Das Haus: Eine deutsche Literaturgeschichte 1850-1926 9783110238006, 9783110237993

How is the continuity of family enterprises and of aristocratic and bourgeois dynasties ensured? This is the question gi

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German Pages 168 Year 2011

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Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung
Kapitel I: Das Haus
1. Verwandtschaft im 19. Jahrhundert
2. Die Verwandtschaft und das Haus
Exkurs: Franz Boas’ Aufzeichnungen über die Numayma
3. Die Häusergesellschaft
Kapitel II: Adoptieren
1. Vor dem Haus. Gustav Freytag: Soll und Haben
2. Die Gunst der Prinzipalin. Friedrich W. Hackländer: Handel und Wandel
3. Vom Scherzzwang. Ricarda Huch: Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren
4. Die falsche Wahl. Thomas Mann: Buddenbrooks
5. Schwiegersöhne. Otto Stoessl: Das Haus Erath
6. Die Angestellte. Felix Holländer: Salomons Schwiegertochter
7. Höhere Töchter. Franz Kafka: Das Schloß
8. Das Haus als Familienunternehmen
Exkurs: Das jüdische Ehegüterrecht und der Beisitz der Witwe
Kapitel III: Ehen stiften
1. Die verschwundenen Verwandtschaftsnamen
2. Vaterschwester. Theodor Fontane: Der Stechlin
3. Brautschwester. Theodor Fontane: Der Stechlin
4. Bräutigamschwester I. Theodor Fontane: Vor dem Sturm
5. Brautbruder. Theodor Fontane: Unwiederbringlich
6. Bräutigamschwester II. Theodor Fontane: Graf Petöfy
7. Bräutigambruder. Theodor Fontane: Die Poggenpuhls
Kapitel IV: Schenken
1. Vermögensübertragung inter vivos: Die Mitgift
2. Hausgesetze
3. Die Söhne
Gustav Freytag: Soll und Haben
Paul Wallich: Lehr- und Wanderjahre
Schluss
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Das Haus: Eine deutsche Literaturgeschichte 1850-1926
 9783110238006, 9783110237993

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger

Band 128

Nacim Ghanbari

Das Haus Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926

De Gruyter

Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration.

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Ghanbari, Nacim, 1979Das Haus : eine deutsche Literaturgeschichte, 1850-1926 / by Nacim Ghanbari. p. cm. -- (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; 128) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-023799-3 (alk. paper) 1. German literature--19th century--History and criticism. 2. German literature--20th century--History and criticism. 3. Families in literature. 4. Genealogy in literature. I. Title. PT345.G48 2011 830.9‘008--dc23 2011022910

ISBN 978-3-11-023799-3 e-ISBN 978-3-11-023800-6 ISSN 0174-4410 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Die Figur des Dritten« entstanden. Sie wurde im April 2008 am Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz als Dissertation angenommen und für die Publikation überarbeitet. Ich danke den Kollegiatinnen und Kollegiaten für die vielen Diskussionen und Gespräche. Albrecht Koschorke danke ich für die Unterstützung des Forschungsvorhabens zum »Haus« und für die guten Arbeitsbedingungen. Susanne Lüdemann und Iris Därmann haben durch ihre Gutachten wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Dissertation gegeben. Mein besonderer Dank gilt meinen Freunden, die über mehrere Jahre unfertige Teile der Arbeit gelesen und kommentiert haben: Andreas Langensiepen, Jeannie Moser, Patrick Eiden-Offe, Eva Blome, Alexander Schmitz, Mirja Aye, Saskia Haag und Alexander Zons. Schließlich sei den Herausgebern der Reihe »Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur« für die freundliche Aufnahme der Arbeit gedankt. Köln, im April 2011

Nacim Ghanbari

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel I: Das Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Verwandtschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verwandtschaft und das Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Franz Boas’ Aufzeichnungen über die Numayma . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Häusergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel II: Adoptieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Vor dem Haus Gustav Freytag: Soll und Haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gunst der Prinzipalin Friedrich W. Hackländer: Handel und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Scherzzwang Ricarda Huch: Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren . . . . . . . . . . 4. Die falsche Wahl Thomas Mann: Buddenbrooks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schwiegersöhne Otto Stoessl: Das Haus Erath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Angestellte Felix Holländer: Salomons Schwiegertochter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Höhere Töchter Franz Kafka: Das Schloß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Das Haus als Familienunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Das jüdische Ehegüterrecht und der Beisitz der Witwe . . . . . . . . .

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Kapitel III: Ehen stiften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Die verschwundenen Verwandtschaftsnamen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vaterschwester Theodor Fontane: Der Stechlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Brautschwester Theodor Fontane: Der Stechlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bräutigamschwester I Theodor Fontane: Vor dem Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Brautbruder Theodor Fontane: Unwiederbringlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 6. Bräutigamschwester II Theodor Fontane: Graf Petöfy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7. Bräutigambruder Theodor Fontane: Die Poggenpuhls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Kapitel IV: Schenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Vermögensübertragung inter vivos: Die Mitgift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hausgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Söhne Gustav Freytag: Soll und Haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Wallich: Lehr- und Wanderjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

VIII

Einleitung

»Mit dem achtzehnten Jahre müßte also jede Tochter die schöne Bedeutung des alten Wortes ›Haus‹ fassen lernen, jenes alten Wortes, bei dessen trautem Klange Einem das Herz aufgeht – statt dessen lehrt man sie, wenn die anderen ›Künste‹, die sie treibt, noch Zeit übrig lassen, höchstens ein wenig die ›Haushaltung‹ führen. Anstatt das erwachsene Mädchen zum Ministerpräsidenten zu machen, giebt man ihr einen ganz kleinen Nebenposten, allwo Arbeit und Verdienst kaum der Rede werth.«1 Die Schriftstellerin und Sängerin Elise Polko bringt in wenigen Worten den Unterschied zwischen Haus und Haushaltung auf den Punkt. Ist letztere als die Summe häuslicher und wirtschaftlicher Praktiken anzusehen, knüpft sich an das Haus eine Fülle höherer Erwartungen. Polko schreibt einen Mythos fort, der in der Germanistik insbesondere mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehls verknüpft ist. Riehl schreibt in seinem sozialpolitisch motivierten Buch Die Familie erstmals vom »ganzen Haus«.2 Das Haus bezeichnet bei ihm die Einheit von Haushalt und Betrieb und ist als solche auf das Haus des Schankwirts und Bauern ebenso wie auf das Haus des Handwerkermeisters und Kaufmanns zu beziehen. Seine Ganzheit ist darin begründet, dass es neben dem Hausherrn und der Hausherrin auch deren Kinder, Gesinde, Geschäftsgehilfen und entfernte Verwandte umfasst.3 Zum Zeitpunkt der Publikation seiner Schrift – 1854 – sieht Riehl diese Ganzheit durch die Familie bedroht, die nur mehr aus »Vater, Mutter und Kinder[n]« besteht:4

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Elise Polko: Unsere Pilgerfahrt von der Kinderstube bis zum eignen Heerd. Lose Blätter. 7. Aufl. Leipzig 1880, S. 105. Ich danke Ursula Geitner für diesen Hinweis. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie. Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik. Bd. 3. 11. Aufl. Stuttgart 1897, S. 150–303. Die Rezeption Riehls in der Germanistik wird nachgezeichnet in Helmut Scheuer: »Autorität und Pietät« – Wilhelm Heinrich Riehl und der Patriarchalismus in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Claudia Brinker-von der Heyde u. H.S. (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Frankfurt/M. 2004, S. 135–160 und Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 25f. Im Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität Konstanz ist zeitgleich zur vorliegenden Arbeit die Untersuchung von Saskia Haag Auf wandelbarem Grund. Das Haus in der literarischen und kulturgeschichtlichen Imagination des 19. Jahrhunderts entstanden, die in Kürze im Rombach Verlag erscheinen wird. Sie setzt sich mit den literarischen Imaginationen (insbesondere in den Schriften Adalbert Stifters), die sich an die materielle Figur des Hauses knüpfen, auseinander. In diesem Zusammenhang geht die Arbeit auch auf Riehls Die Familie ein. Vgl. Riehl, Die Familie, S. 150f. Riehl, Die Familie, S. 119.

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Das Haus als Inbegriff einer sozialen Gesamtpersönlichkeit, das »ganze Haus«, hat der Vereinzelung der Familie weichen müssen. Hierin liegt eigentlich eine weit bedenklichere sozialpolitische Thatsache als in der zunehmenden Lockerung der Familienbande. Das Familienbewußtsein stellt sich schon von selber wieder her; das Bewußtsein des Hauses aber wird, einmal erloschen, kaum wieder zu entzünden sein. Durch das Absterben des Hauses, als der halb naturnotwendigen, halb freiwilligen Genossenschaft, ist ein Mittelglied zwischen der Familie und der Gesellschaftsgruppe verloren gegangen und die günstigste Gelegenheit zur sozialen Wirksamkeit und Machtentfaltung des Hausregiments vernichtet.5

Das »Absterben des Hauses« ist in erster Linie eine Folge der gesetzlichen Aufhebung der domesticité im Zuge der Französischen Revolution. Die Abschaffung der Herrschaft des Hausvaters über das Gesinde bewirkt die »Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit«,6 deren Grundzüge seit Aristoteles’ Definition des oikos konstant geblieben waren.7 Riehl beklagt, dass in Folge dieser Gesetzesänderung das Dingen des Gesindes zu einem Vertragsverhältnis herabgesunken ist: »Kein vernünftiger Mensch wird daran denken, jene harten alten Polizeistatute wiederherstellen zu wollen. Wir gehen aber auf der entgegengesetzten Seite zu weit, wenn wir das Dingen zu einem bloßen Arbeitsvertrag machen mit gleichen Rechten auf beiden Seiten.«8 Mit den »harten

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Vgl. Riehl, Die Familie, S. 156. Vgl. Reinhart Koselleck: Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848. In: Neithard Bulst, Joseph Goy u. Jochen Hoock (Hg.): Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1981, S. 109–124. Vgl. Hannah Rabe: Art. ›Haus‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. Joachim Ritter. Bd. 3. Basel 1974, Sp. 1007–1020, hier: Sp. 1008. Riehl, Die Familie, S. 162. Neben dem »ganzen Haus« ist es die Idee vom freien Arbeitsvertrag zwischen Gesinde und Hausvater mit gleichen Rechten auf beiden Seiten, die der historischen Überprüfung nicht standhält. (Eine Ideologiekritik des »ganzen Hauses« aus historischer Sicht liefert – wenn auch in Auseinandersetzung mit Otto Brunners Konzept des »ganzen Hauses«, das sich an Riehl anlehnt – Claudia Opitz: Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des »ganzen Hauses«. In: Geschichte und Gesellschaft 20 [1994], S. 88–98. Vgl. hierzu auch Valentin Groebner: Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts. Göttingen 1993) Ausgehend von der preußischen Gesindeordnung nach der Aufhebung der domesticité hält Reinhart Koselleck fest: »Formal beruhte das neue Gesinderecht auch auf dem Vertrag freier Vertragspartner. Aber dem Inhalt nach handelte es sich um einen Unterwerfungsvertrag. Für die Zeitdauer des abgeschlossenen Vertrages hatte sich das Gesinde seiner Herrschaft vollkommen unterzuordnen. […] Wenn das Gesinde steuerrechtlich und militärrechtlich dem Staat direkt untertan wurde, so blieb es hausrechtlich doch Glied eines altständischen Herrschaftsverbandes, die formalrechtliche Gleichheit der Vertragspartner wurde von der Wirklichkeit verschluckt.« (Koselleck, Auflösung des Hauses, S. 116) Diese Gesindeordnung wird erst 1918 aufgehoben, so dass Koselleck von der »Symbiose staatlicher und ständischer Gewalt« im Preußen des 19. Jahrhunderts spricht. Der preußische Staat war »schlichtweg zu arm, um die Polizeigewalt selbst zu finanzieren« (Koselleck, Auflösung des Hauses, S. 120) und damit die altständische Disziplinargewalt des Hauses zu beerben. Somit fällt in diesen Zeitraum die Einführung neuer Gesetze, welche die Privilegien des altständischen pater familias auf neue häusliche Instanzen übertragen: »[D]ie neue Städteordnung [kannte] kein Privileg von Hausherren mehr, sondern bevorzugte deutlich die Hausbesitzer. So wurde aus einer altständischen Rechtsfigur eine ökonomische Zuordnung, aus der – sekundär –

alten Polizeistatuten« sind an dieser Stelle die »alten Dienstbotenordnungen« und der »Dienstzwang« gemeint.9 Der Grund, weshalb Riehl die Restitution der alten Statute nicht empfiehlt, hängt damit zusammen, dass er jegliche rechtliche Fixierung als ein dem »deutschen Haus« fremdes Element ansieht. So heißt es über die Genese der Herrschaft über das Gesinde: Die Familienhaftigkeit des deutschen Gesindes, das Zusammenleben zu einem »ganzen Haus«, wird besonders gerühmt in der Zeit unseres unverdorbenen ältesten Volkstumes. Als dagegen die Deutschen durch die grausamen Kriege mit den Römern und die trüben Gärungen der Völkerwanderung roher wurden, grausamer, üppig, beutegierig, da verblaßte auch die Idee des ganzen Hauses. Das menschlich so viel unwürdigere römische Verhältnis des Herrn zum Knechte dringt nun auch in das deutsche Haus, und die ganze Roheit und Barbarei in den Strafgesetzen und dem Untersuchungsverfahren der späteren Jahrhunderte entwickelt sich zuerst gegen das Gesinde.10

Riehls Projekt eines »Wiederaufbau[s] des Hauses« ist somit nicht allein gegen die modernen Arbeitsverträge des Gesindes gerichtet, sondern greift zurück auf eine Zeit vor dem ständischen Dienstzwang, indem es die kodifizierte Hierarchisierung und Unterscheidung von Beziehungen innerhalb des Hauses ablehnt. Das Haus soll dadurch restituiert werden, dass das familiale und verwandtschaftliche Verhältnis sowie das Verhältnis zwischen Herrschaft und Gesinde in eins fallen.11 Der Dienst unter dem Dach des Hauses soll als ein familienhafter gedacht werden. Anzustreben ist die allseitige häusliche ›Abhängigkeit im Gemüt‹.12 Die Fülle der volkskundlichen Exkurse,13 der eigenethnographischen Beobachtungen zu architektonischen Details,14 Praktiken der

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politische Rechte abgeleitet wurden. Zwei Drittel aller zu wählenden Stadtverordneten mußten Hausbesitzer sein. Es ist der Weg vom standespolitisch definierten Hausvater zum ökonomisch definierten Hausbesitzer, der durch die Steinsche Städteordnung [die preußische Städteordnung von 1808, initiiert von Karl Freiherr vom Stein, N.G.] geöffnet wurde.« (Koselleck, Auflösung des Hauses, S. 116) Der gegenwärtige Stand der historischen Forschung zum Rechtswandel von Haus und Familie wird gut zusammengefasst in Inken Schmidt-Voges (Hg.): Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750–1850. Köln u. a. 2010. Riehl, Die Familie, S. 162. Riehl, Die Familie, S. 161. Zu diesem Zweck werden Bilder einer Vergangenheit gezeichnet, in der zwischen Dienstpersonal, Familie und Verwandtschaft kein Unterschied gemacht wurde: »Auf mehreren Kirchhöfen Südbayerns und Tirols fand ich Familiengräber angesehener, ja vornehmer Leute, in welchen – laut Inschrift – auch die Särge alter treuer Dienstboten des Hauses beigesetzt waren. Das ganze Haus behauptete sich bis ins Grab.« (Riehl, Die Familie, S. 162) An anderer Stelle rekonstruiert Riehl die Etymologie des »gegenwärtig […] so besonders verhaßte[n] Wort[es] ›Magd‹«, um über die beiden Wörter »Spillmagen« und »Schwertmagen« die gemeinsame sprachliche Wurzel von Mägdeschaft und Verwandtschaft aufzuzeigen. (Riehl, Die Familie, S. 163) »Die Autorität des Hausvaters muß auch gegenüber der modernen Dienerschaft bestehen, und der Dienst im Hause hat nicht bloß seine rechtliche und wirtschaftliche, sondern auch seine sittliche und gemütliche Seite.« (Riehl, Die Familie, S. 162) Zu Riehls volkskundlicher und kulturhistorischer Expertise vgl. Jasper von Altenbockum: Wilhelm Heinrich Riehl 1823–1897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie. Köln u. a. 1994. »Das architektonische Symbol für die Stellung des Einzelnen zur Familie war im alten Hause der Erker. Im Erker, der eigentlich zum Familienzimmer, zur Wohnhalle gehört, findet der Ein-

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Namensgebung,15 Ritualen des gemeinsamen Essens und Trinkens16 ist auf diese eine Frage zurückzuführen, wie nämlich eine ›Abhängigkeit im Gemüt‹ herzustellen sei.17 Zeitgleich zu Riehls Die Familie erscheinen mit Gustav Freytags Soll und Haben und Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel zwei Romane, in denen ebenfalls Häuser – genauer: Handelshäuser – im Zentrum stehen. Die beiden Romane unterscheiden sich von Riehls Programmschrift des »ganzen Hauses« darin, dass sie weder Verfallsgeschichten erzählen noch ausschließlich um Fragen der Häuslichkeit besorgt sind. Sie interessieren sich nicht dafür, wie verfallene Häuser baulich und ideell zu restituieren wären. Ihre Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich den Modi der Weitergabe der häuslichen Güter über den Tod der einzelnen Hausvorstände hinaus. Zu diesem Zweck werden Lehrlinge aus der Fremde angeworben, wachen Prinzipalinnen über das Wohl ihrer Schützlinge, werden Heiraten arrangiert und Vermögenstransaktionen vorgenommen. Die Kontinuität der Häuser wird durch eine Fülle von Operationen und Austauschbeziehungen hergestellt. Die vorliegende Arbeit handelt von solcher Art korporativer Kontinuitätssicherung im 19. Jahrhundert und entwirft hierfür einen operationalen Begriff des Hauses. Sie versteht sich als Beitrag zur neueren literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung, die der Tatsache, dass sich ein Großteil der europäischen Romanliteratur seit dem 18. Jahrhundert genealogischen Abfolgen widmet, große Aufmerksamkeit schenkt.18 Die

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zelne wohl seinen Arbeits-, Spiel- und Schmollwinkel, er kann sich dorthin zurückziehen: aber er kann sich nicht abschließen, denn der Erker ist gegen das Zimmer offen. So soll auch der Einzelne zur Familie stehen, und nach diesem Grundgedanken des Erkers müßte von Rechts wegen das ganze Haus konstruiert sein.« (Riehl, Die Familie, S. 187) So heißt es über die assimilierten deutschen Juden: »Den Mädchen gaben sie die seltensten Phantasienamen, wie Veilchen, Blümchen, Lilli, Mimili, oder wandelten gar die nationale Miriam in den von allen Frauennamen am meisten christlich geweihten der Maria um. Wie läßt uns hier der Name in die innersten Zustände der Familienverfassung hineinschauen!« (Riehl, Die Familie, S. 152f.) Dagegen heißt es über die Konventionen der Namensgebung bei den deutschen Christen: »Der beharrende deutsche Familiengeist spricht sich neben anderem darin aus, daß so viele treffliche deutsche Familien den Mut haben, ihren hässlichen Namen zu ertragen. War es doch der Name ihrer Väter, welche sie nicht verleugnen wollen!« (Riehl, Die Familie, S. 156) »Vor der französischen Revolution fiel die allgemeine bürgerliche Mittagessensstunde in Deutschland zwischen 11 und 12 Uhr. Mit den zahllosen willkürlichen Neuerungen, mit welchen die Franzosen damals alle bisher übliche Zeiteinteilung abschaffen wollten, […] schoben sie auch die Mittagessensstunde auf 1 Uhr vor. […] Es sollte nur einmal eine respektable Zahl unabhängiger Hausväter den Mut haben, ihr Tagewerk wieder zwischen 5 und 6 Uhr morgens zu beginnen und die Tischzeit zwischen 11 und 12 zu legen«. (Riehl, Die Familie, S. 273f.) »Die abscheuliche nordamerikanische Sitte, stehend zu essen und zu trinken, hat sich auch bereits in unsere Salons eingeschlichen.« (Riehl, Die Familie, S. 269) »Im ›Hause‹ gibt es nichts Unbedeutendes, und in scheinbar ganz geringfügigen Sitten des Hauses stecken oft tiefe soziale Konsequenzen.« (Riehl, Die Familie, S. 273) Die in diesem Zusammenhang erschienenen Studien fragen nach einer Diskursgeschichte genealogischer Vorstellungen im langen 19. Jahrhundert, die den Zusammenhang zwischen Neuerungen im europäischen Erbrecht, der Konstitution der Genetik als akademische Disziplin und schließlich den literarischen Erzählungen über das Gelingen und Misslingen intergenerationellen Besitztransfers aufzeigt. (Vgl. Ohad Parnes, Ulrike Vedder u. Stefan Willer: Das Konzept der

geistesgeschichtliche Tradition, die abendländische Wirtschaftsgeschichte entlang der paradigmatischen Unterscheidung zwischen dem Haus als oikos und dem Markt zu schreiben sucht, spielt hingegen für die Fragestellung der Arbeit eine nur untergeordnete Rolle.19 Sie zieht eine Auswahl an sozialanthropologischen Schriften heran. Die Privilegierung der Sozialanthropologie ist damit zu begründen, dass sie es als einzige Disziplin unternommen hat, nach korporativen Verfahren zu fragen.20 In Abgrenzung zu soziologischen Ansätzen, die – im Anschluss an Max Weber – den Verbundcharakter der Körperschaft, deren interne Hierarchie und damit Kollektivität hervorheben, betonen sozialanthropologische Studien Aspekte der Korporativität.21 Auch der Volkskundler Riehl interessiert sich für die interne Zusammensetzung und den affektiven Zusammenhalt des »ganzen Hauses«, wenn er auf den »halb naturnotwendigen, halb freiwilligen« Charakter des Hauses eingeht: Entscheidend ist, dass das Haus die ›natürlichen‹ sozialen Bande der Familie und Verwandtschaft sowie die freiwilligen Bande des Arbeits- und Dienstverhältnisses in sich vereinigt. In den sozialanthropologischen Studien hingegen wird – ausgehend von Henry S. Maines Diktum »[c]orporations never die« –22 Unsterblichkeit als das Kriterium korporativer Strukturen bestimmt.23 Fokussiert werden insbesondere Operationen der sozialen Reproduktion und der Herstellung intergenerationeller Sukzession. Ausschlaggebend für korporative Strukturen ist die Einbindung der dynastischen oder ständischen Privilegien, Ämter und Güter in Verfahren der Weitergabe und Kontinuitätssicherung: »The important point in his [Maines, N.G.] view is that rights and duties, office and property, are not the forces that generate corporations but the vehicles and media through the agency of which corporations express their intrinsic perpetuity.«24

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Generation. Eine Wissens- und Kulturgeschichte. Frankfurt/M. 2008; Staffan Müller-Wille u. Hans-Jörg Rheinberger [Hg.]: Heredity Produced. At the Crossroads of Biology, Politics, and Culture, 1500–1870. Cambridge/Mass. u. a. 2007 und Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München u. a. 2006) Zur Rekonstruktion dieses Paradigmas in der Wirtschafts- und Geistesgeschichte vgl. Hans Derks: Über die Faszination des »Ganzen Hauses«. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 221–242. Vgl. Fritz W. Kramer: Art. ›Körperschaft‹. In: Wörterbuch der Ethnologie. Hg. Bernhard Streck. 2., erw. Aufl. Wuppertal 2000, S. 126–129, hier: S. 129. Vgl. Kramer, Körperschaft, S. 129. Henry Sumner Maine: Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas. London 1959, S. 104. (Hervorhebung im Original) Von der Unsterblichkeit der Hausgemeinschaft als »Wirtschaftsgemeinschaft« ist auch bei Max Weber die Rede. Allerdings geht es hier nicht darum, wie und unter Zuhilfenahme welcher Mittel sich das Haus perpetuiert. Dass die »Kommunionwirtschaft« nach dem Ausscheiden der Einzelnen weitergeht, erscheint als naturgegebene Tatsache: »Etwas unserem ›Erbrecht‹ Entsprechendes kennt der alte Hauskommunismus nicht. An dessen Stelle steht vielmehr der einfache Gedanke: daß die Hausgemeinschaft ›unsterblich‹ ist. Scheidet eins ihrer Glieder aus […], da ist bei ›reinem‹ Typus von keiner Abschichtung eines ›Anteils‹ die Rede. Sondern der lebend Ausscheidende läßt durch sein Ausscheiden eben seinen Anteil im Stich und im Todesfall geht die Kommunionwirtschaft der Ueberlebenden einfach weiter.« (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl. Tübingen 1972, S. 214) Meyer Fortes: Kinship and the Social Order. The Legacy of Henry Lewis Morgan. Chicago 1969, S. 293; vgl. zur Fortführung der Maine-Exegese die Kommentierung der Fortes-Stelle

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Abb. 1: »Madame Kaulla, ihr Bruder und dessen Sohn« (Quelle: Max Miller u. Robert Uhland [Hg.]: Lebensbilder aus Schwaben und Franken. Bd. 9. Stuttgart 1963 [unpaginiert])

Korporativität wird somit praxeologisch gedacht. Die materielle und personelle Zusammensetzung der Körperschaft sowie ihre juristische Konstitution wird der Artikulation der korporativen Unsterblichkeit untergeordnet. Welche Verfahren dadurch sichtbar werden, verdeutlicht die im Folgenden skizzierte dynastische Konstellation. Um 1797 lassen sich Chaile (Karoline) Raphael Kaulla, Jakob Raphael Kaulla und Salomon Jakob Kaulla porträtieren.25 (Abb. 1) Das Bild entspricht in seiner triadischen Personenkonstellation, in der eine Frau und ein Mann ein Kind in ihre Mitte nehmen,

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durch Burkhard Schnepel: Continuity Despite and Through Death: Regicide and Royal Shrines among the Shilluk of Southern Sudan. In: Africa 61/1 (1991), S. 40–70, hier: S. 41. Ich danke Susanne Lüdemann und Erhard Schüttpelz für körperschaftstheoretische Diskussionen im Rahmen der Konstanzer Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären«. Ich entnehme die verwandtschaftlichen Beziehungen einer genealogischen Aufstellung, die folgender Studie angehängt wurde: Heinrich Schnee: Die Hoffaktoren-Familie Kaulla an süddeutschen Fürstenhöfen. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 20 (1961/62), S. 238–267.

dem Bild einer Heiligen Familie, bestehend aus dem Dreieck Mutter/Vater/Kind.26 Ungewöhnlich scheint auf den ersten Blick lediglich, dass sich Mann und Frau – hinter dem Rücken des Kindes – an den Händen fassen, denn die Bilder der Heiligen Familie zeichnen sich meist dadurch aus, dass Mann und Frau nur durch die Berührung des Kindes in ihrer Mitte verbunden sind.27 Auf der Suche nach der Identität der porträtierten Personen stößt man auf ein verwandtschaftliches Beziehungsgeflecht, das sich mit dem kleinfamilial codierten Bild nicht deckt: Chaile Raphael Kaulla und Jakob Raphael Kaulla sind Schwester und Bruder; in ihre Mitte nehmen sie Salomon Jakob Kaulla, Neffe der ersteren, Sohn des letzteren. Die verwandtschaftliche Beziehung der drei Personen zueinander bestimmt diese Konstellation als ein Haus. Haus steht in der vorliegenden Arbeit für eine spezifische Art und Weise, sich verwandtschaftlich zu positionieren. Im Fall des Kaullaschen Porträts wird die Position des Elternpaars von Bruder und Schwester eingenommen. Die Geschwister sind durch den Namen Raphael verbunden, der als Vatersname (Raphael Isak) auf sie übertragen wird. Der Bruder wiederholt diese Form der Namensweitergabe, indem er seinen Sohn Salomon mit zweitem Namen Jakob nennt. Der Name Kaulla jedoch ist weder auf den Vater noch auf die Mutter, noch auf andere Ahnen zurückzuführen. Als phonetische Abwandlung des Vornamens Chaile markiert er die Gründung einer Dynastie,28 an deren Anfang kein Ehe-, sondern ein Geschwisterpaar steht. Die Schwester überträgt ihren Namen auf den Bruder und daraufhin auf alle weiteren Nachkommen. Die Verbindung zwischen den Geschwistern wird dadurch bekräftigt, dass Chaile Kaulla den Bruder zusätzlich als Kompagnon und Schwiegersohn installiert, indem sie eine Ehe zwischen ihm und ihrer Tochter – seiner Nichte – stiftet. Um auf das Bild zurückzukommen: Die dort abgebildete Frau ist nicht nur die Schwester des Mannes, sondern sie ist zugleich dessen Schwiegermutter; sie ist nicht nur die Tante des Jungen, sondern zugleich dessen Großmutter. In diesem Sinne reproduziert sich »Kaula Raphael aus Hechingen«, später bekannt als »Madame Kaulla«,29 durch ihren Bruder. Das geht zunächst aus einem Detail in der Namensgebung ihrer Tochter hervor: Sie wird Michle Jakob Kaulla genannt. Der zweite Name (Jakob), der gewöhnlich auf den Vater verweist, verweist hier auf den Mutterbruder. Bruder und Schwester verkörpern ein dynastisches Paar. Sie beziehen ein gemeinsames Haus und teilen sich das Amt des Firmenoberhaupts.30 Entsprechend weist

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Vgl. Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt/M. 2000 [passim]. Vgl. die Abbildung in Koschorke, Heilige Familie, S. 71 sowie die Umschlagabbildung von Arne Duncker: Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914. Köln u. a. 2003. Vgl. Schnee, Die Familie Kaulla, S. 239. »Kaula Raphael aus Hechingen« wird sie genannt, bevor sie sich durch den Erfolg ihres Hauses als »Madame Kaulla« einen Namen macht. (Vgl. Schnee, Die Familie Kaulla, S. 240) »In Stuttgart hatten seit etwa 1802 Jakob und Madame Kaulla eine Wohnung in der Hofbank, Schmale Straße 11.« (Schnee, Die Familie Kaulla, S. 255) Es ist von großem finanziellen Vorteil, ein gemeinsames Haus zu beziehen, da in den meisten Städten zu diesem Zeitpunkt das Haus das Steuersubjekt stellt. Die Eigentumsverhältnisse an dieser Wohnung sind Gegenstand von Anschuldigungen gegen die Kaullas: »Einer der Gegner der Familie schrieb am 14. April

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seine Grabinschrift den Bruder als ein Haupt der Familie aus,31 denn das Haus Kaulla hat zwei Häupter. Zu guter Letzt erweist sich der Junge in der Mitte des Bildes in seinem verwandtschaftlichen Status als ein Brudersohn, der von seiner Vaterschwester – Madame Kaulla – in Ermangelung geeigneter Söhne adoptiert werden kann. Der kurze genealogische Steckbrief über die Kaullas zeigt in nuce, dass es sich beim Haus um eine höchst erfinderische Institution handelt, die zum Zweck ihrer Kontinuität die konventionellen Regeln der intergenerationellen Sukzession manipuliert und modifiziert. Gleichzeitig führt das Familienporträt der Kaullas die Wirkungsweise der kleinfamilialen Täuschung vor Augen, welche die Beschreibung der verwandtschaftlichen Konstellationen erschwert. Um die Arbeitsweise und Semantik des Hauses zu beschreiben, entwirft die vorliegende Arbeit eine minimale Serie dynastischer Operationen: die Adoption, das Stiften von Ehen und die Schenkung. Diesen Operationen ist ein Moment der (Aus-)Wahl gemeinsam. So werden ausgewählte Nachkommen, entfernte Verwandte oder Fremde, die sich als künftige Verwandte empfehlen, beschenkt, um bestehende Vererbungsgesetze, die missliebige Nachfolger begünstigen würden, zu umgehen. Eine Adoption wird in die Wege geleitet, wenn das Haus über keine geeigneten Nachfolger verfügt. Das Haus wird in diesem Sinne operational definiert. Der operationale Begriff des Hauses ersetzt das Konzept des »ganzen Hauses«, in dem das Haus als hypostasierte Familie oder Großfamilie gedacht wird. Im Einklang mit dem neuen Begriff des Hauses stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit keine Dynastien im Sinne von »pluralit[ies] in succession«,32 sondern Konstellationen, in denen die konstitutiven Operationen des Hauses sichtbar werden. Die drei Operationen Adoptieren, Stiften von Ehen und Schenken bilden das Gerüst der Arbeit und werden herangezogen, um die Gattungskonventionen einer bestimmten Form der Romanliteratur, die bislang überwiegend unter der Bezeichnung »Familienroman« rubriziert wurde, herauszuarbeiten. Es ist allerdings einzuräumen, dass die Gattungsbezeichnung »Familienroman« eine höchst vage ist. Genau genommen ist in diesem Zusammenhang von einer gattungshistorischen und -theoretischen Leerstelle zu sprechen. Es scheint der Literaturwissenschaft schwer zu fallen, den Familienroman als eigenständige Gattung zu klassifizieren, wird er doch in den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken nicht immer verzeichnet. Gleichzeitig kann die Disziplin auf die Bezeichnung nicht vollständig verzichten, führen doch gerade in den

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1804, daß das Haus, in welchem Kaulla in Stuttgart wohne, nur dem Namen nach dem Fürsten zugeschrieben sei, tatsächlich übten die Rätin Kaulla und ihr Bruder die Besitzrechte aus«. (Schnee, Die Familie Kaulla, S. 249f.) Die Anschuldigung betrifft damit die Steuerfreiheit der Kaullas in Stuttgart, da sie hier kein Haus besitzen dürfen. Steuersubjekt ist das Haus Kaulla in der kleinen Residenz Hechingen. (Vgl. Schnee, Die Familie Kaulla, S. 243; vgl. hierzu auch Kerstin Hebell: Madame Kaulla und ihr Clan – Das Kleinterritorium als individuelle Nische und ökonomisches Sprungbrett. In: Rotraud Ries u. J. Friedrich Battenberg [Hg.]: Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hamburg 2002, S. 332–348, hier: S. 341) Vgl. Hebell, Madame Kaulla, S. 336. Fortes zitiert nach Schnepel, Continuity, S. 41.

letzten Jahren zahlreiche Romane die Gattungsbezeichnung »Familienroman« im Untertitel mit und werden als Familienromane rezipiert und beworben.33 Der prekäre Status dieses Genres in der Literaturwissenschaft kontrastiert mit dem in der Kulturtheorie gut eingeführten Konzept des Familienromans, das auf Sigmund Freuds kleine Schrift »Der Familienroman der Neurotiker« von 1908 zurückgeht.34 Darin beschreibt Freud, wie der Ablösungsprozess des Individuums von seinen Eltern von einer Fülle von Tagträumen und Phantasien begleitet wird: »Um die angegebene Zeit beschäftigt sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe, die geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt) ausgenützt.«35 Aufschlussreich an der knappen Charakterisierung der Phantasien des heranwachsenden Kindes sind die Beispiele, mit denen Freud die ›wirklichen Erlebnisse‹ spezifiziert: Die »Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt« lässt sich kaum auf die Lebensrealität von Freuds Patientinnen und Patienten beziehen, die sich überwiegend aus einer (groß-)bürgerlichen und städtischen Schicht rekrutierten. Worauf der eingeklammerte Einschub hingegen verweist, sind Romane, die im 19. Jahrhundert entstehen und in der Tat die Begegnung des Helden mit einem Schlossherren oder Gutsbesitzer und seine Aufnahme in ein neues Haus imaginieren. In Freuds Überlegungen zum Familienroman ist diese Literatur latent enthalten. Kapitel I liefert eine wissenshistorische Rekonstruktion der Paradigmen Haus und Verwandtschaft, indem es die Verbindungslinien zwischen der gegenwärtigen mikrohistorischen Forschung und der Sozialanthropologie aufzeigt. Kapitel II zeichnet die literarhistorische Linie einer Reihe von Romanen nach, von denen Freuds Schrift über den Familienroman implizit handelt. Diese werden als Häuserromane bezeichnet. Der Untersuchungszeitraum beginnt 1850 mit dem Erscheinungsjahr von Hackländers Roman Handel und Wandel, in dem die Regeln des Hauses auf geradezu musterhafte Weise narrativ umgesetzt werden. Er endet 1926 mit dem Erscheinungsjahr von Franz Kafkas Romanfragment Das Schloß, das – entgegen der konventionellen Literaturgeschichte, die vom avantgardistischen Wert des Textes ausgeht – im Anschluss an die Romane des

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Vgl. Matteo Galli u. Simone Costagli: Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman. In: Dies. (Hg.): Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München u. a. 2010, S. 7–20. Vgl. hierzu auch Britta Herrmann: Verweigerte IchAusdehnung, historische Kontinuitätsbildung und mikroskopierte Wirklichkeit: Familienroman im 19. Jahrhundert. In: DVjs 84/2 (2010), S. 186–208 und Erhart, Familienmänner, S. 101f. Eine dichte Exegese des Freud’schen Familienromans findet sich in Susanne Lüdemann: Mythos und Selbstdarstellung. Zur Poetik der Psychoanalyse. Freiburg/Br. 1994, S. 91–116. Die Anwendung des Freud’schen Familienromans als kulturtheoretisches Konzept führt in den historischen Wissenschaften zu aufschlussreichen Ergebnissen. (Vgl. Lynn Hunt: The Family Romance of the French Revolution. Berkeley u. a. 1992) Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker. In: Studienausgabe. Hg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. 4. 7. Aufl. Frankfurt/M. 1970, S. 223–226, hier: S. 224.

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19. Jahrhunderts interpretiert wird. Die Regeln des Hauses und die narrative Struktur der in diesem Kapitel untersuchten Romane konvergieren. Sie proliferieren Figuren und Topoi, die in den einzelnen Abschnitten des Kapitels aufgeschlüsselt werden. Das Ergebnis dieser Konvergenz besteht in erster Linie darin, dass sich die Historiographie der modernen Familienunternehmen narrativer Muster und einer Sprache bedient, welche die Häuserromane der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickeln. Kapitel III erkundet das gemeinsame Wissen von Literatur, Sozialanthropologie sowie wilhelminischer Indogermanistik auf dem Feld privilegierter Verwandtschaftsbeziehungen. Anhand einer synoptischen Interpretation von Theodor Fontanes Häuserromanen und unter Zuhilfenahme von Verwandtschaftsdiagrammen wird gezeigt, wie die strukturale Konkurrenz von Geschwister- und Ehepaaren dynastische Kombinatorik ermöglicht und perpetuiert. Fontanes besonderer literarhistorischer Status, der die mikrologische Auseinandersetzung mit der verwandtschaftlichen Textur seiner Romane rechtfertigt, besteht darin, dass er auf eindrückliche Weise die Artikulationsformen genealogischer Sorge in seine Romane aufnimmt und weiterentwickelt. Schließlich zeigt Kapitel IV, wie die Häuserromane an Vorstellungen über die Mechanismen einer als jüdisch apostrophierten Hauspolitik arbeiten. Diese wird als überlegen wahrgenommen, insofern sie die Optionen endogamer und exogamer Allianzbildung weitgehend ausschöpft und gewinnbringend amalgamiert. Das othering der jüdischen Hauspolitik ermöglicht es der wilhelminischen Gesellschaft, über die Mitgift als Allianz stiftendes Mittel, über Verwandtenheiraten sowie jene ehrgeizigen Aspiranten und Aufsteiger, die ihrer Aufnahme in Häuser harren, erstmals in Form ›persischer Briefe‹ zu kommunizieren.

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Kapitel I Das Haus

In den Jahren 1850 bis 1926 überschneiden sich europäische Fremd- und Eigenethnographie in ihrer Sensibilität für Hausstrukturen. In diesem Zeitraum werden sowohl die Romane publiziert, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, als auch die Theorien, die zur Analyse dieser Romane herangezogen werden: Henry S. Maines Ancient Law, der Gründungstext der ethnologischen Körperschaftslehre, wird 1861 veröffentlicht; Alfred R. Radcliffe-Brown hält den Vortrag The Mother’s Brother in South Africa im Jahr 1924. Die Männer, die das Projekt verfolgen, eine Taxonomie der verwandtschaftlich bestimmten Körperschaften der Fremden zu entwerfen, leben und arbeiten darüber hinaus in sozialen Zusammenhängen, die denen der Fremden auf frappante Weise ähneln. So ist das Verhältnis zwischen Schwestersohn und Mutterbruder sowohl in Südafrika eine privilegierte Beziehung als auch im Deutschen Kaiserreich und in der französischen Dritten Republik, in denen etwa Franz Boas und Marcel Mauss ihre korporativen Karrieren Mutterbrüdern verdanken.1 Das gleiche gilt für die Theorie der Kreuzcousinenheirat, die von Männern formuliert wird, die teilweise selbst ihre Kreuzcousinen geheiratet haben.2 Die disziplinäre Genese der Sozialanthropologie und des Verwandtschaftsparadigmas

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»Marcel Mauss (1872–1950), Emile Durkheims Neffe und hervorragendster Schüler, war ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten und Kenntnissen, von großer Integrität und strengen Überzeugungen. Nach Durkheims Tod galt er als die führende Gestalt in der französischen Soziologie.« (E.E. Evans-Pritchard: Vorwort. In: Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt/M. 1990, S. 7–12, hier: S. 7) Bei Franz Boas ist es Abraham Jacobi, der der wissenschaftlichen Karriere und Eheanbahnung seines Schwestersohns Pate steht. Onkel und Neffe verbindet ein intensiver Briefverkehr. (Vgl. Markus Verne: Promotion, Expedition, Habilitation, Emigration. Franz Boas und der schwierige Weg, ein wissenschaftliches Leben zu planen [1881–1887]. In: Paideuma 50 [2004], S. 81–99, insbesondere S. 81 u. 85f.) Die Bedeutung des Mutterbruders für die Karriere des Schwestersohns lässt sich an folgender Widmung ablesen, die einer Dissertation aus dem Jahr 1905 vorangestellt wurde: »Seinem lieben Onkel dem Geheimen Justizrat und Landgerichtsrat a.D. Herrn Hermann Fraas Ritter pp. in herzlicher Verehrung gewidmet vom Verfasser«. (Hans Joachim Dalchow: Ueber die rechtsgeschichtlichen Grundlagen der Ehe zur linken Hand. Greifswald 1905, S. 3) »Morgan himself resisted any attribution of cross-cousin marriage to these ›primitive‹ systems, not least perhaps because he himself – a representative of ›civilization‹ – had married his own cross-cousin«. (Robert Parkin u. Linda Stone: General Introduction. In: Dies. [Hg.]: Kinship and Family. An Anthropological Reader. Malden u. a. 2004, S. 1–23, hier: S. 8) Vgl. hierzu auch Martin Ottenheimer: Lewis Henry Morgan and the Prohibition of Cousin Marriage in the United States. In: Journal of Family History 15/3 (1990), S. 325–334 und Nancy Fix Anderson: Cousin Marriage in Victorian England. In: Journal of Family History 11/3 (1986), S. 285–301.

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scheint somit nicht unabhängig von der europäischen Verwandtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu sein. Dass es sich bei den »avunkular« gestützten Karrieren von Boas und Mauss sowie Lewis Henry Morgans Heirat mit seiner Kreuzcousine um mehr handelt als Zufälle, die lediglich das Interesse der Biographen wecken könnten, wird im vorliegenden Kapitel anhand historischer Ausführungen zur Verwandtschaft im 19. Jahrhundert gezeigt.3 Die literarische und sozialanthropologische Rede vom Haus als einer Körperschaft ist vor diesem historischen Hintergrund zu sehen.

1. Verwandtschaft im 19. Jahrhundert Über »Verwandtschaft« im 19. Jahrhundert zu schreiben, beinhaltet implizit ein wichtiges Argument, wurde doch lange Zeit Familiengeschichte anhand der Kategorie »Haushalt« geschrieben.4 Wer Familiengeschichte als Haushaltsgeschichte schreibt, kommt nicht umhin, die räumlich, ökonomisch und affektiv eingegrenzten Beziehungen innerhalb der einzelnen Haushalte zu fixieren und die Beziehungen zwischen den einzelnen Haushalten auszublenden. Zu welch unterschiedlichen Ergebnissen man kommt, wenn man einerseits die Beziehungen innerhalb von Haushalten, andererseits die Beziehungen zwischen ihnen beobachtet, kann exemplarisch anhand von Untersuchungen über die Familien von Fabrik- und Wanderarbeitern gezeigt werden: Legt man an diese Familien den Maßstab des Haushalts und der Haushaltsgröße an, erscheinen sie gegenüber den übrigen Familienformen häufig als defizitär. Kostgänger gehen in diesen Haushalten ein und aus, und die Väter sind nicht dauerhaft in die Familien einzubinden.5 Das Kennzeichen der Wanderarbeiter scheint ihre Familienlosigkeit zu sein, sind es doch häufig die unverheirateten erwachsenen Kinder armer Familien, die zu Arbeitsmigranten werden. Ein solcher Befund legt den Schluss nahe, dass die kapitalistischen Produktionsbedingungen die Familien zersetzen und Familiengründungen verhindern. Untersucht man dagegen die Beziehungen zwischen den einzelnen Haushalten, bietet sich ein anderes Bild: Arbeitsmigranten mögen kleine Haushalte haben, sie wandern jedoch häufig gemeinsam mit ihren Geschwistern und versuchen, an einem Ort heimisch zu werden.6 Weit davon

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Das Wort »avunkular« ist an avunculus, die lateinische Verwandtschaftsbezeichnung für den Mutterbruder, angelehnt. Avunculus wiederum ist ein Diminutiv zu avus, der lateinischen Bezeichnung für den mütterlichen Großvater. Das Avunkulat wird ausführlicher im Kapitel III/1 behandelt. Vgl. zur Familiengeschichte als Haushaltsgeschichte Heidi Rosenbaum: Zur neueren Entwicklung der Historischen Familienforschung. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 210–225. Zwar setzt sich bereits Heidi Rosenbaum sehr kritisch mit der Haushaltsforschung auseinander, doch ihre Kritik richtet sich gegen den Positivismus der Haushaltsforschung und ihre »Fixierung auf Zahlen und deren vermeintliche Objektivität unter Vernachlässigung der Theoriebildung«. (Rosenbaum, Familienforschung, S. 225) Dagegen geht die Kritik der neueren Verwandtschaftsforschung – wie noch gezeigt werden wird – in andere Richtung. Vgl. Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt/M. 1987, S. 183–185. So heißt es über die Fabrikarbeiter in Esslingen zwischen 1830 und 1848: »In manchen

entfernt, afamiliale Existenzen zu sein, sind sie nicht selten in einem verwandtschaftlichen Netzwerk organisiert.7 Über die Reichweite und Dichte dieser Netzwerke wurden erst in den letzten Jahren historische Studien vorgelegt.8 Ihnen ist gemeinsam, dass sie weniger mit den Kategorien ›Familie‹ und ›Haushalt‹, umso konsequenter aber mit der Kategorie ›Verwandtschaft‹ arbeiten. Die Verschiebung »[v]on der Familien- zur Verwandtschaftsgeschichte« lässt sich inzwischen anhand zahlreicher Einzeluntersuchungen nachverfolgen.9 Sie zeugen von einer reichen Forschungslandschaft, in der neue Untersuchungsfelder und Quellenkorpora erschlossen und bereits bekannte und noch immer rätselhafte Phänomene aufs Neue erklärt werden. Ein solches häufig diskutiertes Phänomen ist die Zunahme der Verwandtenehen – insbesondere zwischen Cousine und Cousin –, die zwischen 1880 und 1920 ihren Höhepunkt erreichte und sowohl die sozialen Eliten als auch die ländlichen (Unter-)Schichten betraf.10 Die umfassendste Erklärung der Zunahme der Verwandtenehen stammt von MikrohistorikerInnen. Ausgehend von einem einzelnen Ort und seinen

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Betrieben der Textilindustrie lag die Auswärtigenrate bei fast 70%. Die Namengleichheit bei manchen im selben Haus wohnenden Arbeitern in Adreßbüchern oder bei Fabrikbelegschaften läßt vermuten, daß diese häufig zusammen mit Geschwistern eingewandert waren oder diese nachgezogen hatten.« (Carola Lipp: Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 283 [2006], S. 31–77, hier: S. 75) Welche Ergebnisse die Anwendung der Netzwerkanalyse in der Verwandtschaftsforschung zeitigt, verdeutlicht insbesondere die bereits angeführte Esslinger Studie von Carola Lipp, die im vorliegenden Abschnitt ausführlicher behandelt werden wird. Der wissenshistorische Zusammenhang von Netzwerkanalyse und Verwandtschaftsforschung wird hervorgehoben in Margareth Lanzinger u. Edith Saurer: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, S. 7–22, hier: S. 13f. Vgl. Annemarie Steidl: Verwandtschaft und Freundschaft als soziale Netzwerke transatlantischer MigrantInnen in der Spätphase der Habsburgermonarchie. In: Margareth Lanzinger u. Edith Saurer (Hg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, S. 117–144 und Laurence Fontaine: Kinship and Mobility: Migrant Networks in Europe. In: David Warren Sabean, Simon Teuscher u. Jon Mathieu (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900). New York u. a. 2007, S. 193–210. Sandro Guzzi-Heeb: Von der Familien- zur Verwandtschaftsgeschichte: Der mikrohistorische Blick. Geschichten von Verwandten im Walliser Dorf Vouvry zwischen 1750 und 1850. In: Historical Social Research 30/3 (2005), S. 107–129. Eine konzise Zusammenfassung der gegenwärtigen Debatten liefert Andreas Litschel [Rezension]: David Warren Sabean, Simon Teuscher u. Jon Mathieu (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900). New York u. a. 2007. In: H-Soz-u-Kult 12.12.2008, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-225 (Stand: 31.12.2010). Vgl. David Warren Sabean: Kinship in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge/UK u. a. 1998, S. 379. Zur Diskussion dieses Phänomens innerhalb der Geschichtswissenschaft vgl. Jon Mathieu: Kin Marriages: Trends and Interpretations from the Swiss Example. In: David Warren Sabean, Simon Teuscher u. J.M. (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900). New York u. a. 2007, S. 211–230. Eine Zusammenstellung der Forschungsliteratur zu diesem Aspekt der Verwandtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts findet sich in Margareth Lanzinger: Schwestern-Beziehungen und Schwager-Ehen. Formen familialer Krisenbewältigung im 19. Jahrhundert. In: Eva Labouvie (Hg.): Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation. Köln u. a. 2009, S. 263–282, hier: S. 263f.

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Bewohnern werden die Interdependenzen von Parametern analysiert, die in der konventionellen Sozialgeschichte getrennt untersucht werden: angefangen von der Bevölkerungsentwicklung, der ökonomischen Situation und den ökologischen Umweltbedingungen bis hin zu Fragen des Heiratsverhaltens und Formen sozialer Kontrolle.11 Die Beschränkung auf einen Ort sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die MikrohistorikerInnen als die eigentlichen Erben der Universalgeschichte begreifen. Denn die Mikrogeschichte setzt implizit voraus, dass sich eine möglichst umfassende Sicht der oben beschriebenen Parameter allein durch die Auswahl eines kleinen Untersuchungsgegenstands – etwa die Stadt Esslingen oder das Dorf Neckarhausen statt der europäischen Gesellschaft – gewährleisten lässt.12 Der universale Anspruch und »die dauernde Abwechslung von Fallstudien und soziologischen Verallgemeinerungen« erklären die Nähe der Mikrogeschichte einerseits zur Annales-Schule, andererseits zur Sozialanthropologie.13 So wie die Sozialanthropologen mit ihren Feldforschungen selten nur etwas über die Trobriander oder die afrikanischen Azande herausfinden wollen, beanspruchen die Mikrohistoriker mit ihren Untersuchungen, allgemeine Geschichte zu schreiben. Hier wie dort gilt das Versprechen, dass die mikroskopische Analyse überschaubarer Verhältnisse Beziehungen sichtbar macht, die durch das grobe Begriffsraster der konventionellen Sozialgeschichte fallen, deren Offenlegen aber erst das Verständnis von Entwicklungen der longue durée ermöglicht.14 So fördern etwa – wie bereits erläutert – der Begriff des ›Haushalts‹ und eine Sozialgeschichte der Familie, die anhand sich wandelnder Haushaltsgrößen geschrieben wird, die Invisibilisierung verwandtschaftlicher Beziehungen, die quer zu den vermeintlich autonomen Haushalten unterhalten werden.15 Um zu zeigen, wie eine Geschichte verwandtschaftlicher Beziehungen aussehen kann, sollen im Folgenden – ganz im Einklang mit der mikroanalytischen Methode – der jüngsten historischen Forschung einige Proben entnommen werden.

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Vgl. David Warren Sabean: Verwandtschaft und Familie in einem württembergischen Dorf 1500 bis 1870: einige methodische Überlegungen. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, S. 231–246. Zu den einflussreichsten mikrohistorischen Studien gehören neben Sabeans bereits erwähnter Studie Kinship in Neckarhausen Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte. Göttingen 1997; David Warren Sabean: Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700–1870. Cambridge/UK u. a. 1990 und Martine Segalen: Quinze générations de Bas-Bretons. Parenté et société dans le pays bigouden sud, 1720–1986. Paris 1985. Vgl. die Einleitung »Entlegene Geschichte? Lokalgeschichte als mikro-historisch begründete Allgemeine Geschichte« in Hans Medick, Weben und Überleben, S. 13–37, hier insbesondere S. 20–22. Sabean, Verwandtschaft und Familie, S. 234. Vgl. zum Zusammenhang von Mikrogeschichte und der Annales-Schule Medick, Weben und Überleben, S. 21. Durch die Referenz auf die longue durée unterscheidet sich die Mikrogeschichte deutlich von der Alltagsgeschichte. Zur doppelten Frontstellung der Mikrogeschichte gegen Sozial- und gleichzeitig Alltagsgeschichte in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft der 1970er und 1980er Jahre vgl. Medick, Weben und Überleben, S. 32. Zur Invisibilisierung von »Verwandtschaft« als analytische Kategorie in den Sozialwissenschaften vgl. Lipp, Verwandtschaft, S. 31–39.

Esslingen, 1803–1849 Auf den ersten Blick bietet die ehemalige Reichsstadt Esslingen, die 1802 von Württemberg annektiert und mediatisiert wird, ein typisches Beispiel für die Verdrängung traditioneller, verwandtschaftlich bestimmter Formen der Herrschaftssicherung durch moderne Verfahren wie etwa Wahlen. Um diesen Prozess zu veranschaulichen, genügt ein Blick auf die Zusammensetzung des Stadtrats: Noch vor der württembergischen Annexion konnte es vorkommen, dass die Mehrheit der Mitglieder direkt zur Familie des ersten Bürgermeisters gehörte.16 Nach der Annexion verbietet die neue Regierung ausdrücklich die direkte Verwandtschaft zwischen den Mitgliedern des Stadtrats. Konstellationen, die noch vor 1802 häufig anzutreffen waren – die zeitgleiche Mitgliedschaft von Vater und Sohn oder Schwiegervater und Schwiegersohn –, sollten durch die neuen Gesetze verhindert werden. Überdies sollten periodisch wiederkehrende Wahlen die »Lebenslänglichkeit« von Ämtern aufheben. Die neuen Regelungen führten nach 1802 tatsächlich dazu, dass ab diesem Zeitpunkt Väter und Söhne nicht mehr gemeinsam im Stadtrat saßen, familiale Bande somit nicht mehr ohne weiteres politisiert werden konnten. Wie trügerisch eine solche Auslegung der Daten ist, verdeutlicht Carola Lipps Mikroanalyse der personellen Zusammensetzung des Stadtrats, wie sie sich zwischen 1803 und 1849, also nach den württembergischen Neuregelungen, entwickelte. Lipp weist nach, dass die Sanktionierung direkter Verwandtschaft bei der Wahl der Räte dazu führte, dass konnubiale und affinale Beziehungen – das heißt Beziehungen, die durch Eheschließungen und durch Schwiegerverwandtschaft zustande kamen – umso wichtiger wurden. Die Wahlen »trugen nicht zu einer Entflechtung der Verwandtenverhältnisse im Stadtrat bei, sondern führten zu einer Verdichtung«.17 Diese Verdichtung lässt sich am besten durch Netzwerkdiagramme veranschaulichen. Die einzelnen Netze entstehen durch die Verknüpfung von allen verwandtschaftlich direkten und indirekten Beziehungen. Häufig sind solche Netze »über Schwiegerväter und deren Schwiegersöhne bzw. über Ko-Schwiegerväter aufgebaut. Andere Verwandtschaften sind durch Onkel-NeffenNetzwerke repräsentiert«.18 Ähnliches lässt sich für den Bürgerausschuss feststellen, der jedes Jahr zur Hälfte neu gewählt wurde. Verwandtschaftliche Verflechtung vollzog sich auf mehreren Ebenen.19 Lipp bietet mit diesen empirischen Befunden keine schlichte Revision der vorangehenden Forschung. Eine solche Revision würde sich in der einfachen Umkehrung der Ergebnisse erschöpfen, indem sie die verwandtschaftliche Verflechtung in den von den Bürgern gewählten politischen Organen aufzeigt. Wozu sie einlädt, ist die Arbeit mit einem Begriff von Verwandtschaft, der primär die konnubialen und weniger die

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Vgl. Lipp, Verwandtschaft, S. 44. Lipp, Verwandtschaft, S. 45. Lipp, Verwandtschaft, S. 48. Die Erweiterung der Untersuchung auf den Bürgerausschuss ist nicht zu unterschätzen. Lipp selbst räumt ein, dass die »soziale Exklusivität von städtischen Eliten im 19. Jahrhundert […] ein allgemein bekanntes Phänomen« ist. (Vgl. Lipp, Verwandtschaft, S. 53) Allerdings wurde die soziale Exklusivität städtischer Eliten bislang bevorzugt anhand der patrizischen Oligarchien der Frühneuzeit untersucht. (Vgl. Lipp, Verwandtschaft, S. 36)

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konsanguinalen Beziehungen verfolgt. Die Allianz zwischen Ko-Schwiegervätern oder den Ehemännern von zwei Schwestern spielt in den Netzen eine weitaus wichtigere Rolle, ist politisch wertvoller als die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Lipps Analyse führt eine weitere wichtige Differenzierung ein. So bewirkten die gesetzlichen Neuregelungen von 1802 zwar, dass direkte Verwandte nicht mehr zeitgleich im Stadtrat sitzen durften. Dass sie jedoch nacheinander das Amt des Stadtrats bekleideten, wurde nicht nur toleriert, sondern schien ausdrücklich erwünscht zu sein: »Da dieses Nachrücken jüngerer Generationen aufgrund von Wahlen zustande kam, muß man annehmen, daß Verwandtschaft ein positives Kriterium der Auswahl war und möglicherweise sogar eine gezielte Strategie darstellte, wie die hohe Zahl von solchen Verbindungen nahelegt.«20 Das Zusammenspiel verwandtschaftlicher Beziehungen schien Regeln zu gehorchen, die für die historische Forschung lange Zeit unsichtbar gewesen sind. Lipp spricht in diesem Zusammenhang von den »Regeln der Verwandtensukzession«,21 die darin bestanden, »enge konsanguinale und affinale Verwandte in einer Amtsperiode zu vermeiden«.22 Die Verschiebung der Kooperation von der ›synchronen‹ auf die ›diachrone‹ Achse ging mit der Verfeinerung und Erweiterung von Rekrutierungsmechanismen einher. Neckarhausen, 1700–1870 In seinen beiden Studien Kinship in Neckarhausen und Property, Production, and Family in Neckarhausen legt der amerikanische Historiker David W. Sabean den Grundstein für das Verständnis verwandtschaftlicher Verflechtungen im 19. Jahrhundert. Fokussiert werden die Veränderungen in der Wechselwirkung von Eigentumsverhältnissen und Heiratsverhalten im Zeitraum zwischen 1700 und 1870. Das letzte Kapitel von Kinship in Neckarhausen ist einem Vergleich der württembergischen Pfarrei in europäischer Perspektive gewidmet, was den universalhistorischen Einsatz von Sabeans Unternehmen ausmacht. Neckarhausen lag erbrechtlich im Realteilungsgebiet, das heißt in einem Gebiet, in dem alle Geschwister gleichermaßen erbten. Im Vergleich zu anderen Gebieten, in denen ebenfalls Realteilung praktiziert wurde, fällt im Fall von Neckarhausen auf, dass hier nicht nur Söhne und Töchter gleichermaßen erbten, sondern dass selbst in der Art und Beschaffenheit dessen, was Töchter im Gegensatz zu Söhnen erben sollten, kein Unterschied gemacht wurde. Es war daher keine Seltenheit, wenn sich das Erbe oder die Mitgift der Töchter neben Hausrat (allem voran Unmengen an Leinenwäsche) aus Ländereien zusammensetzte.23 Die rechtliche Grundlage einer solchen ökonomischen Potenz der erbenden Töchter und der Ehefrauen ist auf die Aufhebung der Geschlechts-

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Lipp, Verwandtschaft, S. 48. Lipp, Verwandtschaft, S. 57. Lipp, Verwandtschaft, S. 55. Vgl. Sabean, Property, S. 13. Was die Gleichartigkeit des männlichen und weiblichen Erbteils angeht, stellt die württembergische Erbpraxis – mikrohistorisch gesprochen – einen sogenannten normalen Ausnahmefall, einen »Extremfall des Möglichen«, dar. (Vgl. Medick, Weben und Überleben, S. 34f.)

vormundschaft um 1828 zurückzuführen, im Zuge derer die Frauen verwaltungs- und geschäftsfähig wurden und damit berechtigt waren, als Ehefrauen Bürgschaften für ihre Ehemänner zu übernehmen. Von nun an konnten sie die Geschäfte mitbestimmen und kontrollieren.24 Die Aufwertung des rechtlichen Status der Frauen gepaart mit der Erbpraxis der Realteilung führte dazu, dass sich das Vermögen, das Mann und Frau jeweils in die Ehe einbrachten, mehr und mehr annäherte. Aus diesem Grund spricht Sabean nicht allein im Hinblick auf Neckarhausen – denn die Aufhebung der Geschlechtsvormundschaft fand nicht nur in Württemberg statt – davon, dass die Ehe zunehmend dazu diente, Familien, die einander ebenbürtig waren, miteinander zu verbinden. Das ist insofern eine bemerkenswerte Entwicklung, als noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Ehe häufig wenig Begüterte zu Versorgungszwecken mit jenen zusammenkamen, die über mehr Mittel verfügten, und die Ehe allein schon aus ökonomischer Perspektive eine zutiefst asymmetrische Beziehung war.25 Die Ehe im 18. Jahrhundert konnte für vertikale Integration sorgen. Im 19. Jahrhundert wurde sie zu einem Mittel horizontaler Integration. Die erbpraktische, rechtliche und eheliche Statusaufwertung der (Ehe-)Frauen wurde von einem weiteren Prozess begleitet und verstärkt: Sabean beschreibt, wie im Laufe der Zeit immer mehr (Ehe-)Männer Neckarhausen für Arbeit, zum Bau von Straßen, Eisenbahnschienen oder Kanälen verließen. Zwar hatte es Arbeitsmigrationen immer gegeben, doch neu war, dass die Männer nun für deutlich längere Perioden abwesend waren, so dass die Organisation des Haushalts und die Führung der Geschäfte teilweise ganz in weibliche Hände überging. Sabean spricht von einer Effeminisierung des Dorfes und listet eine Reihe von Indizien auf, die zeigen, wie sich die Position der Frauen auf eine Weise veränderte, die ihrem neuen Status im Haushalt gerecht wurde: Die Witwen blieben immer häufiger unverheiratet und behielten bis zum Tod das Familienvermögen in ihren Händen; sie sorgten dafür, dass Arbeitsgeräte in ihrem Besitz blieben und nicht an die männlichen Erben gingen; zwar erbten alle Geschwister gleich, doch wurde das Erbe der Töchter gern mit zusätzlicher Mitgift aufgestockt, so dass die Position der Ehefrau – zumindest in den ersten Ehejahren – gestärkt wurde.26 Das Insistieren auf den gewandelten, verbesserten Status der Frauen in Neckarhausen soll nicht Assoziationen eines Matriarchats wachrufen, sondern erklären, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass verwandtschaftliche Beziehungen nicht ausschließlich als agnatische – d. h. über die männliche Linie definierte – Verbindungen gedacht wurden, sondern immer mehr als kognatische – als reziproker Austausch zwischen der väterlichen und der mütterlichen Linie. Erst die Effeminisierung des Dorfes erlaubte ein verwandtschaftliches criss-crossing und ließ neue Muster – etwa in der Namensgebung der Nachkommen – entstehen: In der

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Vgl. Sabean, Property, S. 212 und Ders., Kinship, S. 363. An anderer Stelle erörtert Sabean ausführlicher die Auswirkungen der Aufhebung der Geschlechtsvormundschaft auf den Umgang mit den Eigentumsrechten der Frauen. (Vgl. Ders.: Allianzen und Listen: Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert. In: Ute Gerhard [Hg.]: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 460–479) Vgl. Sabean, Kinship, S. 365. Vgl. Sabean, Kinship, S. 363f.

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Namensgebung der Söhne verschwand die patrilineare Herrschaft. Die Brüder der Mütter und die Schwestern der Väter gewannen als Namensgeber und Namensgeberinnen an Bedeutung.27 Daneben wurden häufig Namen aus der väterlichen und der mütterlichen Linie kombiniert, so dass Sabean von einer »endgültigen Zerstörung der agnatischen Struktur in der Namensgebung« spricht.28 Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Muster in der Namensgebung waren eng mit den Veränderungen in der Institution der Patenschaft verbunden, insofern Namensgeberin und Namensgeber gleichzeitig Patin und Pate waren. Was veränderte sich? Im 17. Jahrhundert bemühten sich die Eltern stets um Paten, die einen höheren Status als sie selbst hatten. Reiche Bauern etwa wählten niemals andere reiche Bauern, sondern Städter als Paten und standen selbst wiederum für die ärmeren Familien als Paten zur Verfügung. Die asymmetrische Beziehung zwischen der Familie des Paten und der Familie des Patenkindes wurde dadurch unterstrichen, dass die Paten häufig älter als die Eltern des Kindes waren. Patenschaft hatte damit eine eindeutig vertikal integrative Funktion, so dass man eigentlich von einer Patron-Klient-Beziehung sprechen muss. Der Pate eines Kindes war selten mit der Familie des Kindes verwandt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verblasste die Patronage-Funktion der Patenschaft, und »das Patronage-System fing an, ›familialisiert‹ zu werden«.29 Die reichen Familien in Neckarhausen wählten die Paten aus anderen reichen Familien des Dorfes oder gaben Cousins den Vorzug (Sabean spricht vom »intensiveren und systematischeren Einsatz von Cousins«).30 Die Verbindung zwischen Dorf und Stadt schien dagegen weit weniger attraktiv zu sein. Die Tendenz zur Symmetrisierung der Beziehung zwischen den Paten und den Eltern zeigte sich auch daran, dass sich das Alter der beiden Parteien einander annäherte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts lässt sich beobachten, dass sich der Kreis, aus dem Paten gewählt wurden, ausschließlich auf die Verwandten verengte, insbesondere auf die Geschwister, wobei vorzugsweise der Bruder der Mutter als Pate und Namensgeber, die Schwester des Vaters als Patin und Namensgeberin fungierte: »Die Wahl der Paten akzentuierte systematisch Bruder/Schwester-Beziehungen.«31 Wenn es stimmt, dass Paten gewählt wurden, »um wichtige Beziehungen zu unterstreichen oder um Unterschiede zu betonen, indem bestimmte Beziehungen ausgeschlossen wurden«,32 dann liegt der Schluss nahe, dass im verwandtschaftlichen Netz zunehmend die Beziehung Bruder/ Schwester betont wurde. Dass es sich dabei um eine Beziehung handelte, die durchaus reproduktive Energie besaß, zeigte sich daran, dass es in dieser Zeit europaweit – wie bereits erwähnt – vermehrt zur Eheschließung zwischen den Kindern von Geschwistern kam. Der Nukleus Bruder/Schwester interessiert Sabean aber noch aus einem anderen Grund: Die Konzentration auf die engsten Verwandten – bei der Wahl der Paten

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Vgl. Sabean, Kinship, S. 370. Sabean, Kinship, S. 376. (Deutsche Übersetzung Sabean, Kinship, S. 375. (Deutsche Übersetzung Sabean, Kinship, S. 369. (Deutsche Übersetzung Sabean, Kinship, S. 369. (Deutsche Übersetzung Sabean, Verwandtschaft und Familie, S. 240.

von von von von

mir, mir, mir, mir,

N.G.) N.G.) N.G.) N.G.)

ebenso wie bei der Wahl der Ehepartner – ist der strukturelle Kern eines Prozesses, den Historiker an anderer Stelle als Klassenbildung bezeichnet haben.33 Das Bestechende an Sabeans These liegt im Nachweis, dass erst die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu entwickelte, auf Reziprozität gründende verwandtschaftliche Grammatik für eine umfassende horizontale Integration der einander ökonomisch Ebenbürtigen sorgte. Damit geht gewissermaßen die Demokratisierung oder Entaristokratisierung der Verwandtschaftsforschung einher, da der Prozess der endogamen, klassenspezifischen Einschließung nicht allein für die städtischen Eliten oder Industriedynastien behauptet wird – sondern für alle Familien. Insofern erübrigt es sich fast von selbst, zu betonen, dass hier eine verwandtschaftliche Beziehung für einen Code steht, der den reziproken Austausch zwischen zwei Linien reguliert.

2.

Die Verwandtschaft und das Haus

Es ist kein Geheimnis, dass sich die mikrohistorische Forschung zur Verwandtschaft in kontinuierlichem Austausch mit der Sozialanthropologie entwickelt hat.34 Die Arbeit der MikrohistorikerInnen mit der sozialanthropologischen Theorie und Terminologie läuft programmatisch der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert etablierten wissenschaftlichen Arbeitsteilung zuwider: In dieser Zeit entledigen sich die Sozialwissenschaften zur Analyse moderner Gesellschaften der Kategorie der Verwandtschaft und überlassen sie der sich neu formierenden Ethnologie respektive Sozialanthropologie.35 Die moderne Geschichtswissenschaft wiederum, die sich lange Zeit als historische Sozialforschung begreift, setzt die Arbeitsteilung fort, indem sie sich weniger mit verwandtschaftlichen Strukturen, sondern in erster Linie mit der Kritik und historischen Genese der bürgerlichen Kleinfamilie auseinandersetzt.36 Die Übernahme sozialanthropologischen Theorieguts durch die Geschichtswissenschaft, die hingegen seit den 1980ern zu beobachten ist, betrifft allen voran die Schriften von Claude Lévi-Strauss. So enthält Sabeans Kinship in Neckarhausen zusätzlich zu den empirischen Daten zur Bevölkerungsentwicklung, zum Heiratsverhalten und zu den Praktiken der Vererbung, Namensgebung und Patenschaft

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Vgl. Sabean, Kinship, S. 449–489. Die von Sabean ins Feld geführte These wird u. a. aufgegriffen von Christopher H. Johnson: Das »Geschwister Archipel«: Bruder-Schwester-Liebe und Klassenformation im Frankreich des 19. Jahrhunderts. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 13/1 (2002), S. 50–67. Vgl. als ein Dokument dieses Austauschs Hans Medick u. David Sabean (Hg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984. Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Sozialanthropologie im Allgemeinen vgl. Burkhard Schnepel: Ethnologie und Geschichte. Stationen der Standortbestimmung aus der britischen »Social Anthropology«. In: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 109–128, insbesondere S. 120–122. Vgl. Lipp, Verwandtschaft, S. 31–33. Vgl. hierzu den programmatischen Aufsatz von Karin Hausen: Familie als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft. Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 171–209.

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einen vielschichtigen – mitunter untergründigen – Dialog mit Lévi-Strauss’ Allianztheorie und dessen Kernthese vom Tausch als der elementaren Operation menschlicher Vergesellschaftung.37 In einer Hinsicht jedoch ist die Lévi-Strauss-Rezeption der Historiker überraschend: Sie favorisieren fast ausschließlich die strukturalen Modelle der Verwandtschaftsanalyse.38 Selten werden in den historischen Abhandlungen jene Schriften zitiert, in denen sich die strukturale Anthropologie programmatisch der Geschichtswissenschaft und damit der Frage zuwendet, unter welchen Bedingungen sich verwandtschaftlich bestimmte Institutionen verändern, und ob ein Feld zu erarbeiten ist, auf dem sich ethnologische und historische Interessen überschneiden.39 Gerade um diese vergleichsweise selten zitierten Schriften wird es im Folgenden gehen. Zu Beginn einer Vorlesungsreihe, die in den Jahren 1976 bis 1982 stattfindet und später den Titel »Clan, Lineage, Haus« erhalten wird, stellt Lévi-Strauss fest, dass den Ethnologen Gesellschaften bekannt sind, »deren konstituierende Einheiten sich weder als Familien noch als Clans oder Lineages definieren lassen.«40 Er schlägt vor, zur Beschreibung dieser Einheiten auf das »Haus« zurückzugreifen, und erarbeitet Elemente zur sozialanthropologischen Definition dieser sozialen Institution. Auch wenn die Frage nach den »konstituierende[n] Einheiten« einer Gesellschaft aus heutiger Sicht aufgrund ihrer implizit typologisierenden Stoßrichtung anachronistisch scheint, lohnt der Blick auf die Gründe, die Lévi-Strauss für die Einführung des Konzepts des »Hauses« in die sozialanthropologische Terminologie angibt: Es ist den bis dahin gängigen sozialanthropologischen Beschreibungskategorien – wie etwa Klan oder Lineage – gemeinsam, dass sie zwischen der mütterlichen und der väterlichen Linie unterscheiden und implizieren, dass die Nachkommen entweder der einen oder der anderen Linie zugeordnet werden müssen, um als »verwandt« oder »nicht-verwandt« zu gelten. Vor diesem Hintergrund müssen alle verwandtschaftlichen Institutionen überraschen, die diese Unterscheidung nicht treffen bzw. uneinheitlich verwenden. Ein frühes Beispiel für eine solch uneindeutige Verwendung von Klassifikationsregeln findet sich in den Aufzeichnungen des deutschen Ethnologen Franz Boas, die Lévi-Strauss erneut studiert und zur Konturierung seiner Definition des Hauses verwendet. Ihnen gilt der folgende Exkurs.

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Vgl. zu Sabeans Rezeption von Claude Lévi-Strauss’ Allianztheorie Georg Fertig [Tagungsbericht]: Geschwisterbeziehungen in historisch-demographischer und mikrohistorischer Sicht. In: H-Soz-u-Kult 18.3.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=406 [S. 6] (Stand: 01.04.2010). Vgl. hierzu exemplarisch Ann-Cathrin Harders: Suavissima soror. Untersuchungen zu den Bruder-Schwester-Beziehungen in der römischen Republik. München 2008. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Stillstand und Geschichte. Plädoyer für eine Ethnologie der Turbulenzen. In: Ulrich Raulff (Hg.): Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven. Berlin 1986, S. 68–87. Im Folgenden werden zur besseren Lesbarkeit die deutschen Übersetzungen von Lévi-Strauss’ Schriften zitiert. Überall dort, wo zum besseren Verständnis die Kenntnis des französischen Originals unerlässlich ist, finden sich die französischen Zitate in der Fußnote oder – im Fall von einzelnen Wörtern – kursiviert in der Klammer. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Clan, Lineage, Haus. In: Ders.: Eingelöste Versprechen. Wortmeldungen aus dreißig Jahren. München 1985, S. 199–253, hier: S. 199.

Exkurs: Franz Boas’ Aufzeichnungen über die Numayma Während seiner Feldforschung bei den Kwakiutl-Indianern der amerikanischen Nordwestküste stößt Franz Boas auf eine soziale Institution, die er zunächst mit Klan (clan) oder Stamm (gens) zu übersetzen versucht.41 Nach langem Zögern – »[a]fter much hesitation« – entscheidet sich Boas dafür, auf eine Übersetzung der indianischen Bezeichnung zugunsten der Verwendung des »native term numaym« zu verzichten.42 Statt durch eine voreilige Übersetzung die Unterschiede zwischen den einzelnen Institutionen zu verdecken, setzt Boas darauf, sie anhand des Fremdworts »Numayma« herauszuarbeiten. Die beiden wichtigsten Parameter seiner Untersuchung sind die personelle Zusammensetzung der Numayma und damit zusammenhängend die Art und Weise, wie über die Zugehörigkeit zu ihr entschieden wird. Nach Boas bezeichnet die Numayma – auf den ersten Blick – eine Gruppe von Personen, die durch eine Reihe sozialer Verpflichtungen aneinander gebunden sind. Sie ist streng hierarchisiert. An der Spitze steht der »chief«, ihm folgen seine Familie sowie diejenigen, die über Einheirat mit der Familie des »chief« verbunden sind.43 Dazu gehören die Ehemänner der Tanten und die Ehefrauen der Onkel ebenso wie die Schwiegereltern und die Geschwister der Eheleute.44 Zuunterst stehen »common people, also called the ›house-men‹ […] of the chief«.45 In welchem Verhältnis sie zur Familie und nächsten Verwandtschaft des »chief« stehen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Boas selbst gibt lediglich an, dass die Numayma mehr Mitglieder als die Blutsverwandten des »chief« umfasst, wofür die Aufnahme der nicht-blutsverwandten »house-men« ein Beispiel ist.46 Die Boas-Rezeption hingegen betont, dass die »house-men« zumindest über affinale Beziehungen mit der Familie des »chief« – wenn auch entfernt – verwandtschaftlich verbunden sind, und schlägt vor, sich die Numayma als eine Art »extended family« vorzustellen. Im Grunde kehrt sie damit zu Boas’ ursprünglichem Übersetzungsversuch der Numayma als Klan oder Stamm zurück.47 Neben Boas’ eigenen Einwänden spricht gegen die Übersetzung der Numayma mit »extended family« die Tatsache, dass in der letzteren die Zahl der potentiellen Mitglieder nicht begrenzt ist. Soweit die verwandtschaftliche Verbindung über Abstammung oder Einheirat zustande kommt, ist eine unbegrenzte Expansion der Familienbande möglich. Die Numayma hingegen besteht – nach Boas – aus einer begrenzten Anzahl von »Positionen«: »The structure of the numayma is best understood if we disregard the living individuals and rather consider the numayma as consisting of a certain number of positions to each of which belongs a name, a ›seat‹ or ›standing place,‹ that means rank, and privileges. Their number is limited, and they form a ranked nobility.«48 Solche Sitze kann man sich teilweise wörtlich als Sitze an einer Tafel vorstellen, die – ganz im Sinne einer Sitzordnung – hierarchisiert sind. Wer über keinen Sitz verfügt, kann an bestimmten Festlichkeiten nicht teilnehmen.49

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Vgl. Franz Boas: Kwakiutl Ethnography. Hg. Helen Codere. Chicago u. a. 1966, S. 51 und Ders.: The Social Organization of the Kwakiutl. In: American Anthropologist 22/2 (1920), S. 111–126, hier: S. 115. Vgl. Boas, Social Organization, S. 115. Vgl. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 48. Vgl. die beiden Listen in Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 48f. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 44. Die »common people« sind nicht mit den Sklaven zu verwechseln. – Die Gesellschaft der Kwakiutl ist eingeteilt in Freie und Sklaven. Soziale Institutionen wie etwa die Numayma werden ausschließlich durch Freie konstituiert, so dass in Boas’ Darstellung die Sklaven keine Rolle spielen. (Vgl. Philip Drucker: Rank, Wealth, and Kinship in Northwest Coast Society. In: American Anthropologist 41/1 [1939], S. 55–65, hier: S. 55f.) Vgl. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 43f. Vgl. Drucker, Rank, S. 58. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 50. Vgl. Helen Codere: Kwakiutl Society: Rank without Class. In: American Anthropologist 59/3 (1957), S. 473–486, hier: S. 483.

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An anderer Stelle vergleicht Boas die Positionen und Sitze mit »Ämtern« (offices), die im Laufe der Zeit immer wieder neu besetzt werden müssen.50 Die eigentliche Teilung in der Numayma verläuft also nicht primär entlang der Unterscheidung verwandt/nicht-verwandt oder blutsverwandt/nicht-blutsverwandt, sondern entlang der Unterscheidung zwischen denjenigen, die über einen Sitz oder einen Titel (Rang) verfügen, und denjenigen, die über keinen verfügen. An dieser Stelle kommen wiederum die »house-men« ins Spiel: Selbst über keinen Sitz verfügend gehören sie der Numayma an. Die Numayma setzt sich entsprechend nicht ausschließlich aus einer begrenzten Anzahl von Positionen zusammen. Sie umfasst auch jene, die über keine Position verfügen, die aber – so die schlüssige Deutung von Helen Codere – in Zukunft »eine Position erlangen könnten«.51 Erst die Erweiterung der Mitglieder auf diejenigen, die in Zukunft einen Titel erringen könnten, präzisiert den Unterschied zwischen der sozialen Institution der Numayma und den Klans, Stämmen und Sippen, mit denen es die Ethnologen bis dahin vorzugsweise zu tun hatten: Während die Struktur der Klans ziemlich eindeutig anhand der Unterscheidung verwandt/nicht-verwandt beschrieben werden kann (wobei »Verwandtschaft« hier für Beziehungen der Bluts- und der Schwiegerverwandtschaft steht), verläuft diese Grenze im Fall der Numayma eher zwischen denjenigen, die bereits eine Position innehaben und denjenigen, die eine Position erlangen könnten. Man kann sich diese Grenze als eine zwischen Amtsinhabern und Aspiranten respektive Kandidaten vorstellen. Zu solchen Kandidaten können Freunde oder Verwandte von Amtsinhabern oder noch entfernter »Freunde von Freunden« von Amtsinhabern gehören.52 Eine analoge Grenze ist die zwischen Amtsinhabern und denjenigen, die ihr Amt niederlegen – in diesem Zusammenhang ist häufig von Ruhestand die Rede und davon, wie Individuen freiwillig Ämter niederlegen und dadurch zu »commoners« werden.53 Boas hat diesen Aspekt der Numayma kaum ausgeführt, was vermutlich damit zusammenhängt, dass er sich im Verlauf seiner Untersuchung vor allem damit befasst hat, wie die jeweils höchsten »unveräußerlichen« Ämter und Titel weitergegeben werden. Die Weitergabe der jeweils höchsten Ämter und Titel einer Numayma folgt dem Prinzip der Primogenitur, die erstgeborenen Söhnen und Töchtern gleichermaßen gilt: »It must be understood that if the first-born child in such a line is a girl, she is placed in a man’s position and is socially a man.«54 Doch auch wenn eine solche Erstgeborene den sozialen Status eines Mannes erlangen kann, bedarf es der Übertragung ihrer Titel auf ihren Ehemann, der nur so lange Eigentümer dieser Titel ist, bis er sie an das erstgeborene Kind seiner Ehefrau weitergibt. Da mit den genannten Titeln und Privilegien Nutzungsrechte an Grund und Boden verbunden sind, könnte man auch sagen, dass er lediglich als Nutznießer und Verwalter dieser Güter hervortritt. Bei der Numayma handelt es sich offenbar um eine soziale Institution, in der zumindest zwei Gesetze am Werk sind, die sich ergänzen: zum einen das für Söhne und Töchter geltende Gesetz der Primogenitur und damit die Vorstellung, dass die Position des erstgeborenen Kindes dessen Geschlecht aufwiegen kann; zum anderen das latent vorhandene Prinzip der Patrilinearität. So können die Namen und Privilegien einer Numayma zwar auf eine erstgeborene Tochter übertragen werden, doch nur mit der Aussicht auf den Erhalt und die Wiederherstellung der Patrilinearität. Zugespitzt formuliert offenbart sich das patrilineare Programm darin, dass die fehlende Verbindung zwischen einem Vater und seinem Erstgeborenen durch die Verbindung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn ersetzt werden kann.

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Vgl. Boas, Social Organization, S. 118. (Deutsche Übersetzung von mir, N.G.) Die vollständige Passage lautet: »A numaym is a lineage group consisting of a series of ranked social positions, plus children and adults who do not have one of the ranked positions but who may receive one as a relative of someone who has one to pass on or who may have held one and retired from it.« (Codere, Kwakiutl Society, S. 479) In Anlehnung an Jeremy Boissevains klassischer Studie über soziale Netzwerke: Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions. Oxford 1974. Vgl. Codere, Kwakiutl Society, S. 474f. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 53.

In seiner Lektüre von Boas’ Aufzeichnungen über die Numayma fokussiert Lévi-Strauss den Aspekt der Besitzübertragung über die Erbtochter. Er stellt sie in eine Reihe mit Erbpraktiken, die schon die europäischen Dynastien als das Verfahren des faire le pont et la planche kannten.55 So wird in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Eheverträgen und Testamenten häufig davon berichtet, wie das Erbe in Ermangelung eines Sohnes über die Tochter auf den Tochtersohn übertragen wird. In diesem Fall »macht« die Tochter »die Brücke« für den Erbgang vom Erblasser auf den Enkel. Die paternal bestimmte Linie wird auf diese Weise gewahrt. Eine ambivalente Stellung nimmt dabei der Ehemann der Erbtochter ein, da durch die Eheschließung Titel, Privilegien und Insignien des Hauses auf ihn übergehen. Dies regelt das jure uxoris. Lévi-Strauss erwähnt, dass die mittelalterlichen Dynastien dafür Sorge trugen, dass insbesondere die Waffen des Erblassers nur unter der Bedingung auf den Schwiegersohn übertragen wurden, dass er sich verpflichtete, diese an seinen Sohn weiterzugeben.56 Aus der Perspektive der Dynastien sind die Schwiegersöhne also allein als Vermittler anzusehen. Dennoch scheint es immer wieder die Furcht davor gegeben zu haben, dass die Titel und Privilegien im Fall einer Trennung des Ehepaars verloren gehen und sich die dynastischen Vermittler als unzuverlässig erweisen. Nach Lévi-Strauss zeugen die Verfahren des faire le pont et la planche und der Übertragung von Titel und Privilegien per uxorem von der strukturalen Möglichkeit, eine Beziehung der Allianz – in diesem Fall die eheliche Verbindung zwischen der Erbtochter und ihrem Bräutigam – in eine Beziehung der Abstammung zu übersetzen: Eine Formel von Saint-Simon […] veranschaulicht diese Äquivalenz wunderbar. Um zu demonstrieren, daß die Erbin eines Lehens, auch wenn es ein weibliches ist, ihren Rang und ihre Ehren als Herzogin verliert, wenn sie sich wiederverheiratet, führt er das Argument an, daß »die erste Errichtung des Lehens im Blut des ersten Gatten erloschen ist«. Diese abrupte Übersetzung eines gesellschaftlichen Bandes in biologische Termini ist in der Tat beeindruckend. Sogar in Memoiren, die mitten im 19. Jahrhundert geschrieben werden, findet man die fest verankerte, in früheren Epochen so häufig in die Praxis umgesetzte Überzeugung, daß eine adlige Familie, die keine männlichen Nachkommen hat, dennoch ihr Geschlecht fortpflanzen kann, indem sie ihre Tochter mit einem Mann verheiratet, der den Namen des Hauses annimmt, in das er eintritt, dessen Güter und Titel erbt und sie seinen Kindern weitergibt.57

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Vgl. Claude Lévi-Strauss: La voie des masques. Édition revue, augmentée, et rallongée de trois excursions. Paris 1979, S. 180f. (Im Folgenden wird aus dem französischen Original zitiert, da es sich bei Der Weg der Masken – 1977 im Suhrkamp-Verlag erschienen – lediglich um eine Teilübersetzung handelt, welche die Passagen über das Haus nicht enthält.) Eine Fülle historischer Beispiele für das Verfahren des Besitztransfers über die Erbtochter und deren Ehemann findet sich in Joseph Morsel: Ehe und Herrschaftsreproduktion zwischen Geschlecht und Adel (Franken, 14.–15. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Frage nach der Bedeutung der Verwandtschaft in der mittelalterlichen Gesellschaft. In: Andreas Holzem u. Ines Weber (Hg.): Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt. Paderborn u. a. 2008, S. 191–224, hier: S. 215. Vgl. Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 181. Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 78. (»Une formule de Saint-Simon […] illustre admirablement cette équivalence. Pour démontrer que l’héritière d’un fief pourtant femelle perdit, en se remariant, son rang et ses honneurs de duchesse, il avance l’argument que ›la première érection du fief était éteinte dans le sang du premier mari‹. Cette traduction abrupte

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Lévi-Strauss erklärt diese Übersetzungsleistung zum Kern der dynastischen Operation. Ausgehend von diesem Verfahren lässt sich eine abstrakte Definition des Hauses aufstellen: Was also ist das Haus? Zunächst eine moralische Person; sodann Inhaber einer Domäne, die sich aus materiellen und immateriellen Gütern zusammensetzt; schließlich perpetuiert es sich dadurch, daß es seinen Namen, sein Vermögen und seine Titel in direkter oder fiktiver Linie weitergibt, die nur unter der Bedingung als legitim gilt, daß diese Kontinuität sich in der Sprache der Verwandtschaft oder der Allianz, meistens in beiden, ausdrücken läßt.58

Wenn man annimmt, dass überall dort, wo sich eine solche Form der Kontinuitätssicherung finden lässt, »Häuser« am Werk sind, scheint es folgerichtig, die scheinbar fremde Institution der Kwakiutl – die Numayma – mit »Haus« zu übersetzen. Rückblickend wird die Übersetzung von Boas selbst nahegelegt, wenn er – insbesondere in den Passagen über Heiratszeremonien – mehrfach von der »Entscheidung des Hauses« (decision of the house) und dem Akt des Eintritts in das Haus schreibt.59 Die »Aufnahme in das Haus« ist nicht allein eine metaphorische Redewendung,60 sondern wird als solche auch inszeniert. Immer wieder beschreibt Boas einzelne Handlungen, die darin bestehen, sich vor dem Haus zu postieren, Dinge aus dem Haus hinaus- oder in das Haus hineinzutragen oder sich im Einklang mit den zeremoniellen Vorschriften – allein oder in einer Gruppe – auf ein Haus hinzubewegen. Diese materielle Seite des Hauses wird bei Lévi-Strauss

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d’un lien social en termes biologiques est, en effet, saisissante. Même dans des mémoires écrits en plein XIXe siècle, on trouve ancrée la conviction, si souvent mise en pratique à des époques antérieures, qu’une famille noble privée de descendance mâle peut néanmoins perpétuer sa race en mariant sa fille à un homme qui prendra le nom de la maison où il entre, héritera les biens et les titres, et les transmettra à ses enfants.« [Claude Lévi-Strauss: Histoire et ethnologie. In: Annales. Histoire, Sciences sociales 38/6 (1983), S. 1217–1231, hier: S. 1224f.]) Die in dieser Passage angeführte Wendung vom Erlöschen des Lehens im Blut des Gatten hat eine rechtliche Grundlage, über die sich Lévi-Strauss ausschweigt. Sie macht nur vor dem Hintergrund des kanonischen Rechts Sinn, das die Gemeinschaft der Ehegatten nicht allein als eine geistige Gemeinschaft begreift, sondern insbesondere als eine des Bluts: In der Ehe werden die Gatten zu einem Fleisch. Die Logik dieser Metapher zeigt sich deutlich dort, wo das kanonische Recht die Eheschließung des Witwers mit der Schwester seiner verstorbenen Gattin verbietet. Denn die Gemeinschaft des Bluts zwischen den beiden Gatten schließt zwangsläufig ihre jeweiligen Blutsverwandten mit ein, so dass ein Witwer mit der Schwester seiner verstorbenen Gattin eine Blutsverwandte heiraten und damit Inzest begehen würde. Streng genommen ist also das Wort »Blut« in diesem Zusammenhang kein biologischer Terminus. (Vgl. David Warren Sabean: Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 13/1 [2002], S. 7–28) Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 78. (»Qu’est-ce donc que la maison? D’abord, une personne morale; détentrice, ensuite, d’un domaine composé de biens matériels et immatériels; et qui, enfin, se perpétue en transmettant son nom, sa fortune et ses titres en ligne directe ou fictive, tenue pour légitime à la seule condition que cette continuité puisse s’exprimer dans le langage de la parenté ou de l’alliance et, le plus souvent, des deux ensemble.« [Lévi-Strauss, Histoire et ethnologie, S. 1224]) Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 59. »This payment is the ›going into the house,‹ referring to the blankets that are delivered«. (Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 58)

thematisiert: »Die Karo Batak von Sumatra und die Atoni von Timor veranschaulichen zwei besonders bedeutsame Fälle, denn bei ihnen, vor allem bei den letzteren, bildet das Wohnhaus mit seiner prachtvollen Verzierung, seiner komplizierten Architektur und der Symbolik, die mit jedem Teil des Rohbaus, der Anordnung des Mobiliars und der Aufteilung der Bewohner verbunden ist, einen wahren Mikrokosmos, der bis in die kleinsten Einzelheiten ein Bild der Welt und das gesamte System der gesellschaftlichen Beziehungen widerspiegelt.«61 Damit ist eine holistische Dimension des Hauses angesprochen, die innerhalb der Ethnologie auf großes Interesse gestoßen ist.62 Überdies ließen sich empirische Studien über vielfältige Zeremonien des Häuserbauens und des Umzugs, über Bauformen, Wohnweisen und deren Symbolik an das sich neu konstituierende Paradigma der material culture anschließen.63 Eine ambivalente Stellung in der ethnologischen Rezeption nehmen Lévi-Strauss’ Überlegungen zur Historizität der Kategorie des Hauses ein: Auch wenn sein freihändiger Umgang mit historischen Beispielen den Schluss nahelegt, das Haus sei ein Phänomen der longue durée, ist doch festzuhalten, dass er das Haus als historisches Übergangsphänomen konzipiert.

3.

Die Häusergesellschaft

Lévi-Strauss’ Ausführungen zum Haus sind von Anfang an Teil der disziplinären Aneignung der Geschichte durch die Ethnologie.64 Bereits in seinem Frühwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft stellt sich für Lévi-Strauss die Frage, wie sich der historische Übergang von elementaren Strukturen zu komplexen Strukturen der Verwandtschaft beschreiben lässt. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft kennzeichnen »Systeme, welche die Heirat mit einem bestimmten Typus von Verwandten festlegen«, während die komplexen Strukturen Systeme kennzeichnen, »die sich darauf beschränken, den Kreis der Verwandten zu definieren und die Bestimmung des Gatten anderen, ökonomischen oder psychologischen, Mechanismen überlassen.«65 In seinen späten Schriften wird Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen elementaren und komplexen Strukturen der Verwandtschaft zum Gegensatz zwischen »kalten« Gesellschaften ohne Geschichte und »heißen« Gesellschaften mit Geschichte ausbauen. Der frühen

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Lévi-Strauss, Clan, S. 205f. Vgl. Roland Hardenberg: Das »einschließende Haus«: Wertehierarchien und das Konzept der »Hausgesellschaft« im interkulturellen Vergleich. In: Anthropos 102 (2007), S. 157–168. Vgl. Stephen Sparkes u. Signe Howell (Hg.): The House in Southeast Asia. A changing social, economic and political domain. London 2003; Rosemary A. Joyce u. Susan D. Gillespie (Hg.): Beyond Kinship. Social and Material Reproduction in House Societies. Philadelphia 2000 und Janet Carsten u. Stephen Hugh-Jones (Hg.): About the House. Lévi-Strauss and Beyond. Cambridge/UK u. a. 1996. Zu Lévi-Strauss’ Aneignung einer von der Geschichtsphilosophie bereinigten Geschichtswissenschaft vgl. Axel T. Paul: Zeitreisen. Lévi-Strauss und die Geschichte. In: Michael Kauppert u. Dorett Funcke (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Frankfurt/M. 2008, S. 304–332. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt/M. 1993, S. 15.

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Studie Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, die bald zum ethnologischen Klassiker avancierte, sollte ein zweiter Band über komplexe Strukturen (und damit über Systeme in Gesellschaften mit Geschichte) folgen. Das ist nie geschehen – obwohl Lévi-Strauss 1973 in seinem Aufsatz »Reflexionen über das Verwandtschaftsatom« erneut auf das Untersuchungsprogramm komplexer Strukturen zu sprechen kommt: »Was ich Verwandtschaftsatom zu nennen vorschlug, […] war also in meiner Vorstellung die einfachste Struktur, die sich denken und zuweilen sogar beobachten läßt. Aber ich antizipierte ausdrücklich den Fall anderer Strukturen, die mittels bestimmter Transformationen von dem einfachen Fall ableitbar sind«.66 In dem Moment, in dem die Sozialanthropologie offenbar darauf zusteuert, das Paradigma der Verwandtschaftsstrukturen auf die eigene Gesellschaft anzuwenden – Lévi-Strauss’ ausdrückliche Antizipation lässt sich als Wunsch nach einem neuen Forschungsprogramm lesen –, lässt sie das Paradigma »Verwandtschaft« als konstituierendes Element von Gesellschaft fallen. Nahezu zeitgleich zu Lévi-Strauss’ leidenschaftlichem Appell fragt der amerikanische Ethnologe David M. Schneider ketzerisch: »What is Kinship All About?« und leitet die Verabschiedung des etablierten Paradigmas ein.67 Die Studien, die Schneider daraufhin vorlegen wird – darunter American Kinship von 1968 –, begreifen Familie und Verwandtschaft als »kulturelle Systeme«, was bedeutet, dass sie unabhängig von der jeweiligen Sozialstruktur und von psychologischen Dispositionen untersucht werden können.68 Der Abstand zu Lévi-Strauss’ Fragestellung könnte

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Claude Lévi-Strauss: Reflexionen über das Verwandtschaftsatom. In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1992, S. 99–131, hier: S. 101. Lévi-Strauss’ Abkehr von Verwandtschaftsstudien lässt sich folgendermaßen erklären: »It is […] surprising, and interesting, that shortly after this monumental work [Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, N.G.] appeared, Lévi-Strauss shifted the focus of his research away from kinship studies, to concentrate on the anthropology of religion. The cause of this somewhat abrupt change of specialization, according to Lévi-Strauss, was his move to the Ecole Pratique des Hautes Etudes in 1950, to take the chair in the history of religions previously occupied by Mauss, and more recently by Maurice Leenhardt.« (Christopher Johnson: Claude Lévi-Strauss. The Formative Years. Cambridge/UK u. a. 2003, S. 68) David M. Schneider: What is Kinship All About? In: Priscilla Reining (Hg.): Kinship Studies in the Morgan Centennial Year. Washington DC 1972, S. 32–63. »The study of kinship was the very heart of anthropology for nearly a century. In the North American, European, and British schools, from Morgan to Schneider, Durkheim to Lévi-Strauss, Rivers and Malinowski to Radcliffe-Brown and Fortes, the major theorists of anthropology made their mark in the study of kinship […]. It seemed more or less impossible to imagine what anthropology would look like without kinship. And yet from the 1970s on, the position of kinship as a field of study within anthropology has been under question.« (Janet Carsten: Introduction: cultures of relatedness. In: Dies. [Hg.]: Cultures of Relatedness. New Approaches to the Study of Kinship. Cambridge/ UK u. a. 2000, S. 1–36, hier: S. 2) Zum Aufstieg und Fall des Verwandtschaftsparadigmas in der Ethnologie vgl. auch Linda Stone: Introduction [Section 2.1: The Demise and Revival of Kinship]. In: Robert Parkin u. L.S. (Hg.): Kinship and Family. An Anthropological Reader. Malden u. a. 2004, S. 241–255. Zur Einführung in die Diskussion von Schneiders Thesen vgl. Richard Feinberg u. Martin Ottenheimer (Hg.): The Cultural Analysis of Kinship. The Legacy of David M. Schneider. Urbana 2001.

nicht größer sein: Während dieser grundsätzlich von einer Verbindung zwischen den elementaren und komplexen Strukturen der Verwandtschaft und damit der Vergleichbarkeit von »primitiven« und modernen Gesellschaften ausgeht, liegt Schneiders Abhandlung die Annahme zugrunde, dass die amerikanische Familie aufgrund der Systemdifferenzierung moderner Gesellschaften mit den außereuropäischen Familien und Verwandtschaftsverbänden gänzlich inkompatibel ist und sich nur unter Absehung der in diesen Gesellschaften gesammelten Erkenntnisse beschreiben lässt. Lévi-Strauss’ Frage nach den Verwandtschaftsstrukturen in modernen Gesellschaften verhallt also in dem Moment, in dem sie gestellt wird. Nichtsdestoweniger lassen sich in Lévi-Strauss’ Schriften Spuren des nicht realisierten Forschungsprojekts verfolgen. Ein erster Anhaltspunkt, wie der zweite Band hätte aussehen können, findet sich am Ende von Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Dort kommt Lévi-Strauss noch einmal darauf zu sprechen, dass Verwandtschaft auf dem Prinzip des (Frauen-)Tauschs als einem »totalen Phänomen« beruht.69 Daneben finden sich einige wenige Überlegungen dazu, was notwendigerweise zum »Untergang« (ruine) des Frauentauschs führen muss: [D]er verallgemeinerte Tausch setzt Gleichheit voraus und ist doch eine Quelle der Ungleichheit. Er setzt Gleichheit voraus, da die theoretische Voraussetzung für die Anwendung der elementaren Formel darin besteht, daß die Operation c heiratet A, die den Zyklus schließt, der Operation A heiratet b, die ihn als erste eröffnet, äquivalent ist. Damit das System harmonisch funktionieren kann, muß eine Frau a ebensoviel wert sein wie eine Frau b, eine Frau b soviel wie eine Frau c und eine Frau c soviel wie eine Frau a; anders gesagt, die Lineages A, B, C müssen denselben Status und dasselbe Prestige haben. Doch der spekulative Charakter des Systems, die Erweiterung des Zyklus, die Einführung sekundärer Zyklen zwischen bestimmten unternehmensfreudigen Lineages zu ihrem eigenen Nutzen, schließlich die unvermeidbare Präferenz für bestimmte Allianzen, die darin resultiert, daß an diesem oder jenem Punkt des Kreislaufs Frauen akkumuliert werden – das alles sind Faktoren der Ungleichheit, die jeden Augenblick einen Bruch herbeiführen können. Wir kommen also zu dem Schluß, daß der verallgemeinerte Tausch fast unvermeidlich zur Anisogamie führt, d. h. zur Heirat zwischen Gatten unterschiedlichen Ranges; daß diese Konsequenz um so deutlicher in Erscheinung treten muß, wenn die Tauschzyklen sich vermehren oder erweitern; daß sie aber gleichzeitig in Widerspruch zum System steht und folglich seinen Untergang heraufbeschwören muß.70

Der Zyklus des verallgemeinerten Tauschs, der auf »egalitären Voraussetzungen« beruht, neigt damit zu »aristokratischen Folgen« (conséquences aristocratiques),71 die erst die Krise herbeiführen. Die Beschreibung der Krise verdankt sich einer zusätzlichen Unterscheidung, die Lévi-Strauss einführt: der Unterscheidung zwischen »unternehmensfreudige[n] Lineages« (lignées entreprenantes), die zu ihrem Nutzen bestimmte Allianzen präferieren und forcieren, und Lineages, die auf überkommene Allianzoptionen vertrauen.

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Vgl. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 118 und zur Unterscheidung zwischen »eingeschränktem« und »verallgemeinertem« Tausch S. 333–335. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 374f. (Claude Lévi-Strauss: Les structures élémentaires de la parenté. Paris 1949, S. 325) Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 376. (Lévi-Strauss, Les structures élémentaires, S. 327)

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Die vorerst nicht weiter ausgebaute Unterscheidung taucht in späteren Schriften auf, in denen beschrieben wird, unter welchen Bedingungen sich eine Gesellschaft von der Kreuzcousinenheirat verabschiedet,72 einer Allianzoption, die unternehmungsfreudige Familien längst für »ziemlich langweilig und alltäglich« (plutôt ennuyeuse et vulgaire) halten.73 Denn die Kreuzcousinenheirat »gibt Sicherheit, erzeugt aber Monotonie: von Generation zu Generation wiederholen sich die gleichen Allianzen, die Sozialstruktur wird einfach reproduziert. Die Heirat auf größere Entfernung dagegen birgt zwar Gefahr und Abenteuer, erlaubt aber auch die Spekulation: sie knüpft völlig neue Allianzen und bringt die Geschichte durch das Spiel neuer Koalitionen in Bewegung.«74 Während Lévi-Strauss in diesen Schriften noch von Lineages und Familien spricht, geht er in seinem Aufsatz »Stillstand und Geschichte« (»Histoire et ethnologie«) dazu über, solche unternehmungsfreudigen Familien als »Häuser« zu bezeichnen. Jene Gesellschaften, in denen sich die obsessive, manipulative Auseinandersetzung mit Verwandtschaftsstrukturen beobachten lässt, sind demnach als Häusergesellschaften (sociétés à maisons) zu denken. Häusergesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen »Beziehungen der Überlegenheit oder Unterlegenheit zwischen den Individuen oder Gruppen aufhören, transitiv zu sein. Nichts verhindert, daß eine Position, die in mancher Hinsicht überlegen ist, in anderer Hinsicht unterlegen ist.«75 In der Vorlesungsreihe, die er dem Themenkomplex des Hauses widmet, demonstriert Lévi-Strauss anhand unterschiedlicher Übergangsgesellschaften, dass das Wechselspiel zwischen Über- und Unterlegenheit eine Reihe komplementärer Paare erzeugt. Macht und Status (Prestige), Exogamie und Endogamie, Matri- und Patrilinearität, soziale Reproduktion durch Abstammung und durch Wahl sind solche antagonistischen Paare. Das Haus vermischt und kombiniert diese dualen Prinzipien.76 Als kunstvoll geschmücktes Gebäude, wie es bei Riehl besungen wird,77 hypostasiert es sie. Die gleichzeitige Geltung dualer Prinzipien bedarf einer Erläuterung. Denn einerseits wird bei Lévi-Strauss eine solche duale Organisation der Häusergesellschaft zeitlich und damit historisch gedacht oder lässt sich zumindest historisieren, wenn er etwa schreibt, dass zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die Beziehungen der Überlegenheit oder Unterlegenheit aufhören, transitiv zu sein. An einer Stelle wird sogar der Sprung

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Vgl. Claude Lévi-Strauss: Kreuzfahrten der Lektüre. In: Ders.: Der Blick aus der Ferne. München 1985, S. 120–140. Dieser Text baut einen vorangegangenen kürzeren Aufsatz aus, der den schönen Titel »L’Adieu à la cousine croisée« trägt. Vgl. Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 121. (Claude Lévi-Strauss: Lectures croisées. In: Ders.: Le regard éloigné. Paris 1983, S. 107–125, hier: S. 108) Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 70. (»Le premier [die Kreuzcousinenheirat, N.G.] donne la sécurité, mais engendre la monotonie: de génération en génération, les mêmes alliances se répètent, la structure sociale est simplement reproduite. En revanche, le mariage à plus grande distance, s’il expose au risque et à l’aventure, permet aussi la spéculation: il noue des alliances inédites et met l’histoire en branle par le jeu de nouvelles coalitions.« [Lévi-Strauss, Histoire et ethnologie, S. 1219]) Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 79. Vgl. Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 187f. Vgl. Riehl, Die Familie, S. 173–208.

in ein sozialhistorisches Erklärungsmodell gewagt, wenn es heißt, dass in einigen Gesellschaften »rudimentäre Formen von Staat« (des formes rudimentaires de l’État) die Verwandtschaftsstrukturen durchdringen und diese zur Neuorganisation zwingen.78 Andererseits hat bei Lévi-Strauss das Denken in komplementären Beziehungen eine zutiefst ahistorische Dimension. Bereits in der frühen Schrift Traurige Tropen beschreibt er die Gesellschaft der brasilianischen Caduveo als eine dual organisierte Gesellschaft.79 Zahlreiche Gedanken, die er später im Zusammenhang mit dem Haus ausbuchstabieren wird, werden hier vorformuliert – was beispielsweise in den späteren Schriften das Haus als fetischisiertes Gebäude ist,80 ist in der Gesellschaft der Caduveo die komplexe Körperund Gesichtsbemalung. So wie das Haus antagonistische Gesetze in sich symbolisch vereint, zeugen die kosmetischen Muster und der Stil der Caduveo von einem ähnlichen Unternehmen, Gegensätzliches zu vereinen: »Der Caduveo-Stil konfrontiert uns also mit einer ganzen Reihe komplexer Probleme. Zunächst gibt es einen Dualismus, der wie in einem Spiegelsaal auf die verschiedenen Ebenen projiziert wird: Männer und Frauen, Malerei und Bildhauerei, Darstellung und Abstraktion, Winkel und Kurve, Geometrie und Arabeske, Hals und Bauch, Symmetrie und Asymmetrie, Linie und Fläche, Randverzierung und Hauptmotiv, Wappenstück und Feld, Figur und Hintergrund. Aber diese Gegensätze fallen erst nachträglich auf; sie haben statischen Charakter.«81 In die starren symmetrischen Gegensätze kommt durch die asymmetrische Zerstückelung und Rekombination Bewegung. In Lévi-Strauss’ Deutung offenbart der künstlerische (kosmetische und handwerkliche) Stil der Caduveo den Wunsch, angesichts einer streng hierarchischen sozialen Organisation Symmetrie zu denken, ohne jedoch die Sozialstruktur zu verändern. Dabei bedient sich Lévi-Strauss eines konventionellen Begriffs von Kunst, wonach Kunst – »scheinbar harmlos« –82 angesichts ökonomischer Härten und Zwänge ausgleichend und kompensatorisch wirken kann. Die von Lévi-Strauss verwendete Metaphorik stützt diese Vermutung, da es heißt, die Kunst der Caduveo vermöge es, »den Widerspruch in ihrer sozialen Struktur« zu »verschleiern« oder zu »vertuschen«.83 Das Doppelgesetz der sozialen Reproduktion, das sich auf Beziehungen der Abstammung und der Allianz stützt, und von dem Lévi-Strauss in Zusammenhang des Hauses schreibt, ist somit in dessen ästhetizistischem Programm eingebettet. Seine Theorie des historischen Übergangs scheint eher den Gesetzen eines ästhetischen Kalküls und weniger sozialhistorischen Zwängen zu folgen und entspricht damit dem strukturalistischen Argument.84 Bereits der Abschied von der Kreuzcousinenheirat und die Entscheidung

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Vgl. Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 136. (Lévi-Strauss, Lectures croisées, S. 121) Dieser Punkt wird bei Lévi-Strauss nicht weiter ausgeführt. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Frankfurt/M. 1978, S. 143–189. Lévi-Strauss, Clan, S. 205. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 183. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 188. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 188. Im französischen Original wird wiederholt das Verb dissimuler verwendet. (Vgl. Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques. Paris 1955, S. 224) »In den menschlichen Gesellschaften wie in den biologischen Arten sind elementare Mechanismen auf identische Weise wirksam, wie hoch auch der jeweilige Komplexitätsgrad jedes Organisationstypus sein mag: auf molekularer Ebene ins Auge gefaßt, sind die physikalisch-

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für eine exogame Heirat wurden in Worte des Geschmacksurteils gekleidet: Die endogame Heirat war bestenfalls »langweilig und alltäglich«. Die Vorstellung des historischen Übergangs als eines ästhetischen zeigt sich nicht zuletzt in der Rede von den minimalen Verzerrungen und Differenzen in den Regeln der Verwandtschaft, denen es nachzuspüren gilt: »Der Übergang von einer Form zur anderen ist häufig kaum wahrnehmbar, kenntlich nur an einer leichten Beugung der Regeln und Verhaltensweisen.«85 Für die Frage nach der Entstehung einer Häusergesellschaft ist die Betonung der kaum wahrnehmbaren Verzerrungen überraschend, da es in den von Lévi-Strauss angeführten Häusergesellschaften stets massive soziale und infrastrukturelle Veränderungen sind, die Häuser sichtbar werden lassen. Bereits Boas weist in seinen Aufzeichnungen über die Kwakiutlgesellschaft darauf hin, dass erst Abwanderungen, Seuchen und Kriminalität dazu führen, dass bestimmte Regeln der Vererbung und der Allianzbildung modifiziert bzw. verabschiedet werden: »[D]as Verlassen der alten Güter und die Übernahme neuer Grundstücke durch Besetzung und Nießbrauch, die Verleihung von Nutzungsrechten an Immigranten, die Übertragung von Titeln als Entschädigung gegen Mord, die Annexion von Privilegien, die keine klaren Erben haben, durch Nachbarn« schränken die Möglichkeiten einer auf Verwandtschaft gründenden sozialen Reproduktion ein.86 Boas’ Aufzählung fasst in wenigen Worten die sozialen und politischen Veränderungen zusammen, die in der Kwakiutlgesellschaft durch den Kontakt der einheimischen Bevölkerung mit kanadischen Handelsleuten und der Regierung ausgelöst wurden.87 Während

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chemischen Prozesse überall dieselben. Die Legitimität der vergleichenden Methode beruht nicht auf ausgeprägten oder oberflächlichen Ähnlichkeiten. Sie muß die Analyse bis auf ein Niveau verlagern, das tief genug ist, damit an der Basis jedes sozialen Lebens einfache Besonderheiten in Erscheinung treten, die sich zu rudimentären Systemen vereinigen, die eventuell zu den Baumaterialien komplexerer Systeme werden, die ihrerseits einen höheren Integrationsgrad aufweisen und mit vollkommen neuen Merkmalen ausgestattet sind.« (Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 125f.) Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 72. (»Le passage d’une forme à l’autre est souvent peu perceptible, décelable seulement par un léger infléchissement des règles et des conduites.« [Lévi-Strauss, Histoire et ethnologie, S. 1220]) Vgl. Boas, Kwakiutl Ethnography, S. 171. (Deutsche Übersetzung von mir, N.G.) Im Gegensatz zu Boas, der seine Theorie anhand der Erforschung einer desintegrierten Gesellschaft formuliert, verdankt die britische Sozialanthropologie ihre Theorie der Erforschung einer – trotz aller äußeren kolonisierenden Einflüsse – bemerkenswert stabilen Gesellschaft: In der Zeit der Kolonisierung der afrikanischen Gebiete werden britische Kolonialbeamte und Ethnologen Zeugen einer frappanten Entwicklung. Wider Erwarten sind es nicht jene afrikanischen Stämme, die durch die Institution eines Häuptlings, Königs oder Priesters – also im übertragenen Sinn durch zentrale oder ›staatliche‹ Instanzen – organisiert sind, sondern die afrikanischen Gesellschaften ohne Staat, die Widerstand gegen die Kolonisation leisten. Erst durch diese politische Fehleinschätzung sehen sich einige Ethnologen gezwungen, nach neuen, vom Staat unabhängigen Formen politischer und sozialer Stabilität Ausschau zu halten. Die stabilste soziale Formation besteht in der unilateralen Deszendenzgruppe (Abstammungsgruppe), die bis zu 700.000 Menschen umfassen kann. (Vgl. Christian Sigrist: Gesellschaften ohne Staat und die Entdeckungen der social anthropology. In: Fritz Kramer u. C.S. [Hg.]: Gesellschaften ohne Staat. Bd. 1. Frankfurt/M. 1978, S. 28–46) Im Gegensatz zur Abstammungsgruppenforschung, deren Impuls die überraschende Stabilität einer sozialen Formation gewesen ist, hat es die

noch vor der Kooperation mit der kanadischen Regierung allein die »alten Familien« es vermochten, ihren Status durch den Potlatch zu bekräftigen, sind nun – dank der durch Handel erworbenen Geldmittel – auch und vor allem die homini novi in der Lage, am Potlatch erfolgreich teilzunehmen: »A rising stream of cash began to flow into the local economy, allowing new contenders to compete with the traditional chiefs for precedence and position. This caused competition over rights to privileges to intensify in the late nineteenth century, and it increased the quantities of goods offered at such public ritual distributions of wealth.«88 Mit der Statusveränderung der alten verwandtschaftlichen Verbände wandelt sich die Funktion der Sprache der Verwandtschaft. Sie »dient nicht mehr dazu, die Sozialstruktur zu verewigen, sondern wird ein Mittel, sie zu sprengen und umzuformen. Die Familien reproduzieren sich nicht mehr nach Regeln, die für alle gelten; jede fühlt sich frei, zu ihrem Vorteil zu verfahren.«89 Während zuvor für alle die Regel der standesgemäßen ebenbürtigen Heirat gegolten hatte, werden nun vorteilhafte Mesalliancen möglich. In der Häusergesellschaft ist die Ehe nur in der Alternative Hypergamie (Heirat zwischen einem ranghohen Mann und einer Frau niederen Ranges) oder Hypogamie (Heirat zwischen einer ranghohen Frau und einem Mann niederen Ranges) denkbar.90 Der Austausch zwischen den nicht ebenbürtigen Gruppen kann lediglich deshalb stattfinden, weil in der Häusergesellschaft Macht und Status divergieren und gegeneinander ins Feld geführt werden können. Lévi-Strauss’ tentativer Theorie der Häusergesellschaft, die sich gleichermaßen aus sozialhistorischen und ästhetischen Beobachtungen zusammensetzt, wird in den gegenwärtigen ethnologischen Debatten mit Vorbehalten begegnet. Eine Disziplin, die sich anschickt, indigene Kulturen anhand ihrer eigenen lokalen Kriterien zu beschreiben, muss eine Theorie irritieren, die den umgekehrten Versuch unternimmt, fremde Kulturen anhand alteuropäischer Kategorien zu beobachten.91 Während also der Export des Hauses als neuer terminus technicus in die Sozialanthropologie nur bedingt geglückt zu sein scheint, stellt sich die Frage nach dem Re-Import von Lévi-Strauss’ Vokabular in die historische und germanistische Kulturwissenschaft.

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Forschung rund um das Haus und die Häusergesellschaft mit labilen Verbindungen zu tun, die zu ihrer Stabilität der phantasmatischen Objektivierung durch das Haus bedürfen. Eric R. Wolf: Envisioning Power. Ideologies of Dominance and Crisis. Berkeley u. a. 1999, S. 80. Zur Entwicklung der Kwakiutlgesellschaft im 19. Jahrhundert vgl. Wolf, Envisioning Power, S. 74–88 und Marie Mauzé: Boas, les Kwagul et le potlatch: Éléments pour une réévaluation. In: Homme 100 (1986), S. 21–53. Ich danke Iris Därmann für wertvolle Hinweise zur Sozialgeschichte der Kwakiutl. Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 72. (»Au lieu que le langage de la parenté serve à perpétuer la structure sociale, il devient un moyen de briser et de remodeler celle-ci. Les familles ne se reproduisent plus selon des règles qui s’imposent à toutes; chacune se sent libre de manœuvrer à son avantage.« [Lévi-Strauss, Histoire et ethnologie, S. 1220]) Vgl. Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 184f. Vgl. Hardenberg, Das einschließende Haus, S. 158.

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Kapitel II Adoptieren

Die erste Operation, die das Haus zu seiner Perpetuierung durchführen kann, ist die Adoption. Von nichts anderem ist in Lévi-Strauss’ Kasuistik des Hauses die Rede, wenn er von der »abrupte[n] Übersetzung eines gesellschaftlichen Bandes in biologische Termini« schreibt.1 Die Adoption ist eine legale Fiktion, die auf das römische Recht zurückgeht, in dem adoptio für den Transfer der rechtlichen Autorität (potestas) über ein Individuum von einer Person auf eine andere steht.2 Der Adoptierte legt seinen Namen ab und verzichtet auf Erbansprüche gegen sein väterliches Haus, bevor er in das neue Haus als »fiktiver Sohn« eingeht.3 Ein solch fiktiver Sohn ist meist aus reichem Hause

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Lévi-Strauss, Stillstand und Geschichte, S. 78. An anderer Stelle heißt es: »Zu ihrem Fortbestand nehmen die Häuser in großem Umfang die fiktive Verwandtschaft zu Hilfe, ob es sich nun um Ehebündnisse oder um Adoptionen handelt.« (Lévi-Strauss, Clan, S. 200) Die legale Fiktion steht im intrikaten Verhältnis zur literarischen Fiktion: »Das […] Verfahren der fictio legis oder fictio iuris diente in Rom dazu, Lücken im gegebenen Recht zu schließen oder Ungereimtheiten zu umgehen, die mit der Zeit entstanden waren, also das Recht fortzubilden. Fingieren in diesem Sinn bedeutet, dass der Verlauf der Grenze zwischen Wahr und Falsch zwar als bekannt vorausgesetzt wird, das Recht diese Grenze jedoch künstlich überschreitet. Die fictio iuris negiert einen offenkundig realen Sachverhalt durch Formulierungen nach dem als-obPrinzip: ›als ob X nicht X‹ oder, positiv gewendet, ›als ob X gleich Y wäre‹. Zum Beispiel muss der Käufer der Güter eines Bankrotteurs so auftreten, als sei er sein Erbe. Die Rechtsfiktion setzt die Natur der Dinge außer Kraft, um sie neu zu instituieren; sie trennt von Rechts wegen das Juridische vom Faktischen und offenbart mit ihrer eigenen Künstlichkeit auch die Künstlichkeit der Institutionen. Dies bedeutet nicht, dass die römischrechtliche oder allgemeiner die juristische Fiktion mit der literarischen Fiktion gleichzusetzen wäre. Trotz ihrer schwindelerregenden Manövrierfreiheit (die von den Juristen des christlichen Mittelalters freilich eingeengt wurde) ist die Fiktion im Recht ein Werkzeug von relativ einfacher Bauart, ein mehr oder weniger radikal verwendbares Korrektiv in einem System von Normen. Die literarische Fiktion hingegen dient, jedenfalls in ihren traditionellen Formen, einem anderen Zweck, der Mimesis; um ihre mimetische Wirkung zu erzielen, verwendet sie ungleich komplexere rhetorische Verfahren der Figuration und muss zudem versuchen, die Differenz zwischen Fiktionalität und dargestellter Wirklichkeit zu verschleiern. Gleichwohl sind auch juristische ›Personen‹ nur auf der Basis einer rhetorischen Operation denkbar, nämlich der prosopopoiia oder Personifikation von eigentlich unanschaulichen, uneinheitlichen, unbelebten Gebilden – einer Operation, in der die fictio iuris die Funktion eines Katalysators übernimmt.« (Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank u. Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007, S. 352) Vgl. Jack Goody: Production and Reproduction. A Comparative Study of the Domestic Domain. Cambridge/UK u. a. 1976, S. 71. Die Wendung »fiktiver Sohn« wird auch bei Maine verwendet, der – im Rahmen einer weitreichenden Analyse legaler Fiktionen – von der »Fiktion« der Adoption spricht: »[W]ithout […] the Fiction of Adoption which permits the family tie to be

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und keineswegs bedürftig: »[I]t was not the deprived but true citizens who were adopted, often the sons of other big families. For the giver there was a gain in the shape of an alliance between the two houses, while the recipient perpetuated his own line.«4 Bei diesem Tausch besetzt der fiktive Sohn strukturell eine Position, die von der Tochter als Braut eingenommen wird: Denn es ist die Braut, die im Zuge der Eheschließung das väterliche Haus verlässt, ihren Namen und meist ihre Erbansprüche aufgibt. Die Adoption – im römischen Verständnis – ist zugleich eine abgeschwächte Form der adrogatio, die immer dann vorliegt, wenn ein potentieller pater familias sein Haus für ein anderes verlässt. In diesem Fall genügt nicht mehr die Trennung von den leiblichen Eltern, deren Wohnort und den Erbansprüchen, sondern er muss sich darüber hinaus von seinen Hausgöttern lossagen und sich unter den Schutz der Götter des neuen Hauses stellen. Die Adrogation bedarf der öffentlichen Zustimmung und ist somit eine Operation, die den Übergang von einem Haus zum anderen so umfassend gestaltet, dass Juristen sie bisweilen als einen Akt der Zerstörung des alten Hauses beschreiben.5 Ein solch vollständiger Übergang gleicht in seinen wesentlichen Momenten der Konversion, die im 19. Jahrhundert häufig ebenfalls die Bedingung der Aufnahme in ein neues Haus oder deren Abschluss bildet. Die Adrogation wird im römischen Rechtsdiskurs als eine gefahrvolle juristische Operation diskutiert, da sie die Zerstörung aller Bande zum alten Haus voraussetzt und sich auf das neue Haus zerstörerisch auswirken kann. Das wäre immer dann der Fall, wenn das nehmende Haus bereits über Söhne verfügt, die durch die Aufnahme eines neuen Sohnes enterbt werden könnten. Aus diesem Grund wird die Adrogation nur denjenigen Häusern erlaubt, die über keine eigenen Söhne verfügen. Sie ist nur deshalb gerechtfertigt, weil sie ein Haus vor dem Aussterben bewahren kann.6 Diese Einschränkung betrifft auch die Adoption, die ausschließlich Häusern ohne männlichen Nachkommen erlaubt wird. Als eine Operation, welche die Perpetuität des aufnehmenden Hauses sichern soll, ist sie eng an die Regeln des Hauses gebunden. Dies verdeutlichen zunächst Reglements, welche die Ehe und Nachkommenschaft des Adoptierten selbst

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artificially created, it is difficult to understand how society would ever have escaped from its swaddling-clothes, and taken its first steps toward civilization.« (Maine, Ancient Law, S. 22) Wie dieses Zitat zeigt, deutet Maine die römische Adoption im Rahmen einer Zivilisationsgeschichte, in der jeder Akt der Integration von Fremden in die eigene Gruppe auf die römische Adoption zurückgeführt werden kann: »Whether we look to the Greek states, or to Rome, or to the Teutonic aristocracies in Ditmarsh […], everywhere we discover traces of passages in their history when men of alien descent were admitted to, and amalgamated with, the original brotherhood. Adverting to Rome singly, we perceive that the primary group, the Family, was being constantly adulterated by the practice of adoption«. (Maine, Ancient Law, S. 107) Für eine kritische Auseinandersetzung mit den zivilisationstheoretischen Implikationen von Maines Konzept der Adoption vgl. Goody, Production and Reproduction, S. 77–81. Goody, Production and Reproduction, S. 71. Vgl. Goody, Production and Reproduction, S. 70. Wie der soziale Aufstieg des Sohnes und seine Aufnahme in ein neues Haus die Zerstörung des alten Hauses bewirken kann, verdeutlicht Max Kretzer: Meister Timpe. Sozialer Roman. Berlin 1927. An einer Stelle wird Franz Timpe, der Sohn, als »Überläufer« bezeichnet. (Kretzer, Meister Timpe, S. 47) Vgl. Goody, Production and Reproduction, S. 70f.

betreffen:7 i) Adoptierte sind von der Möglichkeit, selbst ebenfalls Söhne zu adoptieren, ausgeschlossen: »[E]in Adoptierter [darf] nicht selbst adoptieren, sondern muß der Abstammungsgruppe, in die er aufgenommen worden ist, ein rechtmäßiges Kind hinterlassen, weil er sich ›natürlich‹ darin verwurzeln und die Kontinuität der Erbfolge durch den Samen wiederherstellen soll. Das Adoptivkind soll eine Abstammungsgruppe vom Aussterben bewahren und darf unter keinen Umständen eine Verteilung des Familienerbes nach außen bewirken. Mit der Adoption verwandelt sich ein Band der Bluts- oder Schwiegerverwandtschaft in eines der Filiation, um eine vorübergehende Lücke in der natürlichen Erbfolge zu schließen.«8 ii) Erst nachdem der Adoptierte dem Haus einen Sohn gegeben hat, öffnet sich ihm die einzige Möglichkeit, in sein altes Haus zurückzukehren.9 iii) Wenn der Adoptierte in ein Haus kommt, das über eine Tochter verfügt, muss er seine Adoptivschwester ehelichen.10 Insbesondere die letzte Regel zeugt davon, dass Praktiken der Ehestiftung und Adoption sich wechselseitig bedingen. Das kann so weit gehen, dass beide Operationen zusammenfallen oder sogar die Eheschließung der Adoption vorangeht. Dieser Fall tritt meist dann ein, wenn ein Vater über keine Söhne, aber über eine Tochter verfügt; um zu verhindern, dass an diese Tochter als Erbtochter Erbansprüche von Seitenverwandten herangetragen werden können, verheiratet er sie mit einem Mann, den er adoptiert.11 Erbtochter und Adoptivsohn sind als Ehepaar lediglich Verwalter des (adoptiv-)väterlichen Erbes, das an die nächste Generation weitergegeben werden soll. Ihre Ehe hat die Funktion, die Lücke zu schließen, die durch den Mangel männlicher Nachkommen entstanden ist. Die Adoptionsgesetze des 19. Jahrhunderts weisen in ihren Grundzügen eine große Nähe zu den römisch-griechischen Bestimmungen auf:12 Auch hier hat die Adoption »den Rang eines Substituts für ausbleibenden eigenen Nachwuchs und dient einzig der ›Nachbildung‹ des natürlichen Eltern-Kind-Verhältnisses«.13 Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 schließt dementsprechend die Möglichkeit einer

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Sie sind im attischen Recht genauer formuliert als im römischen Recht, weil dort der oikosStruktur eine umfassende Bedeutung zukommt. Athen ist demnach eine »Stadt von gemeinsamem Blute«. Einbürgerung in die attische Gemeinde und Adoption ins Haus gehorchen denselben Voraussetzungen. (Vgl. Giulia Sissa: Die Familie im griechischen Stadtstaat [5. bis 6. Jahrhundert v. Chr.]. In: André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen u. Françoise Zonabend [Hg.]: Geschichte der Familie. Bd. 1. Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 237–276, hier: S. 250–255) Sissa, Die Familie, S. 253f. »[T]here was one condition under which an adopted son could return to his natal kin, that is, when he in turn had begotten a son. But if he did this, he cut himself off from his own progeny.« (Goody, Production and Reproduction, S. 71) Vgl. Sissa, Die Familie, S. 254. Vgl. Sissa, Die Familie, S. 254 und Goody, Production and Reproduction, S. 71f. Eine synoptische Darstellung der verschiedenen Adoptionsgesetze – angefangen beim Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 (= ALR) bis hin zum Code Civil – findet sich in Sebastian Susteck: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen. Berlin u. a. 2010, S. 275–285. Susteck, Kinderlieben, S. 277.

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Adoption aus, wenn leibliche Kinder vorhanden sind.14 Um zu verhindern, dass die Adoption der Zeugung natürlicher Kinder zuvorkommt, diese somit nachträglich in eine (erbrechtliche) Konkurrenzsituation mit dem Adoptanden geraten, schreiben die Gesetze vor, dass der Adoptierende älter als fünfzig Jahre sein muss. Eine signifikante Abweichung von den römisch-griechischen Bestimmungen zeigt sich darin, dass der Adoptand nicht verpflichtet ist, seine Adoptivschwester zu heiraten. Interessant ist jedoch, dass das ALR das Verhältnis zwischen dem Adoptanden und den leiblichen Kindern als ein nichtverwandtes definiert und dadurch die Eheschließung untereinander nicht ausschließt. Das Verbot der Ehe zwischen Adoptivgeschwistern tritt erst mit dem Code Civil in Kraft.15 Im vorliegenden Kapitel steht der Begriff der Adoption für eine Form der Nachfolgereglung, die mit der Aufnahme eines Fremden anfängt und damit endet, dass der Aufgenommene mit einem Hausmitglied die Ehe eingeht und damit die Zukunft des Hauses sichert. Die einzelnen Abschnitte zeigen, dass die legale Fiktion der Annahme an Kindes statt als Aufnahme in das Haus – als Lehrling, Angestellte oder Gast – in Szene gesetzt wird. In Zusammenhang mit der Häuserliteratur des 19. Jahrhunderts ist schließlich festzuhalten, dass sich die Installierung von fiktiven Söhnen und Töchtern nicht darauf beschränkt, eine klar erkennbare dynastische Lücke zu schließen. Vielmehr vervielfachen die fiktiven Verwandten die dynastischen Optionen des Hauses.

1.

Vor dem Haus

Gustav Freytag: Soll und Haben Die Konkurrenz zwischen drei Häusern bildet die narrative Grundstruktur von Freytags Soll und Haben.16 Das Schloss eines Freiherrn, der Laden eines jüdischen Geschäftsmanns und die Firma eines Bürgers sind zunächst nur Schauplätze konkurrierenden Handels, bevor sie im Laufe des Romans eine eigene Hauspolitik entwickeln. Am Ende wird das Schloss aufgrund von Spekulationen mit Pfandbriefen versteigert, ruiniert sich das Geschäft des Juden wegen Betrügereien, gewinnt die Firma des Bürgers den Wettbewerb. Wie wird im Roman ihr Erfolg erklärt? Häuser werden in diesem Roman zunächst aus der Sicht derjenigen beschrieben, die vor ihnen stehen und aufgenommen zu werden hoffen.17 Der erste Aspirant ist Anton Wohlfart, der Sohn eines Kalkulators, der sich vor dem Haus Schröter postiert:

14 15 16 17

36

Vgl. Susteck, Kinderlieben, S. 276. Vgl. Susteck, Kinderlieben, S. 278. Im Folgenden werden die Texte, die zum Korpus der Untersuchung zählen, und denen jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet ist, mit Angabe der Sigle und Seitenzahl in Klammern zitiert. Vor dem Haus steht auch Julien Sorel in Le Rouge et le Noir, dem exemplarischen Roman eines ambitieux: »– Serais-je un lâche? se dit-il, aux armes! Ce mot, si souvent répété dans les récits de batailles du vieux chirurgien, était héroïque pour Julien. Il se leva et marcha rapidement vers la maison de M. de Rênal. Malgré ses belles résolutions, dès qu’il l’aperçut à vingt pas de lui, il fut saisi d’une invincible timidité. La grille de fer était ouverte, elle lui semblait magnifique, il fallait entrer là-dedans.« (Stendhal: Le rouge et le noir. Œuvres complètes 1.1. Genf 1986, S. 45

Endlich bogen die jungen Männer in eine Hauptstraße, wo große Häuser mit Säulenportalen, elegante Kaufläden und ein Gewühl gut gekleideter Menschen verrieten, daß hier der Wohlstand einen entschiedenen Sieg über die Armseligkeit davongetragen hatte. In dieser Straße hielten sie vor einem hohen würdigen Hause an. […] Anton trat mit klopfendem Herzen in den Hausflur und lockerte den Brief seines Vaters in der Brusttasche. (SH 40)

Der zweite Aspirant ist Veitel Itzig, der Sohn eines jüdischen Krämers, der sich vor das Haus Ehrenthal stellt: In einer solchen Gasse stand ein großes Haus mit breiter Front. […] In dieses Haus trat Veitel Itzig […]. Veitel setzte sich auf die Treppe und sah mit starrem Blick auf das Messingschild und die weiße Tür, bewunderte die abgeschrägten Ecken der Messingplatte und versuchte sich vorzustellen, wie der Name Itzig auf einer ebensolchen Platte an einer ähnlichen weißen Tür aussehen würde. (SH 46)

Die Karrieren der beiden Waisenknaben verlaufen sehr ähnlich, obwohl im Roman die Unterschiede im Erscheinungsbild der Häuser und Hausväter antisemitisch überzeichnet werden: hier das saubere Haus des ehrenvollen Kaufmanns Schröter in der »Hauptstraße«, dort das schmutzige Haus des berüchtigten Geschäftemachers Ehrenthal in der »Gasse«.18 Trotz der unterschiedlichen Startbedingungen müssen sich beide ihre Karriereerfolge innerhalb des Hauses erkämpfen und streben beide die größtmögliche Nähe zum Vorstand des Hauses an.19 In beiden Fällen markiert das gemeinsame Mahl im Kreise der Familie die entscheidende Etappe, die den Weg frei gibt für eine letzte Anstrengung, welche die endgültige Aufnahme in das Haus – die Ehe mit einer Tochter des Hauses – herbeiführen soll.20 Und tatsächlich gelingt es am Ende beiden, sich mit der jeweiligen Tochter des Hauses zu verloben.21 Der einzige Vorsprung der Firma Schröter vor den anderen Häusern besteht darin, den Bräutigam Wohlfart von langer Hand schon ausgesucht zu haben:

18 19

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21

[Hervorhebungen getilgt]) Vgl. hierzu auch Michel Guérin: L’ambition. Une figure épochale de l’imaginaire social du dix-neuvième siècle. In: Rudolf Behrens u. Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2005, S. 157–178. Zur Diskussion antisemitischer Topoi in Soll und Haben vgl. Kap. IV/2 und IV/3.1 der vorliegenden Arbeit. Während Veitel Itzig mit dem Geschäftsmann Ehrenthal einen Arbeitsvertrag abschließt und sein Nachtlager woanders suchen muss, wird Anton Wohlfart als Lehrling, der Kost und Logis beanspruchen darf, in das Haus Schröter aufgenommen. Die Bedeutung des gemeinsamen Mahls wird in der Sozialanthropologie hervorgehoben: »To eat together signifies amity; to refuse, or to be prohibited from doing so, signifies its absence.« (Fortes, Kinship and the Social Order, S. 236) Amity umfasst all die Verhaltensregeln, die helfen, Nicht-Verwandte in Verwandte zu verwandeln. (Vgl. zum Axiom der amity Fortes, Kinship and the Social Order, S. 219–249) Zum Prinzip der Kommensalität vgl. auch Iris Därmann u. Harald Lemke (Hg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008. Veitel Itzigs Verlobung mit Rosalie Ehrenthal endet nicht mit der Ehe, da Veitel unmittelbar nach der Verlobung in den Tod getrieben wird.

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»Zuvor aber erfahren Sie einen Umstand, der Ihnen vielleicht noch nicht bekannt ist«, fuhr der Kaufmann fort. »Sabine ist seit dem Tode meines Vaters mein stiller Associe; ihr Rat und ihre Willensmeinung haben in unserm Comtoir öfter den Ausschlag gegeben, als Sie wohl meinen. Sie ist auch Ihr Chef gewesen, lieber Wohlfart.« […] »Ja, Wohlfart«, sprach Sabine schüchtern. »Auch ich habe ein kleines Anrecht an Ihr Leben gehabt. Und wie stolz war ich darauf! […] Als Ihr guter Vater zu uns kam und eine Stelle für Sie suchte, da war ich’s, die den Bruder bestimmte, Sie zu uns zu nehmen. Denn Traugott fragte mich Ihretwegen, und er selbst hatte Bedenken, er meinte, Sie wären zu alt, um noch bei uns zu lernen. Ich aber erbat Sie für uns. Seit der Stunde nannte Sie der Bruder im Scherz meinen Lehrling. […] Auch für mich haben Sie in der Fremde gearbeitet, Wohlfart, und als Sie in der Schreckensnacht unter Feuer und Waffenlärm auf den Frachtwagen standen, da waren mein die Waren, die Sie retteten. Und deshalb, mein Freund, komme ich auch jetzt als Kaufmann zu Ihnen, und noch einmal bitte ich Sie, eine Arbeit für mich abzumachen. Sie sollen mir ein Konto durchsehen.« (SH 833f.)

Die nachträgliche Belehrung des Initianden darüber, dass das Haus schon die ganze Zeit über sein Leben gewacht habe, erinnert an den Kaufmannssohn Wilhelm Meister, der am Ende seiner Lehrjahre auf dieselbe Art aufgeklärt wird. Dort lenkte die Turmgesellschaft das Leben, hier ist es das Haus. Dort hinterließ ein Turmherr die Worte »Flieh! Jüngling, flieh!«, hier ist es die Schwester des Hausherrn, die empfiehlt: »Gehen Sie, Wohlfart, gehen Sie!« (SH 492) Dort empfing Wilhelm aus den Händen des Turmherrn den Lehrbrief seines Lebens, hier empfängt Anton von der Schwester das Geheimbuch des Geschäfts. Während aber dort die Verlobung des bürgerlichen Wilhelm mit der adligen Natalie und dessen Aufnahme in die Turmgesellschaft zumindest scheinbar als getrennte Linien erzählt werden, fallen hier Verlobung und Aufnahme explizit zusammen. Der fremde Waisenknabe verwandelt sich in einen fiktiven Bruder: »Da schlang er [Anton, N.G.] den Arm um die Geliebte [Sabine, N.G.] und lautlos hielten die Glücklichen einander umfaßt. Die Tür öffnete sich, der Kaufmann [Sabines Bruder, N.G.] stand auf der Schwelle. ›Halte ihn fest, den Flüchtling!‹ rief er. ›Ja, Anton, seit Jahren habe ich diese Stunde ersehnt. Seit du in der Fremde an meinem Lager knietest und meine Wunde verbandest, trug ich im Herzen den Wunsch, dich für immer mit unserm Leben zu vereinigen. […]‹ Er zog die Liebenden an sich. ›Du hast dir einen armen Kompagnon gewählt‹, rief Anton am Herzen des neuen Bruders.« (SH 835) Die Aufnahme in das Haus, welche die Verlobung mit einer Haustochter voraussetzt, gehorcht somit den Regeln der Adoption. Für die vorliegende skizzierende Lektüre ist festzuhalten, dass der Erfolg des Hauses Schröter damit erklärt werden kann, dass es am Ende als einziges Haus die geglückte Adoption eines Fremden vorweisen kann. Die intertextuellen Verweise auf Wilhelm Meisters Lehrjahre legen schließlich nahe, dass es die Schwester ist, die das dynastische Prinzip verkörpert.22 Die literarische Instituierung der unverheirateten

22

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Die Tatsache, dass in Soll und Haben ausgerechnet die Schwester die Turmgesellschaft ersetzt, spielt in den Interpretationen des Romans, die auf die Wilhelm Meister-Verweise eingehen, keine Rolle. Diese Verweise werden weitestgehend poetologisch – das heißt in Zusammenhang mit der Entwicklung der Gattung »Bildungsroman« – gedeutet. (Vgl. Kirsten Belgum: Tracking the Liberal Hero in the Nineteenth Century. In: Stephen Brockmann u. James Steakley [Hg.]: Heroes and Heroism in German Culture. Essays in Honor of Jost Hermand, April 2000. Amsterdam u. a. 2001, S. 15–34, hier: S. 17 u. 23f. und Hartmut Steinecke: ›Wilhelm Meister‹ und die Folgen. Goethes Roman und die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert. In: Wolfgang

Schwester als Agentin – »stiller Associe« – des Hauses ergibt sich dadurch, dass sie im Text eine Position setzt, die im Prätext der rätselhaften Turmgesellschaft als Inbegriff institutioneller Voraussicht und Lenkung zukommt. Soll und Haben ist in dem Sinn ein Roman des Hauses, dass er – über die unverkennbaren Parallelen zum »ganzen Haus« hinaus –23 ein dynastisches Gesetz formuliert.

2.

Die Gunst der Prinzipalin

Friedrich W. Hackländer: Handel und Wandel In welchem Maß der Erfolg des Hauses, das heißt dessen Kontinuität, von der Aufnahme Fremder abhängt, geht aus jenem Roman hervor, den Freytag als Vorlage für Soll und Haben benutzt haben könnte: Friedrich Wilhelm Hackländers Handel und Wandel, der ausschließlich in der Welt der großen und kleinen Kaufleute spielt. Ähnlich wie Anton Wohlfart ist auch der Held dieses Romans ein Waisenknabe, der nach der Konfirmation von seinen Verwandten in einen Spezereiladen gegeben wird. Hier lernt er zwei Dinge – erstens: »Es dauerte nicht lange, so sah ich ein, daß ich mir die Reize des Spezereihandels allzugroß vorgestellt hatte, und begann zu fühlen, daß dies nicht der Weg sei, um eine kaufmännische Karriere zu machen. Doch was war zu thun?«24 (H 48f.) Und er nimmt – zweitens – den »Vorzug [wahr], den die Jungfer Barbara meinem Kollegen vor mir und selbst vor dem Prinzipal gab.« (H 47) Er bricht die Lehrzeit im »Haus Reißmehl« ab und tritt ein in das »Haus Johannes Kaspar Stieglitz & Comp.«, eine Modehandlung, die über eine an sie angeschlossene Seidenfabrik und eine Geschäftsstelle in Amsterdam verfügt. Erst im zweiten Haus wendet er den Lehrsatz an, wonach der erste Schritt zu einer »kaufmännische[n] Karriere« im »Vorzug« bestehe, den die Dame des Hauses einem vor anderen gibt. Und tatsächlich gelingt es ihm bald, »die Gunst der ernsten finstern Frau zu gewinnen.«25 (H 304)

23

24 25

Wittkowski [Hg.]: Goethe im Kontext: Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984, S. 89–118, hier: S. 92) Vgl. Lothar Schneider: ›Das Gurgeln des Brüllfrosches‹: Zur Regelung des Begehrens in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Anne Fuchs u. Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Tagung zum 60. Geburtstag von Hugh Ridley im Juli 2001. Würzburg 2003, S. 121–134, hier: S. 126–129. Ich verdanke den Hinweis auf Handel und Wandel Helmut Winter: Nachwort. In: Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Waltrop u. a. 2004, S. 853–862, hier: S. 862. Um die selbe Zeit – im Jahr 1852 – empfiehlt auch Johann Siegmund Mann Junior seinen Nachkommen, um die Gunst der Prinzipalin zu kämpfen: »Insonders suchte ich mich auch, sowohl in Hamburg als in Amsterdam meinen Principalinnen, dienstlich und angenehm zu beweisen, was mir höchst lohnende Früchte getragen hat, und es ist dies ein Gegenstand, den ich sowohl meinen Söhnen als wie andern jungen Leuten nicht genug zu empfehlen vermag.« (Skitzen aus dem Leben von Johann Siegmund Mann Jr in Lübeck. In: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Kommentar. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 1.2. Frankfurt/M. 2002, S. 611–621, hier: S. 613) Thomas Mann scheint diese Skizzen für seinen Roman Buddenbrooks verwendet zu haben, wie aus einem Brief, den der Firmen-

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In Handel und Wandel steht dem ersten Haus (Reißmehl) ein Geschwisterpaar vor, dem zweiten Haus (Stieglitz) ein Ehepaar. Im ersten Fall sind Bruder und Schwester (»Jungfer Barbara«) beide unverheiratet, daher kinderlos. Im zweiten Fall ist das Ehepaar ebenfalls kinderlos. Es ist den beiden Häusern Reißmehl und Stieglitz gemeinsam, dass die Hausvorstände jeweils eine Gütergemeinschaft bilden. Im ersten Fall willigt der Bruder in die Ehe der Schwester mit dem Lehrling ein, um eine Auflösung der Gütergemeinschaft zu verhindern: »Wenn ihm auch Philipp [der Lehrling, N.G.] als Schwager nicht sonderlich behagen mochte, so bedachte er dagegen, daß seine Schwester die Hälfte des Vermögens ansprechen könne, und daß er bei einer Trennung vielleicht nicht so bald wieder einen Gehilfen fände wie Philipp.« (H 170) Auch im Hause Stieglitz dient die Ehe dazu, die Gütergemeinschaft zu bewahren und zu festigen: »Als ein entfernter Verwandter seiner Frau, der Madame Stieglitz, beschlossen die Eltern dieser beiden [!], sie zu verheiraten, um das damals schon bedeutende Vermögen zusammenzuhalten.« (H 286) Es ist den beiden Häusern gemeinsam, dass ihre Hausvorstände zu ihrer Reproduktion Günstlinge aufnehmen. Im Hause Reißmehl erfolgt die Aufnahme über die Ehe des Günstlings mit der Schwester des Hausherrn. Die Gütergemeinschaft zwischen den Geschwistern wird durch die Gütergemeinschaft der Eheleute ersetzt. Im Hause Stieglitz benötigt die Aufnahme weitere (Erzähl-)Schritte, die sich dadurch ergeben, dass hier das Haus über keine heiratsfähige Schwester/Tochter verfügt. Anders formuliert: Das Haus Stieglitz verfügt über eine freie (Tochter-)Stelle, die noch vor der Aufnahme besetzt werden muss. Und tatsächlich ereignen sich kurz vor dem Ende des Romans zwei Todesfälle, die zum einen die Hausherrin als Witwe, zum anderen die Nichte des Erzählers – dessen Namen die Leser nicht erfahren – als Halbwaise zurücklassen, deren väterliches Haus versteigert werden muss. So wie der Erzähler wird nun auch dessen Nichte ins Haus Stieglitz aufgenommen. Der Makel ihrer Erwerbstätigkeit, die eine standesgemäße Heirat verhindern könnte, wird dadurch getilgt, dass sie ausdrücklich nicht die freie Stelle der Ladenjungfer, sondern die Stelle der Gesellschaftsdame der Hausherrin einnimmt. Erst die doppelte Aufnahme von »Sohn« und »Tochter« stellt im Hause Stieglitz die erneute Gütergemeinschaft von Eheleuten in Aussicht: »Meine Kinder,« sagte die alte Frau, und während sie mir ihre rechte Hand gab, legte sie ihre linke auf das Haupt des Mädchens [die Nichte des Ich-Erzählers, N.G.], »meine Kinder, Gott hat euch in seinen Schutz genommen und alles wohlgemacht; ihr liebt einander, ich freue mich darüber, laßt mich für euer Schicksal sorgen; ich habe niemand auf der Welt, ihr beide steht ebenfalls allein da, und so, glaube ich, könnte es gelingen, daß wir unsere Tage in Frieden zusammen genießen können; ich will euch Mutter sein, seid ihr meine Kinder – ja, meine Kinder mit allen Rechten, die ich euch einräumen kann.« (H 461f.)

inhaber Johann Buddenbrook seinem Sohn nach Antwerpen schreibt, hervorgeht: »Es möge Dir als Ratschlag dienen, daß ich in Deinem Alter, sowohl in Bergen als in Antwerpen, es mir immer angelegen sein ließ, mich meinen Prinzipalinnen dienstlich und angenehm zu machen, was mir zum höchsten Vorteil gereicht hat.« (B 189) (Hervorhebung im Original) Ähnlich wie in Handel und Wandel, wo der Erfolg des Erzählers daran gemessen werden kann, inwieweit er bereits in der Gunst der Dame des Hauses gestiegen ist, ist auch in Soll und Haben der Status des Hausgünstlings – wenn auch in der Formulierung als »Liebling« (SH 104) und »Mignon« (SH 135) abgeschwächt – das erste, worum gekämpft werden muss.

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Diese Rechte erlauben den aufgenommenen Kindern Teilhabe am Hausvermögen zu Lebzeiten der Mutter, ohne das Fortleben des Hauses nach ihrem Tod zu gefährden. So soll das Ladengeschäft verkauft, die Einnahmen durch den Verkauf zum Teil in die Seidenfabrik investiert, und der Bräutigam zum Inhaber der Fabrik ernannt werden. Für den Fall ihres Todes setzt die Mutter aber folgendes fest: Die gute, alte Frau hatte Emma [die Nichte des Ich-Erzählers, N.G.] und mich zu ihren Erben eingesetzt unter zwei Bedingungen: die eine war, daß die Fonds des Hauses Stieglitz & Comp. in Amsterdam ihrem dortigen Vetter verblieben, und die andere war, daß wir erst in den Besitz des übrigen Vermögens kommen sollten, wenn ich das Fabrikgeschäft, das sie mir übergeben, durch Fleiß und Umsicht zu einer gewissen Höhe gebracht haben würde. (H 464)

Das Haus perpetuiert sich also nicht allein durch die erneuerte Gütergemeinschaft eines Ehepaars, sondern auch dadurch, dass es einen Teil des Vermögens einem fernen Verwandten sichert. Das Haus ist somit selten ausschließlich ein soziales Gebilde, dessen Autarkie sich im Gehäuse materialisiert, sondern zudem ein loses Netz aus virtuellen Positionen, die – wie in diesem Fall – je nach Bedarf mit entfernten Verwandten besetzt werden können. Die Lektüren von Soll und Haben sowie Handel und Wandel eignen sich dazu, um die Bedeutung von Geschwisterpaaren in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts zu erklären. Wenn sich Häuser durch die Wahl eines Fremden in den Hausvorstand reproduzieren, erscheint die Kinderlosigkeit desselben als notwendige Bedingung, um den Adoptionsvorgang in Gang zu setzen. Die Bedingung der Kinderlosigkeit wiederum ist durch unverheiratete Geschwisterpaare immer gegeben. Aus diesem Grund taucht das literarische Motiv des kinderlosen Geschwisterpaars bevorzugt dort auf, wo von Prozessen institutioneller Kontinuitätssicherung erzählt wird. Diese Beobachtung ist hervorzuheben, da die Verbindung von Bruder und Schwester mitunter allzu voreilig vor der Folie von Inzestgeschichten gelesen wird. So schreibt Rüdiger Campe in seiner Interpretation von Robert Walsers Jakob von Gunten über das Geschwisterpaar Benjamenta: »Sie [Lisa Benjamenta, N.G.] verkörpert das institutionelle Objekt des Begehrens. In der quasiödipalen Kombination mit ihrem Bruder, dem Direktor, bildet sie gleichsam die Figur des Kompromisses zwischen der alten Schule und einer anonymen psychophysischen Exerzitienmaschine. […] Im Gegensatz zu Freuds ödipalem Familienroman sind Direktor und Lehrerin Geschwister. Das Verbot, das Jakobs Begehren auf Lisa Benjamenta lenkt, hat seinen Sitz also nicht in einer gesetzhaften, sondern seinerseits in einer gesetzwidrigen Beziehung. Das betrifft den normativen, oder eben gegen-normativen Status dieses Elternpaares im Familienroman der Institution.«26 Vor dem Hintergrund der Häuser- und Kaufmannsromane kann eine alternative Deutung in Aussicht gestellt werden: Es ist vielleicht nicht so sehr das »Verbot, das Jakobs Begehren auf Lisa Benjamenta lenkt«. Jakob von Gunten ist vielmehr in die Serie der Hauslieblinge einzureihen, die mit dem Helden in Handel und Wandel anfängt und mit Anton Wohlfart in Soll und Haben fortgesetzt

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Rüdiger Campe: Robert Walsers Institutionenroman. Jakob von Gunten. In: Rudolf Behrens u. Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2005, S. 235–250, hier: S. 243f.

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wird. Der Kampf um die Gunst der Dame des Hauses ist ein mehrfach wiederholtes Motiv, so dass man davon sprechen kann, dass Walsers Jakob von Gunten zumindest in diesem Punkt den Gattungskonventionen des Häuserromans entspricht.

3.

Vom Scherzzwang

Ricarda Huch: Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren Wie gelingt der Statuswechsel vom Fremden zum Verwandten? Welche Vorkehrungen sind zu treffen, welche Gefahren abzuwenden? Die beiden Romane Soll und Haben sowie Handel und Wandel umgehen diese Fragen, indem sie die Aufnahme des Fremden an Sohnes statt ans Ende setzen.27 Im 19. Jahrhundert sind eine Reihe von literarischen, sozialanthropologischen und populärwissenschaftlichen Schriften mit jenen verwandtschaftlichen Dynamiken befasst, die den Statuswechsel begleiten. Obwohl durch Adoption und Eheschließung eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen zwei fremden Gruppen neu geknüpft wird, gehen die Sozialanthropologen um 1900 davon aus, dass sich Reste der alten Fremdheit in der neuen verwandtschaftlichen Vertrautheit bewahren. So schreibt Radcliffe-Brown über die Verwandlung des Fremden in einen Schwiegersohn oder fiktiven Sohn: »Before the marriage his wife’s family are outsiders to him as he is an outsider to them. This constitutes a social disjunction which is not destroyed by the marriage. […] How can a relation which combines the two be given a stable, ordered form?«28 Radcliffe-Brown entwirft als Antwort auf diese Frage zwei mögliche Beziehungsmodi oder Haltungen, die auf ihre Weise Feindschaft und Freundschaft verbinden.29 Die Meidungsbeziehung

27

28

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Die »abrupte Übersetzung« (Lévi-Strauss) des Fremden in den Verwandten wird als plötzlicher Wechsel vom Siezen zum Duzen praktiziert: »›Jetzt geht, Kinder,‹ sagte nach einer langen, langen Pause die Prinzipalin, jetzt unsere Mutter; ›geht, es ist spät, und ich fühle mich sehr ergriffen. Du, Emma, wirst schon heute nacht die Zimmer neben mir beziehen, und du,‹ sagte die Prinzipalin zu mir und fügte lächelnd hinzu, indem sie auf Emma zeigte: ›Sieht Er, Er ist durch sie zum ›du‹ gekommen – du gehst auf dein Zimmer und morgen sprechen wir weiter.‹« (H 462) Alfred R. Radcliffe-Brown: On Joking Relationships. In: Ders.: Structure and Function in Primitive Society. Essays and Addresses. London 1965, S. 90–104, hier: S. 92. In der Tat gehört die Meidungsbeziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn zu den am häufigsten bearbeiteten Motiven der Eigen- und Fremdethnographie verwandtschaftlich determinierter Haltungen. (Vgl. O. Schrader: Die Schwiegermutter und der Hagestolz. Eine Studie aus der Geschichte unserer Familie. Braunschweig 1904 und Sigmund Freud: Totem und Tabu. In: Studienausgabe. Hg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. 9. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1989, S. 287–444, hier: S. 305–309) Die beiden kleinen Schriften On Joking Relationships und A Further Note on Joking Relationships enthalten emphatische Bekenntnisse zur komparatistischen Vorgehensweise, die erlauben soll – ausgehend von den Feldforschungsergebnissen – eine allgemeine Sozialtheorie des Respekts und der Freundschaft zu entwerfen. (Vgl. Radcliffe-Brown, Joking Relationships, S. 91 u. 103f. und Radcliffe-Brown: A Further Note on Joking Relationships. In: Ders.: Structure and Function in Primitive Society. Essays and Addresses. London 1965, S. 105–116, hier: S. 113f.)

(avoidance relationship) verknüpft Respekt und Zurückhaltung: »This is exhibited in the very formal relations that are, in so many societies, characteristic of the behaviour of a son-in law [!] on the one side and his wife’s father and mother on the other. In its most extreme form there is complete avoidance of any social contact between a man and his mother-in-law.«30 Die Scherzbeziehung (joking relationship) hingegen verknüpft Respektlosigkeit mit freimütigem Umgang: »Any serious hostility is prevented by the playful antagonism of teasing, and this in its regular repetition is a constant expression or reminder of that social disjunction which is one of the essential components of the relation, while the social conjunction is maintained by the friendliness that takes no offence.«31 Im verwandtschaftlichen Gefüge sind es häufig die Schwiegereltern, die gemieden werden, während der Bräutigam den Geschwistern der Braut meist scherzend begegnet. Zugleich ist er selbst den Scherzen der Brautschwestern und Brautbrüder häufig regelrecht ausgeliefert: »The joking relatives are those of a person’s own generation; but very frequently a distinction of seniority within the generation is made; a wife’s older sister or brother may be respected while those younger will be teased.«32 Scherzbeziehungen lassen sich demzufolge bevorzugt dort beobachten, wo sich Bräutigam und Braut nach der Eheschließung einer Fülle von Schwiegerverwandten gegenübersehen, die der eigenen Generation angehören. Einige wenige Andeutungen bei Radcliffe-Brown zeugen davon, dass er die Beziehung zwischen gleichgeschlechtlichen Schwiegerverwandten einer Generation als eine allgemeine Theorie der Freundschaft weiterentwickeln wollte, während er es vermied, die Beziehung zwischen gegengeschlechtlichen Schwiegerverwandten weiter zu kommentieren. Während die erste Beziehung aus verwandtschaftlichen Gefügen hinausführt, führt die zweite Beziehung weiter in sie hinein, da in diesem Fall der scherzende Übergriff Verwandten gilt, die als potentiell »marriageable« gelten.33 In den sozialanthropologischen Theorien über Scherzbeziehungen hat das Scherzen selbst einen ambivalenten Status. Obwohl es herangezogen wird, um die Scherzbeziehung zu kennzeichnen, sind sich Anthropologen darin einig, dass in der Scherzbeziehung weit mehr und anderes ausgetauscht wird als »real jokes« im Sinne von Neckereien und Spott: »One must ›joke‹ with those in one’s genealogy classified as ›joking relatives‹ […]. This may involve real jokes, but much more commonly the English term ›joking relationships‹ is a misnomer; the French term parentés à plaisanterie is more accurate.«34 Dieser Unterscheidung liegt die implizite Annahme zugrunde, dass sich die verwandtschaftliche Beziehung mitunter vom kommunikativen Austausch von »real jokes« trennen lässt. Die Annahme ist überraschend, da sie einem Kriterium widerspricht, das joking relationships auszeichnet: Joking relatives dürfen nicht nur, sondern sie sind dazu angehalten zu scherzen, »it is a duty to be disrespectful«.35 Der Zwang, der von

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Radcliffe-Brown, Joking Relationships, S. 92. Radcliffe-Brown, Joking Relationships, S. 92. Radcliffe-Brown, Joking Relationships, S. 93. Vgl. Alan Barnard: Art. ›joking and avoidance‹. In: Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology. Hg. A.B. u. Jonathan Spencer. London u. a. 1996, S. 308f., hier: S. 309. Barnard, joking and avoidance, S. 308. Vgl. Radcliffe-Brown, Joking Relationships, S. 93. Hierzu heißt es bei Alan Barnard: »The

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dieser Beziehungsform ausgeht, ist zunächst ein Scherzzwang. Die Beziehung selbst lässt sich vom Scherzen nicht trennen. In welchem Maß der Austausch von »real jokes« die verwandtschaftliche Beziehung der joking relationship erst herstellt, wie sehr die Beziehung also auf dem Scherzen selbst basiert, soll die folgende Lektüre verdeutlichen. Entgegen der sozialanthropologischen Annahme vom sekundären Charakter des Scherzens, werden im Folgenden Konstellationen entworfen, in denen das Scherzen oder dessen Verweigerung der verwandtschaftlichen Beziehung vorangehen. Die verwandtschaftliche Beziehung folgt dem Scherz auf den Fuß. 1. Im Zentrum von Ricarda Huchs Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren steht ein Plan, dessen verzögerte Umsetzung den Roman strukturiert: »Um die Zeit, von der ich spreche, wurmte es ihn [den Urgroßvater, N.G.] besonders, daß die Beziehungen zwischen meinem Vetter Ezard und Lucile Leroy sich immer fester knüpften; denn er hatte Ezard, dem er sehr gewogen war, meine Schwester Galeide zugedacht und hielt diesen Plan, da er sich einmal in ihm festgesetzt hatte, für den Willen der Vorsehung, der mit allen Mitteln auszuführen sei.« (L 158) Der Plan betrifft eine mögliche Allianz zwischen Parallelcousin (Ezard Ursleu) und Parallelcousine (Galeide Ursleu).36 Er scheitert zunächst daran, dass Ezard es vorzieht, Lucile Leroy zu heiraten, die als »Fremde« (L 146) in das Haus Ursleu aufgenommen wurde.

Abb. 2: Die Fremde im Haus

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notion of compulsion is important.« (Barnard, joking and avoidance, S. 308) Das verwandtschaftliche Beziehungsgeflecht in Huchs Roman wurde in der Forschung lange Zeit ausschließlich autobiographisch interpretiert: In der »autobiographischen Rekonstruktion ist Galeide eine Selbstdarstellung Huchs. Ludolf ›ist‹ ihr Bruder Rudolf, Lucille [!] ihre Schwester Lilly, Ezard Huchs Vetter, Mann ihrer Schwester, langjähriger Geliebter und späterer Ehemann Richard Huch.« (Vivian Liska: »Die Moderne – ein Weib«. Am Beispiel von Romanen Ricarda Huchs und Annette Kolbs. Tübingen 2000, S. 99)

Luciles Eheschließung mit Ezard ist das Ergebnis einer Karriere, die in ihren Grundzügen den Karrieren der Marie Kniehase in Fontanes Vor dem Sturm und der Franziska Franz in Graf Petöfy ähnelt: (Kap. III/3 und III/5) Lucile, »das interessante fremdartige Wesen«, (L 146) ist eine schweizerische Gouvernante,37 die im Haus angestellt wird, um Galeide Ursleu Französisch, »die scheu verehrte Sprache der übrigens verhaßten Nachbarn«, (L 144) zu lehren. Die Gouvernante begibt sich zügig in den Assimilationsprozess: »Was wir unbewußt in uns aufgenommen hatten, die vielfachen Bildungseinflüsse einer großen Stadt, danach strebte sie […] in bewußter, planvoller Weise; einen reich gebildeten Geist achtete sie über alles und suchte sich einen solchen mit achtunggebietendem Eifer und Fleiß anzueignen.« (L 145) Das Ziel ihrer Assimilation ist erreicht, als sie Ezard Ursleu ehelicht und zeitgleich – ein Fall von Adrogation – zum Protestantismus übertritt: »Es setzte nun jedermann in Erstaunen, wie rasch sich Lucile zu diesem Schritt bereit erklärte.« (L 160) Auf ihrem Weg von der Gouvernante zur Braut des Hauses wird Lucile von ihrer Schülerin und deren Bruder, dem Erzähler, als »Schwester« angenommen: »Der Altersunterschied von fünf oder sechs Jahren machte sich zwischen den beiden Mädchen verhältnismäßig wenig bemerkbar. […] Sie waren wie Schwestern miteinander, nein, weit inniger als solche gemeinhin zu sein pflegen. […] Lucile und ich [der Erzähler, N.G.] nannten einander du.« (L 146) Die Erweiterung der Beziehung zwischen Lucile und ihrer Schülerin um die geschwisterliche Komponente und die Eheschließung mit Ezard Ursleu, die Überlagerung der geschwisterlichen Beziehung durch die Beziehung der Allianz strahlen auf alle verwandtschaftlichen Verhältnisse aus. Das betrifft zunächst die Beziehung zwischen Cousin (Ezard) und Cousine (Galeide), die in die Beziehung zwischen Schwager und Schwägerin (mit Galeide als »Schwester« Luciles) verwandelt wird. Die Überlagerung der beiden Beziehungen zeigt sich daran, dass Ezard und Galeide – nach der Eheschließung Ezards – beginnen, eine Mischung aus Scherz- und Meidungsbeziehung zueinander zu unterhalten. Der Hinweis auf den »höfliche[n] Ton, in welchem Ezard und Galeide miteinander verkehrten«, (L 185) kennzeichnet die Mischung: Sie verkehren miteinander (joking), wenn auch im höflichen Ton (avoidance). Die eingeschränkte Form ihres Verkehrs hervorhebend heißt es an anderer Stelle, dass sie »nie anders als in den Formen liebenswürdiger Höflichkeit miteinander verkehrt hatten«. (L 191) Die Ambivalenz ihrer Beziehung lässt sich vielleicht auf die Formel bringen: nie anders (avoidance) als liebenswürdig (joking). Wenn die Vermutung stimmt, dass erst die kommunikative Form des sozialen Verkehrs die verwandtschaftliche Beziehung bestimmt und hervorbringt, muss sich das Verhältnis zwischen Galeide und Ezard verändern, sobald ihr Verkehr den Rahmen von joking und avoidance verlässt. In diesem Fall ist es ein Übermaß an »Neckereien«, (L 190) eine kleine Verletzung, die Ezard seiner Schwägerin und Cousine beibringt. Bei dem Versuch, die Verletzung wiedergutzumachen, geraten beide in eine Situation, aus der sie nicht mehr in ihre alte Scherzbeziehung zurück finden: »Da sie nun aber nie anders als in den Formen liebenswürdiger Höflichkeit miteinander verkehrt hatten, wußte er [Ezard,

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Zum sozialhistorischen Kontext vgl. Irene Hardach-Pinke: Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs. Frankfurt/M. u. a. 1993.

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N.G.] nicht recht, wie er es anzustellen habe, und verschob es so lange, bis Galeide den Kleinen [Ezards Sohn, N.G.] zu Bett gebracht und noch neben ihm saß, während er im Einschlafen eine ihrer Hände umklammert hielt. Ezard pflegte, wenn er um diese Zeit zu uns kam, noch in das Schlafzimmer zu gehen und dem Sohne einen Gutenachtkuß zu geben; er setzte sich nun an diesem Tage, nachdem er es getan hatte, zu Galeiden auf den Rand des Bettes, ergriff ihre freie Hand und zog sie an seine Lippen, als wolle er damit um Verzeihung bitten. Sie waren dabei allein«. (L 191f.) Das Zusammenkommen von Cousin und Cousine (respektive Schwager und Schwägerin) am Bett des schlafenden Kindes erinnert an das szenische Arrangement der Heiligen Familie.38 2. Die figurale Konstellation, in der Galeide die Position der jungfräulichen Mutter besetzt, drängt danach, bestätigt zu werden: Wie schon angedeutet, besetzen die einzelnen Figuren in Huchs Roman gleichzeitig mehrere verwandtschaftliche Positionen.39 So ist Galeide in ihrer Beziehung zu Ezard gleichzeitig Cousine und Schwägerin, was darauf zurückzuführen ist, dass sie zu Lucile eine geschwisterliche Beziehung unterhält: Es wird mehrmals erwähnt, dass die beiden Frauen »wie Schwestern miteinander« sind. (L 146) Die Proliferation verwandtschaftlicher Beziehungen lässt Konstellationen entstehen, die aus heutiger Sicht nur mit Mühe zu entschlüsseln sind, im 19. Jahrhundert jedoch Gegenstand rechtlicher Dispute waren.40 Eine solche verwandtschaftliche Konstellation ist das Sororat. Das Sororat bezeichnet für gewöhnlich die Eheschließung zwischen einem Witwer und der Schwester seiner verstorbenen Ehefrau. Es korrespondiert mit dem Levirat, das die Ehe zwischen einer Witwe und dem Bruder ihres verstorbenen Ehemanns vorsieht.41 Im 19. Jahrhundert sind

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Vgl. Koschorke, Heilige Familie [passim]. Vgl. zum Phantasma der mehrfachen Besetzung genealogischer Positionen Stefan Willer: Die Wiederkehr der Merowinger. Heimito von Doderers Roman über eine »totale Familie«. In: Simone Costagli u. Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München u. a. 2010, S. 59–70, hier: S. 60f. Vgl. für den US-amerikanischen Kontext Martin Ottenheimer: Forbidden Relatives. The American Myth of Cousin Marriage. Urbana u. a. 1996, S. 6f. »The term sororate may be used as an equivalent to ›sororal polygyny‹, but it is best reserved for the marriage of a man to his wife’s sister after the death of his wife. Similarly, a widow may marry her late husband’s brother. The latter situation is commonly called levirate (sometimes ghost marriage) but strictly, this is applicable only if the children born of the second marriage are attributed to the woman’s first husband, even though he is dead.« (Robert Parkin: Kinship. An Introduction to the Basic Concepts. Oxford u. a. 1997, S. 43 [Hervorhebungen im Original]) Vgl. hierzu auch Goody, Production and Reproduction, S. 41–65. Zur historischen Semantik der Beziehung zwischen Schwager und Schwägerin schreibt Sabean: »[I]m 17. Jahrhundert [stand] ein Paar im Vordergrund, das wir heute überhaupt nicht als blutsverwandt ansehen würden: Bruder und Schwägerin (oder die Schwester der Ehefrau). […] Das auf Blutsverwandte der Frau bezogene Eheverbot wurde am Beispiel der Schwester der verstorbenen Ehefrau am grundsätzlichsten erörtert.« (Sabean, Inzestdiskurse, S. 15) Zur Diskussion der Heirat zwischen Schwager und Schwägerin insbesondere im katholischen Kontext vgl. Lanzinger, SchwesternBeziehungen und Schwager-Ehen [passim].

solche Ehen im deutschsprachigen Raum als »Reparaturehen« bekannt. Der Begriff der Reparaturehe setzt das Konzept des Hauses voraus, denn reparaturbedürftig ist die Allianz zwischen zwei Häusern, die sich in der ehelichen Gütergemeinschaft manifestiert. Die Reparaturehe verhindert die Veräußerung des Hausvermögens durch die wiederholte Eheschließung des Witwers (der Witwe) mit einer (einem) Fremden.42 In Huchs Roman lässt sich ein im Scherz vorgebrachter Imperativ als Empfehlung zum Sororat lesen. Im Laufe einer Unterhaltung überkommt die Ehefrau und »Schwester«, Lucile Ursleu, ein »Einfall«, den sie sogleich ihrem Ehemann, Ezard, erzählt: »Ihr würdet so einzig füreinander passen, du […] und sie [Galeide, N.G.] […]. Freilich dürftest du sie nicht so lieben wie mich, wenigstens nicht jetzt. Aber wenn ich gestorben sein werde, so sollst du sie heiraten«. (L 173) Indem Lucile ihre fiktive Schwester über den eigenen Tod hinaus als Nachfolgerin an der Seite Ezards bestimmt, setzt sie das Sororat in Aussicht. Luciles Scherz entwickelt im Roman insofern eine eigene Dynamik, als ihre Position – noch zu ihren Lebzeiten – zunehmend von der »Schwester« eingenommen wird. Galeide wird zu einer Begleitfigur, einer Brautschwester, welche die Eheleute kaum mehr verlässt: »[S]owie das Kind geboren war, siedelte Galeide fast ganz nach Ezards Hause, damit Lucile nie allein sei.« (L 178) In ihrem Verhältnis zum Kind verlässt sie mehr und mehr die Stellung der Tante und wird ihm zur Mutter: »Es erschien häufig, als ob Galeide und nicht Lucile die Mutter des Kindes wäre«. (L 180) Die Verwandten sprechen darüber, »wie Galeide sich um das Kind verdient mache und es fast besser pflege als die eigene Mutter«. (L 191) Luciles sukzessive Ersetzung durch Galeide wird abgeschlossen, als diese sich nach dem Tod Luciles – gemäß den Regeln des Sororats – mit Ezard verlobt. Die Aussicht auf die eheliche Verbindung löst die Scherz- und Meidungsbeziehung auf, die Ezard und Galeide unterhalten hatten. 3. Die ambivalente Haltung derjenigen, die durch Schwägerschaft an das Haus gebunden sind, und von denen Radcliffe-Brown schreibt, dass sie ihren neuen Verwandten mit einer Mischung aus Respekt und Zurückhaltung oder Respektlosigkeit und Zügellosigkeit begegnen, findet sich schließlich im Umgang von Luciles Bruder, Gaspard Leroy, mit den Ursleus. In der Nacht vor der Hochzeit begegnet er ihnen mit offener Feindschaft, indem er sich in einem symbolischen Akt als Bewacher der jungfräulichen Ehre seiner Schwester in Szene setzt. Der Erzähler, Ludolf Ursleu, berichtet: Madame Leroy hatte mir gestattet, Rosen zu pflücken, soviel ich wollte, wovon ich auch Gebrauch machte […]. Doch nahm sich Gaspard heraus, mir einige Knospen an Sträuchern, die ihm zu gehören schienen, zu verbieten, da er sie zu einem Hochzeitsstrauß für seine Schwester verwenden wolle. Von diesen blühte die eine dicht unter seinem Fenster; und da ich am Vorabend der Hochzeit dort vorbeiging und ihn am geschlossenen Fenster stehen sah, reizte es mich, ihn dadurch zu necken, daß ich ihn ansah und gleichzeitig eine Hand nach der Rose

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Vgl. Margareth Lanzinger: Tanten, Schwägerinnen und Nichten. Beziehungsgefüge, Vermögenskonflikte und ›Reparaturehen‹ oder: Linie und Paar in Konkurrenz. In: WerkstattGeschichte 46 (2007), S. 41–54, hier: S. 44.

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ausstreckte, als ob ich sie brechen wollte. In demselben Augenblick stieß das Ungeheuer eine geballte Faust mitten durch die Glasscheibe und pflückte mit der blutenden Hand die Knospe, bevor ich sie hätte nehmen können, wenn ich überhaupt wirklich gewollt hätte. Der Anblick des fließenden Blutes war für mich zu ergreifend, als daß ich den Kasper hätte auslachen können; ich war im Grunde erschreckt und sagte mit ärgerlichem Vorwurf, daß ich ihn nur hätte necken wollen. Worauf er nichts erwiderte, die zerbrochene Scheibe vollends aushob und seine Wunde verband. (L 164)

Ludolf Ursleu beschreibt an dieser Stelle den Anfang einer möglichen, durch Schwägerschaft begründeten, Scherzbeziehung, die blutig endet. Die Beziehung bleibt im Anfang stecken: Weder mag Ludolf durch die Neckerei selbst lachen, noch wird sein Scherz durch Gaspard erwidert. Zurück bleibt eine offene Rechnung um eine Rosenknospe. Die Erwiderung des Scherzes erfolgt erst, nachdem Gaspard Leroy – durch den Tod seiner Schwester – seinen Status als Brautbruder verloren hat. Erst nachdem die verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihm und dem Hause Ursleu unterbrochen ist und sich Ezard und Galeide verlobt haben, macht er sich auf den Weg ins Haus seines früheren Schwagers. Man könnte auch sagen, dass hier der verhinderte Schwager das Haus heimsucht. Während er damals, »am Vorabend der Hochzeit«, mit Ludolf nicht scherzen mochte, begeht er jetzt – im Angesicht der neuen Braut – »eine Schelmerei«: (L 379) »Singen Sie etwas«, sagte der Unselige [Gaspard Leroy, N.G.] […]; und da sie bescheiden einwandte, daß sie ja keine Sängerin sei, sagte er in demselben sanft beherrschenden Tone: »Singen Sie doch.« Während ich [der Erzähler und Bruder Galeides, N.G.] mir überlegte, ob ich ihn nicht auf der Stelle beim Kragen nehmen und erwürgen dürfte, suchte Galeide zwischen ihren Noten, bis sie etwas zum Singen gefunden hatte, und setzte sich dann ans Klavier, um sich selber zu begleiten. Ihre Stimme brach aber schon bei den ersten Tönen ab, wahrscheinlich weil sie allzu erregt im Innern war, und sie hörte auf und sagte: »Ich kann nicht.« – »Warum sagen Sie denn, Sie wollen alles tun, was ich will?« beharrte der Unhold. »Versuchen Sie es doch«, erwiderte Galeide. »Sagen Sie, was Sie wollen! Soll ich mich aus dem Fenster stürzen?« Sie hatte ihren Klavierstuhl gedreht, so daß sie ihm gerade gegenübersaß und ihm voll ins Gesicht sah. […] »Soll ich?« fragte Galeide noch einmal leise. Er nickte und sagte sein halb gesungenes: »Oui, Mademoiselle.« Sogleich stand sie auf und ging auf das nächste Fenster zu; alle standen offen, da es eine sehr warme Nacht war. Gaspard sah ihr still lächelnd nach und mochte denken: wie wird sie sich nun aus ihrer Schlinge ziehen? Ich werde sie aber zuvor ein wenig zappeln lassen. […] In einem Augenblick hatte sie sich auf die Fensterbank geschwungen und stand groß und frei in dem hohlen Rahmen. […] Ja, sie lachte ihn aus, den Kasper; aber was kostete es sie? Ihr ganzes herrliches, junges Leben, das unwiederbringliche! Denn noch war der freundliche Silberlaut ihrer Stimme nicht verklungen, da lag sie schon tot zwischen den blühenden Lilien auf dem Beete vor unserem Hause. (L 378f.)

In der Szene, die schließlich Galeides unvermittelten Tod herbeiführt, wird die erste Scherzszene zu Ende geführt. Während Gaspard am Anfang den Scherz nicht parieren mochte, pariert er jetzt. Diese letzte »Schelmerei« schließt die Kette der vielen Scherze, die im Roman beim Wort genommen werden. Das trifft für Lucile Leroys scherzhafte Empfehlung des Sororats genauso zu wie für die vielen Scherze Galeides: »›Weißt du‹, sagte sie, ›wie ich mich zum Scherz in Gaspard verlieben wollte? Nun liebe ich ihn im Ernste«. (L 349)

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4.

Die falsche Wahl

Thomas Mann: Buddenbrooks Thomas Manns Buddenbrooks dramatisiert die Adoption fiktiver Söhne. Ein solch fiktiver Sohn ist Gegenstand des ersten Tischgesprächs im Haus, bei dem des Verfalls der Ratenkamps gedacht wird. Der Verfall der Ratenkamps, die das von den Buddenbrooks erworbene Gebäude errichtet und bewohnt hatten, wird auf die missglückte Wahl des Kompagnons zurückgeführt: »Wenn Dietrich Ratenkamp damals nicht diesen Geelmaack zum Kompagnon genommen hätte!« (B 25) Obwohl ein Gast der Buddenbrooks Geelmaacks unredliche Geschäfte genau auflistet, besteht Johann Buddenbrook darauf, dass sich Ratenkamp »unter dem Druck einer unerbittlichen Notwendigkeit« (B 26) dem falschen Kompagnon verbunden habe. Ratenkamps Wahl wird von pragmatischen Erwägungen entkoppelt: Er ging wie unter einem Drucke einher, und ich glaube, man kann diesen Druck begreifen. Was veranlaßte ihn, sich mit Geelmaack zu verbinden, der bitterwenig Kapital hinzubrachte, und dem niemand den besten Leumund machte? Er muß das Bedürfnis empfunden haben, einen Teil der furchtbaren Verantwortlichkeit auf irgend jemanden abzuwälzen, weil er fühlte, daß es unaufhaltsam zu Ende ging … Diese Firma hatte abgewirtschaftet, diese alte Familie war passée. Wilhelm Geelmaack hat sicherlich nur den letzten Anstoß zum Ruin gegeben […]. Aber ich glaube, daß Dietrich Ratenkamp sich notwendig und unvermeidlich mit Geelmaack verbinden mußte, damit das Schicksal erfüllt würde … Er muß unter dem Druck einer unerbittlichen Notwendigkeit gehandelt haben … Ach, ich bin überzeugt, daß er das Treiben seines Associés halb und halb gekannt hat, daß er auch über die Zustände in seinem Lager nicht so vollständig unwissend war. Aber er war erstarrt … (B 25f.)

Der »Verfall einer Familie«, wie der Untertitel von Buddenbrooks lautet, ist also bereits im ersten Tischgespräch des Romans an das Thema der missglückten Adoption gebunden. Das Schicksal offenbart sich in der falschen Wahl des Kompagnons und Schwiegersohns. Die falsche Wahl – ein Thema, das im Roman mehrfach variiert wird – gehorcht einer Dramaturgie, deren Verlauf im Folgenden skizziert werden soll. 1. Die Perspektive der Initianden, die sich vor den Häusern postieren, in die sie aufgenommen zu werden begehren (angefangen bei Veitel Itzig und Anton Wohlfart in Soll und Haben bis zum Protagonisten und Ich-Erzähler in Handel und Wandel), wird in Buddenbrooks durch die Innenperspektive des Hauses ersetzt. Der Roman setzt mit der Zusammenkunft einiger Angehörigen des Hauses Buddenbrook ein, die auf die Gäste eines bevorstehenden Festessens warten. Der erste Teil des Romans schließt mit dem Ende dieses Festessens und dem Abschied von den Gästen, die der Hausherr nach draußen begleitet: »Der Konsul aber geleitete die Gäste die Treppe hinunter über die Diele und bis vor die Hausthür auf die Straße hinaus.« (B 46) Erst an dieser Stelle gibt es die erste und zugleich letzte Beschreibung des Hauses von Außen: Konsul Buddenbrook stand, die Hände in den Taschen seines hellen Beinkleides vergraben, in seinem Tuchrock ein wenig fröstelnd, ein paar Schritte vor der Hausthür und lauschte den Schritten, die in den menschenleeren, nassen und matt beleuchteten Straßen verhallten. Dann wandte er sich und blickte an der grauen Giebelfaçade des Hauses empor. (B 47)

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Buddenbrooks besetzt die Position Vor dem Haus nicht mit dem Initianden, sondern mit dem Hausherren selbst. Der für die Literaturgeschichte des Hauses zentrale Topos wird somit auf ungewöhnliche Weise angewandt. Wenn der Hausherr den Platz vor dem Haus selbst besetzt, ist es nur folgerichtig, dass die fremden Söhne wie aus dem Nichts auftauchen. Der dritte Teil beginnt, ähnlich wie der erste, mit der Zusammenkunft einiger Hausangehörigen: »Im Halbkreise saßen der Konsul, seine Gattin, Tony, Tom und Klothhilde um den runden gedeckten Tisch, auf dem das benutzte Service schimmerte, während Christian […] Ciceros zweite Catilinarische Rede präparierte.« (B 100) Es werden scherzhafte Floskeln gewechselt, bis, an diese Stelle ist ein Gedankenstrich gesetzt, Bewegung in die Szene kommt: »›Ja, du willst jeden Tag etwas anderes‹, sagte Tom. – Hierauf kam Anton [der Diener, N.G.] über den Hof; er kam mit einer Karte auf dem Theebrett, und man sah ihm erwartungsvoll entgegen. ›Grünlich, Agent‹, las der Konsul. ›Aus Hamburg. Ein angenehmer, gut empfohlener Mann, ein Pastorssohn«. (B 101f.) Ähnlich wie Bendix Grünlich, der um die Hand Tony Buddenbrooks anhalten wird, wird auch Alois Permaneder, Tonys zweiter Ehemann, eingeführt: »Es klingelte […]. Plötzlich kam das Folgmädchen durch die Säulenhalle, pochte an die Glasthür und überbrachte der Konsulin […] eine Visitenkarte. Die Konsulin nahm die Karte, rückte ihre Brille zurecht […] und las.« (B 354f.) Die Schwiegersöhne werden in beiden Fällen nicht vom Haus ausgewählt, sondern kündigen sich selbst an. Sie schicken ihre Karten voraus und betreten die häusliche Sphäre leisen Schrittes. So leise sie sich ankündigen, so überraschend und überwältigend ist ihre Erscheinung.43 2. Die missglückte Adoption der Schwiegersöhne hängt mit dem prekären Status der Ehen und Eheschließungen zusammen. Die Ehen werden wiederholt aufgelöst, und von Hochzeitszeremonien und Familiengründungen wird in den knappsten Formulierungen, in protokollarischer Kürze erzählt. Es heißt über die erste Trauung des Romans: »Alles verlief nach Ordnung und Brauch. Tony brachte ein naives und gutmütiges ›Ja‹ heraus, während Herr Grünlich zuvor ›Hä-ä-hm!‹ sagte, um seine Kehle zu reinigen. Dann ward ganz außerordentlich gut und viel gegessen.« (B 179) Über Tonys zweite Trauung mit Alois Permaneder wird berichtet: »Was die Hochzeitsfeierlichkeiten anging, so verliefen sie genau, wie Tony es erwartet und nicht anders gewünscht hatte: Es wurde nicht viel Aufhebens davon gemacht.« (B 391) Über die Trauung ihrer Tochter Erika Grünlich mit Hugo Weinschenk erfahren die Leser: »[U]nd alles verlief nach Brauch und Würde. Als die Ringe gewechselt wurden, und das tiefe und das helle ›Ja‹ […] in der Stille erklangen, brach Frau Permaneder […] in lautes Weinen aus […]. Dann folgte […] ein ebenso solennes, wie solides Festmahl, gegen dessen Ende die Neuvermählten verschwanden, um ihre Reise durch einige Großstädte anzutreten«. (B 490) Die Hochzeit der jüngeren Schwester Tonys, Clara Buddenbrook, die »mit allem Aufwand gefeiert werden« (B 325) sollte, wird nicht erzählt, so wie die Hochzeit von Thomas Buddenbrook und Gerda Arnoldsen jenseits Lübecks und des Erzählenswerten stattfindet. Die Sparsamkeit beim

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Vgl. B 102, 310 u. 365f.

Erzählen von Hochzeitszeremonien wird noch überboten, wenn es gilt, von Geburten zu berichten. So erfährt der Leser von der ersten Geburt im Roman in einem Brief des Schwiegersohns an die Schwiegereltern: »Liebe und hochverehrte Eltern! Unterfertigter sieht sich in der angenehmen Lage, Sie von der vor einer halben Stunde erfolgten, glücklichen Niederkunft Ihrer Tochter, meiner innig geliebten Gattin Antonie zu benachrichtigen. Es ist nach Gottes Willen ein Mädchen, und finde ich keine Worte, zu sagen, wie freudig bewegt ich bin. […] – Die Erregung zwingt mich, die Feder niederzulegen.« (B 191) Der Brief schließt mit der Nachschrift der Mutter des Kindes: »Wenn es ein Junge wäre, so wüßte ich einen sehr hübschen Namen. Jetzt möchte ich sie Meta nennen, aber Gr. ist für Erika. T.« (B 191) Die Mutter schreibt »Gr.« und signiert mit »T.« Die Familie setzt sich aus Kürzeln zusammen. Über die zweite Niederkunft Tonys heißt es: »[D]as Kind, ein kleines Mädchen, sollte nur ins Leben treten, um nach einer armen Viertelstunde […] dem Dasein schon nicht mehr anzugehören«. (B 404) Tonys tote Tochter schließt die Linie der Haustöchter, deren Mitgift, die von den Schwiegersöhnen einverleibt wird, »die beständige Zersplitterung« (B 280) des Hausvermögens bewirkt. Wenn die Mitgift nach der Scheidung an Tony zurückfällt (wie etwa nach Tonys Scheidung von Alois Permaneder), wird sie für Tonys Tochter verwendet und versiegt spätestens in deren Ehe. Die Mitgift entstammt in beiden Fällen (Mutter und Tochter) dem Haus Buddenbrook, deshalb kann über die Ehe von Tonys Tochter gesagt werden: »Und es begann Tony Buddenbrooks dritte Ehe.« (B 491) So gesehen nivelliert das Thema der falschen Wahl, das sich aus Verlust der Mitgift und Rückkehr der Töchter ins Haus zusammensetzt, die generationelle Ordnung. Tony Buddenbrooks wiederholte Eheschließungen gelten in der literaturwissenschaftlichen Forschung als Symptom der Krise des Hauses, die sich auf »das beginnende Bewusstsein von dem Recht der Bürgertöchter auf die eigene Liebeswahl« zurückführen lasse.44 Stets ist die Vergleichsfolie die bürgerlich intime Kleinfamilie, deren historischer Durchbruch durch »Liebesverzichten um des Geldes und der Familiengröße willen« verhindert werde:45 »In diesem Roman ist die Familie nicht die Institution, in der Liebe stattfindet.«46 Die Familie erscheint als zeitlos gültige Entität, deren Devianz sich im Haus manifestiert. Die implizite Annahme von der Zeitlosigkeit der Familie zeigt sich sogar dort, wo sie als modernes Phänomen historisiert wird. So markiert Walter Erhart bei seiner Rekonstruktion des Mythos zerfallender Familien die bürgerliche Kleinfamilie als historische Leerstelle der Buddenbrooks: »Das Gefüge dieses Familienromans, konzentriert auf die männliche und väterliche Nachkommenschaft, widerspricht damit einer bestimmten kulturellen Signatur der Familie, wie sie sich gerade im 19. Jahrhundert entwickelt. Dort nämlich verlagert sich das Gravitationszentrum der Familie gerade auf diesen zunehmend von der Mutter-Kind-Einheit geprägten inneren Raum der Familie: jene familienhistorisch neue, mutterzentrierte Normalfamilie, von der in den Buddenbrooks

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Vgl. Herbert Lehnert: Tony Buddenbrook und ihre literarischen Schwestern. In: Thomas-MannJahrbuch 15 (2002), S. 35–53, hier: S. 45. Lehnert, Tony Buddenbrook, S. 49. Lehnert, Tony Buddenbrook, S. 51.

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freilich kaum etwas zu sehen ist.«47 Während die mutterzentrierte Kleinfamilie an dieser Stelle der Rekonstruktion als eine soziale Formation eingeführt wird, die in Buddenbrooks noch aussteht, wird sie an anderer Stelle als eine Art Prätext verwendet, den der Roman umschreibt: »Die inneren Familienkonstellationen, Vater, Mutter, Kind, werden in verwandtschaftlich-genealogische Abfolgen ›umgeschrieben‹«.48 Erst die Umschrift der familialen Konstellationen führe den »Verfall der Familie« herbei. Die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man den genauen historischen Ort der bürgerlichen Kleinfamilie in Buddenbrooks angeben möchte, sind darauf zurückzuführen, dass der Roman von Anfang an mit der Kategorie des dynastischen Hauses arbeitet. Das Haus Buddenbrook verfällt nicht aufgrund »von erzwungenen und falschen Ehen« oder des Siegeszugs der intimen Kleinfamilie.49 Der Untergang des Hauses ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Operationen einer arrangierten Ehe nur unvollständig angewandt werden. Dies zeigt sich im Roman wiederholt als mangelndes Vermögen, zu wählen und den verdienten Fremden zu adoptieren.50 Die Verkennung des Hauses zugunsten der Familie lässt sich in zahlreichen Interpretationen des Romans daran festmachen, dass zumindest drei Beziehungen, die – vom Haus aus gedacht – in ihrem Austauschverhältnis zu beschreiben sind, isoliert und familial gedacht werden: die Beziehungen Vater/Sohn, Ehemann/Ehefrau und Vater/ Tochter. Der Verfall der Buddenbrooks wird in den meisten Interpretationen als Folge eines angekündigten Paradigmenwechsels innerhalb der jeweiligen Beziehung erklärt. Anhand der Beziehung zwischen Vater (Thomas Buddenbrook) und Sohn (Hanno Buddenbrook) wird der Bruch der paternalen Kontinuität vorgeführt; anhand der ehelichen Beziehungen wird die Krise arrangierter Ehen, die im Roman mit einzelnen Liebesgeschichten konkurrieren, thematisiert; die Entfremdung zwischen Vater und Sohn wird als Folge der Eheschließung zwischen dem Vater und einer fremden Mutter (Gerda) gesehen; schließlich wird anhand der Beziehung zwischen Vater (Johann Buddenbrook) und Tochter (Tony) gezeigt, wie die Unterdrückung der töchterlichen Individualität zugunsten einträglicher Allianzen die Firma ruiniert.51 Eine solch familiale Zerlegung verwandtschaftlicher Bande hat den Ausschluss geschwisterlicher Beziehungen zur Folge; in

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Walter Erhart: Thomas Manns Buddenbrooks und der Mythos zerfallender Familien. In: Claudia Brinker-von der Heyde u. H.S. (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Frankfurt/M. 2004, S. 161–184, hier: S. 174f. Erhart, Buddenbrooks, S. 175. Lehnert, Tony Buddenbrook, S. 48. Die Tatsache, dass die Buddenbrooks mit Bendix Grünlich unbewusst einen künftigen Bankrotteur als Schwiegersohn aufnehmen, ist darauf zurückzuführen, dass sie von den Firmen, bei denen Johann Buddenbrook vermeintlich »sichere Erkundigungen« (B 249) über Grünlich einzieht, mit falscher Information versorgt werden. Besorgt um die Zahlungsfähigkeit Grünlichs versprechen sich die Firmen von der Heirat die Begleichung ihrer Schulden. Im Grunde wird in der Grünlich-Episode die »gute Gesellschaft« selbst desavouiert. Vgl. Marc Oliver Huber: Zwischen Schlußstrich und »Schönem Gespräch«. Erinnerung bei Thomas Mann. Berlin 2007, S. 62–97; Linda Kraus Worley: Girls from Good Families: Tony Buddenbrook and Agathe Heidling. In: The German Quarterly 76/2 (2003), S. 195–211, hier: S. 203 und Erhart, Familienmänner, S. 283–297.

diesem Fall ist es die Beziehung zwischen Bruder (Thomas Buddenbrook) und Schwester (Tony Buddenbrook), welche die oben formulierte Isolierung der einzelnen familialen Beziehungen erlaubt.52 Erst eine solche Isolierung ermöglicht die Annahme eines »paternalen Narrativs«,53 in dem die weiblichen Verwandten nur mehr als »Störfaktor[en]« auftauchen.54 Diese Hypothese wird in den angeführten germanistischen Deutungen des Romans bevorzugt anhand der Figur Tonys verifiziert, die zunächst durch den Vater, dann durch den Bruder und schließlich durch den Erzähler als »Kind« adressiert und karikiert wird. Im Folgenden soll es um die Beziehung zwischen Tony und ihrem Bruder (Thomas) und ihrem Neffen (Hanno) gehen. 3. Das Motiv der guten Partie, das die Romane des Hauses zu einem Korpus vereint, taucht in Buddenbrooks am Rande, in einem Gespräch zwischen zwei Pensionsschwestern auf: »›Ich werde wahrscheinlich gar nicht heiraten‹, sagte sie [Gerda Arnoldsen, N.G.] ein wenig mühsam […]. ›Ich sehe nicht ein, warum. Ich habe gar keine Lust dazu. Ich gehe nach Amsterdam und spiele Duos mit Papa und lebe später bei meiner verheirateten Schwester …‹ ›Wie schade!‹ rief Tony lebhaft. ›Nein, wie schade, Gerda! Du solltest dich hier verheiraten und immer hier bleiben … Höre mal, du solltest zum Beispiel einen von meinen Brüdern heiraten«. (B 97) Die fehlende »Lust« Gerda Arnoldsens bedarf bereits zu Beginn der Animation durch Tony, die für das Haus die Braut aussucht. Das Primat des Hauses vor der Familie zeigt sich in ihrer Rede daran, dass sie ihrer Pensionsschwester, Gerda, empfiehlt, »einen von meinen Brüdern« zu heiraten – vor dem Haus sind beide Brüder gleich. Die Allianz zwischen den Häusern Arnoldsen und Buddenbrook wird somit in der Rede der Schwester initiiert. Die Kette der Initiationen durch die Schwester setzt sich fort, als sie nach der Eheschließung die Brautleute in deren Haus empfängt: »Ungefähr sieben Monate später kehrte Konsul Buddenbrook mit seiner Gattin aus Italien zurück. […] Frau Antonie Grünlich stand, stolz auf die Vorbereitungen, die sie getroffen, in der Hausthür, und hinter ihr hielten sich […] die beiden Dienstmädchen, die sie ihrer Schwägerin kundig erwählt hatte.« (B 326f.) Tony ist in dieser Szene nicht zuletzt aus dem Grund »kundig«, da sie ihre erste Ehe bereits hinter sich gebracht hat. Der Gang durch das Haus und die Begleitung der Eheleute ins Schlafzimmer kommen semantisch einer Einführung in den ehelichen Alltag, der Einführung in den weiblichen Körper gleich: »Dann gingen sie ins Schlafzimmer hinüber. Es lag zur rechten Hand am Korridor, mit geblümten Gardinen und mächtigen Mahagoni-Betten. Tony aber ging zu der kleinen, durchbrochenen Pforte dort hinten, drückte die Klinke und legte den Zugang zu einer Wendeltreppe frei, deren Windungen ins Souterrain hinabführten: ins Badezimmer und die Mädchenkammern.«55 (B 328) So wie sich die symbolische Initiation in den

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»Während Tony ein solches Kind bleibt, wechseln ihre Väter, und Thomas Buddenbrook behält ihr gegenüber die Rede des eigenen Vaters bei, verwandelt die Geschwisterbeziehung in ein Vater-Tochter-Verhältnis«. (Erhart, Familienmänner, S. 289) Huber, Erinnerung bei Thomas Mann, S. 65. Huber, Erinnerung bei Thomas Mann, S. 95. Die räumliche Verknüpfung zwischen dem ehelichen Schlafzimmer und den »Mädchen-

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ehelichen Alltag über den – nicht erzählten – Akt der Eheschließung legt, legt sich an anderer Stelle die Taufe über die Geburt: »Taufe! … Taufe in der Breitenstraße! Alles ist vorhanden, was Mme. Permaneder in Tagen der Hoffnung träumend vor Augen sah, alles […]. Ein Stammhalter! Ein Buddenbrook! Begreift man, was das bedeutet? Begreift man das stille Entzücken, mit dem die Kunde, als das erste, leise, ahnende Wort gefallen, von der Breiten- in die Mengstraße getragen worden? Den stummen Enthusiasmus, mit dem Frau Permaneder bei dieser Nachricht ihre Mutter, ihren Bruder und – behutsamer – ihre Schwägerin umarmt hat?« (B 434f.) Statt der Mutter, Gerda Buddenbrook, ist es Tony, die Vaterschwester des »Stammhalter[s]«, von deren »Tagen der Hoffnung« der Erzähler zu berichten weiß. Im Zentrum der Freudenbekundungen steht die Vaterschwester, die durch ihre Umarmungen die Verwandten vereint. Sie, die Tante, ermöglicht dem Kind, Hanno Buddenbrook, durch die Wahl eines mächtigen Paten die künftige Aufnahme in die gute Gesellschaft: »Und der zweite Pate? […] Bürgermeister Doktor Oeverdieck. Es ist ein Ereignis, ein Sieg! […] Und in der That: es ist ein Streich, eine kleine Intrigue, die der Konsul zusammen mit Mme. Permaneder eingefädelt hat. Eigentlich, in der ersten Freude, […] ist es bloß ein Scherz gewesen. […] [A]ber sie [Tony, N.G.] hat es aufgegriffen, und ist mit Ernst darauf eingegangen«.56 (B 438) Die Beziehung zwischen

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kammern« ist an dieser Stelle bemerkenswert. Sie steht für die Verbindung zwischen der legitimen Ehe und der Vielzahl amouröser Beziehungen, die der Hausherr bisweilen zu den Hausmädchen unterhält. Zur Bedeutung der Dienstmädchen im sozialen Imaginären des 19. Jahrhunderts vgl. Eva Eßlinger: Das Dienstmädchen. Zum Unbewussten der Psychoanalyse. In: E.E., Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer u. Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt/M. 2010, S. 241–253. Zur Diskussion von Patenschaft als Sonderform von Verwandtschaft vgl. Bernhard Jussen: Künstliche und natürliche Verwandtschaft? Biologismen in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft. In: Yuri L. Bessmertny u. Otto Gerhard Oexle (Hg.): Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 2001, S. 39–58. Jussen kritisiert in seinem Aufsatz die in der Forschung gängige Definition der Patenschaft als künstliche Verwandtschaft: »Warum aber definieren fast alle Forscher einen Paten, einen Adoptierten oder Schwurbruder als Pseudo-Verwandten, als falschen, künstlichen Verwandten? Was ist falsch – ›pseudo-‹, ›fiktiv‹, ›künstlich‹, ›putativ‹ – an ihnen? Ist der Gegenbegriff etwa ›wirkliche‹ oder ›natürliche‹, gar ›biologische‹ Verwandtschaft? […] Eine Patenschaft oder eine Schwurbrüderschaft ist nicht künstlicher und nicht weniger wirklich (oder gar weniger wirksam) als eine Heirat. Die Wirkung ist nur verschieden. Der Ritus der Adoption ist nicht künstlicher als die rituelle Anerkennung eines biologischen Nachkommen etwa durch das ›Aufhebens [!] des Kindes‹ (tollere liberum) im klassischen Rom.« (Jussen, Künstliche Verwandtschaft, S. 49) Trotz der begründeten Kritik Jussens am Konzept fiktiver (künstlicher) Verwandtschaft wird in der vorliegenden Arbeit auf den Begriff des »fiktiven Sohnes« (der »fiktiven Tochter«) nicht verzichtet, da es hier auf die Verwandlung der einen Beziehungsform in die andere ankommt. An anderer Stelle unterscheidet Jussen im Hinblick auf den Begriff des Fiktiven zwischen Adoption und Patenschaft: »Adoption wird verstanden als eine Rechtsfiktion der Abstammung, ein rechtlich bindendes ›Als ob‹. […] Man überträgt jemandem den Status einer Blutsbeziehung durch einen formalen Akt der Benennung. […] In vielen Fällen blieb die Fiktion unvollständig, der Adoptierte erhielt nur einige der Sohnesrechte und -pflichten. Dieses wissenschaftliche Konzept von Adoption ist offensichtlich nicht geeignet, um Institutionen wie die Patenschaft zu erfassen. Für die Verwandtschaft aus der Taufe brauchen wir ein anderes Konzept.« (Jussen, Künstliche Verwandtschaft, S. 47f.)

Vaterschwester und Brudersohn, um die es im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit gehen wird, ist in Buddenbrooks eine privilegierte Beziehung. Die einzige Szene, in der sich eine erwachsene Person in liebevoller Geste einem Kind zuwendet, ist Tony und Hanno vorbehalten: »›Er träumt‹, sagte Frau Permaneder gerührt. Dann beugte sie sich über das Kind, küßte behutsam seine schlafwarme Wange, ordnete mit Sorgfalt die Gardine und trat wieder an den Tisch […]. ›Geht er denn gern zur Schule?‹« (B 506f.) Diese Szene ereignet sich im Rahmen einer Episode, in der die Schwester ihrem Bruder ein riskantes und vielversprechendes Geschäft vorschlägt, um die Firma wieder in die Höhe zu bringen: »Ich habe mir gedacht: Tom geht seit einiger Zeit ein bißchen freudelos umher. Früher klagte er, und jetzt klagt er schon nicht einmal mehr. […] Und dann habe ich mir gedacht: Dies ist etwas für ihn, ein Coup, ein guter Fang.« (B 501) Die Sorge um den Brudersohn ist in der Sorge um den Bruder und das Haus eingebettet. Ähnlich wie in der oben angeführten Szene der Begrüßung der Brautleute (Gerda und Tom) durch die Bräutigamschwester (Tony) entsteht auch in diesen beiden Szenen die Konstellation Bruder/Schwester/Brudersohn durch Tonys Gang durchs Haus. Sie verlässt zunächst das Zimmer des Bruders, um zu dessen Sohn zu gehen (B 505) – und kehrt daraufhin zum Bruder zurück. (B 511) Erst die kreisende Bewegung der Vaterschwester durch das Haus verbindet das Zimmer des Vaters mit dem Zimmer des Sohnes. Die Konstellation Bruder/Schwester/Brudersohn zeigt sich am deutlichsten in jener Szene, in der die Buddenbrooks zur Hundertjahrfeier der Firma zusammenkommen. Das Herzstück der Feier bildet die Überreichung der »Festgabe der Familie« an den Firmenchef: »Die Konsulin, Christian, Klothhilde, Ida Jungmann, Frau Permaneder und Hanno befanden sich im Salon, und die beiden Letzteren hielten, nicht ohne Anstrengung, die Festgabe der Familie, eine große Gedenktafel, aufrecht […]. ›Komm her, Tom‹, sagte Frau Permaneder mit wankender Stimme; ›wir können es nun nicht mehr halten, Hanno und ich.‹ Sie trug die Tafel beinahe allein, da Hannos Arme nicht viel vermochten, und bot in ihrer begeisterten Anstrengung das Bild einer verzückten Märtyrerin.« (B 528f.) Mit dieser Szene wird dem Haus ein Bild gegeben: Vaterschwester und Brudersohn halten gemeinsam die genealogische Gedenktafel hoch. Auch wenn die Szene groteske Züge trägt, bestätigt sie doch die Vorstellung, dass die Beziehung zwischen Tante und Neffe eine dynastische Verbindung verkörpert. Mit der Vernachlässigung der affektiven Bande in der Kleinfamilie zugunsten des liebevollen Umgangs zwischen Neffe und Tante, der gleichzeitig von dynastischer Voraussicht getragen ist, zeigen sich in Buddenbrooks Rudimente eines Häuserromans.57 Tony Buddenbrook ist die Platzhalterin jener Seitenverwandten, die in den Häuserromanen das Gelingen dynastischer Operationen sicherstellen können. Dass Buddenbrooks mit den Seitenverwandten im Grunde nicht viel anzufangen weiß, verdeutlicht die Figur der Klothhilde Buddenbrook, die – »aus einer völlig besitzlosen Nebenlinie« stammend (B 15) – die Geschicke des Hauses als gutmütiger Parasit begleitet. Das Vergessen der

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Interessanterweise geht die fehlende Intimität zwischen Hanno und seinen Eltern mit deren genealogischem Desinteresse an ihrem einzigen Nachkommen einher: »Die Thatsache, daß ihr Bruder über seinen Sohn und einzigen Erben hinweggegangen war, daß er für ihn nicht hatte die Firma am Leben erhalten wollen, enttäuschte und schmerzte sie [Tony, N.G.] sehr.« (B 767)

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Verwandten, das Aussparen von Praktiken der Ehestiftung und schließlich das Scheitern der Adoption als der Operation des Hauses sind die Kennzeichen eines Romans, der in der Sprache der Kleinfamilie von dynastischen Abläufen erzählt.

5.

Schwiegersöhne

Otto Stoessl: Das Haus Erath Otto Stoessls Das Haus Erath oder Der Niedergang des Bürgertums, 1920 in Leipzig erschienen, erweist sich in motivischer Sicht als eine Kopie der Buddenbrooks.58 Von ihrer Vorlage weicht die Kopie darin ab, dass sie den Verfall eines Hauses über die Schwelle des Ersten Weltkriegs hinweg erzählt. Während im letzten Kapitel der Buddenbrooks in der Zusammenkunft der acht Frauen, die noch teilweise den Namen Buddenbrook tragen, Rudimente einer vergangenen guten Gesellschaft zu sehen sind, wird in Das Haus Erath der Übergang zum Kleinbürgertum vollständig vollzogen.59 Hier treffen sich am Ende »vier Leute« in einem Schrebergarten, das junge Ehepaar Thea und Ludwig Mainone, Heinrich Frantzl und seine Tochter Corona Tobler; der Name Erath ist endgültig verschwunden: »Die vier Leute saßen um den Tisch in dem weißen Wohnzimmer unter der Lampe, welche, von einem gelben Seidenschirm gedeckt, ein sanftes rötliches Licht verbreitete. […] Man aß und sprach auch übers Essen, denn man dachte viel daran«. (E 441) An die ehemaligen Firmen Erath und Frantzl, die beide im Seidenhandel involviert waren, erinnert nur noch der »gelbe Seidenschirm«. Am Ende verweist die Bezeichnung »Leute« auf die vorangegangene Gründung der Häuser Erath und Frantzl durch die Nachkommen »armer Leute«.60 (E 6) Das Haus Erath überbietet Buddenbrooks darin, dass hier Fortgang und Verfall des Hauses fast ausschließlich über die Töchter verhandelt werden. Das Erathsche Haus

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Stoessl übernimmt aus Buddenbrooks neben dem Namen der Erstgeborenen (Antonie) ganze Episoden, so etwa die Schulepisode (E 251–256 u. B 772–828) und die Szene, in der sich die Schwester beleidigt glaubt und den Bruder an seine Satisfaktionsfähigkeit erinnert: »Das ist alles, was du weißt, wenn deine Schwester beleidigt worden ist? Hast Du nicht die Pflicht, mich zu beschützen?« (E 34) (Vgl. die Parallelszene in Buddenbrooks: »Du magst mir befehlen, keinen Skandal zu machen, wenn man mich mit Schande bedeckt, mir ganz einfach ins Gesicht speit?! Ist das eines Bruders würdig?« [B 420]) Daneben gibt es noch mindestens einen weiteren intertextuellen Bezug auf Thomas Manns Schriften, nämlich auf die Novelle Tod in Venedig: »Auf der Riva degli Schiavoni, an der Mauer eines Hauses, sank ein junger deutscher Maler in einem rohseidenen Anzug ohnmächtig nieder.« (E 397) Die Öffnung der guten Gesellschaft lässt sich am besten bei Marcel Proust studieren. Seine Beschreibung der guten Gesellschaft wird bisweilen als exemplarisch für alle geschlossenen sozialen Systeme mit eigenen Regeln bestimmt: »Seit dem Salon von Mme. de Guermantes wissen wir, daß es einer Erschütterung wie der des Ersten Weltkriegs bedarf, damit die intellektuelle Kultur ihre Gewohnheiten ein wenig ändert und schließlich jene Parvenüs empfängt, die sie früher gemieden hatte.« (Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin 1998, S. 16) Zur diffusen Menge der Leute vgl. Dirk Baecker: Die Leute. In: Dirk Baecker, Rembert Hüser u. Georg Stanitzek: Gelegenheit. Diebe. 3 x Deutsche Motive. Bielefeld 1991, S. 81–99.

verfügt über vier Töchter und einen Sohn, über den der Leser lediglich erfährt, er sei Student »an der Technik«. (E 11) Ähnlich wie dieser bleiben auch die Enkel im Hintergrund. Im Gegensatz zu den leiblichen Söhnen, die kaum erwähnt werden, finden die Schwiegersöhne größte Beachtung. Ihre jeweiligen Lebensläufe werden in novellistischer Form in den Roman integriert. Am deutlichsten ist dies vielleicht im Fall Hermann Leys, eines verhinderten Schwiegersohns, der, abgewiesen von der jüngsten Tochter des Hauses, sein Glück woanders versucht. Der Roman widmet ihm eine umfangreiche Episode, in der er (eine Rache an der höheren Tochter, die ihn verschmähte) ein adliges Fräulein ehelicht. (E 114–167) Diese Episode, die durch die Enthüllung des wahren Namens der Braut und der darauf folgenden Bekenntnisse der Brautmutter (Rainer-Gustl) nicht zuletzt an Goethes Wilhelm Meister erinnert, findet auf dem »Hof« (E 145) der RainerGustl, »eine[r] berühmte[n] ehemalige[n] Sängerin«, (E 117) statt. Dieser Bauernhof erweist sich in seiner höfischen Struktur als genau jene »andere Welt«, (E 145) die in den Häuserromanen Fontanes (Kap. III) die Welt der Häuser korrumpiert. Bis zu welchem Grad der Lebenslauf des Hermann Ley als Abfolge wechselnder Hofstellungen erzählt wird, geht auch daraus hervor, dass seiner Stellung am Hofe der Rainer-Gustl die Stellung an der Wiener Universität unmittelbar vorangeht. Die Universität ist ebenso durch höfische Strukturen bestimmt, die in nepotistischen Manövern identifiziert werden: »Er [der Rektor der neu gegründeten Wiener Universität, N.G.] hatte leicht reden, der auf Grund vielfältiger Familienzugehörigkeiten und einer wissenschaftlichen Arbeit, die, wie es hieß, von seinem Schwiegervater […] verfertigt worden war, als ganz junger Mann schon an die Wiener Universität berufen, seit manchem Jahre fette Bezüge einstrich […]. Die Mütze seiner braven schwiegerväterlichen Arbeit saß ihm warm auf dem Kopfe […]. Sein Hochmut aber kam vor keinem Fall und hatte vom Staate seine Ehrenkette und von wegen des Schwiegerpapas seinen Stand und Namen bekommen, um die Jugend vor allem zu warnen, was den eigentlichen Sinn der Wissenschaft ausmachte«. (E 110f.) Die Sprache des Hauses, als deren Element die glückliche Wahl des Schwiegersohns bestimmt wurde, scheint hier korrumpiert. Schwägerschaft steht im Zeichen des Nepotismusverdachts. Die Diskreditierung der schwiegerverwandtschaftlichen Bande erfolgt in Das Haus Erath anhand der Beziehung zwischen Schwägerin und Schwager. 1. Der Roman setzt ein mit einem Ereignis, welches das ganze Haus in Bewegung versetzt: Antonie, die älteste Tochter des verwitweten Herrn Erath, feierte heute Hochzeit. Man wunderte sich insgemein über die mäßige Partie, die sie machte, und erkannte doch wieder gerade daran die Bescheidenheit und Klugheit des Vaters, der in seinem Anspruch auch hier Maß hielt und wahrscheinlich die Tüchtigkeit und den guten Leumund des Eidams gewählt und auch die Tochter so hatte wählen und gewählt werden lassen […]. Die Arbeiterinnen, die müßig und eifrig durcheinanderschwirrten und zusammentraten, die Spulerinnen und Weberinnen wußten vom Bräutigam, von Herrn Amersin aus Lichtenau, nur, daß er der Leiter einer Leinenweberei im oberösterreichischen Mühlviertel und ein Kind armer Leute sei, wie Herr Erath selbst. Er werde kaum in das Geschäft des Schwiegervaters eintreten; denn gleich nach der Hochzeit sollten die Vermählten nach Oberösterreich reisen, der ganze Hausrat war schon vorausbefördert. […] Untereinander fragten sie [die Gäste, N.G.] freilich: Wer ist denn dieser Amersin, und woher hat sich ihn Erath verschrieben? (E 5f.)

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Die Lebensphase mit einem eigenen Haushalt fern des (schwieger-)väterlichen Hauses bleibt für das junge Brautpaar eine kurze Episode. Bereits nach wenigen Ehejahren muss Familie Amersin in das Haus Erath übersiedeln, da der Schwiegersohn seinen Posten verloren hat. Erst mit dem verzögerten Einzug ins Haus steigt Amersin zum Mitgesellschafter der Firma auf. (E 31) Er wird adoptiert. Nach dem frühen Tod seiner Ehefrau strebt er zunächst das Sororat an, indem er um die Hand der nächstältesten unverheirateten Tochter des Hauses, Charlotte Erath, anhält; er wird abgewiesen. (E 214) Seine Wohnung verfällt immer mehr, so dass er schließlich das Haus zusammen mit seinen Kindern verlässt. Der Auszug motiviert im Roman zwei Erzählungen: zum einen die von der höheren Tochter, Thea Amersin, deren sozialer Abstieg an den Lebenslauf Agnes Heidlings in Reuters Aus guter Familie erinnert; (Kap. III/3) zum anderen die Erzählung des ungeliebten Schwiegersohns, der auszieht, um ein eigenes Haus zu gründen und sich als Stadtrat wiederfindet. Mit Amersins Wahl zum Mitgesellschafter der Firma Erath wird das Thema »Wahl des Schwiegersohns« erneut variiert. Während in Soll und Haben die Laufbahn des Anton Wohlfart rückblickend als Abfolge von Bewährungsproben erzählt werden kann, die schließlich seine Wahl in das Haus des Schwagers motivieren, und während in Buddenbrooks das Thema »falsche Wahl« mehrfach variiert wird, entscheidet sich der Erzähler in Das Haus Erath an keiner einzigen Stelle für eine syntaktische Form, die das Subjekt des Wahlvorgangs eindeutig bestimmt. Es heißt in der oben zitierten Passage über Amersin, den neuen Sohn des Hauses, der Hausherr habe »wahrscheinlich die Tüchtigkeit und den guten Leumund des Eidams gewählt und auch die Tochter so […] wählen und gewählt werden lassen«. Subjekt der Wahl sind demnach Brautvater, Braut und Bräutigam zugleich. 2. Die Emphase der freien Wahl taucht lediglich in einer Figurenrede auf: »Du hast in dieses Haus [Haus Frantzl, N.G.] geheiratet und deinen Mann frei gewählt, du hast ihm deine Kinder geboren, doch nicht mir.« (E 378) Es spricht die Schwester, die einzig unverheiratet gebliebene Tochter des Hauses, in deren Worten sich die freie Wahl in einen Vorwurf verwandelt. Allein sie verortet das Subjekt der Wahl in der Tochter, die zwischen dem Haus des Ehemanns und dem Haus des Vaters frei wählen kann: »Ich [Charlotte Erath, N.G.] bin meines Vaters Tochter. Dies hier, diese vier Wände sind unser Haus, das Haus Erath. Du und Antonie [Elisabeth und Antonie Erath, N.G.], ihr beide habt es verlassen, ihr seid euern Männern gefolgt, ihr habt euer Schicksal gewählt, ihr müßt es tragen. Ihr steht draußen, dort, wo ihr euch hingestellt habt. Das Erathsche Haus und Wesen habt ihr aufgegeben. Es lag euch nichts daran. Ich bin eine Erath geblieben. Das ist alles.« (E 378) Die Schwester, »die allgegenwärtige Charlotte«, (E 182) »die Führerin der Ehefeinde«, (E 25) redet einem alten Hausgesetz das Wort, wonach die Mitgift als »Erbverzicht der ausheiratenden, ›verzichtenden‹ Tochter« zu sehen ist.61 Sie hingegen, die Tochter, die bleibt, ist »der starke Geist im Hause.« (E 18) Während sich noch am

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Wilhelm Brauneder: Art. ›Mitgift‹. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg.

Anfang das Kennzeichen ihrer Stärke auf Szenen beschränkt, in denen sie ihren Willen gegen andere Hausmitglieder durchsetzt, überantwortet ihr der Erzähler im Laufe des Romans die »Handlung« im Doppelsinn von »Firma« und »Plot«. Sie wird zum einen zur Herrin der Firma dank einer Intrige. Der Plot des Romans zehrt zum anderen von dieser Intrige, (vgl. E 378) die ausgehend vom Zeitpunkt ihrer Planung bis zur Ausführung den weiteren Erzählverlauf rhythmisiert. Die »unerbittliche Notwendigkeit«, (B 26) die noch in Buddenbrooks als Ursache des Verfalls eines Hauses angegeben wird und namenlos bleibt, wird hier von der Schwester verkörpert. Die Schwester formuliert das Gesetz der Wahrung des Hauses. Es besteht darin, die Töchter zurückzuhalten, um die Söhne mit dem größtmöglichen Vermögen auszustatten.62 Die bevorzugte dynastische Kopplung ist das Geschwisterpaar: »Sie [die Schwester, N.G.] wollte das Erathsche Haus und Gut und Erbe den einzigen erhalten, die noch wahre und wirkliche Eraths waren: sich und ihrem Bruder August. […] Ihr galten beide Schwestern, jede in anderer Weise, aus der Art geschlagen, seit sie geheiratet und die angestammte Familie gegen eine fremde vertauscht hatten.« (E 318) Die Wahrung des Hauses mithilfe des »Geschwister Archipels« (Christopher H. Johnson) konkurriert mit einer dynastischen Strategie, die auf den fiktiven Sohn setzt. Daher richten sich die Reden der Schwester gegen jene Figur im Roman, die zum Mitgesellschafter der Firma Erath aufsteigt, gegen ihren Schwager Amersin: »Gehört er denn dazu?« zischte Charlotte, zornig, daß Amersin sich anmaß, im Namen des Hauses hier zu reden, während ihr Vater, das eigentliche Oberhaupt, ruhig und aufrecht, aber stumm dasaß, lächelte und genau zuhörte, als wolle er sich kein Wort entgehen lassen. Ihr Vater hatte alles hier geschaffen, dieses Haus, seine Familie, seine wohlgeratenen, vornehmen Töchter, seinen großen Namen, Eraths Ansehen und Geltung, diesen Tisch selbst und diese vielen Gänge der guten Mahlzeit, schwieg aber und ließ den behaglichen, gesunden Eindringling reden, als gehörte dem diese ganze Welt, als hätte er die Firma zu verkörpern und im Namen dieses Hauses aufzutreten. (E 85f.)

Die Reden der Schwester gegen den »Eindringling« müssen sich letztlich gegen alle Gründer eines Hauses richten, insofern der Ursprung einer Firma meist im namenlosen Bauerntum »armer Leute« verortet wird. Am Ende attackiert »die Schwester, de[r] Dämon«, (E 379) den Vater als einen ebensolchen Gründer, »über dessen groben Bauerngeruch die Schwestern immer die feinen Nasen rümpften«. (E 29) Charlotte Eraths Wille steht gegen »Vaters Wille«, Vaters letzten Willen, deshalb erfolgt ihre Selbstermächtigung über die Manipulation seines Testaments.63 Sie initiiert eine Schreibszene, in der sie den Vater zwingt, die von ihr aufgesetzte Schrift, welche die verheirateten Schwestern auf den Pflichtteil setzt, abzuschreiben.64 Der mühsame Akt des Abschreibens kostet ihn

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Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Bd. 3. Berlin 1984, Sp. 610–612, hier: Sp. 610. Vgl. zur Mitgift ausführlicher Kap. IV/1. Die kleinbürgerliche Variante besteht darin, die Mitgift der Töchter für die Ausbildung der Söhne zu verbrauchen. (Vgl. Bärbel Kuhn: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum [1850–1914]. Köln u. a. 2000, S. 44) Zum literarischen Motiv des (manipulierten) Testaments vgl. Ulrike Vedder: Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2010. Die Verführung zum Schreibakt geht nicht nur in Das Haus Erath mit der Fetischisierung von

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das Leben: »[E]r schrieb zuletzt nur mehr mechanisch ab, er kümmerte sich um den Sinn nicht mehr. Nur fertig werden! Als er endlich zu den Worten gelangt war ›urkund dessen meine eigenhändige Unterschrift‹ und seinen Namenszug nach dem vorgeschriebenen Datum hingesetzt hatte, fiel er bewußtlos seitab.« (E 322)

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Die Angestellte

Felix Holländer: Salomons Schwiegertochter In Felix Holländers Roman Salomons Schwiegertochter vollzieht sich der Untergang des Hauses im Laufe eines einzigen Generationenwechsels. Weit davon entfernt, die Kontinuität der Firma zu sichern, führt die Eheschließung des einzigen Sohnes der Familie den Ruin herbei. Der Roman hebt an mit der Schilderung der Berliner Firma Salomon, wie sie sich auf der Höhe ihres Reichtums und Prestiges der Stadt präsentiert: »Die Salomons waren verhältnismäßig rasch in die Höhe gekommen. Die Firma, die Leder- und Galanteriewaren führte, gehörte zu den ersten ihrer Art. Von Jahr zu Jahr hatte man vergrößert, und jetzt reichte kaum das ganze Haus, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.« (Sa 219) Der Erfolg des Hauses wird auf das »kaufmännische Genie« (Sa 220) der Hausherrin, Renette Salomon, zurückgeführt, über deren Geschäftspraktiken »dunkle Andeutungen« (Sa 220) gemacht werden.65 Die Rede von der »etwas trübe[n] Erwerbsquelle« (Sa 220) der Salomons sei, korrigiert der Erzähler, lediglich Teil übler Nachrede. Sie wird nicht weiter herangezogen, um den mühsamen Aufstieg des kleinen Ladens zur »stadtbekannt[en]« (Sa 234) Firma zu erklären. Das Erfolgsrezept der Firma habe ihren Grund vielmehr in der Ehe der Salomons: »Er war ein entfernter Verwandter von ihr und als armer, verwaister Junge in ihrem Elternhause erzogen worden. Und ihre Eltern waren es gewesen, die die Partie zusammengebracht hatten. Es war ihnen gelungen, dem

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Schreibutensilien und Papier einher. Diese lösen sich von den Schreibtischen und Büroräumen und tauchen bevorzugt in Speisezimmern auf: »Sie zog ab, nachmittags jedoch, als Erath durch sein Schläfchen gestärkt war und seine Pfeife rauchte, brachte sie ihm an den Tisch des Wohnzimmers das Schreibzeug. Tinte, Feder und sauberes, geradezu verlockendes Kanzleipapier«. (E 320) »Sie hatte die Fenstervorhänge geschlossen und trotz der beiden Paraffinlampen, die auf dem ausgezogenen, grüngedeckten Speisetisch brannten, zum Überfluß sämtliche Kerzen auf den großen vergoldeten Kandelabern entzündet. Außerdem hatte sie auf der Tafel eine Menge Schreibpapiers und gespitzter Bleistifte verteilt, von denen niemand wußte, wozu sie eigentlich gebraucht werden sollten.« (B 274) Ein ähnlicher Rahmenwechsel findet in Musils Der Mann ohne Eigenschaften statt, der zeitgleich zu Stoessls Das Haus Erath entsteht: »Das Speisezimmer neben dem Salon war in ein Beratungszimmer umgewandelt worden. Der Eßtisch stand, auseinandergezogen und mit grünem Tuch beschlagen, in der Mitte des Raums. Bogen beinweißen Ministerpapiers und Bleistifte verschiedener Härte lagen vor jedem Platz.« (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. Adolf Frisé. Erstes Buch. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 162) »Danach sollte sie in der Zeit, als ihr Mann noch bescheidener Reisender war, allerhand nicht ganz reinliche Geldgeschäfte gemacht und auf diese Weise erst den Grund zu dem späteren Wohlstand gelegt haben. Ja, es wurde sogar behauptet, daß ohne diese etwas trübe Erwerbsquelle die Salomons gar nicht in der Lage gewesen wären, sich zu etablieren.« (Sa 220)

jungen Menschen einzureden, daß es für ihn kein größeres Glück geben könnte, als das kluge Kusinchen mit seiner kleinen Mitgift zu ehelichen.« (Sa 221) So wie das Glück der Salomons mit einer geglückten Partie angefangen hat, soll es in Zukunft mit dem Arrangement einer guten Partie für den einzigen Sohn gesichert werden. Renette Salomon träumt: »Der Junge sollte früh heiraten, aus der Bankfirma, in der er tätig war, ausscheiden und als Teilhaber in das Geschäft des Vaters eintreten. Es würde gut klingen: Salomon sen. & Sohn! Natürlich müßte es ein Mädchen aus guter jüdischer Familie sein, die die entsprechende Mitgift besaß.« (Sa 222f.) Die mütterlichen Pläne werden durchkreuzt, als das Gerücht aufkommt, »daß eine gewisse Person, die sich Agnes Jung nannte und bei Wertheim als Verkäuferin angestellt war, fest entschlossen sei, Frau Salomon zu werden.« (Sa 225) Zwischen dem Aufkommen des Gerüchts und der Heirat zwischen Agnes Jung und Artur Salomon gibt es nur wenige Etappen. Der Roman erzählt kaum davon, wie die Verbindung zustande kommt, sondern wie sie nach der Ehe Schritt für Schritt wieder aufgelöst wird. Der Auflösungsprozess hat gegenüber der Eheschließung Vorrang. Agnes Jungs Fremdheit gegen das Haus Salomon wird in so vielen verschiedenen Facetten gezeigt, dass der Verdacht aufkommt, der Erzähler habe keinem einzigen Fremdheitsindikator für sich genommen getraut. Um die Braut in die vermeintlich fremde Welt der Salomons einzuführen, werden im Roman mindestens drei Registerwechsel vorgenommen: sozial (sie ist arm, er ist reich), konfessionell (sie ist christlich, er ist jüdisch) und politisch (sie ist Sozialdemokratin, er ist ein Bourgeois). Jedem einzelnen Registerwechsel wird eine Szene des Konflikts zugeordnet, die jedes Mal wieder auf die denkbar einfachste Weise beendet wird. Der soziale Konflikt ereignet sich mit der armen Mutter der Braut, die vorgibt, in das vornehme Haus der Tochter einziehen zu wollen – die Mutter wird mit Geld abgefunden. Der konfessionelle Konflikt ergibt sich bei der Frage nach der Konfession der Kinder – »[s]ie erklärte ihm mit aller Bestimmtheit, daß sie nicht daran denke, Kinder zur Welt zu bringen, bevor sie nicht eine gesicherte Existenz erobert habe.« (Sa 303) Der politische Konflikt schließlich ergibt sich bei der Frage nach der Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit – der Bourgeois fängt aus Liebe zur Sozialdemokratin wieder an zu arbeiten. Allein der Konflikt zwischen Braut und Bräutigammutter bleibt von Anfang bis Ende bestehen. Je weiter sich Agnes Salomon im Haus emporarbeitet, desto weiter zieht sich Renette Salomon aus dem Haus zurück. Der Roman endet mit der vollständigen Zerstreuung der Hausmitglieder: Artur Salomon stirbt, seine Mutter, Renette Salomon, stirbt am offenen Grab ihres Sohnes, der Witwer zieht sich zurück, um seine Toten zu beklagen, und Agnes Salomon kehrt dem Haus den Rücken: »In der ersten Frühe verließ sie das Haus und fuhr nach dem Anhalter Bahnhof. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wußte sie weder Richtung noch Ziel.« (Sa 436) Die Kurzatmigkeit bei der Schilderung der Streitszenen der Ehe von Agnes und Artur Salomon lässt vermuten, dass der Verfall des Hauses Salomon nicht darauf zurückzuführen ist, dass sich durch die Person der Agnes Jung ein »Fremdkörper« (Sa 414) des Hauses bemächtigt habe. In diesem Roman wird nicht die fremde, sozialdemokratisch gesinnte, arme Christin zum Problem, sondern die ambivalente Beziehung zwischen Agnes Salomon und ihrem Schwiegervater: Von Anfang an scheint Agnes eine Ehe mit zwei Männern zu führen, wobei die Ehe mit Artur Salomon lediglich den legitimen 61

Rahmen für die unausgesprochene Ehe mit dem Schwiegervater abzugeben scheint.66 In welchem Maß die Ehe mit dem Sohn als schwacher Abglanz der Ehe mit dessen Vater zu verstehen ist, verdeutlicht die Verlobungsszene. Noch bevor Artur der Braut sein »Präsent« (Sa 285) überreichen kann, hat sich ihrer der Schwiegervater durch eine Gabe versichert. Die Adoption der Agnes Jung als fiktive Tochter erfolgt auch hier als »abrupte Übersetzung« (Lévi-Strauss), wenn die Fremde plötzlich als »Töchterchen« angeredet wird: »Salomon nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände. Seine Augen schienen zu schimmern. ›Ich glaube, Du bist ein gerades, braves Mädel. Und von heute an sagen wir uns Du, denn Du bist ja nun mein Töchterchen.‹ Bei diesen Worten zog er aus der Westentasche ein kleines Etui und überreichte es ihr.« (Sa 284) Im Laufe des Romans verkümmert der Bräutigam immer mehr zum Zwischenglied der Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter: »[Z]wischen ihr und dem Schwiegervater war ein geheimes Band, das sie letzten Endes auch mit Artur verknüpfte.« (Sa 308) Das Band zwischen ihnen hat nicht nur eine geheime emotionale, sondern überdies eine weniger geheime Seite, die in einem Arbeitsvertrag besteht. Bei einem Besuch, den Agnes Jung ihrem Schwiegervater in seiner Firma abstattet, einigen sie sich zunächst über die Modalitäten der Ehe, bevor Agnes ihre eigentliche Bedingung formuliert: »Ich möchte nicht Frau Artur Salomon werden und mich damit begnügen, die Wirtschaft zu führen. Artur hat mir erzählt, daß Sie ihn zu Ihrem Teilhaber machen würden. Ich rechne nun bestimmt damit, ebenfalls im Geschäft angestellt zu werden. Wobei ich es für selbstverständlich halte, daß mir eine größere Stellung als bei Wertheim eingeräumt und dementsprechend auch ein Gehalt zugebilligt wird.« (Sa 264) Agnes setzt sich durch und gewinnt mit der Ehe das Angestelltenverhältnis im Hause Salomon. Erst nachdem sie in der Firma angestellt worden ist, ergreift das Haus Besitz von ihr: »Sie arbeitete mit Fanatismus. Das Geschäft wurde ihre Leidenschaft. […] Das Interesse des Geschäfts! Dies wurde eine fixe Idee bei ihr. Am liebsten wäre sie auch am Sonntag in den Laden gegangen. Er zog sie wie ein Magnet an.« (Sa 332f.) Wenn nach den Regeln der Adoption der Adoptierte durch die Eheschließung und das Zeugen von Erben den Fortbestand des Hauses sichern soll, dann besetzt Agnes Salomon als Angestellte der Firma eine Stelle, von der aus sie den dynastischen Anspruch des Hauses Salomon ausruft, ohne jedoch diesem Anspruch durch das Austragen von Kindern nachzukommen. In diesem Roman hat sich die Rede

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Die Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter ist auch in der populärwissenschaftlichen Schrift Die Schwiegermutter und der Hagestolz Gegenstand von Spekulationen: »In den westlichen und teilweis auch östlichen Ländern ist der erstere [der Schwiegervater, N.G.] der Schnur [Schwiegertochter, N.G.] gegenüber frühzeitig zu einer väterlich-wohlwollenden oder gleichgültigen Persönlichkeit geworden. Bei den Russen aber spielt er, wie ursprünglich wohl überhaupt, dieselbe Rolle wie die Schwiegermutter, d. h. wie diese tritt er mit äußerster Strenge gegen die Schnur auf. In merkwürdigem Gegensatz hierzu stehen nun die in ganz Russland und darüber hinaus verbreiteten […] Liebesverhältnisse von Schwiegervätern mit ihren Schwiegertöchtern, die, obgleich aus der patriarchalen Stimmung, den frühen Heiraten und den räumlichen Verhältnissen des dortigen Familienlebens wohl verständlich, dennoch einen schweren und oft beklagten Schaden des russischen Volkslebens bilden.« (Schrader, Schwiegermutter, S. 23)

von der Unsterblichkeit der Firma gänzlich von der Notwendigkeit biologischer Reproduktion gelöst. Die Adoptierte hält eine Lehrstunde ab über das Wesen des Hauses: [D]as Geschäft muß über die Person gehen, muß über uns hinauswachsen. Gegen das Sterben ist kein Kraut gewachsen, weg müssen wir alle, aber die Firma Salomon & Sohn bleibt, wenn wir alle längst ins Gras gebissen haben. […] Ihr habt die Firma auf die Beine gestellt, und plötzlich ist die Firma viel mehr als ihr. Ist selbstherrlich. Hat von sich aus eine Kraft. Wirkt auf eine geheimnisvolle Art. Die Fäden gehen überallhin, und weiter, als es in Euren Absichten lag. (Sa 336)

Mit Salomons Schwiegertochter wechselt die Sprache des Hauses ihr Medium. Während sie in den bislang untersuchten Romanen von den Schwestern artikuliert wurde, wird sie hier von der Angestellten der Firma artikuliert. Diese Verschiebung geht mit einer strukturellen Überlagerung der verwandtschaftlichen Beziehung durch das Arbeitsverhältnis einher. Während jedoch in Salomons Schwiegertochter beide Beziehungsarten ineinander gekoppelt sind, wird in Kafkas Das Schloß – wie ich im folgenden Abschnitt zeigen werde – die Loslösung der Sprache des Hauses von verwandtschaftlichen Banden vollständig vollzogen.

7.

Höhere Töchter

Franz Kafka: Das Schloß Franz Kafkas Romanfragment Das Schloß entwirft eine einfache Topographie. Dort das Schloss, hier das Dorf und in der Mitte K., der den Abstand zwischen Dorf und Schloss abzumessen sucht. »K.«, »Das Dorf« und »Das Schloss«: In gewisser Weise eignet sich diese einfache Karte auch dazu, um eine Topographie der literaturwissenschaftlichen Forschung zu diesem Roman zu skizzieren. Unter »K.« wären all jene Interpretationen zu versammeln, die Das Schloß in der Tradition des modernen Bildungsromans verorten.67 Die Rubrik »Das Schloss« würde alle Texte enthalten, die sich dem undurchdringlichen imposanten Gebäude widmen, das K. den Eintritt verweigert, und die darin die Emanation einer unverfügbaren Instanz, etwa des Rechts oder der göttlichen Gnade, sehen.68 »Das Dorf« schließlich umfasst jene Studien, die sich – in Abkehr von metaphysischen Fragen nach der Position des Subjekts angesichts einer höheren Macht – den niedrigen

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Vgl. beispielsweise Franziska Schößler: Das Ende des Subjekts: Goethes Lehrjahre und Kafkas Schloß. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein u. F.S. (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal. Heidelberg 2008, S. 151–163. Vgl. Peter Garloff: Institutionen des Rechts in Kafkas nicht-amtlichen Schriften. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 37 (2005), S. 179–210 und Waldemar Fromm: Das Schloß. In: Manfred Engel u. Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. a. 2010, S. 301–317, hier: S. 304. Die allegorischen Interpretationen wurden insbesondere durch Max Brod angeregt. (Vgl. Michael Müller: Das Schloß. In: Bettina von Jagow u. Oliver Jahraus [Hg.]: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Göttingen 2008, S. 518–529, hier: S. 528 und Richard Sheppard: Das Schloß. In: Hartmut Binder [Hg.]: KafkaHandbuch. Bd. 2. Stuttgart 1979, S. 441–470, hier: S. 446–449)

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Rängen der Machthaber in Gestalt von Dorfvorstehern sowie Vereinsmitgliedern und damit der Dorfgemeinde im Roman zugewandt haben.69 Fragt man hingegen nach den strukturellen Verbindungen zwischen dem Schloss als abweisender Instanz und der Dorfgemeinde sowie nach der Position K.’s angesichts verschlossener Türen, zeigt sich eine große motivische Nähe zwischen Kafkas Romanfragment und den bislang untersuchten Romanen des Hauses.70 So weiß der Roman in verknappter Form vom Verfall eines Hauses zu berichten: Aber kurz darauf wurden wir schon von allen Seiten mit Fragen wegen der Briefgeschichte überschüttet, es kamen Freunde und Feinde, Bekannte und Fremde, man blieb aber nicht lange, die besten Freunde verabschiedeten sich am eiligsten, Lasemann, immer sonst langsam und würdig, kam herein, so als wolle er nur das Ausmaß der Stube prüfen, ein Blick im Umkreis und er war fertig, es sah wie ein schreckliches Kinderspiel aus, als Lasemann sich flüchtete und der Vater von andern Leuten sich losmachte und hinter ihm hereilte, bis zur Schwelle des Hauses und es dann aufgab, Brunswick kam und kündigte dem Vater, er wolle sich selbstständig machen, sagte er ganz ehrlich, ein kluger Kopf, der den Augenblick zu nützen verstand, Kundschaften kamen und suchten in Vaters Lagerraum ihre Stiefel hervor, die sie zur Reparatur hier liegen hatten, zuerst versuchte der Vater die Kundschaften umzustimmen – und wir alle unterstützten ihn nach unsern Kräften – später gab es der Vater auf und half stillschweigend den Leuten beim Suchen, im Auftragsbuch wurde Zeile für Zeile gestrichen, die Ledervorräte, welche die Leute bei uns hatten, wurden herausgegeben, Schulden bezahlt, alles ging ohne den geringsten Streit, man war zufrieden, wenn es gelang, die Verbindung mit uns schnell und vollständig zu lösen, mochte man dabei auch Verluste haben, das kam nicht in Betracht. (S 319f.)

Das Haus ist eine Schusterwerkstatt, ein Meisterbetrieb, der den Sohn (Barnabas) als Lehrling und die Tochter (Amalia) als Näherin beschäftigt. (S 327) Wer hier erzählt, ist Olga, eine weitere Tochter des Hauses, deren Schilderungen Licht auf die vergangene soziale Ordnung im Dorf werfen. Lasemann und Brunswick, die zuvor im Roman lediglich als Dorfbewohner ohne spezifischen Beruf und Status K.’s Weg gekreuzt hatten, werden erst in dieser Erzählung als ehemaliger Kunde und Freund (Lasemann) und »Gehilfe« (Brunswick) (S 316) des Schustermeisters näher bestimmt. Im Laufe von Olgas Gespräch mit K. zeigen sich nach und nach weitere Elemente, die erlauben, die vergangene soziale Ordnung als eine Häuserhierarchie zu dechiffrieren. Das Haus des Schustermeisters gehörte zu den ersten Häusern des Dorfes, und seine Töchter waren stolze »Bürgermädchen«: (S 314) »[W]ir waren doch sehr angesehn und das Fest hätte z. B. nicht gut ohne uns anfangen können«; (S 297) »wenn im Dorf eine angesehene Familie plötzlich ganz ausgeschaltet wird, hat jeder irgendeinen Nachteil davon«. (S 327)

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Vgl. Elizabeth Boa: Three Village Tales: Global Localities in Goethe’s Hermann und Dorothea (1797), Kafkas Das Schloß (1922), and Leutenegger’s Kontinent (1985). In: Renate Rechtien u. Karoline von Oppen (Hg.): Local/Global Narratives. Amsterdam u. a. 2007, S. 19–37 und Wolf Kittler: Daten und Adressen. Verwandtschaft, Sexualität und Kommunikation in Kafkas Romanfragment Das Schloß. In: Hansjörg Bay u. Christof Hamann (Hg.): Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka. Freiburg/Br. u. a. 2006, S. 255–283, hier: S. 261–273. Die folgenden Überlegungen verdanken wichtige Anregungen dem Konzept des »Institutionenromans«. (Vgl. Rüdiger Campe: Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß. In: R.C. u. Michael Niehaus [Hg.]: Gesetz. Ironie. Heidelberg 2004, S. 197–208)

Erst die »Briefgeschichte«, von der noch zu sprechen sein wird, führt eine Wende herbei, nach der das Haus des Schustermeisters Schritt für Schritt aus der dörflichen Ordnung ausgeschlossen wird: »Wir mußten freilich unser Haus verlassen, Brunswick bezog es, man wies uns diese Hütte zu, mit einem Handkarren brachten wir unser Eigentum in einigen Fahrten hier herüber […]. Die Zuschüsse der Verwandten hörten auf, unsere Mittel waren fast zu Ende und gerade zu jener Zeit begann die Verachtung für uns, wie Du sie kennst, sich zu entwickeln. […] Nun sprach man von uns nicht mehr wie von Menschen, unser Familienname wurde nicht mehr genannt […]. Alles was wir waren und hatten, traf die gleiche Verachtung.« (S 331f.) Die Linie des sozialen Abstiegs führt zur Ächtung. Das ehemalige gesellschaftliche Zentrum des Dorfes verwandelt sich in eine Tabuzone: »Jeder weiß etwas über uns, […] aber geradezu erzählen wird es niemand, diese Dinge in den Mund zu nehmen scheuen sie sich.« (S 293) Das, wovon »[j]eder weiß«, liegt zum Zeitpunkt des Gesprächs zwischen K. und Olga etwa drei Jahre zurück und hat sich als Folge einer festlichen Begegnung ereignet: »Es war am 3. Juli bei einem Fest des Feuerwehrvereins, das Schloß hatte sich auch beteiligt und eine neue Feuerspritze gespendet.« (S 295) Noch bevor das Fest anhebt, scherzt der Schustermeister mit seiner Familie: »Heute, denkt an mich, bekommt Amalia einen Bräutigam«. (S 296) Das Fest inszeniert – wie Olga K. berichtet – den Versuch eines Frauentauschs:71 »So kam es, daß er uns noch später bemerkte, als wir ihn. Erst als wir uns ehrfurchtsvoll verbeugten und der Vater uns zu entschuldigen suchte, blickte er nach uns hin, blickte der Reihe nach von einem zum andern, müde, es war als seufze er darüber, daß neben dem einen immer wieder noch ein zweiter sei, bis er dann bei Amalia haltmachte, zu der er aufschauen mußte, denn sie war viel größer als er. Da stutzte er, sprang über die Deichsel, um Amalia näher zu sein, wir mißverstanden es zuerst und wollten uns alle unter Anführung des Vaters ihm nähern, aber er hielt uns ab mit erhobener Hand und winkte uns dann zu gehn. Das war alles.« (S 300f.) »Er« ist Sortini, ein Schlossbeamter, der sich »mit Feuerwehrangelegenheiten beschäftigen soll«. (S 295) Er nähert sich Amalia, und im Gegenzug möchte sich die Familie »unter Anführung des Vaters ihm nähern«. Mehr und mehr stellt sich heraus, dass es hier der Vater ist, der sich um Nähe zum Schlossbeamten bemüht: »Ohne ihn bisher zu kennen, hatte der Vater seit jeher Sortini als einen Fachmann in Feuerwehrangelegenheiten verehrt und öfters zuhause von ihm gesprochen«. (S 300) Seine Verehrung für den Fachmann wird im Text innerhalb von zwei Semantiken verhandelt: zum einen in der Semantik des Ritterspiels, bei dem der Ritter unter den Augen seiner Minneherrin zur kämpferischen Höchstform gelangt,72 und zum anderen in der Semantik eines Begutachtungsverfahrens, bei dem Sortini als Gutachter fungiert.73 Der Sprung über die Deichsel aber – das Symbol eines Übertritts –

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Vgl. Elizabeth Boa: Kafka. Gender, Class, and Race in the Letters and Fictions. Oxford 1996, S. 247–251. »Nicht einmal zu den Feuerwehrübungen ging er [Sortini, N.G.], bei denen der Vater damals, gerade in der Hoffnung daß Sortini zusehe, vor allen Männern seines Alters sich auszeichnete.« (S 301) »[D]er Vater erzählte immerfort von dem Fest, er hatte hinsichtlich der Feuerwehr verschiedene Pläne, im Schloß ist nämlich eine eigene Feuerwehr, die zu dem Fest auch eine Abordnung

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gilt nicht dem Vater, sondern dessen Tochter. Der Übertritt wiederholt sich am nächsten Morgen, als ein Schlossbote Amalia einen Brief Sortinis durch das Fenster reicht und damit die »Briefgeschichte« in Gang setzt: »[D]er Brief war von Sortini, adressiert war er an das Mädchen mit dem Granatenhalsband. Den Inhalt kann ich [Olga, N.G.] nicht wiedergeben. Es war eine Aufforderung zu ihm in den Herrenhof zu kommen undzwar sollte Amalia sofort kommen, denn in einer halben Stunde mußte Sortini wegfahren. Der Brief war in den gemeinsten Ausdrücken gehalten, die ich noch nie gehört hatte und nur aus dem Zusammenhang halb erriet. Wer Amalia nicht kannte und nur diesen Brief gelesen hatte, mußte das Mädchen, an das jemand so zu schreiben gewagt hatte, für entehrt halten, auch wenn sie gar nicht berührt worden sein sollte.« (S 302f.) Amalia zerreißt den Brief und weigert sich, in den Herrenhof zu gehen. Erst ihre Weigerung begründet die Verachtung der Leute für ihre Familie. In einem Roman, in dem allen Dorfbewohnern gemeinsam ist, dass sie auf einen Ruf aus dem Schloss warten, stellt sie eine Ausnahme dar. Sie hat den Status einer höheren Tochter, die sich nicht ohne weiteres zur Zirkulation eignet und sich jeglicher Form der Vergemeinschaftung entzieht – so ist sie selbst beim Fest des Feuerwehrvereins die einzige, die sich nicht dem allgemeinen Weinrausch hingegeben hat: »[A]lle, bis auf Amalia, [waren] von dem süßen Schloßwein wie betäubt«. (S 301) Obwohl die Bezeichnung »höhere Tochter« an keiner Stelle auftaucht, fällt auf, dass im Zusammenhang mit der Beschreibung Amalias bevorzugt Attribute des Hohen verwendet werden.74 Selbst in ihrer Begegnung mit Sortini wird das Hohe umschrieben: »bis er dann bei Amalia haltmachte, zu der er aufschauen mußte, denn sie war viel größer als er.« Amalias Sonderstatus im Roman ist Teil einer strukturellen Isolation, welche die gesamte Episode, die von der Vergangenheit des »Barnabas’schen Hauses« (S 267) handelt, betrifft. Diese Episode leistet die Versetzung der Verfallserzählung eines Hauses in die literarhistorische Vergangenheit. Als Zeichen dieser Versetzung ist sie als abgeschlossene Episode in einen Rahmen eingebettet, der von der Gegenwart der Dorfgemeinde handelt. Die von mir skizzierte These von der romanimmanenten Versetzung der Verfallserzäh-

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geschickt hatte, mit der manches besprochen worden war, die anwesenden Herren aus dem Schloß hatten die Leistungen unserer Feuerwehr gesehn, sich sehr günstig über sie ausgesprochen, die Leistungen der Schloßfeuerwehr damit verglichen, das Ergebnis war uns günstig, man hatte von der Notwendigkeit einer Neuorganisation der Schloßfeuerwehr gesprochen, dazu waren Instruktoren aus dem Dorf nötig, es kamen zwar einige dafür in Betracht, aber der Vater hatte doch Hoffnung daß die Wahl auf ihn fallen werde.« (S 316f.) Kafkas Schriften sind eine Fundgrube für zahlreiche Variationen des Bewerbungsgesprächs sowie des Aufnahme- und Begutachtungsverfahrens. Zum Bewerbungsgespräch in Kafkas Der Verschollene und zur Struktur des Bewerbungsgesprächs im Allgemeinen vgl. Rembert Hüser: Vorsingen in Amerika. In: Arne Höcker u. Oliver Simons (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, S. 157–185. »[I]hre Rede, eine Art Hoheit war darin« (S 268); »ihr düsterer Blick […] ging hoch über uns hinweg«; (S 297) »aus Liebe zu Amalia willst Du sie hocherhaben über alle Frauen hinstellen«; (S 312) »Amalia in allem ihrem Hochmut«; (S 314) »[sie] trägt […] den Kopf höher als alle«. (S 325) Für Gilles Deleuze und Félix Guattari ist die Schwester ebenfalls eine »anti-ehelich[e] und anti-familial[e]« Figur. Doch während sie die Schwester in eine Reihe mit den Dienstmädchen und Huren stellen, deute ich sie vor dem Hintergrund des Hauses als höhere Tochter. (Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M. 1976, S. 89)

lung in die literarhistorische Vergangenheit lässt sich anhand weiterer Beobachtungen präzisieren, welche die Rahmenerzählung – und damit K.’s Adoption als »Mitbürger« (S 42) – betreffen. 1. Es ist davon auszugehen, dass K. weder ein Landvermesser ist, noch überhaupt vor seiner Ankunft im Dorf vom Schloss etwas wusste. Es dunkelt bereits, als er ankommt, und er schaut in die »scheinbare Leere« (S 7) hinauf. Erst nachdem er eingesehen hat, dass er nur mit Genehmigung im Dorf übernachten darf, lässt er sich die Mär vom Landvermesser einfallen. Kein Landvermesser, sondern ein »Landstreicher« ist K., ein »Wanderbursche«, wie er später offenbart, nachdem schon das ganze Dorf in seine Karriere als Landvermesser hineingezogen wurde. Das Schloss, das ohnehin zu scherzen beliebt, wird aber in K.’s »Komödie« (S 9) mitspielen: »Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen. […] Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen soweit es möglich ist, gefällig zu sein. Es liegt mir daran zufriedene Arbeiter zu haben.« (S 40) In seiner Deutung dieses Briefs eines Schlossbeamten sieht sich K. vor die Wahl gestellt, »ob er Dorfarbeiter mit einer […] scheinbaren Verbindung mit dem Schlosse sein wollte oder aber scheinbarer Dorfarbeiter, der in Wirklichkeit sein ganzes Arbeitsverhältnis von den Nachrichten des Barnabas bestimmen ließ.« (S 42) Er entscheidet sich dafür, als »scheinbarer Dorfarbeiter« zu leben und liefert dafür eine rätselhafte Begründung: »Nur als Dorfarbeiter, möglichst weit den Herren vom Schloß entrückt, war er imstande etwas im Schloß zu erreichen, […] dann erschlossen sich ihm gewiß mit einem Schlage alle Wege«. (S 42) Alle Wege wohin? K.’s Wunsch richtet sich nicht nach dem Schloss, sondern nach der Aussicht, sich alle Wege erschlossen zu haben. Was am Anfang als âventiure eines Idealisten daherkommt, entpuppt sich im Laufe des Romans als Programm des sozialen Aufstiegs, das gerade dort offen liegt, wo K. auf andere Aufsteiger, auf seinesgleichen trifft.75 Eine solche Aufsteigerin ist Frieda, die ihr Leben im Rhythmus der geglückten Karriere von der Stallmagd hinauf zum Ausschankmädchen und zur Geliebten eines Herrn erzählt. Bei einem der letzten Gespräche mit ihr, seiner Braut, schwört K. sie auf das Gemeinsame ihrer Lage ein: »Ist aber denn Dein ganzes früheres Leben für Dich so versunken […], daß Du nicht mehr weißt, wie um das Vorwärtskommen gekämpft werden muß, besonders wenn man von tief untenher kommt? Wie alles benützt werden muß, was irgendwie Hoffnung gibt?« (S 253) Sein »Vorwärtskommen« reibt sich zunächst an der klientelären Struktur der Gemeinde. Er verfängt sich im Umgang mit den Behörden, weil er Recht und Gesetz dort gelten lassen möchte, wo Gefälligkeiten zählen. Schon der erste Brief, den er empfängt, bedient sich des klientelären Vokabulars, wenn es heißt: »Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen soweit es möglich ist, gefällig zu sein«.

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Eine der bislang interessantesten und sozialhistorisch überzeugendsten Ansätze zur Deutung dieses Programms sozialen Aufstiegs liefert Bernd Neumann, der auf die Bedeutung der jüdischen Assimilation für Kafkas Schriften hinweist. (Vgl. Bernd Neumann: Franz Kafka: Aporien der Assimilation. Eine Rekonstruktion seines Romanwerks. München u. a. 2007, insbesondere S. 185–188)

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(S 40) Vergeblich versuchen einzelne Gemeindemitglieder, K. in ihre Sprache einzuführen: »[D]ie Herren pflegen bei derartigen Gelegenheiten gern etwas Gefälliges zu sagen, aber Bedeutung habe das wenig oder gar nicht.« (S 317) K. schlägt die Aufnahme in den herrschaftlichen Dienst aus und ersetzt sie durch die lange Reihe von Aufnahmen. Bei jeder neuen Begegnung buhlt K. um sie, indem er zunächst Rangunterschiede festzustellen sucht, um sein Gegenüber dann für sein »Vorwärtskommen« einzuspannen. Die Tatsache, dass er sich auf seinem Weg vorwiegend Ausschankmädchen und Stallmägden gegenübersieht, sagt wenig über den Status des weiblichen Personals aus, denn sie ist signifikant für seine Karriere, die noch die »Aufwaschfrau« (S 324) für die eigenen Zwecke einzuspannen weiß. Im Gespräch mit dem Schuljungen Hans hat K.’s hermeneutisches Kalkül seinen Höhepunkt erreicht. Zuvor wurden seine Deutungen blitzartig eingeschoben, die Gespräche in wörtlicher Rede wiedergegeben; hier aber wird das Gespräch in indirekter Form nacherzählt, der gesprochene Satz und dessen Kommentierung durch K. fließen ineinander: »Trotzdem merkte K. auch jetzt, daß Hans ihm noch immer gutgesinnt war, nur vergaß er über der Mutter alles andere; wen immer man gegenüber der Mutter aufstellte, er kam gleich ins Unrecht, jetzt war es K. gewesen, aber es konnte z. B. auch der Vater sein. K. wollte dieses Letztere versuchen und sagte, es sei gewiß sehr vernünftig vom Vater, daß er die Mutter vor jeder Störung so behüte […]. Dagegen könne er nicht ganz verstehn, warum der Vater […] die Mutter zurückhalte sich in anderer Luft zu erholen […]. Warum lasse er sie nicht fort?« (S 230f.) Im Gegensatz zu den vergangenen Gesprächen hat das Gespräch mit Hans eine dritte Zuhörerin, Frieda, die darauf angesetzt wurde, K. »wirklich zuzuhören«: »›Aber er verbirgt ja nichts‹, das sagte sie [die Wirtin zu Frieda, N.G.] immer wieder und dann sagte sie noch: ›Streng Dich doch an, ihm bei beliebiger Gelegenheit wirklich zuzuhören, nicht nur oberflächlich, nein wirklich zuzuhören.‹« (S 243f.) Was dann folgt, ist, parallel zur indirekten Wiedergabe des Gesprächs mit Hans, die indirekte Wiedergabe dessen, was die Wirtin über das Verhältnis zwischen Frieda und K. denkt: K. glaube, mit Frieda »eine Geliebte Klamms erobert zu haben und dadurch ein Pfand zu besitzen, das nur zum höchsten Preise ausgelöst werden könne.« (S 245) In dieser Deutung werden zwei Erzählmuster verknüpft. K.’s Eroberung Friedas als »eine Geliebte Klamms« liest sich zunächst als das Verhältnis eines triangulären Begehrens (René Girard) zwischen Klamm, K. und Frieda, in dem Frieda bedingt nur über die Konkurrenz zwischen K. und Klamm begehrt wird. Nur das Wort »Pfand« verweist auf eine andere Erzählung, in der Klamm und K. einander nicht als Konkurrenten, sondern als Tauschpartner begegnen. Es geht um Frauentausch. Pfand: ein Wort, das sich auf der Linie des germanischen Rechts zurückverfolgen lässt zu germanischen Mundarten, wo der »Kaufpreis« der Braut »Pfand, Wette, Trügge oder Ehetaler« heißt.76 Unter dem Kleid scheinbar unverbindlicher erotischer Verhältnisse blitzt das Werben um die Braut hervor. In einer gestrichenen Version der zweiten Unterredung K.’s mit der Wirtin wird Klamm tatsächlich mit dem »Brautvater« verglichen: »Die Wirtin seufzte ›Was sind Sie für ein Mensch‹ sagte sie ›scheinbar genug klug, aber dabei bodenlos unwissend. Sie

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(Hervorhebungen getilgt) Vgl. Mauss, Die Gabe, S. 151.

wollen mit Klamm verhandeln, wie mit einem Brautvater«. (S’ 224) Zuvor hat ihr K. unterbreitet, was er mit Klamm besprechen möchte. Es ist aufschlussreich, was Kafka streicht und wodurch er die gestrichene Passage ersetzt. Die Frage bleibt: »›Was wollen Sie also von Klamm?‹« (S 136) – »Und nun also, was ich ihm sagen will. Ich würde etwa folgendermaßen sprechen: Wir, Frieda und ich lieben einander und wir wollen heiraten, sobald als möglich.« (S’ 224) Gestrichen wird die direkte Anrede Klamms als Brautvater: Sie wird ersetzt durch eine Reihe diffuser Wünsche, darunter die Hochzeit als Wunsch unter Wünschen: »[A]ber was ich von ihm will, ist schwer zu sagen. Zunächst will ich ihn in der Nähe sehn, dann will ich seine Stimme hören, dann will ich von ihm wissen, wie er sich zu unserer Heirat verhält; um was ich ihn dann noch bitten werde, hängt vom Verlauf der Unterredung ab.« (S 137) Gestrichen wird auch die Eifersucht des Verlobten auf den Brautvater: »Aber Frieda liebt nicht nur mich, sondern auch Sie, in einer ganz andern Weise freilich, es ist nicht meine Schuld dass die Armut der Sprache für beides das gleiche Wort hat.« (S’ 224) Sie wird ersetzt durch die Liebe des Bräutigams zum Brautvater: Ich will ihn in der Nähe sehen! Ich will seine Stimme hören! Gestrichen wird schließlich Klamms Apostrophierung als »Löwe«. (S’ 225) Der animalische Kampf um Frieda wird ersetzt durch den Wunsch nach unmittelbarer Begegnung mit einem Beamten: »Es kann manches zur Sprache kommen, aber das Wichtigste ist doch für mich, daß ich ihm gegenüberstehe. Ich habe nämlich noch mit keinem wirklichen Beamten unmittelbar gesprochen.« (S 137) Die Tilgung von »Brautvater« verweist auf einen Roman, der die Aufnahme des Fremden nicht mehr wie in Soll und Haben über die geglückte Adoption erzählt, obwohl er sie noch – gewissermaßen als gestrichene Version – bereithält. K. zögert, obwohl er zunächst den Plan verfolgt, Frieda zu »heiraten und Gemeindemitglied [zu] werden«, (S 313) die Ehe hinaus. Er verstößt gegen die Regeln der Adoption, welche die Heirat mit der Adoptivschwester vorschreiben. Wie sehr die Konstellation Frieda/K./Wirtin (als Frauengeberin) den Regeln des Hauses entspricht, macht ein Gespräch deutlich, in dem die Wirtin K. dessen Abhängigkeit von der Stellung Friedas als Haustochter erklärt: »Sie aber sitzen hier, halten meine Frieda und werden – warum soll ich es verschweigen? – von mir gehalten. Ja, von mir gehalten, denn versuchen Sie es junger Mann, wenn ich Sie aus dem Hause weise irgendwo im Dorf ein Unterkommen zu finden, und sei es nur in einer Hundehütte. […] Friedas Stellung hat in dieser Hinsicht gar nichts mit Ihrer zu tun. Frieda gehört zu meinem Haus und niemand hat das Recht ihre Stellung hier eine unsichere zu nennen.« (S 85) Was wird an die Stelle der Adoption gesetzt? 2. Auf der Suche nach Häusern in Kafkas Das Schloß finden sich zunächst die beiden Wirtshäuser: »Brückenhof« und »Herrenhof«. Der »Brückenhof« bedient die Dorfbewohner, während der »Herrenhof« die Herren vom Schloss beherbergt. Letzterer stellt die einzige lokale Verbindung zwischen Dorf und Schloss dar. Es ist das einzige ausgezeichnete Haus im Dorf: »Das Wirtshaus war äußerlich sehr ähnlich dem Wirtshaus in dem K. wohnte, es gab im Dorf wohl überhaupt keine großen äußern Unterschiede, aber kleine Unterschiede waren doch gleich zu merken, die Vortreppe hatte ein Geländer, eine schöne Laterne war über der Tür befestigt, als sie eintraten flatterte ein Tuch über ihren 69

Köpfen, es war eine Fahne mit den gräflichen Farben.« (S 55) K., dessen Blick sich vor allem auf »kleine Unterschiede« richtet, nimmt den Wirt als »Herrn« wahr, ein Titel, der keinem weiteren Dorfbewohner zukommt. »Dieser hohe, fest zugeknöpfte Herr, der, die eine Hand gegen die Wand gestemmt, die andere in der Hüfte, die Beine gekreuzt, ein wenig zu K. herabgeneigt, vertraulich zu ihm sprach, schien kaum mehr zum Dorf zu gehören, wenn auch noch sein dunkles Kleid nur bäuerisch festlich aussah.« (S 56) Der Wirt »war wohl überhaupt ein höflicher, durch den dauernden und verhältnismäßig freien Verkehr mit weit Höhergestellten fein erzogener Mann«. (S 67) Das Wort »fein« wird ausschließlich in Verbindung mit dem Herrenhof und dessen Besitzern verwendet. Die Wirtin kommt »in sonderbar abgenützten veralteten, mit Rüschen und Falten überladenen, aber feinen städtischen Kleidern herangerauscht« (S 57) und betupft ihre Augen »mit einem feinen Tüchelchen«. (S 448) Das Wort löst sich von den Kleidern, setzt sich in Bewegung; am Ende kann die Wirtin »in ihrem schon krankhaften Streben nach Feinheit« (S 377f.) den Parteienverkehr in ihrem Haus, dem »Verbindungshaus«, nicht mehr ertragen. Als ein Haus, in dem »Verbindungen« geknüpft werden, kontrolliert der Herrenhof den Eingang zur guten Gesellschaft. K. möchte nicht in das Schloss, sondern in die geschlossene Gesellschaft: »[E]r hat ja hier schon mehr Verbindungen als jahrhundertelang hier lebende Familien«! (S’ 422) In der Nacht seiner Vorladung in den Herrenhof irrt sich K. in der Zimmertür und findet sich im Bett des Schlosssekretärs Bürgel wieder.77 Erst nach einem längeren Aufenthalt bei ihm wird er in das richtige Zimmer, das Zimmer Erlangers gerufen. Entlassen von Erlanger wird er noch dem Treiben auf den Korridoren zuschauen, bis die Glocken läuten. Was ist geschehen? »Er war zu Unrecht in dem Gang gewesen, ihm war im allgemeinen höchstens und auch dies nur gnadenweise und gegen Widerruf der Ausschank zugänglich. […] Hatte er denn dort auf dem Gang gar nicht das Gefühl der schweren Ungehörigkeit gehabt?« (S 442) K. wird vom Wirt und von der Wirtin, die besorgt ist um den »Ruf des Hauses«, (S 446) weggebracht. Achtet man auf die Figurenrede und missachtet für einen Augenblick den amtlichen Rahmen, liest sich das »große Unglück« (S 440f.) als das Drama der Entjungferung der Tochter des Hauses durch den Eindringling: »Hat er nicht die Verteilung der Akten mitangesehn? Etwas was niemand mitansehn dürfe, außer die nächsten Beteiligten. Etwas was weder Wirt noch Wirtin in ihrem eigenen Hause haben sehen dürfen.« (S 444) »Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt, müsse man ihm offen sagen, denn sonst verstehe er das Allernotwendigste nicht.« (S 445) Bereits Bürgel erzählt von seiner nächtlichen Begegnung mit K. als einem solchen Überfall:

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Vgl. zu diesem Möbelstück bei Kafka Detlef Kremer: Kafkas Topographie. In: Klaus R. Scherpe u. Elisabeth Wagner (Hg.): Kontinent Kafka. Berlin 2006, S. 58–70, hier: S. 61 u. 64; Anastasia Hacopian: Kafkas Bett: Von der Metonymie zum Diskurs: Ein Einblick in die Bedeutung der Räumlichkeit. In: Anke Bosse u. Leopold Decloedt (Hg.): Hinter den Bergen eine andere Welt: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Amsterdam u. a. 2004, S. 101–120 und Barbara Hahn: Die fremde Hilfe der Frauen. Tisch, Bett und Tür in Kafkas ›Proceß‹. In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas »Vor dem Gesetz«. 2. Aufl. Göttingen 2005, S. 159–172, hier: S. 166–169.

Sie haben Recht, es kann gar nicht vorkommen. Aber eines Nachts – wer kann für alles bürgen? – kommt es doch vor. Ich kenne unter meinen Bekannten allerdings niemanden, dem es schon geschehen wäre; […] außerdem ist es auch gar nicht sicher, daß ein Sekretär, dem etwas derartiges geschehen ist, es auch gestehen will, es ist immerhin eine sehr persönliche und gewissermaßen die amtliche Scham eng berührende Angelegenheit. (S 421)

Die Herren Sekretäre als schamhafte höhere Töchter: [S]einetwegen, nur und ausschließlich seinetwegen haben die Herren aus ihren Zimmern nicht hervorkommen können, da sie am Morgen kurz nach dem Schlaf zu schamhaft, zu verletzlich sind, um sich fremden Blicken aussetzen zu können, sie fühlen sich förmlich, mögen sie auch noch so vollständig angezogen sein, zu sehr entblößt, um sich zu zeigen. […] Aber vielleicht noch mehr als sich zu zeigen, schämen sie sich fremde Leute zu sehn; […] den Anblick der ihnen so schwer erträglichen Parteien, wollen sie nicht jetzt am Morgen, plötzlich, unvermittelt, in aller Naturwahrheit von neuem auf sich eindringen lassen. (S 445f.)

K. begreift die Aufregung nicht. Es ist ja in Bürgels Zimmer in Wahrheit nichts geschehen! Er hätte »gern auf alle verbotenen Einblicke verzichtet, dies umso leichter als er ja in Wirklichkeit gar nichts zu sehen imstande gewesen sei und deshalb auch die empfindlichsten Herren sich ungescheut vor ihm hätten zeigen können.« (S 449) Die Sekretäre befinden sich in Zimmern, die nicht betreten werden dürfen und vom restlichen Haus abgetrennt sind. Wenn man sich auf die Zimmerordnung einlässt, kann man sagen, dass die Sekretäre in einem Harem leben, insofern der Harem zunächst jene für den Fremden unzugänglichen Räume bezeichnet und erst dann die Gesamtheit der Ehefrauen, die in diesen Räumen untergebracht sind. Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich folgendes Detail in der Bekleidung der Sekretäre: »[U]nd oben an der Wandbrüstung verfolgten, merkwürdiger Weise mit Tüchern fast gänzlich vermummte Gesichter […] alle Vorgänge.« (S 435) Die Linie der Übergriffe fortsetzend endet die lange Nacht im Herrenhof damit, dass K. die Wirtin, die Dame des Hauses, duzt: »›Wie er mich ansieht! Schick ihn doch endlich fort!‹ K. aber, die Gelegenheit ergreifend und nun völlig, fast bis zur Gleichgültigkeit davon überzeugt, daß er bleiben werde, sagte: ›Ich sehe nicht Dich an, nur Dein Kleid.‹« (S 450) Am nächsten Tag wird er von der Wirtin aufgesucht und als Günstling ihres Hauses aufgenommen. Zum ersten Mal zeigt sich K. unterwürfig. Das Schloß endet mit der Choreographie demütiger Gesten: »Und er verbeugte sich, um zu gehen«; (S 489) »K. verbeugte sich nochmals und ging zur Tür.« (S 490) Hatte er sie in der Nacht vorher geduzt, heißt es jetzt in der indirekten Wiedergabe des Dialogs »Frau Wirtin«. Zum ersten Mal im Roman ist K. darauf angewiesen sich zu erniedrigen, während er in seinen früheren Begegnungen versucht hatte, die Herrschaft über seine Bekannten und Freunde zu gewinnen. Erst nachdem er die Hausordnung des Herrenhofs gebrochen und die Wirtin angegriffen hat, wird K. als Günstling aufgenommen, der selbst wieder Günstlinge unterhalten kann: »›Ich weiß warum Du mich mitnehmen willst‹, sagte nun endlich K. Gerstäker war es gleichgültig, was K. wußte. ›Weil Du glaubst, daß ich bei Erlanger etwas für Dich durchsetzen kann.‹« (S 495) Wie Anton Wohlfart in Soll und Haben wird auch K. am Ende von der Dame des Hauses ins Kontor gebeten. Es ist ein »Privatkontor«, in dem die Wirtin einen Schrank voller Kleider aufbewahrt. »›Hast Du nicht einmal Schneiderei gelernt?‹« (S 492) Der vermeintliche Landvermesser soll nun die Wirtin ausmessen. 71

8.

Das Haus als Familienunternehmen

Freytags Soll und Haben und Kafkas Das Schloß markieren Anfang und Ende einer literarhistorischen Linie. Sie verbindet eine Reihe von Romanen, die von der Kontinuitätssicherung des Hauses mithilfe adoptiver Verfahren sowie den Gefahren dynastischer Leerstellen erzählen. In allen Romanen ist das Haus ein Familienunternehmen oder zumindest – wie im Fall der Schusterwerkstatt des »Barnabas’schen Hauses« (S 267) – ein Familienbetrieb. Damit ist eine Beziehung von Literatur- und Wirtschaftsgeschichte gegeben, die im vorliegenden Abschnitt genauer erläutert werden soll. Wer ausgehend von der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts nach der Wirtschaftsgeschichte von Familienunternehmen fragt, sieht sich vor das Problem gestellt, dass die Wirtschaftsgeschichte ihrerseits auf literarische Erzählmuster zurückgreift, um ökonomische Dynamiken zu beschreiben. So gilt in wirtschaftshistorischen Studien über die Grenzen der Literaturgeschichte hinaus der »Buddenbrooks-Effekt« als Metapher zur Kennzeichnung eines Prozesses, in dem sich Familienunternehmen innerhalb von drei Generationen auflösen, um neuen Familienunternehmen das Feld zu überlassen.78 Die Kurzlebigkeit der Familienunternehmen – eine Beobachtung, die häufig in eine Verfallserzählung eingebettet wird –79 ist Teil einer wirtschaftshistorischen Modernisierungstheorie, wonach im Laufe der Industrialisierung die Familienunternehmen von Aktiengesellschaften, die Firmenpatriarchen von Managern verdrängt wurden. Sie lässt sich am besten dort studieren, wo die Existenz von Familienunternehmen als Symptom nationaler Rückständigkeit gewertet wird. So veröffentlichte beispielsweise im Jahr 1919 »das französische Handelsministerium eine Studie, in der es hieß, die Dominanz von Familienunternehmen habe Frankreich in seinem langen Ringen mit Deutschland geschwächt.«80 Über die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands heißt es wiederum: »Familienunternehmen sind ein deutsches Phänomen und dominieren – zumindest was ihre quantitative Bedeutung angeht – seit der Industrialisierung die Wirtschaft hierzulande.«81

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Der »Buddenbrooks-Effekt« bezeichnet ein Drei-Phasen-Modell: Gründung, Konsolidierung und schließlich Dekadenz. Jeder einzelnen Phase entspricht eine Generation. (Vgl. Andrea Colli: The History of Family Business 1850–2000. Cambridge/UK u. a. 2003, S. 13 und ausführlicher Thomas C. Barker u. Maurice Lévy-Leboyer: An Inquiry into the Buddenbrooks Effect in Europe. In: Leslie Hannah [Hg.]: From Family Firm to Professional Management. Structure and Performance of Business Enterprise. Budapest 1982, S. 10–25) Auf die Überschneidung von Literatur- und Wirtschaftsgeschichte weist hin Viviana Chilese: Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen. In: Matteo Galli u. Simone Costagli (Hg.): Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München u. a. 2010, S. 121–130, hier: S. 122. »My persisting view is that future prospects for family enterprises are not optimistic.« (Hidemasa Morikawa zitiert in Colli, History of Family Business, S. 14) Harold James: Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck. München 2005, S. 173f. Anne Nieberding: Einer geht – ein anderer kommt? Nachfolgeprozesse in Familienunternehmen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Sonderforschungsbereich Norm und Symbol. Diskussionsbeiträge 38 (2003). Universität Konstanz, S. 1.

In Abgrenzung von solcher Art nationalhistoriographischer Diagnosen bietet Harold James eine weitreichende Analyse von »Familienunternehmen in Europa«, in der, angefangen im frühen 19. Jahrhundert bis in das 21. Jahrhundert hinein, die Häuser Haniel, Wendel und Falck in ihrer jeweiligen Hauspolitik miteinander verglichen werden. Erst die vergleichende Analyse vermag zu zeigen, »dass keine Einbahnstraße vom Familienunternehmen zur Publikumsgesellschaft führt, die einer organisch-rationalen Entwicklung beziehungsweise Modernisierung des Wirtschaftsgeschehens entspräche.«82 Wenn im Folgenden von der Geschichte dieser drei europäischen Unternehmen die Rede ist, dann aus zwei Gründen: Zum einen zeigen James’ Ausführungen, wie im 19. Jahrhundert Familienunternehmen dynastisch operieren, indem sie sich u. a. neuer Gesetze bedienen. Die Untersuchung dieser Operationen korrespondiert mit Sabeans mikrohistorischer Verwandtschaftsforschung, (Kap. I/1) die sich ebenfalls gegen das Narrativ vom Sieg der Kleinfamilie über die verwandtschaftlich-korporativen Verbände richtet. Zum anderen zehrt die Historiographie der Familienunternehmen von den Topoi des Häuserromans. Sobald sie sich dem Problem der Unternehmernachfolge zuwendet, weiß sie von verdienstvollen Angestellten zu berichten, die – mit »verschlungenen bürokratischen Abläufen vertraut« –83 sich eine Position als Schwiegersohn des Hauses erkämpfen, oder die in der Gunst der Hausherrin stehen und dadurch die Söhne verdrängen. James begründet seine Auswahl der Häuser damit, dass es sich dabei um Unternehmen handelt, die sich bis in das 21. Jahrhundert erfolgreich behauptet haben, ohne wie die »Ikonen des nationalen Familienkapitalismus« (Schneider, Krupp, Agnelli) das Geschäftsleben durch das Jetset-Dasein zu ersetzen.84 Es handelt sich dabei gewissermaßen um Häuser der zweiten Reihe, insofern in Frankreich die Schneiders den Wendels, in Deutschland die Krupps den Haniels und in Italien die Agnellis den Falcks zunächst eindeutig überlegen waren. Die von James ausgewählten drei Häuser haben ihre Anfänge in der Eisen- und Montanindustrie, also einem Feld, in dem bereits durch die Anbindung des Hauses an Grundbesitz eine gewisse Nähe zu den adligen Häusern herrscht.85 Alle drei Häuser haben gemeinsam, dass sie sich erst nach der Abschaffung der Primogenitur und des Alleinerbrechts formieren.86 Obwohl der Code Civil im Jahr 1804 die rigorose Gleichberechtigung etwas zurücknimmt, führt er für die Mehrheit der eroberten rechtsrheinischen, preußischen und italienischen Gebiete eine rechtliche Veränderung herbei, wenn dort zuvor das Alleinerbrecht praktiziert wurde.87 Die Pointe von James’ Analyse

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James, Familienunternehmen, S. 19. James, Familienunternehmen, S. 68. Vgl. James, Familienunternehmen, S. 17. Zur Bedeutung von Grund und Boden für Familienunternehmen vgl. David S. Landes: Die Macht der Familie. Wirtschaftsdynastien in der Weltgeschichte. München 2006, S. 387f. Die Primogenitur wird in Frankreich bereits 1790 von der Nationalversammlung abgeschafft und durch die Gleichberechtigung der Erben ersetzt. (Vgl. Lloyd Bonfield: European Family Law. In: David I. Kertzer u. Marzio Barbagli [Hg.]: The History of the European Family. Bd. 2. New Haven u. a. 2002, S. 109–154, hier: S. 136) James argumentiert, dass erst die Bündelung der Gebiete, in denen die Erbteilung durchgesetzt wurde, die Annahme eines kontinentaleuropäischen Musters erlaubt, das sich notwendig von dem angelsächsischen Muster unterscheidet, das diese Rechtsnorm nicht kennt. Die wirtschafts-

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besteht darin, dass die von ihm ausgewählten, langfristig erfolgreichen Häuser erst nach der Durchsetzung der Erbteilung entstehen. Dies relativiert die gängige Annahme, die Abschaffung des Alleinerbrechts habe den Verfall der Häuser herbeigeführt. Vielmehr scheint die Abwesenheit eines rechtlich fixierten dynastischen Prinzips dazu geführt zu haben, verschiedene Formen der Sukzessionssicherung miteinander zu kombinieren oder diese gegeneinander abzuwägen. Statt des erstgeborenen Sohnes sind es daher die nachgeborenen Söhne, die Schwiegersöhne und insbesondere die Witwen – dritte Figuren also –, welche die dynastischen Leerstellen bisweilen provisorisch, häufig jedoch auf Lebenszeit besetzen.88 Die Funktion der Witwen in Hauspolitiken hat eine lange Tradition, die sich bis zur Institution des sogenannten Beisitzes der Witwe zurückverfolgen lässt. Diesem Rechtsinstitut gilt der folgende Exkurs. Exkurs: Das jüdische Ehegüterrecht und der Beisitz der Witwe Um zu zeigen, wie eng Praktiken der Vermögensübertragung auf die Witwe und die Entstehung dynastischer Strukturen zusammenhängen, lohnt es sich, einen Blick auf die Geschichte des jüdischen Ehegüterrecht zu werfen. Unter der Voraussetzung, dass die Existenz einer zweifach codierten Rechtssprechung die Entstehung von Häusern begünstigt,89 stellt es einen so genannten »Extremfall

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historische Bestimmung des kontinentaleuropäischen Musters wiederum ist als Teil der Rekonstruktion des rheinischen Kapitalismus zu deuten. (Vgl. James, Familienunternehmen, S. 21f.) Vgl. James, Familienunternehmen, S. 88f. Schon der Vater Franz Haniels, Jakob Wilhelm Haniel (1734–1782), hat sein Glück seinem Schwiegervater zu verdanken. Das »Packhaus«, das noch heute als Erinnerungsraum der Dynastie bewahrt wird, fällt ihm als dessen Erbe zu: »Als Jan Willem Noot 1770 im Sterben lag, äußerte er den Wunsch, ein Mitglied der Familie Haniel möge das Handelsgeschäft im Ruhrorter Packhaus weiterführen: Vermutlich meinte er seinen Schwiegersohn Jacob Haniel, und sowohl seine Witwe als auch seine Tochter ermunterten Haniel, diese Aufgabe zu übernehmen und das Handelsgeschäft an der Ruhr auszubauen.« (James, Familienunternehmen, S. 81f.) Die wichtige Bedeutung von Witwen im Bereich des Handels ist darauf zurückzuführen, dass sie in den anderen Bereichen, wie etwa im Handwerk, häufig mit zunftrechtlichen Einschränkungen zu kämpfen hatten. (Vgl. zu den geschäftsführenden Witwen James, Familienunternehmen, S. 55f., 67, 82, 84, 110f. u. 136) Diesen Schluss legen Untersuchungen über Rechtsstreitigkeiten in den jüdischen Gemeinden des Mittelalters nahe. Zu diesem Zeitpunkt genießen die Gemeinden einerseits das Privileg einer eigenen Gerichtsbarkeit. Andererseits können sich Einzelne direkt an den Herzog wenden. In diesen letzten Fällen werden jüdisches Recht und christliches Judenrecht gegeneinander abgewogen. (Vgl. zur Unterscheidung zwischen jüdischem Recht und Judenrecht Klaus Lohrmann: Judenrecht und Judenpolitik im mittelalterlichen Österreich. Wien u. a. 1990, S. 14f.) Häufig korrumpiert das christliche Judenrecht durch die Vermittlung des Herzogs das jüdische Recht. Entscheidend dabei ist, dass die herzogliche Vermittlung die einflussreichen Familien begünstigt und auf diese Weise der Entstehung jüdischer Dynastien Vorschub leistet: »Die Rabbiner konnten natürlich ihre Entscheidungen sozusagen ›objektiv‹ argumentieren, es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß rabbinisches Recht und die einzelnen Entscheidungen im allgemeinen die ›Dynastien‹ stabilisierten und in einigen Fällen Rechtsgrundsätze schonend angewendet wurden, ohne daß man gleich von Rechtsbeugung sprechen könnte.« (Klaus Lohrmann: Gemeinde – Haushalt – Familie. Die Bedeutung der Familie in der jüdischen Gemeinde des Mittelalters. In: Sabine Hödl u. Martha Keil [Hg.]: Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart. Berlin u. a. 1999, S. 9–26, hier: S. 22)

des Möglichen« dar,90 insofern hier Elemente des jüdischen und deutschen Rechts kombiniert wurden: Bestimmungen zur materiellen Versorgung der Witwen und geschiedenen Frauen wurden im jüdischen Recht in der Ketubba (»Heiratsurkunde und zugleich Heiratsverschreibung«) schriftlich festgehalten.91 Seit der Antike bezeichnet Ketubba im engeren die vor der Heirat festgesetzte Mindestsumme, die der Frau als eine Art Abfindung bei Auflösung der Ehe entweder vom Ehemann selbst oder von seinen Erben ausgezahlt werden musste. Die Festsetzung der Mindestsumme war bereits in der Antike von dem Bemühen gekennzeichnet, die Scheidung durch eine möglichst hohe Mindestsumme zu erschweren – wie Birgit Klein in ihrer Studie zum jüdischen Ehegüterrecht im spätmittelalterlichen Aschkenas argumentiert.92 Während aber in der Antike die Mindestsumme einen Betrag angibt, der von der Seite des Ehemanns oder von dessen Erben zur Not aufgebracht werden kann, gehen die Rechtsgelehrten des 15. Jahrhunderts dazu über, für alle jüdischen Gemeinden eine standardisierte Ketubba einzuführen, deren immense Höhe eine Auszahlung unmöglich machte: »[D]ie standardisierte Mindestsumme von 600 Gulden betrug fast das Doppelte des durchschnittlichen Vermögens einer jüdischen Familie am Ende des 14. oder im 15. Jahrhundert.«93 Die hohe Standard-Ketubba führte zum beinahen Verschwinden der Ehescheidung, so dass sich historische Analysen über die Ketubba-Auszahlung, die bei der Auflösung einer Ehe zu erfolgen hat, vor allem auf die Verwitwung beziehen.94 Wie aber die Auszahlung der Ketubba an die Witwe tatsächlich praktiziert wurde, hing maßgeblich vom Status der beteiligten Häuser ab: »So entschied letztlich nicht das jüdische Recht, ob eine Witwe über den gesamten Besitz verfügen konnte, sondern vielmehr ihre Verhandlungsposition bei der Eheschließung und während der Ehe. Diese wiederum basierte auf ihrer ökonomischen Potenz und der ihrer Herkunftsfamilie. Je stärker sie war, umso unwahrscheinlicher wurde es, dass die Frau auf einen Teil der ketubba verzichten musste.«95 Die Verhandlungsposition der Witwe wurde nicht nur durch den Status ihres väterlichen Hauses, sondern darüber hinaus durch die Existenz des deutschen Rechts, das die Witwe ebenfalls in Anschlag bringen konnte, gestärkt. Erst der Bezug auf das Doppelgesetz der Vermögensübertragung ermöglichte hauspolitische Manöver, die dazu führen konnten, dass der ganze Besitz des Hauses in die Hände der Witwe überging: Somit lag im Spätmittelalter in vielen Fällen, nach Einlösung der ketubba oder dank einer testamentarischen Verfügung, der gesamte Familienbesitz in den Händen der Witwe. Die normierte Praxis der hohen Standard-ketubba schuf eine neue Rechtswirklichkeit, indem sie die Ansprüche der meisten Witwen am gesamten Nachlass legitimierte und diese faktisch zu Alleinerbinnen machte. Dieses neue »Gewohnheitsrecht« führte möglicherweise dazu, dass Witwen auch dann den Nachlass verwalteten, wenn sie ihre ketubba (noch) nicht eingelöst hatten. Eine solche Rechtspraxis stand in diametralem Gegensatz zur jüdischen Rechtsnorm, die davon ausging, dass die Interessen der Witwe und der Erben, hier der Söhne, in Konkurrenz zueinander stehen, und damit eine gemeinsame Geschäftstätigkeit ausschloss. Sie stand jedoch in Einklang mit dem im deutschen Recht im Spätmittelalter praktizierten Rechtsinstitut des »Beisitzes« der Witwe, das ihr erlaubte, die väterliche Gewalt über die Kinder zu übernehmen, und das die ungeteilte Gemeinschaft zwischen Witwe und Kindern ermöglichte. Der Grund dafür, dass man nicht konform mit der jüdischen Rechtsnorm, sondern mit deutschem Recht verfuhr, dürfte darin gelegen haben, dass der Beisitz hier wie dort den aktuellen ökonomischen Bedürfnissen entgegenkam:

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Vgl. Kap. I/1, Fußnote 23. Vgl. Birgit E. Klein: »Der Mann: ein Fehlkauf«. Entwicklungen im Ehegüterrecht und die Folgen für das Geschlechterverhältnis im spätmittelalterlichen Aschkenas. In: Christiane E. Müller u. Andrea Schatz (Hg.): Der Differenz auf der Spur. Frauen und Gender in Aschkenas. Berlin 2004, S. 69–99, hier: S. 78. Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 79. Klein, Ehegüterrecht, S. 87. Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 87. Klein, Ehegüterrecht, S. 88.

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Die jüdische Witwe war bereits durch die Geschäftspartnerschaft mit ihrem Mann im Geldhandel kompetent, und die Teilung des Geschäftskapitals unter den unmündigen Kindern sollte möglichst lange aufgeschoben werden, da ein höheres Geschäftskapital auch einen höheren Gewinn garantierte. Überdies war wie in Frankfurt am Main die Familienhaushaltung, die in Vermögens- und Geschäftsgemeinschaft stand, das Steuersubjekt, was es ebenfalls erforderlich machte, dass das Vermögen möglichst lange in der Hand einer Person blieb.96 Neben der Geltung eines faktischen Doppelgesetzes, die erlaubt, diese Passage als Teil einer Genealogie der jüdischen Häuser zu lesen, ist es die Zusammenführung der unterschiedlichen Interessen in eine Art gemeinsamer Hauspolitik, die dem Hauskonzept von Lévi-Strauss entspricht. Es wurde im ersten Kapitel gezeigt, dass das Haus das Zusammenfügen antagonistischer Elemente in eine fiktive Einheit zu leisten vermag: »En mettant, si l’on peut dire, ›deux en un‹, la maison accomplit une sorte de retournement topologique de l’intérieur en extérieur, elle remplace une dualité interne par une unité externe.«97 Die interne Dualität wird durch die jüdische Rechtsnorm artikuliert, »die davon ausging, dass die Interessen der Witwe und der Erben, hier der Söhne, in Konkurrenz zueinander stehen«.98 Die externe Einheit wird durch die Idee einer »ungeteilte[n] Gemeinschaft zwischen Witwe und Kindern« hergestellt,99 die – gestützt auf das deutsche Rechtsinstitut des Beisitzes – eine gemeinsame Geschäftstätigkeit erst ermöglicht.100 In Lévi-Strauss’ Konzept besteht die interne Dualität des Hauses in der ehelichen Beziehung. Und es gehört zu den überraschenden Pointen seiner Theorie, dass er die eheliche Beziehung als Kern des Hauses bestimmt, da es sich bei ihr um eine instabile Beziehung handelt. Erst die Instabilität der Beziehung ermöglicht deren Objektivierung durch das Haus: »Wir glauben […], daß man von der Vorstellung eines objektiven Substrats [der ehelichen Beziehung und des Hauses, N.G.] zu der der Objektivierung eines Verhältnisses übergehen muß: eines unbeständigen Ehebundverhältnisses, das durch das Haus als Institution in wie immer phantasmatischer Form stabilisiert werden soll.«101 Die Institution des Beisitzes verdeutlicht, dass nicht allein die Ehe als instabile Beziehung dynastische Strukturen konstituiert. Die Beziehung zwischen der Witwe und ihren (unmündigen)

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Klein, Ehegüterrecht, S. 89f. Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 189. Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 89. Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 90. »Das Institut [des Beisitzes, N.G.] diente in erster Linie der Versorgung der überlebenden Ehefrau; es war aber auch im Interesse der Kinder gelegen, da es den Weiterbestand der häuslichen Gemeinschaft sicherte und eine Trennung von Mutter und Kindern verhinderte. Der B[eisitz] war ursprünglich nur auf das Zusammensein mit Kindern beschränkt. Die Mutter erzog die Kinder und nutzte und verwaltete deren Vermögen. […] In der Neuzeit entwickelte sich ein besonderes Ehegattenerbrecht. Die Bedeutung des B[eisitzes] ging daher zurück; doch hielt er sich in manchen Partikularrechten (vgl. ALR II 1 § 645).« (Werner Ogris: Art. ›Beisitz der Witwe‹. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 355f., hier: Sp. 355) Während hier der Beisitz der Witwe ausdrücklich auf die häusliche Gemeinschaft mit Kindern beschränkt wird, fasst Ursula Floßmann die historische Dynamik ins Auge, die den Beisitz der Witwe zunehmend mit Vormundschaftsrechten anreichert, die über das rechtlich kaum definierte »Zusammensein« hinausweisen: »Nun war eine Vormundschaft älteren Rechts, die neben der Gewalt über die Kinder auch das Nutzungsrecht an ihrem Gut verschaffte, mit dem Beisitz der Mutter unvereinbar. Dennoch drängte sich dieses Rechtsinstitut auf, um ihrer besonderen Position eine rechtliche Gestalt zu geben. Nach und nach nahm der Beisitz Züge des Vormundschaftsrechts in sich auf und trug dazu bei, der Mutter nach dem Tode des Gatten eine vaterähnliche Stellung zu geben.« (Ursula Floßmann: Die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Privatrechtsgeschichte. In: Dies. [Hg.]: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik. Wien u. a. 1977, S. 119–144, hier: S. 126) Lévi-Strauss, Clan, S. 205.

Kindern ist insofern als eine ebensolche labile Verbindung anzusehen, als sie – wie weiter unten am Beispiel der Familienunternehmen zu sehen – häufig vertraglich geregelt werden muss. Lévi-Strauss’ Theorie des Hauses gelangt somit dort an ihre Grenzen, wo die instabile Beziehung, die der phantasmatischen Objektivierung bedarf, auf das eheliche Verhältnis beschränkt wird. Es wurde bereits gezeigt, dass die Einführung der hohen Standard-Ketubba das Weiterbestehen von Häusern begünstigt, da erst die kaum einlösbare Summe die Voraussetzung dafür schafft, die Witwe zur Alleinerbin des gesamten Vermögens zu machen. Das Vererben des Hausvermögens an die Witwe markiert aber nur den ersten Schritt zu einer erfolgreichen Hauspolitik. Der zweite Schritt besteht darin, den Zeitraum ihrer Erbwaltung mithilfe des Beisitzes auszudehnen, um »die Teilung des Geschäftskapitals unter den unmündigen Kindern« hinauszuzögern.102 Das Vermögen soll »möglichst lange in der Hand einer Person« bleiben,103 um auf diese Weise einfach besteuert zu werden. Die Perpetuierung des Hauses ist erst dann gewährleistet, wenn neben der Vererbung weitere Rechtsinstitute herangezogen werden können. Der Fall der standardisierten Ketubba-Summe lässt vermuten, dass Praktiken der Verstetigung des Hauses daran geknüpft waren, aufgrund ihrer Uneinlösbarkeit fiktive Summen zur Grundlage der Geschäftsbeziehungen zu machen. Die phantasmatische Form des Hauses und dessen fiktiver Charakter (Kap. I) lassen sich in den einzelnen Operationen des Hauses wiedererkennen: Das Haus ist zu seiner Perpetuierung auf Versprechen angewiesen, deren Wirksamkeit gerade darin besteht, nicht einlösbar zu sein.

Die institutionelle Struktur des Beisitzes und die Labilität des Verhältnisses Witwe/(unmündige) Kinder lassen sich in der Hauspolitik zahlreicher Familienunternehmen des 20. Jahrhunderts studieren: Nachdem Agnes Kratz mit dem Ausscheiden ihres Kompagnons Wassermann 1922 wieder alleinige Inhaberin der Firma Kratz & Burk geworden war, dachte sie offenbar nicht daran, sich in absehbarer Zeit zugunsten ihrer Söhne aus dem Geschäft zurückzuziehen. In einer 1924 getroffenen Vereinbarung zwischen Agnes Kratz und ihren vier Kindern wurde zwar festgelegt, dass Sohn Gerhard in die Firma eintreten und die aktive Arbeit übernehmen sollte. Doch verblieb das ganze Geschäft im alleinigen Eigentum der Mutter. […] Dieses Fallbeispiel macht auch deutlich, dass nach dem Tod des Unternehmervaters in dessen Nachfolge eintretende Ehefrauen und Mütter nicht unbedingt die ihnen zugedachte Rolle als »Platzhalterinnen« annahmen und sich wieder zurückzogen, sobald der Sohn oder die Söhne in der Lage waren, das Geschäft alleine zu führen.104

Die Verstetigung einer vorerst als provisorisch deklarierten Amtsübernahme lässt sich auch anhand der Geschichte des Hauses Wendel studieren, in dem nach dem Tod von

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Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 90. Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 90. Vgl. Michael Schäfer: Familienunternehmen und Unternehmerfamilien. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der sächsischen Unternehmer 1850–1940. München 2007, S. 153f. Die vertragliche Normierung der Beziehung zwischen der Witwe und ihren Kindern ist eine interessante Abweichung von der Regel, wonach die meisten Gesellschaften »das Verhältnis zwischen Mann und Frau, das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester und das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, nicht aber – oder doch nicht in gleichem Maße – das Verhältnis zwischen der Mutter und ihren Kindern« normieren. (Vgl. André Green: Verwandtschaftsatom und ödipale Beziehungen. In: Jean-Marie Benoist [Hg.]: Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter Leitung von Claude Lévi-Strauss. Stuttgart 1980, S. 76–101, hier: S. 93) Diese Abweichung führt einmal mehr den Unterschied zwischen dem Haus und der Familie vor Augen, die in der Tat eine solche Normierung nicht kennt.

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François de Wendel (1778–1825) dessen Witwe die Hauspolitik und damit die Nachfolgeregelung in die Hand nimmt: Nach dem Berggesetz von 1810 war der Abbau unterirdischer Erzlagerstätten nur nach staatlicher Genehmigung erlaubt, doch der Genehmigungsantrag von François de Wendel lag unerledigt in den Amtsstuben der Präfektur herum und verstaubte. Der große Coup von François’ Witwe, Madame Joséphine de Fischer de Dicourt, bestand darin, dass sie ihre Tochter Marguerite-Joséphine (im Jahr 1826) mit dem Mann verheiratete, der nicht nur als Einziger ganz genau wusste, wo sich die Eisenerzlager befanden, sondern auch mit den verschlungenen bürokratischen Abläufen vertraut war. Der neue Schwiegersohn, Théodore de Gargan, trat umgehend aus dem Corps royal des Mines aus und widmete sich zielstrebig der Förderung der de Wendel’schen Interessen.105

In welchem Maß der Zugang zum technischen Wissen über Erfolg und Misserfolg der Häuser entscheidet, ist daran abzulesen, dass neben Théodore de Gargan der nachgeborene Sohn von François de Wendel, Charles de Wendel, die technische Ausbildung der kaufmännischen vorzieht, bevor er die Leitung der Firma übernimmt. Er vermag jedoch selbst in der Position des Firmenleiters nicht, den Status seiner Mutter und seines Schwagers ernsthaft anzutasten: »Aufgrund der Kenntnisse und der Aktivitäten des mächtigen Gespanns, das de Gargan und seine Mutter bildeten, hatte er niemals die uneingeschränkte Kontrolle über sein Unternehmen.«106 Die dynastische Nachfolgeregelung über männliche Blutsverwandtschaft (François de Wendel/Charles de Wendel) wird in diesem Fall als repräsentative Fiktion (Firmenleitung) aufrechterhalten, während daneben die Nachfolge durch Adoption geregelt wird. Witwe und Schwiegersohn – das »mächtige Gespann« – schließen zunächst die Lücke, die dadurch entsteht, dass der tote François de Wendel keine für die Nachfolge geeigneten Söhne hinterlässt. Charles de Wendel ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht mündig. Doch auch nachdem er die für die Nachfolge nötige Ausbildung durchlaufen hat, wird er den fiktiven Sohn (Théodore de Gargan) nicht ablösen können. Diese Beobachtung ist zu betonen, da sie erneut den provisorischen Charakter der Nachfolgeregelung durch Adoption oder Witwenbeisitz relativiert. Was im Zusammenhang des Hauses als Provisorium beginnt, verstetigt sich meist zur lebenslangen Stellung, die sich neben der Erbfolge durch Abstammung behauptet. Das Moment der Eignung für die Nachfolge wird zum einen über die Söhne verhandelt, die zwischen verschiedenen Ausbildungsgängen wählen können, aber noch stärker über die Schwiegersöhne, die aufgrund ihres Könnens angeworben werden. So heißt es über die Allianz zwischen den Häusern Haniel und Cockerill: In diesen für die Cockerill-Dynastie schwierigen Zeiten sah Franz Haniel eine günstige Gelegenheit, um sich durch eine Eheschließung mit einer Dynastie zu verbinden, die in besseren

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James, Familienunternehmen, S. 67f. James, Familienunternehmen, S. 69. Der Fall einer solchen doppelten Unternehmernachfolge wird in der wirtschaftshistorischen Forschung als »Kohabitation« verhandelt. (Vgl. Franz Breuer: »Kohabitation«. Die Etappe der Doppelherrschaft von Vorgänger und Nachfolger bei der Weitergabe/Übernahme von Familienunternehmen. In: Gert Kollmer-von Oheimb-Loup u. Clemens Wischermann [Hg.]: Unternehmernachfolge in Geschichte und Gegenwart. Ostfildern 2008, S. 39–64)

Zeiten für ihn vermutlich unerreichbar gewesen wäre. Er war nicht so sehr an dem Vermögen interessiert, das potenzielle Bräute in die Ehe mit seinen Söhnen einbringen würden, als vielmehr daran, Zugang zu industriellem Know-how zu erlangen.107

Franz Haniel (1779–1868) nimmt über seine einzige Tochter Heinrich Cockerill auf. Parallel dazu sorgt er in seiner Eigenschaft als Mutterbruder dafür, einen weiteren fiktiven Sohn an das Haus zu binden: Franz Haniels Schwager, »Gottlob Jacobi[,] hatte vier Söhne und eine Tochter, Clementine, hinterlassen, die mit einem versierten englischen Ingenieur, Nicholas Harvey, verheiratet wurde. Harvey warb zahlreiche englische Facharbeiter für das Unternehmen an.«108 Solche Adoptionen sind zu diesem Zeitpunkt unerlässlich, da technisches Wissen überwiegend als Betriebsgeheimnis gehütet wird, »technische Bildungsreisen« daher oft ergebnislos bleiben.109 Da die Unternehmen miteinander darin konkurrieren, die Betriebsgeheimnisse der Anderen zu enthüllen, sind sie darauf angewiesen, ihre Söhne wechselseitig auszutauschen. In diesem Wettbewerb genügt es nicht, die eigenen Söhne ausbilden zu lassen. Erst durch die Wahl des geeigneten Schwiegersohns wird in die Zukunft des Hauses investiert. Die Expansion der Häuser erschwert es der Unternehmensleitung zunehmend, die Hausangehörigen zu kontrollieren. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft, wie sie 1870 ausgehend von Preußen konzipiert und 1884 im Deutschen Kaiserreich reformiert wurde,110 »muss einer Familie, die immer größer wurde, überaus verlockend erschienen sein. Die 47 Anteilseigner des neuen 1870 gegründeten Unternehmens, des ›Aktienvereins für Bergbau und Hüttenbetrieb Gutehoffnungshütte‹, waren fast alle Nachkommen der beiden Haniel-Brüder.«111 Die Häuser werden also durch die neuen nationalstaatlichen Gesetze, welche die Entstehung und Konsolidierung von Aktiengesellschaften

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James, Familienunternehmen, S. 93f. James, Familienunternehmen, S. 101. James, Familienunternehmen, S. 110. »Nach einem kurzen Aufenthalt in London reisten sie [Franz Haniel und Mitarbeiter seines Unternehmens, N.G.] weiter in die Midlands, wo sie sich insbesondere den Betrieb von James Watt in Soho ansehen wollten. […] Doch zu Haniels großem Verdruss wollte Watt ihm nicht das berühmte Soho-Werk zeigen. Daraufhin schlug Haniel die Einladung zum Mittagessen aus und reiste umgehend ab.« (James, Familienunternehmen, S. 92) Die von James untersuchten Unternehmer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulieren ihre industrielle Rückständigkeit zu Recht mit Blick auf das fortgeschrittene England. Es verwundert daher nicht, dass große Kohorten englischer Facharbeiter angeworben werden: »Es lag nahe, den Mangel an französischen Fachkräften durch englische Arbeiter auszugleichen. In der Kokserei von Charenton arbeiteten fast nur Engländer, die einen viel höheren Lohn erhielten als ihre französischen Fachkollegen. Der englische Hüttenexperte Dobson wurde 1802 nach der Rückkehr in sein Heimatland von der britischen Regierung verhaftet: Man warf ihm vor, Pläne gestohlen und englische Arbeiter zum Auswandern ermuntert zu haben. (Die britische Regierung verhängte damals tatsächlich aus merkantilistischen Gründen ein Auswanderungsverbot für Facharbeiter.)« (James, Familienunternehmen, S. 65) Vgl. Wolf-Dieter Ring: Art. ›Aktiengesellschaften‹. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Hg. Ludwig Elster, Adolf Weber u. Friedrich Wieser. Bd. 1. 4., gänzlich umgearb. Aufl. Jena 1923, S. 96–115, hier: S. 97. James, Familienunternehmen, S. 121.

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regeln, nicht verdrängt, sondern setzen diese für ihre Hauspolitik ein.112 Gerade die Gründungsmodalitäten einer Aktiengesellschaft kommen einem Familienunternehmen zugute, das sich nicht im Besitz eines Einzelnen befindet, sondern im Besitz des Hauses: »Um eine Aktiengesellschaft zu schaffen, bedarf es des Vorgehens von Personen als treibender Kräfte (Gründer). […] Wenigstens fünf Personen müssen unter Uebernahme mindestens je einer Aktie den Inhalt des Gesellschaftsvertrags in gerichtlicher oder notarieller Verhandlung feststellen. Wer dergestalt verfährt, ist vor dem Rechte Gründer.«113 Die soziale Kontrolle über Hausangehörige verwandelt sich mithilfe der Aktiengesellschaft in die gesetzliche Kontrolle über Anteilseigner. Die Aktiengesellschaft, die nun die Einstellung von Fachkräften begünstigt, die zuvor von Schwiegersöhnen gestellt wurden, forciert andere Heiratsstrategien. So beginnen die Haniels nach 1870 »auch in den Adel und in die militärische Elite des Deutschen Reichs einzuheiraten. Dies stand in auffälligem Gegensatz zu dem Heiratsverhalten der Familie zu Lebzeiten des Dynastiegründers Franz Haniel, als Eheschließungen mit Angehörigen anderer [bürgerlicher, N.G.] Industriellenfamilien und mit Verwandten im Vordergrund standen.«114 Das veränderte Heiratsmuster hängt damit zusammen, dass nun Fachkräfte angestellt werden können, ohne ehelich gebunden werden zu müssen. In dem Maße, wie die Adoption (Anstellung und Eheschließung) an Bedeutung verliert, gewinnt die Verbindung zwischen Häusern als Verbindung an Bedeutung.

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Auf den ersten Blick scheint diese Beobachtung die These vom Antagonismus zwischen Staat und Haus zu relativieren, die besagt, dass sich der Aufstieg des modernen Nationalstaats und der staatlichen Gesetzgebung in vielerlei Hinsicht der Auflösung der Autonomie schon bestehender sozialer und politischer Verbände, wie etwa der Gemeinden und freien Städte, verdankt. Zu diesen autonomen Verbänden gehören auch Verwandtschaftsgruppen, sofern sie eigene soziale Gesetze formulieren und von ihren Angehörigen Loyalität fordern. Diese Sippen können mit dem Staat in Konflikt geraten, der von seinen Bürgern ebenfalls, unter Absehung schon bestehender sozialer und politischer Verpflichtungen, Gehorsam und Treue erwartet: »Die europäische Staatsgeschichte ist eine Serie von Kämpfen um die Priorität des Staates gegenüber partikularen Sippschaftsrücksichten. Das gilt für den Kampf um das Königtum, es gilt für das Machtstreben der feudalen Adelsgeschlechter, es prägt den politischen Streit rivalisierender Familien etwa in den oberitalienischen Stadtstaaten, die sich nur im gegenseitigen Hass einig waren. Das Prinzip des Staates als eines der Idee nach unparteiischen Gemeinwesens reibt sich am Prinzip der Dynastie. Lange bevor widerspenstige Individuen als Individuen dem Staat zum Problem wurden, hatte er mit mächtigen und streitsüchtigen ›Häusern‹, Deszendenzgruppen zu kämpfen.« (Koschorke, Heilige Familie, S. 118) Albrecht Koschorke verweist in diesem Zusammenhang auf Robin Fox: The Virgin and the Godfather: Kinship versus the State in Greek Tragedy and After. In: Paul Benson (Hg.): Anthropology and Literature. Urbana u. a. 1993, S. 107–150. Auf den zweiten Blick erst ist zu erkennen, dass es sich bei der europäischen Staatsgeschichte um eine Geschichte des staatlichen Prinzips handelt. Das Argument besteht darin, dass der Staat als imaginäres Modell die faktisch gegebenen, nicht-staatlich organisierten Herrschaftsverhältnisse immer erfolgreicher verdrängt: »Für sich betrachtet, besteht die Leistung der großen frühneuzeitlichen Staatslehren darin, ein Bild der politischen Ordnung zu erzeugen, das den faktischen Verhältnissen als Modell entgegengesetzt werden kann.« (Koschorke, Der fiktive Staat, S. 106) Für den faktisch gegebenen Staat wiederum gilt die Beobachtung, dass er mit den Häusern erfolgreich koaliert hat. Ring, Aktiengesellschaften, S. 99. Vgl. James, Familienunternehmen, S. 196.

Die Langlebigkeit einer Hauspolitik, die auf die geschickte Wahl eines Schwiegersohns setzt und damit den Status der Erbtochter stärkt, sowie der Häuserroman der Unternehmen lassen sich dennoch bis ins 21. Jahrhundert hinein verfolgen. So verfügt das Haus Porsche, das sich am 26. Juni 2007 in eine Aktiengesellschaft verwandelt, zunächst über das Geschwisterpaar Louise (1904–1999) und Ferdinand Porsche (1909–1998).115 Der Erfolg des Hauses, der sich lange Zeit der Allianz mit den Piëchs verdankte, ist auf die Heirat Louise Porsches mit Anton Piëch (1894–1952) zurückzuführen. Der Aufstieg der Piëchs von angeheirateter Verwandtschaft zu Firmenteilhabern mit dynastischen Ansprüchen lässt sich gut am Fall des »Stuttgarter Erbfolgestreits« (1972) zeigen, bei dem die Söhne des Geschwisterpaars Louise Piëch, geborene Porsche, und Ferdinand Porsche – die Cousins Ferdinand Piëch (*1937) und Hans-Peter Porsche (*1940) – aneinander geraten. Der dynastische Anspruch Ferdinand Piëchs ist auf seine Mutter, die Tochter des »Urvater[s]«,116 Ferdinand Porsche (1875–1951), zurückzuführen, was noch einmal Lévi-Strauss’ These von der Doppelgesetzlichkeit der häuslichen Sukzessionsordnung stärkt; sie kann sowohl patrilinear (Hans-Peter Porsche) als auch matrilinear (Ferdinand Piëch) verlaufen.117 Erst durch die Artikulation des Anspruchs auf Nachfolge kann sich das Haus Piëch formieren und vom Haus Porsche abspalten. Schließlich führt die Allianz der Häuser Porsche und Piëch vor, wie die Reproduktion des Hauses durch die Namensgebung programmiert wird:118 »Ein neuerliches Beben [Jahre nach dem »Stuttgarter Erbfolgestreit«, N.G.] löste Ferdinands ältester Bruder Ernst Piëch aus. Nachdem er sich 14 Jahre zuvor beim jährlichen Familientreffen mit dem Rest der Sippe verkracht hatte, wollte er 1984 seine Anteile an der Porsche AG versilbern. Als Käufer war ein arabischer Investor auserkoren. Eine unerhörte Provokation, der PorscheZweig schrie ›Verrat‹.«119 Ernst Piëch ist ein Erstgeborener, der entgegen der Gewohnheit der Porsches, die über vier Generationen hinweg die erstgeborenen Söhne auf den Namen des »Urvater[s]« taufen (Ferdinand), auf den Namen »Ernst« getauft wird. Während hier der Erstgeborene allein durch die Namensgebung von der mütterlichen Porsche-Linie ausgeschlossen wird (der Name »Ernst« taucht in keiner Generation auf), werden die ihm folgenden Geschwister (Louise und Ferdinand Piëch) auf die Porsche-Linie gesetzt. Mit

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Vgl. Walter Hillebrand u. Mark C. Schneider: Porsche-Imperium. In: Capital 13 (2007), S. 20– 32. Hillebrand u. Schneider, Porsche, S. 25. In der Regel werden dynastische Ansprüche anhand der Unterscheidung Abstammung/Allianz artikuliert; für die historische Analyse eines solchen Falls, in dem die Schwestern des verstorbenen Firmeninhabers mit der Witwe um die Nachfolge konkurrieren, vgl. Daniel Hütter: Das Familienunternehmen als sozialer Interaktionsraum. Ein unternehmensgeschichtlicher Vergleich zweier Unternehmernachfolgen bei Freudenberg & Co. KG und Staengel & Ziller, Eszet Kakaou. Schokoladefabrik Stuttgart-Untertürkheim. In: Gert Kollmer-von Oheimb-Loup u. Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmernachfolge in Geschichte und Gegenwart. Ostfildern 2008, S. 65–84, hier: S. 77–81. »Manchmal deutet die Namensgebung des ältesten Sohnes des Firmenchefs darauf hin, dass hier schon bei der Geburt ein Unternehmensnachfolger bestimmt wurde.« (Schäfer, Familienunternehmen, S. 102) Hillebrand u. Schneider, Porsche, S. 26.

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der Wahl der Namen Louise und Ferdinand wird zugleich an das erste Geschwisterpaar und an das erste Ehepaar des Hauses Porsche erinnert und damit an einen Anfang, den nicht der »Urvater«, sondern das Paar markiert. Das erste Paar des Hauses, Ferdinand Porsche (1875–1951) und Aloisia Kaes (1878–1959), reproduziert das Haus, indem es seine Vornamen auf die beiden Kinder überträgt. Eines der Kinder erzählt: »Ich war der Jüngste der Familie. Außer mir gab es noch meine um fünf Jahre ältere Schwester, die nach meiner Mutter Louise hieß. Ich hatte dafür den Vornamen meines Vaters, Ferdinand, erhalten«.120 Durch die Namensgebung programmiert das Familienunternehmen Bruder und Schwester als dynastisches Paar.

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Ferry Porsche u. Günther Molter: Ferry Porsche. Ein Leben für das Auto. Eine Autobiographie. Stuttgart 1989, S. 27.

Kapitel III Ehen stiften

Die zweite Operation, die das Haus zu seiner Perpetuierung durchführen kann, ist das Stiften von Ehen. Die Ehestifter bürgen für und stützen die eheliche Einheit und sind meist mit einer Ehehälfte verwandt. Um sich den Konstellationen der Eheanbahnung anzunähern, in denen Vaterschwestern und Brautschwestern ebenso involviert sind wie Brautbrüder, beginnt das folgende Kapitel mit Ausführungen über die Figur des kupplerischen Bruders als Frauengeber, wie sie von Claude Lévi-Strauss in Auseinandersetzung mit dem in der Sozialanthropologie virulenten Thema des Avunkulats entwickelt wird.1 Das Interesse für privilegierte Verwandtschaftsbeziehungen lässt sich ebenso in der wilhelminischen Indogermanistik nachweisen, die verschwundene Verwandtschaftsnamen – insbesondere die Etymologie von »Oheim« – zu rekonstruieren beginnt. Das Kapitel verfolgt die These, dass sich die in den sozialanthropologischen Studien entwickelte Terminologie als analytisches Instrumentarium eignet, um neue, exemplarische Interpretationen von Romanen vorzulegen, die von Prozessen der Eheanbahnung und Ehestiftung handeln. So etwa Theodor Fontanes Der Stechlin, Vor dem Sturm, Unwiederbringlich, Graf Petöfy und Die Poggenpuhls. Obwohl sie offenkundig von glückenden und missglückten Heiratsvermittlungen handeln, spielt der Vorgang der Ehestiftung in der Forschungsliteratur zu diesen Romanen keine Rolle. Hierfür lassen sich mehrere Gründe angeben: i) Das Thema Heiratsvermittlung/Stiften einer Ehe wird bereits im 19. Jahrhundert mit Trivialliteratur und Boulevard assoziiert.2 Eine anhand der Unterscheidung klassisch/trivial operierende Germanistik weicht diesem Themenfeld daher aus. ii) Anders verhält es sich mit dem Innenleben und der Psychologie der Ehe, die sich als Themen mühelos in eine literarische Emanzipationsgeschichte des Bürgertums integrieren lassen: Angefangen bei Schlegels Lucinde bis zu Goethes Die Wahlverwandtschaften und den modernen Ehebruchromanen behaupte sich die Liebe gegen die Zwänge der Konvenienzehe. Die angeführten Romane Fontanes werden in diesem literarhistorischen Kontext – teilweise als direkte Antwort auf Die Wahlverwandtschaften – gesehen.3 Die hier versammelten Lektüren werfen

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Zu den Brüdern als Heiratsvermittler in der wilhelminischen Gesellschaft vgl. Marion A. Kaplan: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg 1997, S. 135f. Vgl. etwa die zahlreichen Komödien und Ratgeber zum Themenfeld »Heiratsannonce«, beispielsweise Bernhard Heßlein: Eine Heirathsanzeige oder: Er ist nicht praktisch. Original-Lustspiel in 4 Akten. Berlin 1853. Vgl. Paul Kahl: Theodor Fontanes Unwiederbringlich in der Romantradition der Wahlverwandtschaften. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 375–391, hier: S. 375–379.

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hingegen die Frage auf, welche Beziehung Fontanes Ehegeschichten zu den Prozessen der Eheanbahnung unterhalten. iii) Aufgrund ihres überwiegend adligen Personals wurden die Romane auf Fontanes Zeitdiagnosen und publizistische Stellungnahmen zum gesellschaftlichen Status des (preußischen) Adels bezogen interpretiert. Seine ambivalente – zwischen Kritik und Apologetik schwankende – Haltung zur sich neu formierenden deutschen Nation spiegele sich in diesen Romanen wider, die ein vielschichtiges Bild des deutschen Adels entwerfen.4 Die nur kurz skizzierte bisherige Forschungsperspektive wird von einer modernisierungstheoretischen Sicht auf die wilhelminische Gesellschaft flankiert, die jene als Vorstufe der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts begreift und untersucht.5 Ausgehend davon richtet sich das literaturwissenschaftliche Interesse unter dem Stichwort »Adelsdämmerung« überwiegend auf Phänomene des dynastischen Verfalls und der Überlebensunfähigkeit des Adels in der modernen Gesellschaft.6 Liest man hingegen parallel zu den Romanen Sabeans Studien zur Verwandtschaft im 19. Jahrhundert, (Kap. I/1) werden Sprache und Motive verwandtschaftlicher Kasuistik sichtbar. Sie zeugen von einem intrinsischen Interesse an dynastischen Konstellationen, das die Sozialanthropologie, die Indogermanistik und Fontanes Romane der guten Gesellschaft unter dem Dach der Verwandtschaftsforschung miteinander verbindet.

1.

Die verschwundenen Verwandtschaftsnamen

»[G]eliebte Braut, hochverehrte Brautschwester! Ein andres Wort, um meine Beziehungen zu Gräfin Melusine zu bezeichnen, hat vorläufig die deutsche Sprache nicht, was ich bedaure.« (St 332) Mit diesen Worten richtet sich der Vater des Bräutigams in Fontanes Der Stechlin an die Braut und damit seine Schwiegertochter sowie an deren Schwester, die er aus der Not heraus mit »Brautschwester« anredet. Die Rede über den Mangel an Verwandtschaftsbezeichnungen, die in dieser kurzen Ansprache als Courtoisie daherkommt, kann in Zusammenhang mit einer Reihe von Abhandlungen gesehen werden,

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Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Fontane und der Standesroman: Konvention und Tendenz im Stechlin. In: P.U.H. u. Paul Michael Lützeler (Hg.): Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200–1900. Stuttgart 1979, S. 263–283. Die Evidenz dieses Interpretaments zeigt sich besonders deutlich im Eintrag ›Adel‹. In: Helmuth Nürnberger u. Dietmar Storch: Fontane-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgeschichte. München 2007, S. 20f. und Dietmar Storch: Theodor Fontane – Zeuge seines Jahrhunderts. In: Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger (Hg.): FontaneHandbuch. Stuttgart 2000, S. 103–191. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich. 7. Aufl. Göttingen 1994, S. 11–18. Aufschlussreich ist das Literaturverzeichnis von Dietmar Storchs »Theodor Fontane – Zeuge seines Jahrhunderts«, das mit Theodor Schieder und Hans-Ulrich Wehler die beiden prominentesten Vertreter dieser Forschungsperspektive – zusammengefasst unter dem Schlagwort der Bielefelder Sozialgeschichte – anführt. Über die Wissenschaftsgeschichte der Bielefelder Schule informieren Bettina Hitzer u. Thomas Welskopp (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen. Bielefeld 2010. Gabriele Radecke, Anhang zur GBA 16, S. 143.

die im späten 19. Jahrhundert erscheinen und sich der Systematik und Sprachgeschichte von deutschen sowie indogermanischen Verwandtschaftsbezeichnungen widmen.7 Häufig geht es um Bezeichnungen, die in der Alltagssprache der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr geläufig sind, wie etwa Oheim für den Bruder der Mutter oder Eidam für den Schwiegersohn.8 Das gelehrte Bemühen um lückenlose Etymologien wird damit begründet, dass »für die richtige Auffassung unserer ältesten Familienordnung« die Genealogie der alten Verwandtschaftsnamen unerlässlich sei.9 Dass die alten indogermanischen Namen für eine vergangene Familienordnung stehen, ist wiederum eine Erkenntnis, die sich noch in der neueren Sprachgeschichte und Ethnolinguistik zeigt. Sie wird durch die so genannte Kontraktionsthese der Familie gestützt: Die Nivellierung der Unterscheidung zwischen Base (Vaterschwester) und Muhme (Mutterschwester) und ihre Ersetzung durch das französische tante sowie die Verdrängung von Oheim (Mutterbruder) und Vetter (Vaterbruder) durch das französische oncle, kurz: die »Simplifizierung des Systems der Verwandtschaftsbezeichnungen« wird als »nichts anderes als der Reflex auf die Auflösung der Großfamilie« gewertet.10 Vor dem Hintergrund der neueren (mikro-)historischen Verwandtschaftsforschung, die im ersten Kapitel diskutiert wurde, sind Zweifel angebracht, ob die Vereinfachung der Verwandtschaftsnamen mit dem Verschwinden von bestimmten verwandtschaftlichen Beziehungen gleichzusetzen ist. Vielmehr beschleunigt diese Vereinfachung einen Prozess, in dem durch die Bedeutungserweiterung von »Onkel«, »Tante«, »Nichte« und »Neffe« Beziehungen benennbar werden, für die es lange Zeit keinen Namen gab. Zu den »unbezeichneten« Verwandten zählen die Ehepartner der Geschwister der Eltern, die lexikalisch mit den Geschwistern der Eltern gleichgesetzt, sowie die Kinder der Geschwister des Ehepartners, die wiederum mit den Kindern der Geschwister gleichgesetzt werden. Neben der Aufhebung »väterlicherseits/mütterlicherseits« kommt es somit zur »Neutralisierung der Opposition Blutsverwandtschaft/Heiratsverwandtschaft«, die es ermöglicht, »im System der Verwandtschaftsbezeichnungen semantische Lücken dank der Bedeutungserweiterung bereits vorhandener Verwandtschaftsbezeichnungen auszufüllen«.11 Paradoxerweise führt also der Verlust einer ganzen Reihe von Verwandtschaftsnamen dazu, dass spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weitaus größere Gruppe als zuvor als »Verwandtschaft« adressiert werden kann. Zeitgleich zur indogermanistischen Auseinandersetzung mit den Verwandtschaftsnamen der »Alten« interessieren sich die ersten Sozialanthropologen und Volkskundler

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Wilhelm Deecke: Die deutschen Verwandtschaftsnamen. Weimar 1870; B. Delbrück: Die indogermanischen Verwandtschaftsnamen. Ein Beitrag zur vergleichenden Alterthumskunde. Leipzig 1889 und W. Schoof: Die deutschen Verwandtschaftsnamen. In: Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten 1 (1900), S. 193–298. Vgl. O. Schrader: Über Bezeichnungen der Heiratsverwandtschaft bei den indogermanischen Völkern. In: Indogermanische Forschungen 17 (1904/1905), S. 11–36. Vgl. Schrader, Heiratsverwandtschaft, S. 12. Vgl. Germán Ruipérez: Die strukturelle Umschichtung der Verwandtschaftsbezeichnungen im Deutschen. Ein Beitrag zur historischen Lexikologie, diachronen Semantik und Ethnolinguistik. Marburg 1984, S. 132 und passim. Vgl. Ruipérez, Verwandtschaftsbezeichnungen, S. 123.

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um 1900 für die Verwandtschaftsbezeichnungen der »Primitiven«. Hier wie dort ist es insbesondere der Oheim oder Mutterbruder, der die höchste Aufmerksamkeit auf sich zieht.12 Die indogermanistischen Beiträge lassen sich als variantenreiche Exegesen ein und derselben Stelle aus Tacitus’ Germania zusammenfassen:13 Die Söhne der Schwester sind beim Onkel mütterlicherseits ebenso geachtet wie bei ihrem Vater. Manche (Stämme) halten diese Blutsbande für heiliger und enger und fordern sie daher unter den Geiseln, die ihnen übergeben werden sollen, mit Vorliebe, in der Überzeugung, daß diese die Gesinnung fester und den Familienverband in weiterem Umfang verpflichteten. Doch als Erben und Rechtsnachfolger hat jeder nur die eigenen Söhne, und es gibt auch kein Testament.14

Auch wenn die Sozialanthropologen um 1900 nicht Tacitus anführen, beobachten sie bei den »Primitiven« einen ähnlichen Sonderstatus der Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn.15 So heißt es in einer der frühesten Aufzeichnungen zum Avunkulat über die Haltung des Schwestersohns gegenüber dem Mutterbruder noch recht allgemein: »No respect at all is necessary towards him!«16 Wenig später – 1924 – ist es Alfred R. Radcliffe-Brown, der alle Übergriffe und Respektlosigkeiten auflistet, die sich der Schwestersohn gegenüber dem Mutterbruder erlauben darf: 1. The uterine nephew all through his career is the object of special care on the part of his uncle. 2. When the nephew is sick the mother’s brother sacrifices on his behalf. 3. The nephew is permitted to take many liberties with his mother’s brother; for example, he may go to his uncle’s home and eat up the food that has been prepared for the latter’s meal. 4. The nephew claims some of the property of his mother’s brother when the latter dies, and may sometimes claim one of the widows. 5. When the mother’s brother offers a sacrifice to his ancestors the sister’s son steals and consumes the portion of meat or beer offered to the gods.17

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Vgl. Ruipérez, Verwandtschaftsbezeichnungen, S. 79. Vgl. Ruipérez, Verwandtschaftsbezeichnungen, S. 81. Vgl. hierzu auch Rudolf Much: Oheim. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 69 (1932), S. 46–48, hier: S. 46. Tacitus: Germania. Hg. Gerhard Perl. Berlin 1990, S. 101. (»[S]ororum filiis idem apud avunculum qui ad patrem honor. quidam sanctiorem artioremque hunc nexum sanguinis arbitrantur et in accipiendis obsidibus magis exigunt, tamquam et [in] animum firmius et domum latius teneant. heredes tamen successoresque sui cuique liberi, et nullum testamentum.« [Tacitus, Germania, S. 100]) Für eine wissenschaftshistorische Rekapitulation des avunkularen Problems in der Ethnologie vgl. Maurice Bloch u. Dan Sperber: Kinship and Evolved Psychological Dispositions. The Mother’s Brother Controversy Reconsidered. In: Current Anthropology 43/5 (2002), S. 723– 748, hier: S. 723–726 und Robin Fox: Sisters’ Sons and Monkeys’ Uncles: Six Theories in Search of an Avunculate. In: Ders.: Reproduction and Succession. Studies in Anthropology, Law, and Society. New Brunswick u. a. 1993, S. 191–232. Das Avunkulat hat einen wissenschaftshistorisch ambivalenten Status; es ist gewissermaßen der Totgeglaubte, der länger lebt: »Maurice Bloch remembers how, as a student, he was bored with the mother’s brother controversy and convinced that it was an insignificant aberration in the history of the subject but subsequently, during fieldwork in Madagascar, had to listen all night to a drunk endlessly repeating, ›I am your sister’s son, and it is your duty to give me a drink.‹ He then felt haunted by Radcliffe-Brown.« (Bloch u. Sperber, Kinship and Psychological Dispositions, S. 726) Henri A. Junod: The Life of a South African Tribe. Bd. 1. 2. Aufl. London 1927, S. 232. Alfred R. Radcliffe-Brown: The Mother’s Brother in South Africa. In: Ders.: Structure and Function in Primitive Society. Essays and Addresses. London 1965, S. 15–31, hier: S. 16.

Die erlaubte Respektlosigkeit (permitted disrespect) kennzeichnet die Beziehung als Scherzbeziehung (joking relationship).18 Bei den frühen Ethnologen vor Radcliffe-Brown, die das Avunkulat in patrilinearen Gesellschaften beobachten, wird der Vorzug, den der Mutterbruder seinem Schwestersohn gegenüber dem eigenen Sohn gibt, als institutioneller Rest einer matrilinearen Vergangenheit gedeutet. Das Avunkulat wird in diesen Erklärungen als Reminiszenz eines vergangenen Systems gewertet, in dem Eigentum und Titel über die mütterliche Linie an Töchter vererbt wurden und die Männer sich nicht über ihre Söhne und Ehefrauen, sondern über ihre Schwestersöhne und Schwestern reproduzierten.19 Wenn Männer in diesen Gesellschaften erbten, dann erbten sie nicht als Söhne, sondern als Schwestersöhne ihrer Mutterbrüder. In Abgrenzung zu dieser Hypothese, in der widersprüchliche Beobachtungen (in diesem Fall die Privilegierung einer matrilinear bestimmten Verwandtschaftsbeziehung in einer patrilinearen Gesellschaft) durch Historisierung aufgelöst werden, formuliert Radcliffe-Brown seine Version des avunkularen Rätsels. Als Radcliffe-Brown 1924 in einem Vortrag, den er vor der »South African Association for the Advancement of Science« hält, auf das Verhältnis zwischen Mutterbruder und Schwestersohn zu sprechen kommt, darf er damit rechnen, dass seinen Zuhörern die Besonderheit dieser Beziehung als wissenschaftliches und rechtliches Problem, das die britische Kolonialverwaltung betrifft, vertraut ist.20 Er richtet sich gegen die his-

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Vgl. zur Unterscheidung zwischen Scherz- und Meidungsbeziehung Kap. II/3. Diese Überlegungen gehen auf die wechselvolle Rezeption von Johann Jakob Bachofens materialreiche Studie Das Mutterrecht zurück, die sich auf folgende Formel bringen lässt: Den patriarchalischen Gesellschaften ist ein mutterrechtlicher Zustand vorangegangen, in dem nicht allein verwandtschaftliche Zugehörigkeit, sondern auch politische Macht in der weiblichen Linie, allen voran über die Mutter, weitergegeben wurde. Tatsächlich ist der Schluss von der Matrilinearität auf das Matriarchat trügerisch. Dass sich im Ausgang des 19. Jahrhunderts dennoch eine solche Schlussfolgerung durchsetzen konnte, ist das Ergebnis der folgenreichen Lektüre von Bachofens Das Mutterrecht durch den amerikanischen Ethnologen Lewis Henry Morgan, der in der Gesellschaft der Irokesen Bachofens Thesen bestätigt findet: »Die Irokesen sind nämlich zufällig eine der ganz wenigen matrilinearen Gesellschaften, in denen die Frauen tatsächlich eine erstaunlich starke Stellung haben, nicht nur in der Familie, sondern auch im politischen Leben des Stammes. Von den über hundert Gesellschaften, die man kennt, sind sie wohl sogar die einzige, die man mit einem gewissen Recht als matriarchalisch bezeichnen kann.« (Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften vor der Entstehung staatlicher Herrschaft. Frankfurt/M. 1980, S. 25) Vgl. zur vielseitigen und kontroversen Rezeption der Bachofen-These Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat. Bd. 1. Stuttgart u. a. 1988 und Hans-Jürgen Heinrichs (Hg.): Materialien zu Bachofens ›Das Mutterrecht‹. Frankfurt/M. 1975. Radcliffe-Brown und Lévi-Strauss beziehen sich auf folgende juristische Problemfälle: »The custom, often miscalled bride-purchase and generally known in South Africa as lobola, is, as Mr. Junod has well shown, a payment made in compensation to a girl’s family for her loss when she is taken away in marriage. Now, since in the patriarchal tribes of South Africa a woman belongs to her father’s people, the compensation has to be paid to them. But you will find that in many of the tribes a certain portion of the ›marriage payment‹ is handed over to the mother’s brother of the girl for whom it is paid. […] [T]his being [so etwa bei den BaSotho, N.G.] known as ditsoa. Now the natives state that the ditsoa cattle received by the mother’s brother are really held by him on behalf of his sister’s children. […] I believe that the Native Appeal Court has

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torisierende, oben dargelegte These und verspricht eine bessere Erklärung, die einige weitere eigentümliche Beziehungen betrifft. Um die privilegierte Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn zu deuten, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Vaterschwester und Brudersohn: »I wish to call attention to a correlation that seems to exist between customs relating to the mother’s brother and customs relating to the father’s sister.«21 In Anlehnung an das Avunkulat wird diese Beziehung später als Amitat bezeichnet.22 Im selben Maß, wie sich ein Mann seinem Mutterbruder gegenüber Freiheiten erlauben kann, ist er seiner Vaterschwester Gehorsam schuldig. Als Umkehrung der Scherzbeziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn ist die Beziehung zur Vaterschwester eine Meidungsbeziehung (avoidance relationship). Um die Komplementarität der beiden Haltungen zu erklären, kombiniert Radcliffe-Brown zwei allgemeine, von seinen Fachkollegen anerkannte Prinzipien: i) das Klassifikationsprinzip der Verwandtschaft, das besagt, dass Verwandte einer begrenzten Zahl von Kategorien zugeordnet werden. So gibt es neben dem einzelnen Vater die Klasse der Väter: »In this way the father’s brother comes to be regarded as a sort of father, and his sons are, therefore, relatives of the same kind as brothers«;23 ii) das Prinzip der Homophilie, das eine größere Vertraulichkeit zwischen Personen gleichen Geschlechts besagt. In Übereinstimmung mit diesen zwei Prinzipien könnte der Mutterbruder als eine Art Vater gelten, so wie die Vaterschwester als eine Art Mutter gelten kann – genau das aber ist nicht der Fall, wie Radcliffe-Brown betont. Wenn das Klassifikationsprinzip entweder dem matrioder patrilinearen Prinzip unterliegt, gilt der Mutterbruder eher als »Mutter« und weniger als »Vater«. Das Prinzip der Homophilie scheint jedoch – nach Radcliffe-Browns Gleichung – immer zu gelten, deshalb darf ein Mann vom Mutterbruder als einer Art männlicher Mutter noch mehr Nachsicht und Liebe verlangen als von seiner tatsächlichen

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decided that the payment of ditsoa to the mother’s brother is a voluntary matter and cannot be regarded as a legal obligation, and with that judgment I am in agreement.« (Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 25f.) »Wir alle kennen die Diskussionen über die Natur des Brautpreises oder lobola in Afrika und besonders bei den Bantu. Der lobola ist weder eine Mitgift – da er die Frau nicht begleitet, sondern deren Familie zufällt – noch eine Zahlung; in der Tat ist die Frau niemals Gegenstand einer Aneignung; sie kann weder verkauft noch getötet werden; sie bleibt unter dem eifersüchtigen Schutz ihrer Familie, und wenn sie aus einem triftigen Grund ihren Mann verläßt, kann dieser den lobola nicht zurückfordern. […] Der wesentliche Grund, weshalb er nicht als Zahlung angesehen werden kann, ist die Tatsache, daß er niemals konsumiert wird, es sei denn gelegentlich und teilweise im Hinblick auf die Opferung. Kaum erhalten, wird er erneut investiert in Form einer Gattin für den Bruder oder Vetter der jungen Braut.« (Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 624f.) Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 17. Ähnliche Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Vaterschwester und Brudersohn machen Junod, A South African Tribe, S. 288 und W.H.R. Rivers: The Father’s Sister in Oceania. In: Folklore 21/1 (1910), S. 42–59. Die Bezeichnung »Amitat« ist ein Neologismus, der auf Robert H. Lowie zurückgeht: »[S]ince such specific relations between a father’s sister and her brother’s offspring are fairly frequent in North America and elsewhere, I suggest a special term, ›amitate‹ (Latin amita), to counterbalance the familiar ›avunculate‹.« (Robert H. Lowie [Review]: Truman Michelson [Hg.]: The Narrative of a Southern Cheyenne Woman. In: American Anthropologist 34/3 [1932], S. 534) Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 18.

Mutter. Die scherzhaften Übergriffe sind Kennzeichen eines Überschusses an homophiler Vertraulichkeit. Komplementär dazu gilt die Vaterschwester als eine Art weiblicher Vater. Gemäß dem homophilen Prinzip, das ihm die Meidung von Frauen zugunsten einer affektiven Bindung zu Männern vorschreibt, muss der Mann seiner Vaterschwester mit noch mehr Ehrerbietung begegnen als dem Vater. Radcliffe-Browns Darstellung des Avunkulats setzt ein Verhaltensschema voraus, nach dem das Kind dem Vater Ehrerbietung und Gehorsam schuldet, während es von der Mutter Nachsicht und Liebe erwarten kann. Dieses Schema erklärt, warum von allen Verwandten der mütterlichen Linie, bis hinauf zu ihren Ahnengeistern, Nachsicht zu erwarten, den Verwandten der väterlichen Linie hingegen Gehorsam zu leisten ist: »The patterns that thus arise in relation to the father and the mother are generalised and extended to the kindred on the one side and on the other.«24 So gesehen büßt der Mutterbruder seinen avunkularen Sonderstatus ein und wird in die Linie aller mütterlichen Verwandten männlichen Geschlechts eingereiht: Denkt man das Schema weiter, dürfte sich die Beziehung zwischen einem Jungen und dem Cousin seiner Mutter von der avunkularen Beziehung nicht unterscheiden. Radcliffe-Brown operiert mit der impliziten Annahme über die nachgiebige Natur der Mutter und die autoritäre Natur des Vaters. Sein Vortrag setzt ein mit der rätselhaften Beziehung zwischen Mutterbruder und Schwestersohn und mündet in die kleinfamiliale Ordnung, die mühelos auf mütterliche und väterliche Verwandte ausgeweitet werden kann. Die Ausweitung ist insofern mühelos, als mit ihr keine unterschiedlichen Operationen, sondern lediglich Verhaltensmuster verbunden sind, die der binären Option zwischen Mutter/Liebe und Vater/Ehrfurcht gehorchen. Die Fülle der Verwandtschaftsbeziehungen und Verhaltensmuster wird im Laufe seiner Argumentation durch die Einheit Vater/Mutter/Kind ersetzt und schließlich auf die Bindung zwischen Mutter und Kind verknappt.25 Gegen eine solch kleinfamilial codierte Darstellung verwandtschaftlicher Konstellationen und gegen Radcliffe-Browns Erklärung des Avunkulats formuliert Lévi-Strauss seine Theorie der elementaren Strukturen der Verwandtschaft. In dem Aufsatz »Reflexionen über das Verwandtschaftsatom«, der einen rekapitulierenden Rückblick über die Wissensgeschichte der Verwandtschaft in der Sozialanthropologie enthält, stellt er klar: Gegen Radcliffe-Brown und die meisten Ethnologen seiner Generation galt es aufzuzeigen, daß eine Verwandtschaftsstruktur, so einfach sie sein mag, niemals anhand der biologischen Familie konstruiert werden kann, die aus dem Vater, der Mutter und ihren Kindern besteht, sondern daß sie stets eine von Anfang an gegebene Ehebeziehung impliziert. Diese resultiert aus einer Tatsache, die praktisch in allen menschlichen Gesellschaften besteht: damit ein Mann eine Frau erhält, muß diese direkt oder indirekt von einem anderen Mann abgetreten werden, der in den einfachsten Fällen ihr gegenüber die Position eines Vaters oder eines Bruders hat.26

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Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 25. »The natives consider that the strongest of all social bonds is that between a child and its mother, and therefore by the extension that inevitably takes place there is a very strong bond between the child and its mother’s family.« (Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 30) Lévi-Strauss, Verwandtschaftsatom, S. 99.

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Aus diesem Grund figuriert »der mütterliche Onkel der aus der Ehe hervorgegangenen Kinder, Bruder der anfänglich abgetretenen Frau« in Lévi-Strauss’ Schemata als Geber der Frau.27 Die genealogische Position des avunculus spielt keine Rolle. Um das Rätsel des Avunkulats zu lösen, »braucht [man] also nicht zu erklären, wie der Onkel mütterlicherseits in die Verwandtschaftsstruktur hineingerät: er erscheint dort nicht, er ist unmittelbar gegeben, er ist deren Bedingung.«28 Der Mutterbruder wird demnach ganz allgemein als Frauengeber bestimmt und verliert auch bei Lévi-Strauss seinen Sonderstatus. Denn die Position des Gebers kann auch durch andere Verwandte der Frau besetzt werden, solange es sich dabei um den »Vertreter einer mütterlichen Linie« handelt.29 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist insbesondere ein Aspekt hervorzuheben: Durch die strukturale Definition des Mutterbruders als Frauengeber verabschiedet Lévi-Strauss ein Modell der Verwandtschaft, dem implizit die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenakteuren zugrunde liegt – wobei Vater/Mutter/Kind zu den Hauptakteuren zählen und sich die Seitenverwandten um sie herum gruppieren. Lévi-Strauss verzichtet auf die Ergänzung des Modells, die darin bestehen würde, die kleinfamiliale Einheit um die zusätzliche Position des Frauengebers zu erweitern. Für ihn setzt die Konstitution einer Familie die Existenz eines Frauengebers voraus, die zum strukturbildenden Element von Verwandtschaft wird. Eine solche strukturale Beschreibung der Position des Mutterbruders als Frauengeber erlaubt, die Frage nach dem Status der »Seitenverwandten« in der Literatur des 19. Jahrhunderts neu zu stellen.30 Denn lange Zeit überwogen phänomenologische Beiträge zu Tanten und Onkeln in der Literatur, die oftmals nur die Bedeutung von Rand- und Nebenfiguren in sozialen Konstellationen einklagten.31 Die folgenden Lektüren werden hingegen zeigen, dass die vermeintlichen Nebenfiguren nicht

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Lévi-Strauss, Verwandtschaftsatom, S. 100. Claude Lévi-Strauss: Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie. In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Bd. 1. Frankfurt/M. 1977, S. 43–67, hier: S. 61. Lévi-Strauss, Verwandtschaftsatom, S. 100. Lévi-Strauss’ Formulierung des Verwandtschaftsatoms und des Frauentauschs hat eine Vielzahl kritischer und hymnischer Repliken provoziert, die an dieser Stelle nicht erschöpfend diskutiert werden können. Besonders aufschlussreich ist die äußerst heterogene feministische Diskussion. (Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 2003, S. 68–74 und Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the »Political Economy« of Sex. In: Rayna R. Reiter [Hg.]: Toward an Anthropology of Women. New York u. a. 1975, S. 157–210) Der dekonstruktive Feminismus macht vergessen, dass es überhaupt eine positive feministische Rezeption der Frauentauschtheorie – allen voran durch Simone de Beauvoir – gegeben hat. (Vgl. Erhart, Familienmänner, S. 58f.) Zur Einführung in die Theorie des Frauentauschs vgl. Iris Därmann: Theorien der Gabe zur Einführung. Hamburg 2010, S. 69–100. Vgl. Parnes, Vedder u. Willer, Das Konzept der Generation, S. 164–173. Vgl. Eva Kreissl: Die Tante. Eine Frau mit Eigenschaften. Untersuchung eines Phänomens. Wien 1997. Diese Beobachtung gilt nicht für historische Studien, die strukturale Analysen im Lévi-Strauss’schen Sinne betreiben. (Vgl. Michaela Hohkamp: Eine Tante für alle Fälle. TantenNichten-Beziehungen und ihre Bedeutungen für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Margareth Lanzinger u. Edith Saurer [Hg.]: Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht. Göttingen 2007, S. 147–169 und Stefanie Walther: Zwischen Emotionen und Interessen – Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen als Schwester, Schwägerin und Tante. In: WerkstattGeschichte 46 [2007], S. 25–40)

als Zusatzfunktionen kleinfamilialer Konstellationen zu sehen sind, sondern dynastische Strukturen generieren.

2.

Vaterschwester

Theodor Fontane: Der Stechlin In Fontanes Romanen der guten Gesellschaft, in denen alle Figuren über ihre Fähigkeiten als Causeure bestimmt werden, gibt es eine Figur, die sich der Konversation verweigert: »Tante Adelheid […] war, von alten Zeiten her, eine gute Wirtin […]; aber eine Gabe besaß sie nicht, die, das Gespräch, wie’s in einem engsten Zirkel doch sein sollte, zusammenzufassen. So zerfiel denn die kleine Tafelrunde von Anfang an in drei Gruppen«. (St 105) Ihr Unvermögen, »das Gespräch, wie’s in einem engsten Zirkel doch sein sollte, zusammenzufassen«, ist lediglich ein Bruchteil des umfassenden Unvermögens, in Gesellschaft aufzugehen – ein Unvermögen, das im 19. Jahrhundert mehr und mehr unverheirateten Frauen im Allgemeinen zugeschrieben wird, bevor es auf unverheiratete Männer ausgeweitet wird.32 Und so erfüllt »Tante Adelheid« in jeder Hinsicht die Karikatur der alten Jungfer: »zurückgeblieben, vorweltlich« (St 341) und in ihrer äußeren Erscheinung stets »altmodisch«, »geradezu petrefakt« (St 336) bereitet sie ihren Verwandten peinliche Szenen.33 Das Groteske ihrer Person hat sich auf ihre häusliche Einrichtung übertragen, wo Dinge nebeneinander stehen, die nicht recht zusammenzupassen scheinen: »Die Möbel, lauter Erbschaftstücke, wirkten in dem niedrigen Raume beinahe grotesk, und die schwere Tischdecke, mit einer mächtigen, ziemlich modernen Astrallampe darauf, paßte schlecht zu dem Zeisigbauer am Fenster und noch schlechter zu dem über einem kleinen Klavier hängenden Schlachtenbilde«.34 (St 94) »Riesenhandtücher« hängen in Zimmern,

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Vgl. zu diesem Topos Katrin Baumgarten: Hagestolz und alte Jungfer. Entwicklung, Instrumentalisierung und Fortleben von Klischees und Stereotypen über Unverheiratetgebliebene. Münster u. a. 1997. Zum sozialhistorischen Zusammenhang der Ehelosigkeit vgl. Kuhn, Familienstand: ledig [passim]. »Und die Tanten waren gekommen. – Tante Minna Stroheim und Tante Jettchen Wohl. Wenn ich schon mit meinem Onkel Isaak die Vorstellung von Methusalem verknüpfte, so fällt es mir schwer, einen Begriff von der Antiquität der Tanten zu geben. Sie hatten mit ihren tausendfaltigen, runzeligen Gesichtern etwas so Vorzeitliches und Steinaltes an sich, daß man meinen konnte, sie hätten sich aus einer fremden Welt zu uns verirrt. Sie trugen altmodische schwarzseidene Kleider, die sie seit Generationen besaßen – und breite, schwarzseidene Bänder hingen von ihren Hüten herab, die aus einem früheren Jahrhundert stammten und einer Art von Kübeln glichen. […] [I]ch habe beinahe zu berichten vergessen, daß sie eine Konditorei besaßen.« (Felix Holländer: Unser Haus. Gesammelte Werke. Hg. Willi Flemming. Bd. 6. Rostock 1926, S. 405f.) Holländers Roman Unser Haus wird hier und im Folgenden angeführt, um die konventionellen Topoi der wilhelminischen Literatur, deren sich Fontanes Schriften bedienen, freizulegen. Zum Topos des Erbstücks vgl. Ulrike Vedder: Münzen, Bilder, Frauen, Romane. Fontanes Erbstücke. In: Stephan Braese u. Anne-Kathrin Reulecke (Hg.): Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Berlin 2010, S. 79–95.

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in denen »beinah liliputanische Raumverhältnisse« herrschen. (St 93) Jede Aussage über Adelheid von Stechlin – sei es über ihre Person oder ihre Umgebung – nimmt die Form der Einschränkung an: Die Möbel wirken »beinahe grotesk«, es herrschen »beinah liliputanische Raumverhältnisse«, und sie ist »beinahe um zehn Jahre« (St 93) älter als ihr Bruder. Sie hat »nur immer vorübergehend in einer höheren Gesellschaftssphäre gelebt« und ist nur »unter Umständen […] voller Interesse für ganz bestimmte Personen und Dinge.« (St 95) Alles, was sie umgibt, ist offenbar durch einen Schrumpfungsprozess gegangen: »Eine Treppe führte bis in den ersten Stock hinauf, eigentlich war es nur eine Stiege.« (St 93) Selbst ihr Taufname ist das Ergebnis einer leichten Schrumpfung, denn »im Kirchenbuche […] steht […] Adelheide. Das Schluß-›e‹ ist bei der schlechten Wirtschaft in unserm Hause so mit drauf gegangen.« (St 336) Am Obstgarten ihres Klosters führt ein »sich mehr und mehr verschmälernde[r] Weg« (St 91) vorbei, der »etwas primitiv« (St 91) zu sein scheint. Primitiv – ein Wort, das wiederholt gebraucht wird, um den Besitz der Tante zu kennzeichnen.35 Die primitive Tante meidet die Gesellschaft, und die Gesellschaft meidet sie.36 Doch obwohl der Erzähler in Der Stechlin mit der Beschreibung der gemiedenen alten Jungfer eine Karikatur zeichnet,37 scheint hier noch eine andere, ganz spezifische Meidungsbeziehung durch, die im vorangegangenen Abschnitt skizziert wurde: die Meidung der Vaterschwester durch den Brudersohn.

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»In dem primitiven Kamin – nur eine Steinplatte mit Rauchfang – war ein Holzfeuer angezündet«. (St 94) Es ist bezeichnend, dass hier mit Kamin und Garten jene zwei Bereiche als »primitiv« markiert werden, die auf die ältesten Kulturtechniken der Menschheit verweisen: das Feuermachen und die Kultivierung des Bodens. Die Primitivität der Tante wird nicht zuletzt auf ihre wendischen Vorfahren zurückgeführt. Ihre Mutter, »eine Radegast«, (St 147) hat etwa einen wendischen Namen: »Mistelbusch ist auch noch so Überbleibsel aus heidnischer Zeit her, bei den alten Deutschen gewiß und bei den Wenden wohl auch, für den Fall, daß die Stechlins wirkliche Wenden sind. Wenn ich Tante Adelheid ansehe, glaub’ ich es beinah’. Und wie sie von den Hühnern sprach und den Eiern. Alles so wendisch.« (St 307) Primitiv ist die Vaterschwester dadurch, dass sie tatsächlich die Erste ist: die Erstgeborene. Alle Vaterschwestern, die in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden, sind ältere Schwestern. (Vgl. St 340 u. V 135) Nur ein einziges Mal versucht Fontane, der Primitivität der Tante gerecht zu werden: In Vor dem Sturm schreibt er im Kapitel »Tante Amelie« eine Hommage an die privilegierte Hofdame des Ancien Régime. (Vgl. V 135–143) Dieser Karikatur bedient sich auch Erich Mühsam in seiner so genannten »Tanthologie«. (Vgl. Erich Mühsam: Die Psychologie der Erbtante. Eine Tanthologie aus 25 Einzeldarstellungen als Beitrag zur Lösung der Unsterblichkeits-Frage. Zürich 1905 [für den Hinweis auf diesen Text danke ich Ulrich Bröckling]) In zahlreichen wilhelminischen Autobiographien finden sich »tanthologische« Überlegungen: »In den meisten Familien gab es damals eine unverheiratete Schwester, die hilfreich und geliebt war oder ertragen werden mußte«. (Ricarda Huch: Autobiographische Schriften. Gesammelte Werke. Hg. Wilhelm Emrich unter Mitarbeit von Bernd Balzer. Bd. 11. Köln 1974, S. 58) Vgl. zur Vaterschwester als Erzieherin Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre. München 1909, S. 29–42.

◀ Abb. 3: Das Amitat

Adelheid von Stechlin ist gegenüber ihrem Neffen, Woldemar von Stechlin, eine solche Vaterschwester: »If she selects a wife for him he must marry her without even venturing to demur or to voice any objection; and so throughout his life. His father’s sister is sacred to him; her word is his law; and one of the greatest offences of which he could be guilty would be to show himself lacking in respect to her.«38 Sowohl in den sozialanthropologischen Überlegungen zum »Amitat« als auch bei Fontane scheint das Stiften einer Ehe die Hauptaufgabe der Vaterschwester zu sein: »[I]n dich [Woldemar von Stechlin, N.G.] ist sie wie vernarrt, für dich hat sie Geld und Liebe. Was davon wichtiger ist, stehe dahin; aber so viel ist gewiß, ohne sie wär’ es überhaupt gar nicht gegangen, ich meine dein Leben in deinem Regiment. Also wir haben ihr zu danken, und weil sie das gerade so gut weiß, wie wir, oder vielleicht noch ein bißchen besser, gerade deshalb wird sie ungeduldig; sie will Thaten sehen, was vom Weiberstandpunkt aus allemal so viel heißt wie Verheiratung.« (St 56f.) An das Gesetz der Vaterschwester erinnert in Der Stechlin das Unbehagen, das der Brudersohn empfindet, als er sich gewissermaßen widergesetzlich für eine Frau entscheidet, die nicht die Vaterschwester für ihn gewählt hat. (Vgl. St 187) Nach seiner Heirat mit Armgard von Barby, an deren Feier die Vaterschwester nicht teilnimmt, taucht sie erst wieder im Zusammenhang mit der Krankheit und dem Tod des Bruders auf. Der Erzähler beschreibt sie erst angesichts des toten Bruders als Person und verzichtet dabei auf karikatureske Elemente – wenn er auch ihre »Würde« durch den Zusatz »mit einer gewissen Würde« einschränkt: »Der Tote war auf dem durch Palmen und Lorbeer in eine grüne Halle umgewandelten Hausflur aufgebahrt. Adelheid machte die Honneurs, und ihre hohen Jahre, noch mehr aber ihr Selbstbewußtsein, ließen sie die ihr zuständige Rolle mit einer gewissen Würde durchführen.« (St 446) Es ist kein Zufall, dass die Vaterschwester erst im Rahmen der Beerdigung des Bruders die Karikatur verlässt. Die Schwester und das Begräbnis des Bruders bilden ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die Literaturgeschichte des Hauses zieht und bei Fontane noch nicht sentimentalisiert wird.39 Die Schwester am Grabe des Bruders stellt die Urszene des Hauses dar: In ihr wird nicht der familialen Reproduktion durch die Geburt ein Bild gegeben,

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Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 17. Vgl. hierzu auch die Parallelszene in Die Poggenpuhls, wo allerdings nicht die Schwester, sondern die Nichte am Grabe des Erbonkels trauert. (P 101–115)

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sondern der sozialen Reproduktion, die durch den Todesfall erzwungen wird. Der Tote hinterlässt eine Lücke, die nur durch Operationen des Hauses (Adoptieren, Ehen stiften und Schenken) geschlossen werden kann. Die metonymische Verknüpfung der Schwester mit dem Tod kommt in der Urszene des Hauses zum Ausdruck. Sie klingt immer dann an, wenn von ihr als »Erbtante« gesprochen wird, mit deren Tod die möglichen Erben rechnen. Werden Tanten erst durch Kinderlosigkeit zu Erbtanten, ist Kinderlosigkeit die notwendige Bedingung der Hauspolitik – unabhängig davon, ob sie als Mangel oder Privileg gedeutet wird.40 Wenn sich das Haus als eine Körperschaft definieren lässt, die – nach Lévi-Strauss – die Austauschbarkeit von Abstammung und Allianz gewährleistet, dann verwandeln sich kinderlose Vaterschwestern in dem Moment, in dem sie die Position der Erbtante einnehmen, in Agentinnen des Hauses. Sie ersetzen über das Erbe, das sie dem Brudersohn vermachen, Abstammung (Reproduktion durch eigene Kinder) durch Allianz (Reproduktion durch fremde Kinder) und umgekehrt Allianz (Reproduktion durch Ehe) durch Abstammung (Reproduktion durch Geschwisterschaft).41 So gesehen stehen Vaterschwester und Mutterbruder in einem Verhältnis der Komplementarität wie auch Korrespondenz: Die Vaterschwester komplementiert den Mutterbruder, weil der Brudersohn jene meidet, während er diesen scherzend aufsucht; sie korrespondiert mit ihm, insofern sie sich über den Bruder und dessen Nachkommen zu reproduzieren sucht, so wie sich der Mutterbruder über die Schwester und deren Nachkommen reproduziert. Beide Formen sozialer Reproduktion sind in Der Stechlin als Reste vorhanden. So wird Dubslav von Stechlin nach seinem Mutterbruder benannt: »Gewiß, meine Mutter war eine Pommersche […], und ihr Bruder, nun ja, der hieß Dubslav. Und so war denn gegen den Namen schon um des Onkels willen nicht viel einzuwenden, und um so weniger, als er ein Erbonkel war.« (St 9f.) Parallel dazu macht Adelheid von Stechlin den Brudersohn, Woldemar, zu ihrem Liebling, dessen Ausbildung sie finanziert: In ihn »ist sie wie vernarrt,« für ihn »hat sie Geld und Liebe.« (St 56) Das Erbe der Erbtanten und Erbonkel bildet zwar nicht mehr die bindende Grundlage einer kalkulierten Ehe, aber es ist noch immer in Form von Namen, sporadischen Geldgeschenken, Ausbildungsbeihilfen und Bildern präsent, die

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Die Kinderlosigkeit der Adelheid von Stechlin ist an ihre Ehelosigkeit geknüpft, die als Ergebnis einer missglückten Liebesaffäre erzählt wird: »[S]eine Schwester Adelheid, in jenen Tagen noch leidlich gut bei Weg, aber auch schon hart und herbe wie heute, so daß sie den reizenden Kerl, den Baron Krech, bloß weil er über ein schon halbabgestorbenes ›Verhältnis‹ und eine freilich noch fortlebende Spielschuld verfügte, durch ihre Tugend weggegrault hatte.« (St 266) Im Gegensatz dazu ist die Kinderlosigkeit der Amelie Pudagla in Vor dem Sturm eine bewusste Wahl: »Eine Spezialfreude gewährte ihm [dem Prinzen, N.G.] die Gräfin noch dadurch, daß sie für ihren Gemahl dieselbe heitere Kühle hatte wie für alle andern Mitglieder des Rheinsberger Hofes und die Frage nach der Fortdauer des Hauses Pudagla mit niegestörter Gleichgiltigkeit behandelte.« (V 137) Sie urteilt: »Kindersinn! Bêtise allemande.« (V 160) Der Begriff der Allianz wird in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Ehe angewendet (Lévi-Strauss), sondern auf alle Bündnisse, die Verwandtschaft herstellen und bekräftigen.

an das primitive Gesetz der Vaterschwester – »[h]is father’s sister is sacred to him« –42 erinnern.43

3.

Brautschwester

Theodor Fontane: Der Stechlin Woldemar von Stechlin erhält in der Kavallerie der kaiserlichen Armee eine kostspielige Ausbildung zum Gardeoffizier, obwohl »die Stechline Leute von schwachen Mitteln« sind. (St 11) Er verdankt sie – wie oben beschrieben – einer reichen Patin, seiner Tante. Er ist nicht nur bei der Armee ein »Glückspilz«, (St 251) »Liebling bei jedem«, (St 22) sondern versteht es, innerhalb kurzer Zeit in den besten Häusern Berlins zu verkehren. Damit nicht genug: Als »Verzug« (St 132) des Grafen von Barby nimmt er bald in dessen Haus eine »intime Stellung« (St 284) ein, und da »in einem solchen Hause verkehren und sich mit einer Tochter verloben so ziemlich ein und dasselbe ist«, (St 123) verlobt er sich bald mit einer Tochter des Hauses.44

Abb. 4: Die Aufnahme in das Haus Barby

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Vgl. Radcliffe-Brown, Mother’s Brother, S. 17. Vgl. die folgende Konstellation in Vor dem Sturm, in der die Erbtante – eine Mutterschwester – in ihrem Testament den Schwestersohn an das Haus bindet: »[U]nser Rittmeister war aber nicht bloß der Sohn seines Vaters, sondern auch der Neffe seiner Tante, eines alten Fräuleins von Zieten, die als Konventualin von Kloster Heiligengrabe ihrem Liebling, eben unserem Jürgaß, ihr ganzes, ziemlich bedeutendes Vermögen testamentarisch hinterlassen hatte. In diesem Testament hieß es wörtlich: ›In Anbetracht, daß mein Neffe Dagobert von Jürgaß, einziger Sohn meiner geliebten Schwester Adelgunde von Zieten, verehelichten von Jürgaß, durch seiner Mutter Blut, insonderheit auch durch Bildung des Geistes und Körpers ein echter Zieten ist, vermache ich besagtem Neffen, Rittmeister im Göckingkschen (ehemals Zietenschen) Husarenregiment, in der Voraussetzung, daß er das Zietensche, so Gott will, immer ausbilden und in Ehren halten will, mein gesamtes Barvermögen, samt einem Bildnis meines Bruders, des Generallieutenants Hans Joachim von Zieten, und bitte Gott, meinen lieben Neffen in seinem lutherischen Glauben und in der Treue zu seinem Königshause erhalten zu wollen.‹« (V 408) (Hervorhebung von mir, N.G.) »Er verkehrte jetzt täglich im Hause, und alle Zeichen deuteten darauf hin, daß er sich demnächst erklären würde. Es fragte sich nur noch, auf wen die Wahl gefallen war.« (Holländer, Unser Haus, S. 438)

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Ehrgeiz und »Weltlust«, zwei Kräfte, die jene Figuren antreiben, die als »Lieblinge« Karriere machen,45 scheinen Woldemar von Stechlin zu fehlen. Seine Karriere endet mit der ihn beschränkenden Einsicht: »Liebenswürdig und bescheiden wie er war, stand ihm längst fest, daß er nicht berufen sei, jemals eine Generalstabsgröße zu werden, während das alte märkische Junkertum, von dem frei zu sein er sich eingebildet hatte, sich allmälig in ihm zu regen begann. […] So reichte er denn seine Demission ein.« (St 461) Seine Heirat, das Ausscheiden aus der Armee und der Rückzug aus Berlin bleiben hinter den Erwartungen zurück, die einerseits seine Tante, als Agentin des Hauses Stechlin, andererseits die übrigen Gardeoffiziere an seine Zukunft stellen: Die Offiziere sagen ihm eine diplomatische Karriere voraus, die in der Übersiedlung nach London und der Heirat einer englischen Herzogstochter gipfeln würde.46 Weder die exogamen Wünsche der Freunde noch die endogamen Wünsche der Tante werden erfüllt, die dem Neffen noch vor der Verlobung geraten hatte: »[G]ieb […] die Heimat nicht auf, halte Dich […] an das Nächste. Schon unsre Provinzen sind so sehr verschieden. […] [H]eirate heimisch und heirate lutherisch.« (St 188ff.) Zwischen diesen beiden Heiratsoptionen entscheidet sich Woldemar von Stechlin für eine mittlere Lösung, für die »Heirat in rechter Entfernung« (le mariage à bonne distance).47 Das Haus Barby verfügt über zwei heiratsfähige Töchter. Was die Wahl Woldemar von Stechlins angeht, muss jeder Versuch, diese aus individuellen Eigenschaften der Schwestern zu erklären, scheitern, da nach den Regeln des Hauses die eine heiratsfähige Tochter so gut wie die andere sein kann. Dass es um das Haus und nicht um ein exklusives Liebesverhältnis geht, zeigt sich daran, dass die beiden Schwestern um den neuen Liebling des Vaters nicht konkurrieren. Die Wahl der Braut ist dem Zufall überlassen, die Verlobung gleicht einer Verlosung und kann als solche aus dem Erzählten ausgespart werden: »Ist es die oder ist es die? […] Wenn man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn is es wieder so.«48 (St 134) Das Verhältnis des Paares ist affektiv schwach besetzt und scheint einer zusätzlichen Stütze zu bedürfen. Nach der Verlobung in Berlin unternimmt Woldemar eine Reise zu seinem Vater, um ihm die Braut vorzustellen. Das Brautpaar wird von der Brautschwester begleitet. Sie wird dort in Abwesenheit der Anderen mit dem ehemaligen Hauslehrer Woldemars

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So etwa Franziska Franz in Graf Petöfy: »[D]ie Weltlust reißt uns hin und nicht zum wenigsten der Ehrgeiz. Ja, der Ehrgeiz ist ein großer Versucher.« (G 97) »Donnerwetter, Stechlin, wo will das noch mit Ihnen hinaus? Sie werden natürlich Londoner Militärattaché, sagen wir in einem halben Jahr, und in ebensoviel Zeit haben Sie sich drüben sportlich eingelebt und etablieren sich als Sieger in einem Steeple Chase […]. Und vierzehn Tage nach Ihrem ersten großen Sportsiege verloben Sie sich mit Ruth Russel oder mit Geraldine Cavendish, haben den Bedforder- oder den Devonshire-Herzog als Rückendeckung und gehen als Generalgouverneur nach Mittelafrika, links die Zwerge, rechts die Menschenfresser.« (St 250) Zur »Heirat in rechter Entfernung« vgl. Lévi-Strauss: Der Weg der Masken. Frankfurt/M. 2004, S. 111. (Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 119) »›Bin ich verlobt?‹ fragte er sich, als er endlich das Licht gelöscht hatte.« (V 588) »Immerhin – an den Knöpfen konnte man es ja abzählen. – Gerade für Else – ungerade für Grete.« (Holländer, Unser Haus, S. 439)

einen »Pakt« schließen. Worum geht es? Ähnlich wie in Unwiederbringlich, wo die Ehe vom Brautbruder beobachtet und gelenkt wird,49 ist es hier die Brautschwester, die eine Charakterstudie ihres künftigen Schwagers entwirft. So schwach und »bestimmbar« die Ehe als Institution zu sein scheint, so schwach und bestimmbar sei auch der Charakter des Schwagers: »Mein Vertrauen zu meinem Schwager ist unbegrenzt. Er hat einen edeln Charakter, aber ich weiß nicht, ob er auch einen festen Charakter hat. Er ist feinen Sinnes, und wer fein ist, ist oft bestimmbar. Er ist auch nicht geistig bedeutend genug, um sich gegen abweichende Meinungen, gegen Irrtümer und Standesvorurteile wehren zu können. Er bedarf der Stütze. Diese Stütze sind Sie [der ehemalige Hauslehrer, N.G.] meinem Schwager Woldemar von Jugend auf gewesen. Und um was ich jetzt bitte, das heißt: ›Seien Sie’s ferner‹.« (St 320f.) Die Brautschwester erweist sich als eine Schwiegerverwandte, die im Hintergrund Gespräche zur Lenkung und Sicherung fremder Allianzen zu führen beliebt. Sie scheint für diese Rolle besonders geeignet zu sein, kann sie doch selbst auf eine Ehe zurückblicken – über deren Ende jedoch nur elliptische Aussagen kursieren. So wird sie gelegentlich als Witwe bezeichnet, obwohl sie in Wahrheit geschieden ist: »Denn auch die ältere, wiewohl schon über dreißig, ist sehr reizend und zum Überfluß auch noch Witwe – das heißt eigentlich nicht Witwe, sondern richtiger eine gleich nach der Ehe geschiedene Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet.«50 (St 124) Der Scheidungsgrund bleibt ihr Geheimnis.51 Sie legt nach der Scheidung den Namen des Ehemanns ab, ohne wieder nach dem Namen ihres Vaters gerufen zu werden.52 Sie kehrt aus der Ehe als »Doppelgräfin« zurück, »und alle Welt nennt sie jetzt nur noch bei ihrem Vornamen« – Melusine. (St 125) Melusine – mit dem Taufnamen der erstgeborenen Tochter des Grafen von Barby verbindet sich ein Erzählstoff, der Fontane bekannt war, und dessen Spuren sich zu einem der ersten literarhistorischen Befunde des Hauses zurückverfolgen lassen: Thürings von Ringoltingen Melusine, einem Prosaroman, der 1456 in Bern entsteht. So wie sich in der Kategorie des Hauses patrilineare und matrilineare Elemente die Waage halten, erzählt Melusine von einer Genealogie, deren Anfang sowohl Melusines Vater als auch Melusine selbst als Mutter markiert. Schließlich verweist der Name auf Lusinien, ein

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Vgl. Abschnitt 5 des vorliegenden Kapitels. Ohnehin wird über den Witwenstatus gern spekuliert: »Weil Witib vor Jungfrau geht. Ich weiß wohl, es ist immer viel die Rede von virginity, aber widow ist mehr als virgin.« (St 170) »Ich verheiratete mich […] in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti […] hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren. […] Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.« (St 351) Eine ähnliche Abkehr vom Namen des Ehemanns findet sich in Vor dem Sturm: Sidonie von Pudagla verlässt den Grafen Ladalinski und nimmt wieder ihren Geburtsnamen an: »Das Blatt entfiel ihm. Jedes Wort eine Demütigung, selbst ihre Namensunterschrift: Sidonie von P. Sie hatte also den Namen ihrer eigenen Familie wieder angenommen und strich die sechs Jahre, die sie an seiner Seite verlebt hatte, wie ein unbequemes Intermezzo aus.« (V 327)

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Schloss, dessen Namensgeberin und Bauherrin Melusine selbst ist.53 Melusine ist ein Roman des Hauses, weil in ihm beide genealogischen Anfänge (über die Mutter und über den Vater) erzählt werden. Dieser Punkt ist hervorzuheben, da in der Forschungsliteratur die Tendenz besteht, die beiden genealogischen Erzählungen gegeneinander auszuspielen und die Ahnmutterschaft in eine Verfallserzählung umzuschreiben: »Wo Töchter waren, werden Söhne substituiert.«54 Thüring von Ringoltingen verwendet als Vorlage das gleichnamige französische Versepos des Couldrette, das er für die deutsche Übersetzung und Bearbeitung in die Form des Prosaromans überführt. Die Vorlage des Melusine-Stoffs und wiederum deren Vorlage entstehen beide als Auftragswerke für ein Haus. Couldrette und Jean d’Arras, die Verfasser der französischen Versepen, schreiben Chroniken des Hauses Lusignan, dessen Gründerin Melusine sein soll. »Die Tendenz hochmittelalterlicher Epik, den Helden in einen genealogischen Zusammenhang einzubetten, ist hier verabsolutiert, denn es gibt im strengen Sinne keinen Helden mehr: Held ist das Haus.«55 In Abkehr von den französischen Versepen, die für ein Haus geschrieben werden und den Gattungsregeln der Chronik gehorchen, beansprucht Thüring von Ringoltingen, eine »hystori« zu schreiben, die als Gründungsurkunde der gesamten Oberschicht gelten kann.56 Das frühere Genre der Chronik und das neue Genre der Historie werden im Stoff der Melusine als Ahnherrin amalgamiert. Der intertextuelle Verweis auf den Melusine-Stoff in Der Stechlin reicht somit über das Motiv der gefährlichen Sirene hinaus, das beide Figuren miteinander mythologisch verbindet. Wenn die Melusinen für genealogische Ahninnen stehen, lässt sich vermuten, dass auch Fontanes Der Stechlin von der Perpetuität eines Hauses erzählt, dessen Ahnin die Brautschwester ist. Obwohl es also naheliegt, den Roman als die literarische Chronik der Stechline zu lesen, deren dynastische Perpetuität am Ende durch den Einzug des Brautpaars ins alte Schloss gesichert scheint, spricht einiges für eine alternative Lektüre: So ist es beispielsweise auffällig, dass Woldemar von Stechlins Karriere Parallelen zur Lebensgeschichte seines Schwiegervaters, Graf Barby, aufweist. Es handelt sich dabei um eine klassische Adoptionsgeschichte,57 insofern sie davon erzählt, wie Graf Barby seine eigenen Güter verlässt, um sich den Gütern seines Schwiegervaters zu widmen: In einem Badeort, in dem er sich von einer Verletzung zu erholen hofft, lernt Graf Barby

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Vgl. Jan-Dirk Müller (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1990, S. 46. In Fontanes Romanen gibt es eine Reihe von weiblichen Melusine-Figuren. (Vgl. Hubert Ohl: Melusine als Mythologem bei Theodor Fontane. In: Fontane-Blätter 6/4 [1986], S. 426–440) Walburga Hülk: Melusine-Lusignan: Fiktive Genealogie im Namen der Mutter. Zum altfranzösischen Melusinenstoff. In: Irmgard Roebling (Hg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler 1992, S. 35–48, hier: S. 43. Jan-Dirk Müller: Melusine in Bern. Zum Problem der »Verbürgerlichung« höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Gert Kaiser (Hg.): Literatur – Publikum – historischer Kontext. Bern 1977, S. 29–77, hier: S. 49. Die Chronik eines Hauses kann zahlreiche Legenden in sich aufnehmen. (Vgl. Jacques Le Goff: Melusine – Mutter und Urbarmacherin. In: Ders.: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a. 1984, S. 147–174, hier: S. 153f.) Vgl. Müller, Melusine in Bern, S. 55. Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel II.

den künftigen Brautvater, einen Freiherrn von Planta, kennen. Die Art der Verletzung und wie er sie sich zugezogen hat lassen vermuten, dass es dem Erzähler darauf ankommt, dieser Figur den Nimbus zu nehmen, der in der deutschen Literatur – angefangen bei Georg Büchners Woyzeck bis zu Thomas Manns Buddenbrooks – die Offiziere, Rittmeister und Tambourmajore umgibt. So zieht er sich die Verletzung nicht etwa im Krieg, sondern auf einem Kavalleriemanöver zu. Er stürzt von seinem Pferd und bricht sich »den Oberschenkel, unmittelbar unter der Hüfte«. (St 144) Auf diese Weise versehrt ist er empfänglich für die Vorschläge des Freiherrn von Planta, »der ihn alsbald auf seine Besitzungen einlud. Weil diese ganz in der Nähe lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an. Hier blieb er länger als erwartet, und als er das schön gelegene Bergschloß wieder verließ, war er mit der Tochter und Erbin des Hauses verlobt.« (St 144)

Abb. 5: Die Adoption

Wenig später – nach dem Tod der Erbtochter von Planta, die ihm zwei Töchter hinterlässt – quittiert er den militärischen Dienst, geht »zunächst auf die Plantaschen Güter nach Graubünden und dann weiter nach Süden, um sich in Florenz seßhaft zu machen.« (St 145) Die Heirat einer Erbtochter und das Desinteresse, das er seinen eigenen Gütern entgegenbringt,58 kennzeichnen Graf Barby als Adoptanden, der das eigene Haus verlässt, um im aufnehmenden Haus eine genealogische Lücke zu füllen. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich das Rätsel um den letzten Satz des Romans lösen: »[E]s ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.« (St 462) Der Satz stammt aus der Feder der Brautschwester, in deren Vornamen eine Kette von dynastischen Namen – Planta, Barby, Ghiberti – versenkt wird. Sie fügt dieser Kette den Namen Stechlin hinzu und annektiert – ihrem eigenen Namen Melusine gemäß – den See als ihren dynastischen Grund.

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»Sich auf das eine oder andre seiner Elbgüter zu begeben, widerstand ihm auch jetzt noch«. (St 146)

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4.

Bräutigamschwester I

Theodor Fontane: Vor dem Sturm Theodor Fontanes Vor dem Sturm verknüpft das Geschick von drei dynastischen Häusern zu einem dichten Geflecht von verwandtschaftlichen Beziehungen, indem der Roman zu Beginn eine »Doppelheirat« (V 330) in Aussicht stellt.59

Abb. 6: Die liaison double

Die »Hof- und Hauspolitik« (V 397) wird von Amelie von Pudagla, geborene Vitzewitz, und Alexander Ladalinski verfolgt, die über das Haus Pudagla verschwägert sind. Beide Paten der liaison double können auf eine höfische Karriere zurückblicken: Amelie von Pudagla kommt als Gräfin Pudagla an den Rheinsberger Hof, den der jüngere Bruder des Soldatenkönigs unterhält. Am Hof ist sie der »andauernden Gunst« (V 137) des Prinzen sicher. Alexander Ladalinski wird nach der Auflösung des polnischen Staates an den Berliner Hof berufen, an dem er sich Schritt für Schritt als Preuße zu assimilieren beginnt: »In kürzester Frist hatte Ladalinski sich in den neuen Verhältnissen zurechtgefunden. […] Er war bald preußischer als die Preußen selbst.« (V 328f.) Im Unterschied zur Gräfin Pudagla fühlt sich Graf Ladalinski durch seine Zugehörigkeit zum Berliner Hof dem preußischen Staat verbunden. Seine »Staatszugehörigkeit« (V 329) ersetzt nach und nach die Loyalität zum eigenen Haus. Sein Haus ist katholisch, und er tritt »in dem richtigen Gefühl, erst dadurch seine Staatszugehörigkeit zu beweisen, zum Protestantismus über. […] Er schien glücklich in seinem Adoptivvaterlande, […] und fest entschlossen, in seine alte Heimat […] nicht zurückzukehren, hielt er sich zu den prinzlichen Höfen, um von diesem festen, gegebenen Punkte aus in allmählich immer intimer werdende

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Im sozialen Imaginären der wilhelminischen Gesellschaft ist die Doppelheirat zwischen Geschwisterpaaren ein Topos. Als Beispiel einer gelungenen Doppelheirat vgl. Eugenie Marlitt [vollendet von Wilhelmine Heimburg]: Das Eulenhaus. Gesammelte Romane und Novellen. Bd. 9. Leipzig 1890.

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Beziehungen zu dem Adel des Landes hineinzuwachsen.«60 (V 329) Der von ihm geschmiedete Heiratsplan, der sein Haus an die Vitzewitzes »ketten« (V 159) soll, dient diesem Assimilationsprozess. Doch der Plan misslingt. Am Ende wird Tubal Ladalinski gestorben, Kathinka Ladalinski mit einem polnischen Grafen geflohen sein. Lewin von Vitzewitz ehelicht eine Marie Kniehase, Renate von Vitzewitz bleibt unverheiratet und zieht sich in ein Kloster zurück. Die liaison double bleibt erfolglos, weil sie von Anfang an das Hauskalkül mit höfischen Ambitionen vermischt. Nach dem Verlust seiner Nachkommen verharrt Ladalinski im Status eines adoptierten Günstlings des preußischen Staates. Auf unheimliche Weise verläuft sein Leben nach den Regeln der Adoption, die ihm verbieten – wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde –, das verlassene (eigene) Haus fortzusetzen. Vor dem Sturm schließt dennoch in der Sprache des Hauses. Statt der Doppelheirat kommt es zur Hochzeit zwischen Lewin von Vitzewitz und Marie Kniehase. Die Figur der Marie ist unverkennbar an Goethes Mignon angelehnt.61 So wie Mignon mit dem Harfner durch die Lande zieht und ihren »Eiertanz« aufführt,62 zieht Marie mit einem »starken Mann« durch die Mark und führt den »Schaltanz« (V 74) auf. Während aber Mignon als Kind eines Geschwisterpaars auf die Welt kommt, ist Marie das Ergebnis einer Mesalliance: Ihr Vater, ein Schauspieler, hatte einst eine »Tochter aus gutem Hause (wider den Willen der Eltern)« (V 75) geheiratet. Der Inzest wird durch ständische Mobilität ersetzt. Auf dem Weg zum Status der Gräfin von Vitzewitz löst Marie zunächst das ein, was der Name Mignon verspricht: »Ehe noch der erste Winter um war, war sie der Liebling des Dorfes«. (V 76) Die Waise wird vom kinderlosen Ehepaar Kniehase adoptiert und bekommt einen bürgerlichen Namen: Aus Marie wird Marie Kniehase. Schließlich nimmt sie die Herrin von Vitzewitz als »Spiel- und Schulkameradin« ihrer Tochter, als »Pflegling« (V 78) in ihr Haus auf. Der Übergang vom Status der Pflegetochter des Hauses – und »Schwester« (V 80) von Lewin und Renate von Vitzewitz – zum Status der Herrin von Hohen-Vietz verläuft über mehrere Stationen. Die erste Aufnahme scheint weitere Aufnahmen auszulösen. Mehr noch – selbst Maries Adoption durch das Ehepaar Kniehase verweist auf vergangene Aufnahmen, denn auch Maries Adoptivvater wurde seinerzeit als fremder Kolonist in das Dorf aufgenommen. (Vgl. V 71–74) Die Pflegetochter wiederholt und variiert mit ihrer Aufnahme in das Haus Vitzewitz den Aufstieg des Vaters vom fremden Pfälzer in einem Wendendorf zum Vorsteher der Dorfgemeinde als Schulze.

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An anderer Stelle heißt es: »Ich bedarf der Gunst des Königs, der Prinzen; wird mir diese Gunst genommen, so bin ich zum zweiten Male heimatlos.« (V 400) Vgl. Uwe Hebekus: Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane. Tübingen 2003, S. 185; Bernd Witte: Ein preußisches Wintermärchen. Theodor Fontanes erster Roman Vor dem Sturm. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 2. Würzburg 2000, S. 143–155, hier: S. 147. Überraschenderweise fehlt dieser Verweis in Jürgen von Stackelberg: Der verschwiegene Fontane. Zur Figur der Marie in Vor dem Sturm. Germanisch-romanische Monatsschrift 57/3 (2007), S. 357–363. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Werke. Hg. Erich Trunz. Bd. 7. 13. Aufl. München 1994, S. 115f.

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Die Missheirat zwischen Marie Kniehase und Lewin von Vitzewitz wird am Ende des Romans in den Worten Bammes, eines märkischen Generals, als Ausweg aus der Heiratspraxis des Adels gefeiert: »Wetter, Vitzewitz, das gibt eine Rasse. […] Frisches Blut […], frisches Blut, Vitzewitz, das ist die Hauptsache. […] Ich perhorresziere dies ganze Vettern- und Muhmenprinzip, und am meisten, wenn es ans Heiraten und Fortpflanzen geht. […] Wie ging es bisher? Ein Zieten eine Bamme, ein Bamme eine Zieten. Und was kam schließlich dabei heraus? […] Ich darf so sprechen, Vitzewitz, denn die Bammes sterben mit mir aus, ein Ereignis, um das der Vorhang des Tempels nicht zerreißen wird, und nicht einmal ein Namensvetter ist da, den ich in seinem Standesbewußtsein kränken oder schädigen könnte.« (V 705f.) Die Worte des Generals sind Teil eines im 19. Jahrhundert sich rasch durchsetzenden Diskurses, der – den vermeintlichen Verfall des Adels in Worte darwinistischer Sozialtheorie kleidend – auf rassebiologische Konzepte vorausweist.63 Nachträglich wird die missglückte liaison double in das Licht einer inzestuösen Verbindung getaucht, indem die adlige Heiratspraxis auf das »Vetternund Muhmenprinzip« verknappt wird. Die Unterscheidung zwischen endogamen und exogamen Verbindungen verläuft dagegen entlang der Standesgrenzen und bedient sich dennoch eines dynastischen Vokabulars. Der bereits angeführte General von Bamme, Fürsprecher einer modernisierten adligen Heiratspolitik, erwähnt in seiner Rede die Namensvettern, die er in ihrem »Standesbewußtsein kränken oder schädigen könnte«, (V 706) und spielt darauf an, dass es in Hauspolitiken die übrigen Verwandten sind, die über die Legitimation der einzelnen Allianzen wachen. Unmittelbar betroffen sind diejenigen, die selbst noch auf eine glückliche Partie hoffen – in Vor dem Sturm ist es die unverheiratete Schwester Lewins, Renate von Vitzewitz, deren Status, Bammes Worten zufolge, durch die Missheirat des Bruders am stärksten beschädigt werden würde.64 Dennoch ist an keiner Stelle des Romans vom

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Die Erneuerung des Eigenen durch Aneignung des Fremden ist im 19. Jahrhundert ein Topos: »Vielleicht brauchen die begabteren Frauen Stallknechte, damit die Rasse nicht degeneriert – wohlverstanden in dem Sinne, als gerade die Stallknechte (was tut der Name?) die männliche Kraft verkörpern. […] Sind das Blasphemien? Oder wollen wir angesichts dieser Tatsachen den Sinn des Lebens, der auf stete Erneuerung des Blutes hinausläuft, absichtlich fälschen? Sind wir so verlogen und prüde, daß wir die Gesetze unserer Existenz verleugnen?« (Holländer, Unser Haus, S. 526) Das »Lob der Vermischung« (Jean-Luc Nancy, ich danke Eva Blome für diesen Hinweis) findet sich in Fontanes Schriften zunächst im Zusammenhang einer Geschichte der Mark Brandenburg und der Frage »Was wurde aus den Wenden?« (WIII 33) Die Vorgeschichte der Mark wird im Anschluss an diese Frage ein zweites Mal erzählt: als Genese einer »Mischrace«, (WIII 33) die sich aus Wenden und Deutschen zusammensetzt: »Sie [die Wenden, N.G.] wurden keineswegs mit Stumpf und Steil ausgerottet, sie wurden auch nicht einfach zurückgedrängt bis zu Gegenden, wo sie Stammesgenossen vorfanden – sie blieben vielmehr alle oder doch sehr überwiegenden Teils im Lande und haben in allen Provinzen jenseits der Elbe unzweifelhaft jene Mischrace hergestellt, die jetzt die preußischen Provinzen bewohnt.« (WIII 33) Dieser Prozess trifft – so Fontane – vor allem für die Mittelmark zu, die den »eigentliche[n] Mischungsbottich« (WIII 35) ausmacht. Das Wachen der Schwester über die Legitimität der Verbindungen ihres Hauses lässt sich exemplarisch bei Sophie von La Roche nachlesen. In Geschichte des Fräuleins von Sternheim ist es einzig die jüngere Schwester, Charlotte von P., welche die nicht standesgemäße Heirat ihrer älte-

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Statusverlust der Schwester die Rede. Vielmehr rechtfertigt und begünstigt sie den neuen Bund des Bruders mit der bürgerlichen Marie Kniehase. Die Legitimation dieser Heirat durch die Schwester lässt sich darüber hinaus dem Aufbau des Romans ablesen, der mit und in ihrem Namen endet: Aus den Tagebuchblättern, die als einzelne kurze Absätze an den Schluss gesetzt sind, geht hervor, dass sie sich als Chronistin des Hauses betätigt. Der erste und letzte Eintrag im Tagebuch ist Schloss Guse gewidmet, das – nach dem Plan der »Doppelheirat« – aus Amelie Pudaglas Nachlass der Nichte, Renate von Vitzewitz, als Mitgift zukommen sollte. Der Anspruch auf das Schloss bildet die Klammer der Aufzeichnungen. Die Ehelosigkeit der Schwester ermöglicht zu Beginn die Übertragung des Schlosses auf das junge Ehepaar Vitzewitz: »Lewin übernimmt Guse; sie werden dort als ein junges Paar leben. Es ist am besten so.« (V 709) Die unverheiratete Schwester bleibt dagegen im väterlichen Haus. Im letzten Tagebucheintrag, der offensichtlich nach dem Tod des Vaters, Berndt von Vitzewitz, erfolgt, wird der Auszug des Ehepaars aus Guse und dessen Einzug »in dies alte Hohen-Vietz« (V 711) festgehalten: Und nun bin ich allein, ganz allein, und morgen wird Lewin, der nun Guse verläßt, seinen Einzug in dies alte Hohen-Vietz halten, in das mir und ihm so teure Haus, in dem er gesegnet sein möge wie bisher. Und er wird es, denn er bringt seinen guten Engel mit. Meine teure Marie. […] Und so könnt’ ich bleiben und weiter leben mit und unter ihnen, aber ich mag doch nicht die Tante […] ihres Hauses sein. […] So will ich denn nach »Kloster Lindow«, unserem alten Fräuleinsstift. Da gehör’ ich hin. Denn ich sehne mich nach Einkehr bei mir selbst und nach den stillen Werken der Barmherzigkeit. Und nur eines ist, das ich noch mehr ersehne. Es gibt eine verklärte Welt, mir sagt es das Herz, und es zieht mich zu ihr hinauf. (V 711)

Die Bewegung Haus – Kloster – »verklärte Welt« gibt nur vordergründig den typischen Lebenslauf eines adligen Fräuleins wieder.65 Genau besehen ist der Verzicht auf die Mitgift zugunsten der Ehe des Bruders seiner Struktur nach mit jener »Leidensgeschichte eines Mädchens« vergleichbar, die vor dem Hintergrund der bürgerlichen Frauenbewegung erzählt werden wird: Gabriele Reuters Aus guter Familie schildert eine Heiratsökonomie, in der ebenfalls die Mitgift der Schwester in die materielle Grundlage der Ehe des Bruders umgewandelt wird.66 Während in Vor dem Sturm die Bräutigamschwester dem frisch vermählten Paar das Schloss als neuen Wohnsitz überlässt, wird in Aus guter Familie die Mitgift der Schwester stillschweigend verbraucht, um die Schulden des Bruders zu begleichen, der ohne die Schuldentilgung nicht in den Ehestand eintreten könnte. Die

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ren Schwester verurteilt: »›Weil diese schöne Verbindung auf Unkosten meines Glücks gemacht wird.‹ ›Wie das, Charlotte?‹ ›Wer wird denn unser Haus zu einer Vermählung suchen, wenn die ältere Tochter so verschleudert ist?‹« (Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. Barbara Becker-Cantarino. Stuttgart 2006, S. 33 [Hervorhebung getilgt]) Die Schwester entpuppt sich im weiteren Verlauf des Briefromans als Rächerin der Familienehre, indem sie gegen ihre Nichte, die Tochter aus jener nicht standesgemäßen Verbindung, intrigiert. Vgl. Christa Diemel: Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870. Frankfurt/M. 1998, S. 56–68. Vgl. Gabriele Reuter: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe. Hg. Katja Mellmann. Marburg 2006, S. 188–191. Vgl. zur historischen Kontextualisierung des Romans Katja Mellmann: Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie. In: IASL 33/1 (2008), S. 1–25.

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Beziehung zwischen Bräutigamschwester und Braut, die bei Reuter als eine Meidungsbeziehung beschrieben ist, da die Braut indirekt die Mitgift der Bräutigamschwester nutznießt und verbraucht, wird bei Fontane sentimentalisiert. Die dynastische Position der Schwester erfährt in Vor dem Sturm eine signifikante Verschiebung, die anhand des Besitzerwechsels von Schloss Guse gut beschreibbar ist.





Abb. 7: Die Übertragung von Schloss Guse

Amelie von Pudagla, geborene von Vitzewitz, gibt als Erbtante eine vertikale Linie vor, die zu ihrer Nichte, Renate von Vitzewitz, führt. Mit der Übertragung des Schlosses auf Lewin von Vitzewitz hingegen erlischt die Position der Erbtante und damit eine für das Haus Vitzewitz weitere dynastische Option. Abschließend lässt sich also sagen, dass der Roman – trotz der sentimentalischen Legitimation der Missheirat – eine klare Gleichung formuliert: Das Haus gewinnt Mignon/Marie und verliert die Position der Erbtante.

5.

Brautbruder

Theodor Fontane: Unwiederbringlich Der Hof der Prinzessin Luise Charlotte in Kopenhagen, wie er in Fontanes Unwiederbringlich beschrieben wird, weist alle Merkmale auf, die in populären Romanen der Gründerzeit den Höfen zugeschrieben werden: Hier ergehen sich lüsterne Kammerherren und frivole Hoffräulein in anzüglicher Konversation; Dänemark steht kurz vor einem Krieg und man plant Landpartien.67 Seit neun Jahren ist »die Danner« Stadtgespräch, eine ehemalige Putzmacherin, die der König 1850 geheiratet und in den Rang einer Gräfin

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Der Gegensatz zwischen einer Welt der Lüge und des Scheins am Hof und der natürlichen Welt des Landadels wird häufig in den Romanen der Gartenlaube-Autorinnen eingesetzt. Dieser Topos zeigt sich in den unterschiedlichen Sprechweisen: »›Und wie amüsieren!‹ bekräftigt sie, ohne eine Anrede abzuwarten, ›den einen Abend schwofen und den andern ins Theater gehen und zwischendurch sich bei Diners rumfuttern! Nicht wahr, Tante Renée, so flott muß es gehen, daß wir rein die Puste verlieren!‹ Wie komisch! Die beiden fremden Damen hatten sie doch erst so freundlich und vergnügt angesehen. Jetzt mit einem Male machten sie dieselben runden Glasaugen wie vorhin die Lakaien, hoben das Haupt steif in den Nacken und wechselten dann untereinander einen sehr eigentümlichen Blick.« (Nataly von Eschstruth: Hofluft. Leipzig 1913, S. 66) Vgl. zum Topos der bürgerlichen Hofkritik Helmuth Kiesel: »Bei Hof, bei Höll«:

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erhoben hat. Seitdem will »[a]lles, was in Dänemark ein paar rothe Backen hat […] sich adeln lassen und eine Strandvilla haben und legt die Hände in den Schoß und putzt sich und wartet.« (U 137) An diesen Hof wird der Kammerherr Graf Holk von Holkenäs aus Schleswig-Holstein gerufen, der ebenfalls an den vielen Mätressengeschichten Gefallen findet. Damit nicht genug – denn bald begegnet er der ihm bestimmten Mätresse. In Verkennung des Mätressenwesens, das neben und im Einklang mit der rechtmäßigen Ehe existiert, trennt sich Holk von seiner Ehefrau, Christine Holk von Holkenäs, geborene von Arnewieck, um das Hoffräulein Ebba von Rosenberg zu ehelichen, mit dem ihn ein kurzes Liebesabenteuer verbindet. Das Mätressenwesen ist somit das verbindende Glied zwischen der dynastischen Krise Dänemarks, für die sich Fontane in der Vorbereitungsphase des Romans interessiert hatte, und der Ehekrise des holsteinischen Adligen.68 1. Ebba von Rosenberg weckt gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Holk dessen Interesse an Genealogien: »Genealogisches zählt nämlich zu meinen kleinen Liebhabereien.« (U 113) So wie er am Hof jeden neuen Namen zunächst einer Ahnenprobe unterzieht, sagt er auch in diesem Gespräch die »Geschlechtssagen« der Rosenbergs auf und verfolgt die Linie zurück bis zum Bruder eines Erzbischofs und ist überrascht, als ihm das Fräulein entgegnet, nicht der Bruder eines Erzbischofs, sondern der »Lieblings- und Leibjude« (U 114) eines Königs habe ihrem Namen Pate gestanden. Ebba und ihr Namenspatron verkörpern die beiden Enden einer Linie von Lieblingen und Günstlingen, die parallel zu den dynastischen Linien verläuft. Der Bezugspunkt der Günstlinge ist das jeweilige Haus, das sie aufgenommen hat. Auch Ebbas Karriere als Günstling ist über den Wechsel von einem Haus ins andere verlaufen. Nachdem es ihr als Hofdame misslungen ist, durch die Heirat eines der bernadotteschen Söhne endgültig in das Haus Bernadotte einzugehen, tritt sie im Haus Wasa erneut als Hofdame an. (U 146f.) Wie kaum eine andere Figur im Roman weiß sie um die gemeinsame Ordnung der adligen Häuser, die sich um die Höfe herum anordnen. In dem Maße, wie sie um die Höfe weiß, weiß sie auch um eine gegen-höfische Kultur, die zu diesem Zeitpunkt als Nationalismus bezeichnet wird. Wenn Ebba den Grafen aus Schleswig-Holstein als »deutsch« identifiziert und den Deutschen jegliche Eignung zum Hofleben abspricht, verwendet sie den Begriff des Nationalen nicht im Sinne einer Nationalcharakterologie, in der die Deutschen neben anderen Nationen stünden, sondern als ein Attribut, das nur den Deutschen zukommt: Der Nationalismus selbst ist in dieser Rede deutsch; ganz Europa lässt sich in Häuser aufteilen, nur Preußen nicht. Dass sich Preußen der europäischen Hausordnung nicht zu fügen imstande ist, geht nach Ebba aus dem völligen Fehlen von Mätressen am Hofe

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Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. Die Verbindung zwischen der Episode am dänischen Hof und der Ehegeschichte wird häufig allein in der Analogie zwischen zwei Zerfalls- und Krisenszenarien gesehen. (Vgl. hierzu beispielsweise Dieter Lohmeier: Vor dem Niedergang. Dänemark in Fontanes Roman Unwiederbringlich. In: Skandinavistik. Zeitschrift für Sprache, Literatur und Kultur der nordischen Länder 2/2 [1972], S. 27–53, hier: S. 43f.)

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Friedrichs des Großen hervor. (Vgl. U 197f.) Da das Mätressenwesen und das Institut der Ehe zur linken Hand als hausrechtliche Privilegien die fürstliche Ehe ergänzen,69 lässt ihr Fehlen an den preußischen Höfen auf ein eher bürgerliches Konzept der Ehe schließen, das ohne diese ergänzenden Funktionen auskommt. Die Pointe der kurzen Liaison zwischen Ebba und Holk besteht darin, dass Ebba das Register der hausrechtlichen Privilegien offenbar kennt und bedient, wohingegen sich Holk lediglich in der Sphäre der einen legitimen Ehe zu bewegen vermag. Ihre Affäre beruht auf einem Missverständnis, das in eine peinliche Szene mündet: »›Gute Nacht,‹ sagte sie und schien sich, unter einer scherzhaft feierlichen Verbeugung, von der Schwelle her in ihr Zimmer zurückziehen zu wollen. Aber Holk ergriff ihre Hand und sagte: ›Nein, Ebba, nicht so; Sie müssen mich hören.‹ Und miteintretend sah er sie verwirrt und leidenschaftlich an.« (U 230) Die Hofdame »scherz[t]«, der Graf ist »verwirrt«. Statt die Verbindung zu Ebba als einmaliges Abenteuer anzusehen, sieht er sie als Beginn der Werbung um die Braut, die zum »Abschluß« (U 241 u. 245) gebracht werden muss. Allein die Wahl des Worts »Abschluß« kennzeichnet Holks Irrtum: Während nach den Regeln der guten Gesellschaft die Affäre mit einem Hoffräulein als Episode gilt, die als solche mitunter verstetigt werden kann, ohne einen Abschluss zu finden, sieht Holk sie als Teil der Brautwerbung, die nach Abschluss durch Eheschließung drängt. Das Ende der Affäre besteht in der Abweisung des Grafen durch das Hoffräulein. Die Abweisung gleicht einer Lehrstunde. Ebba lehrt Holk das Wesen höfischen Sprechens: »Sie wollen Hofmann und Lebemann sein und sind weder das Eine noch das Andere. […] Wie kann man sich einer Dame gegenüber auf Worte berufen, die die Dame thöricht oder vielleicht auch liebenswürdig genug war, in einer unbewachten Stunde zu sprechen? […] Worte waren Worte; so viel mußten selbst Sie wissen. Ja, Holk, Hofleben ist öd und langweilig, hier wie überall […]. Und nun […] wollen Sie mich einschwören auf ein einzig Wort oder doch auf nicht viel mehr und wollen aus einem bloßen Spiel einen bittern Ernst machen«. (U 266f.) Der Unterricht im höfischen Sprechen in Unwiederbringlich ist vor dem Hintergrund der Erwartungen des literarischen Publikums im Kaiserreich zu sehen: Fontanes Romane entstehen in einer Gesellschaft, in der es das Publikum nach literarischen Formaten dürstet, welche die vielen Nachrichten vom Berliner Hof und von der Berliner guten

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Die Ehe zur linken Hand (auch morganatische Ehe genannt) »ermöglichte Männern des Hochadels, eine nichtebenbürtige Frau zu ehelichen […] und damit das Zusammenleben mit ihr zu legitimieren, ohne dass diese an den Standes- und Vermögensrechten partizipieren konnte. Diese Eheform existierte daher in der N[euzeit] in Europa überwiegend als ein Rechtsinstitut des Fürstenrechts«. (Cordula Scholz-Löhnig: Art. ›Ehe zur linken Hand‹. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. Friedrich Jaeger. Bd. 3. Stuttgart u. a. 2006, Sp. 50–52, hier: Sp. 50) Volksetymologisch rührt der »Ausdruck ›morganatische Ehe‹ […] von der Morgengabe her, welche der Frau vom Ehemann nach der Brautnacht […] zu Eigentum gegeben zu werden pflegte und hauptsächlich zur Witwenversorgung diente. Diese war der einzige Vermögenswert, den die Frau bei solchen Ehen erhielt, da ihr weder ein standesmäßiges Wittum oder Leibgeding (Leibzucht) noch ein Intestaterbrecht gegen ihren Mann zugebilligt wurde.« (Dalchow, Ueber die Ehe zur linken Hand, S. 14)

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Gesellschaft narrativ bündeln. So erscheinen zahlreiche Romane und Erzählungen Fontanes als Fortsetzungsromane, bevor sie als Bücher erscheinen.70 Sie verdanken ihren Stoff dem regen Briefverkehr, der Fontane mit zahlreichen adligen Fräulein verband, sowie Memoiren und Hauschroniken, Gerüchten, offenen Geheimnissen und dem Hofklatsch. Fontane schreibt für eine in sich heterogene gute Gesellschaft, deren Isolation durch Nobilitierungserwartungen der Bürger und Mesalliancewünsche der Bürgerinnen verhindert wird. Die Romane handeln häufig von sozialen Aufsteigern (L’Adultera) und Aufsteigerinnen (Graf Petöfy und Vor dem Sturm), deren mühsamer Weg nach oben verfolgt wird. In diesem Zusammenhang ist die distinguierte Rede von größter Bedeutung.71 Denn durch die zahlreichen Konversationen und deren Kommentierung eignen sich Fontanes Romane als Rat gebende Lehrbücher für ein Publikum, das vielleicht nicht den Lebensstil der Angehörigen der guten Gesellschaft zu imitieren, aber doch deren Redeformen zu lernen imstande ist.72

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Vgl. Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München 1997, S. 37–46 und passim. In Fontanes Romanen ereignet sich die Aufnahme in dem Moment, in dem der Initiandin eine Pointe gelingt und sie den richtigen Ton findet. Die abrupte Übersetzung, die Lévi-Strauss zum Kennzeichen der Sprache des Hauses erklärt, stellt sich in diesen Szenen als das plötzliche, augenblickliche Glücken einer Szene der Konversation dar. In Graf Petöfy gewinnt Franziska Franz durch eine »kleine Gewagtheit« das Einverständnis der Gräfin, in deren Kreis sie aufgenommen zu werden begehrt: »[U]nd […] die Gräfin, die nach Art aller vornehmen alten Damen eine Vorliebe für kleine Gewagtheiten hatte, war ganz enchantirt und nickte dem Bruder zu.« (G 25) In Vor dem Sturm ist es das plötzliche Eintreten einer peinlichen Szene, aus der sich die Bürgerliche zu befreien weiß: »Wir waren zu dreien, Papa, die Tante und ich [Renate von Vitzewitz, N.G.]. […] Marie trat ein und stutzte einen Augenblick. Sie ist zu klug, als daß sie nicht lange schon empfunden hätte, wie die Tante zu ihr steht. Rasch faßte sie sich aber, verneigte sich, richtete des Pastors Auftrag an mich aus und entfernte sich wieder unter einer freimütigen Entschuldigung, unser Beisammensein gestört zu haben. […] Sie [die Tante, N.G.] schwieg, wiewohl ihre scharfen Augen jede Bewegung gemustert hatten. Erst als Papa fort war, sagte sie, ohne daß ich es gewagt hätte, eine Frage an sie zu richten: ›Die Kleine ist charmante, eine beauté aus dem Märchen, welche Wimpern!‹ […] Eine kurze Pause folgte, in der die Tabatière ein paarmal auf- und zugemacht wurde; dann sagte sie lebhaft: ›Ich habe mir’s diese Minuten überlegt, ob ich euch auffordern sollte, die Kleine mit nach Guse hinüberzubringen […]. Aber Renate, ma chère, es geht nicht.‹« (V 123f.) Was im ersten Fall eine »kleine Gewagtheit« ist, ist im zweiten Fall eine »freimütige Entschuldigung«, welche die Tür zur guten Gesellschaft öffnet. Während im ersten Fall das stumme Nicken der Gräfin ihr Einverständnis zur Ehe des Bruders, Graf Petöfy, mit Franziska Franz vorwegnimmt, bleibt im zweiten Fall die Einstellung der Tante zur Aufnahme Maries ambivalent. Um es in der symbolischen Sprache des Romans zu sagen: Die Tante öffnet die Tabatiere, um sie wieder zu schließen. Die Aufnahme Maries in das Haus Vitzewitz erfolgt erst nach dem Tod der Tante. Die Gespräche und Konversationen in Fontanes Romanwerk stellen ein hervorragend bearbeitetes Forschungsfeld in der Literaturwissenschaft dar. Eine gute Zusammenfassung der Forschungsergebnisse – wenn auch auf dem Stand des Jahres 1995 – liefert Willi Goetschel: Causerie: Zur Funktion des Gesprächs in Fontanes Der Stechlin. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 70/3 (1995), S. 116–122. Zur Funktion des Zitatenschatzes und geflügelten Wortes in den Gesprächen vgl. Julia Encke: Kopierwerke. Bürgerliche Zitierkultur in den späten Romanen Fontanes und Flauberts. Frankfurt/M. 1998, S. 17–66.

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Die Gespräche unterhalten ein ambivalentes Verhältnis zu den Maximen des »GutSprechen[s]«,73 die zeitgleich zur Entstehung von Fontanes Romanen veröffentlicht werden. In Fröhliche Wissenschaft beispielsweise erklärt Friedrich Nietzsche, dass der Höfling in der Konversation auf jeglichen Fachausdruck zu verzichten hat: »Die höfische Sprache ist aber die Sprache des Höflings, der kein Fach hat, und der sich selbst im Gespräch über wissenschaftliche Dinge alle bequemen technischen Ausdrücke verbietet, weil sie nach dem Fach schmecken; deshalb ist der technische Ausdruck und alles, was den Spezialisten verrät, in den Ländern der höfischen Cultur ein Flecken des Stils.«74 In Unkenntnis des höfischen guten Stils übertreffen sich bei Fontane die Causeure in der Verwendung von Fachausdrücken.75 Ihre Vorliebe für Fremdwörter ist in Wirklichkeit eine Vorliebe für das Fach; sie zeugt vom Missverständnis der guten Gesellschaft als der Zusammenkunft der scheinbar Fachkundigen. Neben den Fachausdrücken sind es korrigierende und belehrende Hinweise, die das »Gut-Sprechen« verbietet. Während Fontanes Causeure und Erzähler die erste Regel nicht zu kennen scheinen, wissen sie um die zweite Regel: »Czako schwieg und nickte nur, weil er Richtigstellungen überhaupt nicht liebte; Woldemar aber, der jedes Wort gehört und in Bezug auf solche Dinge kleinlicher als sein Freund, der Hauptmann, dachte, wollte durchaus Remedur schaffen und bat, das Fräulein darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß der Herr, der den Vorzug habe, sie zu führen, nicht ein Herr von Baczko, sondern ein Herr von Czako sei. Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Verlegenheit, Czako selbst aber kam ihr mit großer Courtoisie zu Hilfe. […] Woldemar, seiner Philisterei sich bewußt werdend, zog sich wieder zurück«. (St 101ff.) Der Topos vom preußischen Philister, der »Richtigstellungen […] liebt«, entspricht dem französischen Bürger, der als außerordentlicher Vertreter eines Berufsstandes Eingang in die gute Gesellschaft findet und während der Konversation den Fehler begeht, durch einen technischen Ausdruck unfreiwillig seinen Stand zu verraten.76 Ein Kennzeichen der guten Gesellschaft in Fontanes Romanen besteht darin, dass die Mehrzahl ihrer Mitglieder die Regeln der höfischen Gesellschaft zwar nur unvollständig kennt, aber das unvollständige Regelwerk richtig anzuwenden glaubt. Das Ergebnis

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Vgl. Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 3. München u. a. 1988, S. 458. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 458. Ich entnehme den Hinweis auf Nietzsche Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Gesammelte Schriften. Bd. 3.1. Frankfurt/M. 1997, S. 133. »›Deliciös,‹ sagte Arne. ›Freilich etwas zu gut, besonders für Dich, Holk; solcher Kaffee wie der zieht wieder fünf Jahre von den fünfzehn ab, die ich eben zugesprochen, und die philiströse, wenn auch höchst bemerkenswerthe Homöopathie, die, wie Du weißt, von Mocca und Java nichts wissen will, würde vielleicht noch stärker subtrahiren. Apropos Homöopathie. Hast Du denn schon von dem homöopathischen Veterinärarzt gehört, den wir seit ein paar Wochen in Lille-Grimsby haben? …‹« (U 13) Vgl. als Beispiel für die rigiden Bestimmungen der Pariser guten Gesellschaft die Konversation zwischen Marcel, dem ambitieux, und einem bürgerlichen Arzt: »Il me parla de la grande chaleur qu’il faisait ces jours-ci, mais, bien qu’il fût lettré et eût pu s’exprimer en bon français, il me dit: ›Vous ne souffrez pas de cette hyperthermie?‹« (Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Sodome et Gomorrhe. Œuvres complètes 4.1. Paris 1930, S. 62)

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ist eine synkretistische gute Gesellschaft, die an ihre Mitglieder Ansprüche stellt, die der höfischen und bürgerlichen Welt entnommen sind. Die Signatur dieses doppelten Anspruchs ist die »Passion«, die Leidenschaft für eine Tätigkeit, für die der moderne Adlige bisweilen genauso viel Energie aufwendet wie der Bürger, ohne jedoch damit Geld zu erwerben, und die dem Höfling fremd sein muss. So hat Holk von Holkenäs als moderner Adliger viele Liebhabereien und Passionen: die »Baupassion«, (U 6) »die für schönes Vieh« (U 16) und »Genealogisches«. (U 113) Am Ende der Ehekrise zwischen Graf und Gräfin Holkenäs werden zwei »Lieblingspläne« (U 13) aufeinander gestoßen sein: der Bau moderner Ställe und die »Errichtung einer Familiengruft«. (U 13) Die Episode am dänischen Hof, eine Binnenerzählung im Roman, handelt somit von zwei Missverständnissen, die den Grafen Holk von Holkenäs dazu bewegen, seine erste Ehe zugunsten des Fräuleins Ebba von Rosenberg aufzulösen: das Missverständnis des Mätressenwesens und das der Koketterie als Teil der Konversation. Gerahmt wird diese Episode von einer Ehegeschichte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Interpretationen, welche die Ehekrise psychologisch deuten – hier der Lebemann, dort die Melancholikerin –77 wird im Folgenden gezeigt, dass sie einer Dramaturgie gehorcht, welche die Handschrift des Brautbruders trägt. Sie ist Teil einer éducation conjugale, die der Brautbruder seiner Schwester, Christine von Holkenäs, zukommen lässt. 2. Die Ehe von Graf und Gräfin hat mit dem Bruder der Gräfin einen genauen Beobachter.78 Nach dem ersten Besuch im neuen Schloss, welches das Ehepaar gerade bezogen hat, verwickelt er den Seminardirektor, einen Vertrauten der Gräfin, in ein Gespräch, in dem er ihn um Hilfe bittet. Er habe im Verhalten der Eheleute zueinander einen »Umschwung« beobachtet: (U 38) Sie müssen meiner Schwester, bei dem Einfluß, den Sie auf sie haben, von der Bibelseite her beizukommen und ihr aus einem halben Dutzend Stellen zu beweisen suchen, daß das nicht so ginge, daß das Alles nur Selbstgerechtigkeit sei, daß die rechte Liebe von diesem versteckten Hochmuth, der nur in Demuthsallüren einhergeht, nichts wissen wolle, mit anderen Worten, daß sie sich ändern und ihrem Manne zu Willen sein müsse, statt ihm das Haus zu verleiden. Ja, Sie können hinzusetzen, und halb entspricht es auch der Wahrheit, daß er die ganze Kopenhagener Stellung wahrscheinlich längst aufgegeben hätte, wenn er nicht froh wäre, dann und wann aus dem Druck herauszukommen, den die Tugenden seiner Frau, meiner geliebten und verehrten Frau Schwester, auf ihn ausüben. (U 39f.)

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Vgl. beispielsweise Claudia Liebrand: Geschlechterkonfigurationen in Fontanes Unwiederbringlich. In: Hanna Delf von Wolzogen (Hg.): Theodor Fontane – Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 2. Würzburg 2000, S. 161–172. Die Beziehung zwischen den Eheleuten und dem Bruder der Gräfin kann als ménage à trois gelesen werden. Zu dieser Einschätzung kommt (aufgrund einer Parallellektüre von Unwiederbringlich und Fontanes Erzählung Geschwisterliebe) Michael Masanetz: »Awer de Floth, de is dull!« Fontanes »Unwiederbringlich« – das Weltuntergangsspiel eines postmodernen Realisten (Teil 1). In: Fontane-Blätter 52 (1991), S. 68–90, hier: S. 78–80. Zur Bedeutung der Erzählung Geschwisterliebe für die dynastischen Phantasien Fontanes vgl. Erhart, Familienmänner, S. 141.

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Die »Tugenden« der Schwester führt der Bruder auf ihre Erziehung in einer Herrnhuter Pension zurück. Was jedoch die Ehe der beiden – nach Einschätzung des Bruders – am meisten gefährdet, ist die Anwesenheit einer Freundin im Haus, einer dritten Figur, die sich zwischen die Eheleute zu schieben droht – Fräulein Dobschütz: Denn trotz ihrer siebenunddreißig Jahre, in manchen Stücken ist sie [Christine von Holkenäs, N.G.] noch ganz das Gnadenfreier Pensionsfräulein, besonders auch darin, wie sie mit der Dobschütz lebt. Die Dobschütz ist eine vorzügliche Person, vor deren Wissen und Charakter ich allen möglichen Respect habe, trotzdem ist sie für meinen armen Schwager ein Unglück. Sie sind überrascht, aber es ist so. Die Dobschütz ist viel zu klug und auch viel zu guten Herzens, um sich aus freien Stücken oder wohl gar aus Eitelkeit zwischen die Eheleute zu stellen, aber die Stellung, die sie sich nie nehmen würde, wird ihr durch meine Schwester aufgezwungen. Christine braucht immer Jemanden, um sich auszuklagen, ganz schöne Seele, nachgeborne Jean Paul’sche Figur, die sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit dem Ernste des Lebens den Kopf zerbricht. […] Dabei so eigensinnig, so unzugänglich. Ich versuche mitunter, zum Guten zu reden und ihr klar zu machen, wie sie sich anpassen und ihrem Manne zuhören müsse, wenn er was aus der Welt erzählt, einen Witz, ein Wortspiel, eine Anekdote. […] Immer Erziehungsfragen […]. Es ist nicht auszuhalten. (U 36)

Die éducation conjugale beinhaltet eine weitere Konversationslehre. Die Schwester müsse »ihrem Manne zuhören […], wenn er was aus der Welt erzählt, einen Witz, ein Wortspiel, eine Anekdote«. Was die Schwester mit ihrem literarischen Vorbild der »schönen Seele« gemeinsam hat, ist zunächst die Erziehung bei den Herrnhutern. Ihre »Bekenntnißstrenge« verweist auf »Bekenntnisse einer schönen Seele«, jene Binnenerzählung aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, in der sich die Herrnhuterin ebenfalls für »Erziehungsfragen« interessiert. Während sie bei Goethe unverheiratet bleibt und sich der Erziehung ihrer Nichten und Neffen widmet, ist sie bei Fontane eine verheiratete Frau, deren Tauglichkeit zur Ehe der Bruder bezweifelt. Wie genau die Ehekrise nach dem Kalkül des Bruders verläuft, geht aus einem Brief hervor, den er an seinen Schwager in die Ferne des dänischen Hofs schreibt:79 Ich habe Dich beschworen, Christinen’s Eigenwillen gegenüber auf der Hut zu sein und ihrem Herrschergelüste, das sich hinter ihrer Kirchlichkeit verbirgt und zugleich immer neue Kraft daraus saugt, energisch entgegenzutreten und ich habe Dir [Holk von Holkenäs, N.G.], so ganz nebenher, auch wohl den Rath gegeben, es mit Eifersucht zu versuchen und in Deiner Frau, meiner geliebten Schwester, die Vorstellung zu wecken: auch der sicherste Besitz sei nicht unerschütterlich sicher und auch der beste Mann könne seine schwache Stunde haben. Ja, lieber Holk, in diesem Sinne habe ich zu Dir gesprochen, nicht leichtfertig, sondern, wenn mir der

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Fontanes Romane sind eine Fundgrube für sich überlagernde Meidungs- und Scherzbeziehungen, da sich hier die Beziehungen zwischen Geschwistern und Ehepartnern vielfach kreuzen. Am deutlichsten ist eine solche Überlagerung in Unwiederbringlich zu beobachten, wo die Scherzbeziehung – die »Freundschaft« (U 204) – zwischen den Schwägern die Ehe Holks überschattet. Die Scherzbeziehung hat auch hier ein meidendes Element: »Schwager, da divergiren wir. Der einzige Punkt. Und ich setze hinzu glücklicherweise. Denn mit seiner Schwester darf man schon allenfalls Krieg führen, aber mit seinem Schwager nicht.« (U 28) Ähnlich wie die Konversation, deren Lehre die einzelnen Figuren antreibt, ist auch das Scherzen Gegenstand feiner Abmessungen: »[I]ch [muss] jetzt alles Scherzhafte, was sich früher bei dieser Bemerkung mit einmischte, daraus streichen«. (U 204)

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Ausdruck gestattet ist, aus einer gewissen pädagogischen Erwägung, und ich bedaure nichts davon und habe auch nicht nöthig, irgend was davon zurückzunehmen. (U 205)

Die pädagogischen Maßnahmen des Bruders, »Anstifter und Begründer all der Behandlungssonderbarkeiten«, (U 204) schlagen zunächst fehl. Statt die Schwester nach seinem Bild einer Ehefrau zu formen, bewirkt er die Trennung der Eheleute. Erst im zweiten Anlauf gelingt ihm eine erfolgreiche Lenkung der fremden Ehe, nachdem er versucht hat, neben Krise und Trennung auch die Versöhnung herbeizuführen: Aber gerade in dieser ihrer Bekenntnißstrenge, darunter wir Alle gelitten, haben wir auch das Heilmittel. Ob ihre noch immer lebendige Liebe zu Dir, wie sie sich in ihren Briefen, oft wohl gegen ihren Willen, zu erkennen gibt, die Kraft zu Verzeihung und Aussöhnung besitzen würde, laß ich dahin gestellt sein, ich sage nicht ja und nicht nein; aber was ihre Liebe vielleicht nicht vermöchte, dazu wird sie sich, wenn Alles erst in die rechten Hände gelegt ist, durch ihre Vorstellung von Pflicht gedrängt fühlen. In die rechten Hände, sag’ ich. […] An Schwarzkoppen, den ich in der letzten Woche beinahe täglich gesehen, hab’ ich mich mit der dringenden Bitte gewandt, die Sache […] seinerseits in die Hand nehmen zu wollen […]. Wenn Schwarzkoppen schon immer entscheidende Instanz für Christine war, wie jetzt erst, wo der Arnewieker Seminardirektor ein wirkliches Kirchenlicht geworden ist. (U 278f.)

Wie die meisten sozialen Experimente ist auch dieses äußerst anfällig für unvorhergesehene Wendungen. Es vergeht kein Jahr nach ihrer erneuten Heirat, und die ehemalige Herrnhuterin hat sich das Leben genommen. Das Kalkül des Bruders, das sich in Worte der Sorge um die gräfliche Ehe kleidet, lässt sich aber noch weiter zurückverfolgen. Es stellt sich die Frage nach seinem eigenen Haus, Haus Arnewiek, das seinerzeit die Schwester als Braut frei gegeben hatte. Der Bruder, der abwechselnd mit dem Pastor, Seminardirektor und Schwager über die Angelegenheiten der Schwester beratschlagt, lässt sich nur einmal in ein Gespräch mit ihr selbst ein. Die Schwester antwortet ihm: »Und doch, Alfred, all’ das, was ich bin, oder doch das Meiste davon, bin ich durch Dich. Du hast mir diese Richtung gegeben. Du warst schon dreißig, als ich bei der Eltern Tode zurückblieb, und nach Deinen Anschauungen, nicht nach denen der Eltern, bin ich erzogen worden; Du hast die Herrnhuterpension für mich ausgesucht, Du hast mich bei den Recke’s und den Reuß’ und den frommen Familien eingeführt und nun, wo ich das geworden bin, wozu Du mich damals bestimmtest, nun ist es nicht recht.« (U 66) Die Schwester wird nach dem Tod der Eltern nach dem Programm des Bruders erzogen. »Erziehungsfragen« scheinen also beide, Bruder und Schwester, umzutreiben. Welche Folgen hat das Programm für das Haus und dessen Imperativ der Perpetuierung? Welches Programm wird nicht verfolgt? Der Bruder bleibt ein Junggeselle und nimmt im Verhältnis zu seiner Schwester die Position des Vaters ein, der über eine Tochter verfügt. Statt sie zu verheiraten oder im Fall der Ehelosigkeit in eine Pension zu geben, gibt er sie erst in eine Pension, um sie dann zu verheiraten. Indem er die sich ausschließenden Möglichkeiten Ehe/Kloster chronologisch kombiniert, gibt er ihr eine Karriere. Jede Karriere hat die ihr eigenen Begleiter und Zeugen:80 Die Karriere des ehemaligen Pensionsfräuleins, das eines Tages von Bruder und Bräutigam an den Toren des

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Ich verdanke den Hinweis auf die soziale Funktion von Zeugen und Begleitern Andreas Langensiepen.

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Klosters abgeholt wird, wird schon bald von einer »Freundin aus den zurückliegenden Gnadenfreier Pensionstagen« (U 10) begleitet: »Julie von Dobschütz, ein armes Fräulein, bei deren Einladung zunächst nur an einen kurzen Sommerbesuch gedacht worden war.« (U 10) Eine Fremde, die »heute kommt und morgen bleibt«,81 unterrichtet »die Kinder des Hauses« (U 10) und gibt zuweilen als »Tante Dobschütz« Familiengeheimnisse preis.82 Wer sich hinter der unbestimmten Bezeichnung »Freundin« verbirgt, ist eine Gouvernante, die auf eine Laufbahn in wechselnden Häusern zurückblicken kann: »[I]ch war in vielen Häusern und habe Manches gesehen, was ich lieber nicht gesehen hätte. Die Herrensitze lassen oft viel zu wünschen übrig.« (U 73) Sie geht der gräflichen Freundin häufig zur Hand, sie vollführt Gefälligkeiten, deren Dienstcharakter beide gleichermaßen peinlich berührt.83 Die Herrin und das arme Fräulein – der Blick des Grafen auf die Gräfin erfasst stets die Doppelung der ehemaligen Pensionsschwestern: »Oben aber, auf der letzten Terrassenstufe, standen die Gräfin und das Fräulein«, (U 69) »Holk konnte nur wenig Schritte weit sehen, aber so dicht die Flocken fielen, sie ließen ihn doch zwei Frauengestalten erkennen […]. Es waren die Gräfin und die Dobschütz. Niemand begleitete sie.« (U 256) Nach der Trennung vom Grafen geht Christine von Holkenäs zunächst zu ihrem Bruder, bevor sie schließlich ins Kloster zurückkehrt. Das Fräulein begleitet sie auf ihrem Weg: »Wir waren zwei Menschen, aber wir führten nur ein Leben, so ganz verstanden wir uns.« (U 287) Der Bund der (Pensions-)Schwestern löst sich erst auf, als Christine Holkenäs einwilligt, den Grafen noch einmal, nachdem dieser von Ebba abgewiesen wird und zurückkehrt, zu heiraten. Der Bund der beiden ehemaligen Pensionsfräulein zeigt, dass sich die ehefeindliche Institution des Klosters nicht ohne Verluste durch die Ehe ablösen lässt. Das Primat jener Institution vor dieser zeigt sich darin, dass sich in Unwiederbringlich nicht so sehr Häuser, sondern Erziehungsprojekte und -institutionen perpetuieren. Christine von Holkenäs nimmt sich das Leben, nachdem sie ihre Tochter in eine Pension gegeben und in die Gesellschaft eingeführt, gleichzeitig den Sohn auf eine Militärakademie geschickt hat. Sie verlässt ihr Haus in dem Moment, in dem sie selbst und Julie Dobschütz als Gouvernante keine erzieherischen Aufgaben mehr zu erfüllen haben.

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Vgl. Georg Simmel: Der Fremde. In: Ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. Michael Landmann. Frankfurt/M. 1987, S. 63–70, hier: S. 63. Nur an einer Stelle verrät die Tochter des Hauses, welche Familiengeheimnisse »Tante Dobschütz« preisgibt, in diesem Fall Geheimes über das verstorbene Kind und eine Schuldzuweisung: »Die Mama wollte freilich, daß er als zweiten Namen den Namen Helmuth führen sollte wie der Vater, Estrid Helmuth, – Tante Dobschütz hat es mir oft erzählt; der Papa aber bestand auf Adam, weil er gehört hatte, daß Kinder, die so heißen, nicht sterben, und da habe denn die Mama gesagt (ich weiß das Alles von Tante Julie), das sei Heidenthum und Aberglauben, und es werde sich strafen, denn der liebe Gott lasse sich nichts vorschreiben, und es sei lästerlich und verwerflich, ihm die Hände binden zu wollen.« (U 58) (Hervorhebungen von mir, N.G.) An einer Stelle sagt Julie Dobschütz über die Freundin, dass »ihre fast zu weit gehende Zartheit und Güte gegen mich es immer ängstlich vermied, irgend einen Dienst von mir zu fordern.« (U 293)

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6.

Bräutigamschwester II

Theodor Fontane: Graf Petöfy Fontanes Graf Petöfy beginnt mit der Szenerie einer dynastischen Krise: Aus der Perspektive eines Fußgängers wird das »in den Prinz Eugen-Tagen erbaute Stadthaus der Grafen von Petöfy« (G 5) beschrieben, das »etwas vernachlässigt« (G 5) da steht. Ein solcher Flaneur könnte fast den Eindruck gewinnen, »daß hier Alles längst todt und ausgestorben sei«, (G 5) wenn nicht ein schwaches Licht, das zuweilen in zwei Flügeln des Hauses brennt, von zurückgezogenem Leben im Bau zeugen würde. Und in der Tat sind es die »beiden letzten Petöfys, Graf Adam und seine Schwester Judith, eine seit vielen Jahren verwittwete Gräfin von Gundolskirchen«, (G 5) die das Haus noch immer bewohnen. Beide Geschwister sind kinderlos. Im weiteren Verlauf der Handlung wird die dynastisch dürftige Konstellation um den »Neffen des Hauses«, (G 7) Schwestersohn der beiden letzten Petöfys, Graf Eugen Asperg, erweitert. In Aussicht gestellt wird eine avunkulare Situation, in welcher der Neffe seinen Onkel beerben kann: »[D]er Onkel war eben ein ›Erbonkel‹ und mußte darauf hin um so vorsichtiger behandelt werden, als das durch die Tante repräsentirte Gundolskirchen’sche Vermögen ohnehin in einer steten Gefahr war, von der Familie fort- und irgend einem kirchlichen Orden […] zuzufallen.« (G 12)

▶ Abb. 8: Das Avunkulat

Der Roman überschreibt die genealogische, avunkulare Anordnung mit der Mesalliance zwischen dem Grafen Adam Petöfy und der Schauspielerin Franziska Franz. Die Geschichte dieser Ehe verdankt sich einem gesellschaftlichen Ereignis in Wien, von dem 1880 die Berliner National-Zeitung berichtet,84 und verweist darüber hinaus auf literarische Vorlagen: allen voran auf Goethes Wahlverwandtschaften, Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Novelle Der Mann von fünfzig Jahren. Neben dem expliziten intertextuellen Hinweis sind es die Liaison des Ranghohen mit einer mit der Dienerin zusammenlebenden Schauspielerin, die Liebe des alternden Mannes zur jüngeren Frau sowie die Schwäche für »künstliche Situationen«, (G 215) welche die Mesalliance als

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Vgl. Helmuth Nürnberger: Zur Stoffgeschichte von Theodor Fontanes Roman »Graf Petöfy«. In: Fontane-Blätter 32 (1981), S. 728–732.

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Variation der Liebe zwischen Eduard und Ottilie, Wilhelm und Marianne und schließlich dem Major und Hilarie erkennen lassen.85 Die künstliche Situation, in die sich bei Fontane der Graf begibt, besteht darin, dass er aus der Ehe die ehelichen Pflichten streicht und ein Verhältnis plant, »das sich auf vollkommener Freiheit aufbaut, ein Ehepakt, der statt der Verklausulirungsparagraphen ein einziges weißes Blatt hat. Carte blanche.« (G 85) Geplant ist eine Ehe, die aus nichts anderem besteht als endloser Konversation: Ich denke mir also, wir haben ein gemeinschaftliches Frühstück ein- für allemal und Du plauderst mir dabei vor, was Du die Stunden vorher geträumt hast. Gute Träume kommen einem Sensationskapitel am nächsten; übrigens brauchen sie nicht wahr zu sein, nur hübsch und unterhaltlich. Und dann entlass’ ich Dich in Gnaden, und Du bist frei bis zu Tisch. Aber so leicht das klingt, so schwer wiegt es, denn es ist eine lange, lange Zeit, und unser Besuch heute hat uns nur zufällig mit einer Ausnahme debütiren lassen. Also frei bis zu Tisch, bis Sechs. Dann speisen wir, und gleich darnach beginnt unser eigentlicher Tag, oder sag’ ich lieber der meinige. Nach Tisch haben wir dann noch eine Fahrt etwa wie heute früh, und unterwegs erzählst Du mir dieß und das und gibst mir eine Quintessenz aus der Plauderecke der Zeitung. (G 128)

Franziska Franz nimmt das Angebot des Grafen an, heiratet ihn, verlässt Wien und zieht mit ihm auf das alte Schloss der Petöfys.86 Die schöne Regelmäßigkeit der täglichen Konversationsstunden und die Langeweile, die sich bald daraus ergibt,87 werden unterbrochen, als der besagte »Neffe des Hauses«, Eugen Asperg, und die Bräutigamschwester, Judith Gundolskirchen, das frisch vermählte Paar besuchen. Es kommt, wie es kommen muss: Die ehemalige Soubrette und der junge Neffe verlieben sich ineinander. Es folgt der für Fontanes Ehebruchnovellen typische gemeinsame Ausflug, bei dem sich die Verliebten von der Gruppe absondern, bis sie sich in der Isolation wiederfinden, die den Verrat unvermeidlich macht. Doch der Konflikt zwischen der Ehebrecherin, dem verliebten Eugen Asperg und dem gehörnten Ehemann bleibt aus. Vielmehr begegnet der Graf, der sich am Ende mit seinem Ehekalkül verrechnet zu haben glaubt,88 dem Ehebruch mit dem Suizid. Fast könnte man seinen »altruistischen Selbstmord« als die letzte große Tat eines Oheims werten, der seinem Schwestersohn alles, selbst sein Leben, opfert.89 Doch der Graf wird sich auch darin verrechnet haben, denn seine Witwe wird ihren Liebhaber nicht heiraten und im Witwenstand verharren.

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»Er hat jedenfalls seine ›Wahlverwandtschaften‹ gelesen«. (G 64) Zur Bedeutung des Schlosses als Chronotopos vgl. Karla Müller: Schloßgeschichten. Eine Studie zum Romanwerk Theodor Fontanes. München 1986. Vgl. hierzu auch Hannelore Schlaffer: Die gesprächige Ehe. Eine Utopie des späten Fontane. In: Fontane-Blätter 67 (1999), S. 75–90. »Es thut nie gut, sich in künstliche Situationen hineinzubegeben und sich auszurechnen, wie’s kommen müsse. Die Rechnung stimmt nie.« (G 215) Vgl. Emile Durkheim: Der Selbstmord. Frankfurt/M. 1983, S. 242–272. Entgegen der Annahme, dass es in primitiven Gesellschaften keinen Selbstmord gebe, führt Durkheim eine Reihe von Fällen an, in denen sich Mitglieder primitiver Gesellschaften gezwungen sehen, sich das Leben zu nehmen – so etwa Witwen, Alte und Diener verstorbener Herren: »In allen diesen Fällen nun tötet sich der Mensch nicht, weil er sich das Recht dazu nimmt, sondern, und da ist ein großer Unterschied, weil er dazu verpflichtet ist. Wenn er seiner Pflicht nicht nachkommt, ist er der Schande ausgesetzt und sehr oft auch religiösen Strafen.« (Durkheim, Der Selbstmord, S. 244f. [Hervorhebung im Original]) Diesen Selbstmord, der dem Einzelnen durch die Gruppe auferlegt

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Um dieses Verharren im Witwenstand und das Ausbleiben einer erneuten Heirat zu verstehen, lohnt ein Blick auf die bürgerliche Franziska Franz. Sie hat mit Marie aus Vor dem Sturm und Ebba von Rosenberg aus Unwiederbringlich den Status des Mignons gemein.90 Zunächst Publikumsliebling in der Wiener Theaterwelt, bald darauf Protegée des Grafen Petöfy avanciert die preußische Pfarrerstochter zur Diva, die nur mehr »die Franz« genannt wird.91 Sie ist »schon in’s dritte Jahr eine Wienerin«,92 als sie im Salon der Petöfys mit dem Ungarischen in Berührung kommt. Bereits die erste Konversation im petit cercle der Gräfin von Gundolskirchen gleicht einer Schulstunde, in der die Kenntnisse der Schülerin Franz über die magyarische Kultur abgefragt werden.93 Eine Elevin bleibt sie auch nach ihrer Ehe mit dem Grafen: Als ehrgeizige Fremde um Assimilation bemüht, übt sie sich im Reiten und Billardspiel. Fleißig lernt sie Ungarisch, die Fremdsprache, und verfasst parallel zum Lernprogramm akribisch Berichte: Anfänglich jeden Tag und jetzt jeden zweiten Tag kommt der Herr Curatus von Szegenihaza herauf und gibt mir eine Sprechstunde (magyarisch), die sehr oft eine Doppelstunde wird. […] Ich disputire mit ihm beinahe mehr, als ich konjugire, woraus mir der Vortheil wird, im Ungrischlernen auch zugleich die katholische Kirche kennen zu lernen, von der ich offen gestanden bis dahin sehr unausreichende Begriffe hatte. […] Meine Fortschritte setzen mich beinahe selbst in Verwunderung, aber mehr noch, als sie mich verwundern, beglücken sie mich. Denn ich

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wird, bezeichnet Durkheim als »altruistisch« (im Gegensatz zum »egoistischen« Selbstmord). Die einzige Institution in modernen Gesellschaften, die den altruistischen Selbstmord begünstigt, ist das Militär: »Das Militär ist im übrigen unter allen Gruppen, die unsere modernen Gesellschaften bilden, der Struktur nach den primitiven Gesellschaften am ähnlichsten.« (Durkheim, Der Selbstmord, S. 263) Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass gerade bei Offizieren die Selbstmordrate (in Durkheims Untersuchungszeitraum 1876–1890) signifikant höher liegt als in anderen Berufsgruppen. Der Selbstmord bei Fontane entspricht dieser sozialen Tatsache: Es sind auch hier vor allem Angehörige des Militärs, die sich das Leben nehmen. Gunhild Kübler deutet die Verwandlung der Franziska Franz in Gräfin Petöfy, den märchenhaften sozialen Aufstieg von der Soubrette zur Adligen als einen Individualisierungsprozess, der sich im Widerstand mit der Scheinwelt der adligen Sphäre, als deren Teil Graf Petöfys Konzept der Ehe anzusehen ist, entwickelt. (Vgl. Gunhild Kübler: Die soziale Aufsteigerin. Wandlungen einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung im deutschen Roman 1870–1900. Bonn 1982, S. 53–56) In Abgrenzung zu dieser These beschreibe ich die Verwandlung der Franziska Franz als Assimilation an die Welt der Gräfinnen Petöfy. Der Nachname der Diva ist meist – Zeichen ihrer Potenz? – ein männlicher Vorname, wie hier »Franz«. In Aus guter Familie heißt die Diva »die Daniel«. (Vgl. Reuter, Aus guter Familie, S. 134) Die Zusammensetzung aus dem bestimmten Artikel und dem Nachnamen zur Kennzeichnung einer Diva ist noch heute gängig: »Status: Bald ›Die Makatsch‹«. (Vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin. Nr. 34 [2007], S. 4) Der Text ist, was Assimilationsverweise angeht, ziemlich genau. Franziska Franz sagt von sich, »eine Wienerin« (G 23) zu sein. Der unbestimmte Artikel, den sie verwendet, weist sie als Fremde aus. Für den Einheimischen genügt ein: Ich bin Wiener. Der Satz »ich bin eine Wienerin« klingt in diesem Zusammenhang ebenso fremd wie das »ich bin ein Berliner« John F. Kennedys. Sie wird zunächst unterschätzt: Sie kenne »muthmaßlich […] überhaupt nichts von Ungarn als den Attila unserer Husaren.« Der Graf verrät: »O doch, doch; das Fräulein kennt und weiß mehr, viel mehr, und sie soll uns selber sagen, was sie von Ungarn weiß. […] [I]ch kann ihr ein Examen rigorosum auf diesen Punkt hin nicht ersparen«. (G 23f.) Das Fräulein kennt zwei Gedichte, die sie aufsagt. Danach ist die ›Schulstunde‹ zu Ende.

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gehöre nun diesem Lande mit meinem Herzen, und wenn vielleicht nicht voll mit meinem Herzen, so doch mit meinen Entschlüssen an und will das ganz sein, was zu sein ich mir an jenem mir unvergeßlichen Tage vornahm, der mir zuerst Ihr schönes Herz und Ihre wohlwollenden Gesinnungen für mich offenbarte. (G 143f.)

Nicht zufällig ist die Adressatin dieses Berichts die Bräutigamschwester Judith. Die Schwester des Grafen ist – wie der Briefinhalt nahelegt – die Stifterin der Ehe ihres Bruders und betätigt sich nach der Eheschließung als Mentorin der jungen Schwägerin: Ich freue mich, daß Dein Leben auf Schloß Arpa Dich so glücklich macht, und find’ es klug, daß Du das Ungrische so gleichsam von verschiedenen Seiten her in Angriff nimmst. Aber wenn Du den Rath einer alten Frau nicht verschmähst, so gehe darin nicht zu weit. Es wird das Klügste für Dich sein, deutsch zu bleiben und das Ungrische nur so weit gelten zu lassen, soweit es gelten muß. Alles, was in Deinem neuen Leben an Dich herantritt, mußt Du freundlich ansehen und ein Wort der Anerkennung dafür haben, auch selbst gegen besseres Wissen, aber Du darfst nicht selbst ungrisch sein oder werden wollen. […] Wir sollen unser Ich opfern um der erlösenden Liebe willen, das ist etwas Großes, aber wir sollen uns, unser Volk und unsere Sprache nicht aufgeben, bloß um einer andern in gleicher Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit befangenen Nationalität willen.94 (G 162f.)

Mit dem Verweis auf die erlösende Liebe Christi macht die Schwester deutlich, dass die Aufnahme in eine spirituelle Gemeinschaft ein weitaus erstrebenswerteres Ziel darstellt als die Naturalisierung. Sie schlägt damit der ehemaligen Pfarrerstochter indirekt den Übertritt zur katholischen Kirche vor. Ihre Anspielungen sind mit Bedacht gewählt, heißt es doch zu Beginn, dass sie »allerlei Lieblingsplänen, am meisten aber dem ihr ein besonderes Wohlgefühl schaffenden Gedanken einer Konversion [der Pfarrerstochter zum Katholizismus, N.G.] nach[hängt].« (G 72) Wenn es in diesem Roman um das Versprechen geht, dass alles (selbst das Glück) erlernt werden kann,95 stellt sich die Frage nach der Erlernbarkeit der Konversion. Tatsächlich gehen dem Sprechakt der Konversion die vielen Bekenntnisse der Pfarrerstochter als wiederholte Einübung in die bekennende Sprechweise voraus: »Ich fühle meine Schwäche, mein Unrecht, und ich bekenne mich dazu.« (G 196) In einsamen Stunden auf dem Schloss liest sie Rousseaus Bekenntnisse, (vgl. G 158) und es sind bei der ersten Einladung in das Haus Petöfy »Confessions«, welche die Bräutigamschwester von ihr – wie sie ihrem Bruder mitteilt – hören möchte: »Wir haben Dich, um die Wahrheit zu gestehen, nicht vermißt, […] am wenigsten in dieser letzten Minute, wo wir in der bevorzugten Lage waren, Confessions entgegennehmen zu können. Und Du weißt ja, Bruder, wie viel uns Confessions bedeuten!« (G 20f.) Die Pläne der Schwester werden sich erst nach dem Tod des Bruders erfüllen, als die Witwe konvertiert, um ihrem neuen Status als Schlossherrin gerecht zu werden: »Ich bin nun Gräfin Petöfy, ja, seitdem ich dieß schwarze Kleid trage, mehr als vorher. Es war nicht nöthig, daß ich’s wurde; vielleicht wär’ es besser gewesen, ich wurd’ es nicht. Aber

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Die Schülerin begegnet dem Tadel mit einem weiteren Lernprojekt: »Ich glaube, daß sie Recht hat und daß es in der That eine Gefahr in sich birgt, sich irgendwo gewaltsam einbürgern zu wollen. Ich muß Alles mehr abwarten lernen.« (G 164) »Vielleicht kann man glücklich sein, wenn man es sein will, und ich hab’ einmal gelesen, man könne das Glück auch lernen. Das hat mir gefallen.« (G 169)

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ich bin es jetzt und kann den Schritt nicht rückwärts thun. Dieß Schloß ist mein und sein Besitzantritt […] an keine Bedingung geknüpft; ich hab’ es zu freiem Eigenthum.« (G 222) Die Konversion der ehemaligen Soubrette ist mit den Assimilationsbemühungen des polnischen Grafen Ladalinski in Vor dem Sturm vergleichbar, der in den märkischen Adel hineinzuwachsen begehrt und daher die Konfession seines Hauses zugunsten der protestantischen aufgibt. Dass erst der konfessionelle Übertritt ihre Einverleibung in das Haus Petöfy beschließen würde, wird ihr bei einem Besuch der Familiengruft der Petöfys klar, den sie gemeinsam mit den beiden Geschwistern unternimmt: »Endlich trat er [der Graf, N.G.] in die Lücke, die noch zwischen dem letzten Sarg und dem Wandpfeiler war, und sagte: ›Sieh’, Judith, zwei Plätze noch, für Dich und für mich. Kommt noch wer, so müssen wir zusammenrücken. […]‹ Franziska gab es einen Stich, als er so sprach. Gehörte sie nicht hieher? Ueberkam ihn plötzlich eine Standes- und Hochmuthslaune? Nein, unmöglich. […] War es, daß er sie zart und rücksichtsvoll in ihrer Eigenschaft als Protestantin nicht ohne Weiteres an die katholische Stelle hin einladen wollte?« (G 177) Der Roman setzt die Konversion der Protestantin als die Wahl einer neuen Hausgöttin in Szene. Denn nicht anders als als »Hausgöttin« ist die Heilige Jungfrau Maria zu bezeichnen, deren Bild von Franziska Besitz ergreift, indem es ihren Blick in dem Augenblick bannt, als sie ihr neues Zimmer im Schloss betritt: »In Franziska’s Zimmer dämmerte das Licht des scheidenden Tages. Was sie zunächst sah, war ein Muttergottesbild über ihrem Schreibtisch. Es gab ihr im ersten Augenblick einen Schreck«. (G 101f.) Diese Szene wiederholt sich, als sie die Familiengruft der Petöfys besucht. Wieder ist es das Bild der Maria, das sie gefangen nimmt: »Staub und Spinnwebe lagerten über Allem, und der unausgesetzt aufsteigende Qualm der ewigen Lampe hatte das steife byzantinische Marienbild, das an der Wand dahinter aufragte, halb überblakt. Die strengen Züge schienen noch strenger geworden […]. Franziska konnte sich von dem Bilde nicht trennen und sah andächtig und bewegt hinauf«. (G 176) Dass ihre Aufnahme unter dem Schutz der Heiligen steht, geht aus dem letzten Satz des Romans hervor: »›Und wer soll Dich schützen?‹ ›Ich denke, sie, die schon so viele Gräfinnen Petöfy beschützt hat.‹ Und sie [Franziska, N.G.] wies auf die Nische, daraus das Bild der Maria niederblickte.« (G 224) Der Bildungsroman der Gräfin Petöfy lässt den »Neffen des Hauses«, (G 7) Graf Asperg, als Verlierer der ganzen Affäre zurück, denn das Erbe des vermeintlichen Erbonkels fällt an dessen Witwe.96 So wie der Neffe sein Leben im Scherz beschreibt – »das Leben mit dem Doppelmittelpunkte zweier Tanten« (G 170) – wird es auch bleiben. Mit der Konversion der Gräfin Petöfy glückt einerseits der Plan der Bräutigamschwester, zwischen sich, der ehemaligen Braut ihres Bruders und der Braut Christi einen schwesterlichen Bund zu stiften, der das Haus überdauert.97 Die Mesalliance zwischen der Bürgerin und dem Grafen bildet nur eine Episode auf dem Weg der Pfarrerstochter in

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Zur Bezeichnung »Bildungsroman« im Zusammenhang mit dem Lebenslauf der Franziska Franz vgl. Colin Walker: Inheritance, allegiance and conversion in Graf Petöfy. In: Alan Bance (Hg.): Theodor Fontane. The London Symposium. Stuttgart 1995, S. 253–272, hier: S. 270. »Ich habe Dein Vertrauen gewonnen, fast Deine Beichte; jede Scheidewand zwischen uns ist gefallen, und unser Fühlen und Denken gehört einander.« (G 224)

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die spirituelle Gemeinschaft. Andererseits gelingt damit Gräfin Petöfy/Franziska Franz der Plan, über die Standes- und Konfessionsgrenzen hinweg in die Gemeinschaft der »Gräfinnen Petöfy« (G 224) aufgenommen zu werden.98 Die Gemeinschaft der Gräfinnen ist eine der Lebenden und Toten, so dass Graf Petöfy die Idee der unsterblichen Körperschaft weitreichender als alle anderen Romane umsetzt.

7.

Bräutigambruder

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls Die Poggenpuhls erzählt von dynastischen Wünschen angesichts knapper Mittel. Der ökonomische Mangel erzwingt eine Fülle von sozialen Techniken, die den Ausschluss der Poggenpuhls aus der guten Gesellschaft aufhalten sollen. Zunächst ist festzuhalten, dass sich der soziale Abstieg dieser adligen Familie parallel zum Aufstieg der bürgerlichen und jüdischen assimilierten Häuser vollzieht, die im Roman die Namen Bartenstein, Gerson und Bleichröder tragen. Das Haus Poggenpuhl erhält sich dadurch, dass es die unverheirateten Töchter zum gesellschaftlichen Verkehr in den jüdischen Salons freigibt. Die Zuwendung des adligen Hauses zum jüdischen Haus wiederholt die Öffnung der adligen Häuser für Bürgerinnen – eine Öffnung, die sich in der vorangegangenen Generation der Poggenpuhls zweimal ereignet hat: Während der eine Bruder eine geborene Pütters ehelicht, ehelicht der andere eine geborene Bienengräber. Im Gegensatz zu Albertine Pütters hat Josephine Bienengräber eine reiche Mitgift in die Ehe eingebracht. Ihre Mitgift ist im Roman immer wieder Gegenstand von Spekulationen, weil alle Verwandten davon zu zehren scheinen – allen voran ihr Ehemann, der, selbst kinderlos, seinen Nichten, Neffen und seiner Schwägerin gelegentlich Geld schenkt.

Abb. 9: Die Poggenpuhls

Die erstgeborene Tochter des Hauses, Therese Pogge von Poggenpuhl, beobachtet die beiden Bürgerinnen – ihre Mutter und deren Schwägerin – hinsichtlich ihres bürgerlichen

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»[U]nd am dritten Tage stand der letzte Petöfy vor dem Altare unten in der Gruftkapelle. […] In Front aber saßen die beiden Gräfinnen selbst, den Blick auf den mit neuen Kränzen geschmückten Sarg gerichtet.« (G 220)

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Habitus. Am Ende urteilt sie über die Schwägerin ihrer Mutter, sie sei »eine Frau, in der alles Frühere bis auf den letzten Rest getilgt ist«. (P 109) Erst dieser »Umwandlungsprozeß« (P 119) macht aus der Ehefrau ihres Onkels eine fiktive Tante. Die Erstgeborene, deren Adelsstolz der Erzähler ins »Ridiküle« (P 102) treibt,99 repräsentiert das Haus, obwohl die Mutter, Albertine Pogge von Poggenpuhl, geborene Pütters, noch am Leben ist. Sie erteilt der Mutter Ratschläge in Erziehungsfragen und weist sie in ihrem Umgang mit Bediensteten zurecht.100 Der Erzähler hält Thereses Geringschätzung der Mutter bis in die kleinste Geste fest.101 Am Geburtstag der Mutter verweigert ihr Therese den Handkuss, eine dem Adel vorbehaltene Geste: »Leo [Poggenpuhl, der jüngere Bruder, N.G.] und die zwei jüngeren Schwestern [Manon und Sophie Poggenpuhl, N.G.] küßten ihr die Hand, während sich Therese mit einem Backenkuß begnügte.« (P 40) Sie ist in der Reihe der Geschwister isoliert, insofern sich bei ihr der soziale Abstieg des Hauses nicht so sehr manifestiert wie bei den anderen, deren Karrieren in einer Weise bürgerlich sind, die über das übliche Maß der Verbürgerlichung adliger Karrieren (gekennzeichnet durch die Einverleibung des Leistungsprinzips) hinausgeht: So wird die Karriere Wendelin Poggenpuhls, des ältesten Sohnes – eines »Musterknabe[n]« (P 31) –, ausgerechnet durch eine seiner militärwissenschaftlichen Studien beflügelt: »Kein halbes Jahr, so kommt er in den Generalstab. Was er über Skobeleff geschrieben hat Aufsehen gemacht.« (P 31) Eine der Töchter, Sophie Poggenpuhl, fasst ihre Tätigkeit, wodurch sie dem Haus Geld verschafft, in einer Formel zusammen, in der sich die Spannbreite der Erwerbstätigkeit einer Bürgerlichen im 19. Jahrhundert zwischen kunstgewerblicher Heimarbeit und dem Status einer Gouvernante zeigt: »[I]ch male Teller und Tassen und gebe Klavier- und Singunterricht.« (P 69) Es ist ihre Arbeit, die neben der kargen Witwenpension der Mutter und den sporadischen Geldgeschenken des besagten Onkels und Schwagers die Existenz der Schwestern sichert:102 »Ihr Leben ist immer Arbeit gewesen, und sie hält eigentlich alles zusammen, was sonst auseinander fiele.« (P 75) Die zwei Lebensläufe sind insofern bürgerlich, als mit Wendelin und Sophie Poggenpuhl ein Sohn und eine Tochter aus dem Haus treten, ohne durch die Ehe in ein neues Haus aufgenommen zu werden. Die Tochter zieht als Gesellschaftsdame auf das Schloss des Onkels, um von dort die Familie mit Nahrungspaketen zu versorgen;103 der Sohn verhindert die Ehe seines jüngeren Bruders mit einer reichen Jüdin, um die Gunst

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»[S]ie hält die Poggenpuhls für einen Pfeiler der Gesellschaft, für eine staatliche Säule, was natürlich lächerlich ist«. (P 63f.) »[D]u darfst ihn [Leo Poggenpuhl, N.G.] nicht so herabstimmen. Er muß sein Selbstgefühl behalten und sich sagen, daß ein Pommerscher von Adel immer seinen Platz findet. Ich bin guten Muts.« (P 40) »Du machst dich immer so vertraulich mit ihr [der Hausmagd, N.G.], mehr als eine Herrschaft wohl eigentlich sollte.« (P 60) Auf das Missverhältnis zwischen dem scheinbar belanglosen Inhalt und der symbolisch artifiziellen Anordnung, in welche die Lappalien gebracht werden, macht auch Uwe Hebekus aufmerksam. (Vgl. Hebekus, Klios Medien, S. 201) »Er giebt wohl dann und wann«. (P 30) »[K]eine Woche verging, ohne daß ein Brief aus Adamsdorf eingetroffen wäre, meistens gleichzeitig mit einer sorglich gepackten Kiste, […] frische Eier und alle eingewickelt«. (P 91)

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seiner Vorgesetzten nicht zu verlieren. Sein Erfolg in der Armee ist mit der Stagnation seines Hauses erkauft. Die beiden Brüder besetzen die einzigen Positionen im Haus, die eine Allianz mit anderen Häusern ermöglichen würden. Die Schwestern scheiden aufgrund mangelnder Mitgift aus und beginnen »in ihren Gedanken und Hoffnungen eigentlich nur für […] ihre Brüder« (P 11) zu leben.104 Von den beiden Brüdern tritt lediglich der Jüngere, Leo Pogge von Poggenpuhl, in Erscheinung, während der Ältere abwesend bleibt und nicht mehr zum Haus dazuzugehören scheint: »Er heißt Poggenpuhl, aber er ist keiner, oder doch ganz auf seine Weise, die von der unsrigen sehr abweicht.«105 (P 89) Der Roman lässt diesem älteren Bruder, Wendelin Pogge von Poggenpuhl, nur eine Möglichkeit offen, um wieder ins Haus zurückzukehren. Sie besteht darin, für den jüngeren Bruder um die Hand der Braut anzuhalten und die Position des Bräutigambruders einzunehmen. Diese Stelle aber bleibt unbesetzt: »Wendelin, der es doch schließlich machen müßte, will nicht.« (P 89) Statt der Öffnung des Hauses durch Eheschließung kommen am Ende, nach der Beerdigung des Onkels, »die beiden alten Damen, die den Namen Poggenpuhl trugen und doch keine Poggenpuhls waren«, (P 111) zusammen, um in Abwesenheit der Töchter »Geschäftliches« zu besprechen. Die Witwe fasst die ökonomische Lage zusammen: Nun denn ohne Umschweife. Sie wissen […], wie die Besitzverhältnisse liegen. Adamsdorf [das Gut, N.G.] verbleibt mir bei meinen Lebzeiten, dann fällt es an die Familie meines ersten Mannes zurück. Mein eingebrachtes Vermögen ging verloren. […] Aber diesen Vermögensverlust war ich doch im stande, später wieder zu begleichen, wenigstens einigermaßen. Poggenpuhl bestritt seine kleinen Liebhabereien von seiner Pension, unser Haushalt wurde sparsam geführt, und so hab’ ich mich in der glücklichen Lage gesehen, schlechter Ernten unerachtet, ein bescheidenes Privatvermögen aufs neue sammeln zu können. Darüber habe ich freie Bestimmung, und ehe Sie Adamsdorf verlassen, sollen Sie hören, wie ich darüber verfügt habe. Die Summe selbst beträgt bis zur Stunde nicht mehr als etwa siebzehntausend Thaler – ich rechne noch nach Thalern – von denen ich zwölftausend Thaler in fünfprozentigen Papieren bei meinem Bankier in Breslau deponiert habe. Sie werden davon, vom ersten Oktober an, die vierteljährlichen Zinsen empfangen, so daß sich Ihre Jahreseinnahmen um etwa sechshundert Thaler verbessern werden. Das Kapital ist unkündbar. Nur im Falle sich eine Ihrer Töchter verheiraten sollte, wird ihr ihr Anteil ausgezahlt. […] Dann sind da freilich noch die Söhne, und die sollen nicht vergessen sein. Aber das ist eine Privatsache, die das andre nicht berührt; sie werden sich mit kleinen einmaligen Geschenken ihrer Tante begnügen müssen. […] Für meine teure Sophie behalte ich mir noch Sonderentschlüsse vor. Das war es, meine liebe Majorin, was ich Ihnen vor Ihrer Abreise noch mitteilen wollte. (P 112f.)

Der Onkel hinterlässt kein Testament und streng genommen auch kein Erbe.106 Seine Witwe handelt nicht als Erbwalterin, sondern besetzt die Position dessen, der für den Unterhalt der Hausangehörigen aufzukommen und die Haustöchter gegebenenfalls mit

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»Und nun gar heiraten! So dumme Gedanken dürfen wir doch nicht haben; wir bleiben eben arme Mädchen.« (P 121) Diese Einsicht bekräftigend schreibt Sophie nach dem Tod des Onkels vom Schloss Adamsdorf nach Hause: »Ich habe viel an ihm verloren, aber nicht ich nur; wir werden ihn alle sehr vermissen, vielleicht Wendelin ausgenommen, der seinen Weg auch so macht.« (P 100) Zu den Erbgängen in Die Poggenpuhls vgl. Vedder, Münzen, S. 86–90.

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Mitgift auszustatten hat. An die Stelle der Aufteilung einer Erbmasse tritt die großzügige Schenkung aus der Privatschatulle. Wurde noch zu Beginn des Romans der Mangel an Verwandtschaftsbeziehungen der Poggenpuhls beklagt – »keine Stiftsdame, keine Muhme, keine Base, keine Tante, kaum eine Cousine, wenigstens keine richtige« (P 26) – und als Grund der finanziellen Misere – »nirgends Geld, nirgends Rückendeckung« (P 27) – erkannt, nimmt die angeheiratete Schwägerin am Ende die Position der Erbtante und Frauengeberin ein. Die Wertpapiere, deren Zinsen den Poggenpuhls zugute kommen sollen, sind in Breslau deponiert. Dies ist insofern ein aufschlussreiches Detail, als die schlesische Stadt, in der sich nach 1848 die Lage der jüdischen Händler verbessert, im sozialen Imaginären des wilhelminischen Kaiserreichs mit dem Ostjudentum assoziiert wird.107 Am Ende ersetzt der Roman den Verkehr zwischen den adligen und jüdischen Häusern durch den Geldfluss, der das Berlin der verarmten preußischen Adligen mit dem Breslau der Ostjuden verbindet.

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In diesem Zusammenhang spielt Gustav Freytags Schrift Die Juden in Breslau von 1849 eine wichtige Rolle: »Im Zusammenhang mit den Veränderungen, die sich kurz zuvor durch die Ereignisse von 1848 ergeben hatten – die Juden hatten sich zum ersten Mal als Gleichgestellte in die Breslauer Handelskammer Einlaß verschafft – diskutiert Freytag hier die jüdische Beteiligung an Handel und Geschäft.« (Hannah Burdekin: Kontinuität oder Veränderung? Freytags Judenbild vor und nach Soll und Haben. In: Florian Krobb [Hg]: 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 269–284, hier: S. 273) Vgl. zu den möglichen und unmöglichen Allianzen der jüdischen Dynastien mit den adligen Häusern Kap. IV/2.

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Kapitel IV Schenken

Die dritte Operation, die das Haus zu seiner Perpetuierung durchführen kann, ist das Schenken. Wer schenkt, bereichert – so die gesetzliche Definition – den Beschenkten aus seinem Vermögen, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (= BGB) werden die Bestimmungen zum Verhältnis zwischen Schenker und Beschenktem unter dem Titel »Schuldverhältnis« abgehandelt, »obwohl es kein Schuldverhältnis ist, sondern ein weitgehend formloser Gefälligkeitsvertrag mit besonderem Schwerpunkt in der Vermögensminderung des Schenkers«.1 Die Bezeichnung »Schuldverhältnis« kann dahingehend gedeutet werden, dass das BGB, obwohl es grundsätzlich von den Motiven und Absichten des Schenkers absieht, Bestimmungen darüber zulässt, was sich Schenker und Beschenkter gegenseitig schulden. Der Beschenkte verpflichtet sich zur »Pietät« gegenüber dem Schenker, (§§ 516ff.) so wie potentielle Geber von »Anstands- und Pflichtschenkungen« (§ 534) vom Gesetzgeber in die Pflicht genommen werden.2 Die Rechtssprechung kennt Fälle, in denen aufgrund mangelnder Pietät und groben Undanks Schenkungen widerrufen werden.3 Als widerrufbarer unentgeltlicher Vertrag birgt das Schenken daher Gefahren in sich, die nur durch Schenkungsverbote gemindert werden können.4 Im Zusammenhang mit dem Haus kann das Schenken als eine Form des Vererbens inter vivos gedeutet werden.5 Es wird in aller Regel immer dann geschenkt, wenn

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Friedrich Rost: Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens. Essen 1994, S. 71. Vgl. Rost, Theorien des Schenkens, S. 77. Die im BGB formulierten Bestimmungen über die Widerrufbarkeit von Schenkungen lassen sich auch im römischen Recht finden. Auch hier gibt es die Widerrufsmöglichkeit in Fällen, in denen sich der Beschenkte dem Schenker gegenüber als undankbar erweist (ingratitudo) oder der Schenker in eine Notlage gerät (beneficium competentiae). (Vgl. Werner Ogris: Art. ›Schenkung‹. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1382f.) Schenkungsbeschränkungen werden Ehegatten, unmündigen Kindern gegenüber ihren Eltern und Staatsbürgern gegenüber der »Obrigkeit« (vergleiche etwa Schenkungsverbote gegenüber Richtern und allen weiteren Beamten) auferlegt. (Vgl. Ogris, Schenkung, Sp. 1383) Dass Vererbungs- und Schenkungspraktiken in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu erforschen sind, fordert Jack Goody, wenn er schreibt: »Both inheritance and dowry, heritage and donation, are part of the more general process of devolution.« (Jack Goody: Inheritance, property and women: some comparative considerations. In: J.G., Joan Thirsk u. E.P. Thompson [Hg.]: Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe, 1200–1800. Cambridge/UK u. a. 1976, S. 10–36, hier: S. 15)

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Vererbungsgesetze umgangen werden sollen, die den Interessen des Hauses zuwiderlaufen. Schenken und Vererben stellen in ihrer Austauschbarkeit und Wechselwirkung – so meine These – ein weiteres Doppelgesetz dar, das Lévi-Strauss’ doppeltes Sukzessionsgesetz des Hauses (Kap. I/2) ergänzt. Diese Vermutung relativiert das historische Narrativ, das den Prozess des Häuserverfalls mit der Abschaffung der Primogenitur durch die Französische Revolution im Jahr 1790 und der darauf folgenden Aufhebung des Majoratsrechts in den deutschen Ländern beginnen lässt.6 Demnach werden die Häuser durch die neuen Gesetze genötigt, ihr Vermögen und ihre Güter zwischen allen Erben aufzuteilen, statt sie geschlossen an einen bevorzugten Erben weiterzugeben. Die dadurch unabwendbare Zersplitterung des Hausvermögens führt – so das Narrativ – zwangsläufig die Zersplitterung und den Verfall des Hauses herbei.7 Wenn aber das Haus eine Körperschaft ist, deren Perpetuierung sich weniger der Umsetzung, sondern mehr der Umgehung bestehender Rechtsnormen verdankt, dann genügt es nicht, die Geschichte des Hauses allein anhand der Aufhebung einzelner Gesetze zu rekonstruieren. Zu untersuchen sind Gesetzeskorrekturen auf benachbarten Gebieten, die solchen Aufhebungen häufig folgen. Im Fall der Aufhebung der Primogenitur sind es Bestimmungen über die Schenkung der Eltern an ihre Kinder im Code Civil von 1804, die mehrfach geändert werden:8 Schenken erscheint als kompensatorische Funktion des Vererbens. Dieses Doppelgesetz lässt sich bis hin zu Riehls Bestimmungen des »ganzen Hauses« zurückverfolgen: Eines der merkwürdigsten Dörfer, in welchem der familienhafte Zusammenhalt aller Ortsnachbarn gleichsam das Dorf selbst zu einem »ganzen Haus« macht, ist Gerhardsbrunn auf der Sickinger Höhe in der Pfalz. Mitten in einer nivellierten, von den Einflüssen der französischen Herrschaft tief berührten Gegend gelegen, hat es lediglich durch den Familienzusammenhalt seine Eigentümlichkeit zu retten gewußt. Und es ist dabei reich geworden bei nur mäßiger Gunst der Lage. Fast alle Familien des Dorfes sind untereinander verwandt; und bei allen wirtschaftlichen Interessen erscheint das Dorf als eine festgeschlossene Verbrüderung. Dem Gesetze [Code Civil, N.G.] nach darf es dort keine geschlossenen Erbgüter, nicht Majorate oder Minorate geben. Damit aber jede Familie in Glanz und Wohlstand bleibe, stehen alle Ortsnachbarn für einen Mann und machen durch eine treu bewahrte Sitte jenes Gesetz illusorisch. Die Familie

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»Verordnet der Stifter, daß zwar der nächste aus der Familie, dem Grade nach, zur Succession gelangen, unter mehrern gleich nahen aber der ältere, den Jahren nach, die jüngern ausschließen solle: so heißt die Stiftung ein Majorat.« (Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794. Textausgabe. Hg. Hans Hattenhauer. Frankfurt/M. u. a. 1970, S. 415 [ALR II 4 § 145]) Zur Rechtsgeschichte des Majorats vgl. Jörn Eckert: Der Kampf um die Familienfideikommisse in Deutschland. Studien zum Absterben eines Rechtsinstituts. Frankfurt/M. u. a. 1992. Als Beispiel für dieses historische Narrativ und dessen literarhistorische Anwendung vgl. Ulrike Vedder: Majorate. Erbrecht und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Sigrid Weigel, Ohad Parnes, U.V. u. Stefan Willer (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte der Genealogie. München 2005, S. 91–107. Die historische Untersuchung von Schenkungspraktiken ist – verglichen mit der gut etablierten Forschung zur Geschichte des Erbrechts – ein junger Forschungszweig. (Vgl. Lanzinger, Tanten, S. 41 und Jürgen Kocka u. Gabriele Lingelbach [Hg.]: Schenken, Stiften, Spenden. Göttingen 2007) Vgl. zur Kritik an der Leitdifferenz Realteilung versus Alleinerbrecht in der Geschichtswissenschaft Volker Lünnemann: Familialer Besitztransfer und Geschwisterbeziehungen in zwei westfälischen Gemeinden (19. Jahrhundert). In: Historical Social Research 30/3 (2005), S. 31–47. Vgl. Bonfield, European Family Law, S. 136 u. 139f.

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beschließt, wer von den Kindern das Gut erben soll. Für die Nichterbenden sucht man in den Nachbardörfern, wo der Boden wohlfeiler ist, ein Stück Landes anzukaufen, oder sie finden im Heimatdorfe selbst ihr Unterkommen.9

Die Wechselwirkung von Erbe und Schenkung zeigt sich darin, dass für die nicht erbenden Geschwisterkinder – als Abfindung – »ein Stück Landes« gekauft wird. Das von Riehl beschriebene selbstregulative Wechselspiel der verschiedenen Übertragungsmodi von Vermögen, die mehrfache Verknotung von Vererbungs- und Schenkungspraktiken hat überdies eine geschlechtsspezifische Dimension: Die Mitgift wird nicht selten als eine solche Abfindung interpretiert, die den Ausschluss der Töchter vom Erbe rechtfertigt.10 Umgekehrt erlaubt sie es, unliebsame Söhne zu enterben und über die Mitgift der Töchter fiktive Söhne an das Haus zu binden. Das folgende Kapitel zeigt, dass die rechtshistorische Auseinandersetzung mit der Mitgift und dem Mitgiftversprechen Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen dynastischer Hauspolitik provoziert. Schließlich führen die folgenden Abschnitte vor, wie die geschlechtsspezifische Codierung von Schenken und Vererben zur Entstehung einer als jüdisch apostrophierten Hauspolitik beiträgt.

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Riehl, Die Familie, S. 157f. Vgl. Brauneder, Mitgift, Sp. 610. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Wechselwirkung von Erbe und Mitgift findet sich in der Geschichte des jüdischen Rechts: »Nach der Tora waren Töchter, solange Söhne existierten, vom Erbe ausgeschlossen. In tannaitischer Zeit [1.–3. Jahrhundert n. Chr., N.G.] wurden der Unterhalt der noch unverheirateten Töchter […] und die bei der Eheschließung gestellte Mitgift […] als Kompensation für den Ausschluss vom Erbe interpretiert […]. Daneben sind jedoch bereits in tannaitischer Zeit Fälle belegt, in denen Töchter de facto erbten, wenn auch der Terminus ›erben‹ umschrieben wurde, um nicht explizit der Tora zuwiderzuhandeln. Seit dem Spätmittelalter wurde es üblich, neben den Söhnen auch den Töchtern einen Anteil am Erbe zu verschaffen, was seinen Grund auch in der veränderten Mitgiftpraxis hatte: Wenn die Brüder einer Frau bei ihrer Heirat gleichfalls mit einer Mitgift ausgestattet wurden, konnte die Stellung der Mitgift nicht mehr der Grund dafür sein, Töchter vom Erbe auszuschließen. Oder aus der Sicht des Bräutigams formuliert: Wenn von ihm eine Mitgift bei der Eheschließung erwartet wurde, musste auch die Familie der Braut Zusagen hinsichtlich des Erbes machen.« (Klein, Ehegüterrecht, S. 76f.) Um das jüdische Gesetz, das im Streitfall den Brüdern zuungunsten der Schwester Recht geben würde, zu umgehen und gleichzeitig zu garantieren, dass die Schwester das ihr zugesprochene Vermögen erhielt, stellte der Vater seiner Tochter einen fiktiven Schuldschein aus. Gleichzeitig setzte er im Testament fest, dass seine (männlichen) Erben die Wahl hätten, die Schulden des Erblassers gegen die Tochter zu begleichen oder aber ihr den (halben) männlichen Erbteil auszuzahlen. Der fiktive Schuldschein wiederum war auf eine so hohe Summe ausgestellt, dass es sich für die männlichen Erben lohnte, der Tochter nach testamentarischer Verfügung des Erblassers ihr faktisches Erbe zukommen zu lassen. (Vgl. Klein, Ehegüterrecht, S. 77) Dieses Verfahren scheint sich noch bis ins 18. Jahrhundert erhalten zu haben. (Vgl. Moses Mendelssohn: Ritualgesetze der Juden betreffend Erbschaften, Vormundschaftssachen, Testamenten und Ehesachen, in so weit sie das Mein und Dein angehen. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Bearb. Simon Rawidowicz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 109–251, hier: S. 131f.) Vgl. zur Wechselwirkung von Erbe und Mitgift im 19. Jahrhundert Florence Laroche-Gisserot: Pratiques de la dot en France au XIXe siècle. In: Annales. Histoire, Sciences sociales 43/6 (1988), S. 1433–1452.

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1.

Vermögensübertragung inter vivos: Die Mitgift

Mitgift, Aussteuer und Ausstattung werden noch heute teilweise synonym verwendet. Das BGB von 1900 kennt lediglich die Ausdrücke »Aussteuer« und »Ausstattung«. Die Mitgift ist ihm fremd. Von den beiden ersten Begriffen ist »Ausstattung« der allgemeine: Er umfasst alles das, was die Eltern Töchtern und Söhnen zuwenden, um ihnen, nach Verlassen des Hausverbands, die Gründung einer eigenen Existenz zu ermöglichen. Die Gründung einer eigenen Existenz fällt zwar in den meisten Fällen mit der Eheschließung zusammen, sie kann sich aber auch mit dem Eintritt in ein Kloster, der Eröffnung eines Geschäfts oder dem Amtsantritt vollziehen. Der Begriff »Aussteuer« wiederum wird lediglich für die elterliche Zuwendung an die Tochter verwendet und umfasst in erster Linie Gegenstände und den persönlichen Besitz der Braut. Während die Aussteuer gelegentlich als »Personalmitgift« bezeichnet wird, heißt es von der Mitgift, sie könne auch Liegenschaften beinhalten. Im Gegensatz zur Aussteuer und Ausstattung, zu deren Bestellung nur die Eltern – allenfalls noch die Verwandten der Braut – moralisch verpflichtet sind, kann die Mitgift auch von dritter Seite bestellt werden.11 Um 1900 werden Praktiken der Ausstattung und das Mitgiftversprechen offenbar zum Problem. Da das BGB die Frage, unter welchen vertraglichen Bedingungen Mitgiftversprechen bindend sein können, nicht klärt, öffnet sich ein Feld, auf dem sich Rechts- und Kulturhistoriker der Mitgift erneut zuwenden. In diesem Zusammenhang ist Friedrich K. Neubeckers Studie Die Mitgift in rechtsvergleichender Darstellung besonders aufschlussreich, da sie eine vertragliche Konstellation ins Zentrum rückt, die eine eindeutig hauspolitische Dimension aufweist.12 Neubecker fasst Rechtsfälle ins Auge, in denen nicht die Tochter und Braut, sondern der Bräutigam als Empfänger der Mitgift dem Brautvater und Mitgiftbesteller gegenübertritt. Seine Sorge gilt nicht der moralischen Verpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern, die man – so eine mögliche Forderung – in eine rechtliche Pflicht umwandeln könnte, sondern dem Schwiegersohn als dem potentiellen Empfänger der Mitgift. In welchem Maß Neubecker die Bedeutung der Mitgift ausgehend von der Position des Schwiegersohns formuliert, zeigt sich in seiner Behandlung des russischen Rechts: Dies ist der Grundgedanke: der Mann wird völlig ausgeschaltet – vom Gesetze wenigstens. So geht ihn das Vermögen der Frau – »eigentlich« – gar nichts an. Ob sie etwas hat zur Zeit der Eheschließung, kann ihm – oder vielmehr muß ihm – »eigentlich« – gleichgültig sein. So bestehen also – eigentlich – gar keine Beziehungen zwischen dem Schwiegersohn und den Schwiegereltern, sondern lediglich zwischen der Tochter und ihren Eltern. Die Mitgift ist eine Angelegenheit unter diesen Personen. Geben die Eltern der Tochter etwas mit, dann ist das eine

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Zur begrifflichen Abgrenzung vgl. Brauneder, Mitgift, Sp. 610–612 mit Werner Ogris: Art. ›Ausstattung‹ und ›Aussteuer‹. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Bd. 1. Berlin 1971, Sp. 269f. u. 271–273. Zur Aussteuer vgl. auch Agnès Fine: Die Aussteuer – Teil einer weiblichen Kultur? In: Michelle Perrot (Hg.): Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich? Frankfurt/M. 1989, S. 161–198. F.K. Neubecker: Die Mitgift in rechtsvergleichender Darstellung. Leipzig 1909.

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Zuwendung eben an die Tochter. Ist der Schwiegersohn dabei – so ist eben ein Dritter dabei, den die ganze Sache nichts angeht.13

Die güterrechtliche Ausschaltung des Schwiegersohns findet im russischen Recht vor dem Hintergrund der ehelichen Gütertrennung statt. Es wird betont, dass in diesem Fall »vollkommene, vollkommenste Gütertrennung« herrscht.14 Im Gegensatz hierzu wurde in den deutschen Partikularrechten und im Anschluss daran im BGB als gesetzlicher Güterstand die Gütergemeinschaft festgesetzt.15 In beiden Fällen ist die Tochter Empfängerin der elterlichen und verwandtschaftlichen Zuwendung, auch wenn im Fall der ehelichen Gütergemeinschaft die Mitgift in ein Gemeingut eingeht und infolgedessen vom Ehemann verwaltet und genutzt werden kann. In Neubeckers Rechtsvergleich jedoch stellt das Mitgiftversprechen eine triadische Konstellation her, in welcher der Schwiegersohn – vermittelt durch die Braut – den Platz des Empfängers einnimmt. Neubeckers Studie problematisiert die beiden Möglichkeiten, als Bräutigam eine Mitgift zu empfangen: Geht der Bräutigam beim Empfang der Mitgift eher einen entgeltlichen Vertrag ein, der ihn zur Gegenleistung verpflichtet, oder wird er beschenkt? Beide Empfangsmodi sind, wie er in den Abschnitten zum Mitgiftversprechen zeigt, mit der Natur der Mitgift nicht zu vereinbaren. Der Empfang der Mitgift als entgeltlicher Vertrag provoziert die Frage, welchen Gegenwert der Bräutigam anzubieten habe, und ob ein solcher Vertrag nicht dem Kaufakt gleichzusetzen ist. Neubeckers Zeitgenossen beantworten die Frage nach der ehemännlichen Gegenleistung mit dem Verweis auf die Ehelasten, die vornehmlich der Ehemann zu tragen hat. Dagegen kann argumentiert werden, dass Mitgift und Ehelasten zwei unterschiedliche Rechtsfragen berühren, da der Ehemann – ausgehend von der rechtlichen Definition der Ehe – die Ehelasten immer zu tragen hat, also auch die Lasten einer undotierten Ehe.16 Neubecker selbst ist hellsichtiger. Wäre der Empfang einer Mitgift einem Kaufakt gleichzusetzen, wäre es der Bräutigam selbst, der zum Verkauf stünde. In diesem Fall kauften sich die Schwiegereltern einen Schwiegersohn. Neubecker mahnt: »In diesem Sinne einen Mann zu kaufen, ist nicht angängig.«17 Ein zweiter Empfangsmodus bestimmt die Mitgift als Schenkung. Die Schenkung, so sie nicht in die Rechtsform des notariell beglaubigten Vertrags überführt wird, ist – wie bereits ausgeführt – eine höchst instabile Form der Gabe. Neubecker schreibt, dass die Juristen in Ermangelung einer gesetzlichen Definition die Mitgift als Schenkung klassifizieren: »Das Gesetz schweigt. […] Das BGB. bestimmt nichts über die Mitgift, folglich liegt Schenkung vor, da die Heirat nicht als Gegenleistung angesehen werden kann. Das ist sehr einfach, sehr klar und sehr – falsch.«18 Während die Richter in einem Fall die

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Neubecker, Mitgift, S. 152. Neubecker, Mitgift, S. 151. Dies wurde im Vorfeld der Verabschiedung des Familienrechts im BGB äußerst kontrovers diskutiert. Die bürgerliche Frauenbewegung setzte sich – wenn auch ohne Erfolg – für die eheliche Gütertrennung ein. (Vgl. Jens Lehmann: Die Ehefrau und ihr Vermögen. Reformforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zum Ehegüterrecht um 1900. Köln u. a. 2006) Vgl. Erna von Langsdorff: Die Mitgift. Ein Beitrag zur Lehre vom Entgelt. Heidelberg 1911. Neubecker, Mitgift, S. 240. Neubecker, Mitgift, S. 227 u. 229.

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Unentgeltlichkeit der Mitgift zum Maßstab ihres Urteils machen und sie deshalb zur Schenkung erklären, argumentiert Neubecker dafür, in der verabredeten Eheschließung eine Form des Entgelts für das Mitgiftversprechen zu sehen. So wie die Verlobung den Mann an die künftige Braut bindet, soll ihn das Mitgiftversprechen an die künftigen Schwiegereltern binden: »Die Verpflichtung zur Heirat folgt aus dem Verlöbnis. Aber die Pflicht zur Eheschließung obliegt nicht nur gegenüber der Braut. Die Braut wird vielfach und normal von den ›Eltern‹ erbeten. […] Auch diesen gegenüber besteht eine Eheschließungspflicht.«19 Die Schwiegereltern sind dem Schwiegersohn das Einlösen des Mitgiftversprechens schuldig, so wie er diesen das Einlösen des Eheversprechens schuldet. Neubecker baut seine Theorie der Mitgift um diese wechselseitige Verabredung auf und definiert damit die Eheschließung als Frauentausch im Lévi-Strauss’schen Sinn: Es sind weder die Eltern und die Tochter noch die Brautleute, sondern die Schwiegereltern und der Schwiegersohn, die einen Vertrag eingehen.

2.

Hausgesetze

Die Rede über die Mitgift der Töchter ist Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit der Frage, welche Häuser miteinander koalieren können, welche nicht – oder auch: welche Verbindungen zu wünschen, welche zu verhindern sind. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, bestand das geheime Hausgesetz der bürgerlichen Familienunternehmen bis in die 1870er Jahre darin, Heiratsallianzen mit anderen bürgerlichen Unternehmen einzugehen, bevor sie in der Bismarck-Ära anfingen, in adlige Kreise einzuheiraten. Der Allianz zwischen bürgerlichen Familienunternehmen und adligen Häusern lag als unausgesprochene Bedingung der Ausschluss der jüdischen Häuser als ebenbürtige Bündnispartner zugrunde.20 Die wilhelminische Hauspolitik ist dadurch gekennzeichnet, dass hier Vermögen über die Töchter und deren Mitgift, Status über die Söhne und deren Titel getauscht wird. Die geschlechtsspezifische Divergenz von Vermögen und Status hat typische Heiratsmuster zur Folge: Da es die adligen Häuser sind, die über die höchsten Titel verfügen, und sich Titel über die Söhne tauschen lassen, steht den adligen Söhnen die Allianz mit den Töchtern aller Häuser offen, sofern diese über eine ausreichende Mitgift verfügen. Da das jüdische Haus in der Regel keine Titel zu geben hat, ist es für die Allianzbildung auf die Töchter angewiesen: »It was the daughters who could rise to becoming Gräfin or Freifrau, whilst the sons would tend to ›drag down‹ their aristocratic wives into embourgeoisement.«21 Während also die jüdische Tochter Vermögen gibt und Titel nimmt, führt der jüdische Sohn im Fall der Allianzbildung für sein Haus einen doppelten Verlust herbei, da es ihm nicht gelingt, Vermögen (Mitgift) oder Titel zu nehmen.

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Neubecker, Mitgift, S. 236f. »A major impediment to assimilation was the near impossibility of intermarriage with Gentile families of comparable economic and social status.« (Werner E. Mosse: The German-Jewish Economic Élite 1820–1935. A Socio-cultural Profile. Oxford 1989, S. 181) Mosse, Economic Élite, S. 183. (Hervorhebungen im Original)

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Dieser Mechanismus erzwingt die hauspolitische Unterscheidung zwischen Söhnen und Töchtern, die von den Rothschilds am rigidesten praktiziert wird: Sie zeigt sich in einem »›Hausgesetz‹, demzufolge Mädchen mit nichtjüdischen Adligen verheiratet werden, während die männliche Linie rein jüdisch zu bleiben hat[te]«.22 Die Hausgesetze der jüdischen Häuser tauchen auch in den bislang untersuchten Romanen auf. Man könnte sogar sagen, dass die literarischen Topoi über die als überlegen wahrgenommene jüdische Heirats- und Verwandtschaftspolitik an der Verfestigung dieser Hausgesetze keinen geringen Anteil haben.23 So ist in Thomas Manns Buddenbrooks die Hauspolitik der jüdischen Hagenströms wesentlich anders bestimmt als die der bürgerlichen Buddenbrooks.24 Jene verfährt endogam, indem sie die Ehe zwischen Cousin und Cousine bevorzugt: »Schließlich waren noch die kleine Tochter von Hermann Hagenström, und der kleine Sohn von Moritz Hagenström zugegen, zwei weißgekleidete Kinder, die schon jetzt so gut wie mit einander verlobt waren, denn das Huneus-Hagenströmsche Vermögen sollte nicht verzettelt werden.« (B 382) Das »vorteilhafte Heiraten zwischen Geschwisterkindern« wird zwar an einer Stelle als »in der Stadt nichts Ungewöhnliches« diskutiert; es ist dennoch aufschlussreich, dass diese Form der endogamen Allianzbildung in Manns Erzählwerk ausschließlich im Zusammenhang mit jüdischen Häusern auftaucht.25 Die von den Hagenströms praktizierte Endogamie wird noch in Buddenbrooks mit Verweis auf finanzielle Erwägungen pragmatisch erklärt, aber schon wenige Jahre später in der Erzählung Wälsungenblut, die Mann in einem Brief an Heinrich Mann als seine »Judengeschichte« bezeichnete,26 als Inzest zwischen Bruder und

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Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. 8. Aufl. München 2001, S. 150; vgl. hierzu auch Mosse, Economic Élite, S. 182. Ein solches Hausgesetz lässt sich in abgeschwächter Form auch in den Allianzen anderer jüdischer Häuser beobachten, wie etwa bei den Goldschmidts in Frankfurt am Main. (Vgl. Mosse, Economic Élite, S. 169) Diese Vorstellungen sind nicht selten offen antisemitisch. Zum Antisemitismus der in der vorliegenden Arbeit behandelten Autoren vgl. Michael Fleischer: »Kommen Sie, Cohn.« Fontane und die »Judenfrage«. Berlin 1998; Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹. München 2000, insbesondere S. 107–205; zu Freytag vgl. Mark H. Gelber: Antisemitismus, literarischer Antisemitismus und die Konstellation der bösen Juden in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Florian Krobb (Hg): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 285–300; Benno Wagner: Verklärte Normalität. Gustav Freytags Soll und Haben und der Ursprung des »Deutschen Sonderwegs«. In: IASL 30/2 (2005), S. 14–37 und Klaus Christian Köhnke: Ein antisemitischer Autor wider Willen. In: Hans Otto Horch u. Horst Denkler (Hg.): Conditio Iudaica. Bd. 2. Tübingen 1989, S. 130–147. Zur Kennzeichnung der Hagenströms als Juden vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 188–205. »Zustimmung herrschte im Zimmer, und die Unterhaltung blieb ein wenig bei dieser Familienangelegenheit, dieser bevorstehenden Verehelichung [von Zerline und Bob Hagenström, N.G.] stehen; denn da vorteilhafte Heiraten zwischen Geschwisterkindern in der Stadt nichts Ungewöhnliches waren, so nahm Niemand Anstoß daran.« (B 664) Es gehört wohl zur Ironie von Manns Erzählstil, dass er an dieser Stelle zumindest in der Negation nahelegt, man könnte an den »vorteilhaften Heiraten zwischen Geschwisterkindern […] Anstoß« nehmen. Vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 93.

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Schwester variiert. Mit der literarischen Assoziation von jüdischer Endogamie und Inzest wiederum partizipierte Mann am antisemitischen Diskurs seiner Zeit.27 Im Gegensatz zu Thomas Mann, bei dem sich jüdische Hauspolitik gegen die anderen Häuser abschließt, entwirft Fontane in Die Poggenpuhls zumindest die Möglichkeit der Allianz zwischen jüdischen und adligen Häusern: Während in Unwiederbringlich die Juden als Hofjuden und Günstlinge thematisiert werden, sind es in Die Poggenpuhls die Adligen selbst, die gegenüber dem jüdischen Haus als Günstlinge um Aufnahme buhlen. Das Verhältnis jüdischer Liebling/adliges Haus hat sich also in das Verhältnis adliger Liebling/jüdisches Haus verkehrt. Haus Poggenpuhl verfügt mit »Leo, de[m] Liebling aller«, (P 12) und Manon über zwei Personen, die ihr Glück als Günstlinge der jüdischen Häuser versuchen.28 Das jüdische Haus Bartenstein in Die Poggenpuhls ist in der Lage, eine Reihe von Günstlingen zu unterhalten und erwünschte Adoptionen durchzuführen: »Die Wünsche beider Eltern, auch Floras [der Tochter, N.G.] selbst, gehen unzweifelhaft nach der Adelsseite hin, aber doch sehr mit Auswahl, und wenn beispielsweise bei Frau Melanie [der Mutter Flora Bartensteins, N.G.] – die sich ihrer und ihres Hauses Vorzüge sehr wohl bewußt ist – die Entscheidung läge, so weiß ich ganz bestimmt, daß sie’s unter einem Arnim oder Bülow nicht gern thun würde. Und nun berechne danach die Chancen der Poggenpuhls!« (P 87f.) Trotz ihrer geringen Chancen gelingt Manon ein erster Schritt, um den jüngeren Bruder in die Nähe der »Auswahl« an potentiellen Schwiegersöhnen zu rücken. Der Plan scheitert am älteren Bruder, der sich aus Rücksicht auf seine militärische Laufbahn weigert, für Leo um die Hand einer jüdischen Tochter anzuhalten. Die im Roman für die Poggenpuhls als einzige in Aussicht gestellte Partie scheitert an diesem Bruder. Die wechselseitige Undurchdringlichkeit der jüdischen und der adligen Sphäre lässt sich zunächst daran ablesen, dass der Erzähler an keiner Stelle eine Innenansicht des Hauses Bartenstein liefert, während er das Ambiente und die (Raum-)Ausstattung der Berliner Wohnung der Poggenpuhls und des Schlosses en détail beschreibt. Einzelheiten über das jüdische Haus erfährt der Leser nur durch Manon, deren Ausführungen einer routinierten Hofberichterstattung gleichen. Ähnlich dem Günstling, der sich bei Hofe in der Beobachtung feinster Unterschiede übt, um daraus Schlüsse für mögliche und unmögliche Allianzen zu ziehen, vermag auch Manon innerhalb des jüdischen Hauses Unterschiede festzustellen. So berichtet sie von den Bartensteins, sie hätten, »bei der eigentümlichen Zusammensetzung ihrer Gesellschaft, das Spiel nie ganz in der Hand. Um nur eins zu nennen, die Verwandtschaft, die sich allsonntäglich bei ihnen versammelt, ist immer wie aus zwei Welten: der eine Onkel war vielleicht dreißig Jahre lang in London

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Die Assoziation von jüdischer Endogamie und Inzest ist im 19. Jahrhundert ein literarischer und wissenschaftlicher Topos. Darin wird nicht nur die jüdische soziale Endogamie mit Inzest gleichgesetzt; darin kommt auch der antisemitische Vorwurf zum Ausdruck, die Juden würden durch eine inzestuöse Heiratspraxis degenerieren. (Vgl. Sander L. Gilman: Love + Marriage = Death. And Other Essays on Representing Difference. Stanford 1998, S. 134–155) Manon besitzt »die Gabe, sich überall beliebt zu machen, vor allem in Bankierhäusern, unter denen sie die nicht-christlichen bevorzugte, so namentlich das hochangesehene Haus Bartenstein.« (P 10f.)

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oder Paris, der andre dreißig Jahre lang in Schrimm. Und das macht denn doch einen Unterschied.« (P 85) Der Unterschied zwischen London/Paris und Schrimm (im Kaiserreich Teil der Provinz Posen) war Fontanes Leserschaft um 1896, im Erscheinungsjahr des Romans, als Unterschied zwischen West- und Ostjudentum bekannt.29 Um diese Differenz noch deutlicher zu markieren, wird neben dem Haus Bartenstein das Haus Blumenthal eingeführt, in dem Leo, kaserniert in den preußischen Ostprovinzen, ein- und ausgeht, und das über eine heiratsfähige Tochter, Esther Blumenthal, verfügt. Vor dem Hintergrund des Hauses Blumenthal und der drohenden Allianz mit »diese[n] Orientalen« (P 35) wird der Verkehr des Adels mit den jüdischen Häusern Berlins erzählbar.30 Der sozialhistorisch beglaubigte Kern der literarischen Hausgesetze besteht darin, dass sich die adligen und bürgerlichen Häuser ausschließlich den jüdischen Töchtern öffnen. So gelingt es den Hagenströms in Buddenbrooks, die Tochter, Julchen Hagenström, mit einem Sohn aus gutbürgerlicher Familie zu verbinden: »Julchen soll sich diesen Sommer mit August Möllendorpf verloben, und Julchen wird es thun! Dann gehören sie [die Hagenströms, N.G.] doch endgültig dazu!«31 (B 127) In Wälsungenblut ist es ebenfalls die Tochter, Sieglind Aarenhold, die sich mit einem Herrn von Beckerath – »Verwaltungsbeamter und von Familie« –32 verlobt; sowie in Die Poggenpuhls die beiden jüdischen Häuser nur über Töchter zu verfügen scheinen. Die Söhne werden aus den möglichen Allianzen ausgespart und können sich allenfalls als Brautbrüder und Schwäger mit den anderen Häusern assoziieren – wie etwa Kunz Aarenhold in Wälsungenblut: »Dann war von Beckerath gekommen, im Ministerium tätig und von Familie. Er hatte um Sieglind geworben und dabei […] die eifernde Unterstützung Kunzens, des Husaren, auf seiner Seite gehabt.«33

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Vgl. zur Unterscheidung von Ost- und Westjudentum die zahlreichen Hinweise in Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000, S. 21–46. Bekannt war Fontanes Leserschaft ebenfalls die jüdische Konfession einiger Prominenter des Deutschen Kaiserreichs, wie etwa die Konfession Gerson Bleichröders, was aus folgender Anspielung hervorgeht: »›[…] Ueberhaupt scheint darben mein Los. Ach, Mutter, warum bist du keine geborene Bleichröder? …‹ ›Empörend,‹ unterbrach hier Therese ihre Vorlesung. ›Wir haben schon Manon mit ihren ewigen Bartensteins und nun fängt Leo auch noch an.‹« (P 18) Über Bleichröders Karriere im Kaiserreich informiert Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurt/M. u. a. 1978. Diese Studie ist zwar in weiten Teilen in einem stark erzählenden Stil abgefasst und beweist eine Vorliebe des Autors fürs Anekdotische, dennoch vermag gerade die Nacherzählung zahlreicher Anekdoten und Gerüchte die Kommunikationsstrukturen im Kaiserreich gut wiederzugeben. Zum Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Gerüchtepolitik vgl. auch Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen 2002. Es heißt über eine mögliche Heirat zwischen Leo Poggenpuhl und Esther Blumenthal: »Solch ein Schritt würde Dich nicht nur von der Armee, sondern, was mehr sagen will, auch von der ›Gesellschaft‹ ausschließen und Du würdest von da ab in der Welt umherirren müssen, fremd, abgewiesen, ruhelos. […] Thu uns das nicht an. Therese würd’ es nicht überleben« (P 86); zum Unterschied zwischen den Blumenthals und den Bartensteins vgl. auch P 87. Hervorhebungen getilgt. Thomas Mann: Wälsungenblut. In: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 2.1. Frankfurt/M. 2004, S. 429–463, hier: S. 431. Mann, Wälsungenblut, S. 445.

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Die Wahl zwischen Schenken und Vererben betont und verstärkt die Geschlechterdifferenz zwischen dem jüdischen Sohn und der jüdischen Tochter: Wenn Allianzbeziehungen zwischen Häusern durch die Operation des Schenkens begünstigt werden und gleichzeitig die mit Mitgift ausgestatteten Töchter mit Leichtigkeit die Ehe mit adligen und bürgerlichen Söhnen eingehen können, da sie ihnen weder Namen noch Titel nehmen, macht es für die Häuser einen großen Unterschied, ob sie den Sohn oder die Tochter im Vorgriff auf eine günstige Allianz ausstatten. Ausgehend von dieser Dynamik stellt sich die Frage nach dem Sonderstatus und der verhinderten Aufnahme der jüdischen Söhne. Unter welchen Bedingungen werden sie allianz- und koalitionsfähig oder gezwungen, eine Karriere anzustreben und auf Wanderschaft zu gehen?

Die Söhne34

3.

Gustav Freytag: Soll und Haben In einer ersten Lektüre von Freytags Soll und Haben (Kap. II/1) wurde dargelegt, wie sich das bürgerliche Haus aufgrund einer geglückten Adoption gegen die anderen Häuser (adlig und jüdisch) durchsetzt. Erstes Kennzeichen der Adoption war der literarische Topos Vor dem Haus. Es wurde gezeigt, wie die zwei Waisenknaben, die sich vor den jeweiligen Häusern ihrer Arbeitgeber aufstellen, schrittweise aufgenommen werden. In beiden Fällen fällt die endgültige Aufnahme in das Haus mit der Verlobung mit einer Tochter des Hauses zusammen. Die Operation der Adoption ergänzend soll in der folgenden Lektüre ein abweichender Fall des Topos Vor dem Haus erläutert werden, in dem nicht ein Adoptand, sondern Sohn und Vater sich einem Haus zu nähern suchen: Der Wagen hielt vor dem Schloß. Der Bediente trat an den Schlag. Die Gäste erfuhren, daß der Freiherr in seinem Zimmer und die gnädige Frau im Augenblick nicht zu sprechen war, das Fräulein aber spazierte im Garten. Ehrenthal [der Vater, N.G.] schritt um das Haus, Bernhard [sein Sohn, N.G.] neugierig hinter ihm her. Über den Grasplatz kam die hohe Gestalt Lenorens langsam auf die Fremden zu. (SH 297f.)

Die Annäherung der jüdischen »Fremden« an das Schloss – der Schlossbesitzer ist Schuldner des jüdischen Geschäftsmanns – kulminiert in einer novellistischen Einlage, in der Bernhard Ehrenthal und Lenore Rothsattel, auf dem Anwesen des Schlosses flanierend, Zeugen eines Unfalls werden, bei dem ein Bauernmädchen zu ertrinken droht. Für die Fragestellung des vorliegenden Abschnitts ist es aufschlussreich, wie dieses Unglück zu Ende erzählt wird: Am Ende der Passage über die Begegnung zwischen Bernhard und Lenore, und nachdem Lenore das Mädchen aus dem Wasser gezogen hat, wird das Bild einer Heiligen Familie gezeichnet. Darin besetzt Bernhard die Position des Joseph,35 dem

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Anspielend auf Franz Kafkas Idee, die drei Erzählungen Der Heizer, Die Verwandlung und Das Urteil in einem Band unter dem Titel Die Söhne zu veröffentlichen. Diese Idee wurde nicht verwirklicht. (Vgl. Franz Kafka: Briefe. 1913–März 1914. Hg. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M. 1999, S. 156 und Neumann, Aporien der Assimilation, S. 41–44) »Die abendländische Kunst berücksichtigt Joseph nur am Rand: als zusätzliche Figur, als

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es trotz Lenores Befehl »Retten Sie das Kind!« (SH 304) nicht gelingt, dem ertrinkenden Mädchen zu helfen: »Bernhard lief gehorsam in den See, ohne daran zu denken, daß er nicht schwimmen konnte, er watete einige Schritt vor und stand gleich darauf hilflos bis unter die Arme im Schlamm und Wasser.« (SH 304) Die Rettung des Mädchens bleibt Lenore selbst überlassen: »Sie erhob die Arme hoch über das Haupt und stürzte sich mit einem Sprunge in den See.« (SH 304) Auf diese Weise beschämt und erniedrigt wird Bernhard Zeuge der jungfräulichen Geburt: »Lenore ergriff das bewußtlose Kind […]. Das nasse Gewand legte sich dicht an Lenorens Leib, die schönen Formen des Körpers wurden in der raschen Bewegung dem Auge ihres Begleiters fast unverhüllt sichtbar. Sie achtete nicht darauf. […] ›Gelobt sei Gott!‹ rief Bernhard und schlug die Hände zusammen; aber der Gott, an den er in diesem Augenblick dachte, war das schöne Weib […], von dessen Reizen sein Auge mehr gesehen hatte, als irgendein anderer Mann.« (SH 304f.) Angesichts des »fast unverhüllt[en]« adligen Fräuleins wird Bernhard zum bloßen »Begleiter«, dessen Haltung gegenüber Lenore in Folge dieser Szene – auch darin der Tradition der Joseph-Figuren entsprechend – zwischen Asexualität und Lüsternheit oszilliert.36 Die Konstellation der Heiligen Familie und deren semantische Besetzung werden in Soll und Haben um ein signifikantes Detail erweitert. Es verrät die Bedingung, unter der eine Heilige Familie zustande kommen kann, in der ein adliges Fräulein die Position der Maria und ein jüdischer Mann die Position des Joseph einnehmen: »›Noch einmal möchte ich das Kind sehen‹, bat Bernhard. Sie traten an das Bett, auf welchem das Mädchen lag, mit müden Augen sah die Kleine auf das faltige Gesicht des Mannes, der sich über das Lager beugte und ihr die Stirn küßte. […] Bernhard legte hinter Lenorens Rücken seine Börse auf das Bett.« (SH 305) Das Detail der Börse, die auf das Bett gelegt wird, erweitert das Bild um ein Element, das die Szene von der Heiligen Familie – wie aus dem Folgenden hervorgehen wird – auf das Haus hin öffnet.37 In Abweichung von den bislang untersuchten Romanen wird in Soll und Haben ein Tauschverkehr zwischen dem jüdischen und dem adligen Haus imaginiert, der sowohl die jüdische Tochter als auch den jüdischen Sohn als Agenten der Häuserallianz ins Spiel

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Dritten neben der Mutter-Kind-Dyade, die im Fokus der bildnerischen Aufmerksamkeit steht. Man findet ihn als Beschützer der kleinen Familie, der er nicht angehört. In den nächtlichen Anbetungsszenen hält er die Laterne.« (Koschorke, Heilige Familie, S. 30) »Das Mittelalter hat ihn [Joseph, N.G.] sich als alten, gebrechlichen Mann vorgestellt, um seine Enthaltsamkeit glaubwürdiger erscheinen zu lassen. […] Er gerät dadurch zuweilen in eine ikonographische Nähe zum Typus des geilen närrischen Greises, dessen Begehrlichkeit sich in dem Maß steigert, in dem die Fähigkeit zu ihrer Befriedigung sinkt.« (Koschorke, Heilige Familie, S. 30) Um Bernhard Ehrenthals Asexualität glaubhaft zu machen, bedient sich der Erzähler eines unglaubwürdigen Elements, das darin besteht, dass Bernhard – ein junger Mann – ein »faltige[s] Gesicht« (SH 305) hat. Für sich betrachtet stützt dieses Detail das Argument, wonach sich das Bild der Heiligen Familie in das der staatlich unterstützten Kleinfamilie umcodieren lässt. Das »Schisma der Vaterschaft«, das die Umcodierung ermöglicht, lässt sich auch an dieser Geste ablesen: Der symbolische Vater gibt seine Börse, während der leibliche Vater fehlt. (Vgl. Koschorke, Heilige Familie, S. 38 u. 121) Im Zusammenhang des ganzen Romans hingegen fügt sich das Detail in eine Reihe von Schenkungen, die nicht ausschließlich die Konstellation der Heiligen Familie betreffen.

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bringt.38 Die Börse ist Teil dieses Tauschverkehrs, da Häuser von Anfang an durch kleine Geschenke und Gefälligkeiten in Kontakt zueinander treten.39 Was in der Begegnung zwischen Bernhard und Lenore mit einer versteckten (»hinter Lenorens Rücken«) Geste beginnt, endet mit der Szene einer Schenkung des jüdischen Hauses an das Schloss, ohne dass die Vermögensübertragung die Eheschließung zur Folge hat. Der Schenker ist nicht der Einzelne, sondern das Haus. Um ein Band zwischen den beiden Häusern zu knüpfen, müssen sich zunächst Vater und Sohn in schenkender Absicht einigen: »›[…] Wenn du Geld erworben hast, so war dein Gedanke, daß ich dich überleben sollte und nach deinem Tode dein Erbe werden. War’s nicht so?‹ Ehrenthal nickte stark mit dem Kopf. ›Wenn du in mir deinen Erben siehst‹, fuhr Bernhard fort, ›so höre auf meine Worte. […] Ich verzichte auf mein Erbteil, während wir beide leben […]‹«. (SH 461) Die Umgehung des Vererbens, die in der Einleitung zu diesem Abschnitt als eine Operation des Hauses bestimmt wurde, dient in diesem Fall einer ambivalenten Hauspolitik. Der jüdische Sohn verzichtet auf sein Erbteil, um auf diesem Weg das adlige Haus von den Schulden zu befreien: »Du hast lange Jahre mit ihm [dem verschuldeten Freiherrn, N.G.] in Verkehr gestanden, du darfst nicht die Ursache sein, daß seine Familie unglücklich wird.« (SH 461) Die Befreiung von den Schulden wird in einen Schenkungsakt überführt, bei dem der Schuldner sein Ehrenwort auf Rückzahlung (zurück-)erhält. Der Sohn initiiert die Übergabe: »›Hole die Papiere‹, erwiderte Bernhard. ›Ich will mit meinen Augen sehn, wie du dem Herrn zurückgibst, was er geschrieben hat, und wie du aus seiner Hand empfängst, was er dir noch geben kann.‹« (SH 462) Mit Hilfe dieser Transaktion, die der Vater als »Diebstahl« deutet,40 und die ein Schuldverhältnis aufheben soll, besetzt Bernhard Ehrenthal eine Position, die gemeinhin von den jüdischen Töchtern eingenommen wird.

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Der adlige Volontär Fink macht sowohl der bürgerlichen Sabine Schröter und der adligen Lenore Rothsattel als auch der jüdischen Rosalie Ehrenthal Avancen, bevor er sich schließlich mit der Adligen verbindet. (Vgl. Lothar Schneider: Die Diätetik der Dinge: Dimensionen des Gegenständlichen in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Florian Krobb [Hg]: 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg 2005, S. 103–120, hier: S. 115) Noch bevor sich Anton Wohlfart als Adoptand auf den Weg macht, haben sich die Häuser Wohlfart und Schröter durch Geschenke verbunden. Nachdem Antons Vater, der königliche Kalkulator, der Firma Schröter durch den Fund eines Dokuments dazu verholfen hat, »einen verzweifelten Rechtsstreit […] zu gewinnen«, (SH 13) kommt zu jedem Weihnachtsfest eine Kiste ins Haus, »worin ein Hut des feinsten Zuckers und ein großes Paket Kaffee standen«. (SH 12) Die Weihnachtspakete werden »jedesmal umgehend durch ein kalligraphisches Kunstwerk des Kalkulators erwidert«. (SH 13) Der Kalkulator deutet sie als ›Gaben‹ und erwidert sie mit seiner ›totalen‹ Zuwendung: Er schenkt der Firma seine Liebe – »Er hob alle Briefe der Firma sorgfältig auf, wie die drei Liebesbriefe seiner Frau« (SH 13) –, sein Interesse – »er fing an, sich für die Geschäfte der großen Handlung zu interessieren und studierte in den Zeitungen regelmäßig die Marktpreise von Zucker und Kaffee« (SH 14) – und schließlich seinen Sohn. Zur Gabe als fait social total vgl. Mauss, Die Gabe. Zur Deutung der Totalität der Gabe vgl. Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870–1960). München 2005, S. 171–222. »Was du verlangst, das ist ein Diebstahl an deinem Vater.« (SH 462)

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Paul Wallich: Lehr- und Wanderjahre Der prekäre hauspolitische Status der jüdischen Söhne wird von diesen selbst artikuliert und reflektiert. Dies lässt sich anhand von Paul Wallichs Lehr- und Wanderjahre exemplarisch zeigen.41 Paul Wallich (1882–1938), Sohn eines Berliner Bankiers, setzt mit Lehr- und Wanderjahre die Tradition der Hausbücher fort, die sein Vater, Hermann Wallich (1833–1928), mit seinen Erinnerungen Aus meinem Leben begründet. Die väterlichen Notizen sollen den Kindern »zur Belehrung und Weisung« (AL 31) dienen und beginnen – gemäß den Vorgaben einer Hauschronik –42 mit genealogischen Angaben: Ich bin am 28. Dezember 1833 in Bonn geboren. Meine Eltern gehörten alten respektablen jüdischen Familien an. Mein Vater war der Abkömmling einer Familie, die seit mehreren hundert Jahren am Rhein ansässig und der Überlieferung nach vom Westen eingewandert war. Unter den Vorfahren befanden sich berühmte Ärzte, wie denn nachweislich ein Isaac Wallich sich bereits 1689 den Doktortitel in Padua holte. Die Familie meiner Mutter war weniger angesehen im Ort, weil sie jüngeren Datums (aus dem Elsaß) eingewandert war und man noch einen Unterschied zwischen alt Eingesessenen und verhältnismäßig neu Eingewanderten machte. Diese Familie zeichnete sich aber durch große Intelligenz und Rührigkeit aus, welche denn auch die einzelnen Mitglieder in späterer Zeit sehr zu ihrem Vorteil betätigten. (AL 31f.)

Hermann Wallich führt den Ruhm seines Hauses auf die Zusammenführung von Status (das väterliche Haus) und Vermögen (das mütterliche Haus) zurück, die im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit als Kennzeichen der Hauspolitik bestimmt wurde. Der Status eines Hauses wird anhand der Jahre gemessen, die es an einem Ort verbracht hat (»seit mehreren hundert Jahren am Rhein ansässig«). Das Vermögen eines Hauses wird weniger auf materielle Reichtümer, sondern eher auf geistige Gaben (»große Intelligenz und Rührigkeit«) zurückgeführt. Die Notizen werden fortgesetzt mit einzelnen schulischen und beruflichen Stationen in Hermann Wallichs Leben, in die Angaben zur Heirat, Geburt von Kindern und zum Tod von Verwandten ebenso wie »Überlegungen zur künftigen politischen und ökonomischen Entwicklung« (AL 137) des Kaiserreichs integriert werden. Im Gegensatz zu den väterlichen Aufzeichnungen, deren rhapsodischer Charakter auf den umfassenden Anspruch einer Lebenserfahrung, die es »dem neuen Geschlecht« (AL 31) weiterzugeben gilt, zurückzuführen ist, berichten die Aufzeichnungen des Sohnes von einem klar abgegrenzten Lebensabschnitt, der dem Plan eines umfassenden sozialen Aufstiegs gewidmet ist:

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Im Anschluss an zwei Fallanalysen, die – wenn auch mit anderem Fokus – bereits vorgenommen wurden. (Vgl. Miriam Gebhardt: Das Familiengedächtnis: Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart 1999, S. 33–51 und Werner E. Mosse: Problems and Limits of Assimilation. Hermann and Paul Wallich 1833–1938. In: Year Book of the Leo Baeck Institute 33 [1988], S. 43–65) In der wilhelminischen Gesellschaft ist es durchaus üblich, professionelle Historiker damit zu beauftragen, von der eigenen Familie genealogische Tafeln zu erstellen. Das trifft auch für die jüdischen assimilierten Häuser zu. (Vgl. beispielsweise David Kaufmann: Hundert Jahre aus einer Familie jüdischer Ärzte. Dr. Leo, Dr. Jakob, Dr. Isak, Dr. Wolf Winkler. In: Gesammelte Schriften. Hg. Marcus Brann. Bd. 3. Frankfurt/M. 1915, S. 286–295)

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Mein ausgesprochenes Weltanschauungsideal war damals die Hebung des sozialen Standards der Familie. Dazu gab es, nach mir, nur drei Wege, die möglichst alle drei hätten beschritten werden müssen. Den ersten hatte ich schon verfehlt: es war der Eintritt in ein Korps. Der dritte – und wichtigste – lag noch in weitem Felde, es war die Gattin von »Familie«. Der zweite aber […] war der Reserveoffizier.43 (LW 167f.)

Die Aufzeichnungen beginnen mit dem Verlassen des elterlichen Hauses und dem Studium in Freiburg und enden mit der Anstellung in der Berliner Handels-Gesellschaft. Von Paul Wallichs Verlobung erfährt der Leser nur in einer einleitenden Notiz; weder der Name der Braut noch die Umstände der Eheanbahnung werden erwähnt.44 Wallich schließt alle Überlegungen zu seiner Heirat mit der bürgerlichen Hildegard Rehrmann, der Tochter eines Lehrers, aus seinen Erinnerungen aus. Ausgehend von seinen eigenen Vorgaben zum sozialen Aufstieg, der die Heirat mit einer Adligen vorschreibt, erscheint diese Allianz als eine Kompromisslösung.45 Das Fehlen jeglichen Kommentars bezüglich der Heirat kontrastiert mit den zahlreichen Ausführungen über misslungene Versuche, eine gute Partie zu machen. Wallichs Lehr- und Wanderjahre lesen sich als Protokoll eines langen rite de passage, das vor der endgültigen Aufnahme in das Haus der Braut endet. Das Protokoll hält Ankünfte in fremden Städten (Freiburg, Posen, Hamburg, Paris, London und New York) und Aufnahmen in Handelshäuser fest. Die einzelnen Abschnitte der Lehr- und Wanderjahre sind nach diesen Stationen geordnet. Jeder Abschnitt enthält die Beschreibung einer Kette von Aufnahmebemühungen in die gute Gesellschaft der jeweiligen Stadt – Aufnahmebemühungen, die durch Paul Wallichs jüdische Herkunft erschwert werden, obwohl er von seinen Eltern mit Rücksicht auf seine berufliche Zukunft getauft wurde. (Vgl. AL 132) Im Zuge der Bemühungen um Mitgliedschaften, die ihm eine gehobene soziale Stellung sichern sollen, auf der »Aspirantenliste«, (LW 177) sieht er sich wiederholt entweder im Verein mit nicht getauften Juden, von denen ihn – in den Augen der Gesellschaft – weniger trennt, als ihm lieb ist, oder im Verein mit anderen Getauften.46 Er bestimmt seine Position daher im Hinblick auf die doppelte Abstandsmessung zu den adligen und den jüdischen Häusern. Während er nach seiner Ankunft in Freiburg (1901) und noch in der Hamburger Zeit (1905/06) diese streng meidet, um in jene aufgenommen

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Die beiden Autobiographien werden häufig im Hinblick auf den historischen Wandel des jüdischen Assimilationsprozesses verglichen. (Vgl. Mosse, Problems and Limits of Assimilation, S. 43–65) »Zwischen meiner Rückkehr aus Südamerika und meiner Verlobung im Februar 1913 liegen ziemlich genau drei Jahre, die ich als Junggeselle in Berlin und Potsdam zubrachte. Anderthalb weitere Jahre brachte ich an den gleichen Orten als verheirateter Mann zu.« (LW 362) Paul Wallichs Schweigen über seine Heirat kontrastiert mit den Ausführungen des Vaters in Aus meinem Leben, die dieser den genauen Umständen seiner Eheschließung mit Anna Jacoby widmet. (Vgl. AL 128–132) Vgl. Mosse, Economic Élite, S. 155f. »Als ich ihn in meiner Angelegenheit aufsuchte, erklärte er mir, er habe noch zwei ähnliche ›Fälle‹ bei dieser Wahl durchzubringen, sei aber guter Hoffnung für uns alle drei. Wie ich später erfuhr, handelte es sich dabei um die gleichfalls reüssierenden Bob Oppenheim und Walter Hecht.« (LW 216; vgl. hierzu auch LW 178 u. 224)

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zu werden, und sich damit zeitweise jeglichen gesellschaftlichen Verkehrs beraubt,47 gibt er in der darauf folgenden Zeit die selbst auferlegten Reglements nach und nach auf und wird Teil der städtischen Boheme. In die erste Phase der sozialen Meidung der jüdischen Häuser fällt Paul Wallichs Versuch, durch die Heirat mit der Schwester seines Freundes Julius vom Rath in ein adliges Haus aufgenommen zu werden: »Und wirklich – dieser vorzügliche Freund vergaß kölnisches Patriziervorurteil soweit, für mich um die Hand seiner Schwester zu werben.« (LW 221) Die Werbung misslingt: »You must draw the line somewhere! hatte die alte Dame ihrem Sohn [Julius vom Rath, N.G.] wahrscheinlich seinerzeit auf seine Werbung geantwortet; es war schließlich nicht ganz meine Schuld, wenn ich erst etwas spät verstand, wo die Scheidelinie gezogen werden sollte. Ich habe das Haus der Frau vom Rath nicht wieder betreten.«48 (LW 221) In der zweiten Phase seines gesellschaftlichen Ehrgeizes, in der Wallich die jüdischen Häuser nicht mehr streng meidet, führt er die Besonderheit seines soziales Leben, das in der Mischung aus Assimilationsbemühungen an die gute Gesellschaft und die Boheme besteht, auf sein »nomadisierendes Volontärleben« zurück. (LW 213) Sein dekadenter Lebensstil (»das Bummelleben junger Leute, die ziemlich reichlich Geld, nicht im gleichen Maße Geschmack haben und nicht besonders knapp mit ihrer Zeit gestellt sind« [LW 273]) entpuppt sich als Effekt einer Erziehungskrise, die sich – so Wallich – im Institut des Volontariats für Söhne aus reichem Hause offenbart. Diese Söhne können analog zu den Haustöchtern, die ihrer Versorgung harren, als Haussöhne bezeichnet werden: Die Volontärjahre! […] Hier liegt die Schwierigkeit für die Erziehung junger Leute, die durch besondere Beziehungen berufen zu sein scheinen, später leitende kaufmännische Stellungen einzunehmen, ohne doch ein väterliches oder sonstwie verwandtes Geschäftshaus hierzu zu ihrer

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»Als ich nach Freiburg kam, war ich Antisemit, mehr als ich es je wieder gewesen.« / »Daß ich das Schwergewicht meines Verkehrs in eine rein arische Richtung zu legen suchte, hat mir den ganzen Freiburger Aufenthalt verdorben. Ich habe dadurch eben gar keinen Verkehr gehabt.« / »Eine Empfehlung von Mankiewitz an ein sehr nettes Haus – Sport und junge Mädchen – ließ ich ostentativ unbenutzt, weil die Leute Juden waren.« / »Mein Leben in Hamburg war der typische Werdegang des langsam reüssierenden Strebers mit allen Sorgen und Besorgnissen, mit gelegentlichen Niederlagen, die man einstecken muß, und schließlich ein paar kleinen Erfolgen, die nach all den Mühen und Unannehmlichkeiten nicht mehr die Freude machen, die man sich erst von ihnen versprochen hat.« (LW 161f.; 164 u. 218) Vgl. zum Antisemitismus Paul Wallichs Mosse, Economic Élite, S. 145–147. Die Heirat der »Kameradenschwester« – ein Topos der deutschen Freikorpsliteratur der 1920er Jahre – wird bei Klaus Theweleit als eine bestimmte Form der Vermeidung ökonomischen und politischen Austauschs gedeutet: »Die Heiraten, die möglich sind, geschehen fast immer nach dem Muster: die eigene Schwester für den Kameraden/guten Freund/bewunderten Mann, und dessen Schwester zur eigenen Frau. […] Betrachten wir die Verbindung mit einer Frau vom Typ ›Kameradenschwester‹ vergleichend mit verschiedenen aus der Ethnologie bekannten Heiratsregeln, so fällt auf, daß diese weder ökonomisch noch politisch fundiert ist, sondern allein psychisch.« (Klaus Theweleit: Männerphantasien 1 + 2. München u. a. 2000, S. 129f. [Hervorhebung im Original]) Theweleits These von der Tauschblockade durch »die Verbindung mit einer Frau vom Typ ›Kameradenschwester‹« ist zu differenzieren. Wie die Passage bei Wallich verdeutlicht, dient selbst die zu Beginn homoerotisch gefärbte Freundschaft mit Julius vom Rath dem Zweck, Wallich die Tür zur guten Gesellschaft zu öffnen. Durch die Allianz der Häuser Wallich und vom Rath würden Status und Vermögen ausgetauscht werden. (Vgl. Kap. I/2)

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Verfügung zu haben. […] So sammelt der fahrende Volontär in der Regel eine gewisse Menge ungenügend fundierter und unreifer Kenntnisse, die sich im Gedächtnis verwirren und kaum eine ganz vage Basis für spätere aktive Geschäftsbetätigung geben.49 (LW 213)

Zwischen dem Zeitpunkt der so genannten Berufung zur »leitende[n] kaufmännische[n] Stellung« und der »aktive[n] Geschäftsbetätigung« liegen im Fall Wallichs mehrere Jahre, in denen er wiederholt die Handels- und Bankhäuser, in denen er als Volontär tätig ist, wechselt und weite Reisen unternimmt. In jedem neuen Haus ist es ihm selbst überlassen, sich unter widrigen Umständen Kenntnisse anzueignen, da die Geschäftsinhaber nicht gewillt sind, dem Volontär, auf den andernorts eine lukrative Tätigkeit warten könnte, ihr Wissen weiterzugeben und ihre Betriebsgeheimnisse zu enthüllen.50 Die lange Phase der Volontärjahre ist deshalb eine der nur scheinbaren Ausbildung. In dieser Zeit bilden »die üblichen Volontärfehler, Unregelmäßigkeit der Bürostunden und Wertlosigkeit der gelegentlichen Mitarbeit«, die Grundlage für ein halbherziges Bohemeleben. (Vgl. LW 289) Da diese Phase von Anfang an nicht der Vermittlung von bestimmten Wissensinhalten dient, wird sie auch nicht nach dem Erlangen einer Qualifikation beendet, sondern aufgrund von natürlichen Umständen (das hohe Alter von Hermann Wallich, Paul Wallichs Vater) und affektiven Vorbehalten (die Nervosität angesichts aufgeschobener Festanstellung): Mein Vater war über 76 Jahre alt, als es sich darum handelte, mich in das praktische Geschäft einzuführen. Dies hohe Alter hatte ihn auch in den letzten Monaten veranlaßt, ganz besonders auf meine baldige Heimkehr zu dringen. Einige Nervosität hatte auch wohl mitgesprochen, weil er empfand, daß die Anstellung bei der Deutschen Bank vielleicht nicht in allen Dingen so glatt vor sich gehen konnte, wie es seinen und meinen hohen Ansprüchen entsprochen hätte. […] Nichtsdestoweniger rechneten wir beide, mein Vater und ich, mit Bestimmtheit auf einen sehr warmen Empfang seitens der Bank, […] die meine Lehrjahre an allen Stellen freundlich unterstützt hatte und deren leitende Direktoren von unseren Wünschen und Absichten laufend orientiert waren. Diesen freundlichen Empfang fand ich in vollem Umfang, als mich mein Vater, ganz wenige Tage nach meiner Rückkehr in die Behrenstraße mitnahm. Bald aber ergab sich ein merklicher Abstand zwischen dem, was wir erwarteten und dem, was die Bank anbot. (LW 362)

Erst diese Passage verdeutlicht die Reichweite der Genrebezeichnung Lehr- und Wanderjahre. Als eine Art Turmgesellschaft hat die Deutsche Bank über die Volontärjahre

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(Vgl. hierzu auch LW 288) Aber auch die Söhne, die in den Häusern ihrer Väter ausgebildet werden, sehen sich neuen Problemen gegenüber: Es fehlt ihnen die internationale Erfahrung, und ihr Aufstieg innerhalb des väterlichen Hauses wird von den anderen Angestellten nicht gern gesehen. (Vgl. LW 213f.) Das trifft auch für den Anfang seiner Karriere zu, als es gilt, als Lehrling in ein Bankhaus aufgenommen zu werden: »Mein Vater, der viele Jahre in leitender Stellung bei der ersten Bank Deutschlands gewesen und immer noch eng mit ihr verbunden war, der so vielen fremden Leuten durch Anstellung ihrer Verwandten oder Protégés gefällig gewesen war – […] wurde es schwer, in Deutschland ein passendes Haus zu finden, das seinem Sohn die Anfänge des Bankbetriebes beibringen wollte. […] Bei diesen Häusern aber spielte die Sorge vor dem Einblick in ihr Geschäft, den ich während meiner Lehrzeit gewinnen und später eventuell zum Nutzen der Deutschen Bank verwenden könnte, eine solche Rolle, daß zwei von ihnen meinem Vater sein Anliegen unter nichtigen Vorwänden, natürlich in liebenswürdigster Form, abschlugen.« (LW 214f.)

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gewacht und die »Lehrjahre an allen Stellen freundlich unterstützt«; im Gegenzug war sie über die väterlichen »Wünsche und Absichten laufend orientiert«. Vater und Sohn besetzen gemeinsam die Position des Initianden. Nachdem der Vater seinen Sitz als Vorstandsmitglied der Deutschen Bank freigegeben hat, zielt er darauf ab, dass nun sein Sohn – im Grunde an seiner Stelle – aufgenommen wird. Die darauf folgenden Verhandlungen, die dem Sohn auf absehbare Zeit den Titel des stellvertretenden Direktors sichern sollen, scheitern dennoch. Während dem Volontär Wallich in den vorangegangen Häusern die nötige Ausbildung mit der Begründung verweigert wurde, dieser würde ohnehin bald in das für ihn bestimmte Haus (Deutsche Bank) zurückkehren, empfiehlt ihm nun die Deutsche Bank, die befürchtet, »den Vorwurf des Nepotismus auf sich zu laden«, sein Glück außerhalb des »früher vom Vater [Hermann Wallich, N.G.] geleiteten Betriebe[s]« zu suchen. (Vgl. LW 363) Die Deutsche Bank bedient sich in ihrer Selbstbeschreibung dennoch der Vorstellung eines dynastisch verfahrenden Hauses. Die Rede vom väterlichen Betrieb, in dem nach dem Abgang des Vaters der Sohn die freigewordene Stelle einnimmt, hallt noch im letzten Verhandlungsgespräch nach, ohne jedoch die endgültige Entscheidung der Wallichs – im Hinblick auf die Frage, ob es sich lohnt, auf die Deutsche Bank zu setzen – zu beeinflussen: »So ging ich mit meinem Vater zusammen, eine endgültige Unterhaltung mit Mankiewitz zu haben. Der […] war entrüstet darüber, daß ich […] die Bank meines Vaters mit einer fremden vertauschen wollte, […] und war doch nicht in der Lage, das Wort auszusprechen, das mich gehalten hätte.« (LW 365) Das entscheidende Missverständnis zwischen den beiden Parteien besteht darin, dass die Deutsche Bank Paul Wallich erlaubt, sie als »die Bank meines Vaters« zu bezeichnen. Ein solches Eigentumsverhältnis würde es Hermann Wallich tatsächlich erlauben, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Hermann Wallich hat aber nicht mehr den Status eines solchen Patriarchen, sondern kann die Bank allenfalls noch über seine »Wünsche und Absichten« informieren. Der Grund für den jahrelangen Informationsfluss zwischen der Deutschen Bank, Hermann und Paul Wallich kann somit nicht im Plan der vorgezogenen Rekrutierung Paul Wallichs als Direktor und Nachfolger seines Vaters bestanden haben. An diesem Punkt angekommen lässt sich Paul Wallichs Lebenslauf nicht mehr nach der literarischen Vorlage der Lehr- und Wanderjahre Goethes erzählen, die mit der Aufklärung des Initianden durch die Institution endet. Paul Wallich scheint vielmehr im Kreis gelaufen zu sein: Die Volontärjahre enden nicht – wie geplant – mit der institutionellen Etablierung. Sie werden abgelöst durch die Aufnahme in ein weiteres Haus, in dem sich Wallich erst wieder empor arbeiten muss: Nach der Absage von der Deutschen Bank wird Wallich in der Berliner Handels-Gesellschaft angestellt, die er in seinen Aufzeichnungen häufig als »das Institut Carl Fürstenbergs« bezeichnet. (Vgl. LW 363) Wallich wird mehr und mehr Zeuge von personalpolitischen Maßnahmen, die auf Fürstenbergs Hauspolitik zurückzuführen sind und dessen Sohn, Hans Fürstenberg, betreffen: »Wir alle wußten, daß von nun an eine Lücke für Hans Fürstenberg jr. offen gehalten wurde.« (LW 425) Wallich sieht selbst seine eigene Beförderung zum Geschäftsinhaber als Teil der Vorbereitung der bevorstehenden Nachfolgeregelung:

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Während ich zwei Jahre zuvor [kurz nach Eintritt in die Berliner Handels-Gesellschaft, N.G.] um den mir zugesagten Direktortitel schließlich mit den letzten Mitteln hatte kämpfen müssen, fiel mir die höchste Stelle, die die Berliner-Handels-Gesellschaft zu vergeben hatte, unerwartet in den Schoß. In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 entschloß sich Fürstenberg plötzlich, mich zum Geschäftsinhaber zu machen. Was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, ist mir auch heute noch nicht bekannt. Am ehesten möchte ich noch annehmen, daß er für die künftige Kandidatur seines Sohnes den Präzedenzfall eines möglichst jugendlichen Inhabers schaffen wollte. (LW 399)

Vor dem Hintergrund seines eigenen gescheiterten Versuchs, in der väterlichen Bank angestellt zu werden, und angesichts der Parallelen zwischen den beiden Häusern Wallich und Fürstenberg, spekuliert Paul Wallich zunehmend über Carl Fürstenbergs Bestrebungen, den eigenen Sohn als Nachfolger zu installieren. Wallichs Überlegungen betreffen den Status der Haussöhne schlechthin, nachdem neben ihm selbst mit Walter Merton ein weiterer »Sohn« in die Bank aufgenommen wird: Walter Merton war der zweite von den vier Söhnen Wilhelm Mertons in Frankfurt, des erfolgreichen Gründers der Metallgesellschaft, und war kaum ein oder zwei Jahre älter als ich. […] Beim Engagement Mertons begann wohl Fürstenberg mit der Vorbereitung der Bank auf seinen Sohn Hans, der damals als kaum mehr als Zwanzigjähriger irgend etwas auf der Berliner Universität studierte. In des Vaters rasch gruppierendem Hirn stellten sich die Dinge nun so dar – so wenigstens schilderte er sie mir um diese Zeit –, daß die Berliner Handels-Gesellschaft nach Art der Banque de l’union Parisienne in Paris eine Sammelstelle für die Söhne der deutschen Haute-Finance werden sollte, die allmählich der Berliner Handels-Gesellschaft die väterlichen Beziehungen und damit immer neuen Geschäftsfundus zubringen sollten. […] Dasjenige endlich, was die stillschweigende Voraussetzung für Mertons Eintritt in die Bank gewesen war […], geschah nicht: Weder Fürstenberg noch Ahrens [Mitglied des Vorstands, N.G.] traten ihm aus der Überflussquelle ihrer Aufsichtsratssitze auch nur einen einzigen ab. […] Schnell vollzog sich so, was kommen mußte. Fürstenberg wurde des unbeschäftigten, kritischen Zuschauers an der Schwelle seines Büros müde und beschloß, ihn [Walter Merton, N.G.] von dort dauernd zu entfernen […]. (LW 393–395)

Die Wendung »Sammelstelle für die Söhne der deutschen Haute-Finance« bezeichnet ziemlich genau den unbestimmten Status, den jeder Sohn auf unabsehbare Zeit einzunehmen, und den er gegebenenfalls mit anderen Söhnen zu teilen hat. Die Folgen eines solchen schwebenden Zustands beobachtet Paul Wallich an der unglücklichen Karriere Walter Mertons, dem ein Sitz verweigert wird, und der die Bank verlässt, nachdem er sie um seine »väterlichen Beziehungen« bereichert hat. Rückblickend erscheint selbst Wallichs eigene Karriere als Folge einer solchen Väterrekrutierung: »Für meinen Vater besaß er [Carl Fürstenberg, N.G.] […] Hochachtung als Bankfachmann, und er hat es später gelegentlich ausgesprochen, daß er sich einen ›echten‹ Wallich habe leisten wollen. Tatsächlich war er so für mich – oder eher für seinen Plan – voreingenommen, daß er, kaum daß ich einen zusammenhängenden Satz ausgesprochen hatte, ausrief: ›Ganz der Vater! Das könnte der alte Wallich gesagt haben!‹ Nach fünf Minuten der Unterhaltung fragte er mich […], ob ich […] in seine Bank eintreten wolle.« (LW 363) Erst nachträglich erkennt Paul Wallich, dass er vor allem als Verkörperung der väterlichen Verbindungen von Interesse war und nur deshalb aufgenommen wurde. Die Lehr- und Wanderjahre sind somit nur scheinbar aus der Position desjenigen geschrieben, der die Nachfolge seines Vaters antritt. Wovon sie am Ende tatsächlich berichten, ist die Demontage dynastischer Operationen zugunsten des Angestelltenverhältnisses. 140

Schluss

»[D]ie Schwester selbst [ist] ein Garnknäuel, das, entrollt, die Straße erschafft, die zu fernen Gegenden führt«.1 Das Sprichwort der Haka Chin, das Lévi-Strauss beiläufig anführt, um die Struktur des Frauentauschs und die Bedeutung der Schwestern für den sozialen Status und das Fortkommen ihrer Brüder zu illustrieren, gibt dem Verlauf der vorliegenden Arbeit ein Bild: Ist man erst auf das literarische Motiv der Schwester in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts aufmerksam geworden und verfolgt man das Garn, das die Motivgeschichte vorgibt,2 findet man sich recht bald in einem dichten Netz von verwandtschaftlichen Konstellationen wieder, die sich nicht kleinfamilial zerlegen lassen. Hier verwenden sich Tanten für ihre Neffen, bleiben unverheiratet gebliebene Schwestern ihren Brüdern treu, bilden Schwägerinnen ökonomische Allianzen, vergehen Cousine und Cousin in Liebe zueinander und verbünden sich Hausväter mit ihren Schwiegersöhnen. Dass dieses Beziehungsgeflecht ein bestimmtes Muster und – um den terminus technicus zu verwenden – eine Struktur aufweist, ist eine Erkenntnis der britischen und französischen Sozialanthropologie, deren Vokabular sich für die Untersuchung der Romane des 19. Jahrhunderts anbietet. Bei der herangezogenen Terminologie handelt es sich weniger um solche Begriffe wie »Lineage«, »Klan«, »Frauentausch« und »Kreuzcousinenheirat«, die innerhalb der Ethnologie vornehmlich dazu dienten, die vermeintliche Statik und Geschichtslosigkeit der indigenen Gesellschaften zu beschreiben. Ins Feld geführt werden stattdessen Begriffe, welche die Labilität und Wandelbarkeit der verwandtschaftlichen Grammatik zu beschreiben vermögen. Neben »Scherz- und Meidungsbeziehungen«, welche die gefahrvollen Ränder verwandtschaftlichen Austauschs markieren, dem »Avunkulat« und dem »Amitat«, deren Gesetze in das dichotomische System der Patri- und Matrilinearität nicht zu integrieren waren – und die Ethnologen zu evolutionistischen Spekulationen zwangen –, ist es das »Haus«, das als »listenreiche Institution« die Manipulierbarkeit der Verwandtschaftsregeln sicherstellt.3

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Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 366. Auch wenn sich die vorliegende Arbeit auf die deutschsprachige Literatur beschränkt, ist die Motivgeschichte der Schwester im europäischen Horizont zu sehen. Hinzuzuziehen wären beispielsweise neben Edgar Allen Poes Klassiker The Fall of the House of Usher die weniger bekannten Texte Mathilda von Mary Wollstonecraft Shelley sowie Ernest Renans Ma Sœur Henriette – eine Schrift, die 1929 unter dem Titel Meine Schwester Henriette von Otto Heuschele ins Deutsche übersetzt wird. Ich entnehme den Begriff der »listenreichen Institution« (institution artificieuse) Lévi-Strauss’ Ausführungen über die Caduveo in Traurige Tropen, die als geheime Vorlage seiner späteren Überlegungen zum Haus gelesen werden können. (Vgl. Kapitel I/3) Die vollständige Passage lautet: »Alles sieht so aus, als sei es den Guana und den Bororo gelungen, den Widerspruch in

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Lévi-Strauss stellt zu Beginn seiner Häuserforschung fest, dass der Ethnologe Franz Boas und der deutsche Mediävist Karl Schmid eine fast identische Sprache verwenden, um zwei Gesellschaften zu beschreiben, die auf den ersten Blick mehr trennt als verbindet: »Ce langage d’un médiéviste est pratiquement identique à celui employé par Boas«.4 Während sich Schmid mit der Genese des mittelalterlichen Adels auseinandersetzt, untersucht Boas die Sozialorganisation der Kwakiutl. Indem Lévi-Strauss im Zuge seiner Relektüre von Boas’ Aufzeichnungen über die Numayma auf die Ausführungen eines Mediävisten zurückgreift,5 stellt er seine Theorie des Hauses und der Häusergesellschaft in einen Kontext, dessen Koordinaten genauer zu bestimmen sind. Die Anbindung des Hauskonzepts an andere Wissenschaften wie der deutschsprachigen Mediävistik ist Bestandteil einer Genealogie, die er dem Strukturalismus in seinen späten Schriften zu geben versucht.6 Für die Konstituierung der strukturalen Methode, als deren Manifest der erste Band von Strukturale Anthropologie aus dem Jahr 1958 angesehen werden kann, spielt die Zeitgenossenschaft mit der modernen Linguistik eine entscheidende

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ihrer sozialen Struktur durch wahrhaft soziologische Methoden zu lösen (oder zu verschleiern). […] Jedenfalls fehlte diese Lösung den Mbaya, wohl nicht, weil sie sie nicht kannten, sondern weil sie sich nicht mit ihrem Fanatismus vereinbaren ließ. Sie besaßen also keine Möglichkeit, ihre Widersprüche zu lösen oder sie wenigstens mit Hilfe listenreicher Institutionen zu vertuschen.« (Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 188) Vgl. Lévi-Strauss, Maison, S. 435. Es handelt sich um folgenden Aufsatz: Karl Schmid: Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema »Adel und Herrschaft im Mittelalter«. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105 (1957), S. 1–62. Vgl. Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 176–178. Die Rezeption Schmids ist im Kontext des interdisziplinären und internationalen Austauschs zu sehen, der die europäische Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit geprägt hat. Dass es sich hierbei um einen ambivalenten intellektuellen Austausch gehandelt hat, verdeutlicht das Bemühen der deutschen Historiker, die Schriften Otto Brunners in der europäischen Wissenschaftslandschaft neu zu situieren. So wurde – ausgehend von der Totalität der oikoidalen Beziehungen unter der Schirmherrschaft des Hausvaters – eine ideenhistorische Nähe des »ganzen Hauses« zu Marcel Mauss’ Konzept des fait social total behauptet. Unabhängig von der Frage, ob eine inhaltliche Nähe zwischen Mauss und Brunner tatsächlich gegeben ist, ist es aufschlussreich, dass die deutschen Historiker – mit Brunner – Mauss und die Annales-Schule entdecken. Zeitgleich zu diesem deutschfranzösischen Textverkehr lesen wiederum die italienischen Historiker Brunner gegen die französische Annales. (Vgl. Derks, Die Faszination des »Ganzen Hauses«, S. 236) Der Status der Rezeption mediävistischer Schriften in der französischen Ethnologie ist sicher eine eingehende Untersuchung wert. Eine kaum zu überschätzende Voraussetzung für die französische Rezeption Schmids besteht beispielsweise darin, dass Schmid zu den wenigen deutschen Mediävisten gehörte, die 1974 zu einer Konferenz der École Pratique des Hautes Études eingeladen wurden: »Als unter der Ägide von Georges Duby und Jacques Le Goff 1974 in Paris ein Kolloquium über ›Famille et Parenté dans L’Occident médiéval‹ veranstaltet wurde, nahmen neben Mitarbeitern des Deutschen Historischen Instituts (Karl Ferdinand Werner, Martin Heinzelmann) drei westdeutsche Universitätsprofessoren als Referenten teil (Karl Hauck, Karl Schmid, Fritz Trautz).« (Michael Borgolte: Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit. München 1996, S. 407) Ich danke Marcus Twellmann für anregende Gespräche über die historische Situierung des Strukturalismus.

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Rolle. In den späten Schriften hingegen, in denen der Strukturalismus um den Gedanken der Transformation erweitert wird, wird er in einen weiteren ideenhistorischen Rahmen positioniert. Neben Wagners Ring des Nibelungen sind es Goethes Die Metamorphose der Pflanzen sowie Dürers Vier Bücher von menschlicher Proportion, die herangezogen werden, um die Funktionsweise morphologischer Kombinatorik zu erläutern.7 Das Projekt einer Wissensgeschichte des Strukturalismus hätte es in erster Linie mit der Rekonstruktion und den Folgen dieser Neusituierung zu tun. Obwohl Lévi-Strauss den Begriff des Hauses mit programmatischer Geste einführt, um zu zeigen, wie sich die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft von einem statischen Modell hin zu einem historischen verändert, finden sich in seinen Überlegungen keine Hinweise zu einer genaueren historischen Verortung dieser Übergangsgesellschaften, die er als Häusergesellschaften bezeichnet. Die Vielfalt seiner Beispiele – angefangen beim Japan des 11. Jahrhunderts und Frankreich des Ancien Régime bis zu den polynesischen und indonesischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts – dient vielmehr dem Nachweis, dass »in verschiedenen und miteinander nicht vergleichbaren Kulturen Formen von Aktivität auszumachen sind, die aufgrund ihrer entscheidenden Rolle rekurrent und also unabhängig von dem sind, was man Zivilisationszustände nennt; Zustände, mit denen eine positive oder negative Einstellung von bestimmten Typen von Ehe gar nichts zu schaffen hat.«8 Als Beispiel einer solch rekurrenten Aktivität sieht Lévi-Strauss die Verwandtenheiraten im ländlichen Frankreich, die zu einem Zeitpunkt, zu dem man sie längst überwunden glaubt (in den 1980ern), wieder auftauchen. Er spricht – auf die Historikerin Françoise Zonabend verweisend – von der Paradoxie, »daß im heutigen Frankreich die Vetternehe auf dem Lande wieder in Erscheinung tritt, aber nicht trotz der Entwicklung des Autoverkehrs, sondern gerade wegen ihm: die leichter möglichen Begegnungen integrieren kollaterale Linien in den Kreis der Bekanntschaften, die man seit langem aus dem Gesicht verloren hatte; die alte Ehepolitik, die darauf abzielte, daß ›wieder Ehen [unter Verwandten, N.G.] angeknüpft werden‹ – und die, wie man glaubte, durch die Zerstreuung der Verwandtschaft und die Durchmischung der Populationen für untauglich erklärt worden war – sieht sich hier wiederbelebt.«9 Während sich Lévi-Strauss offenbar für die Latenz verwandtschaftlicher Strukturen als »elementare Mechanismen« interessiert, die unabhängig vom jeweiligen Komplexitätsgrad der Gesellschaft »überall dieselben« sind,10 hat es in den letzten Jahren an Historisierungsversuchen bilateraler Reziprozität nicht gefehlt, welche die Entstehung verwandtschaftlicher Netzwerke aus dem Wechselspiel zwischen väterlicher und mütterlicher Linie erklären.

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Vgl. Michael Kauppert: »Und überhaupt stammt der Strukturalismus ja aus Deutschland«. Claude Lévi-Strauss zum 100. Geburtstag. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 60/4 (2008), S. 811–815, hier: S. 812f. Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 125. Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 125. Dass der technische Fortschritt den »Familienverkehr« beleben kann, wird auch bei Riehl thematisiert: »Regelmäßige Familienzusammenkünfte sollten zur allgemeinen Sitte werden; die Eisenbahn, die so manches alte Herkommen zerstört, würde dieses gute neue Herkommen schaffen helfen.« (Riehl, Die Familie, S. 292f.) Vgl. Lévi-Strauss, Kreuzfahrten der Lektüre, S. 125.

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Die mikrohistorischen Studien von Martine Segalen und David Sabean – um nur die einflussreichsten zu nennen – lassen sich dahingehend interpretieren, dass sich Verwandtschaft als Austausch zwischen zwei Linien bevorzugt im Europa des langen 19. Jahrhunderts studieren lässt. Vor diesem Hintergrund ist die Literaturgeschichte des Hauses zu sehen. Basierend auf der historischen Erkenntnis, dass »diese Periode [das 19. Jahrhundert, N.G.] weniger den ›Aufstieg der Kernfamilie‹ bezeugt, sondern eher die Verdichtung und Systematisierung von Verwandtschaft und ehelicher Allianzbildung«,11 ist die Frage nach der Deutung der Häuserromane und ihrem Erfolg beim wilhelminischen Publikum neu zu stellen. Die passionierte Hingabe an verwandtschaftliche Kasuistik – gut zu studieren anhand von Fontanes Romanen – ist getragen vom Wissen darüber, dass sich dynastische Konstellationen aus einer ehelichen oder familialen und einer geschwisterlichen Beziehung zusammensetzen. Das narrative Muster, das die Häuserromane generieren, besteht aus der strukturalen Konkurrenz zwischen der Achse der Eheleute und der Achse der Geschwister. Ausgehend davon, dass die Anwendung der sozialanthropologischen Terminologie und Theorie auf die wilhelminische Literatur den Effekt hat, dass sich die literarischen Texte unter der Hand in eigenethnographische Abhandlungen verwandeln, erlaubt die Arbeit die Frage, inwieweit die sozialanthropologischen Texte selbst häuserliterarische Züge tragen. Wer mag entscheiden, ob Wendungen wie »liaison double« oder »Heirat in rechter Entfernung« der Literatur oder der Theorie entnommen sind?12 So klingt etwa in einer Abhandlung, die von formalisierten Tauschzyklen handelt, die ›Sorge des Hausvaters‹ um seine Töchter an: »Wie gelingt es den Frauen der höchsten Klasse, sich zu verheiraten?«13 An anderer Stelle wird in bündigen Sätzen von einem Prozess endogamen Einschlusses berichtet: »Der Zyklus ist unterbrochen, die unendliche Kette der Geschenke und Gegengeschenke festgefahren: die Partner treten auf der Stelle und halten, da sie sich außerstande sehen, ihren Pflichten als Geber nachzukommen, ihre Töchter zurück, indem sie sie mit ihren Söhnen verheiraten, bis ein Wunder die ganze Maschine wieder in Gang setzt. Unnötig zu sagen, daß ein solches Verfahren ansteckend ist.«14 Die verwandtschaftsethnologischen Schriften bedienen sich einer Kasuistik, die als szientifische Dramatisierung der Sprache des Hauses erkennbar wird.

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Vgl. Sabean, Kinship, S. 369. (Deutsche Übersetzung von mir, N.G.) Die »liaison double« aus Fontanes Vor dem Sturm (V 330) lässt sich mit Lévi-Strauss’ »un double régime successoral« (Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 167) assoziieren, wie sich umgekehrt Lévi-Strauss’ »le mariage à bonne distance« (Lévi-Strauss, La voie des masques, S. 119) mit dem Imperativ aus Fontanes Der Stechlin »heirate heimisch« (St 190) assoziieren lässt. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 634. (»Comment les femmes de la classe la plus haute trouveront-elles à se marier?« [Lévi-Strauss, Les structures élémentaires, S. 587]) Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 635. (»Le circuit est interrompu, la chaîne indéfinie des prestations et des contre-prestations est grippée: les partenaires piétinent, et, placés dans l’impossibilité d’accomplir leurs devoirs de prestataires, retiennent leurs filles en les mariant à leurs fils, jusqu’à ce qu’un miracle remette en marche toute la machine. Inutile de dire qu’une telle procédure est contagieuse«. [Lévi-Strauss, Les structures élémentaires, S. 588])

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Siglenverzeichnis

AL

Hermann Wallich: Aus meinem Leben. In: Zwei Generationen im deutschen Bankwesen 1833–1914. Hg. Der Wissenschaftliche Beirat des Instituts für bankhistorische Forschung e.V. Frankfurt/M. 1978, S. 29–158.

B

Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 1.1. Frankfurt/M. 2002.

E

Otto Stoessl: Das Haus Erath oder Der Niedergang des Bürgertums. Graz u. a. 1983.

G

Theodor Fontane: Graf Petöfy. Große Brandenburger Ausgabe. Hg. Gotthard Erler. [= GBA] Das erzählerische Werk. Bd. 7. Berlin 1999.

H

Friedrich Wilhelm Hackländer: Handel und Wandel. Stuttgart 1888.

L

Ricarda Huch: Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren. Gesammelte Werke. Hg. Wilhelm Emrich. Bd. 1. Köln u. a. 1966.

LW

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Namenregister

Aristoteles 2 Arras, Jean de 98 Bachofen, Johann J. 87 Beauvoir, Simone de 90 Bleichröder, Gerson 131 Blome, Eva 102 Boas, Franz 11f., 20–24, 30f., 142 Bröckling, Ulrich 92 Brunner, Otto 2, 142 Büchner, Georg 99 Campe, Rüdiger 41 Cockerill, Heinrich 78f. Codere, Helen 22 Couldrette 98 Därmann, Iris 31 Dürer, Albrecht 143 Durkheim, Emile 114f. Erhart, Walter 51f. Floßmann, Ursula 76 Fontane, Theodor 10, 45, 57, 83f., 91–93, 104, 106–110, 114, 130f., 144 Freud, Sigmund 9 Freytag, Gustav 4, 36, 39, 72, 121, 132 Friedrich der Große 106 Fürstenberg, Carl 139f. Fürstenberg, Hans 139 Gargan, Théodore de 78 Geitner, Ursula 1 Girard, René 68 Goethe, Johann W. 57, 83, 101, 110, 113, 139, 143 Goody, Jack 123 Haag, Saskia 1 Hackländer, Friedrich W. 4, 9, 39 Haniel, Franz 74, 79 Haniel, Jakob W. 74

Hebekus, Uwe 119 Heuschele, Otto 141 Holländer, Felix 60, 91 Huch, Ricarda 44 Jacobi, Abraham 11 Jacoby, Anna 136 James, Harold 73f., 79 Johnson, Christopher H. 59 Kaes, Aloisia 82 Kafka, Franz 9, 63, 72, 132 Kaulla, Chaile R. und Jakob R. 6–8 Kaulla, Michle J. 7 Kaulla, Salomon J. 6f. Kennedy, John F. 115 Klein, Birgit 75 Koschorke, Albrecht 80 Koselleck, Reinhart 2f. Kübler, Gunhild 115 Langensiepen, Andreas 111 La Roche, Sophie von 102 Lévi-Strauss, Claude 19f., 22–31, 33, 62, 76f., 81, 83, 87, 89f., 94, 107, 124, 128, 141–144 Lipp, Carola 15f. Lowie, Robert H. 88 Lüdemann, Susanne 6 Maine, Henry S. 5, 11, 33f. Mann, Heinrich 129 Mann, Johann S. 39 Mann, Thomas 39f., 49, 99, 129f. Mauss, Marcel 11f., 142 Merton, Walter 140 Morgan, Lewis H. 12, 87 Mühsam, Erich 92 Nancy, Jean-Luc 102 Neubecker, Friedrich K. 126–128 Nietzsche, Friedrich 108

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Piëch, Anton, Ernst und Ferdinand 81 Poe, Edgar Allen 141 Polko, Elise 1 Porsche, Ferdinand und Louise 81f. Porsche, Hans-Peter 81 Proust, Marcel 56 Radcliffe-Brown, Alfred R. 11, 42f., 47, 86–89 Rath, Julius vom 137 Rehrmann, Hildegard 136 Renan, Ernest 141 Reuter, Gabriele 58, 103 Riehl, Wilhelm H. 1–5, 28, 124f. Ringoltingen, Thüring von 97f. Sabean, David W. 16–20, 46, 73, 84, 144 Schieder, Theodor 84 Schlegel, Friedrich 83 Schmid, Karl 142

160

Schneider, David M. 26f. Schüttpelz, Erhard 6 Segalen, Martine 144 Stoessl, Otto 56 Tacitus 86 Theweleit, Klaus 137 Twellmann, Marcus 142 Wagner, Richard 143 Wallich, Hermann 135, 138f. Wallich, Paul 135–140 Walser, Robert 41f. Weber, Max 5 Wehler, Hans-Ulrich 84 Wendel, François und Charles de 78 Wollstonecraft Shelley, Mary 141 Zonabend, Françoise 143