das eigene Traditionsverhalten ein glänzendes Vorbild, das im 19. Jahrhundert mittels prächtiger Synagogenbauten im sogenannten maurischen Stil auch repräsentative Funktionen erfüllt. So unterstreicht die Pester Allgemeine Illustrirte Judenzeitung 1861 mit einem Vergleich zwischen den Migrationsbewegungen der ›Mauren‹ und der Juden, dass der von Simonsohn für die Leipziger Synagoge gewählte maurische Stil besonders geeignet sei: Harmonirt dieser doch so innig mit dem jüdischen Ritus! Wie die erobernden Mauren ihre Kunst, eine morgenländische Blume, mit sich nach Europa führten und zur höchsten Blüthe 60
Ismar Schorsch: The Myth of Sephardic Supremacy. In: LBI YB 34 (1989). S. 47–66. John M. Efron: German Jewry and the Allure of the Sephardic. Oxford, Princeton, NJ 2016. Vgl. auch Carsten Schapkow: Vorbild und Gegenbild. Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur, 1779–1939. Köln u. a. 2011; Ned Curthoys: Diasporic Visions, Taboo Memories. Al-Andalus in the German-Jewish Imaginary. In: Arena Journal 33/34 (2009). S. 110–138. 62 Jonathan Skolnik: Jewish Pasts, German Fictions. History, Memory, and Minority Culture in Germany, 1824–1955. Stanford, CA 2014, bes. S. 13–21; Jonathan M. Hess: Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity. Stanford, CA 2010. S. 26–71; Florian Krobb: Kollektiv autobiographien, Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002; Carsten L. Wilke: Ludwig August Frankl als historischer Mythograph der Marranen. In: Ludwig August Frankl (1810–1894). Eine jüdische Biographie zwischen Okzident und Orient. Hg. von Louise Hecht. Köln u. a. 2016. S. 221–240; Mark H. Gelber: The Noble Sephardi and the Degenerate Ashkenazi in German-Jewish and German-anti-Semitic Consciousness. Heine, Langbehn, Chamberlain. In: Confrontations / Accommodations. German-Jewish Literary and Cultural Relations. Hg. von Mark H. Gelber. Tübingen 2004. S. 45–56. 63 Andrea Schatz: Returning to Sepharad. Maskilic Reflections on Hebrew in the Diaspora. In: Sepharad in Ashkenaz. Medieval Knowledge and Eighteenth-Century Enlightened Jewish Discourse. Hg. von Resianne Fontaine u. a. Amsterdam 2007. S. 263–277; ferner Shmuel Feiner: Sefarad dans les représentations historiques de la Haskala – entre modernisme et conservatisme. In: Mémoires juives d’Espagne et du Portugal. Hg. von Esther Benbassa. Paris 1996. S. 239–251; Lois C. Dubin: The Rise and Fall of the Italian Jewish Model in Germany. From Haskalah to Reform, 1780–1820. In: Jewish History and Jewish Memory. Essays in Honor of Yosef Hayim Yerushalmi. Hg. von Elisheva Carlebach u. a. Hanover, NH 1998. S. 271–295. 64 Als sefardische Juden werden die Juden bezeichnet, die im Mittelalter auf der Iberischen Halbinsel lebten und sich nach der Vertreibung im Mittelmeerraum sowie in nordeuropäischen Handelsstädten wie Hamburg und Amsterdam ansiedelten. Vgl. Jonathan Ray: After Expulsion. 1492 and the Making of Sephardic Jewry. London/New York, NY 2013; Yosef Kaplan: An Alternative Path to Modernity. The Sephardi Diaspora in Western Europe. Leiden u. a. 2000. Vgl. auch Hirsch Jakob Zimmels: Ashkenazim and Sephardim. Their Relations, Differences, and Problems as Reflected in the Rabbinical Responsa [1958]. London 1976. 61
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6. Fazit
ausbildeten, so trug auch das jüdische Volk, freilich mäßigern Sinnes, seinen Glauben mit den mannigfachen, fremdartigen Gebräuchen und Formen herüber in das Ausland und bewahrte ihn fest und unerschütterlich.65
In Bemerkungen wie diesen scheint al-Andalus als ideales Modell west-östlichen Transfers auf, das deutschen Juden im Zeitalter der Emanzipation als Vorbild dienen kann. So wird im späten 19. Jahrhundert zunehmend auch explizit auf das sogenannte goldene Zeitalter jüdischer Kultur in Spanien verwiesen, wenn es gilt, den maurischen Stil zu rechtfertigen. Der österreichische jüdische Architekt Wilhelm Stiassny etwa erklärt seine Verwendung orientalisierender Elemente um 1900 wiederholt damit, dass diese an die längst vergangene Zeit gemahnen sollten, in welcher im fernen Südwesten dieses Welttheils unsere Glaubensgenossen als freie Bürger inmitten ihrer nichtjüdischen Mitbürger in Eintracht und Frieden mit denselben gelebt und als nützliche, angesehene Glieder des Staates gewirkt haben. An eine Zeit, in welcher es den Juden vergönnt war, als gleichberechtigte Streiter im edlen Wettkampfe auf den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft hervorragende Plätze einnehmen zu können. An eine Zeit, in welcher sich die Juden unvergängliche Verdienste auf den Gebieten der Astronomie und Mathematik, der Physik, der Naturwissenschaften und der Medicin, der Poesie und der schönen Künste erworben haben.66
Indem der maurische Stil die historische Blütezeit jüdischer Kultur auf der Iberischen Halbinsel zitiert, macht er aus den Synagogen ein politisches Statement. Das Modell der convivencia aufrufend, vermitteln jüdische Gotteshäuser, die an die Alhambra erinnern, die Forderung nach vollständiger Teilhabe an der Gesellschaft. Im Kontext des Orientalismus hat der maurische Stil für die Verhandlung jüdischer Positionen in der Gegenwart eine genealogische Verweisfunktion, insofern er die Rolle der Juden als west-östliche Vermittler in die Gegenwart verlängert. Mit dem maurischen Stil als Verschmelzungsstil können die Juden ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur und Gesellschaft statuieren und zugleich ihre Bezogenheit auf den orientalischen Ursprung des Judentums manifestieren. Damit ist er mit der zentralen Denkfigur des modernen jüdischen Traditionsumbaus kompatibel. Dass die Interpretation des maurischen Stils als Ausdruck europäischer Zugehörigkeit und orientalistischer Bezogenheit indes keineswegs zwingend ist, wie besonders drastisch Lagardes Invektive zeigt, vergegenwärtigt wiederum die Komplexität jüdischer Positionierungen im Feld des deutschen Orientalismus, der sich als operatives Spannungsfeld zwischen Reminiszenz und Essenz, Inklusion und Exklusion, Selbst- und Fremdzuschreibung darstellt. Carmel. Allgemeine Illustrirte Judenzeitung 2:18 (1861). S. 142. Hier anlässlich der Einweihung der neuen Synagoge in der Wiener Neustadt. Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift. Centralorgan für die gesammten Interessen des Judenthums 12:39 (1902). S. 630. Vgl. zu dem Architekten jetzt materialreich Satoko Tanaka: Wilhelm Stiassny (1842–1910). Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität. Dissertation Wien 2009. 65
66
6.3 Maurischer Styl
525
Unter dem steigenden Druck des Antisemitismus und dem Eindruck des Zionismus wird der deutsche jüdische Balanceakt eines diskursiven west-östlichen Grenzgangs um 1900 mit neuem Nachdruck als illusionär aufgefasst. So richtet sich Moritz Goldstein 1912 in seinem aufsehenerregenden Aufsatz Deutsch-jüdischer Parnaß, der die sogenannte Kunstwart-Debatte auslöst,67 warnend an die Verfechter der Assimilation: Am schlimmsten aber, wenn du dich damit tröstest, daß die Abneigung jenen andern gelte, die da mauscheln, mit ihren Preziosen protzen, sich breit und laut machen und, kurz: das Östlich-Allzuöstliche nicht ablegen können. Du irrst, mein Freund, du selber bist gemeint. Dir eben, trotz deines europäischen Gebarens und Aussehens, verzeiht man den Juden nicht.
Dass gebildete deutsche Juden für sich eine west-östliche Position beanspruchen und sich auf diesem Wege gegen die ›östlich-allzuöstlichen‹ sogenannten Ostjuden abzugrenzen suchen, ist in Goldsteins Sicht eine Strategie, die bei ihren Gegnern nicht greift. Zugehörigkeit wird von den anderen definiert: »wir mögen das deutsch nennen, die andern nennen es jüdisch, sie hören das ›Asiatische‹ heraus, sie vermissen das ›germanische Gemüt‹«.68 Auf der Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma fordert Goldstein, deutsche Juden mögen sich ausdrücklich als solche bekennen.69 Bei anderen Zeitgenossen bleiben demgegenüber Modelle west-östlicher Vermittlung attraktiv. Eine Stellungnahme Gustav Landauers von 1915 lässt das dadurch innerhalb des deutsch-jüdischen Orientalismus entstehende Konfliktfeld hervortreten: Innere Entfremdung von Deutschland steht nicht auf meinem Programm; und z. B. der West-Östliche Divan des Deutschen und Europäers Goethe steht meinem Herzen unsäglich näher als jedes verfälschende Entweder-Oder, mit dem ein Zionist mich zwischen Deutsch und Jüdisch, Europäisch und Orientalisch wählen heißt.70
Unter Rückgriff auf Goethes Divan bekräftigt Landauer hier noch einmal die Strategie, die sich als maßgeblich für jüdische Selbstpositionierungen im Diskurshorizont des Orientalismus um 1800 erwiesen hat. Sie besteht darin, ein Bekenntnis deutscher Zugehörigkeit mit einer historisch differenzierten und ästhe Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Hg. von Julius H. Schoeps u. a. Berlin/Wien 2002. 68 Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Der Kunstwart 25:11 (1912). S. 281–294, hier: S. 286. Vgl. auch die rückblickende Evaluation von Moritz Goldstein: German Jewry’s Dilemma. The Story of a Provocative Essay. In: LBI YB 2 (1957). S. 236–254. 69 Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß, 1912. S. 291. 70 Gustav Landauer: Ein Brief Gustav Landauer’s [an Siegried Lehmann, vom 30. November 1915]. In: Der junge Jude 2 (1929). S. 114 f., hier S. 115. Zu Landauers intensiver Goethe-Rezeption vgl. zuletzt Hanna Delf von Wolzogen: »… immer wieder Goethe« – Zu Gustav Landauers anarchistischer Goethe-Lektüre. In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literaturund Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Mark H. Gelber u. a. Tübingen 2009. S. 181–192. 67
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6. Fazit
tisch nuancierten Bezogenheit auf den morgenländischen Ursprung der Juden zu verbinden. So prekär sie ist, so nachhaltig bestimmt sie doch das Diskursverhalten jüdischer Akteure im deutschsprachigen Raum.71 Diesen Zusammenhang zwischen der deutschen jüdischen Kulturgeschichte und dem Orientalismus zu verstehen, gehört zu den Aufgaben einer Literaturgeschichtsschreibung, die die kulturelle und sprachliche Komplexität und Heterogenität ihres Untersuchungsgegenstands anerkennen und sichtbar machen will. Die vorliegende Arbeit hat dazu einen Beitrag geliefert.
71 Sinnfällig wird das beispielsweise an der Anthologie Westöstliche Dichterklänge. שם ויפת. Jüdisches Lesebuch. Hg. von Leo Deutschländer. Breslau 1918.
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3. Abkürzungen und Siglen Allgemeine Abkürzungen bes. besonders bzw. beziehungsweise d. h. das heißt Jb. Jahrbuch n. Chr. nach Christus n. d. Z. nach der Zeitrechnung u. a. unter anderem / unter anderen UP University Press v. Chr. vor Christus v. d. Z. vor der Zeitrechnung YB Year Book / Yearbook z. B. zum Beispiel
Zeitschriften AZJ DVjs GJb GQ GRM HJb IASL JQR LBI Bulletin LBI YB PMLA SJb ZfdPh ZfG ZRGG
Allgemeine Zeitung des Judenthums Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Goethe-Jahrbuch (auch unter abweichenden Titeln) The German Quarterly Germanisch-Romanische Monatsschrift Heine-Jahrbuch Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur The Jewish Quarterly Review Bulletin des Leo Baeck Instituts Leo Baeck Institute Yearbook Publications of the Modern Language Association of America Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte
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3. Abkürzungen und Siglen
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Bibelausgaben Sofern kein gesonderter Quellennachweis erfolgt, wird der hebräische Wortlaut der Bibel zitiert nach: Biblia Hebraica Stuttgartensia. תורה נביאים וכתובים. Hg. von Karl Elliger und Wilhelm Rudolph. Stuttgart 51997. Der Wortlaut der deutschen Übersetzungen folgt, sofern nicht anders angegeben: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel, revidiert 2017. Taschenausgabe mit Apokryphen. Stuttgart 2017. Mit Kurzangabe wird eine historische Ausgabe der Lutherübersetzung zitiert: Evangelische Original-Bibel, 1741. Luther, Martin (Übers.): Evangelische Deutsche Original-Bibel. Das ist: Die gantze heilige Schrift Altes und Neues Testaments, dergestalt eingerichtet, daß der hebräische oder griechische Grundtext und die deutsche Übersetzung neben einander erscheinen […]. 2 Bde. Züllichau 1741.
Werkausgaben und Einzelwerke BdL CM
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Abbildungsnachweise Abb. 1 und Abb. 2: Buchseiten aus Mendelssohns Tora-Übersetzung ()ספר נתיבות השלום. 5 Bde. Berlin 1780–1783. Staatsbibliothek zu Berlin, Mendelssohn-Sammlung, Signatur: 168315. Abb. 3: Schwarz-Weiß-Fotografie von Caroline Barduas verschollenem Gemäldeporträt David Friedländers (1820/21). © Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Inv.-Nr.: CJF,4,0946,WA. Abb. 4 und Abb. 5: Frontispiz und Titelblatt sowie Bildtafeln aus Anton Theodor Hartmann: Die Hebräerin am Putztische und als Braut. 3 Bde. Berlin 1809/1810. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Bi 5080. Abb. 6: Ausschnitt Bildtafel Nr. XII aus: Carl August Böttiger: Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin. Bd. 2. Leipzig 21806. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Rn 2412. Abb. 7: Moses Abramson der Jüngere: Hirschel Lewin (Hirschel Löbel), Porträtkupfer, 1798. Salli Kirschstein: Jüdische Graphiker aus der Zeit von 1625–1825. Berlin 1918. Tafel XXV. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, Signatur: 36 B 112. Abb. 8: Johann Friedrich Bause nach einer Zeichnung von Joseph Ignaz Span: Ahmed Resmî Effendi, Porträtkupfer, 1763. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Porträtsammlung, A31, Inv.-Nr. I 26.2. Abb. 9: Moses Samuel Lowe: Lazarus Bendavid, Porträtkupfer, 1806. Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten, mit ihren Selbstbiographien. 2. Sammlung. Hg. und gestochen von Moses Samuel Lowe. Berlin 1806. Vorsatzblatt. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: At 1842. Abb. 10: Wilhelm Arndt: Salomon Maimon, Porträtkupfer, ca. 1792. Titelkupfer zu Salomon Maimon: Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben. Hg. von Karl Philipp Moritz. 2 Bde. Berlin 1792/93. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Av 96–1/2. Abb. 11: Johann Friedrich Bause: Moses Mendelssohn, Porträtkupfer (1772) nach einem Gemälde von Anton Graff (1771). Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Porträtsammlung, A13930, Inv.-Nr. II 3515.1. Abb. 12: Joseph Sebastian Klauber: Ezechiel Landau, Porträt, 1793. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, Abraham Schwadron Portrait Collection, Signatur: Schwad 02 12 221. Abb. 13: [Künstler unbekannt]: Ezechiel Landau und Moses Mendelssohn. Druckgraphik. Vorblatt zu: Josef Ha-Efrati: אלון בכות. Wien 1793. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, Signatur: SR 59 A 3774 C.2. Abb. 14: Peter Haas: Moses und Aaron am Berge Horeb, Kupferstich nach einer Zeichnung von Carl Bach (ca. 1790). Kopfvignette in: Naphtali Herz Wessely: חבור כולל שמונה.שירי תפארת ]…[ עשר שירים. Bd. 2. Berlin 1790/91. S. 1a. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, Signatur: 57 A 1602. Abb. 15: Titelblatt der Zeitschrift Sulamith 1 (1806). Jüdisches Museum Berlin, Bibliothek, Signatur: XI. Sulam 448 Jg. 1–2, Foto: Roman März.
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Abbildungsnachweise
Abb. 16 bis Abb. 18: Titelblatt und Buchseiten aus Salomon Jacob Cohen: מטעי קדם על אדמת צפון. Morgenländische Pflanzen auf nördlichem Boden. Frankfurt am Main 1807. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Bibl. Diez oct. 233. Abb. 19: Titelblatt aus Ludwig Wihl: West-östliche Schwalben. Mannheim 1847. Universitätsbibliothek Augsburg, Signatur: 221/GL9951 W662 W5. Abb. 20: Kupferstich von Ferdinand Ruscheweyh nach Eduard Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon (1832). © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Inv.Nr. 489–128. Abb. 21: Reproduktionsgraphik von unbekannter Hand nach Henri Lehmanns Gemälde La Fille de Jephté (1836), Le Magasin Pittoresque 4 (1836). S. 137 (Bildtafel Nr. 18), Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Ac 3309. Abb. 22: Carl Wildt nach Eduard Bendemanns Gemälde Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem, Lithographie, 1835. Düsseldorf, Museum Kunstpalast, Sammlung der Kunstakademie (NRW), Inv.-Nr. KA(FP)15968D, Bild-Nr.: 60496, Reproduktion: © Museum Kunstpalast, Horst Kolberg, Arthothek. Abb. 23 und Abb. 24: Vignetten aus: Illustrierte Hausbibel. Nach der deutschen Übersetzung von Dr. Martin Luther. Mit über tausend Abbildungen und Karten, Erläuterungen und einer Familien-Chronik. Hg. von Friedrich Pfeilstücker. Berlin 1888. S. 948 und S. 954. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, Signatur: 78 B 187. Abb. 25: Fotografie eines lebenden Bildes nach Eduard Bendemanns Gemälde Gefangene Juden, Wien, Palais Todesco, 1868. Privatarchiv von Mara Reissberger, Wien. Bestand: Lebende Bilder. Abb. 26: Fanny Lewald im Wintergarten ihrer Wohnung in der Matthäikirchstraße 21, Berlin, Fotografie. Biblioteka Jagiellońska, Krakau, Signatur: Slg Autographa: Lewald, Fanny. Abb. 27: Motto aus: H[einrich] Heine: Reisebilder. 2. Teil, 2. Auflage. Hamburg 1831. Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: 19 ZZ 4639–2. Abb. 28 und Abb. 29: Titelblatt und Buchseite aus H[einrich] Heine: Buch der Lieder. Hamburg 1827. Jüdisches Museum Berlin, Bibliothek, Signatur: VIII.1. Heine 52, Foto: Roman März. Tafel I: Eduard Bendemanns Gemälde Gefangene Juden in Babylon (1832). Köln, WallrafRichartz-Museum & Fondation Corboud, Gemäldesammlung, Inv.-Nr. WRM 1939, Zugang 1832. Reproduktion: © Rheinisches Bildarchiv Köln. Tafel II: Henri Lehmanns Gemälde La Fille de Jephté (1836). Mairie-Musée de Bourron-Marlotte (Seine et Marne). Reproduktion: © Yvan Bourhis, Département de Seine-et-Marne. Tafel III: Emile de Cauwers Gemälde Neue Synagoge zu Berlin (1865). Märkisches Museum, Berlin. © Stiftung Stadtmuseum Berlin, Inv.-Nr.: VII 59/463 x. Reproduktion: Hans-Joachim Bartsch, Berlin.
Namensregister Aaron (biblische Figur) 241–244 Abbt, Thomas 75, 77 Abramson, Moses 229 f. Adelung, Johann Christoph 69, 102 f., 185 f., 209 Ahasver (Legendenfigur) 324, 337, 374 f., 380 f., 393 f. Alexis, Willibald 482 f. Alkabez, Schlomo 290 f., 293 Argens, Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’ 246, 250 Arnim, Achim von 489 Arnold, Matthew 190 Ascher, Saul 111–113 Assing, Ottilie 401 Auersperg, Anton Alexander Graf von 467 Babor, Johann 168 f. Bach, Carl 242 f. Balde, Jacob 390 Bamberger, Seligmann Bär 307 Bardua, Caroline 149–151 Basnage, Jacques 377 Bauer, Bruno 17 Bause, Johann Friedrich 229 f., 238 f. Batteux, Charles 65, 90, 140 f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 76 Beck, Karl 318, 325 f., 485 Beer, Michael 17, 446 Beer, Peter 272–274 Behr, Isaschar Falkensohn 42, 106–111, 113 f., 252, 505, 507 Bellermann, Johann Joachim 279, 284 f. Bendavid, Lazarus 56 f., 233–235, 284, 461 Bendemann, Eduard 407–432, 440–456 Berr, Michel 269 Bertuch, Friedrich Justin 170 Biester, Johann Erich 103, 213 Bihr, Heinrich 333
Blair, Hugh 88–90 Blechen, Carl 434 Bock, Moses Hirsch 305 Bodenstedt, Friedrich von 484 Bodmer, Johann Jakob 64, 67 f., 70 f., 74, 75, 78, 96, 104, 300 Boeckh, August 184, 189 Bondi, Mardochai 270 Börne, Ludwig 231, 371, 374 f., 377, 506 Böttiger, Karl August 171–174, 178–181 Breitenbauch, Georg August von 96–98, 103, 105 Breitinger, Johann Jakob 64, 67 f., 70 f., 75 Brend’amour, Richard 426 Brentano, Clemens 489 Breza, Eugen Graf 505 Bri’l, Joel s. Löwe, Joel Buß, Joseph von 17 Büsching, Johann Gustav 489 f. Byron, George Gordon (Lord Byron) 372 f., 378, 383, 390–392, 396, 397, 402–405, 414, 447, 449 f., 505 Calvör, Caspar 16 Campe, Julius 481, 487 Carové, Friedrich Wilhelm 387, 393, 395 Carus, Friedrich August 184 f. Cazes, Romain 413 Christiani, Rudolf 480 Christus s. Jesus Christus Chodowiecki, Daniel 149 Cobelli, Carl 355 Cohen, Hermann 462 Cohen, Salomon Jacob 194, 267, 275–287, 294–302, 306, 309, 339, 508 Cramer, Johann Andreas 126, 137 Cranz, August Friedrich 224 f. Cumberland, Richard 374 f., 377 Curtius, Michael Conrad 75
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Namensregister
David (biblische Figur) 63–65, 75, 88, 126, 131, 137 f., 167, 190, 257, 269, 279–281, 337, 357, 359, 361, 365, 384 Davidsohn, Wolf 232 Deborah (biblische Figur) 66 Delacroix, Eugène 421, 423 Delitzsch, Franz 192 f., 195–199, 342 f. Diderot, Denis 15 f. Dohm, Christian Wilhelm 145, 217–222, 224 Dreves, Leberecht 478 f. Dubno, Salomo 119 Dümmler, Ferdinand 480 Eberhard, Johann August 56 f. Efrati, Joseph Ha- 194, 240–245 Eger, Meier 223 Eichendorff, Joseph Freiherr von 40, 471 Eichhorn, Johann Gottfried 62, 85 f., 90, 116 f., 153, 156, 168–170, 186, 282, 284, 303 Eisenmenger, Johann Andreas 215 Engel, Johann Jacob 115 Engels, Friedrich 384, 387, 391 Ephraim, Benjamin Veitel 104–106, 111, 113, 505 Esther (biblische Figur) 134, 172 Ewald, Heinrich Georg August 7 Euchel, Isaac 119, 210 f., 232, 246–255, 262, 275, 290 f., 349, 508 Faber, Johann Ernst 166 f. Flavius Josephus s. Josephus Fontaine, Jean de la 319 Fontane, Theodor 434 Förster, Ludwig 517 Fränkel, David 255 f., 260–263, 305 Franzos, Karl Emil 43, 236 Friedländer, David 54 f., 57 f., 61, 115, 139–162, 194, 211–213, 220, 223 f., 232, 238–240, 245, 255, 260, 264, 271 f., 284, 328, 367, 419, 501–503, 505, 508 Friedländer, Rebecca 320 Friedrich II. 229 Friedrich Wilhelm I. 219 Friedrich Wilhelm IV. 416, 428 Frohberg, Regine s. Friedländer, Rebecca Fürst, Julius 193 f., 197, 199 f.
Gans, Eduard 25, 461, 479 Gaul, Franz 430 Gedike, Friedrich 246, 250 f. Geldern, Simon van 27 f. Geibel, Emanuel 370 Geiger, Abraham 2, 199, 304, 306, 344–348, 395 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm 79 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 97 f., 103, 105, 301 Goethe, Johann Wolfgang von 7, 40, 62, 94 f., 99 f., 101 f., 106–108, 114, 151, 155, 187, 308, 315, 327, 331 f., 383, 391, 440 f., 470–473, 484, 487, 490, 508, 525 Goldschmidt, Julie 430 Goldsmith, Oliver 104 f. Goldstein, Moritz 31, 525 Goldziher, Ignaz 2 Gomperz-Bettelheim, Caroline von 429 Görres, Joseph 489 Gottsched, Johann Christoph 65–75, 82, 90, 100, 102 Gumpertz, Aron Salomon 29 Graetz, Heinrich 17, 193, 338, 344 Graff, Anton 238 Grattenauer, Carl Wilhelm Friedrich 215 f. Gregorovius, Ferdinand 370 Grün, Anastasius s. Auersperg, Anton Alexander Graf von Grunwald, Max 516, 521 Gruppe, Otto Friedrich 423 Gutzkow, Karl 333, 373 f., 384, 387, 397, 408, 423, 425, 478 f. Haarbleicher, Moses M. 355 f., 360, 367, 369, 515 f. Haas, Peter 242–244 Ha-Cohen, Shmuel Jakob s. Cohen, Salomon Jacob Hagen, August 415 Hagen, Friedrich Heinrich von der 489 f. Halevi, Jehuda 289 f., 365, 378, 381, 383 Halle-Wolfssohn, Aaron s. Wolfssohn, Aaron Hamann, Johann Georg 52–54 Hamilton, William 180 Hammer-Purgstall, Joseph von 328 f., 490 Harmer, Thomas 166
Namensregister
Harms, Claus 391 Hartmann, Anton Theodor 170–181, 203 Hartmann, Moritz 370 f. Haza-Radlitz, Johanna von 417 Hebbel, Friedrich 372 f. Hecker, Lydia 450 Heidenheim, Wolf 278 f., 284 Heine, Heinrich 26–28, 30, 39–41, 190, 304 f., 331 f., 338–341, 374–383, 395, 406, 413, 446, 455, 457–500, 505 f., 508 Heinsius, Theodor 285 Herder, Johann Gottfried 16, 62, 74, 76–99, 101–105, 112 f., 116 f., 122, 124 f., 129–132, 152–158, 165–167, 186 f., 190 f., 196, 202, 214–216, 256, 263, 265–267, 274, 281 f., 284, 287 f., 290 f., 292–294, 296, 312, 314, 329, 342, 414 f., 422 f., 489 Hermann (Legendenfigur) 23, 79 Herodot 186 Herz, Henriette 140 Herz, Marcus 237 Heyne, Christian Gottlob 87 Hiob (biblische Figur) 94, 105, 136, 190, 379–381 Hirsch, Samson Raphael 26, 308 Hoff, Heinrich 341 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 473 Hohenhausen, Elise von 461, 479 Homer 52, 68, 72 f., 86–88, 123, 183, 186, 429, 431 Horaz 63, 75, 84, 96, 102, 119 f., 301, 370 Hübner, Julius 414 Hugo, Victor 390 f. Humboldt, Alexander von 115, 151 Humboldt, Wilhelm von 115, 155 f. Irving, Washington 520 Itzig, Daniel 224 Jacobsohn, Israel 270 Jacoby, Joel 318, 321–326, 348, 384–397, 405 f., 424 f., 455, 502, 505 Jeitteles, Ignaz 260 Jephthas Tochter (biblische Figur) 413–415 Jeremia (biblische Figur) 94, 337, 392, 416–428 Jesaja (biblische Figur) 154, 157, 190, 355
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Jesus Christus (biblische Figur) 132–136, 196, 389, 393, 473 Jiftach s. Jephthas Tochter Johlson, Joseph 160, 308 Jones, Owen 520 Jones, William 187 Joseph II. 217, 239 Josephus 166 f., 272 Jost, Isaak Markus 276, 344 Kant, Immanuel 217, 237, 253 Karsch, Anna Louisa 108–111 Kaulbach, Wilhelm von 412 Kirnberger, Johann Philipp 370 Klauber, Joseph Sebastian 238–240 Klein, Josef 193 Klopstock, Friedrich Gottlieb 67–69, 71–77, 79, 94, 300, 317, 358, 363–365, 487 Knapp, Georg Christian 126, 133 f. Knight, Charles 425 Kolloff, Ernst 415, 420 Koreff, David Johann Ferdinand 477, 484 Kraus, Karl 470 f. Kücken, Friedrich Wilhelm 447, 450 Kugler, Franz 418–420, 422–424, 444 Kuh, Ephraim Moses 42, 109–111, 113 Kühne, Ferdinand Gustav 393 Küttner, Karl August 108 f. Lagarde, Paul de 516 f., 524 Lamech (biblische Figur) 120 Lamennais, Félicité de 385 f. Landau, Ezechiel 237–245 Landau, Moses 268 Landauer, Gustav 525 f. Lange, Johann Peter 390–393 Lange, Samuel Gotthold 63–65, 72 f., 85, 96 Latour, Charlotte de 329 Laube, Heinrich 17, 340, 384, 419 Lavater, Johann Caspar 125 Lazarus (biblische Figur) 380 f., 429 Lehmann, Henri (Heinrich) 413–415 Lehmann, Rudolf 453 Lehndorff, Ernst Ahasverus Heinrich Graf von 229 Lenau, Nikolaus 354, 373 Lessing, Carl Friedrich 407 f., 423
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Namensregister
Lessing, Gotthold Ephraim 29, 50–53, 75–77, 96, 112, 137, 142, 217 Lessing, Karl Gotthelf 53, 137 Lessing, Michael Benedikt 226, 228 Letteris, Max (Meir) 368 Levin, Rahel s. Varnhagen, Rahel Lévi-Strauss, Claude 13 Levy, Ludwig 513 f. Lewald, Fanny 18, 432–456, 508 Lewald, August 10 f., 373 Lewin, Hirschel 229 f. Lewis, John Frederick 519 f. Lichtwer, Magnus Gottfried 51 Löbel, Hirschel s. Lewin, Hirschel Loewe, Carl 461 Löffler, Josias Friedrich Christian 304 Löwe, Joel 117, 304 f., 319 Löwisohn, Salomo 354 Lowth, Robert 83–87, 90 f., 93, 120, 122, 124, 126, 281 f., 284, 303 Luther, Martin (seine Bibelübersetzung) 40, 51, 70, 125, 127, 133 f., 136, 137 f., 149, 151, 196, 289, 304 f., 381, 426 Luzzatto, Ephraim 251 Luzzatto, Mosche Chaim 282 Lyon, Hart s. Lewin, Hirschel Macpherson, James 79, 88 Maillot, Joseph 178 Maimon, Salomon 208, 233–237, 507 Maimonides 151, 240 Martin, Pierre Dominique 178 Martinet, Adam 193–197, 286 Maurer, Friedrich 127, 303, 480 Meil, Johann Wilhelm 127, 407, 496 Meiners, Christoph 222 f. Meisel, Wolf Aloys 270 Meißner, Alfred 340 Mendelssohn, Moses 21, 25, 30, 49–57, 61, 71 f., 75–83, 86 f., 90, 102, 112–144, 151 f., 159, 160 f., 166, 183, 204, 208, 212, 217–220, 231 f., 237–245, 287, 291–294, 302–305, 308, 356, 370, 381, 407, 507 Mendelssohn, Brendel s. Veit, Dorothea Menzel, Adolph 421 Menzel, Wolfgang 17, 395 Mercier, Pierre 341 f. Meyer, Aaron 513
Meyerbeer, Giacomo 17 Michaelis, Johann David 73, 86–88, 126, 129, 132–134, 136 f., 154, 163–169, 189, 195, 201 f., 219–222 Michelangelo 149, 151, 416 f. Milton, John 67 f. Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 164, 246 f. Mose (biblische Figur) 66, 97 f., 120, 125, 149 f., 151, 167, 241–244, 358, 399 Moore, Thomas 392 Moritz, Karl Philipp 54, 99 f., 140 f. Mosen, Julius 374 Mosenthal, Salomon Hermann 357, 360, 367, 369, 429–431 Moser, Moses 375 f., 446, 461, 479, 480, 482 Müchler, Karl 329 Müller, Wilhelm 493 f., 496 Müller von Königswinter, Wolfgang von 467 Müllner, Adolph 483 Mundt, Theodor 401 Murphy, James Cavanah 519 Nathan, Isaac 392 Nebukadnezar II. 370 Nicolai, Friedrich 50, 52, 75, 77, 112, 115, 127, 130, 217, 232–304 Nicolai, Otto 428 Niebuhr, Carsten 165, 167, 174, 176 Oesterley, Carl 414 Opitz, Martin 70 Oppler, Edwin 513 Ortloff, Johann Andreas 233 Ossian (Legendenfigur) 23, 79, 88–90, 94, 429, 431 Paalzow, Christian Ludwig 215 Pappenheimer, Salomon Seligmann 264 f., 284 Paul, Jean 372 Percy, Thomas 88 Philippson, Ludwig 26, 32 f., 190, 303, 305–307, 310–312, 315, 318 f., 325 f., 348, 364 f., 395 f., 401, 409, 425, 446 f., 504 f. Philippson, Phöbus 305, 318 f., 396 Pindar 63, 72 f., 75, 94 f., 102, 119 f., 370 Prangey, Girault de 520
Namensregister
Prémontval, Pierre Le Guay de 52 Prior, Matthew 75 Ptolemaios II. Philadelphos 398 Pückler-Muskau, Hermann von 475 Püttmann, Hermann 417–420, 422, 424 f., 444 Pyrker, Johann Ladislav 363 Quincey, Thomas de 180 f. Raabe, Wilhelm 370 Ramler, Karl Wilhelm 51, 75, 80, 107, 109, 126–129, 144, 252 Rappaport, Moritz 364–369, 504 f., 508 Rebekka (biblische Figur) 172, 419 Reinhard, Karl von 363 Resmî Effendi, Ahmed 229 f. Riesser, Gabriel 400 f. Romanelli, Samuel 253 f. Rosenbaum, Kory Elisabeth 462 Rosenkranz, Karl 192, 387 Rousseau, Jean-Baptiste 123 f. Rousseau, Johann Baptist 490 Rückert, Friedrich 171, 390 f., 484 Ruge, Arnold 467 Saalschütz, Joseph Levin 188 f. Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 180 Salomo (biblische Figur) 96, 167, 190 Salomon, Gotthold 306 Samuel Ibn cĀdiyā 251 Schack, Adolf von 521 f. Schadow, Wilhelm von 408, 414, 428 Schadow, Johann Gottfried 421 Schenkendorf, Max von 473 Scheurlin, Georg 467 Schiller, Friedrich 194, 196, 438, 472 f., 487 Schlegel, August Wilhelm 332, 521 Schlegel, Dorothea s. Veit, Dorothea Schlegel, Friedrich 101, 187 f., 190 f., 332 Schlegel, Johann Adolf 65 Schleiermacher, Friedrich 155, 265 f. Schlomo ben Josua s. Maimon, Salomon Schmerber, Siegmund 425 Schmieder, Christian Gottlob 127 Schopenhauer, Arthur 16 f. Schottländer, Benedict (Baruch) 270 f.
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Schroedter, Adolph 444 Schudt, Johann Jacob 16 Schultens, Albert 87 Schwab, Gustav 466 Schwager, Johann Moritz 219–222 Sebastiano del Piombo 429 Sethe, Christian 480 Sichrovsky, Elise 430 Simonsohn, Otto 514 Skreinka, Lázár 307 f. Sloman, Charles 449 Smets, Wilhelm 475 Span, Joseph Ignaz 229 f. Spazier, Otto 505 Stahr, Adolf 451–453 Steckelmacher, Moritz (Mosche) 402 Steinheim, Salomon Ludwig 314 f., 338, 357–365, 369, 372, 396–406, 425, 436, 455, 502, 504 f., 508 Steinschneider, Moritz 193, 199 Stephan, Martin 197 Stiassny, Wilhelm 524 Stolberg-Stolberg, Luise Gräfin zu 464 f. Streckfuß, Carl 226 Sulamith (biblische Figur) 172, 257 Sulzer, Johann Georg 99 Sulzer, Salomon 357 Symanski, Johann Daniel 329 Taillandier, Saint-René 342 Tasso, Torquato 477 f. Teichs, Adolf 412 Thomson, George 392 Tieck, Ludwig 493 Todesco, Eduard 429–432, 454 Treitschke, Heinrich von 17, 462, 474 f. Turgot, Anne Robert Jacques 89 Tychsen, Oluf Gerhard 137 Uechtritz, Friedrich von 422 Uhland, Ludwig 340, 471 Ungern-Sternberg, Alexander von 372 Uz, Johann Peter 301 Varnhagen, Karl August 304, 320 f., 461 Varnhagen, Rahel 53 f., 57, 159, 304 f., 320 f., 325 f., 348, 461 Vater, Johann Severin 173
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Namensregister
Veit, David 53–57, 159 Veit, Dorothea 54, 140 Veit, Simon 54, 284 Vergil 52, 495 f. Vernet, Horace 418 f. Vieweg, Wilhelm 268 Voß, Christian Friedrich 50 Wachler, Ludwig 191 Wagner, Richard 467 Warnekros, Heinrich Ehrenfried 166 f. Weise, Oskar 506 Weisel, Naphtali Herz s. Wessely, Naphtali Herz Wessely, Emanuel 269 f. Wessely, Naphtali Herz 119 f., 194, 224, 232, 239, 242–244, 267–274, 281 f., 284, 298 f., 309, 358, 364 f., 504 f. Wessely, Salomon 268 Wette, Martin Leberecht de 173 Wieland, Christoph Martin 67 f., 71, 78, 137, 209, 329, 487
Wihl, Ludwig 333–342, 348 Willemer, Marianne von 331 Willkomm, Ernst 372 Winckelmann, Johann Joachim 59, 76, 183 Wohlwill, Immanuel s. Wolf, Immanuel Wolf, Friedrich August 182–186, 189 Wolf, Immanuel 33, 200 f., 343, 479 Wolf, Joseph 224, 255–263 Wolff, Adolf 513 Wolff, Sabattia Joseph 235 Wolfssohn, Aaron 148, 193 f., 240, 305 Wood, Robert 88 Wurm, Albert 438 Zadich, Koppel s. Cobelli, Carl Zelter, Carl Friedrich 151 Zimmermann, Johann Georg 126, 130 f., 293 f. Zunz, Leopold 61, 189 f., 199, 201–203, 306, 404, 479, 515 f.
Sachregister Affekt s. Gefühl Altertum 23, 47, 50, 56, 59–95, 102 f., 112–114, 120, 124, 138–152, 161–205, 245, 271, 274, 292 f., 343, 386 f., 389 f., 415, 419, 442, 491 f. –, klassisches 47, 50, 56, 59, 66, 74, 79, 81 f., 84–87, 122, 124, 138 f., 143, 151, 163 f., 169, 178–192, 195, 200, 203 f., 250, 299–302, 330, 386 f., 389 f., 415 f., 418 f., 424, 429, 491 f. –, griechisches 23, 55–57, 59 f., 62, 67 f., 74–83, 87 f., 90 f., 96, 109, 112 f., 123 f., 139, 142 f., 161, 163–166, 172 f., 181–184, 188, 190, 202–204, 300 f., 319, 329 f., 386, 398 f., 415 f., 420, 429, 497, 507 –, hebräisches 7, 22 f., 47, 50, 56, 60–62, 65–68, 75–78, 81, 83–87, 91 f., 94–96, 113–115, 136, 142, 148, 162–205, 221, 245, 249 f., 262 f., 271, 273 f., 282 f., 288, 302, 343, 415, 417, 419, 423 f., 430 f., 441–443, 449, 485, 497, 503, 507, 513–515 –, nordisches/germanisches 23, 59 f., 62, 79 f., 190, 321–325, 329 f., 442, 485, 525 –, römisches 23, 59 f., 62, 67, 75, 77 f., 82 f., 97, 99, 109, 112 f., 123 f., 146, 161, 163, 166, 171–174, 178–181, 183, 190, 203 f., 299–301, 319, 329 f., 400, 494–496, 507, 520 Altertumswissenschaften 162–205, 214 Altes Testament s. Bibel Antike s. Altertum Antisemitismus 15–18, 40 f., 165, 215, 314, 516 f., 525 Architektur 145–147, 161 f., 326, 420, 511–526 Aschkenas 226–255, 264, 346, 503 Assimilation 214 f., 228, 307 f., 345, 347, 439–450, 502, 517, 525
Ästhetik 60, 80 f., 95, 98, 100, 110 f., 113 f., 122 f., 139–145, 161, 245, 271, 283, 357, 415 f., 419–421, 425, 428, 442, 454, 457, 497–500 Aufklärung 19, 21 f., 27, 31, 49, 54–56, 65, 74, 106, 109–112, 115, 117, 119, 125, 129 f., 140 f., 145, 158, 160 f., 197, 207–213, 217, 223, 227, 231–238, 242, 248–255, 258, 260, 262 f., 271, 275, 282, 291, 294, 301, 304, 361 Authentizität s. Glaubwürdigkeit Autorfunktion 105–112, 114, 274, 391 f., 454, 507 Babylon s. Exil, babylonisches Begriffsgeschichte s. Semantik, historische Bibel 7 f., 26, 28, 32, 45, 51 f., 60–74, 83–91, 104, 115–119, 136, 138, 144–149, 152 f., 156, 158, 161–170, 173 f., 180 f., 191 f., 195–197, 202 f., 225, 245, 254, 257, 271–274, 283 f., 290–294, 302–309, 313, 316, 337, 341 f., 414, 418–425, 485, 489 f., 501, 503, 506 f. –, ~illustration 407, 413, 416–419, 425–429, 454 –, ~nachdichtung 26, 45, 51 f., 63 f., 67 f., 71–74, 77, 92, 105, 116, 124, 225, 239 f., 241–245, 257 f., 260, 267–269, 280 f., 286, 290, 294–296, 301 f., 337, 339 f., 355, 357–365, 375, 382, 386, 414 f., 418–423, 429, 436, 464, 489, 491 f., 503 –, ~poesie 22, 59–96, 112 f., 115, 120–125, 128–130, 136 f., 142–144, 152, 154 f., 158, 161–163, 191–205, 263, 365, 375, 386 f., 392, 423, 507 –, ~übersetzung 8, 26, 40, 51, 60, 63 f., 67, 70–72, 88, 90, 92, 95, 114–162, 166, 196, 237 f., 244, 267, 285, 291, 302–309, 356, 370, 381, 399, 407, 416 f., 425 f., 489, 503
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Sachregister
–, ~wissenschaft 7, 16, 60–64, 66 f., 71, 73, 85 f., 95, 113, 116, 119, 121, 127, 131, 136, 144 f., 149, 151–153, 156, 160, 163–183, 186, 188 f., 192 f., 195, 200, 202 f., 214, 219 f., 225, 229, 282–284, 287, 303–305, 315, 342, 364, 381, 390 f., 410, 423, 426 f., 506 f. Bilingualität s. Vielsprachigkeit Blumen 194 f., 267–274, 312 f., 316, 326–332, 435, 468 f., 483–486, 494 Blumengruß s. Selam Buchgestaltung 47 f., 50, 120, 127 f., 209–211, 261, 274–287, 305–307, 309, 327, 329, 333 f., 457 f., 462 f., 481–494 Eiche 91, 240, 317–324, 335 f., 348, 491 f. Emanzipation 3 f., 8 f., 13 f., 25, 27, 29–32, 49 f., 54, 57 f., 106 f., 111 f., 115, 145, 152, 160, 162, 170, 212–263, 308, 316, 321, 325, 333–336, 339 f., 345, 347–349, 357, 363 f., 371 f., 377, 384 f., 396, 398–401, 406, 417–419, 425, 432–451, 455, 482, 486, 502, 508, 511, 524 Emotion s. Gefühl Epos 45, 47, 67 f., 71, 73 f., 211, 242, 267 f., 270 f., 279–281, 300, 357 f., 360–365, 396 f., 414 f. Exil, babylonisches 21–23, 146, 150, 164 f., 168, 172 f., 342, 344 f., 351–456 Freude 94, 122, 353 f., 356, 362, 369, 389, 397, 399, 402, 405 f., 455, 485 Gattung 26, 45, 47 f., 53, 60, 62–75, 90–96, 111 f., 131, 139 f., 194, 204, 240, 276, 279–281, 358, 362 f., 379, 419, 455, 460, 479, 482, 491, 507 Gefühl 47, 60, 62, 67, 84, 94 f., 97 f., 110, 112 f., 122 f., 126 f., 130–134, 136 f., 142, 144, 146, 153 f., 161, 203 f., 241, 265, 271 f., 288, 310, 317, 351 f., 360, 362, 368 f., 370–407, 414, 420, 434–436, 447 f., 450, 455 f., 458, 467, 476, 480, 493 f., 505 f., 508 f. Geschmack 63 f., 67 f., 70–76, 80 f., 86, 94, 97, 102, 110–112, 126, 128–130, 137, 142–145, 149, 161, 178 f., 204, 234, 240, 245, 251 f.,
264, 271–274, 281, 308, 357, 368, 413, 435, 437 Glaubwürdigkeit 26, 96–98, 105, 111, 113 f., 390–397, 404–406, 417 f., 421 f., 442, 455, 504 f. Intermedialität 76, 142, 216 f., 242, 244, 352, 407, 425, 427 f., 442, 447, 449, 451 Jiddisch 39 f., 48, 116, 119, 208–211, 223, 235, 255, 271, 504 Juden, polnische s. Polen Juden, sefardische s. Sefarad Klage 133, 135, 240, 245, 321–325, 348, 351, 353, 356, 360, 362, 369, 373 f., 376–378, 380 f., 384–396, 402–407, 413, 415–417, 420, 424 f., 430, 432, 444, 447–449, 455, 468, 483, 493 Kleidung 27, 54, 98 f., 106 f., 109 f., 132, 151, 170, 177 f., 226–263, 272 f., 321 f., 349, 417, 422, 424 f., 437–443, 450–452, 480 Kollektivsymbolik 21, 38, 201, 310–349, 367, 436 Konversion 9, 26, 39 f., 304, 384, 391, 410, 432, 443–445, 453, 476 f., 482, 490 f., 505 Körper 54 f., 98, 107, 135, 170, 176, 180, 217–244, 261–263, 310 f., 332, 349, 351, 402, 417 f., 436 f., 440–444, 447–451, 507 Kunst, bildende 46, 76, 139, 142–144, 183, 407–425 Lyrik 26, 46, 61, 65 f., 91–95, 112 f., 126–128, 130–132, 138, 142, 191 f., 203 f., 279 f., 301 f., 327, 330–332, 387, 458 f., 460 f., 467 f., 471 f., 482 f., 491–493, 496–500, 506 f. Mehrsprachigkeit s. Vielsprachigkeit Meliza s. Musivstil Moderne 16 f., 19 f., 24 f., 29–33, 45, 66, 72, 75–78, 87, 101, 127, 131 f., 135 f., 142 f., 145 f., 148–153, 156–160, 162–164, 169, 182, 185, 194 f., 199, 203–205, 210, 212, 218, 223, 232–234, 238, 244 f., 249, 251, 263, 270–281, 284, 289, 291 f., 298, 306, 309, 323, 338, 341 f., 346, 357, 362, 368, 382–388, 393, 399, 405 f., 418 f., 423 f.,
Sachregister
437 f., 442, 449, 453, 457, 489, 491 f., 497–500, 505 f., 508, 514 f., 524 Muse 128, 281–284, 286, 296–302, 357, 396, 480 Musivstil 51 f., 54, 197, 295 f., 309 Nation 9–12, 16 f., 22 f., 70 f., 82, 89–91, 101, 104–106, 109, 111, 119, 121, 126, 147, 153–156, 158, 162, 168 f., 182, 196 f., 201, 212, 214–216, 219–225, 256–261, 265, 270, 282 f., 287 f., 292 f., 303, 314, 316–320, 325 f., 333, 336, 348 f., 351, 368, 370 f., 374 f., 383, 385, 390, 392, 404, 412, 418 f., 421, 431, 437–440, 445, 491 f., 506, 512, 518 Nationalliteratur 28–30, 39 f., 43, 59 f., 76–78, 80, 82, 88, 102 f., 113, 117, 136, 138, 152 f., 202, 265 f., 507 Nationalsprache 69, 77, 82, 103, 196, 288 f., 310 Neues Testament s. Bibel Orientalismus 1–58, 61, 104, 111 f., 114 f., 125, 130, 137 f., 152, 157, 159–162, 177–179, 195 f., 204 f., 213 f., 224 f., 228, 232, 240, 244 f., 247, 252–254, 260–263, 267, 293, 296, 302, 307–310, 314, 325, 328, 341 f., 347–349, 371, 375, 382, 407–409, 413, 415 f., 418, 421 f., 425, 427, 432, 444, 447, 450 f., 454, 457, 465, 479, 481, 486, 495, 501, 503, 506–509, 516, 518 f., 522, 524–526 Orientalistik 6 f., 163–170, 173 f., 190, 200, 203, 342 Pädagogik 144–146, 152, 158, 224, 239, 242, 267–274, 276, 488 Palme 149 f., 317 f., 324–326, 335 f., 344, 348, 409, 415, 430, 457–500, 508, 522 Polen 21, 26, 78, 106–108, 110, 147, 217, 226–246, 249, 252, 254, 259, 262 f., 271–273, 349, 371, 373, 412, 439 f., 503, 523 Propheten 78, 83, 85, 94, 120, 151–157, 243, 277, 305, 340, 363, 368, 375, 386, 388, 392 f., 413, 419 f. Psalmen 47, 61, 63–66, 83, 90, 94–96, 102, 105, 113–115, 120, 123–144, 146, 149–151, 161, 264, 277, 279–281, 285, 295, 299,
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303 f., 308, 317 f., 322–324, 351–407, 410, 413, 415, 422, 428–432, 442, 447–450, 454–456, 477, 489 f., 494–496, 498, 508 Romantik 20, 187, 192, 317, 332, 339 f., 352, 364 f., 410, 444, 458–460, 462, 471–474, 479, 482 f., 489, 491 f., 497–499, 518–522 Schreibart s. Stil Schrift, hebräische 27 f., 42, 45, 48, 117–119, 125, 209–211, 250, 254 f., 260–310, 503–505 Schrift, lateinische 117, 151, 210 f., 272, 278, 284 f., 304–306 Sefarad 13, 26, 246–255, 262, 345 f., 354, 378, 509–526 Selam 326–342, 348, 484 Semantik, historische 16 f., 22 f., 28, 96, 100 f., 153, 185–188, 212, 289–294, 298–300, 314, 343, 492 Sprache, hebräische 28, 30, 39 f. 42, 45, 51 f., 71, 79–81, 87, 92 f., 116 f., 119, 125, 129, 151, 156 f., 181 f., 194–196, 198, 207–211, 216 f., 223–225, 246 f., 250–256, 260–310, 349, 358, 364, 368 f., 477, 503–505 Stil 22, 32 f., 45, 47, 51–54, 62–115, 123 f., 126, 141, 155, 166, 196 f., 204, 247, 254, 265, 268 f., 272 f., 295 f., 309, 352, 365, 379, 386 f., 392, 419 f., 444, 466, 481 f., 499, 505–509, 511–526 Synagoge 1, 139, 146 f., 252, 289 f., 354–357, 367, 369, 509–526 Tanach s. Bibel Tora s. Bibel Tradition 1, 3, 8, 15, 23–28, 30–33, 45, 47, 57, 59–61, 75–89, 110, 113, 116, 119, 125 f., 130, 132, 137, 139, 148–154, 160, 162, 164 f., 169, 184 f., 188–190, 195, 200, 203–205, 227, 231, 241 f., 244–249, 352–254, 260–267, 271–274, 278 f., 282 f., 286, 299–309, 349, 398, 422, 437 f., 482 f., 491 f., 497, 501–509, 512–515, 523 f. Übersetzung 16, 26, 65, 70 f., 75, 78, 83, 88, 92, 95, 155–158, 166, 180, 194, 196, 202, 211, 216 f., 223–225, 247, 251–253, 263–287, 290–300, 308–310, 319, 328 f.,
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Sachregister
341 f., 347, 391, 398 f., 443–445, 349, 461, 477–479, 484, 490, 495 f., 502–504 – der Bibel s. Bibelübersetzung Vielsprachigkeit 22, 29 f., 38 f., 45, 117, 138, 207–212, 216 f., 223–225, 254 f., 262, 265–267, 274, 283, 286–289, 294–296, 300, 302, 308–310, 347, 349, 368 f., 502–504, 507
Weltliteratur 190–203, 404 Weltschmerz 318, 369, 372–375, 383, 385–388, 394, 402 f., 406 f., 412, 454 f., 508 Wissenschaft des Judentums 25, 33, 163, 181, 189 f., 192 f., 198–203, 344–347, 375 f.
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Herausgegeben vom Leo Baeck Institut London unter Mitwirkung von Michael Brenner, Astrid Deuber-Mankowsky, Sander Gilman, Raphael Gross, Daniel Jütte, Miriam Rürup, Stefanie Schüler-Springorum und Daniel Wildmann (geschäftsführend)
Die Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts ist eines der führenden Publikationsorgane für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums in Europa. Seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 1959 sind mehr als 70 Monographien und Sammelbände in der Reihe erschienen. Das Spektrum der Veröffentlichungen ist umfassend: So deckt die Reihe einen Zeitraum von der Aufklärung bis in die Moderne hinein ab, mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge vereinen klassische politik- und sozialgeschichtliche Ansätze mit modernen Entwicklungen aus den Bereichen der Intellectual History, Kulturgeschichte, Gender Studies, Körpergeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Musikwissenschaft. Unter den Autoren und Autorinnen der Reihe finden sich Namen wie Selma Stern oder Jacob Toury aus der Gründergeneration des Faches wie auch die gegenwärtigen Vertreter der Forschung wie Christian Wiese oder Simone Lässig. ISSN: 0459-097X Zitiervorschlag: SchrLBI Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/schrlbi
Mohr Siebeck
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