Monster: Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm [1. Aufl.] 9783839405529

Der Horrorfilm zeigt menschliche Körper und technische Medien als Orte des Schreckens und der Faszination. Er spiegelt d

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German Pages 372 [371] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorbemerkung
Einleitung
Horror und Theorie
I. Horrorfilm
II. Gothic Horror. Schauerromantik
Körper-Horror. Der Splatterfilm
I. Horrorshow
II. Autopsien. The Texas Chainsaw Massacre, The Evil Dead, Braindead
III. Kulturtechnik Splatterfilm
Apokalypse und Fernsehen. Der Zombiefilm
I. Apophrades. Die Rückkehr der Toten
II. George A. Romero. Night of the Living Dead
III. Zombiedämmerung. Dawn of the Dead, 28 Days Later
Das gefräßige Auge. Der Kannibalenfilm
I. Das Rohe und das Gekochte
II. Ruggero Deodato. Cannibal Holocaust
David Cronenberg als Drehscheibe. Körper- und Medienwelten
I. Frühe Experimente. Stereo, Crimes of the Future
II. Das neue Fleisch. Shivers
III. Technopathologien. Videodrome, The Fly, eXistenZ
Bibliotheken der Gewalt. Der Serial Killer-Film
I. Vor-Schreiben und Nach-Lesen am Ende der Gutenberg-Galaxis
II. David Fincher. Se7en
Geister und Medien. Die Verschwörung der Dinge
I. New Gothic Horror
II. Gespenster. The Others, The Mothman Prophecies, Ringu
III. Chris Cunningham. Come to Daddy
Film-Monster. Resümee
Filme
Literatur
Abbildungen
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Monster: Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm [1. Aufl.]
 9783839405529

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Arno Meteling Monster

Arno Meteling (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« in Köln. Seine Arbeitsfelder sind Literatur und Ästhetik des 18.-21. Jahrhunderts, Film und Medientheorie.

Arno Meteling Monster. Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Satz: Arno Meteling Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-552-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorbemerkung

7

Einleitung

9

Horror und Theorie I. Horrorfilm II. Gothic Horror. Schauerromantik

19 37

Körper-Horror. Der Splatterfilm I. Horrorshow 59 II. Autopsien. The Texas Chainsaw Massacre, The Evil Dead, Braindead 76 III. Kulturtechnik Splatterfilm 98 Apokalypse und Fernsehen. Der Zombiefilm I. Apophrades. Die Rückkehr der Toten II. George A. Romero. Night of the Living Dead III. Zombiedämmerung. Dawn of the Dead, 28 Days Later

109 118 139

Das gefräßige Auge. Der Kannibalenfilm I. Das Rohe und das Gekochte II. Ruggero Deodato. Cannibal Holocaust

153 164

David Cronenberg als Drehscheibe. Körper- und Medienwelten I. Frühe Experimente. Stereo, Crimes of the Future 177 II. Das neue Fleisch. Shivers 189 III. Technopathologien. Videodrome, The Fly, eXistenZ 200 Bibliotheken der Gewalt. Der Serial Killer-Film I. Vor-Schreiben und Nach-Lesen am Ende der Gutenberg-Galaxis II. David Fincher. Se7en

215 239

Geister und Medien. Die Verschwörung der Dinge I. New Gothic Horror II. Gespenster. The Others, The Mothman Prophecies, Ringu III. Chris Cunningham. Come to Daddy

259 277 310

Film-Monster. Resümee

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Filme Literatur Abbildungen

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VORBEMERKUNG Diese Studie ist im Rahmen des Graduiertenkollegs »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« 2001-2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden und dort am Institut für deutsche Literatur als Dissertation angenommen worden. Mein Dank gilt deshalb der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Humboldt-Universität zu Berlin. Teile der Arbeit habe ich im Graduiertenkolleg, im Forschungskolloquium von Prof. Dr. Thomas Macho und im Oberseminar von Prof. Dr. Detlef Kremer vorstellen können und dort hilfreiche Kritiken und Anregungen bekommen. Da diese Studie im Jahr 2004 abgeschlossen wurde, konnten die jüngsten Entwicklungen des Horrorfilms nicht mehr aufgenommen werden. Aber sowohl die Geschichte des »Körper-Horrors« als auch die des »Gothic Horrors« setzen sich mit den in dieser Studie beschriebenen Merkmalen fort. Vor allem Fortsetzungen, Remakes und Pastiches amerikanischer Splatterfilme der 1970er Jahre zum einen sowie asiatischer Medien- und Gespensterfilme zum anderen scheinen weiter den Markt zu dominieren. Für die Fortführung des Splatterfilms können unter anderem folgende Filme exemplarisch benannt werden: Zack Snyders Remake Dawn of the Dead (US 2004), George A. Romeros Fortsetzung Land of the Dead (US 2005), Alexandre Ajas Haute Tension (engl. High Tension, F 2003) und sein Remake The Hills Have Eyes (US 2006), Rob Zombies Fortsetzung The Devil’s Rejects (US 2005), Neil Marshalls The Descent (GB 2005) sowie Eli Roths Cabin Fever (US 2002) und Hostel (US 2005). Auf die Splatterästhetik der Hellraiser-Reihe aus den 1980er und 1990er Jahren verweist Christophe Gans’ Videospielverfilmung Silent Hill (US/KAN/JAP/F 2006). Der New Gothic-Film bleibt vor allem im Format des Medien- und Gespensterfilms aktuell: mit Filmen wie Geoffrey Sax’ White Noise (US 2005), Hideo Nakatas Fortsetzung eines Remakes The Ring 2 (US 2005) und Walter Salles’ Remake Dark Water (US 2005), Takashi Shimizus Hollywood-Re-Remake The Grudge (dt. Der Fluch, US 2004) sowie Marebito (JAP 2004) und dem thailändischen Shutter (THAI 2004) von Banjong Pisanthanakun und Parkpoom Wongpoom. Literatur zum modernen Horrorfilm ab 2004 konnte nicht mehr in die Analysen einfließen, taucht aber als Literaturverweis an geeigneter Stelle in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis auf. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bei meinen Betreuern Prof. Dr. Detlef Kremer und Prof. Dr. Thomas Macho sowie bei Prof. Dr. Klaus Scherpe und Dr. Elisabeth Wagner vom Graduiertenkolleg in Berlin. Herzlich bedanken für die Unterstützung zu dieser Studie möchte ich mich auch bei Dr. Thomas Düllo, Thomas Groh, Dr. Claudia Lieb, Harun Maye, Timo Meteling, Frieder Mißfelder, André Suhr, Anja Wessel und meinen Eltern. Köln, den 27.07.2006

Arno Meteling

EINLEITUNG Nach der Bildbeschreibung einer in Grün und Rot komponierten »sanfte[n] Genre-Szene« – sechs Figuren in einem Garten, zwei davon liegen tot auf dem Rasen – stellt Karl Heinz Bohrer fest: »Surrealistische Bilder terrorisieren so die Einbildungskraft, in dem sie den schönen Schrecken hinter einer Maske verbergen, die zu lüften dem gereizten Zuschauer nicht gelingt.«1 Danach klärt Bohrer das Rätsel um den seltsamen Realitätseffekt dieses surrealistischen Bildes auf: Das Beschriebene ist kein surrealistisches Bild und das Abgebildete kein ästhetisches Arrangement. Es handelt sich um ein Farbfoto aus dem amerikanischen Magazin »Time«, auf dem man zwei der erschossenen Vietcong-Attentäter sieht, die im Februar 1968 während der großen Offensive versuchten, in die Amerikanische Botschaft in Saigon einzudringen. Das rote Rinnsal an der Hauswand stammt aus Kopfwunden, die beiden bewegungslos dreinschauenden GIs haben vor wenigen 2 Minuten ihre Magazine leergeschossen.

Das Bild sieht wie ein surrealistisches Kunstwerk aus, ist aber die exakte photographische Aufnahme der Wirklichkeit. Was lässt den Betrachter aber glauben, das Photo sei inszeniert, eine surrealistische Maske und damit ein Kunstwerk und verfremdete Realität? Es muss ein Tertium Comparationis geben, das den Betrachter zu dieser Täuschung verleitet und zu der Ununterscheidbarkeit von Leben und Kunst führt. Für Bohrer ist die Sache klar: Es ist der Terror des Jahres 1968. Bohrer zufolge überholt die Realität die Kunst im Medium des Schreckens, und als Folge davon zerbricht die Distanz zwischen Leben und Kunst. Seit diesem Zeitpunkt sind beide deckungsgleich: »Dieses Element des Terrors ist unausweichlich und seine Sublimierung durch Literatur und Kunst vollzieht sich nicht mehr als Ablenkungsmanöver, sondern als seine Potenzierung.«3 Kunst funktioniert demzufolge seither nur noch als Verstärker und als Multiplikator des Schreckens. Genau dies erklärt auch die Macht und den Surrealismus des Bildes. Denn der Terror ist real, und die Kunst des Bildes ist die Einleitung in den Realisierungsprozess dieses Sachverhaltes, der in Schrecken und Ekel, aber auch in Faszination mündet. Gegen Bohrers Fazit von 1970 aber, dass die Form des Terrors zwar »noch immer ästhetisch vermittelt« sei, »aber nur noch politisch erfassbar«,4 stehen Bilder des Schreckens ein, die präzise seit 1968 den (surrealistischen) Realitätseffekt des Terrors vermitteln, der jenseits des zitathaften Schreckens von »Godards Film ›Weekend‹«5 liegt. Die Rede ist vom Beginn des modernen Horrorfilms als Splatterfilm oder genauer: von 1

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Karl Heinz Bohrer: »Surrealismus und Terror oder die Aporien des Justemilieu«, in: Ders.: Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München 1970, S. 32-61, hier S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd. Ebd.

10|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

George A. Romeros Night of the Living Dead (dt. Die Nacht der lebenden Toten, US 1968), mit dem das Realitätsprinzip in den Horrorfilm einzieht. Filme von Wes Craven und Tobe Hooper, später von John Carpenter, Sam Raimi, Peter Jackson und vor allem von David Cronenberg folgen dem Beispiel Romeros und zeigen Terror in Gestalt der Verknüpfung von nichtästhetischen und auf Authentizität ausgerichteten Gewalt-, Schock- und Ekelelementen mit modernsten ästhetischen Bild- und Erzählstrategien. Neben den medialen Grundlagen des Filmischen finden dabei sowohl die ästhetischen als auch die narrativen Regelsätze, die eine Genrezugehörigkeit zum Horrorfilm markieren, immer wieder selbstreferenziell Eingang in die Filme selbst. Im Zentrum des modernen Horrorfilms der 1970er und 1980er Jahre, dem Splatterfilm zwischen »surrealistischem Realitätseffekt« und authentifizierender Künstlichkeit, steht vor allem der deformierte und geöffnete menschliche Körper, der auf das Monster vor- und frühmoderner Horrorshows wie Jahrmarkt, Freakshow und Panoptikum und auf die theatrale Tradition des Grand Guignol rekurriert. Jüngere Horrorfilme seit den 1990er Jahren, wie die Gespensterfilme von Hideo Nakata, Manoj »Night« Shyamalan oder Alejandro Amenábar, rücken hingegen vom singulären Körper ab und setzen wieder auf die Untiefen des Raums und das Unheimliche der Dingwelt. Damit kehrt der inventarlastige Horror der Gothic Novels des 18. und 19. Jahrhunderts, der schon im klassischen Horrorfilm der 1930er Jahre dramatisiert wurde, als Zitat in die Kinos zurück. Am Schrecken von Körperlichkeit und Medialität arbeitet sich das Medium Film seit seinen Ursprüngen ab. Gerade der Horrorfilm übernimmt dabei die Kommentarfunktion zu den skandalösen Aspekten des neuen Mediums zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese kann man mit der Sprengung der klassizistischen Gattungseinteilung, dem diabolischen und aufrührerischen Einfluss auf das Unbewusste des Publikums sowie der gewaltförmigen technischen Registrierung, Rahmung und Fragmentierung des menschlichen Körpers in Ausschnitt (Mise en Scène) und Schnitt (Montage) benennen. Der Horrorfilm ist dabei in mancher Hinsicht die Fortsetzung der spezifisch modernen Elemente romantischer Literatur, die Bohrer mit »Plötzlichkeit«, »Phantastisches« und »Reflexivität« benennt.6 Er zeichnet sich überdies durch bestimmte (film-)rhetorische Elemente aus, die, wie die Gegenüberstellung von Pathos und Groteske oder der Exzess in der Darstellung von Körpern und Dingen, ebenfalls der romantischen Literatur und der Gothic Novel entlehnt sind. Parallel zum Horrorfilm und in vielerlei Hinsicht mit ihm verknüpft

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Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983. Gerade die Plötzlichkeit, das Phantastische und die Reflexivität des Kunstwerks sind für Bohrer die zentralen Figuren einer literarischen Romantik, die über den Schrecken und das Böse zur ästhetischen Moderne überleiten. Augenblicklichkeit, Kontingenz und Katastrophenbewusstsein sind für ihn die entscheidenden Distinktionsmerkmale von moderner Kunst und moderner Identität gleichermaßen. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981; Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main 1989 sowie Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt am Main 1989.

EINLEITUNG|11

kann auch die Psychoanalyse als Fortsetzung romantischer Programme gelten.7 Die Forschung zum Horrorfilm wird denn auch fast ausnahmslos von einer psychoanalytischen Filmtheorie dominiert, die je nach Entstehungszeit auf den Erkenntnissen von Sigmund Freud, Jacques Lacan oder Julia Kristeva beruht. An die Seite der dominanten psychoanalytischen Leseweisen des Horrorfilms soll in dieser Studie eine andere Perspektive auf den Horrorfilm vorgeschlagen werden, die sich vielleicht als »medienphilologische Filmanalyse« oder als medienorientierte »Filmphilologie« beschreiben lässt. Sie versucht, spezifische Darstellungen von Körpern und Medien im modernen Horrorfilm in ihrer filmästhetischen Differenz wahrzunehmen und ihre Funktion für Film und Filmgeschichte, aber auch für Literatur- und Theoriegeschichte zu analysieren. Vor allem die Inszenierung technischer Medien im Zusammenhang mit der Darstellung des menschlichen Körpers stellt dabei, so die Vermutung, einen chancenreichen Ausgangspunkt für die Analyse des modernen Horrorfilms dar. Denn den technischen Medien kommt schon im Splatterfilm der 1970er und 1980er Jahre, dann aber vor allem im New Gothic-Film der 1990er Jahre als Repräsentationsmarkierungen des Mediums Film eine besondere Rolle zu. Zunehmend dringt das Mediale und Apparative selbst in den Film ein, und seit dem modernen Horrorfilm erscheint nicht nur alles Mediale auf der Leinwand organisch, in dem Sinne, wie Marshall McLuhan feststellt, auf »dem Film erscheint das Mechanische organisch«,8 sondern alles Organische wird im Gegenzug auch zur mechanischen oder medialen Prothese. Im modernen Horrorfilm sieht der Zuschauer nicht mehr die symbolischen Übersetzungen der menschlichen Körper, die er aus der Literatur gewohnt ist. Stattdessen sieht er nur noch ihre Fragmente, Vergrößerungen, Ausschnitte und Extensionen. So wird in dieser Studie mit einem Auge auf die Medien im Film und einem Auge auf dem Film als Medium eine Lesart erprobt, die eine technikorientierte Medientheorie für die filmische Analyse nutzbar machen möchte. Die Medientheorie ist aber genau wie ihre Vorläuferin, die Psychoanalyse, grundsätzlich nicht historisch. Man darf die mit Zahlen, Formeln und Graphiken versehenen Technikgeschichten und faszinierenden Anekdotensammlungen von mythischen Helden und magischen Gerätschaften in der Medientheorie nicht mit Historiographie verwechseln. Genau wie die Faszination an Ursprungsgeschichten und einem mit Gold verbrämten Mittelalter in der Romantik – Interessen, die in umfangreichen Archiven von Volksmärchen und -liedern, in die romantische Mythopoetik und letztlich in die Entstehung von Philologie mündeten – setzt eine an Apparaten und Kulturtechniken interessierte Medientheorie an die Stelle einer Geschichtsschreibung etwas, das sich mit »Dichtung«, genauer betrachtet auch mit »Schauerromantik« und »Horrorfilm« benennen lässt. So erzählt gerade die technikzentrierte 7

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Im Gegenzug kann der romantische Text als ein »protopsychoanalytisches strukturales Feld« betrachtet werden. Hartmut Böhme: »Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskultnovellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann«, in: Klaus Bohnen (Hg.): Literatur und Psychoanalyse, Kopenhagen 1981, S. 122-176, hier S. 136. Vgl. auch Detlef Kremer: Prosa der Romantik, Stuttgart, Weimar 1997, S. 139-144 sowie Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar 2001, S. 80-88. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel 1994, S. 432.

12|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Medientheorie Geschichten statt Geschichte. Die gewählten Stoffe handeln deshalb häufig von Krieg, Tod und Verderben, von Mensch-Maschinen, Mad Scientists, dunklen Verschwörungen und auch von Geisterbeschwörungen. Häufig firmieren unter dem Konzept einer »medialen Historiographie« selbst apokatastatische oder apokalyptische Verkündigungen und Offenbarungen. Mit archäologisch obsessiver Akribie werden immer neue Geschichten faszinierender Apparate, Medien und Techniken aus den Archiven gegraben, um letztlich eine romantisch gefärbte medientheoretische Mythopoetik von Geschichte als Mediengeschichte erzählen zu können.9 Die vorliegende Studie sieht sich zwar durch diese spezifische Form der Medientheorie mehr als nur angeregt, ist aber dezidiert nicht ahistorisch ausgerichtet. Stattdessen werden der Horrorfilm, die Psychoanalyse und die Medientheorie als analoge Projekte betrachtet, die sich einem kleinen Kanon ähnlicher Stoffe annehmen und dabei durchaus vergleichbar aus ihren Quellen, namentlich der Gothic Novel und der Literatur der deutschen Romantik, schöpfen. Ihr gemeinsamer Hang zum Dichterischen weist sie auch stilistisch als verwandte Projekte aus, die im Sinne einer »wechselseitigen Erhellung«10 über das jeweils andere Projekt Auskunft erteilen können. Über eine Rhetorik und damit über die Möglichkeiten einer Bilderwelt, die am auffälligsten in der Literatur der späten Gothic Novel, der deutschen Romantik und in ihrer modernisierten Form in der Psychoanalyse zu beobachten ist, können, so die Vermutung, diskursive Schnittstellen vor allem von Horrorfilm und Medientheorie ausfindig gemacht werden. Verkürzt gesagt: Es geht um die Theorie und die Medien im Horrorfilm und um den Horrorfilm als theoretisches Medium. Man könnte das Verfahren dieser Studie deshalb »konfigurativ« nennen, da es um die Herausarbeitung einiger der Rhetorik entlehnter Figuren geht, die zwischen den Diskursen von Horrorfilm und Medientheorie zirkulieren. Rhetorik wird dabei als die sprachliche Bedingung von Diskursen betrachtet. 9

Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986; Wolfgang Hagen: »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338-357; Georges Didi-Huberman: »Superstition«, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 434-440; Erhard Schüttpelz: »›We cannot manifest through the medium.‹ Der Geisterangriff auf Edward B. Tylor (London 1872) und der transatlantische Spiritismus«, in: Ästhetik und Kommunikation 127. Jg. 35. (2004), S. 11-22; Sabine Haupt: »Strahlenmagie. Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zwischen Okkultismus und Sciencefiction. Ein diskursanalytisch-komparatistischer Überblick«, in: Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005, S. 153-176 sowie Stefan Andriopoulos: »Die Laterna magica der Philosophie. Gespenster bei Kant, Hegel und Schopenhauer«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (2006), S. 173-211. 10 »Wechselseitige Erhellung der Künste« ist Begriff und Buchtitel (1917) von Oskar Walzel für die wechselseitige Ergänzung und Beziehbarkeit der verschiedenen Kunstformen aufeinander. Vor allem der jüngeren Forschung zur Intermedialität dient Walzels These als Leitstern. Vgl. Peter V. Zima: »Ästhetik, Wissenschaft und ›wechselseitige Erhellung der Künste‹. Einleitung«, in: Ders. (Hg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995, S. 1-28.

EINLEITUNG|13

Diese Perspektive kann als eine auf Rhetorik, Theorie und Medialität konzentrierte Version des New Historicism11 oder der »Poetik der Kultur«12 begriffen werden. Der neuhistorische Begriff der »Zirkulation«13 wird dabei entgegen der Definition Stephen Greenblatts allerdings nicht allein für »praktische […] Strategien der Verhandlung«14 benutzt, wie zum Beispiel die deutliche Einlassung psychoanalytischer Theoreme in Horrorfilmen, sondern auch für unbewusste oder latente Prozesse des Austausches, wie zum Beispiel die Orientierung des Horrorfilms an jeweils aktuellen Medienstandards. Aber was bedeuten diese Prämissen für eine Geschichte über den modernen Horrorfilm mit den Untersuchungsaspekten Körperlichkeit und Medialität? Wenn der Film nichts anderes unternimmt, als immer schon Körper zu zeigen, wie will man die Differenz der Darstellung von Körpern im Horrorfilm heute im Vergleich zu ihrer Darstellung um 1900 messen? Wenn der Film als Medium immer schon der Schrecken der Gattungstheorie ist, wie soll sich der Horror des modernen Horrorfilms von dem Horror der ersten Filme unterscheiden? Immer noch gibt es den Körper-Horror der Splatterfilme aus den 1970er und 1980er Jahren. Zeitgleich zeigt sich aber im New Gothic-Film eine Tendenz zum Bilderverbot der Gewalt. Immer wieder taucht überdies der gleiche Katalog an Figuren und Plots auf. Man muss deshalb sowohl von einer Kontinuität als auch von einer Ungleichzeitigkeit der medialen, ästhetischen und narrativen Parallelen und Differenzen ausgehen. Als Rechtfertigung für eine historische und chronologische Reihenfolge der Analysen soll in dieser Studie deshalb eine Perspektive auf den Horrorfilm eingenommen werden, die neben Einzelanalysen auch das Verhältnis der Filme untereinander untersucht. Dieser Ansatz taucht unter dem Konzept der »literarischen Reihe« oder der »literarischen Evolution« schon im Russischen Formalismus auf und besagt im Wesentlichen die Entwicklung von Literatur in Phasen wie Herausbildung, Stabilisierung und notwendiger Abweichung von Automatismen. Im formalistischen Verständnis entstehen letztere durch die Anwendung neuer »Kunstgriffe«, neuer literarischer »Verfahren«, also innovativer Perspektiven auf das Material. Jüngere Texte reagieren dabei durch Abgrenzung und Grenzverschiebung auf ältere Texte.15 11 Vgl. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt am Main 1993; Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 1995. 12 Stephen Greenblatt: Grundzüge einer Poetik der Kultur, in: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt am Main 1995, S. 107122. 13 Ebd., S. 115. 14 Ebd. 15 Vgl. Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1971, besonders S. 3-35 und S. 393-461. Zur Einführung in die formalistische Literaturtheorie immer noch Victor Erlich: Russischer Formalismus, Frankfurt am Main 1987. Unter dem Begriff des »Neoformalismus« finden sich seit einiger Zeit auch Aspekte des Russischen Formalismus in der amerikanischen Filmwissenschaft, besonders in den Arbeiten von David Bordwell und Kristin Thompson, wieder. Vgl. zur Einleitung in den Neoformalismus Kristin Thompson: »Neoformalistische Filmanalyse«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001, S. 409-446; Britta Hartmann/Hans J. Wulff: »Neoformalismus, Kognitivismus, Historische Poetik des Kinos«, in: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2002, S. 191-216 sowie Robert Blanchet: Blockbuster. Ästhetik,

14|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Zum Grundstein seiner literarischen Lektüren macht auch Harold Bloom die Theorie der literarischen Evolution.16 Seine Theorie der Dichtung beschäftigt sich mit poetischen Einflüssen als dichterisch notwendige Fehllektüren oder Fehlverstehen der Vorgänger. Die »Revisionary Narratives« von starken Texten produzieren dabei Texte, die sich bewusst dem Einfluss ihrer Vorgänger zu entziehen suchen und dadurch neue starke Texte schaffen: Einfluß, wie ich das Wort verstehe, bedeutet, daß es keine Texte gibt, nur Beziehungen zwischen den Texten. Diese Beziehungen hängen von einem Akt der Kritik ab, einem Fehllesen oder Mißverstehen (misprision), vollzogen von einem Dichter an einem anderen; es unterscheidet sich dieser Akt nicht wesensmäßig von jenem unabdingbaren Akt der Kritik, dem jeder starke Leser jeden Text unterzieht, mit dem er sich auf eine Begegnung einläßt. Eine Einfluß-Relation leitet somit das Lesen ebenso wie das Schreiben, weshalb jede Lektüre zugleich ein Fehlschreiben ist und alles Schreiben ein Fehllesen.17

Blooms Perspektive und die des Russischen Formalismus stellen sich allerdings gegen eine Einbeziehung außerliterarischer Einflüsse. Ist es aber schon für die Betrachtung von Literatur unmöglich, Referenzen und Einflussnahmen außerhalb des Literarischen, wie Kultur, Gesellschaft, Ökonomie oder auch andere Künste und Medien, gänzlich auszuklammern, so gilt das noch vielmehr für die Kunstform Film. Denn Filme sind erstens keine Einzelprojekte und unterstehen zweitens noch wesentlich größeren ökonomischen Einflüssen in Produktion und Rezeption als Literatur. Bedacht werden müssen deshalb in einem hohen Maße die »Filmizität von Geschichte« genauso wie die »Geschichtlichkeit von Filmen«,18 die eine Vielzahl unterschiedlicher Diskurse mit einschließt. Blooms Theorie richtet sich überdies eindeutig auf die Beziehungen zwischen den Dichtern. Die Gefahr der biographischen Spekulation kann aber leicht durch die Verschiebung der Perspektive auf die Texte selbst, in diesem Fall: auf die Filme, gebannt werden. Wenn in dieser Studie deshalb vom »Filmemacher« in der Person des Regisseurs gesprochen wird, so geht es nicht um das Auteur-Konzept der Filmkritik im Sinne einer alleinverantwortlichen Schöpferfigur. Der Einfluss von Produzenten, Drehbuchautoren, Kameraleuten, Cuttern oder Schauspielern auf den Film darf nicht unterschätzt werden. Zusammengefasst steuern die Überlegungen Blooms, des Russischen Formalismus und auch des New Historicism vor allem im Hintergrund der Studie die Überlegungen, mit welchen Fäden die Filme zueinander in Beziehung gesetzt werden. So gilt es vor allem, die gerade beim Horrorfilm deutlich sichtbaren Reaktionen auf Entwicklungen im eigenen Genre aufzuspüren. Denn der Horrorfilm besitzt wie kein zweites Genre nur wenige starke Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywoodkinos, Marburg 2003, S. 13-78. 16 Harold Bloom: Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung, Basel, Frankfurt am Main 1995; Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt am Main 1997. 17 Ebd., S. 9. 18 Vgl. Moritz Baßler: »Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur«, in: Ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 1995, S. 7-28.

EINLEITUNG|15

Texte, deren Einfluss, in welcher Form auch immer, nachhaltig fortwirkt und zu langen Ketten von Epigonen, Reihen und Serien in Form von Fortsetzungen, Remakes, Sequels, Spin Offs oder Rip Offs führt. Zu den starken Filmen und damit zu den Gesetzgebern des modernen Horrorfilms, um schon früh einige Grenzmarkierungen vorwegzunehmen, zählen Alfred Hitchcocks Psycho (US 1960), Romeros Night of the Living Dead und Dawn of the Dead (dt. Zombie, US 1979) sowie Hoopers The Texas Chainsaw Massacre (dt. Blutgericht in Texas, US 1974), Raimis The Evil Dead (dt. Tanz der Teufel, US 1982) und Carpenters Halloween (dt. Halloween – Die Nacht des Grauens, US 1978). Mit diesen Filmen müssen sich alle späteren Horrorfilme auseinandersetzen und zu ihnen in Relation treten. Sie bilden den frühen Kern des Archivs, das sich mit »moderner Horrorfilm« bezeichnen lässt. Dieses Archiv ist inzwischen über 40 Jahre alt und wird von dieser Studie versuchsweise bis zum Jahr 2003 erfasst. Überdies wird die Notwendigkeit von Sujet- und Genrebegriffen, wie unzureichend sie auch sein mögen, in dieser Studie nicht abgestritten. Die Begriffe werden benutzt, um Konzepte und Kontinuitäten verschiedener Gruppen und Reihen von Horrorfilmen zu beschreiben und abzugrenzen. Die gemeinsame Verwendung der Namen von Filmemachern (Regisseuren), Sujets und Genrebegriffen zur Bezeichnung und Gruppierung von Filmen und Filmreihen in den Kapitelüberschriften soll der Zugänglichkeit dienen. Mitunter mischen sich dabei die Kategorien. So zählen zum Beispiel Filme mit den Sujets »Slasher«, »Zombies« oder »Kannibalen« zum Genre des Splatterfilms, das einzig wegen seiner Ästhetik und Erzählweise, aber nicht wegen seines Figurenkatalogs klassifiziert wird. Als das allgemeinste heuristische Merkmal zur Einteilung der Horrorfilme dienen allerdings die ästhetischen und narrativen Konzepte von »Gothic Horror« und »Körper-Horror«. Obgleich sich der Horror von Gothic Novels und ihrer romantischen und viktorianischen Erben durchaus auf die Monstrosität singulärer Körper beziehen kann, wie bei Frankenstein, The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde oder Dracula, ist dem Stil des Gothic doch vor allem eine spezifische Ästhetik des Raums und der Dinge zu eigen, die als Projektion innerer und das heißt zunächst: unbewusster Mechanismen dargestellt wird. Gothic Horror bezieht deshalb die Instanzen des Unbewussten und Verborgenen mit ein und projiziert ihre düsteren Formationen auf das Setting. Gothic Horror ist zudem häufig das Feld übernatürlicher Monster wie Gespenster, Vampire, Werwölfe oder künstliche Menschen. Das Konzept des Körper-Horrors hingegen bezeichnet die strenge Fokussierung der filmischen Ästhetik auf den verwundeten, deformierten und geöffneten Körper, der zunehmend das Opfer von menschlichen Monstern wie Serienmördern (Slashern) oder Kannibalen ist. Exemplarisch für den Körper-Horror ist der Splatterfilm. Mit dem Konzept »New Gothic« wird in dieser Studie die Rückkehr des Gothic Horrors in Anführungszeichen, als Zitat des klassischen Horrorfilms der 1930er und 1940er Jahre, seit den 1990er Jahren bezeichnet. Häufig werden diese Filme unter der Bezeichnung »Mystery« zusammengefasst. Aber da dieser Begriff sich häufig speziell auf die Mischung von Horrorelementen mit Elementen der Detektivgeschichte und dem Modus von Verschwörungstheorie konzentriert, wird in dieser Studie der Begriff »New Gothic« benutzt, um auch die Renaissance der phantastischen Filmmonster aus den 1930er und 1940er Jahren (Bram Stoker’s Dracula, Mary Shelley’s Frankenstein, Wolf, Mary Reilly), die neue Welle von Gespensterfilmen (Ringu, The Sixth Sense, Stir of

16|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Echoes, The Others, El Espinazo del Diablo, Dark Water, Ju-On: The Grudge, Nos miran, Jian gui, The Ring) sowie die Thematisierung des Gothic Horror-Archivs anhand seiner Schöpferfiguren (Ed Wood, Gods and Monsters, Shadow of the Vampire) und Ikonen (Béla Lugosi, Boris Karloff, Christopher Lee, Vincent Price) zu erfassen. Die Studie gliedert sich in neun Kapitel. In dem ersten Kapitel »Horror und Theorie« werden die zirkulären Konfigurationen von moderner Medientheorie und modernem Horrorfilm erläutert. Dazu werden beide Projekte als gleichberechtigte Erben ihrer literarischen Vorläufer, namentlich der angloamerikanischen Gothic Novel, der deutschen Romantik und der Psychoanalyse etabliert. Im zweiten Kapitel »Körper-Horror. Der Splatterfilm« werden mit einem Rekurs auf die frühesten Schrecken der Filmgeschichte die Wundästhetik und die spezifisch serielle Erzählweise des Splatterfilms an den Filmen The Texas Chainsaw Massacre, The Evil Dead und Braindead ausgeführt. In dem Unterkapitel »Kulturtechnik Splatterfilm« wird überdies ein Vorschlag für die Beschreibung einer nicht psychoanalytisch oder medienpädagogisch angeleiteten Betrachtertheorie des modernen Horrorfilms skizziert. Im dritten Kapitel »Apokalypse und Fernsehen. Der Zombiefilm« werden an der Geschichte des modernen Zombiefilms und mit einem Akzent auf Night of the Living Dead und Dawn of the Dead einerseits die Relevanz der politischen Hintergründe von 1968 und der medialen Vorlagen Zeitung und Nachrichtenfernsehen für den Splatterfilm belegt und andererseits aber die Kontingenz einer einseitig politisch-allegorischen Filmlektüre ausgeführt. Denn der lebende Tote des modernen Zombiefilms verleiht letztlich der Unmöglichkeit einer Antwort auf die Frage nach der Identität des Schreckens und des Monströsen ein Gesicht. Das vierte Kapitel »Das gefräßige Auge. Der Kannibalenfilm« zeigt am Beispiel von Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust den Höhepunkt der Verschränkung von authentifizierender Gewaltdarstellung mit der referenziellen Einspielung ästhetischer und medialer Grundlagen im Splatterfilm als eine Darstellung der zirkulären gewaltförmigen Verschlingung von Körpern und Medien. Im fünften Kapitel »David Cronenberg als Drehscheibe. Körper- und Medienwelten« wird am Werk eines exemplarischen Filmemachers nicht nur die Transformation des Körper-Horrors (Shivers, The Fly) zum New GothicHorror unter anderem am Beispiel des Virtual Reality-Films (Videodrome, eXistenZ) gezeigt, sondern damit auch auf eine der zentralen Beobachtungen dieser Studie hingewiesen: die Buchstäblichkeit, mit der der moderne Horrorfilm die Transformationen der Körper- und Medientheorien adaptiert und auf filmische Weise diskursiviert. Das sechste Kapitel »Bibliotheken der Gewalt. Der Serial Killer-Film« zeigt am Beispiel von David Finchers Se7en, dass der moderne Horrorfilm als Wendepunkt in eine Reihe der Medienevolution platziert und dabei als Archiv für eine Vielzahl von ikonographischen und literarischen Traditionen inszeniert wird. Mit dem siebten Kapitel »Geister und Medien. Die Verschwörung der Dinge« wird das Thema der Postmodernität im Film an verschiedenen Archivierungsstrategien des modernen Horrorfilms ausgeführt. Dazu gehören die Inanspruchnahme des alten Topos der Verschwörung im Mysteryfilm und der Rekurs auf das kanonische Figurenarchiv des Gothic Horrors (Bram Stoker’s Dracula, Interview with the Vampire, Shadow of the Vampire). Am Beispiel des jüngeren Gespensterfilms (Ringu, The Sixth Sense, The Others, The Mothman Prophecies) werden die Funktionen der Tonspur und der nicht mehr repräsentativen Bildlichkeit in den Zei-

EINLEITUNG|17

ten digitaler Bildproduktion untersucht. Das Unterkapitel »Chris Cunningham. Come to Daddy« zeigt am Beispiel eines Videoclips, wie die Bildwelten des modernen Horrorfilms auf die neuen Leitmedien übergegangen sind. Das Abschlusskapitel »Film-Monster. Resümee«, führt die Ergebnisse der bisher geleisteten Analysen zum modernen Horrorfilm zu einer Theorie des Filmmonsters am Leitfaden von Medientheorie und filmischer Rhetorik zusammen.

HORROR

UND

THEORIE

I. Horrorfilm So kehren als Elemente des strukturalistischen Tuns die Geistergeschichten wieder. Ihre Medien: die hysterischen Frauen, die traurigen Tropen, die saturnischen Anagramme. Friedrich Kittler

1. Furcht und Zittern Der Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnet sich durch eine Vielzahl an Filmen der Gattung »Horror« aus, die an Sujet und Ästhetik so unterschiedlich sind, dass sich auf den ersten Blick eine Bestimmung des Genres zu erübrigen scheint. Fleißig werden dabei alte Geschichten und Ikonographien zitiert und renoviert. Nichts geht verloren. Denn der Horrorfilm leistet mehr noch als andere Genres Archivarbeit. Alte Monster werden aus den Schubladen, Katalogen und Karteikästen der Bibliotheken und Filmotheken ans Licht gezerrt und in immer wieder neuen Formationen auf den Markt geworfen. Man kann vom modernen Horrorfilm deshalb nur im Sinne einer unübersichtlichen Gleichzeitigkeit verschiedener mehr oder weniger latenter Ansätze und Programme sprechen, die sich auf ein gemeinsames Archiv beziehen. Technisch betrachtet lässt sich komplementär dazu festhalten, dass der Horrorfilm nie ein Genre der Kameraeinstellung »Totale« gewesen ist und auf dieser Ebene auch zur Unübersichtlichkeit neigt. Nur selten gibt es klärende Establishing Shots. Der Horrorfilm verdeckt immer einen Teil des Raums, um Platz für die Phantasien von schrecklichen Monstern zu lassen und damit das Einfallstor für den kinematographischen Schrecken offen zu halten, der immer plötzlich und von außen in die Kadrage des Filmbildes eindringt. Auch rückt der Horrorfilm nie ganz vom Körper des Schauspielers ab, denn dieser kann auf eine Spannung erhaltende Weise und mit Wissen des Zuschauers (Suspense) oder überraschend plötzlich das potenzielle Opfer oder auch der Täter sein (Schock). Seit den 1960er Jahren etabliert der Horrorfilm den menschlichen Körper als Auslöser und Stätte von vermeintlich authentischer Erfahrung: von Furcht und Schrecken, Schmerz und Gewalt im blutigen Körper-Horror des Splatterfilms. Er rückt dabei nicht nur ganz nah an den Körper heran, sondern dringt auf brutale Weise ihn in ein. In den 1990er Jahren dezentralisieren sich in Virtual Reality- und New Gothic-Filmen zusehends die Momente des Körper-Horrors und diffundieren in ein verschwörerisches System der Dinge. An die Stelle allzu sichtbarer und bis zur Überbelichtung expliziter Gewalt am einzelnen Körper etabliert sich wieder die Obscuritas des Unheimlichen und des Verdachts. Dazu rückt die Kamera vom Körper ab und lässt ihn in »Halbtotalen« in Beziehung zu dem ihn umgebenden und zumeist dunklen Raum

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sowie dem Inventar treten. Mit diesen beiden Einschnitten können die Transformationen der Diskurse, in die der Horrorfilm sich einschreibt, und die Position des Horrorfilms innerhalb theoretischer, medialer und kultureller Dispositive beobachtet werden. Denn während bestimmte Diskurse und die sie hervorbringenden rhetorischen Strategien dem Horrorfilm von Anfang an inhärent zu sein scheinen, sind es vor allem die Aspekte in der Darstellung von Körperlichkeit und Medialität, an denen die ästhetischen und narrativen Transformationen des modernen Horrorfilms sichtbar werden.

Abb. 1: Apokalyptisches Graffito Drei Zeitungsartikel aus dem Jahr 2003, aus der Welt, der Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gehen mit geringem Abstand voneinander auf die jüngsten Entwicklungen im Rahmen einer Renaissance des Horrorfilms ein und unternehmen einen repräsentativen Querschnitt des Genres für den Beginn des 21. Jahrhunderts. Alle drei sprechen zur gleichen Zeit gemeinsame Punkte zum modernen Horrorfilm an: So betont Bodo Traber in seinem Text »Ein starker Hauch von Armageddon«1 anlässlich des Kinostarts von Danny Boyles Zombiefilm 28 Days Later (GB/NL/US 2002) zunächst die Realitätsnähe der neuen Horrorszenarien. Vorbei sei »die Zeit der ›Screaming Teenies‹ und der Selbstreflexivität (post-)modernen Kinogegrusels, die ständig kreuz und quer und auf sich selbst verwies«, denn der wahre Teen-Horror finde inzwischen in der Realität statt. Traber greift damit auf den alten Interpretationstopos zurück, dass der Horrorfilm kollektive Ängste abbilde und somit als Albtraum der Gesellschaft fungiere. Scheinbar widersprüchlich zu dieser Realismus- und Mimesisthese ist allerdings Trabers zweite Beobachtung, dass die »Welt klassischer Schauerballaden und Genre-Stoffe vom Jack the Ripper-Revival bis zur neuesten Gespensterschiff-Variante« im Kino ebenfalls reüssiert. Nach Traber erstarkt also parallel zu einem neuen Realismus auch die literarische und phantastische Tradition des Gothic Horrors wieder im modernen Horrorfilm. Man könnte von einer Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen sprechen. Eine dritte Tendenz benennt Traber dann kritisch mit der »Akademisierung des Horrors«. 1

Bodo Traber: »Ein starker Hauch von Armageddon«, in: Die Welt vom 11. Juni 2003, in: http://www.welt.de/data/2003/06/11/115283.html vom 27. Juli 2006.

HORROR UND THEORIE|21

Diesem Argument muss allerdings entgegenhalten werden, dass der Horrorfilm nie ein thesen- und theoriefreier Ort, sondern immer schon ein Reflexionsraum war. Allenfalls eine Unterscheidung der Reflexionshöhe zwischen gedankenschwerem »Kunst-« oder »Autorenfilm« und grell exploitativem »Genrefilm«, die noch hinter Trabers Behauptung stecken mag, hat sich letztlich durch die inzwischen akzeptierten Paradoxien der Gattungsbestimmung in Filmproduktion und -theorie aufgelöst. Das bedeutet eine Akzeptanz der gegenwärtigen Situation, dass die Gattungen oder Genres erstens nicht mehr eindeutig voneinander und zweitens von unabhängigen Kunst- oder Autorenfilmen geschieden werden können. Drittens bedeutet es, dass von der Kritik gefeierte »Autorenfilmer« spätestens mit dem Aufstieg des New Hollywood in den 1970er Jahren auch Filme drehen, die eindeutig der Definition eines »Genrefilms« entsprechen.2 An die Argumentation des Apokalyptischen knüpft auch Sabine Horsts Artikel mit dem programmatischen Titel »Das Ende ist verdammt nahe«,3 einem Graffito-Zitat ebenfalls aus 28 Days Later (Abb. 1), an. Ihre Beobachtung bezieht sich allerdings nicht nur auf die Renaissance des Horrorfilms zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern konzentriert sich auf die neue Ernsthaftigkeit des Genres. Sie ergänzt damit Trabers erste Feststellung von einem neuen Realismus im Horrorfilm um die Ebene der Intention: Der populäre Film hat die Farbe Schwarz wieder entdeckt, das trostlos Düstere, den Horror von der klebrigen, übel riechenden Sorte, die Materialität des Bösen, die Hand, die aus dem Grab ragt. Nach einem Jahrzehnt, in dem weitgehend uneigentlich, ironisch, postmodernistisch gemetzelt wurde, in dem die Weltzerstörung auf der Leinwand immer etwas von einem Computerspiel hatte und jeder Auftritt eines Serienkillers selbstbezügliche Kinoexkurse auslöste, scheinen wir in eine Phase neu4 er Ernsthaftigkeit eingetreten.

Horst sieht den Beginn der neuen Düsternis exemplarisch in Daniel Myricks und Eduardo Sanchez’ Film The Blair Witch Project (US 1999) und merkt an, dass diese Tendenz auf den gesamten Mainstream des populären Films überspringt. Von den »Schlachtengemälden« in Martin Scorseses Gangs of New York (US 2002) und Peter Jacksons The Lord of the Rings (dt. Der Herr der Ringe, US 2001-03) über Horrorfilme wie Alejandro Amenábars The Others (US 2001), Gore Verbinskis The Ring (US 2003) oder 28 Days Later 2

3

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Gemeint ist die Ablösung eines starren und stagnierenden Hollywood-Studiosystems durch den Erfolg der neuen Autorenfilme. Zentrale Figuren des New Hollywood sind Francis Ford Coppola, Steven Spielberg, George Lucas, Peter Bogdanovich, Paul Schrader, Brian de Palma und Martin Scorsese. Zur Einführung vgl. Ulli Weiss: Das neue Hollywood. Francis Ford Coppola, Steven Spielberg, Martin Scorsese, München 1986; Thomas Elsaesser: »Augenweide am Auge des Maelstroms? – Francis Ford Coppola inszeniert Bram Stoker’s Dracula als den ewig jungen Mythos Hollywood«, in: David Bordwell u.a.: Die Filmgespenster der Postmoderne. Hg. von Andreas Rost/Mike Sandbothe, Frankfurt am Main 1998, S. 63-105 sowie zur Weiterentwicklung des New Hollywood hin zum Blockbuster-Kino R. Blanchet: Blockbuster, S. 127-153. Sabine Horst: »Das Ende ist verdammt nahe. Nach den ironischen Gemetzeln gibt sich der Horror wieder todernst. Das Kino entdeckt die Verbindlichkeit der gespaltenen Schädel«, in: Die Zeit vom 30. April 2003, S. 37. Ebd.

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bis hin zu Bryan Singers Comicfilm X2: X-Men United (dt. X-Men 2, US 2003) beobachtet sie eine »neue Sehnsucht nach Verbindlichkeit« und wie Traber auch zugleich einen neuen »gothic look«,5 der parallel zum neuen Realismus verläuft. Dietmar Daths Artikel »Hausse in der Hölle«6 schließlich betrachtet den jüngsten Horror als ein medienübergreifendes Ereignis, das sich in Musik, Film und Literatur gleichermaßen beobachten lässt. Im Gegensatz zu den Gattungsbegriffen »Science Fiction« oder »Fantasy« bezeichnet »Horror« nach Dath dabei nicht das Produkt selbst, sondern den Effekt des Produkts, »wie bei Pornographie und Witz – was nicht erregt, zum Lachen reizt oder erschreckt, fällt durch«7. Er beschreibt die aktuelle Lage des Horrorfilms so: »Die gegenwärtige Situation des Genres, soweit es das Kino angeht, ist bestimmt vom Dreiecksverhältnis zwischen an Überdruß grenzender Verfeinertheit des Geschmacks der Aficionados (These), Verflachung des Genres am Markt (Antithese) und in deren Windschatten sich wiederum verjüngende Avantgarde (Synthese).«8 Letztere sieht Dath im Rahmen dieser etwas frei schwebenden dialektischen Konstruktion optimistisch in den »Werken von ambitionierten Figuren wie David Lynch (Mulholland Drive, 2001) oder Richard Kelly (Donnie Darko, 2002)«,9 die er dem Mainstream der »Publikumslieblinge« gegenüberstellt. An Filmen wie Jonathan Liebesmans Darkness Falls (dt. Der Fluch von Darkness Falls, US 2002) sieht er außerdem exemplarisch eine kreative Mischung am Werk, die zwischen der spezifisch filmischen Ästhetik und der narrativen Abhängigkeit von Klischees im Horrorfilm durchaus fruchtbar changiert. Er zeichnet damit auch im Sinne einer Medienkonkurrenz implizit den Film im Horrorgenre vor dem »ältesten Zweig der schrecklichen Künste«, der Literatur, aus, da sie diese Mischung von narrativer Stereotypie und bildästhetischer Innovation nur schwerlich zu erzielen vermag. Die Zukunft des Horrors sieht Dath deshalb klar im Film. Alle drei Artikel betonen vor allem zwei zunächst gegenläufig scheinende narrative und ästhetische Entwicklungen im modernen Horrorfilm: Das sind erstens ein ästhetischer Realismus, verbunden mit einer neuen Ernsthaftigkeit, und zweitens eine Wende zurück zum Schauerromantischen, zu den literarischen Wurzeln des Gothic Horrors. Hervorgehoben wird bei allen dreien das Apokalyptische des modernen Horrorfilms, das vor allem innerhalb realistischer Darstellungen von Terror und Gewalt sozialpolitische Referenzen eröffnet und von allen dreien auch als Echo außerfilmischer Ereignisse betrachtet wird. Der Text von Dath berücksichtigt überdies als einziger noch die Geschichte der Mechanismen innerhalb des Genres. Sowohl das Apokalyptische als auch die neue Ernsthaftigkeit im Horrorfilm haben, so muss man Dath entlang dieser Denklinie ergänzen, auch filmhistorische und genreinterne Gründe. Schon vor der Zerstörung des New Yorker World Trade Centers am 11. September 2001 gibt es neben der belanglos unverbindlichen Komik ironisch distanzierter Reflexivität in Teenager-Horrorfilmen, die polemisch mit dem Begriff der »Postmodernität« belegt und in den drei Artikeln 5 6

7 8 9

Ebd. Dietmar Dath: »Hausse in der Hölle. Horror ist das Genre der Stunde: Musik, Film und Literatur sind in unseren Tagen wieder einmal schrecklich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. April 2003, S. 44. Ebd. Ebd. Ebd.

HORROR UND THEORIE|23

angegriffen wird, eine Tradition apokalyptischer Bildwelten und Narrative, die auf das Realitätsprinzip als Erzählweise zurückgreifen. Obgleich die Forschungslage zum modernen Horrorfilm immer noch schmal ist und in Teilen von einer ahistorisch operierenden Filmpsychoanalyse dominiert wird, kann man dennoch anhand der Erzählmuster und auch der jeweiligen Ästhetik der Inszenierungen eine Geschichte des Horrorfilms erzählen. Will man diese Geschichte zusammenfassen, die in der Weimarer Zeit mit Filmen wie Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1919) oder Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (D 1922) beginnt und seit den 1930er Jahren zweifellos amerikanisch geprägt ist, kommt man mit Unschärfen auf ein Drei-Epochen-Schema des »klassischen«, des »modernen« und des »postmodernen« Horrorfilms. In der Phase des klassischen Horrorfilms (1930er-1960er Jahre) beziehen die Filme ihre phantastischen Stoffe und Figuren aus der Literatur des Gothic Horrors. Monster und Halbwesen wie der Vampir Graf Dracula und Frankensteins Monster oder das Spukhaus-Setting der Gespensterfilme entstammen populären Romanen und Erzählungen sowie ihren Dramatisierungen. (Tod Brownings Dracula, US 1931; James Whales Frankenstein, US 1931, und The Old Dark House, US 1932) Im modernen Horrorfilm (1960er-1980er Jahre) werden die unheimlichen Settings durch ländliche Vororte und Großstädte und die phantastischen Monster durch Kannibalen und Serienmörder ausgetauscht. Allenfalls lebende Tote, die dem Menschen zunächst zum Verwechseln ähnlich sehen, bevölkern als phantastische Monster noch den modernen Horrorfilm. (George A. Romeros Night of the Living Dead und Dawn of the Dead) Neben den Horrorproduktionen aus Hollywood, wie den Teufelsfilmen (Roman Polanskis Rosemary’s Baby, US 1968; William Friedkins The Exorcist, US 1973; Richard Donners The Omen, US 1976) oder innovativen singulären Projekten wie Stanley Kubricks The Shining (GB 1980), sind die 1970er Jahre vor allem die Zeit des blutig realistischen Splatterfilms. (Wes Cravens The Last House on the Left, US 1971, und The Hills Have Eyes, US 1976; Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre) Seit den 1980er Jahren wird die realistische Gewaltdarstellung des Splatterfilms mit neuen phantastischen Stoffen verknüpft. Sie schlägt einerseits in eine Hyperbolik der Gewalt um, die zuweilen in eine komische Ästhetik des Grotesken mündet, und weist andererseits archivbewusste Gesten der Retrospektive und der Zitation aus der Filmgeschichte auf, die zeitgleich in Literatur, Kulturtheorie und Ästhetik als »postmodern« bezeichnet werden. (Sam Raimis The Evil Dead, US 1982; Stuart Gordons Re-Animator, US 1985; Peter Jacksons Braindead, NEUS 1991) In den 1990er Jahren dominieren als Nachfolger des Splatterfilms der Serial Killer-Film (Jonathan Demmes The Silence of the Lambs, US 1991) und die Neuauflage des Teenager-Slasherfilms. (Wes Cravens Scream, US 1996) Dazu entsteht aus der erfolgreichen Vermischung von Horrorelementen mit dem Sujet der Verschwörungstheorie (The X-Files) der Mysteryfilm. (Manoj »Night« Shyamalans The Sixth Sense, US 1999; Mark Pellingtons The Mothman Prophecies, US 2001) Unter neuen und vor allem technischen Vorzeichen entstehen um 2000 Filme, die sich an einer Rekombination von Ästhetik und Erzählweise der klassischen Sujets und Monster erproben. (Hideo Nakatas Ringu, JAP 1998; Alejandro Amenábars The Others; Danny Boyles 28 Days Later) Am Rande des modernen Horrorfilms gibt es auch noch die nicht klassifizierbaren Projekte von Filmemachern wie David Cronenberg oder David

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Lynch, die man nicht zwingend zum Genre des Horrors zählen muss, die aber deutlich ihren Ursprung im Independent- und Splatterfilm der 1970er Jahre haben und weiterhin an den Ästhetiken und Erzählweisen des Horrorfilms partizipieren. (David Lynchs Wild at Heart, US 1990, und Lost Highway, US 1996; David Cronenbergs Naked Lunch, GB/KAN 1991, und eXistenZ, KAN 1998) Inzwischen werden die »klassischen« Horrorfilme und ihre Schöpfer selbst zum Thema von Filmen, wie in Bill Condons Filmbiographie Gods and Monsters (US 1998) über den Frankenstein-Regisseur James Whale, in Elias Merhiges Shadow of the Vampire (US 2000) über den Filmdreh von Murnaus Nosferatu oder in Tim Burtons Ed Wood (US 1994), der sich mit dem TrashHorrorfilmemacher und seiner Beziehung zu dem ehemaligen DraculaDarsteller Béla Lugosi auseinander setzt.

2. Laokoon und Film Der Horror des Mediums Film steht in einer langen ästhetischen Tradition. Manifest wird er nachhaltig an prominenter Stelle bei Gotthold Ephraim Lessing in seiner wirkmächtigen Gattungsästhetik Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (1766). Dort heißt es streng säuberlich trennend, dass die Zeitfolge das Gebiet des Dichters und der Raum das Gebiet des Malers seien. Raum ist für Lessing die stillgestellte Zeit ohne die Möglichkeit, dieser zu entkommen: Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche 10 Gegenstand der Poesie.

Da das Bild nur einen einzigen Augenblick erfasst, so darf nach Lessing dieser Augenblick überdies nicht hässlich sein. Denn wie der von ihm zwar kritisierte Johann Joachim Winckelmann steht auch Lessing in der Tradition des Klassizismus. Die klassizistische Ästhetik verbietet die Öffnung des Körpers und beharrt auf dem geschlossenen und integren Homo Clausus.11 Die Oberfläche des Körpers ist die Grenze des Hässlichen und Ekligen, die nicht überschritten werden darf. So negiert Lessing angesichts der Laokoon-Skulptur auch den geöffneten Mund: »Die bloße weite Öffnung des Mundes, – beiseitegesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.«12 Sprache stellt für Lessing zeitliche Abläufe dar, bildet Handlungen ab. Sie kann nicht simultan sein. Gegen diese Gattungstheorie ist deshalb einzuwenden, dass kein Augenblick ohne Spuren von Bewegung ist. Kein Bild 10 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (1766). Mit einem Nachwort von Ingrid Kreuzer, Stuttgart 1987, S. 114. 11 Zur Position des Begriffs »Homo Clausus« in der klassizistischen Ästhetik und Literatur vgl. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen 2001, zu Lessings Laokoon besonders S. 153-186. 12 G.E. Lessing: Laokoon, S. 20.

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fällt aus der Zeit oder hält einen Augenblick ohne Zeit fest. Lessings ohnehin problematische Dichotomie von Raum und Zeit verliert ihre Berechtigung angesichts der neuen Kunstform Film. Nicht nur, dass im Film die Bilder sich bewegen und Handlungen simulieren, sondern Handlung kann durchaus auch simultan geschehen, wie im Split-Screen-Verfahren, in Medien-in-MedienRahmungen oder schon in frühen Spiegel- und Stopptricks, vor allem in Doppelgängergeschichten, wie zum Beispiel Stellan Ryes Der Student von Prag (D 1913). Das klassizistische Skandalon des Films ist die Überschneidung der medialen Kompetenzen von Malerei und Literatur, die am Leitfaden des menschlichen Körpers erfolgt. Der Körper wird im Film wie in der Malerei oder der Plastik räumlich gezeigt, bewegt sich aber zugleich wie in der Literatur handelnd auf einer narrativen Zeitachse. Die Kombination von Mise en Scène und Montage, die bei Lessing als unzulässige Übertretung der Grenzen zwischen Malerei und Literatur in Erscheinung tritt, ist der Horror der Gattungstheorie und das mediale Fundament des Films. »Ut pictura poesis«,13 Horaz’ mimetische Formel, »wie ein Gemälde sei die Dichtung«, gegen die Lessing sich wendet, kann in ihrer ekphratischen Forderung ebenfalls nicht aufrechterhalten werden. Stattdessen werden andere verbindende Elemente von Bild und Schrift im Film offenbar, die eine Dichotomie von Raum und Zeit für obsolet erklären. Das Konkurrenzverhältnis der Künste ist keines, und am Film wird deutlich, dass die Größen Raum und Zeit auf eine andere Weise in Beziehung zueinander gesetzt werden müssen. Der klassizistische Effekt von Lessings kunsthygienischen Vorgaben setzt sich aber fort, wenn beispielsweise vor allem das Literarische in seiner verkürzten Form immer noch als eine filmische Kategorie auftaucht und deshalb in der Kritik vor allem der Dialog und damit eine psychologische Authentizität von Filmfiguren als entscheidendes Qualitätsmerkmal gegen Mise en Scène und Montage ausgespielt wird. Aber schon die Vorgeschichte des Films, die mit verschiedenen optischen Geräten des 19. Jahrhunderts wie dem Thaumatrop, dem Phenakistiskop, dem Stereoskop oder auch der Serienphotographie nachgezeichnet werden kann,14 realisiert den Horror der Kompetenzüberschneidung an der Darstellung des menschlichen Körpers. Von dem medialen Horror des mit unterschiedlichen Apparaten aufgezeichneten Körpers ist es deshalb nur ein kleiner Schritt zum Horror des beweglichen, zerlegbaren und verschwindenden Körpers im Film. Sei es durch den Ausschnitt in der Kadrierung, sei es die nur 16 bis 24 Bilder in der Sekunde große fragmentarische Aufnahme des Menschen aus einer potenziell unendlichen Anzahl von Bildintervallen, seien es der von Georges Méliès entdeckte Stopptrick oder andere Schnitttechniken sowie Computer Generated Images, der menschliche Körper fällt im Film immer unter eine technische Registratur, die als monströs bezeichnet werden kann. Angesichts dieser technischen Gefahren, denen der filmische Schatten des menschlichen Körpers ausgesetzt ist, ist es wiederum nur ein kleiner Schritt, seine medialen Bedingungen und Möglichkeiten zum Gegenstand des Films selbst zu erheben. Der Horror der Gattungsvermischung durch die 13 Horaz (Quintus Horatius Flaccus): Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1997, S. 26, V. 361. 14 Einführend zum epistemischen Wechsel im Wandel von der Camera Obscura zu den optischen Medien im 19. Jahrhundert vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996.

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Filmtechnik wird auf diese Weise zur Gattung des Horrors im Film. Oder mit Lessings Worten: Darf die Malerei, zur Erreichung des Lächerlichen und Schrecklichen, sich häßlicher Formen bedienen? Ich will es nicht wagen, so geradezu mit Nein hierauf zu antworten. […] Ich muß aber zu bedenken geben, daß demohngeachtet sich die Malerei hier nicht völlig mit der Poesie in gleichem Falle befindet. In der Poesie, wie ich angemerket, verlieret die Häßlichkeit die Form, durch die Veränderung ihrer koexistierenden Teile in sukzessive, ihre widrige Wirkung fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam auf, Häßlichkeit zu sein […]. In der Malerei hingegen hat die Häßlichkeit alle Kräfte beisammen, und wirket nicht viel schwächer, als in der Natur 15 selbst.

Wenn der Film trotz seiner literarischen Sukzessivität noch alle Kräfte der »Häßlichkeit« beisammen hat, eben dadurch, dass sein Bild, im Gegensatz zur Ekphrasis beispielsweise, nicht im Symbolischen der Schrift aufgeht, so entsteht etwas Monströses. Der Horrorfilm spiegelt deshalb die mediale Voraussetzung, von der jede andere Gattung des Films auszugehen hat. Er setzt sich damit auch über Lessings Verbot hinweg, der Augenblick dürfe nicht hässlich sein. Denn der Horrorfilm ist genau das: 16 bis 24 Bilder Hässlichkeit, Schrecken und Ekel pro Sekunde. Es bleibt aber die Frage nach der Binnendifferenzierung, von der die Genretheorie der Filmwissenschaft, die sie von der Literaturwissenschaft geerbt hat, üblicherweise ausgeht.16 Angesichts der unübersichtlichen Fülle an Sujets, Motiven und Erzählweisen stellt sich daher die Frage: Gibt es diesseits der medialen Bestimmung des Films als Horrorfilm nach Lessing überhaupt eine Gattung des Horrorfilms und ist es sinnvoll, Horrorfilmen vergleichbare Themen, Mechanismen, Funktionsweisen und eine gemeinsame Geschichte zu unterstellen? Bilden Horrorfilme ein gemeinsames Archiv oder sind sie nicht vielmehr selbst heterogene und monströse Bestiarien, in denen nur die Versuche der Katalogisierung und der Klassifikation der Monster abgebildet werden? Trifft nicht auch an dieser Stelle die implizite Regel der Gattungstheorie zu, dass, wenn es eine Gattung geben sollte, ihre Vertreter nur sehr bedingt die notwendigen Merkmale der Gattung aufweisen, während auf paradoxe Weise an der Erwartungshaltung und den Grenzen der Gattung weitergearbeitet wird? Oder wie Jacques Derrida formuliert: As soon as the word genre is sounded, as soon as it is heard, as soon as one attempts to conceive it, a limit is drawn. And when a limit is established, norms and interdictions are not far behind […] What if there were, lodged within the heart of the law itself, a law of impurity or a principle of contamination? And suppose the condi-

15 G.E. Lessing: Laokoon, S. 175. 16 Zur Einführung in die filmwissenschaftliche Diskussion über Gattung und Genre vgl. Barry Keith Grant (Hg.): Film Genre. Theory and Criticism, Metuchen 1977; Stephen Neale: Genre, London 1992 sowie Knut Hickethier: »Genretheorie und Genreanalyse«, in: Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorien, Mainz 2002, S. 62-96.

HORROR UND THEORIE|27 tion of the possibility of the law were the a priori of a counter-law, an axiom of im17 possibility that would confound its sense, order and reason?

Einer Gattung anzugehören, ist also »taking part in without being part of«18 und bedeutet, ihre Grenzen zu übersteigen und auf genau das hinzuweisen, was von den Gattungsgrenzen eben nicht eingezäunt und benannt wird. Erst durch die Gattungsbezeichnung von außen werden die inneren Merkmale des einzelnen Films deutlich. Um deshalb das heterogene Archiv des Horrorfilms bewältigen zu können, scheint, so muss man folgern, ein Gattungsbegriff trotz aller Vorbehalte unerlässlich. Die Merkmale des Horrorfilms können dabei vorsichtig so benannt werden, dass sie von der Bedrohung des menschlichen Geistes und Körpers erzählen und dies mit einer Rhetorik der Gewalt, des Schreckens, der Angst und des Ekels ausmalen, so dass diese Bedrohung sich jenseits der Leinwand in Richtung Zuschauerraum erstreckt. Oder wie Dath es ausdrückt, »was nicht erschreckt, fällt durch«19. Die audiovisuelle Rhetorik der Angst-Lust des Horrors reicht dabei von dem phantastischen Einbruch einer fremden Ordnung in eine bekannte,20 zum Beispiel durch monströse Halbwesen,21 bis zu der Banalität des Bösen in Form der massenhaften oder seriellen Ermordung von Menschen durch andere Menschen. Die theoretische Beschreibung der Angst-Lust des Horrorfilms folgt überdies deutlich Vorgaben, die bei Edmund Burke über die Affektion im Angesicht des Erhabenen entwickelt werden.22 Jean-François Lyotard definiert dies »erhabene Gefühl« in Auseinandersetzung mit Immanuel Kant und in Nachfolge Burkes als den »Schre-

17 Jacques Derrida: »The Law of Genre«, in: Ders.: Acts of Literature. Hg. von Derek Attridge, New York, London 1992, S. 221-252, hier S. 224-225. 18 J. Derrida: Law of Genre, S. 227. 19 D. Dath: Hausse in der Hölle, S. 44. 20 Vgl. Roger Caillois: »Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction«, in: Rein A. Zondergeld (Hg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main 1974, S. 44-83. Mit Tzvetan Todorov kann man allerdings die »Unschlüssigkeit« über den übernatürlichen Charakter des Einfalls einer Ordnung in die andere selbst als Merkmal der Phantastik und mitunter auch des Horrors begreifen. Vgl. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972; Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, Tübingen, Basel 2001 sowie auf den Film bezogen vgl. Arno Meteling: »Im Herzen der Finsternis. Das Fremde in Nicolas Roegs Walkabout«, in: Thomas Koebner/Fabienne Liptay (Hg.): Nicolas Roeg, München 2006, S. 43-52. 21 Das ist die allgemeinste Definition von Horror, auf die sich Georg Seeßlen und Claudius Weil in ihrem Buch zum Genre Horror einigen. Vgl. Georg Seeßlen/Claudius Weil: Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror-Films, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 9-20. Ebenso in der Neuauflage, die die erzeugten »Ängste« weiter ausdifferenziert. Vgl. Georg Seeßlen/Fernand Jung: Horror. Grundlagen des populären Films, Marburg 2006, S. 18-44. 22 Vgl. Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757). Hg. von Werner Strube, Hamburg 1980. Da das schwierige Konzept des Erhabenen (mit den wichtigen Stationen Longinus, Edmund Burke, Immanuel Kant und Jean-François Lyotard) in dieser Studie nicht ausführlich verhandelt werden kann, sei auf folgenden Sammelband verwiesen: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim, Berlin 1989.

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cken[,] [der] sich mit Lust vermischt«23. Lyotard setzt für das Erhabene die plötzliche Sichtbarkeit des Ereignisses (Quid) an die Stelle seiner Les- und Verstehbarkeit (Quod): Das erhabene Gefühl läßt sich also wie folgt analysieren: ein sehr großer, sehr mächtiger Gegenstand, der die Seele von allem Es geschieht zu berauben droht, versetzt sie gleichwohl in ›Erstaunen‹ (ist die Affektion weniger intensiv, wird die Seele von Bewunderung, Verehrung, Achtung ergriffen). Sie ist benommen, erstarrt, sie ist wie 24 tot.

Wenn man den dominanten psychoanalytischen Lesarten des Horrorfilms folgt, lässt sich die spezifische Art der Bedrohung in der Gattung Horrorfilm auf diese Weise präzisieren: Menschlicher Geist und Körper werden auf der Spielebene des Films (Diegese) durch eben denselben menschlichen Geist und Körper bedroht und in ihrer Existenz in Frage gestellt.25 Das Monster der Psychoanalyse ist deshalb eine Figur der Abspaltung und Doppelung. Es ist die Figuration des »Anderen« und »Fremden«, sei es als das »Unheimliche« (Sigmund Freud),26 als »zerstückelter Körper« (Jacques Lacan),27 als »Lücke«, »Fleck«, »Ding-an-sich« oder »Hitchcocksches Schibboleth« (Slavoj Žižek)28 oder jüngst auch als »Abjekt« (Julia Kristeva)29. In der Psychoanalyse ist das Monster die personifizierte Rückkehr des Verdrängten, der unterdrückten Wünsche und Ängste. Es ist das »Phantom unseres Ichs«, wie es treffend schon in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) heißt. Somit wäre rhetorisch eine deutliche Verschränkung zwischen Horrorfilm und Psychoanalyse zu beobachten, eine Verschränkung, die sowohl strukturell als auch historisch nur als Austausch und Zirkulation zu begreifen ist. Dies bedeutet, dass die analogen Sprechweisen von Horrorfilm und Psychoanalyse es nahe legen, dass die Psychoanalyse den Horrorfilm beeinflusst und der Horrorfilm wiederum die Psychoanalyse. Das Monster als Gattungsmerkmal des Horrorfilms wäre deshalb genau das, was man auch als die Grundfigur oder eben als das Gattungsmerkmal der Psychoanalyse bezeichnen könnte.

23 Jean-François Lyotard: »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 159-187, hier S. 175. 24 Ebd. 25 Der Begriff des »Menschlichen« soll in dieser Studie in keinem Fall auf eine außerfilmische Realität verweisen oder metaphysische und existenzielle Kategorien aufwerfen. »Mensch« und »menschlich« dienen in dieser Studie allein als Gattungsbegriffe, etwa im Unterschied zu Tieren, Maschinen oder Monstern. 26 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche (1919)«, in: Ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Einleitung von Peter Gay, Frankfurt am Main 1993, S. 135-172. 27 Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (Bericht für den 16. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949)«, in: Ders.: Schriften 1. Hg. von Norbert Haas, Frankfurt am Main 1975, S. 61-70. 28 Vgl. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 73-85 oder Slavoj Žižek (Hg.): Was Sie schon immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, Frankfurt am Main 2002, S. 7-10. 29 Vgl. Julia Kristeva: The Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982.

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Der Gattungstheorie zufolge muss der einzelne Horrorfilm aber immer über dieses Gattungsmerkmal hinausweisen. Gerade die junge Figur des »Abjekts« als das im Sinne Kristevas nicht völlig Abspaltbare könnte dabei auch als ein wichtiges Merkmal in der Beschreibung paradoxaler Strukturen einer filmischen Gattungstheorie zum Einsatz kommen. Stattdessen betrachtet die psychoanalytische Filmwissenschaft in der Nachfolge Kristevas die Ausformung des Abjekts im Horrorfilm erstens ausschließlich auf der Ebene der Diegese und zweitens diagnostiziert und identifiziert sie das Monster relativ eindeutig mit Figuren aus dem eigenen rhetorischen Kanon. Das Monster ist damit rasch stillgestellt und domestiziert. So erweisen sich aus der Perspektive der psychoanalytischen Filmwissenschaft das »Fremde« und das »Andere« schnell als Gestalt der »Frau« oder ihrer Genitalien, die als »Vagina Dentata« oder als »Medusenhaupt« in Erscheinung treten.30 (Abb. 2) Außer Acht gelassen wird zugunsten einer psychoanalytischen Beobachtung zweiter Ordnung das Zirkulationsverhältnis, das zwischen Horrrorfilm und Psychoanalyse besteht und diese Art souveräner Filmanalyse theoretisch prekär erscheinen ließe. Neben den gefährlichen Alleingängen von Geist und Körper (oder einzelnen Körperteilen) gegen die geistige und körperliche Gesundheit und Integrität geht es im Horrorfilm vor allem auch um die spezifische Inszenierung des Raums, der Figuren und der Dingwelt. Häufig sind es neben den organischen Monstern die Medien und Maschinen, die der Figur gleich auf mehreren Ebenen nachstellen. Diese Geschichte der unheimlichen Bedrohung durch die Dinge berichtet zwar von dem nicht bewältigten Bildungs- und Familienroman des Subjekts, wie er von der Psychoanalyse oder der protopsychoanalytischen Literatur der Goethezeit erzählt wird. Ist es in der Psychoanalyse aber üblich und auch einsichtig, gerade diese monströsen Dinge, Medien und Maschinen ebenfalls als Abspaltungs- oder Projektionsfiguren zu vereinnahmen, so dürfen ihre unterschiedlichen Inszenierungen und Funktionen im Horrorfilm allerdings nicht nivelliert werden.

Abb. 2: Vagina Dentata und Medusenhaupt

30 Paradebeispiele dafür liefern die zahlreichen Analysen zu den Filmen der AlienReihe. Paradigmatisch für diesen Ansatz ist die Studie Barbara Creed: The Monstrous-Feminine: Film, Feminism, Psychoanalysis, London 1993.

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An der Paradoxie von Gattungszugehörigkeit und dem Hinausweisen des einzelnen Films über die Regeln der Gattung sowie an der Prämisse, dass die Psychoanalyse keine Metaposition zur Filmanalyse liefert, sondern vielmehr ein wichtiges diskursives Element des Horrorfilms selbst ist, setzt deshalb die vorliegende Studie an. Horrorfilme lassen sich wie alle anderen Filme zwar auf psychoanalytische Grundfiguren reduzieren und als psychologische Geschichten über Sexualität, Identität, Bildung und Familie lesen. Aber welche Erkenntnis wäre damit gewonnen? Welche Differenzen gibt es dann noch zwischen den Horrorfilmen und anderen Filmen und Texten? Man könnte deshalb erst einmal grundlegend vermuten: Es geht in Horrorfilmen um das gestörte und bedrohliche Verhältnis einer Figur zu ihrer Umwelt, zu anderen Figuren und zu der Dingwelt. Aber Geist und Körper werden nicht automatisch von der unheimlichen Wiederkehr des Verdrängten, von der nicht bewältigten ödipalen Entwicklungsstufe, von der überwältigenden Macht der Sexualität, von phallisch-patriarchalischen Machtstrukturen oder von der fremdartigen Medusenhaftigkeit und bezahnten Genitalität des Weiblichen bedroht. Sondern die Bildwerdung der Bedrohungen im Horrorfilm findet auf einer viel konkreteren Ebene zunächst einmal durch unbestimmte latente Mächte statt, deren unterschiedliche ästhetische und narrative Ausformung man berücksichtigen muss, wie stereotyp sie sich auch auf altbekannte Muster und Formulare stützen mögen. Obwohl diese Studie mit Begriffen und Konzepten aus verschiedenen Theorien und Feldern operiert, um den modernen Horrorfilm beschreib- und adressierbar zu machen, versucht sie deshalb, die Filme nicht mit diesen Begriffen vorzeitig stillzustellen und vor allem die filmische Differenz, mithin die Rhetorik sowohl des Genres als auch des einzelnen Films, zu berücksichtigen.

3. Archiv und Apokalypse Um eine medienphilologische Warte, mithin eine Filmphilologie aus der Perspektive der Medialität zu entwickeln, muss aber zunächst geklärt werden, was unter »Medientheorie« zu verstehen ist und inwiefern sie, so eine der Grundthesen dieser Studie, parallel zur Psychoanalyse als Umschrift von Gothic Novel und romantischer Literatur betrachtet werden kann. 1996 findet zur Verortung von »Medientheorie« ein aufschlussreiches Interview zwischen Hartmut Winkler und Geert Lovink statt, das via E-Mail über Winklers Habilitationsschrift Docuverse, einer umfassenden Kritik an Konzepten der deutschen Medientheorie, geführt wird.31 In dem elektronischen Zwiegespräch geht es zwar verschärft um das Profil einer »deutschen Sonderlösung«32 in der Medientheorie seit 1989. Es betrifft aber durchaus einen Großteil des gesamten medientheoretischen Diskurses. Die deutsche Medientheorie scheint zunächst in zwei Lager zu zerfallen. Da gibt es einmal den »Ars Electronica-Kreis« um Peter Weibel und Florian Rötzer und zum anderen die »Kasseler Schule« mit Friedrich Kittler, Norbert Bolz und Georg Christoph Tholen im Zentrum. In dem Interview wird festgestellt, dass sich gerade in Deutschland die Medientheorie aus den Bereichen der Germanistik, der Phi31 Geert Lovink: »Der Computer: Medium oder Rechner? Eine Begegnung im Netz mit Hartmut Winkler«, in: Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Regensburg 1997, S. 355-381. 32 Ebd., S. 359.

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losophie und der Kunst rekrutiert. Während in anderen Ländern Medientheorie zu Soziologie, Kommunikationswissenschaft oder Technikgeschichte zu rechnen sei, versuche man in Deutschland, die »entseelten Maschinen, abgenutzt durch ihren Warencharakter, […] (wieder?) zum Singen«33 zu bringen: Warum ist »die Deutsche Medienideologie« und ihre »virtuelle Klasse« […] so erhaben, dichterisch eingestellt? Anderswo erfinden die Medienspezialisten nicht solche wunderschönen und komplizierten Begriffe, um den grauen Medienalltag zu beschreiben. Wird Deutschland in der internationalen Arbeitsteilung mehr und mehr 34 zum Land der Datendichter und -denker?

Winkler stellt fest, dass die Welten der Symbole und der Technik immer weiter verschmelzen und behauptet, dass Kommunikationswissenschaft und Technikgeschichte nicht ausreichten, um diesen Prozess zu beschreiben. Sein Ausgangspunkt ist die ständig vorgenommene Unterscheidung von lebendiger Kommunikation und toter Schrift: Sei nicht Technik selbst in diesem Sinne als genauso tot zu betrachten wie die Schrift? Und sei das nicht Grund genug für das Bedürfnis, sie wieder zum Singen zu bringen? Winklers Fragen offenbaren die strukturelle Vergleichbarkeit von Medientheorie und romantischer Literatur, die offensichtlich das Vorbild für die diskutierte deutsche Medienpoesie abgibt. Denn romantische Literatur handelt von dem Problem toter Schriftlichkeit, die durch die lebendige Oralität eingeschobener Gedichte und Lieder wieder eingeholt und buchstäblich zum Singen gebracht werden soll. Ergänzend dazu gibt es in der Romantik die kompensierende Strategie, obsessiv die eigene Schriftlichkeit und die eigenen poetologischen Bedingungen zu thematisieren, die literarisch verrätselt im Text auftauchen. 1989, so wird im Interview vermutet, »entsteht im Theoriebereich eine Spekulationsbewegung«,35 die sich dadurch auszeichnet, dass sie keinen Abschied von der Schriftkultur der Gutenberg-Galaxis nehmen kann, sondern das ganze Wissen der letzten Jahrhunderte in den Cyberspace, sprich: der Turing-Galaxis, mit hinein nimmt und auf diese Weise Verbindungen zwischen Chiparchitektur und moderner Literatur legt. Sowieso käme, so Lovink, die Technik doch gut ohne Nietzsche und die Geisteswissenschaften aus.36 Betont wird in dem Interview das Archivarische und Intertextuelle, mithin das immer noch Humanistische an der deutschen Medientheorie. Diese retrospektive Haltung kann nostalgisch und melancholisch genannt werden und reiht sich auch nahtlos in die Diskurse von Posthistoire und Postmoderne ein. Wie in der Rückschau der Gothic Novel und der Romantik zum dunklen Mittelalter durch die Kabinette und Bücherregale des Barock hindurch, kann man hinzufügen, nimmt die Medientheorie die gesamte Geistesgeschichte zu ihren Denkausflügen in das Computerzeitalter mit, um keinen Bruch in der zukünftigen Geschichte von Geist und Medien zu riskieren.37 Selbst wenn der »Mensch«, wie Norbert Bolz in der medientheoreti33 34 35 36 37

Ebd. Ebd. Ebd., S. 360. Vgl. Ebd. Das hat auch schon Friedrich Nietzsche für sie getan – mit seinen Schriften, aber auch mit seiner Schreibmaschine, der Schreibkugel des dänischen Pastors und Erfinders Malling Hansen. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/ 1900, Berlin 1993 sowie F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter.

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schen Nachfolge von Nietzsche formuliert, in den Schaltkreisen des Posthumanum verschwinden sollte,38 so bleibt das Humanum in Gestalt des Bildungsbegriffs und des Willens zum Archiv erhalten. Der deutschen Medientheorie wird in dem Interview zwar ein Sonderstatus verliehen. Aber es bleibt die Frage: Sind Kommunikationswissenschaft und Technikgeschichte überhaupt Medientheorie? Ist es nicht das Kriterium von Medientheorie, wenn man sich um eine Abgrenzung oder Gattungsbestimmung dieses schillernden Begriffs bemühen möchte, dass sie sich auch um das Imaginäre von Medien kümmert, um das Phantasmatische, das nur die Medien produzieren? Sind Literatur, Psychoanalyse und Medientheorie deshalb so deutlich voneinander zu trennen? Die strenge Askese einer Medientheorie, die sich allein auf die technische Seite von Medien bezieht und dabei die wichtige symbolische Seite ihrer Codierungsmacht vernachlässigt, gibt es offensichtlich nicht. Seit Beginn der modernen Medientheorie, die mit den Arbeiten Marshall McLuhans Profil gewinnt und in Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit39 und Bertolt Brechts Radiotheorie40 ihre Vorläufer sieht, ist Medientheorie ein höchst literarisch operierendes Verfahren, das auf eine geschliffene Rhetorik und ein semantisch nicht zufällig mit Anekdoten und literarischen Beispielen reich angefülltes Erzählen zurückgreift, um das Imaginäre der Mediengeschichte als Kulturgeschichte offen zu legen. Deutsche Medientheorie kann deswegen nicht mit dem deutschen Dichten und Denken im idealistischen Sinne gleichgesetzt werden, aber durchaus mit Figuren und Sujets, die die romantische Literatur auszeichnen. Diese Figuren haben mit Retrospektive, Nostalgie, Melancholie, Archivierung, Neuer Mythologie, aber auch mit Tod, Apokalypse, Wiederauferstehung und auffällig häufig mit Spiritismus zu tun. So fallen in dem Dialog zwischen Winkler und Lovink nicht zufällig drei Stichworte, die vor der Folie eines Gothic oder eines romantischen Diskurses einen Strang in der Medientheorie aufdecken, der jenseits aller technischen Aprioris in die Rhetorik und Bilderwelt der Schauerromantik zurückführt. Die drei zentralen Begriffe sind substantiviert »Tod«, »Abschied« und »Unsichtbarkeit« und passen viel besser in die isotopischen Felder von Schauerliteratur und Horrorfilm als von Wissenschaft, Theorie und Technik. Ihre rhetorischen Gattungen sind Epitaph, Grabrede oder Nekrolog sowie musikalisch das Requiem. Weiter im Text zu Docuverse kommt man signifikanterweise noch mit dem Medium »Internet« zu einem »Netz voller toter Infos«41 und zu einem »Wiedererstehen der Gutenberggalaxis«42. Die exorzistische Wortwahl von 38 Vgl. Norbert Bolz: »Für eine posthumane Kultur«, in: Andreas Kuhlmann (Hg.): Philosophische Ansichten einer Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 133-154. 39 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/1936)«, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1977, S. 7-44. 40 Bertolt Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Dieter Prokop (Hg.): Massenkommunikationsforschung 1: Produktion, Frankfurt am Main 1972, S. 31-35. 41 G. Lovink: Der Computer, S. 362. 42 Ebd., S. 363. Ein interessantes Internet-Projekt in diesem Geiste ist das Dead Media Project, ein digitaler Friedhof für nicht mehr benutzte Medien. Bruce Sterling ist neben William Gibson und K.W. Jeter Diskursbegründer der literari-

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Kittlers poststrukturalistischer Programmschrift oder Jean Baudrillards Requiem der Medien44 sind weitere Indizien für das Interesse vor allem der technikorientierten Medientheorie am Monströsen und Gespenstischen. Eine Rhetorik der nekrophilen Anthropomorphisierung der technischen Medien durchzieht die Medientheorie. Der immer wiederkehrende Hinweis darauf, dass technische Medien nicht nur die Stimmen und Konterfeis von Lebenden aufzeichnen, sondern ebenso Bilder von Toten und Stimmen aus der Geisterwelt speichern und wiedergeben, ist ein Zeichen dafür, dass der okkulte und speziell der spiritistische Diskurs als Repräsentanten für die symbolisch-kulturelle Seite von Mediengeschichte von großem Interesse für die Medientheorie sind. Inzwischen werden nicht mehr nur tote Menschen, sondern auch tote Medien und Kulturtechniken erforscht.45 Medientheorie und Gespensterfilme scheinen angesichts ihrer identischen Sujets deshalb vielleicht ähnlicher, als man zunächst glauben mag. Das Sprechen über Leben und Tod von Körpern und Medien, die anthropologische oder existenzielle Dimension von Medientheorie, scheint zunächst die Fortsetzung einer spezifisch nationalen Erzähltradition zu sein, auf die Hans Richard Brittnacher zu Beginn seiner Ästhetik des Horrors aufmerksam macht.46 So fühlt sich Edgar Allan Poe im Vorwort seiner Tales of the Grotesque and Arabesque (1840) genötigt, darauf hinzuweisen, »nur eine seiner Erzählungen […] zeige teutonischen Pseudo-Horror, im übrigen aber stamme sein Schrecken nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele«47. Deutschland ist das Land des modernen Horrors. E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke (1817) erreichen früh ihr globales Publikum. Gerade in Frankreich, Russland, Großbritannien und den USA finden Hoffmanns Texte bedeutende Nachfolger in der Literaturgeschichte und weisen Deutschland als Brutstätte des Grauens aus.48 Mary Shelleys moderner Prometheus Frankenstein erschafft sein

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schen Bewegung des »Cyberpunk«. (Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology, 1986; Schismatrix, 1985 und mit William Gibson zusammen The Difference Engine, 1990). Vgl. http://www.deadmedia.org vom 27. Juli 2006. Friedrich A. Kittler (Hg.): Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u.a. 1980. Jean Baudrillard: »Ein Requiem für die Medien«, in: Ders.: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 83-118. Beispielhaft dafür kann das Großprojekt Stefan Riegers stehen, Medien, Kulturtechniken, Experimente und Wissenschaftler, die vom Mainstream der Wissenschaftsgeschichte übergangen worden sind, vor dem Vergessen zu bewahren und sie sowohl zur zeitgenössischen Wissenschaft, aber auch zu gegenwärtigen Epistemen, die Geist, Körper und Medien betreffen, zu positionieren. Vgl. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001; Stefan Rieger: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt am Main 2002 sowie Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt am Main 2003. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main 1994. Anmerkung der Herausgeber zu Seite 77 (Metzengerstein, Bd. 1), in: Edgar Allan Poe: »Arabesken. Detektivgeschichten«, in: Ders.: Das gesamte Werk in zehn Bänden. Bd. 2. Hg. von Kuno Schumann/Hans Dieter Müller, Herrsching 1979, S. 949. Zur literarischen Aufnahme von Horrorelementen in der Romantik vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1970.

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Monster in Ingolstadt (1818), und in Heinrich Heines Romantischer Schule (1835) lautet die Nationalität des Schauerlichen, die sich aus der Geisterbeschwörung des Mittelalters ergibt, mit einem nicht unbelustigten Tonfall so: Ach! In Deutschland ist das anders. Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei Euch [in Frankreich, A.M.], gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mittelalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird vielmehr manchmal von einem bösen Gespenste belebt, und tritt am hellen, lichten Tage in unsere Mitte und saugt uns 49 das rote Leben aus der Brust…

Und mit einem zweiten (und sehr deutschen) »Ach!«, das man durchaus als ironisches Echo auf die Automatenfrau Olimpia in Hoffmanns Sandmann oder auf den Geister beschwörenden Goetheschen Faust vernehmen kann, mit dem auch Kittler seine Aufschreibesysteme der Literatur und Medien beginnen lässt, setzt Heine seine Klage an der Gespensterlust der deutschen Romantik fort. Über französische Versuche, das Gespenstische darstellen zu wollen, kann er nur lachen: Laßt uns Deutschen alle Schrecknisse des Wahnsinns, des Fiebertraums und der Geisterwelt. Deutschland ist ein gedeihlicheres Land für alte Hexen, tote Bärenhäuter, Golems jedes Geschlechts, und besonders für Feldmarschälle wie der kleine Cornelius Nepos. Nur jenseits des Rheins können solche Gespenster gedeihen; nim50 mermehr in Frankreich.

Die nostalgische Vergangenheits- und Gespensterlust der Deutschen, die man mit Heine »romantisch« oder »gotisch« und mit Poe als »Horror« bezeichnen kann, färbt offensichtlich immer noch den medientheoretischen Ton, sofern er eben nicht bloß Kommunikationswissenschaft oder Technikgeschichte heißt, sondern auch die Welt des Imaginären und damit die kulturelle und symbolische Codierungsmacht der Medien betrachtet. Am Ende der medientheoretischen Gespenstergeschichten steht aber das Ende von Geschichte selbst und eröffnet damit die Parallele zum Apokalyptischen im modernen Horrorfilm. Bolz formuliert McLuhans Implizitheit aus, wenn er vom Ende der Gutenberg-Galaxis berichtet.51 Vilém Flusser kündet von der Ankunft eines nulldimensionalen Punkteuniversums.52 Paul Virilio sieht den menschlichen Körper am negativen Horizont einer Ästhetik des Verschwindens anheim fallen.53 Für Baudrillard leben wir jetzt schon im Zeitalter von Simulation und Hyperrealität und sind selbst nur mehr Simulakren.54 Auch Kittler 49 Heinrich Heine: Die romantische Schule (1835). Mit einem Nachwort von Norbert Altenhofer, Frankfurt am Main 1987, S. 204. 50 Ebd., S. 163. Heine bezieht sich an dieser Stelle im Besonderen auf die Menagerie monströser und gespenstischer Figuren in Achim von Arnims Novelle Isabella von Ägypten. Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe (1812). 51 Vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. 52 Vgl. Vilém Flusser: Das Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. Schriften. Bd. 1. Hg. von Stefan Bollmann/Edith Flusser, Mannheim 1995. 53 Vgl. Paul Virilio: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München, Wien 1989. 54 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1991.

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malt die Untergangsvision zwischen dem Ende des Schriftuniversums der Gutenberg-Galaxis und der Ankunft einer digitalen Turing-Galaxis in seinen frühen Texten noch weitgehend schwarz aus. So beginnt seine Mediengeschichte mit dem Titel Grammophon – Film – Typewriter mit den prophetischen Worten: Vor dem Ende, geht etwas zu Ende. […] Blendwerk werden die Sinne und der Sinn. Ihr Glamour, wie Medien ihn erzeugt haben, überdauert für eine Zwischenzeit als Abfallprodukt strategischer Programme. […] – ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis wird den Begriff Medium selbst kassieren. Statt Techniken an Leute anzu55 schließen, läuft das absolute Wissen als Endlosschleife.

Der Computer kassiert also sogar das ausdifferenzierte System der Medien selbst. Die Offenbarung der digitalen Apokalypse findet erst recht ohne Beisein von Menschen statt. »Aber«, so schreibt Kittler in einem Satz, der auffällig gesondert und parenthetisch zwischen zwei Abschnitten steht, »noch gibt es Medien, gibt es Unterhaltung«56. Es ist also die Unterhaltungsindustrie, die uns vor dem Ende der Welt und vor unserem sinnlosen Sturz in den Abgrund des Vergessens bewahrt. Das Ende von Differenz und Beobachtung in einem elektronischen Instantan-Universum des Computers wird also von den Künsten und den technischen Medien der Unterhaltungsindustrie aufgehalten. In die Zäsur zwischen dem Schriftuniversum der Gutenberg-Galaxis und dem Computeruniversum der Turing-Galaxis schiebt sich also ein heimeliger Medienverbund von Stereoanlagen, Kassettenrecordern, Photoapparaten, Videorecordern und Kinobesuchen. Solange Hollywood Filme produziert, ist das Ende der Menschheit durch das Reich der Maschinen noch nicht gekommen: Der Stand von heute sind partielle Medienverbundsysteme, die alle noch auf McLuhan hören. Den Inhalt eines Mediums bilden, wie geschrieben steht, jeweils andere Medien. […] Aber zwischen den Verbundsystemen selber stehen nichtkompatible Datenkanäle und unterschiedliche Datenformate. Elektrik ist noch keine Elektronik. Im Spektrum des allgemeinen Datenflusses bilden Fernsehen und Radio, Kino und Post einzelne begrenzte Fenster, die auf die Sinne von Leuten gehen. […] 57 Diese Sinnlichkeiten haben erst einmal hergestellt werden müssen.

Kittler spricht vom Unterhaltungs- und auch vom Archivauftrag der Medien. Die Medien erinnern, sammeln und archivieren, und sie schaffen dabei immer wieder neue Weltenmodelle und Sinnstiftungen, utopisch oder nicht. Der Horrorfilm übernimmt darin aber nicht nur die Rolle eines Spezialarchivs, sondern er ist als Teil der Unterhaltungsindustrie auch ein entscheidendes Element der messianischen Offenbarung und des Aufschubs zugleich. Das Jüngste Gericht und sein profaner Zwilling, der Weltuntergang mit synkopierter Erlösung, werden im und durch den Horrorfilm zugleich aufgeschoben und in Szene gesetzt. Der Horrorfilm speichert, ordnet und materialisiert die Ängste, Gefahren und Bedrohungen in einem Bestiarium der Filmmonster und rettet die Differenz-Information dadurch im Augenblick des Sturzes. 55 F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 7-8. 56 Ebd., S. 8. 57 Ebd., S. 8-9.

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Michael Wetzel macht in seinem Nachwort zu Derridas Apokalypse in der Gleichzeitigkeit von Offenbarung und Untergang noch einmal auf die Vollendung, sprich: die Aufklärung der Aufklärung in der Apokalypse aufmerksam: »Dessen Medium aber – weniger der Wahl als der technischen Bedingung – ist der Film.«58 Wetzel schlägt damit den Bogen zu Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (US 1979). Aber der »postapokalyptische«59 Zustand unseres Zeitalters hinterlässt noch deutlichere Spuren im modernen Horrorfilm. Coppola mag einen Film über den »erste[n] Krieg des Rock’n Roll und der Drogen«60 gedreht haben, die Frage, »Was aber hat Aufklärung mit Vietnam […] zu tun?«,61 beantwortet 1968 George A. Romeros Night of the Living Dead wesentlich präziser, mit Bildern, die das Nachrichtenfernsehen, die Zeitungen, aber auch die Science Fiction zitieren. Aus medientheoretischer Sicht ist vor allem der Splatterfilm deshalb ein Remedium gegen den Untergang der Welt. Die grotesk und manieristisch geratene Offenbarung eines Alles-Zeigen-Wollens, die Häufung und Überbietung der Figuren des Horrors bis zur Übertreibung ist der Einsatz des Splatterfilms. Die groteske Figur der Hyperbel und nicht der erhabene Katechon schiebt, so die Logik des audiovisuellen Medienverbundes, genauer: der Unterhaltungsindustrie, die Apokalypse auf. Wie in den Höllenvisionen Hieronymus Boschs und Pieter Bruegels des Älteren zeichnet der Horrorfilm überdetaillierte Gemälde des Weltuntergangs, um möglichst viel Information zugleich zu speichern und abzuspielen. Nur durch den grotesken Exzess, beispielhaft für das Beharren auf Differenzierung, kann die 0/1-Differenz, die große Nivellierung durch die Turing-Galaxis, in der Kategorien wie Ästhetik und Narration verschwinden und in das »absolute Wissen«62 aufgelöst werden, aufgehalten und aufgeschoben werden.

58 Michael Wetzel: »Nachwort des Übersetzers. ›Apocalypse now‹. Der Wahrheitsbegriff der Postmoderne?«, in: Jacques Derrida: Apokalypse. Hg. von Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, S. 133-139, hier S. 139. 59 Vgl. Ebd., S. 138. 60 Ebd., S. 133. 61 Ebd. 62 F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 8. Nicht zu überlesen ist in der prophezeiten Ablösung der technischen Medienverbundsysteme durch den Computer, auf die die Geisteswissenschaften mit einem Wechsel zur Medientheorie reagieren, ein Echo der Abdankung der Künste durch die Philosophie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik. Vgl. dazu auch Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt am Main 2002.

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II. Gothic Horror. Schauerromantik Ich bin der Menschheit und der Welt so überdrüssig, daß mich nichts interessieren kann, wenn es nicht wenigstens zwei Morde pro Seite gibt oder um namenlose Schrecken geht, die aus äußeren Welten kommen. H.P. Lovecraft Das Leben ist schmerzhaft und enttäuschend. Folglich ist es nutzlos, neue realistische Romane zu schreiben. Was die Realität im allgemeinen betrifft, so wissen wir bereits, woran wir sind; und wir haben keine Lust, noch mehr darüber zu erfahren. Michel Houellebecq

1. Gothic Novel Das Medium von Horrorgeschichten vor und zu Beginn der Moderne und damit Vorläufer von Film und Psychoanalyse ist die Literatur. Der Film als Erzählkino hat sich dabei schnell und bis heute nicht allein auf das zeitgenössische Theater, sondern vor allem auch auf die Erzählweisen der populären Literatur des 19. Jahrhunderts festgelegt.63 In dieser Literatur geht es um die realistische Zeichnung von Figuren und um eine dramatisch geschlossene Erzählung, die schematisch ungefähr so lautet: Zwei Figuren treffen aufeinander und gehen wieder getrennte Wege. Zum Schluss erschießen sie einander oder heiraten. Die Wurzeln des modernen Horrorfilms liegen aber nicht nur in der realistischen und besonders der populären Literatur um 1900, sondern auch in der Dramatisierung von Gothic Horror-Stoffen wie Frankenstein oder Dracula.64 Von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gehört die Gothic Novel vor allem in England zu den am meisten verbreiteten und populärsten Formen von Literatur und erreicht durch preiswerte Buchausgaben alle Leserschichten. Ihren Anfang nimmt die Gothic Novel bekanntlich mit dem Gespensterroman The Castle of Otranto (1764) von Horace Walpole. Prominente Vertreter des Gothic Horrors sind William Beckfords Vathek (1786), Ann Radcliffes Mysteries of Udolpho (1794), Matthew Gregory Lewis’ The Monk (1796), Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein or the Modern Prometheus (1818) und Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer (1820). Die Bauwerke Strawberry Hill und Fonthill Abbey von Walpole und Beckford sind vielleicht ihre bekanntesten architektonischen Materia-

63 Vgl. Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart, Weimar 1997, S. 1-44. 64 Zur Vorgeschichte des Horrorfilms und die Fortführung der theatralen Tradition des Horrors im Kino vgl. David J. Skal: The Monster Show. A Cultural History of Horror, New York 2001.

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lisierungen.65 E.T.A. Hoffmanns romantischer Roman Die Elixiere des Teufels (1815/16) ist ein deutliches Echo auf den Roman The Monk, der einerseits für die Einführung drastischer Akte von Gewalt und Grausamkeit in die phantastische Literatur verantwortlich ist und andererseits am deutlichsten den äußeren Schrecken als Spiegelung oder Projektion von Trieben, Ängsten und Wünschen formuliert. Bram Stokers Dracula (1897), Teil der viktorianischen Modernisierung der Gothic Novel, übernimmt die von John William Polidoris Erzählung The Vampyre (1819) in die Literatur eingeführte Figur des Vampirs und wird zum Metaroman aller Vampirgeschichten. Die Einflüsse des Gothic Horrors sind in Großbritannien aber nicht nur bei Stoker, sondern auch bei Autoren wie Charles Dickens, Wilkie Collins oder Sheridan Le Fanu zu finden. Gleich der erste bedeutsame Roman der neuen Welt Amerika ist der Gespensterroman Wieland or the Transformation (1798) von Charles Brockden Brown. Die Tradition des so genannten »American Gothic« wird von Autoren wie Nathaniel Hawthorne oder Ambrose Bierce fortgesetzt. Edgar Allan Poe überführt den Gothic Horror Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich in die moderne Horrorgeschichte einerseits und in die Detektivgeschichte andererseits.66 Aber was bedeutet das »Gothic« am Horror und was bedeutet es vor allem für den Horrorfilm? Mario Praz definiert »gothic, gotisch« folgendermaßen: »Die gotische Kunst ist nach der Definition eines bedeutenden Kunsttheoretikers ›die Kunst, mit einem Verstrebungssystem zu bauen‹«.67 Es geht bei Gothic also um die Komplexität einer Konstruktion aus Verstrebungen und Befestigungen. Das architektonische Konzept des Gothic lässt sich dabei nicht nur auf Die gotische Frau übertragen, wie es Praz macht, sondern ebenso auf die Literatur und den Film. Literarische Gothic bezeichnet im Verständnis von Patrick McGrath und Bradford Morrow deshalb zunächst einmal das Inventar: In ihren Anfängen erkannte man »the gothic« an den Requisiten und Kulissen, die es verwendete, an seinem Mobiliar. Dunkle Wälder und vor Feuchtigkeit triefende Keller, Klosterruinen voller geheimer Gänge, klirrende Ketten, Skelette, Gewitter und Mondlicht – aus diesen Materialien schufen die ersten Autoren des Genres ihre Er68 zählungen.

65 Zum Komplex Architektur und Gothic Novel vgl. Norbert Miller: Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit, München 1986. Der Einfluss der Zeichnungen und Stiche von Giovanni Battista Piranesi, vor allem seiner »Carceri«, auf die Architektur und die Literatur des Gothic Horrors darf auch nicht unterschätzt werden. Vgl. Norbert Miller: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1994. 66 Für das 20. Jahrhundert ist eine ganze Reihe vor allem amerikanischer und zum Teil englischer Autoren zu nennen, deren Einflüsse sichtlich vom Gothic Horror zehren. Zu den bekanntesten zählen Howard Phillips Lovecraft, Clark Ashton Smith, Edith Wharton, Robert Bloch, Richard Matheson, Ira Levin, Shirley Jackson, Ray Bradbury und Stephen King. 67 Mario Praz: »Die gotische Frau (1935)«, in: Ders.: Der Garten der Erinnerung. Essays 1922-1980. Bd. 1, Frankfurt am Main 1994, S. 251-258, hier S. 251. 68 Patrick McGrath/Morrow Bradford (Hg.): The New Gothic. Neue Schauergeschichten, Frankfurt am Main 1992, S. 9.

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Es gibt also ein deutliches Set an räumlichen, visuellen und akustischen Effekten, Figuren und Orte, deren Komposition Furcht und Schrecken im Sinne des Gothic Horrors erzeugen sollen. Diese Tatsache macht den Gothic Horror so attraktiv für das Theater und für den Horrorfilm, kann man doch durch Requisiten, Kulissen, durch Ausleuchtung und durch Kameraarbeit auf effiziente Weise Horror erzeugen und auf diese Weise auch den Seelenzustand der Figuren spiegeln: Erst in den 1830er und 1840er Jahren, mit Edgar Allan Poe, wendet sich die Schauergeschichte allmählich von dieser finsteren Hardware ab und beginnt zunehmend, sich für die Psyche ihrer Charaktere zu interessieren. […] Mit Poe wendet sich die »gothic novel« nach innen und macht sich ernsthaft daran, die Extreme psychologi69 scher Störungen zu erforschen.

Der Bezug zum Inventar bleibt erhalten: »Poe erkannte, wie sich das Mobiliar des Genres mit einer wachen Sensibilität verflechten ließ. Roderick Ushers Geist ist ebenso ein Abbild seines Hauses, wie sein Haus ein Abbild seines Geistes ist.«70 Das Verfahren der Spiegelung zerrissener Familienverhältnisse (Castle of Otranto) bis zur architektonischen Entäußerung als Spiegel zerrissener Seelen (The Monk, Melmoth) gehört deshalb zu den zentralen Elementen dieser Erzähltradition. In der Gothic Novel etabliert sich deshalb schon eine literarische Technik, die für die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts als konstitutiv betrachtet werden kann: die räumliche Formulierung von Seelenlandschaften, die später in der Psychoanalyse zu dem »Unbewussten« zusammengefasst werden.

2. Groteske Die wirkmächtige Ästhetik des Klassizismus findet sich konzentriert in den ästhetischen Schriften Johann Joachim Winckelmanns, wie den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), und Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795).71 Aber auch Lessings Laokoon, ein Gegenentwurf zu Winckelmann, bleibt einem ästhetischen Klassizismus verhaftet, der den Schmerzensschrei Laokoons als geöffneten Mund nicht dulden kann. Die klassizistische Ästhetik setzt um 1800 Normen der Darstellung des menschlichen Körpers, die alles Unebenmäßige, Kreatürliche und Geöffnete verbannt. Zum Kanon des klassizistischen Körpers gehören die »idealische Schönheit«72 als Sublimierungskategorie des natürlich Körperlichen und der ebenmäßige Schwung griechischer Skulpturen. Winckelmanns Ästhetik beharrt auf der unversehrten Oberfläche des menschlichen Körpers, hinter der das Phantasma von der ganzheitlichen und abgeschlossenen Persönlichkeit steckt. Jede Abweichung, jede Unterbre69 Ebd. 70 Ebd. 71 Wichtige Einsichten in den Komplex von Klassizismus und Groteske verdanke ich André Suhr. 72 Johann Joachim Winckelmann: »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755)«, in: Ders.: Werke in einem Band, Berlin 1969, S. 1-37, hier S. 3.

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chung, jeder Riss in der Hülle rückt vom Ideal der Schönheit ab. Winckelmann verdichtet seine Interpretation griechischer Kunst mit der Feststellung, dass »[d]as allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke […] endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe« sei,73 ein Leitsatz, der zur Maxime der deutschen Klassik wird und ein sittlich-moralisches Programm am Leitfaden der Ästhetik des menschlichen Körpers enthält: »Die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen.«74 Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen setzen vor allem den letzten Gedanken fort. In ihnen wird die Utopie einer idealen Gemeinschaft entworfen, die auf der Schulung der ästhetischen Empfindung des Menschen an schöner Kunst beruht und deswegen ebenfalls gegen jede Art von Zerrissenheit, Brüchigkeit und Uneinheitlichkeit vorgeht. Klassische oder klassizistische Ästhetik zeichnet sich deshalb durch ein Set an Konzepten aus, das durch transzendierende Überhöhung, Essenzialismus, organische Einheitlichkeit und Überzeitlichkeit der Wertmaßstäbe an Reinheit, Erhabenheit und Harmonie gekennzeichnet ist. Jeder Effekt von natürlicher Körperlichkeit und jede Abweichung oder Fremdartigkeit fallen aus dem klassizistischen Kanon heraus. Schiller lokalisiert das Gegenbild von Schönheit an dem Ort, wo der sinnliche »Stofftrieb« den Menschen und seine Kunst beherrscht. Dort »[…] sehen wir den rohen Geschmack das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bizarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen und vor nichts so sehr als vor der Einfalt und Ruhe fliehen. Er bildet groteske Gestalten, liebt rasche Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreiende Lichter, einen pathetischen Gesang.«75 Nicht nur im Wortlaut der »grotesken Gestalten«, sondern auch in der Bewertung der genannten Kategorien zeigen sich die Widersprüche zwischen einer klassizistischen und einer grotesken Ästhetik. Die Wurzeln des Begriffs »Groteske«, abgeleitet vom italienischen »Grottesco«, sich auf »Grotte« oder »Höhle« beziehend, finden sich in der antiken Ornamentmalerei, die man gegen Ende des 15. Jahrhunderts in italienischen Höhlen findet und auch unter das Konzept der Arabeske fasst. Detlef Kremer fasst zusammen: »Es handelt sich dabei um figürlich-arabeske Malerei, für die eine filigrane Vermischung menschlicher, tierischer und pflanzlicher Figuren charakteristisch ist. Schon kurz nach 1500 wird diese sogenannte groteske Ornamentmalerei Mode.«76 Als der paradigmatische Fall des Grotesken in der Literatur werden von Michail Bachtin die Romane François Rabelais’ über die Riesen Gargantua und Pantagruel aus dem 16. Jahrhundert untersucht. Diese Romane handeln von der kreatürlichen Leiblichkeit, von körperlichen Funktionen und Bedürfnissen und sind durchsetzt von Zergliederungsphantasien. Das Körperdrama des hyperbolischen, grenzenlosen, durchlässigen und unsterblichen Leibes, der an den kosmischen Leib des Vol73 Ebd., S. 17-18. 74 Ebd., S. 12. 75 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), Stuttgart 1997, S. 122-123. 76 Detlef Kremer: »Spätaufklärung als Groteske. Johann Karl Wezels ›Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Stammlers, sonst der Weise genannt‹«, in: Alexander Kosenina/Christoph Weiss (Hg.): Johann Karl Wezel (1747-1819), St. Ingbert 1997, S. 9-27, hier S. 11.

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kes gebunden ist und der zu der Kultur des mittelalterlichen Marktplatzes und des Karnevals korrespondiert, ist das bestimmende Merkmal einer Ästhetik des Grotesken: Inversion, Degradation und Profanation begleiten das Körperdrama. Das Lachen dieser grotesken Volkskultur wird nach Bachtin im Laufe der Literaturgeschichte gedämpft und schlägt ins Unheimliche und Dämonische um. Das Sexuelle, das Obszöne und das Skatologische werden zunehmend verschlüsselt und sind um 1800 in der Literatur der Romantik nur noch als Schwundstufen zu beobachten. Das Groteske, das im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ausdrücklich an die Öffentlichkeit des Marktplatzes und an den Volkskörper gebunden ist, wird in der Romantik »eher privat, kammertonhaft: ein Karneval, der einsam und mit dem deutlichen Bewusstsein dieser Isolation erlebt wird.«77 Das Lachen wird geschwächt und verliert seine regenerative Funktion. Dagegen gewinnt der unheimliche Aspekt des Grotesken an Bedeutung, und die Welt der romantischen Groteske wird dem Menschen fremd und Furcht erregend. An drei typischen Motiven macht Bachtin die Veränderung des Grotesken zur romantischen Groteske deutlich: Am Wahnsinn, an der Maske und an der Puppe. Entgegen dem volkstümlichen Wahnsinn ist der romantische Wahnsinn »die dunkle, tragische Färbung der individuellen Isolation.«78 Steht die Maske im mittelalterlichen Karneval noch für die Metamorphose als Verstoß gegen natürliche Grenzen, verliert sie »in der Romantik fast völlig ihren erneuernden Impuls und erhält einen düsteren Anstrich«79. Während sich in der volkstümlichen Groteske hinter der Maske stets »die Unerschöpflichkeit und Vielgestaltigkeit des Lebens«80 versteckt, zeigt sich hinter der romantischen Maske »oft eine schreckenerregende Leere, das ›Nichts‹«81. Und auch das Motiv der Puppe verliert das Spielerische, und »die Vorstellung einer fremden, nicht-menschlichen Kraft [tritt] in den Vordergrund, die die Menschen beherrscht und in Marionetten verwandelt«82. Das Groteske in der Romantik ist trotz der Aussagen Bachtins zur Dämpfung des Lachens nicht ohne Ambivalenz. Aber feststellen muss man trotzdem, dass das heitere Lachen des Marktplatzes und des Karnevals, das in einem engen Zusammenhang mit der Regenerationsfähigkeit des kosmischen Volkskörpers steht, in der Moderne schwindet. Das groteske Körperdrama wird zunehmend Privatsache. Der unheimliche und Furcht erregende Ton des Grotesken überwiegt zusehends, und dem Leser bleibt das Lachen im Halse stecken. Dieser Entwicklung trägt Bachtin Rechnung, indem er angesichts der Dämpfung des Lachens und der Wende zum Unheimlichen und Schrecklichen dem Grotesken der Romantik die Entdeckung »des Subjekts in seiner Tiefe, Komplexität und Unerschöpflichkeit«83 zuschreibt. Romantische Literatur erweist sich, wie Hartmut Böhme formuliert, gerade in ihren Untiefen

77 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. von Renate Lachmann, Frankfurt am Main 1995, S. 88. 78 Ebd., S. 90. 79 Ebd., S. 91. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 95.

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und dunklen Abgründen deshalb als ein »protopsychoanalytisches strukturales Feld«84.

3. Deutsche Romantik Der Beitrag der romantischen Literatur zum Horrorfilm liegt in der Kontinuität grotesker Körperkonzepte, in der Psychologisierung der Phantastik und vor allem in den Strategien, mit denen romantische Literatur ihre dichterischen Bedingungen selbstreferenziell zum Gegenstand ihrer Geschichten erhebt. Karl Heinz Bohrer fasst die beiden »zentralen Figuren des romantischen Bewußtseins« in den Begriffen der »Reflexivität des Kunstwerks« und des »Phantastischen« zusammen und sieht gerade in ihnen Elemente, die »in der literarischen Moderne virulent« werden.85 Nach Kremer intoniert die romantische Literatur eine Vermischung der Töne, einen »Zweiklang von Pathos und Groteske«86. Er stützt sich dabei auf die Beobachtung Victor Hugos, der seinem Drama Cromwell (1827) ein Vorwort voranstellt, das den durchgeführten Kontrast vom Sublimen und Grotesken als das Zentrum romantischer Poesie positioniert und damit vom Klassizismus abgrenzt: »Hugos für die französische Romantik programmatische Forderung des Zweiklangs von Erhabenem und Groteskem ist für die Prosa der deutschen Romantik schon von Anfang an konstitutiv.«87 Für die frühen Erkundungen auf den Feldern des Unbewussten, Psychoanalysen avant la lettre, die gerade für den Gothic Horror des Horrorfilms von Bedeutung sind, zählt ein Thema der Romantik, das mit dem Begriff der »Montanpoesie« gut bezeichnet ist. Der Berg- und Brunnenbau in der romantischen Literatur ist die Allegorie des Einstiegs in das Unbewusste und damit das Sinnbild von Sexualität, Phantastik und Poesie selbst. Manfred Frank verweist auf die begleitenden Versteinerungs- und Erkaltungstendenzen, die in romantischen Bergbauerzählungen durch den metonymischen Tausch des Herzens mit dem kalten Gold oder Geld einhergehen:88 Tatsächlich kann man beobachten, daß um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verschiedene Schriftsteller, die man dem Epochenbegriff der Romantik zuordnet, auf jeweils ganz verschiedene Weise damit beginnen, uns eine Geschichte zu erzählen. Sie hat immer das eine Thema: den Tod des christlich-abendländischen Herzens; seine Erstarrung; seine Erblindung; seine Entwertung, seine Ersetzung durch das an89 organische Ding oder die Maschine.

84 85 86 87 88

H. Böhme: Romantische Adoleszenzkrisen, S. 136. K.H. Bohrer: Kritik der Romantik, S. 11. D. Kremer: Prosa der Romantik, S. 32. Ebd., S. 33. Vgl. Manfred Frank: »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Ders. (Hg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 257-400; Manfred Frank: Kaltes Herz, Unendliche Fahrt, Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne, Frankfurt am Main 1989 sowie zur Einführung in das Thema des Bergbaus in der Romantik vgl. Theodore Ziolkowski: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München 1994, besonders S. 29-81. 89 Manfred Frank: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.): Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 9-16, hier S. 10.

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Die Geschichten erzählen davon, wie etwas Fremdes und Unheimliches in den Körper des Helden ein- und zum Zentrum seines Körpers, dem Herzen, vordringt, um den Helden von dieser Warte aus zu beherrschen. Zu diesen Geschichten gehören das Bergbau-Kapitel in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802), Ludwig Tiecks Der Runenberg (1804), E.T.A. Hoffmanns Bergwerke zu Falun (1818), Joseph von Eichendorffs Marmorbild (1819), Wilhelm Hauffs Das kalte Herz (1828) oder Hans Christian Andersens Die Schneekönigin (1845). Der Körper des jungen, männlichen Wanderers oder Bergmanns wird von einer fremden, nichtmenschlichen und metallischen Logik beherrscht, die leicht mit der beginnenden Geldmoderne des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt werden kann. Kalte Geldströme ersetzen die warmen Blutströme im Kreislauf des menschlichen Körpers.90 Von den Schattenseiten dieser Geldmoderne wissen auch die Texte Achim von Arnims zu berichten, wie die Novelle Die Majoratsherren (1820) oder die Geschichte Des ersten Bergmanns ewige Jugend aus dem Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810). Von Bedeutung für die Erzählmuster des Horrorfilms sind aber vor allem die Entdeckung des Unbewussten, als deren sexuell konnotierte Spiegelungen die Abstiege in die Bergwerke fungieren, der Topos der Invasion in den menschlichen Körper sowie die Beherrschung des Denkens und Fühlens durch eine fremde Macht, mag sie nun kapitalistische oder industrielle Logik heißen oder anders. Hervorzuheben bleibt in jedem Fall die selbstreferenziell poetologische Ebene der Texte, in denen es immer auch der tote Buchstabe der Literatur ist, der über das lebendige Herz und über die lebendige Stimme des Bergmanns Macht gewinnt. Denn in den Tiefen des Berges findet der Jüngling nicht nur sexuelle Erfüllung oder seine unterdrückten Ängste und Wünsche vor, sondern immer auch Texte, steinerne oder metallische Urschriften, die das Begehren regulieren, aber auch zum Tode führen und den Bergmann als Buchstabenleiche, als monströsen Tintenklecks zurücklassen. Der Körper des jungen Bergmanns, wie er paradigmatisch in der Wiedersehensgeschichte in Hoffmanns Bergwerke zu Falun oder Johann Peter Hebels Unerwartete Rückkehr (1811) auftaucht, wird dann vollends zum Schauplatz der Schrift. Durchdrungen ist sein toter und unsterblich gewordener Körper bei Hoffmann überdies von Eisenvitriol, das um 1800 zur Konservierung von Tinte verwendet wird. Neben der Entdeckung des Unbewussten zeichnet sich romantische Literatur durch einen zumeist mit hohem Aufwand betriebenen Gestus der ästhetischen Autonomie und damit der Abwendung von Strategien der Repräsentation aus. Die Romantik führt die Autonomiebewegung des Literatursystems um 1800 mitunter bis zu einer Stufe der Selbstreferenzialität, in der in den Texten allein Imagination und Schriftlichkeit die Grundlagen des literarischen Schreibens bilden. So vermischen sich in der Romantik Literatur und transzendentale Philosophie, und die theoretische Selbstreflexivität gelangt in den literarischen Text. Friedrich Schlegels transzendentalpoetisches Programm einer »progressive[n] Universalpoesie«91 hält dies in der Forderung an die Romantik im 238. Athenäums-Fragment fest, »zugleich Poesie und 90 Vgl. Hartmut Böhme: »Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie«, in: Ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main. 1988, S. 67-144. 91 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. 35 Bde. Bd. II. Hg. von Ernst Behler u.a., München u.a. 1958ff., S. 182.

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Poesie der Poesie«92 zu sein. Jochen Hörisch beobachtet deshalb den Ursprung der romantischen Kommunikation genau an dem Ort, an dem die Ausformulierung der neu entdeckten Landschaften des Unbewussten auf die Schriftlichkeit und Reflexivität der romantischen Erzählungen trifft – im Bergwerk: Im Zentrum des Goldenen Topfes, im innersten Stollen des Bergwerkes, das Heinrich von Ofterdingen betritt, im Erzählquell des Phantasus, in den genealogischen Untiefen des Godwi und in so gut wie allen romantischen Ursprungstexten sprudeln Texte, gibt es Texte, geben Texte zu lesen und zu leben, nehmen Texte Vorver93 ständnisse, entstehen und vergehen Texte.

Mit anderen Worten: Es gibt den Ursprung nicht, den Quell, die Referenz aus dem Außerliterarischen, sondern es gibt nur die literarische Imagination und ihr materielles Korrelat in verschiedenen medialen Potenzen: als Text, als Buchstabe, als Schrift, als Buch und als Bibliothek. Die Bedingungen des literarischen Erzählens findet man in der Romantik nicht mehr in der Natur, sondern in der lesbar gemachten Schrift oder dem Buch der Natur. Bücher und Bilder verschiedenster Archive sind die Imaginationsmotoren romantischer Literatur. Die verstärkte Einspielung der eigenen Medialität in der literarischen Romantik setzt sich im Horrorfilm fort. Wie in allen Künsten werden auch im Film Spiegel aufgestellt. Dies mag um der Eitelkeit der Schöpfer willen geschehen, bewirkt aber in jedem Fall, dass mit diesen Spiegeln ein Speicher der eigenen Poetologie in den Film versenkt wird. Diese Spiegelungen, ob sie nun en miniature die Erzähltechniken, die Herkunft der Bilderwelt oder die Medialität des Films reflektieren, werden in der Literaturwissenschaft mit dem Begriff der »Mise en Abyme« belegt. Dieser bedeutet das »Legen in den Abgrund« und weist auf die Unendlichkeit der möglichen Bezüge und Reflexionen hin, die mit einem solchen Spiegel aufgestellt werden. Diese Figur ist ein zentrales und illusionsstörendes Verfahren, die Poetik der Selbstreflexivität in den Text einzuspielen und performativ einzulösen. Der Begriff stammt aus der französischen Heraldik und bezeichnet die kleine Version eines Wappens, das auf demselben Wappen noch einmal erscheint. Friedrich Schlegel übernimmt diese Figur in seiner Zeitschrift Athenäum (1798-1800) für die Romantik: Romantische Poesie soll als progressive Universalpoesie die ganze Welt enthalten, die Reflexion der Welt in der Kunst reflektieren und die Spiegelung noch einmal reflektieren. Hierzu gibt es einen Reflexionsfortgang in die Unendlichkeit. Das Bild, das Schlegel dafür verwendet, ist das vom Spiegel im Spiegel. André Gide führt diesen Begriff dann 1893 in die Diskussion um die Literatur, besonders um das Drama ein.94 Kaum eine Kunstform vor dem Film verweist in der Inszenierung des menschlichen Körpers deshalb so deutlich auf seine Imaginationstechniken und zugleich so sehr auf seine Materialität wie die romantische Literatur. Der Körper, weil er nur ein 92 Ebd., S. 204. 93 Jochen Hörisch: »›Der Quell des Zentrums‹ oder die Gabe der Poesie. Vom Ur/Sprung romantischen Erzählens«, in: Gerhard Neumann (Hg.): Romantisches Erzählen, Würzburg 1995, S. 141-151, hier S. 142-143. 94 Vgl. »Mise en abyme«, in: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 1998, S. 373.

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schwarzer oder grauer Buchstabe auf weißem Papier ist, muss deshalb auch umso bildhafter beschrieben werden. Mit dem Film ändert sich das: Der symbolische Halluzinationskörper der romantischen Literatur weicht im Film der Darstellung des Realen auf der Leinwand.

4. Mit Freud im Kino Mit der Ablösung des klassischen Horrorfilms der 1930er und 1940er Jahre und der Einführung neuer filmischer Körperkonzepte in den 1960er Jahren verschwindet der kohärente psychologische Familienroman im Horrorfilm, wie er ihn noch aus Gothic Novel und deutscher Romantik heimsuchte. Man kann vermuten, dass die Glaubwürdigkeit der psychologischen Erzählung, die den Film noch als Nachfahren des realistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert auszeichnet, in dem Moment zu schwinden beginnt, als die Geste der Psychoanalyse selbst zum kulturellen Allgemeingut und damit zur ersten Erklärungsinstanz für das Denken, Fühlen und Tun in unserer Kultur geworden ist. Das spiegelt sich nicht nur in der Filmtheorie wider, sondern ist die Grundlage unseres Alltagsdenkens. Nicht nur Jacques Lacan hat eine Relektüre der Psychoanalyse Freuds vorgenommen, sondern die ganze Welt. Das umfangreiche filmische und literarische Werk Woody Allens kann als Symptom dieser globalen Psychoanalysierung gelten. Das Unbewusste mag eine Black Box bleiben, eingeflossen ist die psychoanalytische Beschreibung seiner vermeintlichen Mechanismen sowohl in den Wissenschafts- als auch in den Alltagsdiskurs. Es hat sich inzwischen eine ziemlich transparente und einfache Rhetorik für diese Mechanismen entwickelt. Einzig die Welt der Dinge sowie immer noch das Phantasma von der unsichtbaren, inwendigen Welt des menschlichen Körpers sind nach der vollständigen diskursiven Kartierung des Unbewussten deshalb noch hermetische, unlesbare und deshalb unheimliche und faszinierende Räume des Anderen und bieten sich für die phantastischen Landschaften des modernen Horrorfilms an. Bei Freud selbst bleiben optische Medien auffällig ausgespart, obwohl ja gerade der Film schon früh psychologisch, psychophysisch und psychotechnisch in das Diskursfeld des Unbewussten vorrückt. Georg Wilhelm Pabst dreht mit Geheimnisse einer Seele (D 1926) eine Verfilmung der psychoanalytischen Theorien. Freud, der als Berater fungieren soll, lehnt aber ab. Die Filme des Surrealismus, allen voran Luis Buñuels und Salvador Dalís Un chien andalou (dt. Ein andalusischer Hund, F 1928),95 verweisen, wie auch die »expressionistischen« Filme der Weimarer Zeit sowie die amerikanischen Horrorfilme der Universal Pictures auf die von Freud sichtbar gemachten Prozesse des Unbewussten, wie sie beispielsweise im Traum vorkommen. Die Technik des Films, vor allem der Schnitt der Montage, ist Traumtechnik. In der filmischen Tricktechnik kann man im Sinne Hugo Münsterbergs eine Implementierung der Vorstellungen von den Mechanismen des Unbewussten ablesen.96 95 Alfred Hitchcock hat sich das hellsichtig zunutze gemacht und Salvador Dalí für die Ausgestaltung der Traumsequenz in dem Psychoanalyse-Film Spellbound (dt. Ich kämpfe um dich, US 1945) engagiert. Vgl. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1977, S. 154-158. 96 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino. Hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996.

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Mit der Psychoanalyse wird um 1900 eine Sprache verfügbar, ein Instrument zur Beschreibung innerer Vorgänge, die mit dem Film zusammen die psychischen Vorgänge nicht nur auszudrücken, sondern auch umzucodieren vermag. An die Seite der Psychoanalyse, die sich in den Schriften Freuds ausschließlich den Medien des Unbewussten, des Traums, der Literatur und der bildenden Kunst zuwendet, rückt deshalb der Film als Verursacher von Veränderungen in der Ökonomie der Seelenzustände. Wer kurz vor seinem vermeintlichen Tod noch einmal sein ganzes Leben vorüber ziehen sieht, betrachtet keine Romanseiten mehr, nicht mehr die Linearität von Schrift, sondern erlebt bewegte Bilder im Zeitraffer und in dynamischen Jump Cuts, Filmschnitten, die Zeit und Raum gleichermaßen in einem Augenblick verändern: Um 1900, also unmittelbar nach Entwicklung des Films, scheinen sich die Fälle von Bergsteigern, Alpinisten und womöglich auch Schornsteinfegern gehäuft zu haben, die einen fast tödlichen Absturz von Bergen oder Dächern trotz allem überlebten. Wahrscheinlicher allerdings, dass sich nicht die Fälle, sondern die wissenschaftlichen Interessenten an ihnen gehäuft haben. Jedenfalls machte bei Medizinern wie Dr. Moriz Benedict, aber auch bei mystischen Anthroposophen wie Dr. Rudolf Steiner sofort eine Theorie die Runde […]. Die Theorie besagte, dass die Abstürze […] im sogenannten Erlebnis […] gar nicht schrecklich oder angstbesetzt seien. In der Sekunde des drohenden Todes würde vor den inneren Augen vielmehr in rasendem Zeitraffer der Film eines ganzen gewesenen Lebens noch einmal ablaufen 97 […].

Die Wechselwirkungen von Psychoanalyse und Film sind bis heute absehbar. Freuds Abhandlung über Das Unheimliche (1919), exemplarisch ausgeführt an Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, beeinflusst Literatur- und Filmwissenschaft bis heute in der Definition vom Schaurigen und Schrecklichen. Die nicht nur etymologischen Ambivalenzen von »heimlich« und »unheimlich« und damit der potenzielle plötzliche Umschlag des Vertrauten in das Fremde rufen das Unheimliche auf den Plan und geraten zu entscheidenden Faktoren für die Betrachtung und damit für literarische und filmische Inszenierung von moderner Identität. Seit der Psychoanalyse muss zwischen heiler Oberfläche und zerrissener Psyche unterschieden werden. Das psychoanalytische Konzept von der Identitätsspaltung und der Fremdheit des Selbst wird von Freud nicht zufällig am Sandmann ausbuchstabiert, denn vereinfacht ausgedrückt, schreibt die Psychoanalyse den romantischen Topos vom Doppelgänger fort. Freud selbst widerfährt deshalb wie selbstverständlich anekdotisch eine sonderliche Doppelgängergeschichte in dem Transportmedium der Eisenbahn: E. Mach berichtet zwei solcher Beobachtungen [von Doppelgängern, A.M.] in der »Analyse der Empfindungen«, 1900, Seite 3. Er erschrak das eine Mal nicht wenig, als er erkannte, daß das gesehene Gesicht das eigene sei, das andere Mal fällte er ein sehr ungünstiges Urteil über den anscheinend Fremden, der in seinen Omnibus einstieg. »Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein.« – Ich kann 97 Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 29-30.

HORROR UND THEORIE|47 ein ähnliches Abenteuer erzählen: Ich saß allein im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrtbewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei 98 mir eintrat.

Freud hat sich aber weder in der Tür noch in der Richtung geirrt, sondern er trifft im Spiegel seiner Toilette auf seinen Doppelgänger.99 Dass die Begegnungen von Ernst Mach und Freud mit dem fremden und unheimlichen Selbst jeweils im Bus und in der Eisenbahn stattfinden, verweist auf die Vorgeschichte des Films als technische Mobilisierung des Blicks, die in der mechanischen Fortbewegung vorgezeichnet wird. Diese Mobilisierung des Menschen in der Eisenbahn als Mobilisierung des Blicks, während der Körper in Ruhe verharrt, trainiert den modernen Menschen für die Beschleunigungen in der Großstadt, für das Zeitalter der Industrialisierung und auch für das Kino. Der Kinobesucher muss erst das panoramatische, das schweifende und zerstreute Sehen üben,100 damit er nicht vor schnell bewegten Bildern von der Eisenbahnkrankheit befallen wird. Ganz nebenbei liefert die Zerstreuung bewegter Bilder dem Eisenbahn fahrenden Zuschauer auch Raum für Reflexion und Imagination, oder wie Joachim Paech formuliert: Der Reisende beginnt, sich seinen eigenen Gedanken und Träumen zu widmen oder in Büchern zu lesen […]. Das (literarisch) Imaginäre füllt nun den leeren Raum zwischen den beiden Punkten Abfahrt und Ankunft aus. Und ist es nicht folgerichtig, wenn später einmal an die Stelle des Abteilfensters eine Kinoleinwand tritt, die dem bloßen Bild der Bewegung mit bewegten Bildern die Inhalte zurückgibt, die mit der 101 Eisenbahnfahrt aus dem Blick geraten sind?

Durch das Auftauchen des Doppelgängers werden Psychoanalyse und Film aber einander selbst als Doppelgänger offenbar. Sie sind die Zwillingserben von Gothic Novel und romantischer Literatur. Während die romantische Rhetorik in der Psychoanalyse weiter in der Sprache fortwirkt, überwintert sie in technischer Bildform im Medium Film und schafft völlig neue Formen der unbewussten ästhetischen Erfahrung, die auf moderne Weise mit der Wahrnehmung von Plötzlichkeit und Schock arbeiten.102 Der Zug der Brüder Lumières zum Beispiel kommt 1895 im Pariser Grand Café in Form der L’Arrivée d’un train en gare de la Ciotat an und reißt die Zuschauer – so zumindest der Ursprungsmythos vom ersten Schockfilm – aus ihrer Erstarrung und ihren Kinosesseln und mobilisiert durch das 98 S. Freud: Das Unheimliche, S. 168. Anm. 99 Ebd. 100 Zum Konzept der Zerstreuung im Kino vgl. W. Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter. 101 J. Paech: Literatur und Film, S. 74. 102 Walter Benjamin schlägt den Begriff des »Chocs« zum ersten Mal nicht für die Mechanismen des Kinos vor, sondern für die poetischen Schrecken bei Charles Baudelaire. Vgl. W. Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter sowie Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1992. Identifiziert wird der »Choc« als Schrecken von Karl Heinz Bohrer nach Baudelaire vor allem bei Edgar Allan Poe und Ernst Jünger. Vgl. K.H. Bohrer: Ästhetik des Schreckens, S. 190-200.

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Sehen auch den Körper. Lorenz Engell beschreibt diese neue Formation des Blicks mit einem Zitat von Jerzy Toeplitz als Horizontverschmelzung mit dem neuen Medium: Für den kinematographischen Blick, wie ihn die kurzen Filme der Lumières auf die Wirklichkeit werfen, gab es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vorläufer. Die Sehgewohnheiten, die für das Kino spezifisch sind, hatten sich noch nicht gebildet. Der Filmhistoriker Toeplitz schreibt über Die Ankunft des Zuges: »Der Zuschauer, der oftmals mit Bestürzung die sich nähernde Lokomotive sah, wurde eins mit der Film103 kamera. Er sah den Zug mit den Augen der Kamera.«

Die Bewegung der Eisenbahn setzt sich also buchstäblich im Kino und als Effekt auch jenseits der Leinwand fort. Aus dem ruhenden Körper in der Eisenbahn wird im somatischen Kino des Schocks, dem Körper-Kino, wieder ein bewegter und erregter. Wenn auch damals wie heute kein Zuschauer tatsächlich aus dem Kinosaal gerannt sein mag, so sind Lust, Trauer, Furcht, Schrecken und Ekel bei der Betrachtung von Körperfilmen (Pornographie, Melodrama, Horror) durchaus physikalisch messbar.

5. Eine Doppelgängergeschichte Die entscheidenden Beiträge des Horrorfilms an dieser kleinen Geschichte des Blicks können an einer Entwicklung festgemacht werden, die Friedrich Kittler mit dem Dreischritt Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte bezeichnet.104 Der blinde Fleck in dieser Geschichte, das sei vorweggenommen, ist allerdings die Position des vierten Schritts. Denn während Kittler angesichts der Wirkungsforschung des Mediums Film eine Wahl zwischen Psychoanalyse und Psychotechnik eröffnet und sich für das Letztere entscheidet, kann man nicht umhin, angesichts der Wahl des Sujets stattdessen eine Medientheorie gelten zu lassen, die nicht aus der Psychotechnik stammt, sondern vielmehr aus der Phantastik oder Schauerromantik. Auch bei Kittler ist zunächst der »Doppelgänger […] der Geist der Dichtung«,105 weil im Medium Literatur die Identität von Original und Doppelgänger nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann – »einfach weil es 1828 Paßphotos und Fingerabdruckkarteien, anthropometrische Zahlen und Datenbänke noch nicht gibt«106: Erst im Konkurrenzkampf der Medien treten Symbolisches und Imaginäres auseinander. Freud überführt das Unheimliche der Romantik in Wissenschaft und Méliès in Unterhaltungsindustrie. Genau die Phantastik, die die Psychoanalyse zerlegt, implementiert, mit durchschlagendem Effekt, der Film. Dieser Zangengriff vertreibt die Doppelgänger aus ihren Büchern, die bilderlos werden. Auf Leinwänden aber feiern

103 Lorenz Engell: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt am Main, New York, Paris 1992, S. 53. 104 Friedrich Kittler: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 81-104. 105 Ebd., S. 82. 106 Ebd.

HORROR UND THEORIE|49 Doppel- oder Wiedergänger des Doppelgängers die Theorie des Unbewußten als Technik des Filmschnitts und umgekehrt.107

Fast ein Jahrhundert nach Adelbert von Chamissos Doppelgängergeschichte Erscheinung (1828) tritt dann die Psychoanalyse auf den Plan. Was bei Chamisso nach Kittler noch eine alkoholische Episode der Romantik war, wird in Otto Ranks Studie Der Doppelgänger (1914) zu »innerer Spaltung und Projektion«, die das Unbewusste repräsentieren, sei es als Nervenkrankheit oder Narzissmus.108 Die Psychoanalyse überführt Dichtung in Wissenschaft und lokalisiert literarische Phantasmen im Unbewussten. Sie misst »das Phantom unseres Ichs«109 aus, verräumlicht das Unbewusste zum spiegelnden Grund unseres Selbst und inszeniert einen psychoanalytischen Körper des Imaginären. Mit der Psychoanalyse weitet sich auch die literarische Semiotisierung von Körper und Unbewusstem auf den medizinischen und wissenschaftlichen Diskurs aus. Oberfläche und Tiefe, Außen und Innen des Menschen geraten gleichermaßen ins Blickfeld und werden zueinander in Beziehung gesetzt. Freud hat keine Filme analysiert, wohl aber Rank, dessen Filmpsychoanalyse als »Traumtechnik« Kittler nicht zu befriedigen vermag. Dieser belegt seine Kritik vor allem an Ranks Analyse von Stellan Ryes Doppelgängerfilm Der Student von Prag. In diesem Film verkauft der Prager Student Balduin dem Abenteurer Scapinelli für 100.000 Goldgulden sein Spiegelbild. Als er sich kurz darauf in eine junge Gräfin verliebt, will er sich mit ihrem Vetter, dem sie versprochen ist, duellieren. Durch Scapinelli verhindert, duelliert sich stattdessen sein Doppelgänger mit dem Nebenbuhler und tötet ihn. Bei seinem Versuch, dies vor seiner Geliebten zu rechtfertigen, erkennt sie, dass er kein Spiegelbild hat und verlässt ihn. Verzweifelt schießt Balduin auf seinen Doppelgänger und stirbt selbst dabei. Lotte Eisners Fazit lautet dazu romantikbewusst: »Als der STUDENT VON PRAG auf den Doppelgänger, sein Spiegelbild, schießt, auf jenen Bruder des Schattens, der für alle romantischen Gemüter das im Spiegel reflektierte Bild bedeutet, zerstört er sich selbst.«110 Der Student von Prag ist so erfolgreich, dass zwei Remakes folgen, 1926 und 1936. Rank analysiert nach Kittler allerdings den Film regressiv auf unbewusste Symboliken hin, »als wären Freuds manifester Trauminhalt und Unterhaltungsindustrie ein und dieselbe Oberfläche«111. Rank überführe den Film damit in romantische Doppelgängerdichtung zurück und lege ihn entsprechend wieder psychoanalytisch aus. Es ist, um Kittler zu ergänzen, eine Petitio 107 F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 230. 108 Vgl. Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Reprint der Ausgabe von 1925 mit einem Nachwort von Mladen Dolar (1914), Wien 1993. 109 E.T.A. Hoffmann: »Der Sandmann (1817)«, in: Ders.: Fantasie- und Nachtstücke. Mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel, München 1993, S. 331-363. Vgl. Friedrich Kittler: »›Das Phantom unseres Ichs‹ und die Literaturpsychologie«, in: Ders./Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt am Main 1977, S. 139-166 sowie Detlef Kremer: »›Ein tausendäugiger Argus‹. E.T.A. Hoffmanns ›Sandmann‹ und die Selbstreflexion des bedeutsamen Textes«, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 33 (1987), S. 66-90. 110 Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand. Hg. von Hilmar Hoffmann/Walter Schobert, Frankfurt am Main 1980, S. 131. 111 F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 95.

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principii, eine Vertauschung von Prämisse und Conclusio, in dieser psychoanalytischen Interpretationstechnik sichtbar, die man exemplarisch bei Rank als frühen Vertreter einer bestimmten Richtung in der psychoanalytischen Filmanalyse identifizieren kann, die in Teilen noch aktuell ist. Medientheoretisch betrachtet unterläuft Rank auch die strikte Trennung zwischen dem Symbolischen der Sinn stiftenden literarischen Kunst und der Implementierung des Realen durch die Sinne des Kinozuschauers. Er verwechselt den Film mit den Halluzinationen, die die filmische Literatur der Romantik evoziert. So kann Rank nicht den eigentlichen Einfluss des Mediums Film erfassen, der jenseits der technischen Spiegelung des Unbewussten durch Mechanismen wie Verdichtung und Verschiebung in Schnitt, Montage, Flashback, Zoom, Zeitraffer und Zeitlupe liegt. Aber man muss auch hinzufügen, dass die Figur des Doppelgängers wie auch andere phantastische Gestalten in der Romantik, die Kittler an dieser Stelle auslässt, schon im Medium der Literatur psychoanalytische Zugriffsweisen zu sprengen vermögen und sich analytisch nicht stillstellen lassen. Diese Beobachtung macht Kittler 1977 noch selbst in seinem Aufsatz Das Phantom unseres Ichs, in dem er die auf den Kastrationskomplex fokussierte Sandmann-Lektüre Freuds in eine offenere strukturalistische Textlektüre nach Jacques Lacan überführt.112 Nach den Gründen der Doppelgängerproduktion gerade in der Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts werde aber in den Rankschen »Zergliederungen romantischer Phantasie«113 nicht gefragt. Diesen Befund holt Kittler gewohnt medienobservativ nach: Doppelgänger tauchen nämlich immer am Schreibpult auf und müssen demnach Schreibtischwesen sein. Mit einem polemischen Seitenhieb auf Manfred Franks Versuch einer Definition des Subjekts um 1800 als »individuellem Allgemeinen«114 nihiliert er dessen Aussage zu dem Nicht-Individuum, dem Phantom der Schrift. Frei nach Goethes Aussage, »Es gibt keine Individuen. Alle Individuen sind auch genera«,115 kann es in der Kittlerschen Wendung im Medium der Schrift keine Singularitäten geben, und eben darum konnte man um 1800 an Doppelgänger glauben. Dieser Mangel an Singularität im Reich der Wörter dient der Installation einer Leerstelle, an der eine Lesetechnik der Identifikation möglich wird. Der Mann ohne Eigenschaften in der Literatur ist der Doppelgänger des Lesers: »Der Buchstabe wurde übersprungen, das Buch vergessen, bis irgendwo zwischen den Zeilen eine Halluzination erschien – das reine Signifikat der Druckzeichen.«116 Diese Technik hermeneutischer und halluzinatorischer Sinnstiftung funktioniert 1900 in der modernen Literatur nicht mehr. Zunehmend tritt der Körper des Textes in Form von Buchstaben, Satzspiegel und Materialität des Buches selbst in den Vordergrund, und auch der Doppelgänger wechselt den Ort. Er geistert nunmehr über die Leinwand und durch die modernen Verkehrsmittel Omnibus und Eisenbahn. Kittler konstatiert: »Seit 1895 treten auseinander: ein bilderloser Letternkult namens E-Literatur auf der einen Sei112 Vgl. F. Kittler: Phantom unseres Ichs sowie D. Kremer: Ein tausendäugiger Argus. 113 F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 84. 114 Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine, Frankfurt am Main 1977. 115 Friedrich Wilhelm Riemer: Mitteilungen über Goethe (1841). Hg. von Arthur Pollmer, Leipzig 1921, S. 261. Zitiert nach: F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 86. 116 Ebd., S. 88.

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te und auf der anderen lauter technische Medien, die wie Eisenbahn oder Film die Bilder motorisieren. Literatur […] gibt ihren Zauberspiegel an Maschinen ab.«117 Der Bildmotor Film misst seitdem das Reich des Unbewussten aus und übernimmt den Staffelstab des Phantastischen von der Literatur. Der Film speichert im Gegensatz zur Literatur aber den singulären Körper und zeigt präzise den doubelnden Schatten des gefilmten Schauspielers. Während Kittler in dieser Entwicklung im Sinne von Carlo Ginzburg nur die optimale Körperkontrolle als Lombrososche Spurensicherung feststellen kann118 und die Serienphotographie ihm schon positiv zum Lacanschen »zerstückelten Körper« oder noch zum Charcotschen »hysterischen Körper« wird,119 feiert Béla Balázs die Befreiung des Menschen in seiner neuen singulären – und das heißt auch: individuellen – Sichtbarkeit: Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat mit der Zeit das Gesicht des Menschen unleserlich gemacht. Sie haben so viel vom Papier lesen können, dass sie die andere Mitteilungsform vernachlässigen können. […] So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche. […] Nun ist eine andere Maschine an der Arbeit, der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben. Sie heißt Kinemato120 graph.

Während die moderne Literatur also den Weg der Sichtbarmachung des Körpers auf die Inszenierung von materieller Schrift- und Buchstäblichkeit verlegt und dadurch den literarischen Körper nicht mehr halluzinatorisch doppelt, macht sich das Medium Film auf, die inzwischen von der abgedankten romantischen Phantastik vorbereitete Medientechnik auf einer qualitativ völlig neuen Ebene fortzuführen. Ein neues technisches Dispositiv bemächtigt sich damit des Doppelgängers und anderer phantastischer Monster. Der Film führt den individuellen Körper von Mensch, Monster und Maschine in seiner ganzen Abmessbarkeit, Konstruiertheit und Codierungsmacht als abhängig vom Filmtrick vor. Lesen ist angesichts der modernen Phantastik überflüssig. Jeder kann seit Méliès die neuen Doppelgänger und »Zelluloidgespenster«121 sehen. Der Stopptrick, der durch kurzes Anhalten der Kamera bei einem fixen Kader Figuren beliebig verschwinden und auftauchen lassen kann, erschafft Doppelgänger in neuer Potenz. Eine neue Phase der Medienreflexion, der Körperwahrnehmung und -speicherung, eine ganz neue Phantastik der Körper, tritt in Kraft. Der Abgrund der literarischen Reflexivität, der für die Romantik 117 Ebd., S. 91. 118 Vgl. Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57. 119 Zur Wechselwirkung von Hysterie und Photographie vgl. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997. 120 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt am Main 2001, S. 16. 121 F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 97.

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von entscheidender Bedeutung war, wird um 1900 auf einer neuen medialen Ebene verhandelt und führt im Film zu einer paradoxalen Strategie: So entwickelt der Film im Kinosaal eine Technik der totalen Mobilmachung und Überwältigung des menschlichen Körpers und seiner Sinne. Er übersteigt sie, greift direkt auf das Unbewusste zu und erfüllt damit die spätromantische Vision vom Gesamtkunstwerk,122 die seit Richard Wagner Synästhesie oder Taktilität einfordert.123 Andererseits zeigt der Film zugleich mit den Monstern als den Helden dieser neuen Phantastik die Brüchigkeit und Fragmentarität dieser totalen Illusion, und zwar durch die Darstellung der Codierungsmacht des Mediums Film über den Körper im Viereck der Leinwand: »Klar ist dagegen, daß die Verfilmung selber verfilmt. Kinodoppelgänger führen vor, was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in Körperdatenbänke.«124 Aus Menschen werden gespeicherte Untote, werden Gespenster. Ewiges Leben auf Zelluloid ist die Wiederholung der immergleichen Geste, ein Automatismus, den nur ein zu einer geisterhaften Existenz Verfluchter ausführen kann. Wie der graue Teufel in Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) oder Scapinelli im Studenten von Prag verheißt der Film deshalb nicht ewiges Leben, sondern ewiges Untotsein – ohne Schatten und ohne Spiegelbild. Er zeigt Bilder von Menschen, die nicht mehr leben, gebannt auf Film und ohne Chance auf Ausbruch. Der Körper im Film kann als untoter und phantastischer Doppelgänger und damit als Effekt der vollständigen Abmessung und Rasterung begriffen werden. Der gespenstische Körper des Films kann im Sinne Vilém Flussers auch als »technisches Bild« oder »Technobild« verstanden werden: Diese scheinbare Objektivität meiner Landkarte […] beruht auf der Tatsache, daß sich diese Bilder Punkt für Punkt mit ihrer Bedeutung decken und daß sie die Intervalle zwischen diesen Punkten integrieren. Diese Objektivität ist aber nur scheinbar, weil die Bedeutung der technischen Bilder eben nicht die konkrete Welt dort draußen ist, sondern das klare und distinkte Begriffsuniversum. Es handelt sich in der Tat um »treue« Bilder, aber sie sind ihren Programmen treu, nicht ihrer vorgeblichen 125 Bedeutung.

122 Zur romantischen Vorprägung des Gesamtkunstwerks vgl. Detlef Kremer: »Ästhetische Konzepte der ›Mythopoetik‹ um 1800«, in: Hans Günther (Hg.): Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld 1994, S. 1127. 123 Vgl. Norbert Bolz: Theorie der neuen Medien, München 1990 sowie N. Bolz: Ende der Gutenberg Galaxis. 124 F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 98. 125 V. Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 52. Vgl. Vilém Flusser: Kommunikologie. Schriften. Bd. 4. Hg. von Stefan Bollmann/Edith Flusser, Mannheim 1996.

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Der filmische Körper in der Nachfolge romantischer Literatur und als Zwilling des imaginären Körpers der Psychoanalyse ist ein Metakörper, ein Zeichen, und er repräsentiert keinen menschlichen Körper mehr. Er hat sich von der Repräsentation im mimetischen oder referenziellen Sinne gelöst und reflektiert nur mehr die Konzepte und Programme des Films, seine Ästhetik, seine Narrative und seine Medialität.

Abb. 3: Urszene mit Atemgerät Abseits einer theoretischen Ablösung des opaken Reichs des Unbewussten durch das finstere Reich der Medien seit Psychophysik und Psychotechnik ist es deshalb der Horrorfilm selbst, der die Psychoanalyse einholt, indem er sie, wie im Fall des Doppelgängers, zu einem Element sowohl seiner Geschichte als auch seiner Ästhetik macht. Wer diese Entwicklung berücksichtigt, kommt auch nicht umhin, in einem Zweig der psychoanalytisch operierenden Filmwissenschaft, die immer über die Sexualität und die Familienverhältnisse des Horrorfilms genauestens Bescheid weiß, eine theoretische Ungleichzeitigkeit zu beobachten. Denn was wäre, wenn die Psychoanalyse zwar aufgrund ihrer historischen und strukturellen Verschränkung mit dem Horrorfilm so etwas wie den Generalschlüssel für den Zugang zum Horrorfilm bereit gestellt, aber der Film diese Theorie auch längst erkannt, kassiert und zur Grundfigur seiner eigenen Geschichten gemacht hat? Würde dann aus genau diesem Grund nicht jede Fortsetzung dieses theoretischen Ansatzes einen immer größeren Abstand zur spezifisch filmischen Differenz und seiner fortschreitenden Entwicklung bedeuten, so dass der Interpret sich bald nur noch an den Fäden entlang hangelt und in die Fallen hineintappt, die der Horrorfilm der schon längst verhandelten Theorie aufgestellt hat? Anders formuliert: Welchen filmwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn trägt zum Beispiel die Aussage, dass in einem Horrorfilm eine der entscheidenden Freudschen »Urszenen« – der kleine Junge kommt in das Schlafzimmer seiner Eltern, beobachtet beide beim Geschlechtsverkehr, und das ganze Dilemma seiner sexuellen Verbildung beginnt – auftaucht, wenn der Film nichts anderes durchführt, als genau diese Freudsche Urszene zu zitieren, um sie in einer spezifischen Erzählweise und Ästhetik, mithin einer verstörenden Devianz zu zeigen, wie zum Beispiel in David Lynchs Blue Velvet (US 1986) (Abb. 3) oder Shinya Tsukamotos Tetsuo II: The Body Hammer (JAP 1991)

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(Abb. 4)? Müsste nicht das Augenmerk genau auf die filmischen Differenzen, die Inszenierung der Unterschiede zur Freudschen Urszene, gerichtet sein? Wie der Film müsste deshalb auch die psychoanalytische Filmwissenschaft zunehmend reflexiv und historisch werden und im Sinne einer medienobservativen Psychosemiotik oder einer film- und medienphilologischen Betrachtung aufhören, den Film medienindifferent als Seelenlandschaft des Unbewussten zu betrachten.

Abb. 4: Urszene mit Pistole

6. Subliminal Images. Das Optisch-Unbewusste Ein frühes Beispiel für die Weiterentwicklung psychoanalytischer Betrachtertheorie liefert Walter Benjamin. Er nimmt dabei nur die Fäden auf, die zum gemeinsamen Ursprung von Psychoanalyse und Film zurückführen, um zu einem photographischen Konzept des »Optisch-Unbewussten« zu gelangen.126 Der Höhepunkt dessen, was Benjamin das »Optisch-Unbewusste« nennt, und was Siegfried Kracauer analog dazu in den kleinen Gesten des Films als eine Möglichkeit der Rettung der »äußeren Wirklichkeit« betrachtet,127 wird technisch verstärkt und ausgerechnet in der Gattung des Horrorfilms zur unsichtbaren Realität. Denn noch unterhalb der von der Psychoanalyse beschriebenen Abläufe des Unbewussten wie Verdichtung und Verschiebung, die in der Medientheorie mit den technischen Möglichkeiten der Montage des Films gleichgesetzt werden, operieren beispielsweise Subliminal Images, Bilder, die so kurz auf der Leinwand erscheinen, dass 126 Vgl. W. Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter, S. 36. 127 Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960). Hg. von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1985.

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sie die bewusste Aufmerksamkeit des Zuschauers unterlaufen und direkt auf das Unbewusste einwirken. Sie sind manchmal nur ein Frame, eine 24tel Sekunde, lang.

Abb. 5: Die unsichtbare Teufelsfratze Subliminal Images tauchen interessanterweise, nachdem sie zu einem Mythos unterschwelliger Beeinflussung in der Werbung (Subliminal Advertising) und nachdem »Gehirnwäsche« und »Mind Control« zu relevanten Themen in Politik, Wissenschaft und Kultur128 geworden sind,129 zum ersten Mal in dem ökonomisch bislang erfolgreichsten Horrorfilm auf: Williams Friedkins The Exorcist. Dort erhält der Teufel ein Frame lang ein Gesicht, während er sich ansonsten ausschließlich über Gesicht und Stimme des kleinen Mädchens Regan mitteilt, das er besetzt hält.130 (Abb. 5) Alfred Hitchcocks Metapher vom Kino als einer Orgel, auf deren Klaviatur der Regisseur mit den Gefühlen des Publikums spielt, wird mit der Möglichkeit des Films, das »OptischUnbewusste« technisch zu implementieren, zur manipulativen Realität vor allem im modernen Horrorfilm. Norbert Stresau spricht von einer »Zersplitterung der Wirklichkeit«131.

128 Für einen filmischen Niederschlag des Themas siehe vor allem John Frankenheimers The Manchurian Candidate (dt. Botschafter der Angst, US 1962). 129 Der Ursprung vom Mythos unterschwelliger Werbung scheint 1957 der angeblich durchgeführten Studie eines Werbeexperten namens James Vicary zu entspringen. Dieser gab vor, mit Insert-Botschaften wie »Drink Coca-Cola« und »Hungry – Eat Popcorn« den Umsatz in Kinos gesteigert zu haben. Vgl. Vance Packard: Die geheimen Verführer, Düsseldorf 1958. Zu Suggestion und Hypnose in den Medien allgemein vgl. Christina Bartz: »Telepathologien. Der Fernsehzuschauer unter medizinischer Beobachtung«, in: Irmela Schneider/ Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1, Wiesbaden 2002, S. 373-386. 130 William Friedkin benutzt diese Technik, soweit bekannt, mindestens noch in zwei weiteren Filmen: Cruising (US 1980) und Jade (US 1998). 131 Norbert Stresau: Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker, München 1987, S. 27.

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Weitere bekannte Beispiele für Subliminal Images im modernen Horrorfilm sind Twilight Zone – The Movie (dt. Unheimliche Schattenlichter, US 1983) von John Landis, Joe Dante, George Miller und Steven Spielberg zu der gleichnamigen Mysteryfernsehserie sowie David Lynchs Lost Highway, in dem für zwei Frames, also eine zwölftel Sekunde lang, nach einem tödlichen Schuss der getroffene Kopf von Mr. Eddy über die ganze Leinwand zerplatzt, um sich danach wieder zusammenzuziehen. (Abb. 6) David Fincher zeigt in dem Serial Killer-Film Se7en (Seven, dt. Sieben, US 1995) in einer vergleichbaren Hinrichtungsszene einen Frame lang den Kopf von Tracy Mills, nachdem das Paket, in dem vorgeblich ihr abgeschnittener Kopf steckt, der aber nie gezeigt wird, angekommen ist. (Abb. 7) In Finchers Fight Club (US 1999), der wie seine literarische Vorlage, Chuck Palahniuks gleichnamiger Roman, diese Technik auch thematisiert, wird der Topos des Doppelgängers durch verschiedene nur ein Frame lange Einblendungen von Tyler Durden, dem Alter Ego des namenlosen Erzählers, eingeläutet, noch ehe der namenlose Erzähler und Durden einander begegnet sind. Der Doppelgänger erscheint dabei jedes Mal im Blick des Erzählers.132

Abb. 6: Der unsichtbare Tod von Mr. Eddy Das filmische »Technobild« – nach Vilèm Flussers Definition das Produkt eines zuvor verschriftlichten Programms – wird in der zweiten Potenz daher noch mittelbarer. Es genügt nicht mehr, dass der Kinozuschauer den Kopf von der Leinwand der Platonischen Höhlenwand wendet, um den Projektor zu bemerken, sondern er muss inzwischen um den geheimen Einsatz von einmontierten Bildfragmenten oder um eine digitale Bildbearbeitung wissen, die schon in das Filmband selbst montiert sind. Diese Technik unterläuft noch jede Feststellung einer »Taktilität« (Marshall McLuhan) der neuen Medien. Ohne eine bewusste Erinnerung an die Bilder zu haben, nimmt das Unbewusste des Kinozuschauers den Schock der »zersplitterten Realität« des Horrorfilms, seines »Optisch-Unbewussten« auf.

132 Zum Thema der Subliminal Images in den Filmen David Finchers vgl. Frank Schnelle: »Bewahrer und Zerstörer – David Fincher und sein Kino der Tricks, Täuschungen und Doppelstrategien«, in: Ders. (Hg.): David Fincher, Berlin 2002, S. 17-60.

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Abb. 7: Der unsichtbare Kopf von Tracy Mills

K Ö R P E R -H O R R O R . D E R S P L A T T E R F I L M I. Horrorshow Greuelfilme wurden in letzter Zeit von Hollywood in einer solchen Zahl herausgegeben, dass sie zu einer alltäglichen Erscheinung geworden sind. Siegfried Kracauer Fun ist ein Stahlbad. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno

1. Filmschnitt Manchmal trifft man im Kino auf Filme, die einen buchstäblich zurückschrecken lassen oder ein Gefühl des Ekels evozieren. Dieser somatische Effekt stellt sich zumeist bei solchen Filmen ein, die die Grenzen des menschlichen Körpers ins Visier nehmen, diese erweitern, überschreiten oder verletzen. Da werden blutende Wunden in Detailaufnahmen gezeigt oder die Kamera wird zum Endoskop und dringt tief in den Körper ein. Wenn in einer MainstreamHollywoodproduktion wie Ridley Scotts Hannibal (US 2001) der Titel gebende Kannibale sich ohne Umschweife daran macht, einer Mitfigur die Schädeldecke zu öffnen, um dann Teile ihres Gehirns mit ein wenig Gemüse zu braten und gemeinsam mit ihr zu verspeisen, dann muss man sich fragen, aus welchem Arsenal diese Bilder wohl kommen mögen. Woher kommt es, dass ein Spielfilm das Innere des menschlichen Körpers zu seiner leitenden Ikonographie erhebt? Zur Beantwortung dieser Frage oder zumindest, um an den Ursprung dieser Filme zu gelangen, muss man sich einige Veränderungen im Kino, im Fernsehen und in der Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre anschauen. Denn just zu dieser Zeit brechen neue Bilder der Gewalt über das Fernsehund Kinopublikum ein. Im Kino gibt es Folgendes zu sehen: Night of the Living Dead 1968: Zombies machen Jagd auf die Lebenden, um sie zu verspeisen. The Last House on the Left (Mondo Brutale, Krug and Company, Sex Crime of the Century, dt. Das letzte Haus links, US 1971): Verbrecher vergewaltigen, foltern und töten zwei Mädchen, um dann von den Eltern des einen Mädchens brutal hingerichtet zu werden. Shivers (The Parasite Murders, They Came from Within, dt. Parasitenmörder, KAN 1974): Künstlich gezüchtete Sexparasiten machen aus den Bewohnern eines Hochhauses rasende Sex- und Gewaltzombies. The Texas Chainsaw Massacre 1974: Eine Südstaatenfamilie schlachtet Teenager ab, verspeist sie oder dekoriert mit ihnen das Haus. Halloween 1978: Ein Maskierter ersticht weibliche Teenager, die sich lieber mit Jungs treffen, als sich um ihre Babysitting-Pflichten zu kümmern.

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Der Sinn gesitteter Horrordramen wird im Splatterfilm durch die massive Attacke auf die Sinne des Kinozuschauers entsetzt und ersetzt. Die Hölle der Conditio Humana ist zu einem einzigen Dauerschock auf Filmlänge zusammengeschnitten. Doch das Medium Film referiert damit nicht nur auf zeitgenössische soziale und politische Gewaltzustände, sondern es rekurriert auch auf seine eigene Geschichte. Der Film zeigt im Modus des Splatterfilms seine Ursprünge, die nicht nur aus dem Symbolischen der Literatur kommen. Denn die Geschichte des Films ist auch eine Geschichte der Sensationen und des Spektakels. Es ist eine Geschichte des Jahrmarkts, des Rummelplatzes, der Freakshow und auch des Krieges.1 Kann aber die Literatur trotz aller grotesker Zergliederungsphantasien im Symbolischen noch von der Integrität und Unsterblichkeit ihrer Helden berichten, so muss der Film in seiner umbarmherzig fragmentarischen Darstellung des Realen seine Lückenhaftigkeit eingestehen. Er zeigt immer nur den unveränderlichen Schatten des Körpers, oder technisch ausgedrückt: die stillgestellten 16 bis 24 Bildausschnitte aus einer möglichen unendlichen Auswahl an Bildern in der Sekunde: »Eine Reproduktion, die der Gegenstand selber beglaubigt, ist von physikalischer Genauigkeit. Sie betrifft das Reale von Körpern, wie sie mit Notwendigkeit durch alle symbolischen Gitter fallen. Medien liefern immer Gespenstererscheinungen. Denn für Reales ist, nach Lacan, noch das Wort Leiche ein Euphemismus.«2 Schon zu Beginn des Horrorfilms verkörpert sich deshalb die Unsterblichkeit, die den Körpern in der Literatur noch zu eigen ist, bei Stellan Rye, Robert Wiene, Friedrich Wilhelm Murnau und Paul Wegener nicht in den Filmhelden, den Stars, sondern in den lebenden Toten und den fragmentierten Körpern. Die Frage nach dem Ursprung des Horrorfilms ist deshalb unmittelbar mit dem Beginn des Mediums Film und dem Schauwert von Horror selbst verbunden, wie Walter Serner bereits 1913 feststellt: Und schaut man dahin, […] so steht mit einem mal riesengroß da: Schaulust… Nicht die harmlose, der nur Bewegung oder nur Farbe oder beides alles ist, sondern die, welche eine furchtbare Lust ist und nicht weniger gewaltig als die tiefste; […] Jene Schaulust, die […] Ströme Blutes aus enthaupteten Rumpfen [sic!] brechen und hinter den gegenüberliegenden Fenstern die wüstesten Debauchen sah. Und die noch heute ihren alten schweren Blutrausch hat: gierig trinkt sie den roten Strahl […]. 3 Feuer und Blut.

Serner erklärt Schaulust zeitgemäß aus der unterdrückten Sexualität, die in entäußerten Produkten der Gewalt unheimliche und monströse Gestalt annimmt. Er verurteilt Schaulust deshalb nicht, sondern betrachtet sie als legi1 2

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Vgl. D.J. Skal: The Monster Show, S. 15-35 sowie S. 63-79. F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 22. Kittler verwendet das Begriffsinstrumentarium Jacques Lacans, wie das »Imaginäre«, das »Symbolische« und das »Reale«, in einem ausschließlich medialen Sinn, so dass das nach Lacan mit den Sinnen nicht erfassbare »Reale« bei Kittler die Materialität einer körperlichen Welt bezeichnet, die mit technischen Medien aufgezeichnet und wiedergegeben werden kann. In diesem medialen Sinn wird der Begriff des »Realen« auch in dieser Studie verwendet. Walter Serner: »Kino und Schaulust (1913)«, in: Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 208214, hier S. 208-209.

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time Fortsetzung einer Reihe von Spektakeln, wie den Gladiatorenspielen in der Antike oder öffentlichen Hinrichtungen im Mittelalter. Die Vorläufer der Horrorshow korrespondieren dabei zu der Schockwirkung, die das Medium Film auf seine frühen Zuschauer hat. Horror und Terror, Furcht und Schrecken sind neben der Gattungsvermischung, der Technik von fragmentarischer Aufzeichnung und von Schnitt und Ausschnitt, dem Film von Beginn an immanent. Die ersten Großaufnahmen des menschlichen Gesichts in Filmen von D.W. Griffith jagen dem Publikum Angst ein, weil es auf der Leinwand abgeschnittene Köpfe zu sehen glaubt.4 Zur Urszene für den technischen Horror als Horror der Technik ist neben dem Mythos von der somatischen Schreckreaktion des Publikums 1895 bei der gefilmten Ankunft des Zuges der Brüder Lumières die filmhistorische Anekdote von Georges Méliès’ zufälliger Entdeckung des Stopptricks geworden:5 Wollen Sie wissen, wie mir die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Wirklich, das war ganz einfach! Eine Panne des Apparats, dessen ich mich anfangs bediente (ein ganz einfacher Apparat, in dem der Film oft zerriß oder hängenblieb und nicht weiterlaufen wollte), hatte eine unerwartete Wirkung, als ich eines Tages ganz prosaisch die Place de l’Opéra photographierte. Es dauerte eine Minute, um den Film freizubekommen und die Kamera wieder in Gang zu setzen. Während dieser Minute hatten die Passanten, Omnibusse, Wagen sich natürlich weiterbewegt. Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine-Bastille sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden. Der Trick durch Ersetzen, Stopptrick genannt, war gefunden, und zwei Tage später begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Menschen und Dinge plötzlich einfach verschwinden zu lassen, was anfangs ja großen Erfolg hatte. Mit diesem ganz einfachen Trick schuf ich die ersten Feerien: LE MANOIR DU DIABLE, LE DIABLE AU COU6 VENT, CENDRILLON usw.

Seit dieser Episode verfügt der Film über ein Repertoire der Phantastik, das Gegenstände und Figuren beliebig im Raum verschieben, verschwinden und wieder auftauchen lassen kann. Aber auch der Horror, der durch realistische Gewalt erzeugt wird, findet sich früh in der Geschichte des Films: Thomas A. Edison dokumentiert darin [in seinem Kurzfilm Electrocution of an Elephant, US 1909, A.M.] die von ihm selbst vorgenommene Exekution des Elefanten Topsy durch elektrischen Strom. Der Film zeigt nichts als den Vorgang selbst: elektrische Kontakte an den Füßen des Tieres verrichten mit starker Rauch4

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Vgl. Friedrich Geyrhofer: »Horror und Herrschaft«, in: Karsten Witte (Hg.): Theorie des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt am Main 1972, S. 55-60, hier S. 55. Vgl. J. Paech: Literatur und Film, S. 101-103. George Méliès: »Die kinematographischen Bilder (1907)«, in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt am Main 2004, S. 31-43. Méliès setzt damit die Tradition der Zauberkunststücke mit filmischen Mitteln fort, wie das paradigmatische Verschwinden einer Dame in Escamotage d’une dame au théâtre de Robert Houdin (engl. Conjuring of a Woman at the House of Robert Houdin, The Vanishing Lady, F 1896).

62|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM entwicklung ihr tödliches Werk und bringen es binnen weniger Sekunden zu Fall. Wie der Schaukampf-Film zeigt »Electrocution of an Elephant« nichts als das Ereignis selbst, was den Zuschauer ohne Vor- und Nachbereitung ganz dem verstören7 den Schauspiel überlässt.

Der Schrecken, der durch die Darstellung von Gewalt im Film erzeugt wird, bestimmt neben der dokumentarischen Tötung des Elefanten schon früh die filmische Auswahl literarischer und historischer Geschichten. So berichtet Siegfried Kracauer folgendermaßen von der Enthauptung Maria Stuarts als Kurzfilm: »Unter den ersten Filmen, die je gedreht wurden, befindet sich der winzige amerikanische Streifen The Execution of Mary Queen of Scots aus dem Jahre 1895: die Königin beugt sich über den Richtblock, und der Henker schlägt ihr den Kopf ab, den er dann erhobenen Armes dem Publikum vorstellt.«8 Aller politisch sensiblen und pädagogischen Dramatisierungen der Geschichte von Maria Stuart, zum Beispiel bei Friedrich Schiller (1800), zum Trotz interessiert den Film allein das brutale Ende der Figur, und Kracauers Fazit muss angesichts dieser beispiellosen Reduktion und Pointierung von Geschichte auf den Schauwert von blutiger Gewalt lauten: »Wie die paar Meter Zelluloidband beweisen, wohnt der Filmkunst von Anfang an jener Hang zum Grauen inne, von dem getrieben sie im Verlaufe ihrer fünfundvierzigjährigen Geschichte immer wieder Ereignisse veranschaulicht, die Entsetzen wecken.«9 Kracauer entwickelt aus dieser Erkenntnis überdies schon eine frühe Theorie des Splatterfilms: »Der Film strahlt die Erscheinung des Entsetzlichen an, dem wir sonst im Dunklen begegnen, macht das in Wirklichkeit Unvorstellbare zum Schauobjekt.«10 Diese Theorie macht das Schreckliche des Films an seiner einzigartigen Fähigkeit fest, das Reale aufzuzeichnen. Der Film ist eine Sichtbarmachungstechnik für das Monströse. Abgefedert wird dieses »Entsetzliche« im Film, das auf einer möglichst realistischen Darstellung des Monsters oder der Gewalt beruht, häufig durch Strategien der Rahmung und Spiegelung. In Horrorfilmen gibt es deshalb immer wieder Bühnenkonstruktionen und Schuss-Gegenschuss-Montagen, die zwischen dem entsetzlichen Geschehen auf der Bühne und den Gesichtern des entsetzten Publikums wechseln. So wandelt sich auch das Erschrecken des Kinobesuchers in dem Moment der Erkenntnis, dass alles nur Theater, nur Film ist, in Erleichterung und schlägt in die erhabene Angst-Lust des Horrors um.

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Daniel Kothenschulte: »Lohn der Angst. Die Gewalt im Kino«, in: Kursbuch Gewalt 147. Berlin 2002, S. 23-29, hier S. 28. 8 Siegfried Kracauer: »Das Grauen im Film (1940)«, in: Ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hg. von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1974, S. 2527, hier S. 25. Die Tatsache, dass einer Königin der Kopf abgeschlagen wird, führt Annette Brauerhoch wie selbstverständlich zur Zuspitzung der Urszene des Horrorfilms als ein Bild von Weiblichkeit, »[…] ein Bild, das als Metapher für heutige Horrorfilme gelten kann und in sich schon das Motiv vom Horror des Weiblichen – das abgeschlagene Haupt der Medusa – trägt«. A. Brauerhoch: Gute und böse Mutter, S. 135. 9 S. Kracauer: Grauen im Film, S. 25-26. 10 Ebd., S. 26.

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2. Grand Guignol Auf eine wichtige Station innerhalb dieser Tradition von der Wechselwirkung der Darstellung realistischer Gewalt mit dem Hinweis auf die Artifizialität der Theatralität oder Szenographie11 des Gezeigten weist Neil Jordans Verfilmung von Anne Rices Roman (1976) Interview with the Vampire (dt. Interview mit einem Vampir, US 1994) hin. Die amerikanischen Vampire Louis und Claudia besuchen, nachdem sie vermeintlich ihren vampirischen Schöpfer, den französischen Vampir Lestat getötet haben, zum ersten Mal die alte Welt Europa. Louis’ Wunsch, andere Vampire zu treffen, um mehr über seine Existenz zu erfahren und ihr dadurch Sinn zu verleihen, wird in Paris erfüllt. Beide besuchen dort das Théâtre des Vampires. Dort sehen sie, wie ein junges Mädchen auf der Bühne von einem Dutzend Vampire ausgezogen, verhöhnt, gequält und bis zum Tode ausgesaugt wird, während das Publikum rätselnd, erstaunt und begeistert vor dem Realismus der schockierenden Aufführung steht. (Abb. 8) Die Hilferufe des Mädchens von der Bühne bleiben ungehört, weil sie als Teil der Aufführung gelten. Die Reaktion der kindlichen Vampirin Claudia auf die Vorführung der Vampire, die sich als Menschen ausgeben, die Vampire spielen, lautet kennerhaft und ein wenig abfällig: »How avantgarde.« Nicht nur dem Mythos vom Snuff-Film12 wird an dieser Stelle Reflexionsraum gewährt, sondern auch der exploitativen Vorgeschichte des Sensationsmediums Film überhaupt. Das Treiben der Vampire wird von Louis und Armand, dem abtrünnigen Anführer der Pariser Vampire, als dekadentes Nachspiel und als die Wiederkehr des Immergleichen, als das Abspulen antiquierter und überkommener Handlungsweisen und Gesetze charakterisiert. Die Vampire von Paris haben sich überlebt. Sie kennen keinen Fortschritt und sind der Moderne nicht zugewandt. Sie bilden allein die Schrecken der Vergangenheit ab und gleichen in dieser Definition präzise dem medialen Untotsein im Film: verdammt, unsterblich zu sein und auf ewig die immer gleichen Handlungen zu vollziehen. Interview with the Vampire verweist mit diesen Theaterszenen aber auch auf eine reale Institution in der Vorgeschichte der filmischen Horrorshow, auf das berühmte Pariser Théâtre du Grand Guignol. 1897 wird es von dem ehemaligen Polizeichef Oscar Méténier gegründet und 1899 von Max Maurey übernommen. Es bringt Stücke auf die Bühne, die man heute als eine Mischung aus politisch-satirischer Groteske und situativer Exploitation mit blu11 Zum Konzept der Szenographie vgl. Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg im Breisgau 2000, besonders S. 11-32. 12 Zum Thema »Snuff-Film«, einem Genre, das vermeintlich reale Gewalt bis zum Mord vor der Kamera abfilmt, kann im Rahmen dieser Studie nur auf folgende Stellen in der Sekundärliteratur verwiesen werden. Vgl. Georg Seeßlen: Der pornographische Film. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main, Berlin 1993, S. 269-273; Linda Williams: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films, Basel, Frankfurt am Main 1995, S. 245-251; Scott Aaron Stine: The Gorehound’s Guide to Splatter Films of the 1960s and 1970s, Jefferson, London 2001, S. 249-258 sowie David Kerekes/ David Slater: Killing for Culture. An Illustrated History of Death Film from Mondo to Snuff, London 1995.

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tiger Gewalt, Folter und Grausamkeit umschreiben würde und die als direkte Vorläufer des Splatterfilms gelten können. Das Theater geht dabei durchaus mit der Zeit und ersetzt zum Beispiel die alten Mordwerkzeuge des Theaters wie Dolch, Pistole und Gift nach dem Ersten Weltkrieg durch neue Folterund Todestechnologien wie Elektroschock, Dynamit und chirurgische Verstümmelung.13 Ein Ausschnitt aus einem, wenn auch parodistisch überhöhtem, Grand Guignol-Stück zeigt das Wesentliche des zeitgenössischen Geschmacks: Dritte Szene Dieselben; die Kranke Man bringt die Patientin, und Doktor Coaltar beginnt mit der Operation. Das Blut fließt. Plötzlich ertönen draußen schreckliche Schreie. DER DOKTOR fährt hoch Was ist das denn? Machen Sie doch die Tür zu! Verdammt noch mal! Einer der Stationsärzte geht und macht die Tür zu. In diesem Augenblick zersplittert die Fensterwand in tausend Stücke. Ein Schnellzug, der mit voller Geschwindigkeit herbeigebraust ist, ist entgleist und hat sich in die Mauern des Krankenhauses gebohrt. In der Decke zeigen sich Risse. Der Putz fällt herunter und füllt den klaffenden Bauch des Kranken. 1. STAT. Wie grauenhaft! Die russischen Anarchisten haben den Zug hochgehen lassen, in dem sich General Kurnonsky befand. DIE KRANKE wacht auf Hilfe! 1. STAT. zu Doktor Coaltar Was sollen wir bloß machen? Die Chloroformflasche ist runtergefallen! DER DOKTOR Dann versetzen Sie sie eben in hypnotischen Tiefschlaf! Der 2. Stationsarzt schaut die Patientin bohrend an, die markerschütternde Schreie ausstößt. Draußen erfolgen weitere Explosionen. Der abgeschnittene Kopf General Kurnonskys wird ins Zimmer geschleudert und rollt mit vom Todeskampf verzerrten Gesicht bis auf die Vorderbühne. DER DOKTOR der infolge einer allzu heftigen Gehirnerschütterung plötzlich verrückt wird, bricht in sardonisches Gelächter aus Hahaha! 1. STAT. zum 2. Stationsarzt Sieh Dir das an! Was macht denn der da, mein Gott? DER DOKTOR zerschneidet die Kranke Ha! Der Hintere Orient! Hoh! Meine sämtlichen Erinnerungen an die Kolonialzeit kommen wieder hoch! Hi! Die chinesische Folter der 18000 Stückchen! Schnipp! Schnapp! Er zerteilt die Patientin mit schwindelerregender Virtuosität. […] DER DOKTOR nimmt die Zerteilung des 16000. Stückchens in Angriff Ha! Ha! Haha! In diesem Augenblick erschüttert eine gewaltige Detonation erneut die Atmosphäre. Die benachbarte Pulvermühle ist in die Luft gegangen. Der Schock pulverisiert die Glasbehälter des Laboratoriums. Einer davon enthielt eine todbringende Tetanus-

13 Vgl. Maerz: »Grand Guignol. Ein Essay über Frankreichs blutiges Theater«, in: Thomas Gaschler/Eckhard Vollmer (Hg.): Dark Stars. 10 Regisseure im Gespräch, München 1992, S. 214-227, hier S. 223.

KÖRPER-HORROR. DER SPLATTERFILM|65 kultur. Die beiden Stationsärzte, die sofort davon angesteckt werden, wälzen sich 14 unter gräßlichen Schreien auf der Erde.

Das Theater schließt endgültig erst 1962. Der Begriff des »Grand Guignol« ist, wie inzwischen die Begriffe »Splatter-« und »Horrorfilm« auch, zum stereotypen Synonym für die exploitative und reißerische Zurschaustellung von blutiger Gewalt und Grausamkeit geworden. Frühe Verbindungen zwischen dem Horrorfilm und dem Grand Guignol sieht Maerz in Terence Fishers Curse of Frankenstein (dt. Frankensteins Fluch, GB 1957) und schon in Méliès’ Chirurgien Américain (F 1897) »über einen Landstreicher, der in seine Einzelteile zerlegt und neu rekombiniert wird« sowie in seinem Hydrothérapie Fantastique (F 1909): »Ein fetter Mann platzt beim Arzt und wird wieder zusammengesetzt.«15

Abb. 8: Théâtre des Vampires Nicht von der Hand zu weisen sind vor allem die ästhetischen Übernahmen des Grand Guignol in den Filmen von Herschell Gordon Lewis, der neben der Errichtung des Chicagoer Theaters mit dem sprechenden Namen »The Blood Shed« als erster Filmemacher Spielfilme auf die Leinwand bringt, in denen es ausschließlich um sichtbare blutige Wundästhetik geht. Sein erster Film Blood Feast kommt exakt ein Jahr nach der Schließung des Théâtre du Grand Guignol in die Kinos. Einige von Lewis’ Filmen nehmen wie The Wizard of Gore (US 1970) oder The Gore Gore Girls (US 1971) direkt auf das Geschehen einer Varietébühne Bezug. Joel Reeds Bloodsucking Freaks (The Incredible Torture Show, US 1976) fasst als Fortsetzung der Filme Lewis’noch einmal alle Mythen zu dieser blutigen Form des Theaters zu14 Paul Reboux: Doktor Coaltar. Zitiert nach: Kersten Neubaur/Caroline Neubaur (Hg.): Grand Guignol. Das Vernügen, tausend Tode zu sterben. Frankreichs blutiges Theater, Berlin 1976, S. 74-76. 15 Maerz: Grand Guignol, S. 225.

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sammen und bezieht seine sadistisch blutige Horrorshow vor und hinter der Bühne eindeutig auf die dramatischen Vorlagen des Grand Guignol.

3. Die Klassik Die Geschichte des frühen Horrorfilms kann als eine vornehmlich amerikanische Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Trotz einiger international wirkmächtiger deutscher Filme aus der Weimarer Zeit, wie Das Cabinet des Dr. Caligari oder Nosferatu, sind die ersten und nachhaltigsten Erfolge des Horrorgenres Produkte des amerikanischen Unternehmens Universal Studios, die Adaptionen bekannter Bühnenstücke, beispielsweise nach den Romanen Frankenstein und Dracula, auf die Leinwand bringen: Aber nicht in Deutschland wurde der Horrorfilm als ein eigenes, konventionalisiertes Genre ausgebildet. Filme wie Murnaus Nosferatu und Langs M haben – gerade wegen ihrer individuellen Qualität – keine Grenze zwischen den nah verwandten Sparten Horror- und Kriminalfilm beschrieben. Das blieb der industriellen Organisation Hollywoods mit ihrer arbeitsteiligen Routine und den festgelegten Schablonen vorbehalten. Damit wurde der Horrorfilm von jener aufgedunsenen Symbolik befreit, die ihm ein kommerzialisierter Expressionismus aufgehalst hatte: das Verbre16 chen als Erbsünde, der Staatsanwalt als Würgeengel.

Friedrich Geyrhofer formuliert damit das amerikanische Prinzip der Ausdifferenzierung des Systems »Horrorfilm«, das schon in den Texten Edgar Allan Poes als Aufspaltung der spannenden, rätselhaften, unheimlichen und schrecklichen Momente in die beiden Genres Detektiv- und Horrorgeschichte stattfindet. Formelhaft verdichtet werden die Figuren der Schauerromantik in den Filmen der Universal Studios fortgesetzt. Der singuläre Körper der Gothic Novel-Monster tritt über den Umweg der Theaterbühne direkt und zuweilen mit denselben Schauspielern, wie zum Beispiel Béla Lugosi in seiner Dracula-Rolle, auf die Leinwand.17 Die ersten Monsterfilme werden auch schnell selbst zu Ausgangspunkten für filmische Reihen, die mit den bewährten Formeln weiterarbeiten, sie wiederholen, serialisieren und untereinander kombinieren. Nachhaltig einflussreiche Filme sind James Whales Frankenstein und The Bride of Frankenstein (dt. Frankensteins Braut, US 1935) (Abb. 10), Tod Brownings Dracula (Abb. 9), Karl Freunds The Mummy (dt. Die Mumie, US 1932) und George Waggners The Wolf Man (dt. Der Wolfsmensch, US 1941).

16 F. Geyrhofer: Horror und Herrschaft, S. 55-56. 17 Zu den Universal-Monstern und ihrer Vorgeschichte im Theater vgl. D.J. Skal: Monster Show, S. 81-159.

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Abb. 9: Béla Lugosi als Dracula Filme wie Arthur Lubins Version von The Phantom of the Opera (dt. Das Phantom der Oper, US 1943), Rouben Mamoulians Dr. Jekyll and Mr. Hyde (dt. Dr. Jekyll und Mr. Hyde, US 1932) und Whales The Invisible Man (dt. Der Unsichtbare, US 1933) erhalten nicht ganz den ikonischen Status der Universal-Stock-Monster, aber finden ebenfalls ihre zahlreichen Fortsetzungen, Neuauflagen und Bearbeitungen in der Filmgeschichte. Beispiele für die freie Kombinatorik der Monster in den Filmen der Universal Studios sind Roy William Neills Frankenstein Meets the Wolfman (US 1943) und Erle C. Kentons House of Frankenstein (US 1944), in dem Graf Dracula sowohl auf den Wolfsmenschen als auch auf Frankensteins Monster trifft. Diese Konstellation wiederholt sich auch im nächsten Jahr in Kentons House of Dracula (The Wolf Man’s Cure, US 1945).

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Abb. 10: Frankensteins Braut Im Gegenzug zu den rasch formelhaft verdichteten Filmen der Universal Studios entwickeln RKO (Radio-Keith-Orpheum) Pictures vor allem unter der Produktion von Val Lewton neue narrative und ästhetische Konzepte und vor allem neue Monster. Hervorzuheben sind Ernest Schoedsacks Filme King Kong (dt. King Kong und die weiße Frau, US 1933) zusammen mit Merian C. Cooper nach einer Kurzgeschichte von Edgar Wallace, und zusammen mit Irving Pichel The Most Dangerous Game (The Hounds of Zaroff, dt. Graf Zaroff – Genie des Bösen, US 1932). Jacques Tourneur entwickelt für RKO Pictures und andere Unternehmen mit The Cat People (dt. Katzenmenschen, US 1942), I Walked with a Zombie (dt. Ich folgte einem Zombie, US 1943), The Leopard Man (US 1943) und Night of the Demon (Curse of the Demon, dt. Der Fluch des Dämonen, GB 1957) originelle Konzepte von Filmmonstern, aber vor allem eine neue Subtilität des Horrorfilms. In diesen Filmen erschaffen vorrangig die leise Andeutung und das Spiel mit Licht und Schatten einen Effekt des Unheimlichen und des Monströsen – genau wie im Genre des Film Noir,18 zu dem Tourneur mit Out of the Past (Build my Gallows High, dt. Goldenes Gift, US 1947) einen bedeutenden Beitrag leistet.

18 Zum Film Noir weniger als Genre, sondern als Set formaler Mittel vgl. Burkhard Röwenkamp: Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei, Marburg 2003.

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Abb. 11: Christopher Lee als Graf Dracula Neben den Monsterfilmen der 1950er Jahre, die mit dem Genre des Science Fiction-Films verschmelzen und die unwägbaren Gefahren unkontrollierter Wissenschaft zeigen,19 sind es vor allem britische Filme, die die Tradition des phantastischen Horrorfilms fortsetzen. Die Filme der Hammer Film Productions und die Anthologiefilme von Amicus Productions20 prägen das Bild des Horrorfilms in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren. Inhaltlich bieten sie einen direkten Anschluss an die Filme der Universal Studios, variieren aber die Stoffe und die Ästhetik der ikonischen Figuren. Neu ist die Sichtbarkeit von Gewalt, die sich in der Darstellung von Blut und zunehmend auch in der Inszenierung von Grausamkeit zeigt. In Terence Fishers Curse of Frankenstein fließt zum ersten Mal in einem Horrorfilm Blut in grellem Technicolor-Rot über die Kinoleinwand. Fisher ist auch für die Wiederbelebung der anderen Monster verantwortlich und inszeniert neben Frankenstein und seinen Fortsetzungen den Großteil der Dracula-Reihe (GB 1958ff.) oder auch The Mummy (dt. Die Rache der Pharaonen, GB 1959) und seine Fortsetzungen. Bekannt werden durch diese Filme die Schauspieler Christopher Lee (Abb. 11) und Peter Cushing, die zumeist als Antagonisten auftreten. Die drastischen Blutinszenierungen der Hammer-Filme können als filmische Vorstufen der Splatterästhetik gesehen werden. Das Arsenal der Monster bleibt allerdings weitgehend mit dem des klassischen Horrorfilms der Universal Studios identisch.

19 Vgl. Gordon Douglas’ Them! (dt. Formicula, US 1954), Jack Arnolds It Came From Outer Space (dt. Gefahr aus dem Weltall, US 1953), Creature from the Black Lagoon (dt. Der Schrecken des Amazonas, US 1954), Tarantula (US 1955) sowie The Incredible Shrinking Man (dt. Die unglaubliche Geschichte des Mr. C., US 1957). 20 Zu den bekannteren Amicus-Filmen gehören Freddie Francis’ Dr. Terror’s House of Horrors (dt. Die Todeskarten des Dr. Schreck, GB 1964) und Tales from the Crypt (dt. Geschichten aus der Gruft, GB 1971) sowie Roy Ward Bakers Asylum (dt. Irrgarten des Schreckens, GB 1971). Vgl. dazu Christian Keßler: »Der lateinische Freund des großen Hammers. Die Episodenfilme von Amicus«, in: Splatting Image 57 (März 2004), S. 15-22.

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Abb. 12: Vincent Price als Charles Dexter Ward Zeitgleich reüssieren in den USA die Filme der American International Pictures (AIP). Das Unternehmen produziert seit 1954 den Großteil an amerikanischen B-Pictures: vor allem Horror-, Science Fiction- und TeenagerFilme. Ihr bekanntester Regisseur und Produzent ist Roger Corman, der mit seinem Zyklus um die Verfilmungen der Erzählungen von Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft dem Horrorfilm neue Elemente in Erzählweise und Gestaltung verleiht.21 Neben Boris Karloff, Basil Rathbone und Peter Lorre ist das Gesicht der Filme Cormans vor allem das von Vincent Price, der häufig die Schurkenrolle übernimmt. (Abb. 12)

4. Wundfabrikation Eine völlige Neuorientierung und einen Modernitätsschub in der technisch übersetzten Konsequenz vom Film- zum Köperschnitt erhält der Horrorfilm zumindest andeutungsweise 1960 mit Alfred Hitchcocks Psycho (US 1960) und Michael Powells Peeping Tom (dt. Augen der Angst, GB 1960). Beide stellen statt des phantastischen Monsters, dem die Monstrosität am nichtmenschlichen Körper ablesbar ist, die Figur des menschlichen, psychopathischen Serial Killers in das Zentrum des Geschehens. Die noch deutlich mit dem Inventar des Gothic Horrors versehenen Filme sind schon sichtbar Ergebnisse ihrer Psychoanalysen und fokussieren ihre Geschichten auf den Freudschen »Familienroman«. Nach Psycho und Peeping Tom bricht der Realismus in Form einer Überbietungslogik von Gewalt in den Horrorfilm ein. Denn noch 1960 ist die Gewalt indirekt. Die berühmte Schnittsequenz des Duschmordes in Psycho zeigt noch in schneller Abfolge allein die Filmkader um die tödlichen Wunden herum. (Abb. 14) In Peeping Tom, in dem der Serial Killer seine Opfer filmt, während sie vom Stativbein erstochen werden, und der Akt des Filmens zum Thema wird. (Abb. 13) Aber auf diese Weise führt Peeping Tom schon filmisch die Mechanismen des Kinos selbst vor und leitet damit eine neue Ära des modernen Horrorfilms ein. Der Film erzählt die Geschichte des Kameramanns Mark Lewis, der als Kind von seinem Vater in der Weise missbraucht wird, dass er ständig unter Beobachtung steht und verschiedenen Angstexperimenten ausgesetzt wird. Seither ist er gezwungen, immer wieder in die von Todesangst gezeichneten Gesichter seiner Mordopfer zu schauen. Er hat 21 Zum Verhältnis von Literatur und Film bei Edgar Allan Poe vgl. Eva-Maria Warth: The Haunted Palace. Edgar Allan Poe und der amerikanische Horrorfilm (1909-1969), Trier 1990.

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deswegen eine einzigartige Mordwaffe konstruiert, die mit einer Filmkamera identisch ist. Um die ödipale Konstruktion und damit den Freudschen Hintergrund der Geschichte zu komplettieren, wird Lewis’ Vater von dem Regisseur Michael Powell selbst gesprochen.

Abb. 13: Die Kamera als Mordwerkzeug Drei Jahre nach Psycho und Peeping Tom werden die blutigen Folgen von Horrorshow, Grand Guignol, Filmschnitt und grotesker Zergliederungsphantasie auf der Leinwand sichtbar: in Herschell Gordon Lewis’ Blood Feast. Der Film beginnt in Anspielung auf den schnell zum Klischee erstarrten Ort männlicher Gewalt an hilflosen nackten Frauen im Bad. Während eine junge Frau badet und aus dem Radio die Warnung vor einem Serienmörder erklingt, dringt der Mörder mit einem großen Messer in den Raum ein und beginnt ohne Umschweife, auf die Frau einzustechen und ihr mit dem Messer erst ein Auge zu entnehmen und dann ein Bein abzuschneiden. Die Kamera zeigt das langsame Geschehen unbewegt und aus einer distanzierten Nahaufnahme, die keinen Zoom erlaubt, heraus. Nur kurz gibt es eine Schuss-Gegenschuss-Einstellung, die aber keinen Blick des Opfers mehr zulässt, da es schon tot ist und ihm überdies schon das Blut aus dem Auge fließt. Der Mörder Ramses, Betreiber eines ägyptischen Catering-Services, entpuppt sich als wirrer Diener der Göttin Ischtar, die er mit Körperteilen, die er seinen weiblichen Opfern abschneidet und neu zu einem Körper zusammensetzt, in neuer Gestalt heraufbeschwören möchte. Blood Feast besteht zu einem großen Teil aus einer Reihe von blutigen Set Pieces, in denen Mädchen gequält und zerschnitten werden. Um die Mordserie herum gibt es noch die Handlung um die bis zum Schluss hilflosen Versuche der Polizei, den Mörder zu fangen, sowie die Geschichte des letzten Mädchens, ein »Final Girl« avant la lettre, das sich für ägyptische Mythologie interessiert und zu seinem Geburtstag ein ägyptisches Festmahl geschenkt bekommt. Es soll das letzte Opfer von Ramses sein, wird aber gerettet. Die finale Verfolgungsjagd des Mörders durch zwei Polizisten endet für den Mörder tödlich in einer Müllpresse.

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Abb. 14: Duschmord zwischen den Schnitten In einer brutalen Distanzierungsgeste emanzipiert sich das Medium Film mit Blood Feast von abstrakten Körperinszenierungen, die bis dahin weitgehend einer Dramatisierung und Paraphrase literarischer und damit symbolischer Körper entsprochen haben. »In splatter movies, mutilation is indeed the message«,22 heißt es 1981 in John McCartys Buch Splatter Movies. Breaking the Last Taboo. Der Diskursstifter McCarty prägt damit die Bezeichnung »Splatter« für eine Form des Horrorfilms, die die Materialität und Medialität des Körpers und damit die Sichtbarkeit von Gewalt, die Ästhetik der Wunde, zentral setzt. Die film- und kameratechnische Zerstückelung des Körpers in Schnitt und Ausschnitt wird in die sichtbare Fragmentierung des Körpers durch das Aufschneiden und Zerteilen mit scharfen oder spitzen Gegenständen übersetzt. Die Kamera verfolgt das Mord- und Schlachtinstrument, wie es in das Körperinnere eindringt und Blut, Hirn und Eingeweide hervorholt. Der Körper tritt im Splatterfilm aus dem abstrakten Medium der Schrift heraus und in das Reale der bewegten Bilder ein. Statt der in den 1970er Jahren inzwischen domestizierten Monster des klassischen Horrorfilms wie Dracula, der Werwolf oder Frankensteins Monster, die in den 1930er bis 1960er Jahren noch die Integrität und die Grenzen des singulären Körpers, mithin immer noch des klassizistischen Modells vom Homo Clausus, in Frage gestellt haben, wird ein multiplizierter, amorpher und bis zur völligen Auflösung deformierter Körper in Szene gesetzt. Er schuldet der Literatur des 19. Jahrhunderts wenig, der kulturellen Realität und dem Realen des Mediums Film umso mehr. Zum ersten Mal wird dem Kinozuschauer in Blood Feast das Versprechen der vollständigen Zeigbarkeit der Verwundung gegeben. Was in Blood Feast allerdings noch weitgehend durch Montage herbeigeführt wird, ist bereits wenige Jahre später technisch in einer ungeschnittenen Sequenz möglich. Dann kann man im Kino beobachten, wie Augen ausgestochen, Arme und Beine abgetrennt und Köpfe durchbohrt werden. Blut, Hirn und Eingeweide strömen aus den gewaltsam geöffneten, aufgebrochenen und aufge-

22 John McCarty: Splatter Movies: Breaking the Last Taboo, New York 1981, S. 8.

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schlitzten Körpern meist junger Frauen. Bilder des fragmentierten und grotesk invertierten Körpers erscheinen genauso auf der Leinwand, der externen Netzhaut des Kinogängers,24 wie sie zuvor allenfalls imaginär während der Lektüre der gewaltsamsten Stellen in Gothic Novels und Horrorgeschichten in den Köpfen der Leser entstanden sind und auf der Bühne in Sensationsstücken zu sehen waren. Es formiert sich im Splatterfilm »die Kette einer Phantastik, die nichts mit Hoffmann oder Chamisso und alles mit Filmen zu tun hat«25. Für eine kleine Gruppe von Filmemachern, zu denen George A. Romero, Wes Craven, Tobe Hooper, David Cronenberg und John Carpenter gehören, ist die Wundästhetik des Splatterfilms, die Repräsentation expliziter Gewalt und der Deformation des Körpers, die konsequente Weiterführung der Codierungen des Mediums Film und zudem der einzig angemessene und moderne Modus, um den Diskurs um personale, strukturelle und kulturelle Gewalt in den USA von den späten 1960er Jahren bis zu den 1980er Jahren ästhetisch zu führen. In diesem Sinne ist der Splatterfilm eine deutlich skeptische Reaktion auf kulturelle Versprechen wie etwa die Frauenbewegung, die sexuelle Revolution und die Bürgerrechtsbewegung, und er zitiert kollektive Gewalttraumata, die in Stoffen gebunden sind wie im Serial Killer-Fall Ed Gein, der Charles Manson-Family oder dem Vietnamkrieg. Möchte man den Splatterfilm somit auf einen Nenner bringen, kommt man auf die Inszenierung des menschlichen Körpers als Zentrum des Films und damit auf das Konzept des »Körper-Horrors«. Der Körper-Horror des Splatterfilms verzichtet weitgehend auf die Psychologisierung von Täter und Opfer. Nur das Innere eines Menschen im Sinne seines zeigbaren und blutigen Körperinneren ist von Interesse. Entscheidend für den Splatterfilm ist deshalb eine Ästhetik der Wunde als Ergebnis der Öffnung des Körpers. Parallel zum Splatterfilm werden auch in der Happening- und Performance-Kunst der 1960er Jahre die Verwundung des Körpers und seine Inszenierung eins. So stellt exemplarisch ab 1961 zum Beispiel Nikki de Saint Phalle mit ihren »Target«- und »Shooting«-Paintings nicht nur die Figur des pfeildurchbohrten Märtyrers St. Sebastian mit einer Dartscheibe als Kopf aus, sondern schießt auch mit einem Gewehr auf Gipstorsi und Bilder. Hinter den Torsi stecken Farbbeutel, und aus den Bildkörpern fließt wie aus Heiligenstatuen das Blut aus den Schusswunden. David Cronenberg spiegelt 1982 in Videodrome (dt. Videodrom) diese Performance und wiederholt die Schüsse auf einen Torso, aus dessen Wunden Blut fließt. (Abb. 15) Gerahmt wird der verwundete Körper allerdings nicht von einem Bilderrahmen, sondern in Reflexion der zeitgenössischen Medienkritik ist es der Fernseher, in dessen Rahmen und damit auch in dessen Anführungszeichen das blutige Spektakel stattfindet.

23 Die Tatsache, dass die Opfer in Splatterfilmen vornehmlich junge Frauen sind, kann im Rahmen der Fragestellung dieser Studie nicht erforscht werden. Verwiesen sei aber auf die Studien von Carol J. Clover: Men, Women, and Chain Saws. Gender in the Modern Horror Film, Princeton 1992 sowie Rüdiger Dirk/Claudius Sowa: Teen Scream. Titten & Terror im neuen amerikanischen Kino, Hamburg, Wien 2000. 24 Vgl. Edgar Morin: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung, Stuttgart 1958, S. 138-145. 25 F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte, S. 100.

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Festzuhalten bleibt, dass an der Kunst- und Kulturgeschichte der Wunde die Bedeutung der Sichtbarkeit von Gewalt von höchster Bedeutung ist. Kein Monster, kein Opfer, keine Gewalt, ohne dass man es überdeutlich sieht. Jean-Luc Nancy stellt in seinem Aufsatz Bild und Gewalt die unverzichtbare Verbindung zwischen diesen beiden Elementen deshalb im Zeichen des Monströsen aus: Nun vollendet sich die Gewalt, wie wir zu sehen begonnen haben, immer in einem Bild. Wenn bei einem Kraftakt die Hervorbringung von Wirkungen zählt […], so zählt für den Gewaltsamen, daß die hervorgebrachte Wirkung von der Äußerung der Gewalt nicht zu trennen ist. Der Gewaltsame will sein Zeichen auf dem, dem er Gewalt angetan hat, sehen, und die Gewalt besteht gerade darin, ein solches Zeichen zu 26 prägen.

Monstrosität als Sichtbarkeit einer Ästhetik der Wunde wird zum entscheidenden Merkmal des Splatterfilms. Schnell gerät dieser auch in eine moderne Logik der Überbietung, so dass jeder folgende Splatterfilm mehr Gewalt zeigen muss als der vorhergehende. Diese Tendenz führt rasch dazu, dass tendenziell keine Monstrosität und kein Schrecken mehr der Phantasie des Zuschauers überlassen wird. Mark Seltzers Diagnose angesichts von Krankenhausserien, True CrimeFernsehen und Serial Killer-Filmen in den 1990er Jahren schließt damit auch nahtlos an das Phänomen des Splatterfilms an. Es ist eine »Wound Culture«, in der wir leben, und das zentrale Spektakel unserer modernen Gesellschaft ist die Wunde. Demzufolge sind die Helden unserer Gesellschaft die Wundfabrikanten: What is it about modern culture that makes the type of person called the serial killer possible? The spectacle of the wounded body has, of course, always had its lurid attractions. Nor did the last century invent murder in large numbers or the sex crime. But by 1900 something strange and something new appears on the scene. The wound, for one thing, is by now no longer the mark, the stigmata of the sacred or heroic: it is the icon, or stigma, of the everyday openness of every body. This is a culture centered on trauma (Greek for wound): a culture of the atrocity exhibition, in which people wear their damage like badges of identity, or fashion accessories. And by 1900 a new kind of person has come into being and into view, one of the super27 stars of our wound culture: the lust-murderer or stranger-killer or serial killer.

Wenn aber wie bei Seltzer schon die Frage nach der »Kultur« gestellt wird, dann muss man sich aus filmhistorischer Perspektive auch die Folgen dieser penetranten Sichtbarkeit von Gewalt sowie ihrer zunehmenden Serialisierung stellen. Denn dann kommt man zu der Frage, die zentral in und für David Cronenbergs Film Videodrome gestellt wird: »Who would watch a scum show like Videodrome?« Also wer schaut sich Gewaltfilme an, die nur zei-

26 Jean-Luc Nancy: »Bild und Gewalt. Von absoluter Offenbarung und dem unendlich Bevorstehenden«, in: Lettre International 49 (2000), S. 86-89, hier S. 87. 27 Mark Seltzer: Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture, New York, London 1998, S. 2.

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gen, wie gänzlich entpsychologisierte Serial Killer in episodisch aneinandergereihten Szenen ihre Opfer auf möglichst drastische Weise umbringen?

Abb. 15: Schüsse aus dem Fernseher

Die Rede ist von der strukturell dramatischen Langeweile durch die Wiederholung im Splatterfilm. In Verbindung mit dem Einsatz des Schocks, den die gewaltsame Öffnung oder Zerstückelung eines Körpers hervorruft, wird der Splatterfilm im Extremfall zu einer Erzählung, die den Schock auf Wiederholung und damit auf industrielle und gleichförmige Serialität abstellt. Er schließt die dramatischen Handlungsbögen, wie den Kontext der Gewalttat oder die Konsequenzen, die sich aus der jeweiligen Bluttat ergeben, kurz und gibt sie damit preis. In vielen Splatterfilmen entsteht deshalb die Tendenz, die Handlung auf kurze Schleifen des Spektakels zu reduzieren, die immer wieder zur Verletzung des Körpers zurückkehren und einen Verzicht auf klassische Spannungsbögen bedeuten. Rekursivität und Serialität werden zu den narrativen Strukturprinzipien des Splatterfilms. Der Exzess des Bildes in der Ästhetik der Wunde wird von der diegetischen Langeweile seiner Wiederholung kompensiert. Der Splatterfilm verzichtet letztlich auf die Krimi-, Thriller- oder Horrorzutaten von Mystery und Suspense zugunsten der Serialität von schockhafter Verwundung und letztlich zugunsten einer auf Wiederholung geschalteten Gewalt. Oder wie Steven Shaviro für diesen »postmodernen Horror« formuliert: Postmoderner Horror erscheint für gewöhnlich als possenhaftes Theater des Blutes – wobei ihm der Bombast der Tragödie und die oberflächlichen Tröstungen des Mythos fehlen. Der zeitgenössische Geschmack hat mit Recht den Titus Andronicus lieber als den König Lear. Da gibt es keinen Höhepunkt, kein Ende, keine Katharsis, sondern nur langsame, auf Anpassung beruhende Veränderungen in der Beschaffen28 heit der Medien und in der Technologie der Spezialeffekte.

28 Steven Shaviro: Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne, Mannheim 1997, S. 84.

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II. Autopsien. The Texas Chainsaw Massacre, The Evil Dead, Braindead Im Schweinestall an der Peripherie des Geländes hatte die große namenlose Sau Hunger. Clive Barker: Schweineblut-Blues

1. Eine kurze Geschichte der Kettensäge Wie kaum ein anderer Film wird Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre aus dem Jahr 1974 mit dem Splatterfilm identifiziert. Die Tatsache, dass im Titel schon auf die mörderische Zweckentfremdung des motorisierten Werkzeugs angespielt wird, steuert die Erwartungshaltung seines Publikums und erhebt ihn zum Programm eines ganzen Genres. Mit einem Budget von 140.000 Dollar spielt der Film 50 Millionen Dollar ein. The Texas Chainsaw Massacre wird aus Kostengründen auf 16mm-Film gedreht. Erst in der Postproduction wird der Film auf 35mm vergrößert, wodurch sich die Auflösung des ohnehin körnigen Ausgangsmaterials noch verschlechtert. Zusammen mit der geringen Lichtempfindlichkeit des Filmmaterials gerät die Repräsentation von Welt in dem Film zu einer Darstellung von grober Textur und hohem Dunkelheitsfaktor.

Abb. 16: Das Datum des Massakers The Texas Chainsaw Massacre beginnt mit dem Vortrag einer Texttafel aus dem Off, der wie die nachfolgende Einblendung des genauen Datums »August 18, 1973« für eine inhaltliche wie formale Authentifizierung der Geschichte sorgt. (Abb. 16) Es folgt ein Schwarzbild, das von Blitzlichtern und Geräuschen eines Photoapparats unterbrochen wird. In den kurzen Blitzlichtmomenten sieht man Teile einer verwesten Leiche. (Abb. 17) Zur authentifizierenden Referenz auf der Textebene kommt die Tatortphotographie hinzu. Danach wird gezeigt, wie zwei Leichen auf einem Grabstein festgebunden

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sind. Unterlegt ist die Sequenz auf der Tonspur immer noch mit dem gleichen Erzähler aus dem Off, einem Nachrichtensprecher aus dem Radio, der von der Grabschändung berichtet und dann aussschließlich mit Katastrophenmeldungen fortfährt. Der Sonnenuntergang über dem Friedhof wechselt zu rot eingefärbten Bildern von Sonnenprotuberanzen, über die in gelber Farbe die Credits laufen. Auf der Tonspur kommen dabei zu den Nachrichten aus dem Off-Radio Beckenklänge und industrielles Rauschen hinzu. Die Credits vor der roten Sonne enden in einer gelben Sonnenscheibe vor einem Nachthimmel. Dann wird die Sonne heller, es wird Tag, und in einer Überblende wird statt der Sonnenscheibe ein totes Gürteltier auf einer Straße gezeigt. (Abb. 18)

Abb. 17: Leichenteile im Blitzlicht Sally und Franklin Hardesty, Jerry, Pam und Kirk, fünf Jugendliche, die in am 18. August 1973 in einem grünen Hippie-Van durch die Straßen von Texas fahren, bekommen nichts vom strahlenden, esoterischen Zeitalter des Wassermanns mit. Stattdessen macht Pam, die während der Fahrt in einem Astrologie-Buch blättert, wiederholt auf etwas anderes aufmerksam: Sie befinden sich unter dem bösartigen Einfluss von Saturn. Der Saturn ist in der Temperamentenlehre das düstere Gestirn der Melancholie und in der antiken griechisch-römischen Mythologie der sichelbewehrte Titan, der die Ernteund Schlachtzeit einläutet. Mit seinem griechischen Pendant Kronos ist er überdies nicht nur die Allegorie von Vergänglichkeit und Tod, sondern auch einer der Gründerväter der mythischen Gewalt des Abendlandes: Den mythischen Ursprung der europäischen Kultur bezeichnet ein Gewaltszenario von kosmischen Ausmaßen. […] Uranos steigt nächtens herab zur Erde, um sie sexuell zu umfangen. Es kommt nicht mehr zur Kopulation, denn sein Sohn Kronos/Saturn schlägt ihm sein Geschlechtsglied ab und wirft es hinter sich in die Welt. Aus den Blutstropfen, die auf die Erde fallen, erwachsen Erinnyen, Rachegöttinnen. […] Von Hesiod an, der dieses Archiv in seiner Theogonie erstellt hat, liest sich Kunstgeschichte wie Historiographie als Prozeß umfassender, tatsächlicher und si-

78|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM mulierter Gewalttätigkeit, der die Versehrtheit des Körpers weitaus wahrscheinlicher 29 macht als seine Unversehrtheit.

Auf seine kosmischen Bedeutungsdimensionen und damit auf eine mythische Geschichte des Abendlandes, in der Gewalt und Monstrosität schon seit Anbeginn eingeschrieben sind, macht The Texas Chainsaw Massacre nicht nur mit der rotgefilterten Einspielung der Sonnenprotuberanzen zu Beginn, sondern auch mit dem Soundtrack aufmerksam, der ein einziges kosmisches Störsignal darstellt und die Katastrophennachrichten des Radiosprechers aus dem Off immer wieder überlagert. Mit diesem Film etabliert sich nach dem Einsatz von Night of the Living Dead nicht nur der Körper-Horror des Splatterfilms, sondern es wird auch ein zentraler Tonfall des modernen Horrorfilms verschärft fortgesetzt – die Apokalypse.

Abb. 18: Zeichen des Untergangs Die fünf jungen Leute fahren während der Verkündigung des bösen Einflusses von Saturn an einem Schlachthof vorbei. Franklin berichtet, wie sein Großvater früher seine Rinder dort verkauft hat. Während man damals dreibis viermal mit dem Hammer zuschlagen musste, benutze man jetzt ein Bolzenschussgerät. Kurz darauf treffen die Teenager nach und nach auf vereinzelte Mitglieder einer seltsamen Hinterwäldler-Familie, die bis zur dritten Generation im Schlachthof gearbeitet hat. Bald kommen sie auch an die Farm des verstorbenen Großvaters von Sally und Franklin, dessen Grabschändung der Grund für die Fahrt nach Texas ist. Pam und Kirk erforschen die Umgebung um die Farm des Großvaters und finden nur wenig entfernt ein anderes Gebäude. Kirk wird von Leatherface, einem Hünen mit Schlachterschürze und einer Maske aus einem Frauengesicht über dem Kopf, überrascht. (Abb. 19) Leatherface erschlägt ihn mit einem Hammer und zieht ihn in einen Raum, den er mit einer Stahltür verschließt. Das Interieur des Hauses, wie Pam auf 29 Detlef Kremer: »Deformierte Körper. Gewalt und Groteske bei David Lynch und Francis Bacon«, in: Rolf Grimminger (Hg.): Kunst Macht Gewalt, München 2000, S. 209-229, hier S. 209.

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der Suche nach Kirk erschrocken feststellen muss, besteht vor allem aus Haut und Knochen verschiedenster Art. Hühnerkäfige, Knochenmobilés und Lampenschirme aus Knochen und Haut bilden Mobiliar und Dekor des Hauses. (Abb. 20) Pams Schreie angesichts der Einrichtung rufen noch einmal Leatherface auf den Plan. Ohne Umschweife packt er sie und hängt sie an einen Fleischerhaken. Während Pam mit dem Haken im Rücken an der Decke hängt, zerteilt er Kirk mit einer Kettensäge.

Abb. 19: Leatherface Nachdem Jerry und Franklin kurz darauf ebenfalls getötet werden, zeigt eine mehr als zwanzigminütige Sequenz die Tortur Sallys in der Gefangenschaft der Familie. Fast die gesamte Tonspur der Szene wird von ihren verzweifelten Schreckensschreien dominiert. Allenfalls das Geschrei der Familie, die sie wegen des Weinens und Schreiens verhöhnt, und das Geräusch der Kettensäge übertönen Sallys Schreie. Sally wird für das Abendessen der Familie auf einen Stuhl aus Knochen gefesselt, und um ihr Schreien zu unterdrücken, wird ihr ein Lappen in den Mund gestopft. Ihre Hände liegen auf skelettierten Händen, die die Armlehnen des Stuhls bilden. Der scheinbar mumifizierte Großvater, der zuvor im ersten Stock im Raum neben der toten Großmutter verharrt, wird von seiner Familie an den Tisch hinuntergetragen. Der jüngste Sohn zieht darauf sein Messer und schneidet Sally in den Finger, damit Blut aus ihm fließt. Er stopft den Finger in den Mund des regungslosen Großvaters. Der beginnt, daran zu saugen. Danach soll der Großvater Sally mit einem Hammer erschlagen, scheitert aber. Er ist zu schwach, und der Hammer entgleitet mehrfach seinen Fingern. Kurz darauf kann sie aus dem Haus flüchten. Leatherface verfolgt Sally mit der ratternden Kettensäge durch einen Wald, bis ein zufällig vorbeifahrender Pickup-Fahrer sie mitnimmt. Das Schlussbild zeigt einen sich drehenden Leatherface mit erhobener Kettensäge auf der Straße vor der aufgehenden Sonne und nimmt damit das Sonnen- und Straßenmotiv des Filmbeginns wieder auf, um den filmischen Rahmen zu vervollständigen.

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Abb. 20: Am Haken Obwohl The Texas Chainsaw Massacre zum Emblem für den Splatterfilm geworden ist, kommt der Film, genau wie Psycho, fast ohne sichtbare Gewalt aus. Die gewalttätigste Szene des Films, Leatherface hängt die schreiende Pam mit dem Rücken an einen Fleischerhaken, ist wie die Duschszene in Psycho ein kompliziertes Filmen um die Kader der Eintrittswunde herum. Das Bild der Wunde selbst bleibt ausgespart und damit eine filmische Lücke. (Abb. 20) So bedient sich The Texas Chainsaw Massacre inszenatorisch noch der Methoden des klassischen Horrorfilms, um Schrecken zu erzeugen, der nur angedeutet, aber visuell nicht durchgeführt wird. Der Film erfüllt noch nicht den Anspruch der maximalen Sichtbarkeit an Wundästhetik im Splatterfilm, und die lückenhafte Inszenierung der Wunde gibt noch einmal dem Schrecken klassischer Horrorfilme Raum. Aber das Ausmaß der angedeuteten Gewalt und die Substitution möglicher psychologischer durch allenfalls sozialpolitische Motive der Schlachterfamilie ordnen den Film in den Kontext des Splatterfilms ein. The Texas Chainsaw Massacre handelt von Menschen, die andere Menschen foltern, schlachten und verspeisen. Es geht nicht um die Bedrohung des geistigen Gesundheitszustandes der Opfer, sondern um ihre Zerstückelung und Auflösung. Schon früh wird klar, dass keine Heilsgeschichte erzählt wird. Keiner wird erlöst, und nur eine Protagonistin, Sally, überlebt mehr oder weniger zufällig den Aufenthalt im Haus der Kannibalenfamilie. Nach diesem Debüt realisiert Hooper unter der Produktion Steven Spielbergs mit großem tricktechnischem Aufwand den Spukhausfilm Poltergeist (US 1982). Vor Poltergeist dreht Hooper noch die Verfilmung des Stephen King-Vampirromans Salem’s Lot (dt. Brennen muss Salem, US 1979) sowie Eaten Alive (Death Trap, Horror Hotel Massacre, dt. Blutrausch, US 1976) und The Funhouse (dt. Das Kabinett des Schreckens, US 1981), der das Thema der Horrorshow auf dem Rummelplatz aufgreift. Nach kommerziellen

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Misserfolgen wie Lifeforce (dt. Lifeforce – Die tödliche Bedrohung, GB 1985) und dem Remake des Invasionsfilms von William Cameron Menzies aus dem Jahr 1953, Invaders from Mars (dt. Invasion vom Mars, US 1985), kehrt Hooper mit The Texas Chainsaw Massacre 2 (US 1986) zum Thema und zu den Figuren seines Erstlings zurück und liefert eine überspitzte Aufarbeitung all der Elemente ab, die den ersten Teil erfolgreich gemacht haben. Der Höhepunkt des Films ist das Kettensägenduell zwischen Leatherface und Sheriff Lefty, der von der New Hollywood-Ikone Dennis Hopper gespielt wird. In dem Film agiert mit der Radiomoderatorin Stretch als Heldin eine starke Frauengestalt ganz nach der inzwischen etablierten Formel des »Final Girls«,30 der letzten überlebenden Heldin im Splatter- und Slasherfilm, die es vermag, die Schlachterfamilie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen und triumphierend zu entkommen. Auf die psychoanalytischen Interpretationen seines Vorgängers reagiert The Texas Chainsaw Massacre 2 deutlich parodistisch mit dem phallischen Einsatz der überdimensionalen Kettensäge von Leatherface. Dieser rückt in einer Sequenz mit der Säge in eindeutiger Pose zwischen die Beine von Stretch vor, die ihn mit verzweifelt verführerischen Gesten von seinen Mordplänen auf die Ebene der Sexualität führen will. Letztlich geht aber der Motor der Kettensäge aus, und Stretch flieht vor dem sexuell frustrierten Leatherface. In The Texas Chainsaw Massacre 2 erfährt man überdies noch den Namen der Schlachterfamilie: Sie heißt »Sawyer«, und der Name verweist nicht nur auf die amerikanische Südstaatenikone von Mark Twain, sondern auch auf das Motto der texanischen Familie: »The saw is the family.« Von The Texas Chainsaw Massacre gibt es inzwischen drei Fortsetzungen. Nach dem von Hooper gedrehten zweiten Teil folgen Jeff Burrs Leatherface: The Texas Chainsaw Massacre III (US 1990) und Kim Henkels The Return of the Texas Chainsaw Massacre (US 1994). Mit Marcus Nispels Michael Bay’s The Texas Chainsaw Massacre kam 2003 ein Remake des ersten Teils in die Kinos. Wenn Hoopers erster Film auch hinsichtlich der Wundästhetik weiter das Psycho-Paradigma und damit eine Strategie der Auslassung von sichtbarer Gewalt verfolgt, steigert er dennoch den jahrmarkthaften Zeigegestus des Splatterfilms hinsichtlich der Gewalt am menschlichen Körper um ein Vielfaches. Die Folie dafür ist die zugrunde liegende Thematisierung von Schlachtwerkzeugen in Form des paradigmatischen Wechsels von der Handarbeit mit dem Hammer zur industrialisierten Serienschlachtung mit dem Bolzenschussgerät. Während der Großvater der kannibalischen Familie es als Vertreter der älteren Schlachtergeneration nicht mehr schafft, Sally mit dem Hammer zu töten, ist es seinem technisch aufgerüsteten Enkel Leatherface problemlos möglich, mit industriellen Zerteilungswerkzeugen wie der Kettensäge weiter schlachtend vorzugehen. Zwar erschlägt er Kirk bei seinem ersten Zusammentreffen mit den Teenagern zunächst noch mit dem Hammer, geht dann aber bei seiner Zerstückelung mit der motorisierten Säge vor und behält das Werkzeug im weiteren Verlauf des Films als bevorzugtes Mordwerkzeug bei. Hooper führt ganz im Sinne des Spektakels und in Nachfolge der Modernisierung im Théâtre du Grand Guignol den Schauwert der Kettensäge deshalb schon im werbewirksamen Titel.

30 Vgl. C. Clover: Men, Women, and Chain Saws.

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Abb. 21: Kettensäge in The Last House on the Left The Texas Chainsaw Massacre und seine Fortsetzungen etablieren damit die Kettensäge in ihrer mörderischen Zweckentfremdung zum Markenzeichen des Splatterfilms. (Abb. 23) Die Geschichte der Ketten- oder Motorsäge im Film vor The Texas Chainsaw Massacre ist dabei kurz, aber prägnant: Zum ersten Mal wird eine Bandsäge in John Brahms The Mad Magician (dt. Der wahnsinnige Zauberkünstler, US 1954), einem Rachedrama im Varietémilieu mit Vincent Price in der Hauptrolle, auffällig. Der Titel gebende Protagonist von Herschell Gordon Lewis’ Film The Wizard of Gore beginnt seine Show mit einer Rede über den technischen Fortschritt in der Bühnenkunst. Nicht mehr die klassische Säge, der Fuchsschwanz, mit der ein Bühnenmagier beinahe gemächlich die Jungfrau zerteilt, kommt zum Einsatz, sondern ein ratterndes und Blut spritzendes Spektakel wird in Szene gesetzt – erst getürkt, dann echt. (Abb. 22) Wes Craven setzt schon 1971 die Kettensäge als Teil des Rape-Revenge-Szenarios The Last House on the Left ein. (Abb. 21) Die Wut der Eltern des geschändeten und getöteten Mädchens wird zu einem transgressiven und hyperbolischen Racheakt, der unbedingt der industriellmaschinellen Unterstützung und Verstärkung durch die motorisierte Säge bedarf. Shaviro fasst den frühen Splatterfilm am Beispiel dieses Werkzeugs zusammen: Wen interessiert denn schon eine Frau, die mit einer altmodischen Handsäge in zwei Teile zerlegt wird, so die Frage des ausgelassen sarkastischen Zauberers aus Herschell Gordon Lewis’ The Wizard of Gore, wenn uns heutzutage Werkzeuge wie 31 elektrische Bohrmaschinen, Pfahlrammen und Kettensägen zur Verfügung stehen?

31 S. Shaviro: Doom Patrols, S. 84.

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Abb. 22: Kettensäge in The Wizard of Gore

2. Form und Deformation John Carpenter begründet mit Halloween 1978 den modernen Slasherfilm und legt mit dem Akzent auf die potenziell unendliche Wiederholbarkeit der Morde eine Formel für das Genre fest, die in Hitchcocks Psycho bis dahin nur angedeutet werden konnte. Der große Teil der Filme Carpenters folgt aber einer gänzlich anderen Formel: der Konstellation der Belagerungsfilme von Howard Hawks, wie The Thing from another World (dt. Das Ding aus einer anderen Welt, US 1951) in Co-Regie mit Christian Nyby, Rio Bravo (US 1959) oder El Dorado (US 1966), in denen eine heterogene Gruppe von Experten eingesperrt in einem Gebäude sich angesichts einer Übermacht zu einer wehrhaften Gemeinschaft zusammenschließen muss. Carpenters Horrorfilme The Fog (dt. Fog – Nebel des Grauens, US 1979) und Prince of Darkness (dt. Die Fürsten der Dunkelheit, US 1987) sowie der Science Fiction-Horrorfilm John Carpenter’s Ghosts of Mars (US 2001) wiederholen in immer neuen Ausgangssituationen dieses Modell der Belagerung.32

32 John Carpenters Actionfilm Assault on Precinct 13 (dt. Assault – Anschlag bei Nacht, US 1976) kann schon als Remake von Howard Hawks’ Rio Bravo und El Dorado mit den Mitteln von George A. Romeros Night of the Living Dead gelten.

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Abb. 23: Kettensäge in The Texas Chainsaw Massacre Sein Remake des Science Fiction-Films von Hawks und Nyby, The Thing (dt. Das Ding aus einer anderen Welt, US 1982), geht in der Verfolgung der Hawksschen Konstellation noch einen Schritt weiter, da sich der Außerirdische zunächst in der Form eines Schlittenhundes und dann in Gestalt eines der Mitglieder der isolierten Südpol-Expedition in die kleine Gruppe einschleicht. Der Tenor des Films ist deshalb eine Mischung aus Horror und Paranoia und erinnert, wie auch schon Night of the Living Dead oder Cronenbergs frühe Filme Shivers und Rabid (KAN 1975), an die Invasionsfilme der 1950er Jahre. Carpenters Film übernimmt das Setting des ersten The Thing, in dem das Monster noch einen eigenen und ausschließlich pflanzlichen Körper hat und nur in die Station, nicht aber in die Körper der Menschen eindringt. Beide Filme beziehen sich auf William W. Campbell Jrs. Erzählung Who Goes There? (1938) aus der Heftserie Astounding Science-Fiction, die wiederum deutliche Anleihen bei H.P. Lovecrafts At the Mountains of Madness (1931) macht, einer mit außerirdischen Schreckenswesen am Südpol versetzten phantastischen Fortsetzung von Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838). Mit The Thing setzt der Splatterfilm auch die Überbietungslogik der Sichtbarkeit von Gewalt und Monstrosität fort. Der Film konzentriert sich dabei in der Darstellung des Schreckens auf die Grenzenlosigkeit der Form des außerirdischen Monsters, das in jeden Körper eindringen und jede Gestalt annehmen kann. (Abb. 24) The Thing kann deshalb als eine Verschränkung der beiden Strategien des Splatterfilms betrachtet werden, erstens menschliche Figuren als Monster einzusetzen und zweitens nach dem »Figur/Hintergrund«-Prinzip Marshall McLuhans33 das Monster zu multiplizieren und damit bis zur Auflösung in den Hintergrund verschwinden zu lassen. Dean 33 Vgl. Marshall McLuhan: »The Global Village«, in: Ders.: Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Hg. von Martin Baltes u.a., Mannheim 1997, S. 223-235.

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Motter interpretiert McLuhan deshalb auch auf folgende Weise: »Er [Marshall McLuhan, A.M.] hatte begriffen, auf welche Weise der Grund die Figur modifiziert und besonders, dass die Darstellung des Grundes als Figur die Formel für Monstrosität ist.«34 Für den Kontext einer Ästhetik des Splatterfilms sind allerdings nicht nur die Darstellungen von blutiger Gewalt und die Metamorphosen des Monsters interessant, sondern vor allem die Repräsentation des Monsters als dem nach Ridley Scotts Alien (GB 1979) bislang fremdartigsten Wesen in der Filmgeschichte aufgrund seiner vollständigen Formlosigkeit.35 Die Frage nach der Form wird in The Thing überdies mit der Frage nach der Identität kurzgeschlossen: Hat man einen Menschen oder ein Alien vor sich? In The Thing überschneidet sich der Splatterfilm deshalb mit dem Verschwörungsfilm. Oder wie Robert Cumbow es formuliert: »With the loss of trust in one’s fellow man comes the loss of one’s own sense of identity. We rely for self-definition on the way others perceive us. Now all bets are off: ›How do we know who’s human? … How would you know if it was really me?‹«36 Dieter E. Zimmer nimmt Carpenters Version des »Dings« zum Anlass, über das Wesen des Monströsen nachzudenken. Schon in seinem Titel Was uns Angst macht. Über die Monster der Leinwand geht Zimmer von einer Verbindung zwischen der Angst, dem Film und dem Erscheinungsbild des Monsters aus.37 Zimmer interessiert deshalb vor allem die Morphologie des Monströsen im Zusammenhang mit seiner Wirkung. Gibt es ein bestimmtes Aussehen von Monstern? Sind es bestimmte körperliche Attribute, die Angst erzeugen, und sind diese Attribute begrenzt oder kann es eine Unabschließbarkeit in der Neuschöpfung und Klassifizierung von Horror, von Furcht erregenden Bildern geben? Zimmer geht von einem filmischen Bild des Schreckens aus, das ängstigt, und bricht seine Suche nach neuen Formen des Monströsen relativ schnell ab: »Das Repertoire des Schreckenerregenden ist geradezu schmächtig.«38 Denn wie sich herausstellt, gibt es eine bestimmte Typologie in der Reihe der Filmmonster und ebenso eine unbedingte Bindung an die Form des Menschlichen. Eine zu große Entfernung von der anthropoiden Form flößt nach Zimmer keine Angst mehr ein. Das außerirdische Wesen in Carpenters The Thing kann von Zimmer noch als monströs registriert werden. Die schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (dt. 2001 – Odyssee im Weltraum, GB 1968), die eigentlich fremdartiger, monströser und damit Furcht erregender sein müssten, weil sie dem Menschen noch 34 Dean Motter: »Alice in Metropolis oder: Es wird alles mit Spiegeln gemacht«, in: Karen Haber (Hg.): Das Geheimnis der Matrix, München 2003, S. 112-121, hier S. 118-119. 35 Mit Ausnahme von Irwin S. Yeaworth Jrs. und Chuck Russells The Blob (US 1958 und 1988), in denen ein gallertartiges, amorphes Schleimwesen aus dem All beziehungsweise aus einem Regierungslabor eine Stadt angreift. Der Blob bleibt allerdings seiner Grundform des Schleims verhaftet und nimmt weder andere Gestalten an noch dringt er in menschliche Körper ein. 36 Robert C. Cumbow: Order in the Universe. The Films of John Carpenter, Metuchen, London 1990, S. 120. 37 Vgl. Dieter E. Zimmer: »Was uns Angst macht. Über die Monster der Leinwand«, in: Ders.: Experimente des Lebens. Wilde Kinder, Zwillinge, Kibbuzniks und andere aufschlußreiche Wesen, Zürich 1989, S. 153-169. 38 Ebd., S. 156.

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unähnlicher sind, können dagegen keine Monster mehr sein. Sie sind erhaben und bedrohlich, aber nicht mehr monströs. Die Form des Quaders flößt keine Angst mehr ein.

Abb. 24: Formlosigkeit des »Dings« Im Splatterfilm gibt es verschiedene Spielarten des Monströsen, die abseits der Form des Monsters als filmische Realisation des Figur/HintergrundPrinzips betrachtet werden können. In The Thing nimmt das Monster buchstäblich zwar jede Gestalt an und verschmilzt dabei mit dem Hintergrund, aber der Film erfüllt zugleich das Prinzip der maximalen Sichtbarkeit von Gewalt und Wundästhetik an bestimmten Stellen, in denen das Monster aus seinem Wirtskörper ausbricht. Die gegenteilige Strategie verfolgt noch The Texas Chainsaw Massacre, der wie in Psycho eine Ästhetik der Auslassung der Wunde betreibt, also an keiner Stelle die Gewalt sichtbar werden lässt, aber stattdessen in Verbindung mit einem emphatischen Zeigegestus ständig auf den gewaltsamen »Hintergrund« der Geschichte verweist und deiktisch den Blick auf den theatralischen Rahmen richtet. Dieser verweist besonders in Form des Haut-und-Knochen-Interieurs des Kannibalenhauses auf ein Höchstmaß an Gewalt und Grausamkeit. In The Texas Chainsaw Massacre wird in einem authentifizierenden und zugleich übertriebenen Akt um die Wunde herum inszeniert, ohne die Wunde jemals zu zeigen. Diese Vorgehensweise entspricht einer Ästhetik, wie sie von Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) als Überbewertung von Bilderrahmen kritisiert und von Jacques Derrida zu einer Ästhetik des Parergons ausgeweitet wird.39 Neben der sichtbaren Gewalt als Ergon des Rahmens definiert deshalb vor allem auch die Theatralität des Rahmens, der gewaltsame Kontext im Sinne einer Horrorshow, den Splatterfilm. Nach diesen Überlegungen gelangt man zu einer Ästhetik des Monströsen im Sinn des Horrorfilms, der Furcht und Schrecken und damit nach der 39 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790). Hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1979, S. 142. Jacques Derrida löst das duale Rahmenmodell bei Kant in einem Modell der Supplementarität auf. Vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1978). Hg. von Peter Engelmann, Wien 1992, S. 31-176.

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Formel des Erhabenen Angst-Lust erzeugen soll, die nicht unbedingt an die Form des Monsters oder an die singuläre Stelle der Gewalt gebunden ist. Vielmehr müssen auch das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie der kontextuelle Rahmen, der ebenfalls Schrecken erzeugt, in Betracht gezogen werden. Karl Heinz Bohrer spricht in seiner Ästhetik des Schreckens zu diesem Punkt bei Ernst Jünger und Edgar Allan Poe von der Maske, hinter der sich nicht das monströse Gesicht, sondern der Horror vacui des Nichts verbirgt: Die eigentliche Pointe der von Poe inszenierten Mechanik des »Grauens« aber ist, daß sich hinter der Leichenmaske nichts verbirgt […] Diesem horrormechanischen Effekt Poes korrespondiert der letzte Satz von Jüngers Prosastück [Das Abenteuerliche Herz (1929), A.M.]: »Nur die schwarzen, ausgebrannten Augenhöhlen blieben zurück, gleichsam das absolute Nichts, das sich hinter dem letzten Schleier des 40 Grauens verbirgt.« […] Das Grauen ist der unerwartete Anblick des Nichts.

Diese Existenz der Lücke in Wechselwirkung mit einem betont monströsen oder gewaltförmigen Rahmen bildet die Ergänzung, die der neue ästhetische Modus des »Splatters« noch an das Genre des Horrorfilms bindet. Denn Splatterästhetik ist nicht unbedingt mit dem Horror verknüpft, sie tritt früh, das heißt in den 1960er und 1970er Jahren, auch schon im Italo- und amerikanischen Spätwestern, im Kriegsfilm oder im japanischen Samuraifilm auf. Aber im Zusammenhang mit einer theatralischen Steigerung des monströsen oder gewaltsamen Rahmens kann auch die explizite Wundästhetik des Splatterfilms im Sinne einer Horrorshow als Teil einer Überbietungslogik von Zeigbarkeit betrachtet werden. Diese kippt dann in den 1980er Jahren endgültig in die Übertreibung um, wie es die amorphe Struktur des Monsters in The Thing, die vornehmlich dazu genutzt wird, möglichst viele schreckliche Formen anzunehmen, schon andeutet. In den 1980er Jahren kehrt mit dieser Ästhetik der Hyperbolik auch der phantastische Horror wieder in den Splatterfilm zurück, während die authentifizierenden Elemente des frühen Splatterfilms, die noch versucht haben, diesen auf realitätsnahe Weise an zeitgenössische soziale und politische Diskurse anzuschließen, verschwinden. Zeitgleich finden sich im Mainstream der Hollywoodfilme zunehmend Elemente der Ästhetik und der Erzählweise des Splatterfilms. Während Roman Polanski mit Rosemary’s Baby noch weitgehend auf sichtbare Gewalt verzichtet, sind in William Friedkins The Exorcist und Richard Donners The Omen die Filme schon auf einzelne herausragende Sequenzen der sichtbaren Gewalt ausgerichtet. Norbert Stresau fasst prägnant zusammen: Man ahnt bereits, daß gleich etwas Furchtbares passieren wird, und The Omen liefert prompt. In einem kurzen Insert taucht ein Pritschenwagen auf, die Bremse löst sich wie von selbst, rückwärts rollt der Wagen auf David Warner zu. Weil es nun aber nicht besonders spektakulär wäre, wenn er ihn einfach überrollen würde, passiert stattdessen folgendes: Der Wagen knallt gegen den kleinen Betonbrunnen, eine Glasplatte, die der Zufall auf der Ladefläche abgelegt hat, schießt nach vorne […]. Dann erlebt man in glorreicher Extremzeitlupe, wie die Glasplatte Warners Hals wie Butter durchtrennt, sein Körper zusammenbricht und sein Kopf auf der fliegenden 40 K.H. Bohrer: Ästhetik des Schreckens, S. 210-211.

88|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM Glasplatte langsam nach vorne kullert. […] Wegen der Szene mit der Glasplatte haben die amerikanischen Zuschauer der 20th Century-Fox und den Kinobesitzern jeweils 29 Millionen Dollar bezahlt: Nicht Peck und auch nicht Warner sind die ei41 gentlichen Stars von The Omen: die Glasplatte ist es.

Romeros Dawn of the Dead tendiert 1979 schon zur Körper-Komik und stellt die Zombies in einen deutlichen Slapstickkontext. Aber vor allem Sam Raimi und Peter Jackson verändern mit ihren selbst produzierten ersten Filmen den Tonfall des Splatterfilms. Einerseits bringen sie die Phantastik des Horrorfilms mit der Ästhetik und Erzählweise des Splatterfilms zusammen. Zum anderen wechseln Tempo, Stil- und Tonlage der Filme, die an die Stelle von kulturpessimistischen und apokalyptischen Aussagen deutlich einen komischen und damit wieder einen grotesken Einschlag im Sinne eines Kreislaufs von Zergliederung, Zerstörung und Regeneration des menschlichen Körpers haben. Gewalt und Wundästhetik des Splatterfilms werden hyperbolisch überzogen und wechseln ins Cartoonhafte und Hyperreale über. Das Konzept der »Various« oder »Creative Deaths« – also: wie kann man auf möglichst unterschiedliche, kreative und damit unterhaltsame Weise Körper zerstückeln – wird zum Grundkonzept dieser Filme.

3. Überbietungslogik 1980 entdeckt Stanley Kubrick in The Shining überdies die Steadicam für den Horrorfilm und lässt in langen, linearen Kamerafahrten und häufig aus der Untersicht eines Kindes den Zuschauer sich im Labyrinth des spukenden Overlook Hotels verirren. 1982, wie um den Linearitäts- und Symmetriewahn Kubricks zu karikieren, startet Sam Raimis Film The Evil Dead dann mit der bis dahin schnellsten, wendigsten und bösartigsten Steadicam-Achterbahnkamerafahrt der Filmgeschichte. (Abb. 25) Das namenlose Böse, das aus dem Wald auf die einsame Hütte zuschnellt, macht vor Bäumen und Büschen nicht halt und knickt sie mühelos um. Einen Gegenschuss auf das namenlose und unsichtbare Böse gibt es nicht. Es trägt kein Gesicht und hat keinen Körper. Das Böse in The Evil Dead ist mit der Kamera und damit mit dem Zuschauerblick identisch. Erst der Nachfolger The Evil Dead II: Dead by Dawn (dt. Tanz der Teufel II – Jetzt wird noch mehr getanzt, US 1986), der weniger eine Fortsetzung von The Evil Dead, als vielmehr ein in Special Effects und komischem Tenor gesteigertes Remake ist, zeigt das Gesicht des Bösen als monströsen Abdruck durch die Holztür der Hütte. In diesem Teil gelangt der Held und Haushaltswarenverkäufer Ash wieder mit Freunden in die einsame Waldhütte, und wieder bricht das namenlose Böse aus dem Wald hervor und verwandelt alle Menschen in bösartige Untote. Zum Schluss gerät Ash allerdings in einen durch das Zauberbuch »Necronomicon« hervorgerufenen Zeitstrudel, der ihn in ein phantastisches Mittelalter versetzt. Der dritte und letzte Teil Army of Darkness – The Medieval Dead (The Evil Dead III, dt. Die Armee der Finsternis – Tanz der Teufel III, US 1992), der die Abenteuer von Ash in diesem phantastischen Mittelalter zeigt, verzeichnet eine im Splatterfilm und in den beiden vorhergehenden Teilen schon angelegte Ästhetik des Grotesken und

41 N. Stresau: Der Horror-Film, S. 64-65.

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Übertriebenen, die vor allem unter den Vorzeichen des Burlesken das Archiv der Slapstickfilme anzapft.

Abb. 25: Kamerafahrt des Bösen Raimis Filme sind fast ausnahmslos von einem Willen zur cartoonhaften Darstellung geprägt, von der Inszenierung typischer Gestaltungselemente des Comics innerhalb des Films. Von seinem frühen Film Crimewave (dt. Crimewave – Die Killer-Akademie, US 1985), in dem die Figuren sich tatsächlich durch Comic-Panels bewegen, über die dynamischen Bewegungsabläufe des Pulp-Superhelden Darkman (dt. Darkman – Der Mann mit der Gesichtsmaske, US 1990) und der Westernparodie The Quick and the Dead (dt. Schneller als der Tod, US 1995), in dem die Schusswunden sichtbare Löcher durch den ganzen Körper darstellen, bis zur Comicverfilmung selbst – Spider-Man und Spider-Man 2 (US 2002 und 2004) – ist Raimis Werk als Versuch der Übertragung comicartiger Kinetik und Komik in das Medium Film zu betrachten. Nachdem in The Evil Dead schon die Fahrt der Jugendlichen zur Waldhütte von der Kamera, die sichtbar subjektiv die Perspektive des Bösen einnimmt, beobachtet wird, beginnt die eigentlich Horrorerzählung mit dem Abspielen eines Tonbands, das ein inzwischen zur Hölle gefahrener Wissenschaftler mit einer Beschwörung aus dem Zauberbuch »Necronomicon« besprochen hat. Der Medientransfer vom Buch zum Tonbandgerät wird unwissentlich zur Dämonenbeschwörung. Denn erst durch das laute Ertönen des schriftlich aufbewahrten Zauberspruchs wird das Böse angerufen und kommt herbei.42 42 Der Transfer funktioniert dabei ganz nach dem Prinzip der romantischen Belebung der Schrift in mündliche Sprache, wie an zahlreichen Gedichten und Liedern in romantischer Prosa ablesbar ist. Nach Manfred Riepe besagt der Zauberspruch auf dem Tonband Folgendes: »Das ›Samand Robeesa dar ees heiker dan zee roadza‹ bedeutet nichts anderes als der verfremdete Hinweis ›Sam and Robert are the hitchhikers on the road‹ – Sam und Robert, Regisseur und Produzent, sind jene beiden Gestalten, die auf der Straße am Anfang winken… Statt auf den Wortsinn kommt es offenbar auf die Funktion der Stimme an […].«

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Abb. 26: Tonbandstimmenforschung Der Film berichtet weiter davon, wie die restlichen Tonbandaufzeichnungen des Wissenschaftlers, die von den schrecklichen Ereignissen bis zu seinem Tode erzählen, sich wiederholen, sich in die Körper der neuen ahnungslosen Beschwörer einschreiben und sie letztlich in Untote verwandeln. Die Teufelsbeschwörung erinnert auch an die Urban Legend der dämonischen Inversion von Botschaften auf Schallplatten, deren satanische Töne man erst durch das rückwärtige Abspielen hören kann. So beginnt das Unheil von The Evil Dead, die Belebung des »Bösen« und »Toten«, mit einem Medienwechsel, einem Aufeinandertreffen des ältesten mit einem neueren technischen Medium. Der Held Ash erfährt später vom Tonband, dass auch die Frau des Wissenschaftlers versehentlich von einem Dämon besessen wurde. (Abb. 26) Die einzige Möglichkeit der Rettung für den Wissenschaftler war, sie vollständig zu zerstückeln. Diese Mitteilung ist schon die deutliche Anweisung aus dem Archiv des Splatterfilms, wie er mit Dämonen als Vertretern eines uralten Schreckens umzugehen hat, in die sich nach und nach seine Freunde verwandeln. Danach erfolgt auch der Gang zum Geräteschuppen, in dem schon die inzwischen für den Splatterfilm emblematisch gewordene Kettensäge auf Ash wartet. (Abb. 27) Entgegen Manfred Riepes Lesart, der daran »weniger [den] Einsatz moderner Medientechnik«43 für bedeutsam hält, als die psychoanalytische Deutung einer blasphemischen Inversion des christlichen Abendmahls, muss das Auftauchen der Aufzeichnungs- und Abspieltechnik doch als Indikator für eine technikbewusste Modernisierung des Horrorfilms gesehen werden. Die Inversionsfiguren vom Religiösen, wie zum Beispiel die dämonische Metamorphose der Figuren als Umkehr der christlichen Transsubstantiation, widersprechen Riepe dabei durchaus nicht. Vielmehr gehört es zum Regelsatz des seit den 1970er Jahren etablierten Dämonen- oder Teufelsfilms, dass er blasphemische Akte zeigt. Dem Teufelsspuk kann auch erst ein vermeintliches Ende gesetzt werden, als das »Necronomicon«, das »Book of the Dead«, im Kaminfeuer verbrennt. Die plötzliche dämonische Autonomie von Körperteilen in The Evil Dead weist neben den pointiert gesetzten Blasphemien kontinuierlich auf eine filmische Ästhetik des Grotesken hin: Dinge machen sich nicht nur selbstständig, sondern in einer deutlichen Slapstickinszenierung muss sich der Protagonist in The Evil Dead II beispielsweise auch gegen

Manfred Riepe: »Maßnahmen gegen die Gewalt. Der TANZ DER TEUFEL und die Würde des Menschen. Aspekte der Gewaltdebatte im Zusammenhang mit Sam Raimis THE EVIL DEAD«, in: Julia Köhne/Ralph Kuschke/Arno Meteling (Hg.): Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin 2006, S. 167-186. 43 Ebd., S. 180.

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seine eigene Hand zur Wehr setzen, die er abhackt und prothetisch durch die Kettensäge ersetzt.

Abb. 27: Kettensäge in The Evil Dead Zentral für The Evil Dead ist eine Sequenz, in der Ash in den Keller rennt, um dort zu erleben, wie nicht nur Blut aus den Wänden und in die an der Decke hängende Glühbirne rinnt, sondern wie zuerst ein Grammophon und dann ein Filmprojektor sich selbstständig aktivieren. Während auf der Tonspur von der Schallplatte die typische Musik eines Slapstickfilms läuft, wird Ash von dem weißen Licht des Projektors angestrahlt. Auf dessen Linse tropft aber zunehmend mehr Blut, so dass – wenn man die Szene als selbstbezüglichen Kommentar zu The Evil Dead versteht, der sich sowohl aus dem Archiv des Horror- als auch aus des Slapstickfilms bedient – er von einer immer blutiger werdenden Filmgeschichte angestrahlt wird. (Abb. 28) Für The Evil Dead und The Evil Dead II sind das Thema des Blicks und die Einspielung der subjektiven und durchaus als autonome Instanz spürbaren Kamera zentral. Die Perspektive des gestaltlosen Bösen aus dem Wald ist die der subjektiven Kamera. Mit diesem Point of View ist auch der Blick des Zuschauers die Perspektive des Bösen, die in der letzten Einstellung des Films den Protagonisten buchstäblich verschlingt. (Abb. 29) Das Kino wird bei Raimi wieder zum Rummelplatz und zur Achterbahn, in der der Zuschauer auf eine geradezu taktile Weise das Spektakel mit den Augen verschlingen darf. Mit Raimi übernimmt eine neue Generation von Filmemachern das Kino des Splatterfilms. Dazu gehören Stuart Gordon (ReAnimator, US 1985), Brian Yuzna (Society, US 1989; Bride of Re-Animator, US 1990; Return of the Living Dead 3, US 1993) oder Frank Hennenlotter (Basket Case, dt. Basket Case – Der unheimliche Zwilling, US 1981), die wissend um die Mechanismen ihres ästhetischen Materials die Funktion des Splatterfilms grundlegend verändern. Körper-Horror und KörperKomik überschneiden sich in einer Inszenierung des Spektakels und lassen Elemente des Slapstickgenres wieder aufleben. Man denke, um noch bei den Evil Dead-Filmen zu bleiben, an die Kämpfe, die Ash im Laufe der drei Filme vor allem mit dem eigenen Körper auszutragen hat, mit seinem zweiten Kopf, kleineren Versionen seiner selbst und vor allem mit seiner fremdbestimmten Hand, die offensichtlich zu viele Filme der Three Stooges gesehen hat. Als das neuseeländische Pendant von Raimi kann Peter Jackson gelten, der 1991 mit Braindead den Höhepunkt des phantastischen und komischen Ansatzes im Splatterfilm und den vorläufigen Endpunkt in der filmischen Überbietungslogik der Sichtbarkeit von Gewalt gedreht hat. Seinen Debütfilm Bad Taste (NEUS 1987) hat Jackson über Jahre hinweg im Alleingang und mit minimalem Budget gedreht. Bad Taste handelt von Außerirdischen,

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die Menschenfleisch für ihre Fast Food-Kette erbeuten wollen. Um dieser Gefahr Herr zu werden, ruft man die »Boys«, eine neuseeländische Spezialtruppe, die mit einem Beatles-Fan-Wagen und einer Menge Feuerkraft sich

Abb. 28: Blutrote Filmgeschichte den Außerirdischen – erkennbar an blauen Jeanshosen und hellblauen Hemden – gegenüberstellen. Der Film bezieht seine grotesken Effekte neben der Gewalt vor allem aus der ständigen Thematisierung des Verdauungssystems und installiert einen unendlichen Kreislauf zwischen Essen, Ausscheiden und Erbrechen.

Abb. 29: Kamera essen Seele auf In einer zentralen Szene von Bad Taste gibt es eine groteske und blasphemische Variante des letzten Abendmahls: Die Außerirdischen haben sich in ihrem als Haus getarnten Raumschiff versammelt, um gemeinsam zu speisen. Dazu erbricht einer von ihnen eine große Schüssel voll mit grüner, dicklicher Flüssigkeit. Einer der »Boys« hat sich getarnt unter sie gemischt und darf sich bei dem nun folgenden Ritual, bei dem jeder von der Flüssigkeit kosten muss, nicht verraten. Der komische Effekt dieser Szene entsteht einerseits aus der Mimik des Menschen, der um den Preis seines Lebens seinen Ekel nicht zeigen darf, und andererseits aus der überraschenden und befreienden Reaktion, als er die Flüssigkeit probiert und sie ihm so gut schmeckt, dass er die

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Schüssel nicht mehr absetzen will. Bad Taste endet schließlich mit dem Sieg der Menschen über die Außerirdischen. Der Anführer kann noch mit dem als Haus getarnten Raumschiff abfliegen, aber Derek, einer der »Boys«, hat sich mit seiner Kettensäge in das Haus geschlichen und sägt sich in einer deutlich als Geburt markierten Szene (»I am born again.«) vollständig durch den Körper des Außerirdischen, um sich dann dessen Haut überzustreifen und in dieser Tarnung den fremden Planeten zu überfallen. (Abb. 30) Bad Taste ist ein überbordender Versuch, die von Raimi initiierte Verquickung einer Ästhetik des Splatterfilms mit der cartoonhaften Komik eines Slapstickfilms in neue Höhen zu treiben, ein Versuch, den Braindead schließlich auf die Spitze treibt.

Abb. 30: Kettensäge in Bad Taste Es folgen mit dem Puppenfilm Meet the Feebles (NEUS 1989) eine groteske Splatter-Porno-Parodie der Muppet Show und mit The Frighteners (US/ NEUS 1996) ein Film über einen untoten Serial Killer. Einem größeren Publikum ist er seit der Tragödie Heavenly Creatures (NEUS 1994) bekannt, in dem zwei Freundinnen die Mutter der einen zum Schluss mit einem Ziegelstein erschlagen, weil diese ihre Liebe auseinander bringen will. In den drei Teilen The Lord of the Rings (US 2001-2003), der Verfilmung des gleichnamigen Fantasy-Romans von J.R.R. Tolkien, stellt Jackson als Repräsentation eines manichäischen Gut-Böse-Schemas der Schönheit und Erhabenheit »guter« Figuren eine groteske Hässlichkeit der »Bösen« gegenüber, die zuweilen an Splatterästhetik grenzt. Um einen Muttermord geht es auch in Braindead, mit dem er 1991 das ästhetische Finale des Splatterfilms gedreht hat. In diesem Film wird die melodramatische Befreiungsgeschichte eines Sohnes vor der erdrückenden Präsenz seiner Mutter als groteske Neugeburt gezeigt. Während der Protagonist

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Lionel sich in die Lebensmittellieferantin Paquita verliebt und seine dominante Mutter alles versucht, um ihn weiter zu beherrschen, wird diese während eines gemeinsamen Zoobesuches von einem monströsen »Rattenaffen« aus Sumatra gebissen, von dem der Zuschauer aus der Exposition weiß, dass sein Biss Menschen in mordlüsterne Zombies verwandelt und die einzige Möglichkeit der Rettung im Abschlagen des gebissenen Körperteils besteht. (Abb. 31) Während die Mutter sich nach dem Biss in eine Untote verwandelt und weitere Besucher ihres Hauses infiziert, eskaliert die Situation vollends auf einer Party in dem Haus, und Lionel und Paquita müssen sich einer Heerschar von Zombies mit verschiedenen Haushaltsgeräten erwehren. (Abb. 32) Im Finale des Films ist die untote Mutter inzwischen zu einem gigantischen Monster herangewachsen, und Lionel muss diese groteske Splatterversion seiner »Übermutter« auf dem Dach des Hauses töten, um sich endgültig zu befreien. Dieser Akt geschieht, wie auch das Ende in Bad Taste, indem er sich zunächst verschlingen lässt, um dann neu geboren zu werden. Wie in Bad Taste muss das Monster dabei grotesk aufplatzen. So gesellt Jackson zu der Emanzipationsgeschichte eines Muttersöhnchens eine rasant geschnittene und groteske Horrorshow, die mit jeder nur denkbaren Todes- und Verstümmelungsart eine Art Schaulaufen im seriellen Sketchformat abhält.

Abb. 31: Rattenaffe aus Sumatra Sprach Walter Benjamin vor allem in der zweiten Fassung seines Aufsatzes Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit noch davon, dass die Schauspieler eine Testung, eine Art Wettbewerb vor der »Apparatur« – und er meinte damit die Kamera und das Publikum gleichermaßen – zu erfüllen haben,44 so ist in Braindead deutlich ein Wettbewerb der Körperzerstückelungs- und Vernichtungsmaßnahmen zu beobachten. Die Auflö44 Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [2. Fassung] (1935/36)«, in: Ders.: Ein Lesebuch. Hg. von Michael Opitz, Frankfurt am Main 1996, S. 313-347, hier S. 327-328.

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sung der Körper erfolgt dabei als Verteilung von Blut und Körperteilen auf die gesamte Mise en Scène. In Braindead wird ein solches Übermaß an blutiger Gewalt in Szene gesetzt und von der Harmlosigkeit des einfältigen Protagonisten gespiegelt, der mechanisch immer weiter versucht, alles in Ordnung zu bringen, dass der Film vollends von der Wirkung des Schreckens abrückt und auf die komische Seite des Grotesken verschoben wird. Als einzige Lösung angesichts dieser Unmöglichkeiten an hyperbolischer Gewalt bietet sich dem Kinozuschauer deshalb nur noch das staunende Lachen an. Mit Braindead tritt der Horrorfilm endgültig in eine Phase der Anführungszeichen.

Abb. 32: Zombie-Party

4. Prosopopöie. Die Masken des Monsters Peter Jackson nimmt mit seinem ersten 1996 in Hollywood produzierten Film The Frighteners den Zahlenwahn der Teenager-Slasherfilme aufs Korn, in dem der Geist eines schon hingerichteten Serienmörders kein anderes Motiv für sein mordendes Fortleben vorweisen kann, als allein den Zwang zur Addition, zur Serie. Es geht ausschließlich um den zählbaren Rekord des Body Counts. So erscheint auf der Stirn des nächsten Opfers immer die jeweilige Nummer im Register des Serienmörders, und die Fabrikation von Leichen

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findet wie im Slasherfilm der 1980er Jahre allein um der Zahl willen statt. The Frighteners kommentiert damit im Nachhinein die wachsende Tendenz des Splatterfilms, die Geschichten zu serialisieren und in episodischer Form verschiedene Tötungsarten zu demonstrieren. Am deutlichsten ist dies im Slasherfilm der 1980er Jahre, wie den Fortsetzungsreihen nach John Carpenters Halloween, Sean Cunninghams Friday the 13th (dt. Freitag der 13., US 1980) und Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (dt. Nightmare – Mörderische Träume, US 1984), zu beobachten. Dort geht es zunehmend um das Konzept der »Various« oder »Creative Deaths«. Mit der Figur des Slashers, eines Serienmörders, der Teenagern nachsteigt und sie zumeist mit einem Messer oder anderen scharfen Gegenständen aufschlitzt oder aufspießt, entsteht auch eine neue Form der Monsterikonographie, die die animalisch-expressiven Gesichter der phantastischen Monster wie Vampir oder Werwolf in das nicht sichtbare Antlitz eines ebenso phantastischen, aber völlig entindividualisierten und entpsychologisierten Monsters hinter einer Maske verwandelt. Neben der Umfunktionierung von banalen Werkzeugen und Haushaltsgeräten wie Messern, Heugabeln, Äxten oder Kettensägen, wie schon in The Texas Chainsaw Massacre oder in The Evil Dead, werden deshalb die Masken der Mörder sowie eine spezifische Tonspur, die zumeist das Mordwerkzeug vertont, zu den entscheidenden Markenzeichen dieser modernen Monster. Die bekanntesten Masken sind die aus einem menschlichen Gesicht gefertigte Maske von Leatherface aus den Texas Chainsaw Massacre-Filmen, die weiße Eishockey-Maske von Jason Vorhees aus der Friday the 13th-Serie, die weiße Halloween-Maske von Michael Myers aus den HalloweenFilmen oder auch das verbrannte Gesicht und die vierfingrige Klingenklaue von Freddy Krueger in A Nightmare on Elm Street sowie schon die Verkleidung von Norman Bates als seine Mutter in Psycho und seinen Fortsetzungen. In Wes Cravens drei Scream-Filmen (US 1996, 1997, 2000) sorgt die Maske, die dem Gemälde Der Schrei (1902) von Edvard Munch nachempfunden ist, dafür, dass der Mörder erstens nicht identifiziert werden kann, weil jeder diese Maske trägt, und zweitens, dass der Mörder auch jedermann ist. Jedes Mal stecken andere Personen hinter der Persona der Slashermaske. Auch die Stimmen der Mörder tragen nicht zur Identifizierung bei. Leatherface, Vorhees und Myers sprechen gar nicht, Krueger trägt als moderne Version eines geschwätzigen Tricksters schamanischer Traumwelten ausschließlich Sentenzen, Bonmots und One-Liners vor sich her, und die multiplen Killer hinter der Scream-Maske sprechen dem technischen Standard der 1990er Jahre angemessen nur noch mit einem Gerät zur Stimmenverzerrung beziehungsweise lassen ihre Stimme nur noch aus dem Mobiltelefon erklingen. So können Maske, Stimme und zuweilen auch die erkennbare Tonspur des Mordwerkzeugs für die Personifizierung der Slasherlogik, des seriell geschalteten Tötungsprogramms, einstehen, aber keinesfalls mehr für eine individuelle Figur hinter der Persona. Der Slasher lässt dabei keine eindeutige Lesart seiner Taten, seiner Identität oder gar seines Motivs zu. Denn die Maske dieses modernen Monsters fungiert als universales Erkennungszeichen, als Logo und Corporate Design und als Ersatz für eine individuelle Identität, aber sie führt zugleich ihre allegorische Entleerung vor. So sind Maske und Mordwerkzeug filmische Realisierungen der rhetorischen Figur der »Prosopopöie« in der Lesart Paul de Mans, der diese nicht mehr als Figur

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der Personifizierung begreift, sondern in einem weiteren Sinne als Maske oder Gesicht für eine Stimme, die kein Gesicht, keine Identität hat. Die Prosopopöie wird für de Man deshalb zu einer Art Meistertrope, die die verschiedenen Stimmen innerhalb eines ganzen Textes strukturiert: Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. […] Bei unserem Thema, der Autobiographie, geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Fi45 gur, Figuration und Defiguration.

Der Slasher repräsentiert nichts mehr und kann deswegen mit jeder Bedeutung aufgeladen werden. Von einem psychoanalytisch formulierten Kindheits- oder Jugendtrauma, wie im italienischen Slasherfilm, dem Giallo, über die Tatsache, dass der Slasher der Agent einer repressiven und reaktionären Politik ist,46 oder ein übernatürliches Böses, wie es die Fortsetzungen von Halloween, Friday the 13th und A Nightmare on Elm Street zunehmend nahe legen, all dies kann als Grund für das Morden angegeben werden. Letztlich ist wie beim Slasherfilm, der die Morde allein um ihrer Zeigbarkeit inszeniert, nicht auszumachen, welches Programm den Slasher zu seinen Morden treibt. Dennoch muss diesem Programm ein Gesicht, eine Stimme verliehen werden, und die Lösung des Horrorfilms liegt in der Kombination von Körper, Maske und Mordwerkzeug.47 45 Paul de Man: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, S. 131-146, hier S. 140. Zur Erweiterung des Konzepts der Prosopopöie auf der akustischen Ebene vgl. Bettine Menke: »De Mans ›Prosopopöie‹ der Lektüre. Die Entleerung des Monuments«, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man, Frankfurt am Main 1993, S. 34-78; Bettine Menke: »Prosopopoiia. Die Stimme des Textes – die Figur des ›sprechenden Gesichts‹«, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Weimar 1997, S. 226-251; Bettine Menke: »Allegorie, Personifikation, Prosopopöie. Von Steinen und Gespenstern«, in: Eva Horn (Hg.): Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 59-73 sowie Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. 46 Üblicherweise werden die Aktionen der Teenager-Slasher als puritanische Bestrafungsaktionen gegenüber Teenagern inszeniert, die sich verbotenen Sünden wie Parties, Sex und Alkohol hingeben. Der Slasher agiert dabei als Agent einer repressiv-reaktionären Kultur. Spielerisch aufgenommen wird das vor allem in James Isaacs Jason X (US 2001), des zehnten Teils der Friday the 13th-Reihe, der in einer fernen Zukunft spielt, in dem der unaufhaltsame Killer Jason Vorhees durch Hologramme abgelenkt und aufgehalten wird, die aufreizende Bikini-Mädchen am Strand und kiffende Jugendliche am Lagerfeuer zeigen. 47 Technisch bedeutet die Rhetorik der Prosopopöie für den Splatterfilm nicht nur den Einsatz von Masken, sondern auch von modernen Special Effects, die den menschlichen Körper in verschiedenen Verwundungs-, Zerstückelungs- oder Verwesungsstadien zeigen. Durch die starke Fokussierung auf die Masken im Genre des Körper-Horrors gewinnen deshalb die Maskenbildner zunehmend

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III. Kulturtechnik Splatterfilm It would be hard to discuss the modern horror film without talking about scenes in these films (or their many imitators) of over-thetop, ever-escalating graphic violence and gore (or »FX« [effects] as the fans say). It is common to witness gross bloody dismemberments, piles of internal organs, numerous corpses in stages of decay, headless bodies, knives or chain saws slashing away at flesh, and general orgies of mayhem. Cynthia A. Freeland

1. Nummern-Revue Da gerade am Splatterfilm immer wieder das Thema »Medien und Gewalt« untrennbar mit der Wirkung von Film auf den Zuschauer in allgemeiner Weise verhandelt wird, soll an dieser Stelle ein Vorschlag zur Beobachtung der Wechselwirkung zwischen Film und Betrachter aus der Sicht des Splatterfilms gemacht werden. Dabei soll ein Blick diesseits der Leinwand oder genauer: diesseits des Fernsehbildschirms gewagt werden, denn der Horror findet längst nicht mehr ausschließlich im Kino statt, sondern auf Video, DVD oder in Video- und Computerspielen. Die entscheidenden Fragen lauten: Gibt es einen beschreibbaren Zusammenhang zwischen der spezifischen Erzählweise und Ästhetik des Splatterfilms und seiner Rezeption diesseits von psychoanalytischer Betrachtertheorie und empirischer Psychologie? Kann das Schauen von Splatterfilmen als eine Kulturtechnik identifiziert werden?48

selbst an Bedeutung. Tom Savini, Dick Smith, Joe Blasco, Rick Baker oder Chris Walas, die mit Latex, Plastik und Farbe die blutigen Bilder der Gewalt fabrizieren, werden selbst zu bekannten Künstlern, und einige von ihnen wechseln danach auch in das Regiefach. Tom Savini dreht zum Beispiel nach einem Drehbuch von Romero mit Night of the Living Dead (dt. Die Rückkehr der Untoten, US 1990) ein farbiges Remake, und Chris Walas dreht mit The Fly II (dt. Die Fliege 2, US 1989) eine Fortsetzung von David Cronenbergs The Fly (dt. Die Fliege, US 1986). 48 Wenn man die zu diskutierenden Kulturtechniken des Filmeschauens theoretisiert, kommt man zu dem Ergebnis, dass es unmöglich ist, präzise festzustellen, wie Zuschauer auf Bilder der Gewalt reagieren. Die theoretisch eher schlichte Stimulus-Response-These der direkten Nachahmung inszenierter Gewalttaten scheint genauso falsch zu sein wie die Aristotelische These von der Katharsis, die eine katalytische Läuterung bedeutet. Vergleichbar funktioniert die Variante der Inhibitionsthese, nach der sich der Zuschauer eher mit dem Opfer identifiziert und deshalb von der Gewalt abgeschreckt wird. Gängig ist überdies noch die Habitualisierungsthese, die den Allgemeinplatz der Abstumpfung bei regelmäßigem Konsum von Gewaltbildern vertritt. Feststellen muss man aber, dass Bilder der Gewalt zumindest irgendeine Art von Wirkung oder Spur und vielleicht sogar Formatierung hinterlassen.

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Linda Williams erklärt in ihrer Studie Hard Core die Entstehung der modernen Pornographie aus der visuellen Lust, die durch die wissenschaftliche Vermessung des Körpers im Rahmen der Erfindung optischer Geräte des 19. Jahrhunderts entstanden ist – »Kameras, magische Laternen, Projektionslebensrad, Stroboskope, Kinematographen, Kinetoskope und die Vorläufer des Films wie wir ihn heute kennen«49. Die visuelle Lust verlangt vom Pornofilm zunehmend eine Ästhetik, die nach dem Prinzip der maximalen Sichtbarkeit funktioniert.50 Gefragt sind also die Groß- und Detailaufnahme sowie eine Ausleuchtung bis zur Überbelichtung. In dem Kapitel »Nummer und Narration« nimmt Williams eine entscheidende Verquickung von Filmästhetik und -erzählweise für den pornographischen Film vor.51 Sie stellt die Frage, woraus denn das Genre des pornographischen Films bestehe, und kommt zunächst zu einer simplen Antwort: »Eine vordergründige Antwort ist schnell bei der Hand: Der pornographische Film besteht aus sexuellen Handlungen innerhalb und in Form einer Erzählung.«52 Da Pornographie aber nicht einfach gleichbedeutend mit abgefilmtem Geschlechtsverkehr ist, wie sie mit ihren ikonographischen Analysen von Meat und Money Shots belegt, muss Williams die filmischen Konventionen des Genres näher untersuchen. Diese bestehen in dem Zusammenhang von verschiedenen mehr oder weniger isolierten sexuellen »Nummern« und ihrer Beziehung zur Narration. Die Einlagen werden als »Nummern« bezeichnet, weil sie, um Williams zu ergänzen, an die einzelnen Varieté-Nummern erinnern, in deren Zusammenhang auch das Medium Film selbst seine Karriere begonnen hat. Der Pornofilm zeichnet sich also durch eine Anzahl an SexNummern aus, die die Handlung scheinbar immer wieder unterbrechen. Williams kommt zu dem Schluss: »Tatsächlich ist der Pornofilm bis zu einem gewissen Grad eine Art Musical, bei dem die Sex-Nummer an den Platz der Musiknummer tritt.«53 So gilt für einen pornographischen Spielfilm wie auch für ein Musical: »Die Narration durchdringt die Nummern, und umgekehrt durchdringt die Nummer die Narration.«54 Obwohl Williams beteuert, dass die Nummern deswegen eben nicht die Handlung unterbrechen, sondern diese befördern, »[i]n anderen Worten, wie im Musical ist die Episodenform der pornographischen Erzählweise alles andere als ein dürftiger Vorwand für die Sex-Nummern: Sie ist wesentliches Bestandteil der Lösung der sich häufig widersprechenden Wünsche ihrer Figuren«,55 muss man dem Pornofilm dennoch eine gewisse Distanz zu der Narration eines konventionellen Erzählfilms ohne »Nummern« zugestehen. Und hierin bestehen sowohl in der Ästhetik – im Close Up und der Ausleuchtung von Körperöffnungen – als auch im Filmaufbau die Parallelen zum Splatterfilm. Der Splatterfilm, der ebenso wie der Pornofilm auf die somatischen Aspekte des Kinos abzielt, kann als das strukturelle Pendant zum pornographischen Film betrachtet werden.56 Beide Genres basieren in ihren jeweiligen 49 50 51 52 53 54 55 56

L. Williams: Hard Core, S. 66-67. Vgl. Ebd., S. 83. Vgl. Ebd., S. 165-201. Ebd., S. 166. Ebd., S. 169-170. Ebd., S. 176. Ebd., S. 181. Die Grenzen zwischen Sexfilm und Splatterfilm sind überdies bei vielen Filmemachern schon in den 1960er Jahren fließend. Neben vielen italienischen Regis-

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Feldern »Sex« und »Gewalt/Horror« zunächst auf dem Prinzip der maximalen Sichtbarkeit. Was dem pornographischen Film die Meat Shots und Come oder Money Shots sind, kann im Splatterfilm Wound Shot genannt werden, die Detailaufnahme der geschlagenen Wunde. Diese Wunde zeigt im Gegensatz zum Pornofilm eine neue und illegitime Körperöffnung, die durch einen Akt der Gewalt geschaffen wird. Die Ästhetik der maximalen Sichtbarkeit tritt auch im Splatterfilm zunehmend in Wechselwirkung mit der Narration des Films, und der Film wird episodischer. Die Handlung wandelt sich zu einer Reihe von serialisierten Schocksequenzen, die jeweils den Gewaltakt am menschlichen Körper zeigen. Statt diese Sequenzen aber in einen narrativen Rahmen zu einem kontinuierlich verlaufenden Plot zusammenzufügen, folgt stattdessen die nächste Sequenz des nächsten blutigen Gewaltakts. So kann als Tendenz des Splatterfilms formuliert werden, dass sich das gesamte narrative Gefüge im Sinne einer kohärenten Dramaturgie zunehmend auflöst. Die Sequenzen wiederholen sich wie in der Stellungskombinatorik des pornographischen Films in nur geringer Varianz, und die Ereignisse werden auf Serialität abgestellt. Man kann dabei von »Gewalt-Nummern« sprechen. Aus diesem Grund bietet sich für den Splatterfilm das Sujet des Serial Killers oder Slashers besonders gut an. Wie der Pornofilm, in dem zwischen den Geschlechtsakten einfach nichts passiert, beziehungsweise »die Protagonisten des Films länger brauchen, um sich von A nach B zu begeben, als man es sehen möchte«,57 wie Umberto Eco es definitorisch einleuchtend für den Pornofilm festlegt, fordert der Splatterfilm zunehmend zu einer Stellenlektüre der Gewaltszenen, zu einer Rezeptionshaltung des »Numbering« dieser Stellen heraus. Der Splatterfilm bedeutet somit wie der Pornofilm und das Musical eine narrative Entstellung, eine Defiguration der Erzählform des Spielfilms, dessen Spannungsbogen immer noch dem eines klassischen Dramas oder deutlicher noch: dem eines realistischen Romans des 19. Jahrhunderts nachgebildet ist. Für die Aufzählung oder Listung der Splatterszenen oder Gewalt-Nummern werden verschiedene Begriffe verwendet. Cynthia A. Freeland übernimmt in ihrem Buch The Naked and the Undead von Williams den Begriff der »Nummern« für die Splatterszenen und klassifiziert im Rahmen einer Besprechung des »graphic horror« die Szenen nach ihrem Blut und EingeweideGehalt: Numbers are sequences of heightened spectacle and emotion. They appear to be interruptions of the plot – scenes that stop the action and introduce another sort of element, capitalizing on the power of the cinema to produce visual and aural spectacles of beauty and stunning power. Other genres featuring numbers include the musical, Western, gangster film, and melodrama. Number in these genres would be the musical selections with song and dance, the gunfights and shootouts, or the scenes that portray overwhelming sadness and weeping. […] The numbers in pornography are, of course, scenes depicting sexual activity. […] Much the same is true in horror. seuren oder dem Spanier Jesús Franco ist es vor allem der Amerikaner Herschell Gordon Lewis, der mit Blood Feast den Sexfilm hinter sich lässt und zum Splatterfilm wechselt. 57 Umberto Eco: »Wie man einen Pornofilm erkennt (1989)«, in: Ders.: Wie man mit einem Lachs verreist und andere nützliche Ratschläge, München 1999, S. 121-124, hier S. 124.

KÖRPER-HORROR. DER SPLATTERFILM|101 Visions of monsters and their behavior or scenes of exaggerated violence are the numbers in horror: what the audience goes to the films for and expects, what deliv58 ers the thrills they want to experience.

Der Splatterfilm ist in dieser Hinsicht eine varietéhafte Nummern-Revue und entspricht einer panoptischen Ausstellung von Miniszenen, Gemälden oder Skulpturen des Schreckens. Die Zeit bleibt für einen kurzen Augenblick stehen und kristallisiert zu einem anderen Medium, damit der Zuschauer wie in einem Museum, einer Gemäldegalerie, einem Kaiserpanorama oder einem Photoalbum ein Stillleben, eine Nature Morte, betrachten kann. Zusammenfassend kann man zwei Bewegungen vom klassischen Horrorfilm zum modernen Splatterfilm feststellen, die im pornographischen Film präfiguriert sind oder analog verlaufen. Die erste betrifft die Mise en Scène: Sie wandelt sich zur Autopsie und häufig zu einer endoskopischen Fahrt in Großaufnahme in den menschlichen Körper hinein. Die zweite Bewegung betrifft die Montage, die man auch Narration oder Handlung nennen könnte: Der Splatterfilm wird wie das Musical oder der Pornofilm zu einer Nummern-Revue. Ob man das kritisch als die »Wiederholung des Immergleichen« oder innovativ als »Differenz und Wiederholung« bezeichnen möchte, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen. Beide Bewegungen finden schon in den 1980er Jahren in der Rückführung des Splatterfilms zum phantastischen Horror einerseits und im Slasherfilm andererseits ihre Höhepunkte. Denn gerade in der Inszenierung der Splatterszenen ist eine deutliche Verschiebung zu beobachten. Während die Splatterfilme der 1970er Jahre die Gewalt-Nummern vorwiegend im semidokumentarischen Stil als Authentifizierungsstrategie einsetzen, kommt in den 1980er Jahren bei einer ins Hyperreale sich steigernden Sichtbarkeit von Gewalt der verdrängte phantastische Horror zurück.

2. Stellenlektüre Die entscheidende Frage angesichts der Verschiebungen in Ästhetik und Narration, die den Splatterfilm vom klassischen Horrorfilm und damit vom Erzählkino distanzieren, wäre die, ob sich auch eine Verschiebung in der Rezeptionshaltung zumindest in Einzel- oder Extremfällen feststellen ließe. Diese Frage nach der Aufnahme und einer möglichen Internalisierung von Bildern der Gewalt scheint gegenwärtig virulent zu sein. An dieser Stelle soll deshalb einer Vermutung nachgegangen werden, die sich auf die strukturelle 58 Cynthia A. Freeland: The Naked and the Undead. Evil and the Appeal of Horror, Boulder, Oxford 2000, S. 256. Anette Kaufmann nennt diese »Nummern« in einem kritischen Sinne »Blut-Bilder«, Kunstwerke, die die Gewalt am Körper des Opfers inszenatorisch überhöhen: »Werden dagegen die Morde als artifizielle Blut-Bilder arrangiert, die ein kreatives Potential des Serial Killers erkennen lassen, bleiben die bereits getöteten Opfer zwar marginale, oft namenlose Figuren, erhalten aber eine über den Tod hinausgehende Bedeutung. Die kunstvoll zugerichteten toten Körper existieren als verschlüsselte Datenbank, die Hinweise auf die Identität des Serial Killers enthält. Durch die Gestaltung gewinnen die Leichen den Charakter makabrer Kunstobjekte, was ihnen eine gewisse Einzigartigkeit verleiht und sie in bizarrer Irrealität erscheinen lässt.« Anette Kaufmann: »Blut-Bilder. Serial Killer im amerikanischen Thriller«, in: Jürgen Felix (Hg): Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin 1998, S. 193-216, hier S. 198-199.

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Ähnlichkeit des Splatterfilms zum pornographischen Film, aber mehr noch auf den medialen Wandel, den exakt diese beiden Genres vollzogen haben, bezieht. Denn Porno- wie Splatterfilm sind inzwischen filmische Genres, die nicht mehr exklusiv im Kino, sondern zu einem großen Teil im heimischen Wohnzimmer mit Hilfe des Videorecorders oder DVD-Players angeschaut werden. Spätestens mit dem Eintritt des Splatterfilms in die Filmgeschichte entsteht eine neue Kategorie der Filmbeobachtung und -bewertung, die sich den beiden erwähnten Neuerungen, der maximalen Sichtbarkeit exponierter Gewaltszenen und der sich wiederholenden nummernhaften Erzählweise dieser Szenen, anpasst. Diese Rezeptionsweise besteht quantitativ im Abzählen der Splatterszenen, der Gewalt-Nummern, und qualitativ in der Einschätzung und Bewertung der Glaubhaftigkeit und Machart sowie in der Wertschätzung einer hyperrealen Übertriebenheit der Szenen sichtbarer Gewalt. Noch mehr als Benjamin in der zweiten Fassung seines Kunstwerk-Aufsatzes die Kinoschauspieler vor einem »Gremium an Fachleuten« und einem testenden und examinatorischen Publikum, einer »Apparatur« genau wie die Filmkamera selbst, auflaufen lässt, die seine »Testleistung« beurteilen,59 geraten die Gewalt-Nummern, wie paradigmatisch an Braindead zu beobachten ist, auf dem heimischen Videorecorder oder DVD-Player zu einem Schaulaufen oder einem Wettbewerb hinsichtlich Quantität und Qualität der dargestellten Gewalt.

Abb. 33: Stellenlektüre: Halloween und die Regeln Diese Veränderungen des Sehverhaltens werden vom Splatterfilm selbst gespiegelt. In John McNaughtons Henry: Portrait of a Serial Killer (US 1986) kommen der Serienmörder Henry und sein neuer Kompagnon Otis gerade von der brutalen Ermordung einer dreiköpfigen Familie, in deren Wohnung sie eingebrochen sind, zurück. Sie haben alles mit einer tragbaren Videokamera aufgezeichnet. Zuhause angekommen, schauen sie sich das Heimvideo mit den Morden an. Plötzlich stoppt Otis, der die Fernbedienung in der Hand hält, die Szene. Was er denn da tue, fragt Henry, der neben Otis auf dem Sofa sitzt. Otis antwortet, dass er die Szene noch einmal sehen wolle, und schaut sie sich noch einmal in Zeitlupe an.

59 Vgl. W. Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter [2. Fassung].

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In einer zentralen Szene von Scream schauen sich die Teenager in einem Wohnzimmer Halloween an und halten wie selbstverständlich bei einer Mordszene den Videorecorder an, während der Experte, ein Verkäufer aus einer Videothek, vor einem Standbild, das ein großes Messer in der Hand des maskierten Halloween-Slashers Michael Myers zeigt, die anderen über die Regelsätze des Slasherfilmgenres aufklärt. (Abb. 33) Zugleich, und darin besteht die rahmende Komik dieser Szene, werden die Teenager hinter ihrem Rücken selbst nacheinander abgestochen, weil sie diese Regeln missachten. Die ganze Szene wird überdies in einer Situation der Beobachtung zweiter Ordnung von einer versteckten Kamera aufgenommen, und die beobachtende Fernsehjournalistin im Übertragungswagen muss aufgrund einer zeitlichen Verzögerung ebenfalls zu den entsprechenden Stellen zurückspulen, um zu sehen, was dort geschehen ist. In beiden Beispielen wird eine neue Kulturtechnik der Filmbetrachtung gezeigt, die nicht mehr auf das organische Ganze des Films als Abbildung von Welt oder auf seine geschlossene Dramaturgie setzt, sondern vielmehr auf den Kitzel einzelner Filmszenen. Man kann diese Art der Betrachtung »Stellenlektüre« nennen, und Stellenlektüre funktioniert nur deswegen, weil der Regelsatz, nach dem diese Filme funktionieren, bekannt ist.60 Der Zuschauer weiß, dass es im Splatter- und Slasherfilm um exponierte Stellen der Gewalt geht und dass diese in einen Schematismus der Wiederholung eingespannt sind. Denn durch seine ständige Wiederholungslektüre ist der Zuschauer ein Kenner und Experte, ein dandyhafter Aficionado geworden, und er erwirbt durch die wachsende Marginalisierung dieser Filme im Kino ein zunehmend exklusiveres arkanes Herrschaftswissen. Er genießt bevorzugt noch die Inszenierung und sein Wissen um die Machart der einzelnen Gewalt-Nummern. An den heimischen Videorecordern und DVD-Playern entsteht auf diese Weise eine neue Generation von Zuschauern, die als Porno- oder SplatterDandys in ihren Privatarchiven nicht nur die Filmeditionen mit den wenigsten Zensurschnitten stehen haben, sondern auch Frequenz und Machart der Sex- oder Gewalt-Nummern fachmännisch beurteilen können. Es geht diesen Splatterfilm-Aficionados oder -Dandys um bestimmte überhitzte Stellen, um die Machart und mitunter auch um eine ironische Wertschätzung schlechter Special Effects. Susan Sontag beschreibt diese besondere Art der Rezeption als »Camp« und als Nachfolge des Dandytums hinsichtlich des Interesses für »Stil« und »Haltung« und der Vernachlässung des »Inhalts«:61 8. Camp ist eine Betrachtung der Welt unter dem Gesichtpunkt des Stils – eines besonderen Stils freilich. Es ist die Liebe zum Übertriebenen, zum ›Übergeschnappten‹, zum ›alles-ist-was-es-nicht-ist‹. […] 45. Gleichgültigkeit ist das Privileg der Elite. Im 19. Jahrhundert ist der Dandy der Stellvertreter der Aristokraten in Fragen der Kultur; Camp ist der moderne Dandyismus. Camp ist die Antwort auf das Prob62 lem: Wie kann man im Zeitalter der Massenkultur Dandy sein?

60 Den Hinweis auf die Kulturtechnik »Stellenlektüre« verdanke ich Harun Maye. 61 Susan Sontag: »Anmerkungen zu ›Camp‹ (Notes on ›Camp‹)«, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt am Main 2003, S. 322-341, hier S. 324. 62 Ebd., S. 326; S. 337.

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Wenn die Vampirin Claudia in Interview with the Vampire ihr Urteil »How avantgarde« angesichts der Grand Guignol-Horrorshow der Pariser Theatervampire mit einem leicht verächtlichen Tonfall ausspricht, ist das schon die hochartifizielle Rezeption einer Expertin. Diese Rolle des Splatter-Dandys kann auch neben dem Camp-Interesse für das Nutz- und Belanglose in der Kunst oder für Details in Porno- oder Splatterfilmen an die frühe Dandymaske des Flaneurs zurückgebunden werden. Denn der Aficionado wandert beständig und ziellos durch seine Filmbestände oder durch neu entdeckte Sammlungen und Spezialvideotheken und spult sich desinteressiert durch den langweiligen Plot, um dann bestimmte Stellen des Films zu genießen, die allein aufgrund der Inszenierung, sei es Sex oder Gewalt, sein Interesse erregen. Francis Ford Coppolas Film Bram Stoker’s Dracula nimmt diese hermeneutisch verbotene Kulturtechnik der Stellenlektüre63 zum Anlass einer Reflexion über Sexualität und Medienrezeption, die auf die Medien Buch und Buchillustration projiziert wird. Während Bram Stoker’s Dracula vor allem technische Aufzeichnungs- und Abspielmedien inszeniert, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts existieren (bis hin zu der anachronistischen Filmaufführung im London von 1890),64 geht es in einer Salonszene deshalb auffällig um das alte Medium Buch und um das Sujet der »galanten Lektüre«: Zunächst sitzt Mina Murray, die Verlobte von Jonathan Harker, wie üblich an ihrer Schreibmaschine und tippt. Dann fällt ihr ein dickes Buch vom Schreibtisch, das sich auf dem Boden öffnet und eine Farbtafel zeigt. Als Minas Freundin Lucy Westenra hinzukommt, legt Mina das Buch verschämt auf den Schreibtisch zurück. Zusammen blättern sie dann aber doch in dem Buch und betrachten vor allem die Farbtafeln. Eine Sammlung von unterschiedlichen »Stellungen« verschiedener Geschlechtsakte illustriert das Werk. Das Buch erweist sich als die englische Ausgabe der Arabian Nights (1885-88), übersetzt von Sir Richard F. Burton, wie eine Nahaufnahme des Buchdeckels zeigt. (Abb. 34) Ob Mann und Frau das wirklich tun könnten – so herum, lautet die ungläubige Frage der viktorianischen Verlobten Mina. Die abenteuerlustige Lucy antwortet, dass sie es getan habe, gerade erst letzte Nacht, aber nur in ihrem Traum. Also nur im Traum. Aber dennoch: Diese Bücher scheinen eine gefährliche Lektüre für anständige Damen der Gesellschaft darzustellen, und es geht dabei nicht um die Verteufelung der ganzen Geschichte, um die Moral oder die Dramaturgie der exotischen und erotischen Geschichten aus 1001 Nacht, sondern es geht um das Blättern, um die Farbtafeln und um bestimmte und pikante »Stellen«. Mit diesen verbotenen Stellen in anstößiger Literatur und einer konsequenten Geschichte der Zensur, die sich sowohl auf den Text als auch auf die Lektüreweise bezieht, ist eine Reaktion auf ein Medium – oder auch: auf ein Genre – vorgezeichnet, die auf den Umgang mit pornographischen und Splatterfilmen heute noch zutrifft.

63 Zur Beurteilung dieser Lektüre »um 1800« und »heute« vgl. Georg Stanitzek: »Brutale Lektüre, ›um 1800‹ (heute)«, in: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265. 64 Friedrich Kittler hat in seiner medienorientierten Lektüre des Romans die Bedeutung der technischen Medien präzise aufgeführt. Vgl. Friedrich Kittler: »Draculas Vermächtnis«, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 11-57.

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Abb. 34: Pikante Stellen in den Arabian Nights Neben den systemischen Auswirkungen des Buchdrucks in der frühen Neuzeit, wie sie beispielsweise Michael Giesecke in seinem gleichnamigen Werk aufzeichnet,65 gibt es deshalb noch eine andere Geschichte des Buches, die nur wenig später beginnt. Beat Wyss macht im Rahmen des Buchdrucks auf die Kehrseite der Bildungsliteratur aufmerksam. Denn es beginnt neben dem Druck von Bibeln und Erbauungsliteratur auch schnell die Produktion von pornographischer Literatur. Wyss berichtet von der französischen Belletristik im 17. Jahrhundert, den »Franzenbänden«, die in Holland und Deutschland großen Absatz finden. Die »sujets galants« wandern in die erotischen Romane, die entsprechend illustriert sein können. Neben anderen Vorwürfen, die gegen das neue Medium Buch erhoben werden, ist es diese Art von Literatur, die den Widerstand der Kirche und der Moral hervorruft: »Der Zürcher Calvinist Gotthard Heidegger wetterte 1698 gegen solche ›Buhlerpossen‹, welche die ›Brunst‹, die ›Holdschaft und kitzelnde Begirde‹ weckten.«66 Wyss fasst zusammen: »Eigentlich hatten die Moralisten ja recht: Der Roman war die mind-machine des galanten Zeitalters; das Romanlesen eröffnete die Medienrezeption mit der rechten Hand.«67 Eine vergleichbare Funktion wie die erotischen Illustrationen in den »galanten Romanen« erfüllen die erotischen Szenen im Buch selbst, und die 65 Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1998. 66 Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien, Köln 1997, S. 42. 67 Ebd.

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Rhetorik der Erotik lädt, wie die Farbtafeln der Arabian Nights, zum Blättern und zum Verweilen auf bestimmten Seiten und an bestimmten Stellen des Buches ein. Man kann von der Schattenseite der Ekphrasis sprechen, denn gerade in diesen Szenen geht es um die genaue Beschreibung eines Bildes, einer Szene, um nicht zu sagen »Nummer«. Und diese Art der Beschreibung führt und verführt zu einer Lektürehaltung, die seit der Entwicklung der Sinn stiftenden Hermeneutik verpönt ist – der Stellenlektüre. Und wenn die Hermeneutik, die Verstehens- und Auslegungslehre, die sich aus der Bibelexegese und -allegorese entwickelt, in der frühen Neuzeit, in der Romantik und bis heute vor einer Art des Lesens warnt, dann ist es eben diese isolierte Lektüre einzelner Stellen im Buch. So lautet der medienpädagogische Standardvorwurf heute, dass die Jugendlichen keinem ganzen Textzusammenhang mehr folgen könnten, weil durch steten Fernsehkonsum – vor allem von Musiksendern mit ihrer schnell geschnittenen Videoclipästhetik – ihre Aufmerksamkeitsspanne nur noch für einzelne Stellen ausreiche. So verknüpft sich der puritanische Widerstand gegen die »galante« oder »einhändige« Lektüre68 mit einer hermeneutischen Kritik, die ausschließlich auf die organische Ganzheit eines sinnhaften Textes setzt und keinesfalls Blättern und Stellenlektüre erlaubt.69 Die Fortsetzung dieses fragwürdigen Umgangs mit vormodernen Romanen ist die perfekte Heimkino-Kombination von »Fernseher-Videorecorder/ DVD-Player-Fernbedienung«. Mit den neuen Betrachtungstechniken von Vorspulen, Anhalten, Pausieren, Standbild und Zurückspulen am heimischen Videorecorder oder DVD-Player, und das zudem bequem und einhändig per Fernbedienung, eröffnen sich genau die Möglichkeiten einer Kulturtechnik des Blätterns und der Stellenlektüre, die der »galanten Lektüre« entsprechen. Endlich können die langweiligen Stellen aus Filmen, die mitunter schon bekannt sind, ausgeblendet werden, damit man schnell – sei es im pornographischen Film, im Musical, im Actionfilm oder im Splatterfilm – zu den entscheidenden Stellen des Interesses, den »Nummern«, gelangt. Mit der Kapiteleinteilung im Medium DVD werden überdies Sequenzen und Zwischentitel eingesetzt, die im Kinofilm nicht vorgesehen sind. Der Zuschauer spult sich also von Sex-Szene zu Sex-Szene, von Action-Set zu Action-Set oder von Gewaltstelle zu Gewaltstelle und merkt dabei, dass er zumindest im Splatter- oder Slasherfilm, was den Schauwert einiger Filme anbelangt, offensichtlich nichts verpasst. Der scharfsinnige Medien- und Körperbeobachter David Cronenberg findet zu diesem Themenkomplex die passenden Bilder. Eine präzise Spiegelung der beschriebenen Kulturtechniken zeigt der Splatterfilm Videodrome. Dort ist der Protagonist Max Renn, Leiter eines kleinen Fernsehsenders, der Porno- und Gewaltfilme ausstrahlt, auf der Suche nach der Reduzierung von Handlung zugunsten der Stellen von Sex und Gewalt, bis er mit dem Programm des vermeintlichen Piratensenders »Videodrome«, das ausschließlich und völlig ohne Narration sexuelle Gewalt in Form von Folter durch Auspeit68 Zur Unentscheidbarkeit einer Lektüre zwischen Hand und Kopf vgl. Horst Albert Glaser: »Libri obscoeni – ein philologisches Divertimento statt einer Einleitung«, in: Ders. (Hg.): Wollüstige Phantasie. Sexualästhetik der Literatur, München 1974, S. 7-24. 69 Ausführlich zu der Geschichte und Theorie des »Blätterns« und der »Stellenlektüre« vgl. Harun Maye: Blättern / Zapping. Stellenlektüre seit dem 18. Jahrhundert, Diss. masch. Humboldt-Universität zu Berlin 2007.

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schen zeigt, an sein Ziel gekommen zu sein scheint. Man könnte sagen, er sucht während des gesamten Films nach einem Film mit einer einzigen ausgedehnten Szene, einer einzigen »Nummer«, die Gewalt zeigt und sexuell erregend wirkt. Noch offensichtlicher wird es in Crash (KAN 1996), in dem Cronenberg tatsächlich die Rezeption von Videos vorführt, die Test-Autounfälle mit Crash Test Dummies zeigen. Der Effekt der Videos ist ein deutlich erotisierender. Die Gruppe der Unfallfetischisten auf dem Fernseh-Sofa fängt bei der Betrachtung der Video-Unfälle erregt an, an sich und am Nachbar herumzuspielen. Und nachdem ein Video-Unfall geschieht – das Videoband stockt und bleibt stehen – wird mittels der Fernbedienung nicht nur nicht weitergespult, sondern genau diese Unfallszene muss in Zeitlupe und en detail erscheinen. In beiden Filmen bestätigt sich vordergründig die Befürchtung aller aufrechten Medienpädagogen vom Schlage eines Neil Postman, dass Gewalt magisch auf die Realität überspringt. Denn Max Renn läuft nach dem Betrachten der Videodrome-Videos tatsächlich mit einem Revolver durch die Gegend und erschießt Menschen, und die Unfall-Sektierer in Crash stellen die Autounfälle selbst und mit teilweise tödlichem Ausgang nach. In der Splatterfilmkultur trifft, so kann man dazu abschließend formulieren, eine neue Décadence der Rezeption, ein neues elitäres Dandytum, auf einen neuen fröhlichen Positivismus von Filmsammlern. Denn die Stellenlektüre im Splatterfilm entspricht dem positivistischen Sammlerbedürfnis der Fankultur und einem Desiderat der Filmforschung zugleich. So hat sich eine Form von Filmbetrachtung gerade in Deutschland entwickelt, die unbedingt Stellenlektüre betreiben muss. Splatterfans machen sich – wie jeder gewissenhafte Editionsphilologe – auf die Suche nach Deviationen, Korruptelen, Kontaminationen und Lücken in den Splatterfilmen. Denn viele deutsche Fassungen von Splatterfilmen sind entweder beschlagnahmt und deswegen nicht legal erhältlich oder sie kursieren in Fassungen, die zumeist Löcher und Zensurschnitte – »fehlende Stellen« eben – aufweisen, damit sie frei verkauft, verliehen oder im Fernsehen ausgestrahlt werden können. In der deutschen Publizistik gibt es für diese Art der Filmmanipulation die so genannte »Schnittparade« oder den »Schnittbericht«. Die Methode der Schnitt-Editionsphilologen ist es, die Lücken und Korruptelen der deutschen Ausgaben mit den Ausgaben anderer Länder, mit den Erstfassungen oder den Fassungen »letzter Hand« zu vergleichen, um so ein möglichst komplettes Bild des Films zu erhalten. Aus der Not entwickelt sich also ein präzises Filmbeschreibungsverfahren, das Bild für Bild den Film zeigt und in Apparaten genau die differenten Handlungen und Ausschnitte kommentiert.

APOKALYPSE

UND

FERNSEHEN. DER ZOMBIEFILM

I. Apophrades. Die Rückkehr der Toten Der einzige moderne Mythos ist der der Zombis – tödliche Schizos, die, wieder zur Vernunft gebracht, gut für die Arbeit sind. Gilles Deleuze Aber die starken Toten kehren wieder, in der Dichtung wie in unserem Leben, und sie kommen nicht wieder, ohne das Lebendige zu verdunkeln. Harold Bloom Zahlreiche Autoren dieses Jahrhunderts, auch solche ersten Ranges, haben den Eintritt der Massen in die Geschichte den Signaturen unseres Zeitalters zugerechnet. Peter Sloterdijk

1. Zombiehorror Pünktlich zur Jahrtausendwende kehrt der »Lebende Tote« oder »Zombie« nach einem längeren Schattendasein in der Videozirkulation auf die Leinwand und in die Welt der Lebenden zurück. Während lange Zeit allein die kinematographische Erinnerung an George A. Romeros Trilogie von den Lebenden Toten (1968, 1979, 1985) und an die zahlreichen italienischen Nachahmer aus den 1970er und 1980er Jahren wach geblieben ist,1 tauchen neue Versionen des alten Themas auf. Als Startschuss der Wiederauferstehung der Untoten zum Millenniumswechsel kann die Crossover-Folge der beiden Fernsehserien X-Files (dt. Akte X, 1993-2002) und Millennium (1996-1999) aus dem Jahr 1999 gelten: Vier Mitglieder des chiliastischen Geheimbunds »Millennium«, der von dem FBI-Profiler Frank Black verfolgt wird, haben sich umgebracht und buchstäblich als Leichen im Keller eines Nekromanten eingraben lassen, um zur Jahrtausendwende als die vier Reiter der Apokalypse zurückzukehren. Am Sylvesterabend gelangen nach einem Hinweis von Black die FBI-Agenten Fox Mulder und Dana Scully in dieser Sonderfolge pünktlich zu dem Keller, um das Erwachen der Untoten mitzuerleben und die 1

Der kontinuierlichen Variation des Themas im Splatterfilm zum Trotz. Vgl. Paul Maslanskys Blaxploitation-Variante Sugar Hill (Voodoo Girl, dt. Die schwarzen Zombies von Sugar Hill, US 1974), Dan O’Bannons The Return of the Living Dead (dt. Verdammt, die Zombies kommen, US 1984) und seine Fortsetzungen (1987 und 1993) sowie Tom Savinis Remake Night of the Living Dead.

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vier Lebenden Toten den Regeln des modernen Zombiefilms gemäß mit Kopfschüssen zu erledigen. Die Fernsehserie X-Files führt auf diese Weise mit der »Millennium«-Folge ästhetische und narrative Traditionen zusammen, die seit den 1960er Jahren den Zombiefilm bestimmen. Vor allem der apokalyptische Tonfall des modernen Zombiefilms im Fernsehen wieder zur Darstellung und damit zu seinem Ursprung zurück. Mit Paul W. S. Andersons Resident Evil (GB/D 2001), (Abb. 35) dem Film zur gleichnamigen Videospielreihe, Andrew Parkinsons Dead Creatures (GB 2001) und Danny Boyles 28 Days Later (Abb. 36) kommen parallel drei europäische Beiträge zum Lebenden Toten wieder in die Kinos. Die Filme schließen dabei eindeutig weniger an die Zombiefilme der 1930er bis 1960er Jahre als an Romeros moderne Parabeln von einer massenhaften Invasion der Toten in die Welt der Lebenden an, die zum Untergang der menschlichen Welt führt.

Abb. 35: Unternehmenszombies in Resident Evil Die phantastische Figur des Zombies ist verhältnismäßig jung. Sie taucht zum ersten Mal im klassischen Horrorfilm White Zombie (US 1932) von Victor Halperin mit dem berühmten Dracula-Darsteller Béla Lugosi in der Hauptrolle auf. Lugosi spielt in diesem Film den Wissenschaftler, Zuckermühlenbesitzer und Voodoo-Meister »Murder« Legendre, der dem haitianischen Plantagenbesitzer Charles Beaumont hilft, Madeline Short, eine Besucherin der Insel, in die dieser sich verliebt, ihrem Verlobten Neil Parker zu entreißen und zu zombiefizieren, damit sie ihm als willenlose Geliebte zu Diensten ist. (Abb. 37) Legendre selbst lässt Zombies als willenlose Arbeitssklaven in seiner Zuckermühle arbeiten. Die Idee der unbesiegbaren, weil absolut gehorsamen Zombiearmee findet sich schon früh in Revolt of the Zombies (US 1936), wieder unter der Regie von Victor Halperin und wieder produziert von seinem Bruder Edward. Revolt of the Zombies handelt von einem kambodschanischen Priester, der während des Ersten Weltkriegs den Alliierten mit einer Zombiearmee zu Hilfe kommt. Die haitianische Voodoo-Kultur wird in diesem Film durch die Khmer-Kultur und Teile der hinduistischen Religion ersetzt, so dass der exotistische Appeal des Zombiethemas bestehen bleibt. Jean Yarbroughs King of the Zombies (US 1941) ist ein Versuch, das Bild des karibischen Zombiearbeitssklaven mit der Propagandageschichte von den Kriegsplänen eines ein

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zelnen Nazis in exotischen Gefilden zu verknüpfen. Steve Sekelys Revenge of the Zombies (US 1943) variiert noch einmal die Verknüpfung von Kriegspropaganda und Zombiearmee von Revolt und King of the Zombies und berichtet von dem Nazi Dr. Max von Altermann, der in seinem Gutshaus im Sumpf von Louisiana eine Zombiearmee – darunter auch seine Schwester Lila – zur Unterstützung der deutschen Armeen im Zweiten Weltkrieg bereitstellt. Die Protagonisten Scott Warrington und Larry Adams können ihn nur mit der Unterstützung der Schwester Lila, die nach ihrer Zombiefizierung dennoch einen eigenen Willen entwickelt, aufhalten.

Abb. 36: Infizierte in 28 Days Later Der bekannteste und wirkmächtigste der frühen Zombiefilme ist zweifellos Jacques Tourneurs I Walked with a Zombie (dt. Ich folgte einem Zombie, US 1943) von RKO Pictures, produziert von Val Lewton. Gedreht wird der Film im Zuge des großen Erfolges, den das Horrorfilmgenre mit den verschiedenen Dracula-, Frankenstein- und Wolf Man-Versionen der Universal Studios in den 1930er und 1940er Jahren und den RKO selbst mit The Most Dangerous Game und King Kong von Ernest B. Schoedsack hat. Der Auftrag lautet, um sich von den Geschichten der Universal abzugrenzen, eine Version von Charlotte Brontës Roman Jane Eyre (1847) in der Karibik stattfinden zu lassen und mit dem Thema des haitianischen Voodoo zu verknüpfen. Die kranke Ehefrau Jessica des Zuckerrohrplantagenbesitzers Paul Holland, auf die die eingeschiffte kanadische Krankenschwester Betsy Connel trifft, ist also nicht die tobsüchtige und eingesperrte Frau der literarischen Vorlage, sondern sie ist katatonisch und augenscheinlich mit einem Voodoo-Zauber belegt. Neben einer verwickelten Familien- und Liebesgeschichte wird auch die Geschichte der Insel Saint Sebastian als frühe Sklaveninsel, zu der die weiße Herrscherfamilie Holland alle schwarzen Bewohner in Ketten hergeschifft hat, erzählt. An Schmerz und Leiden in beiden Geschichten, in denen sich das Thema der Zombiefizierung mehrfach allegorisch spiegelt, erinnert emblematisch immer wieder die Holzfigur Ti Misery im Hof der Hollands, die denvon Pfeilen durchbohrten Schutzpatron St. Sebastian der Insel darstellt und die Galeonsfigur des Sklavenschiffs war, mit dem die Familie die Insel besiedelte.

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Abb. 37: Meister Legendre und sein Opfer Vielfach gilt schon Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari als Zombiefilm. Zwar entbehrt er jeglichen Voodoo-Kontextes, aber er zeigt im Kern mit der Figurenkonstellation des Hypnotiseurs Dr. Caligari und dem willenlosen Somnambulen und Medium Cesare am deutlichsten das Herr-Knecht-Schema, das im Zombiefilm zunächst etabliert, dann durch eine Revolte gewaltsam durchbrochen wird und letztlich in eine Katastrophe mündet.2 Aus der Kernkonstellation von Herr und Knecht entwickelt Siegfried Kracauer zum Beispiel die psychologische Geschichte des deutschen Films in seiner Studie From Caligari to Hitler (1947)3. Den Somnambulen oder Zombie zeichnen das fehlende Bewusstsein, der fehlende eigene Wille und damit die Existenz als reine Prothese, als Verlängerung des Meisterwillens aus.4 Kurz gesagt: Der Zombiekörper ohne Geist ist das ferngesteuerte Medium des Meisters. Äußerlich sind dem Zombie die Züge des Nichtmenschlichen nur an Details anzusehen, sei es an der bleichen Hautfarbe, an dem starren Blick und den marionettenhaft ungelenken Bewegungen oder an der gänzlichen Leere der Augen. Nur wenn man den Zombie genauer betrachtet, fällt auf, dass er einem lebenden Menschen zwar ähnelt, aber die Spuren des Todes an sich trägt.

2

3 4

Eine literarische Variante dieser in der Weimarer Zeit kulturell virulenten Herrschaftskonfiguration kann zum Beispiel bei Thomas Mann in Mario und der Zauberer (1930), aber auch in Norbert Jacques’ Romanen (1921/1922ff.) und Fritz Langs Filmen zu »Dr. Mabuse« oder in Sax Rohmers »Dr. Fu Manchu«Romanen (1913ff.), die von hypnotisch begabten und übermenschlichen Superverbrechern handeln, beobachtet werden. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt am Main 1984. Zum Dispositiv von Medizin, Hypnose und Film vgl. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000.

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Alle Zombiegeschichten oder auch die Erzählungen über künstliche Menschen folgen einem bestimmten Erzählschema, in dem die prometheische Souveränität und absolute Herrschaft des Meisterwillens über den Knecht in Revolte und Gewalt umschlägt.5 Die mittelalterliche Geschichte vom Prager Rabbi Löw und seinem künstlichen Lehmgeschöpf, dem Golem, die immer wieder literarische Variationen produziert, ist eine der Präfigurationen dieser Konstellation und wird beispielsweise gleich dreimal von Paul Wegener verfilmt. Die bekannteste, weil noch erhaltene Version, ist der dritte Film, die Vorgeschichte Der Golem, wie er in die Welt kam aus dem Jahr 1920. Auch die Figur der Mumie nach Karl Freunds Universal-Film The Mummy (dt. Die Mumie, US 1932), in dem Monster und Bösewicht noch in einer Person vereint sind und in dem die Exotik der Karibik durch die des antiken Ägyptens ausgetauscht wird, ist in späteren Filmen eine reine Helfergestalt, die den Willen ihres bösen Meisters ausführt, bis sie auf die vermeintliche Reinkarnation einer geliebten Frau stößt. Der Anblick der Frau bricht den Bann, und die Mumie entwickelt einen eigenen zerstörerischen Willen. Mit der Rebellion gegen den Meister wird gewöhnlich der Untergang beider heraufbeschworen. Das bekannteste Beispiel dieser Filme um die Variation des Untoten in der lebendigen ägyptischen Mumie ist Terence Fishers The Mummy (dt. Die Rache der Pharaonen, GB 1959) der britischen Hammer-Filme. Die Rolle des Zombies, wenn sie nicht durch das karibische Lokalkolorit gestützt wird, ist deshalb durch andere Versionen des Automaten wie den Golem, den Somnambulen oder die Mumie austauschbar. Von zusätzlicher Bedeutung ist im Zombiefilm die Leitdifferenz »lebendig/tot«, die zunächst auffällig unterschiedslos in das Konzept von Rasse mündet und ihren körperlichen Ausdruck in dem Merkmal der Hautfarbe findet, so dass der Unterschied von Leben und Tod mit der Codierung »weiß/ schwarz« zusammenfällt. Mehr noch als exotistisches Ornament ist die Repräsentation karibischer Lebensverhältnisse, auf die weiße Vertreter westlicher Zivilisationen stoßen, die direkte ikonographische Konservierung und Reanimation, also die filmische Zombiefizierung, kolonialer Phantasmen, in denen der fremde Schwarze afrikanischer Herkunft domestiziert wird und den willenlosen Arbeitssklaven darstellt. Der Körper des Zombies ist in allen Fällen ein schwarzer und nicht von dem eines Arbeitssklaven zur Kolonialzeit zu unterscheiden.6 Das beeindruckendste Beispiel in dieser Hinsicht ist sicherlich der Zombie mit dem sprechenden Namen »Carrefour« aus I Walked with a Zombie, der in einem Maisfeld die Grenze an einer Weg5

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Die Figur des Zombies verbleibt in den klassischen Zombiefilmen innerhalb des geographischen und kulturellen Kontexts der Karibik, des Ursprungslandes des Voodoo-Glaubens. Diese Glaubensrichtung ist verkürzt ein Synkretismus aus dem katholischen Glauben und afrikanischen Natur- und Ahnenkulten und wird von den ehemaligen afrikanischen Sklaven praktiziert. In dem Pantheon des Voodoo-Kultes finden über dreißig Götter allein zur Domäne des Todes Platz. Der bekannteste unter ihnen ist Baron Samedi, der stets mit Frack, Zylinder und einem Totenschädel als Kopf dargestellt wird. Zum Voodoo gehört die Zauberei des Voodoo-Priesters (Houngan), der mit verschiedenen lähmenden Nervengiften und Ritualen den Zombie aus dem Körper eines vermeintlich Toten erschafft. Eine Einführung in das Thema Haut und Hautfarben liefert Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999.

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kreuzung zwischen den stereotyp gezeichneten Räumen der weißen Grundbesitzer und der schwarzen Arbeitersiedlung, wo die Voodoo-Rituale stattfinden, bewacht.

Abb. 38: Zombies in The Plague of the Zombies Der klassische Zombiefilm verweist im Sinne des Gothic Horrors deshalb noch stark auf sein Setting. Vor dem Hintergrund des stereotypen schwarzen und männlichen Zombies stechen deshalb die zombiefizierten weißen Frauen aus White Zombie und I Walked with a Zombie hervor. Der Einsatz dieser Figuren setzt weiter auf den Reiz der kulturellen Konfrontation einer rationalen weißen Zivilisation mit einer mystischen schwarzen Kultur des Todes. Der Zombie fungiert als Echo der Geschichte des Arbeitssklaven, der noch im 19. Jahrhundert in Afrika gefangen oder gekauft und nach Haiti und den USA verschifft wird. Er konserviert und kommentiert mit der Beherrschung und Mechanisierung seines Körpers die Bilder von der imperialistischen Domestizierung des Fremden. Denn der afrikanischstämmige Sklave als Zombie bleibt zwar weiterhin der Fremde, aber in dem Zombiephantasma ist er zumindest beherrschbar. Die Voodoo-Meister Legendre in White Zombie und Mrs. Rand, Paul Hollands Mutter, in I Walked with a Zombie, wie auch die Nazi-Herrenmenschen in den Zombiepropagandafilmen sind dementsprechend Weiße und verkörpern den Hegemonialanspruch eines imperialistischen Kolonialismus.

2. Masse und Macht Während die Titelsequenz, die eine Voodoo-Zeremonie zeigt, noch ein exotisches Setting verspricht, ändert sich mit John Gillings Hammer-Film The Plague of the Zombies (dt. Nächte des Grauens, GB 1966), der im britischen Cornwall spielt, der kulturelle Kontext des Zombiefilms. Das koloniale Phantasma einer Dichotomie von »schwarz/weiß« als Substitution von »fremd/bekannt«, die bislang nur auf imperialistische Weise überbrückt wurde, nähert sich in diesem Film einem unheimlichen Horror des Eigenen an und wandelt sich damit zu einer Thematisierung des Fremden im eigenen Land. The Plague of the Zombies beginnt damit, dass Arbeiter einer Zinnmine plötzlich in großer Zahl sterben. Der Gutsherr verbietet die Durchführung

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von Autopsien, und so ruft der ratlose Dorfarzt Dr. Peter Thompson seinen alten Lehrer Professor James Forbes herbei, der mit seiner Tochter Sylvia anreist. Während einer nächtlichen Untersuchung auf dem Friedhof stellen Thompson und Forbes fest, dass die Särge leer sind, und machen sich zur Villa des Gutsherrn auf. Dort bemerken sie, dass dieser sich tatsächlich der Voodoo-Rituale bedient, um Zombiearbeiter zu erschaffen. The Plague of the Zombies führt auf bemerkenswerte Weise den Gothic Topos des Friedhofs in den Zombiefilm ein, um ihn dann in der entscheidenden Wende als Geburtsstätte der Lebenden Toten umzucodieren, und nimmt damit den Zombiefilm Romeros vorweg. Denn in einer Traumsequenz entsteigen die Zombies massenhaft ihren Gräbern, und abseits aller militärischen Allmachtsphantasien von willenlosen Zombiearmeen wird an dieser Stelle zum ersten Mal die Macht der Lebenden Toten durch ihre Existenz als bedrohliche Masse deutlich. (Abb. 38) Dass diese Sequenz nur geträumt wird, trennt den Film noch von Romeros modernen Untergangsvisionen und sorgt für die weitgehende Qualifizierung des Films als Gothic Horror, die ihn auch in die Reihe der anderen Hammer-Produktionen, die sich der Wiederbelebung der bekannten Universal-Monster Dracula, Frankensteins Monster und der Mumie gewidmet haben, einordnet. Das plötzliche Interesse am Lebenden Toten in den 1960er Jahren hängt, so die These, mit der Verschränkung von Masse und Gewalt zusammen, die nicht zufällig zeitgleich mit den Nachrichtenbildern aus dem Vietnamkrieg oder den amerikanischen Straßenkämpfen im Rahmen des Civil Rights Movement zusammenfallen. In den 1960er Jahren tritt mit der Modernisierung des Horrorfilms das Phänomen der Masse aus dem Fernsehen verstärkt in das kulturelle Bewusstsein ein. Im Zusammenhang mit der Invasionsphantasie von kommunistischen Sleepers müssen seit diesen Bildern die Monster des Horrorfilms im Plural und in Gestalt von Menschen gedacht werden. Die Bedrohung im modernen Monster- oder Horrorfilm im Gegensatz zum Gothic Horror der 1930er und 1940er Jahre geht nicht mehr ausschließlich von dem singulären Körper aus, von Frankensteins Monster, dem Werwolf, der Mumie oder dem Vampir, sondern das Monster hat sich immer schon multipliziert. Zusammengeführt mit der Tendenz, dass der moderne Horrorfilm die Orte des Schreckens zusehends von den phantastischen Topoi der Gothic Novel – Grotte, Kerker, Spukhaus, Friedhof oder Schloss – wegführt, dringen die modernen Monster unbemerkt in die Alltagskultur ein. Jeder kann das Monster sein, und es kann überall sein. Filme wie Romeros Zombiefilme, Carpenters Assault on Precinct 13 oder Saul Bass’ Ameisenfilm Phase IV (GB 1973) und andere Filme über Killerinsekten sowie die Alien-Filme und ihre Ableger diffundieren das Monster in die Umgebung. Es gibt keine »Figur/Hintergrund«-Differenz mehr,7 sondern die Figur verschwindet und wird selbst zum Hintergrund. Es ist keine singuläre Bedrohung mehr auszumachen, die einfach auszuschalten wäre, sondern wie es die Invasionsfilme nach Don Siegels Invasion of the Body Snatchers (dt. Die Dämonischen, US 1956) zeigen, hat die Monstrosität längst alle Räume und damit den Alltag infiltriert. Ein Vampir muss gemäß der von der Literatur formulierten Regelsätze erst eingeladen werden, um in ein Haus gelangen zu können. Eine ganze Schar von Vögeln, wie in Alfred Hitchcocks The Birds, dringt einfach durch jede Lücke in das Haus ein, und 7

Vgl. D. Motter: Alice in Metropolis.

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eine Armee von Zombies schafft mühelos alle Hindernisse aus dem Weg und überrennt alles, was ihr entgegensteht. Carpenters Splatterremake von Nybys und Hawks’ The Thing from another World treibt die Paranoia vor der Unsichtbarkeit der monströsen Verschwörung auf die Spitze, indem das völlig amorphe außerirdische Monster jedwede Gestalt annehmen kann, und infolgedessen jeder jeden verdächtigt, das Monster zu sein.8 Es ist deshalb kein Zufall, dass schon früh gerade die Legion, die Armee, die Masse von Zombies auftaucht. Die Körper der Toten sind gemeinsam die Überbringer einer Botschaft und Botschaft zugleich. In den Filmen Romeros formen die Zombiemassen einen Chor des Hungers nach Menschenfleisch. Ihre Laute des Verlangens sind aber allenfalls als Stöhnen vernehmbar. Denn Zombies artikulieren nicht.9 Vergleichbar mit diesen Zombiemassen ist trotzdem Michail Bachtins Konzept der Volkskultur als Gegenkultur,10 die von einem Modell der vielstimmigen Masse ausgeht und sich in der Literatur durch die Kombination des grotesken Körperdramas mit einem polyphon gefügten Text ergibt, der vorgeblich die Stimmen des Volkes wiedergibt. Im Zombiefilm wird die kosmische Dimension des Volkskörpers auf die Verkündigung des weltweiten Untergangs der Menschheit bezogen, und der Karneval des Körperdramas findet in der Inversion der Nahrungskette seinen Widerhall.

Abb. 39: 1985 und 2002: The Dead Walk! Schon die groteske und polyphone Stimmenlage, die Bachtin bei Rabelais identifiziert, findet in Romeros Film einen ausschließlich kulturpessimistischen bis apokalyptischen Niederschlag: eine »Dämpfung« des karnevalesken Tons, wie Bachtin ihn seit der Romantik für die Moderne identifiziert. Der Karneval wandelt sich zum Totentanz und erinnert wieder an die Vorläu8

Ästhetisch folgen die Zombiefilme in der Inszenierung der Massen Bildkonzepten, die als grotesk bezeichnet werden können. Es geht speziell um die Überbevölkerung der Szenerie, deren Figurenzahl den Rahmen mit einbeziehen muss und über ihn hinausreicht. Die Bilder von Hieronymus Bosch (1450-1516) und Pieter Bruegel des Älteren, des so genannten »Bauern-Bruegel« (1525-1569), bilden die groteske Hyperbolik in Anzahl und Verteilung der Figuren vor. Wie Rabelais seine Romane zu den Riesen Gargantua und Pantagruel mit langen Aufzählungen und Listen auffüllt, so sind diese Gemälde bis zum Platzen mit Figuren angefüllt. Sie erfüllen genauso wie im Zombiefilm die Darstellung einer Verknüpfung von Masse und Macht. Die Höllenszenarien von Bosch und Bruegel nehmen überdies in ihrer drastisch gewalttätigen Körperästhetik graphisch schon vieles von der Ästhetik der Zombiefilme vorweg. 9 Mit der Ausnahme von Dan O’Bannons Zombies in The Return of the Living Dead, die lauthals nach »Brains« und »More Brains« verlangen und sich auch sonst menschlicher verhalten als in anderen Zombiefilmen. 10 M. Bachtin: Rabelais und seine Welt.

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fer des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Karnevals, an die antiken römischen Saturnalien, die das Gestirn der Melancholie in ihrem Namen tragen. Zusammengefasst verweist der Eintritt der Masse in den Horrorfilm, verbunden mit dem Sujet des Krieges und der Ikonographie exzessiver Gewalt, präzise auf zwei Dinge: Auf den medialen und politischen Hintergrund des Krieges, der 1968 im Fernsehen stattfindet, und auf den theologischen Diskurs der Apokalypse, der die Bilder mit den Ereignissen in eins laufen lässt und damit die Offenbarung im Zeitpunkt des Untergangs performativ filmisch einlöst. Das Jüngste Gericht, der Tag, an dem alle Toten wieder auferstehen, findet im Horrorkino der Moderne seine profane Entsprechung. Der Kreislauf des Lebens im frühneuzeitlichen Grotesken endet im modernen Zombiefilm in der massenhaften Verschlingung der Lebenden durch die Toten und damit im Untergang der Menschheit. So verschärft die Tatsache, dass seit Romeros Night of the Living Dead die Untoten lebendes, menschliches Fleisch verzehren, die darwinistische Betrachtung des Verhältnisses Zombie/Mensch. Wird im klassischen Zombiefilm die Leitdifferenz von »lebendig/tot« noch mit den Dichotomien von »weiß/schwarz« identifiziert und kommentiert darin die Themen Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus, so findet seit 1968 buchstäblich eine Entgrenzung der Kampfzone statt: Alle Lebenden müssen sich aller Toten, gleich welcher Rasse, Klasse oder Geschlecht, erwehren. Der Ausgang des Kampfes ist Geschichte. Allein die Monumente der menschlichen Gesellschaft in Form der Massenmedien berichten nach dem Untergang der menschlichen Gesellschaft noch epitaphisch vom Beginn der Schlacht. »The Dead Walk!«, heißt es in Romeros letztem Zombiefilm Day of the Dead (dt. Zombie 2, US 1985), der zeigt, wie die menschliche Zivilisation vollständig zusammengebrochen ist und sich nurmehr weiter selbst zerfleischt. (Abb. 39)

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II. George A. Romero. Night of the Living Dead Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen… Friedrich Nietzsche Was sich zeigt, ist ein Mensch und doch kein Mensch, ein Gesicht und doch kein Gesicht. Ein vertrautes Antlitz und zugleich eine erstarrte Grimasse. […] Jeder Tote ist ein Double. […] Die Leiche bringt ein Rätsel zur Anschauung. Thomas Macho Kill the brain and you kill the ghoul. George A. Romero: Night of the Living Dead

1. 1968 Night of the Living Dead nimmt eine sichtbare Zäsur in der Geschichte des Horrorfilms vor. Er katapultiert den Horrorfilm aus den gemütlichen Literatur- und Dramenverfilmungen hinaus und in die schreckliche Nachrichtenwelt der 1960er Jahre hinein. George A. Romero dreht Night of the Living Dead 1968 mit den Partnern seiner Werbefilmagentur, John Russo, Russell W. Steiner und Rudy Ricci, in der Umgebung von Pittsburgh und mit einem Kapital von weniger als 150.000 Dollar unter dem Produktionsnamen Image Ten.11 Nach dem Film trennt sich das Unternehmen, und Romero behält die Hälfte des Copyrights.12 12 Millionen Dollar spielt Night of the Living Dead ein, und eine Kopie ist inzwischen Bestandteil der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art. Mit Night of the Living Dead, so kann man zusammenfassen, beginnt die Entwicklung des modernen Zombiefilms und damit die Gattung des modernen Horrorfilms, des Körper-Horror- oder Splatterfilms. Wie Adam Simons Dokumentarfilm The American Nightmare (US 2000) eindrucksvoll demonstriert, zitieren die Bilder des Splatterfilms, die Romero, aber auch Craven, Hooper oder Cronenberg wenige Jahre später in Szene set11 Die Angaben in der Literatur schwanken zwischen 114.000 Dollar (Vgl. Barry Keith Grant: »Taking Back the ›Night of the Living Dead‹: George Romero, Feminism, and the Horror Film«, in: Ders. (Hg.): The Dread of Difference. Gender and the Horror Film, Austin 1996, S. 200-212, hier S. 202) und 150.000 Dollar (Vgl. R.H.W. Dillard: »›Night of the Living Dead‹: It’s not like just a Wind that’s Passing through (1973)«, in: Gregory A. Waller (Hg.). American Horrors. Essays on the Modern American Horror Film, Urbana, Chicago 1987, S. 14-29, hier S. 14.). 12 Die übrigen Rechte gehen an die anderen Mitglieder der Agentur. Aus John Russos Zombieroman Return of the Living Dead (1978) wird 1984 Dan O’Bannons gleichnamiger Film.

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zen, die Zeitung und das Nachrichtenfernsehen. Als Referenz an den klassischen Horrorfilm der 1930er und 1940er Jahre, vor allem James Whales Frankenstein, sowie an Gillings The Plague of the Zombies beginnt Night of the Living Dead zunächst noch auf dem Friedhof. Es ist allerdings Tag, und der Handlungsort wird auch schnell verlegt. Night of the Living Dead kündigt mit dem Schauplatz der ersten Sequenz aber schon seine epitaphische Absicht an. Er berichtet vom Ende der Menschheit und vom Ende des klassischen Horrorfilms. Night of the Living Dead bricht weiterhin zitierend mit den Konventionen des Horrorfilms. Romeros Film wird auf schwarzweißem Filmmaterial gedreht und kommt ohne das knallige Technicolor-Blutrot der Hammer-Filme und ohne die bekannten Universal-Monster aus. Er bricht nicht nur mit der Fortsetzung der etablierten Monstergeschichten, sondern auch schon mit dem noch jungen modernen Horrorfilm, namentlich Hitchcocks Psycho und The Birds. Ebenso wenig führt Romero die Tradition des in der Filmgeschichte immer marginal gebliebenen Zombiesujets fort. Keine exotischen und geheimnisvollen Inseln in der Karibik liefern das Setting, sondern die Geschichte spielt inmitten der Banalität des amerikanischen Alltags. Es gibt keine schwarzen Arbeitszombies, sondern ein amerikanischer Schwarzer ist der Held des Films und verwandelt sich als einziger der Protagonisten nicht in einen Lebenden Toten. Keine tragische Familiengeschichte oder ein Monster auf einem Spukschloss bilden den Rahmen der Geschichte, sondern die Besitzer des Hauses, in das die Flüchtenden sich vor den Lebenden Toten verschanzen, sind längst tot und verwest. Es gibt keine bürgerliche Kleinfamilie, die zum Schluss gerettet wird und darüber kathartisch auf neue Weise zusammenfindet, sondern stattdessen einen feigen und aggressiven Vater, der sich mit seiner Frau streitet, die wiederum von ihrer zombiefizierten Tochter mit einer Maurerkelle erstochen und aufgefressen wird. Kein Happy Ending beschließt eine Erlösungsgeschichte, sondern dokumentiert werden der Untergang der amerikanischen Zivilisation und der Sieg aus den Reihen der Totschläger in Gestalt gewissenloser Redneck-Milizen. Die Jagdgesellschaft erschießt und verbrennt Lebende wie Tote und Schwarze wie Zombies gleichermaßen. Es gibt keine melodramatischen Familiengeschichten über hysterische junge weiße Frauen, deren Leben oder Unschuld bedroht sind, sondern der Film handelt von Untoten aller Rassen, Klassen und Geschlechter, die sich von dem Fleisch der Lebenden ernähren. Keine phantastische Erklärung gibt es für die Wiederauferstehung der Lebenden Toten, sondern nur eine vage Vermutung aus den Fernsehnachrichten, entnommen der Science Fiction-Literatur der 1950er Jahre. Night of the Living Dead ist ein Zombiefilm ohne Zombies. Der Begriff »Zombie« fällt kein einziges Mal. In Night of the Living Dead gibt es auch keinen zombietypischen HerrKnecht-Konflikt, sondern es geht um alle Toten, die plötzlich zu untotem Leben erwachen, und es geht um alle Menschen, die von der Verzehrung durch die Lebenden Toten bedroht sind. Es geht um den Untergang der Welt durch die massenhafte Auferstehung der Toten, und es geht um die groteske Inversion all des Horrorfilminventars, das schon durch Hitchcocks Filme nachhaltig erschüttert worden ist. In dem Trailer zu dem ebenfalls in schwarzweiß gedrehten Psycho von 1960 besichtigt Alfred Hitchcock persönlich das verlassene Bates Motel und läuft die Topographie der Morde unter dem Aspekt der Tatortsichtung ab. Der Fremdenführer Hitchcock hält jedes Mal inne, wenn er an einen Ort der

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Gewalt angelangt ist. Er unterbricht sich dann im Satz und belässt es bei signifikanten Andeutungen. Gezeigt werden das einsame Motel und das Wohnhaus, Bates’ Speiseraum im Motel, das Bild vor dem Loch in der Wand, das Badezimmer mit der Dusche und auch das Treppenhaus, in dem der zweite Mord geschieht. Alle relevanten Orte, Zeichen und Spuren von Psycho werden bis auf den Keller, der die Lösung des Rätsels, das Skelett der toten Mutter, beherbergt, abgegangen und von Hitchcock mit bedeutungsschwangeren, aber in die Irre führenden Worten zu den Gewalttaten kommentiert. So dient der Trailer allein dazu, falsche Spuren zu legen.

Abb. 40: Der Schädel in Psycho Night of the Living Dead unternimmt eine fast identische Tour aus der Sicht der hysterischen Barbara im Schnelldurchlauf. Das Setting spielt dabei deutlich auf Psycho an. Das einsame Haus ist wieder da, und es ist wie das Bates Motel mit ausgestopften Tieren geschmückt. Auch der Keller wird zunächst ausgespart, und ein erster Schock findet oben im Treppenhaus statt, wo die Besitzerin des Hauses liegt. Die Großaufnahme eines halb verwesten Schädels (Abb. 41) spiegelt den Totenschädel der Mutter in Psycho, (Abb. 40) aber auch das augenlose blutende Gesicht des toten Bauern in The Birds. Die späteren Luftaufnahmen, in denen die jagende Redneck-Miliz und die wandernden Toten ununterscheidbar werden, sind ein Nachhall der Kameraperspektiven in The Birds. So ist alles, was den modernen Hitchcock-Horrorfilm auszeichnet, vorhanden, nur bedarf es keiner falschen Fährten mehr. Denn das Haus birgt keine Geheimnisse, und all die Zeichen, die emphatisch aus einer hysterischen Perspektive gezeigt und mit verkanteten Kameraeinstellungen und Schwindel erregenden subjektiven Handkamerabewegungen markiert werden, laufen ins Leere. Sie bedeuten nichts mehr, führen nirgendwo hin. Man könnte angesichts der präparierten Tiere, die Night of the Living Dead aus Psycho zitiert, von einer Musealisierung oder Ausstopfung und damit von einer Zombiefizierung der Bilder des Horrorfilms sprechen. Es kommt Romero nicht darauf an, wem das Haus gehört, wer die Tiere ausgestopft hat oder wessen Leiche oben auf der Treppe liegt. Es geht nicht um ein tragisches Familiengeheimnis, das Psycho noch an die Gothic Novel und ihre Fortsetzung in der Psychoanalyse bindet. Night of the Living Dead ist ein totes Archiv des Horrorfilms und präsentiert das Inventar als bedeutungslose Rumpelkammer. Der Film markiert eine semantische Entleerung der klassi-

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schen Horrorfilmikonographie, vom Friedhof und dem Spukhaus bis zum Inventar im Haus von Psycho als Schlusspunkt des klassischen und als Initialfilm des modernen Horrors. Es geht um die Streichung herkömmlicher Signifikate. Statt die Bedeutung der alten Zeichen aufzugreifen, werden zwischen den alten Kulissen des Horrorfilms ein völlig neues Zeichensystem installiert und neue Regelsätze für den Horrorfilm formuliert.

Abb. 41: Der Schädel in Night of the Living Dead Sein häufig expressionistischer Beleuchtungsstil entspricht zudem den 1920er und 1930er Jahren des frühen Weimarer Films und legt damit eine Spur zu den ersten Filmen des Horrorkinos zurück, zum Cabinet des Dr. Caligari, zu Nosferatu und zum Golem. Zu Beginn erzählt der Film noch in langen und konventionellen Sequenzen, genau wie im klassischen Horrorfilm. Zunächst gibt es einen Establishing Shot, der die Anfahrt der Geschwister an einen Friedhof mit dem Auto zeigt. Schneller geschnitten werden die Sequenzen bei der Verfolgung Barbaras durch den ersten Lebenden Toten. Die ersten hektischen Schockschnitte gibt es dann innerhalb des Hauses, als Barbara die Tierköpfe an der Wand sieht. Danach wird zunehmend parataktischer erzählt, die Kamera filmt häufiger auf einer diagonalen Achse, und die Schnittintervalle werden kürzer. Der Film wird zusehends beschleunigt, bis er kurz vor dem Schluss völlig stoppt und simulatorisch in das Medium des Zeitungsphotos umkippt. Zu Beginn von Night of the Living Dead besuchen die Geschwister Johnny und Barbara das Grab ihres Vaters und haben ein Gesteck als Grabschmuck mitgebracht. Johnny, der während der Hinfahrt zum Friedhof seiner gläubigen Schwester seine Ablehnung des Kirchgangs und der Totenverehrung kundtut, erschreckt am Grab des Vaters seine Schwester. Er sagt ihr, dass die Monster kämen, um sie zu holen. Barbara ist es peinlich, fürchtet

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sich aber auch. Johnny zeigt dann auf einen unbeholfen sich nähernden alten Mann im schwarzen Anzug und verkündet aus Spaß: »They’re coming!« Der Mann ist in der Tat ein Lebender Toter und gerade aus seinem Sarg gekrochen. Er nähert sich den beiden, fällt Johnny an, beißt ihn und verwandelt ihn damit in einen Lebenden Toten. Der Tote durchläuft, während er über den Friedhof zu den Geschwistern wankt, diagonal alle Ebenen der Kameraentfernung – von der Totalen bis zur Nahaufnahme. Er ist dabei solange nicht von einem lebendigen Menschen zu unterscheiden, bis in der letzten Einstellung sein wirrer Gesichtsausdruck sichtbar wird, der ihn als Lebenden Toten in der ikonographischen Tradition des Zombies auszeichnet. Barbara flieht in das Auto, fährt ein kurzes Stück von dem ihr folgenden wankenden Toten weg, landet dann vor einen Baum und geht zu Fuß weiter. Zuletzt kommt sie an ein einsames Landhaus. Im Haus schaut Barbara sich zunächst noch neugierig um, verfällt dann aber im Laufe des Films zusehends in einen teils hysterischen, teils katatonischen Zustand. Zum Schluss wird sie beim letzten Angriff der Toten durch das Wiedererkennen ihres inzwischen zombiefizierten Bruders, der mit anderen Lebenden Toten durch ein zerbrochenes Fenster nach ihr greift, wieder wachgerüttelt, aber im gleichen Moment von ihm aus dem Haus gezerrt und getötet. Das Haus beherbergt weitere Flüchtlinge. Barbara trifft zunächst auf den Afroamerikaner Ben. Der berichtet, dass bereits die Städte in der Umgebung von den »Wahnsinnigen« heimgesucht werden. Das Fernsehen korrigiert ihn kurz darauf. Es sind keine wahnsinnigen Anstaltsflüchtlinge, sondern Lebende Tote, die im ganzen Land umherziehen, um das Fleisch der Lebenden zu fressen. Nur durch die Vernichtung des Gehirns, so der Nachrichtensprecher im Gespräch mit einem Wissenschaftler, oder durch Feuer seien sie zu vernichten. Im Keller des Hauses, den Barbara und Ben zunächst nicht untersuchen, verschanzen sich noch das junge Pärchen Tom und Judy sowie Harry und Helen Cooper mit ihrer inzwischen zombiefizierten und noch komatösen Tochter. Der Film zeigt während der Belagerung des Hauses durch die Lebenden Toten, die den Hauptteil des Films bildet, vor allem die Verschanzung, die Ben initiiert hat und nun kommandiert. Fenster und Türen werden mit Brettern zugenagelt und mit Möbeln verbarrikadiert. Angesichts der Ratlosigkeit aller Belagerten entstehen schnell Streitigkeiten und Machtkämpfe, während von außen die Angriffe der Zombies auf das Haus immer heftiger werden. Augenscheinlicher Held und Identifikationsfigur des Films ist Ben, der als einziger im Sinne eines pragmatischen Experten handelt, wie er in der amerikanischen Filmgeschichte vor allem in den Belagerungsfilmen von Howard Hawks auftaucht.13 Neben der Tatsache, dass Afroamerikaner 1968 noch selten im amerikanischen Film zu sehen sind, ist bemerkenswert, dass dieser die Hauptrolle und den Heldenpart des Films übernimmt. Aber auch Ben ist keine durchweg positiv besetzte Figur. Er schwingt sich zum diktatorischen Anführer auf und missachtet die Ansichten der anderen. Er ohrfeigt Barbara, als sie auf seine Vorschläge nicht anspricht. Ebenso schlägt er Harry Cooper, der sich ihm ständig widersetzt. Sein Vorschlag, den LKW vor dem Haus aufzutanken und damit zu flüchten, kostet Judy und Tom in einer Explosion das Leben. Angesichts der Gestaltung des Schlusses, der mit der Heldenrolle des 13 Dazu gehören vor allem Rio Bravo und El Dorado sowie in Co-Regie mit Christian Nyby The Thing from another World.

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Selbsthelfers Ben vollends bricht, bekommt die Wahl der Besetzung noch eine weitere Dimension, denn Night of the Living Dead lässt keinen Platz für Helden. In diesem Film überlebt keiner der Protagonisten.

2. Invasion Night of the Living Dead erscheint in den amerikanischen Kinos in einer Zeit, die von Bildern der Gewalt beherrscht wird. So wird der Film, wenn er nicht von einer überwältigenden Kritik an der Darstellung der Gewalt verdammt wird, in der zeitgenössischen Wahrnehmung vor allem als sozialpolitische Allegorie betrachtet, die sich mit dem Thema Rassismus, aber auch mit Gewalt und einem möglichen atomaren Untergang der Welt, vor allem aber mit dem Vietnamkrieg auseinander setzt: 1968 gilt als das gewaltgesättigste Jahr der amerikanischen Geschichte seit dem Ende des Bürgerkriegs; korrekterweise müßte man sagen, es war der Höhepunkt einer vier Jahre langen Ära der Gewalt, wie es sie in den hundert Jahren davor nicht gegeben hat. In den drei Jahren zuvor hatte es in fast allen schwarzen Ghettos in jeder größeren Stadt der USA Tumulte und Aufstände gegeben; im Frühjahr 1968 wurde Martin Luther King, der ständig vom FBI schikanierte symbolische Anführer der amerikanischen Schwarzen, unter niemals ganz geklärten Umständen auf der Terrasse eines Motels in Memphis ermordet. 1967 – das Jahr, in dem sich mehrere hunderttausend Menschen zu einer Demonstration vor dem Pentagon zusammenfanden – machten sich die sozialen Unruhen auch an den Universitäten bemerkbar; ihren Höhepunkt fand diese Bewegung im Juni 1968, als die Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Columbia University durch ihre Studenten in einem blutigen Kleinkrieg mit der New Yorker Polizei endete. Nachdem Robert F. Kennedy, ein erklärter Kriegsgegner, während der Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur in einer Hotelküche in Los Angeles erschossen worden war, verwandelte sich der Landesparteitag der Demokraten zwei Monate später in eine offene Feldschlacht zwischen der Chicagoer Polizei und den vornehmlich weißen Demonstranten, die »live« auf der ganzen Welt übertragen wurde. In jenem Herbst wurde Richard Nixon mit einer knappen Mehrheit zum Präsidenten gewählt, weil er den Leuten versprach, das zer14 rissene Land »wieder zu vereinen«.

James Hoberman und Jonathan Rosenbaum berichten von der Bilderflut, die Vietnamkrieg und Gewalt in den USA zum Thema hat, und weisen damit auf die sozialpolitischen Hintergründe des Eintritts des Splatterfilms in das amerikanische Kino hin. Im Fernsehen gibt es Nachrichten zum Krieg und zu den Straßenschlachten – im Kino läuft Night of the Living Dead. Während die Fernsehsender Bilder von Sterbenden zeigen, lässt das Kino seine Toten massenhaft auferstehen und Rache an den Lebenden nehmen. Sie fressen sie auf, machen sie ebenfalls zu Lebenden Toten und verleiben sich auf diese Weise nach und nach die ganze Zivilisation ein. R. H. W. Dillard berichtet 1973 exemplarisch von den Reaktionen der Kritiker:

14 James Hoberman/Jonathan Rosenbaum: Mitternachtskino. Kultfilme der 60er und 70er Jahre (Midnight Movies), New York, St. Andrä-Wördern 1998, S. 108109.

124|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM Elliott Stein sees the film’s horror and violence as an exaggeration in kind of that in Patton, and he goes on to equate both the living dead and the posse that hunts them down, »all of them so horrifying, so convincing, who mow down, defoliate and gobble up everything in their path,« with »ordinary people, in all the trance-like security of their ›silent majority‹«. In other words, he explains the film, as his use of defoliate is intended to indicate, in terms of the familiar political rhetoric of the later 1960s and thereby sells the film short. Joseph Lewis takes much the same position when he describes the film’s impact as »cathartic for us, who forget about the horrors around us which aren’t, alas, movies,« and goes on to say that Lyndon B. Johnson might never »have permitted the napalming of the Vietnamese« had he seen 15 Night of the Living Dead.

Abb. 42: Vampire in The Last Man Romero selbst unterstützt in späteren Interviews die politisch allegorischen Deutungen seines Films: Nun, wenn ich an einem Film oder einem Drehbuch arbeite, dann versuche ich schon, einen durchgehenden Subtext einzuarbeiten. Doch das ist nicht politisch im Sinne irgendeiner Ideologie, die ich beanspruche. […] Meine Filme haben eher sozialpolitische Bedeutung, und die Ideen, die sich darin finden, sind wahrscheinlich noch nicht einmal sehr neu. […] Die drei Zombiefilme etwa sind, finde ich, sehr unterschiedlich. Der erste war sehr zornig. Das war 1968 und reflektierte das, was ich zu der Zeit dachte, beziehungsweise, was jene dachten, die wirklich nachdach16 ten.

Night of the Living Dead ist aber gerade kein Nachrichtenfernsehen, auch wenn seine dokumentarische Ästhetik und Erzählweise diesem entlehnt zu sein scheinen. Der Film handelt hingegen von Monstern aus der Horrorfilmgeschichte, von Gewalt und von Akten der Transgression, wie der Erstechung der eigenen Mutter und der Kannibalisierung der Lebenden durch die Toten. 15 R.H.W. Dillard: Night of the Living Dead, S. 16. 16 George A. Romero: »George A. Romero«, in: Thomas Gaschler/Eckhard Vollmar (Hg.): Dark Stars. 10 Regisseure im Gespräch, München 1992, S. 181-213, hier S. 186-187.

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Eine wichtige Folie des Films und damit komplementär zum Einsatz einer Ikonographie der Massen ist die Figur der Invasion. Als entscheidende Vorlage kann Richard Mathesons Roman I am Legend (1954) benannt werden, der typisch für ein ganzes literarisches Genre in den 1950er Jahren steht. Neben David Wyndhams The Day of the Triffids (1951) und The Kraken Wakes (1953), Robert Heinleins The Puppet Masters (1951), Jack Finneys The Body Snatchers (1954), Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) und George Orwells 1984 (1948) markiert Mathesons Roman die dystopische Wende in der Nachkriegsliteratur, die sich zum Teil mit Genreelementen der Science Fiction verbindet. In den Romanen verfällt die Menschheit nach der häufig globalen Katastrophe, die in einer Seuche, einer Invasion oder in der vollständigen Diktatur der Menschheit durch ein Terror-Regime bestehen kann, in einen Widerstreit zwischen der anarchischen Situation eines »Bellum Omnium Contra Omnes« und der vollständigen Kontrolle durch eine Diktatur in der schlimmsten Version eines vorstellbaren Leviathan-Regimes.17 In Mathesons Roman geht es um eine globale Seuche, die im Jahr 1976 aus der Menschheit sektiererische Vampire macht. Robert Neville, der Held in Mathesons Roman, entgeht als einziger der Transformation und muss sich als letzter Mensch auf der Erde ständig der vampirischen Meute erwehren. Unklar bleiben bis zum Schluss die genauen Eigenschaften der Bakterien, die aus dem menschlichen Organismus einen vampirischen machen. Aber nach dem Besuch der Spionin Ruth wird Neville klar, dass die Bakterien mutiert sind und eine neue Rasse generiert haben, die im Sonnenlicht überlebt. Neville ist sich während der drei Jahre Belagerung durchaus bewusst, dass er weder einen Fluchtweg noch eine Zukunft in dieser Welt hat. Letztlich kommen Killer der neuen Gesellschaft als Men in Black in dunklen Wagen vor sein Haus und schießen und schlachten methodisch und genüsslich Nevilles letzte zu Vampiren gewordene Nachbarn ab, schießen ihn an und nehmen ihn mit, um ihn zu exekutieren. Neville erkennt, dass er für die neue Gesellschaft der mutierten Infizierten das gefürchtete Überbleibsel einer älteren menschlichen Rasse ist und bringt sich mit Pillen um, die ihm Ruth zugesteckt hat. In Wyndhams Roman Day of the Triffids ist der Erzähler einer der wenigen Menschen, die nicht durch den Anblick eines Kometen erblindet sind, der den außerirdischen Triffids zur Eroberung der Erde verhilft, während der Feuerwehrmann Montag aus Bradburys Fahrenheit 451 und Winston aus 17 Zu Richard Mathesons Roman gibt es vor Danny Boyles 28 Days Later zwei direkte Verfilmungen. Es sind die italienisch-amerikanische Co-Produktion The Last Man on Earth (ital. L’Ultimo Uomo della Terra, IT/US 1964) unter der Regie von Ubaldo Ragona und Sidney Salkow mit dem AIP-Horrordarsteller Vincent Price in der Titelrolle und The Omega-Man (dt. Der Omega Mann, US 1971) von Boris Sagal mit Charlton Heston in der Rolle des Robert Ne-ville. Beide Filme handeln von einer globalen Seuche, die die Menschheit in lichtscheue und aggressive Vampirwesen transformiert. Franklin J. Schaff-ners Planet of the Apes (dt. Planet der Affen, US 1967), die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Pierre Boulle, und Ted Posts Beneath the Planet of the Apes (dt. Rückkehr zum Planet der Affen, US 1969), die erste Fortsetzung des Films, sind zwei weitere Filme, die den apokalyptischen Erzählkomplex mit dem Thema des Weltuntergangs durch einen atomaren Weltenbrand kreuzen.

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Orwells 1984 der uniformen Masse eines totalitären Regimes gegenüberstehen. Während der Roman I am Legend und seine beiden Verfilmungen The Last Man on Earth (Abb. 42) und The Omega-Man (Abb. 43) die Massen mit den typischen Symptomen von Vampiren kennzeichnen, ist die Kopplung der Erzählung mit der Figur des Zombies und des Kannibalen der originäre Einsatz Romeros. Night of the Living Dead markiert mit anderen Filmen aus den 1960er Jahren deshalb ein gewandeltes Verhältnis zur Katastrophe innerhalb des Genres der Monsterfilme.

Abb. 43: Vampire in The Omega Man Die B-Filme der 1940er und 1950er Jahre, die vor allem Science Fictionund Horrorfilme waren, sind Filme über Riesenameisen, Riesenspinnen und anderes Riesengetier. Die Riesenameisen in Them! (dt. Formicula, US 1954), die Spinne in Tarantula (US 1955) und der Dinosaurier aus The Beast from 20.000 Fathoms (dt. Panik in New York, US 1953) sind wie der japanische Godzilla (JAP 1956) die Ergebnisse radioaktiver Strahlung, die durch Atomtests hervorgerufen wird, und sie rächen sich als die Personifikation der menschlichen Wissenschaftshybris an ihren Schöpfern. Die Tatsache, dass in Night of the Living Dead beiläufig kosmische Strahlen aus einem abgestürzten Satelliten von der Venus als Grund dafür ausfindig gemacht werden, dass die Toten aus ihren Gräbern wiederauferstehen, verweist noch deutlich auf diese Science Fiction-Monsterfilme und ihre Vorlagen, die Monster- und Invasionsgeschichten der 1950er Jahre nach dem Modell von War of the Worlds (1898) von Herbert George Wells.18 Strategien der Authentifizierung wie realistische Gewalt und der Versuch der Darstellung von banalem, modernen Alltag, vor allem auch durch die Inszenierung von alltäglichen Medien wie Telefon, Zeitung, Radio und Fernsehen, sind seit Night of the Living Dead für das gesamte Genre des frühen Splatterfilms stilbildend. Die Redneck-Jagdgesellschaft, die gegen die Zombies und zum Schluss gegen Ben vorgeht, unterscheidet sich in keiner Weise von den Bildern der Männer, die in den Zeitungs- und Fernsehnachrichten im Kontext des Civil Rights Movement als unversöhnliche White Trash-Rassisten auftauchen und in denen der Zuschauer immer auch die 18 Eine umfassende Darstellung zu Horrorliteratur und -filmen in den 1950er Jahren liefert Mark Jancovich: Rational Fears. American Horror in the 1950s, Manchester, New York 1996.

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Männer unter den Kapuzen des Ku-Klux-Klans vermuten kann. Eine Bemerkung Romeros in der Dokumentation The American Nightmare zu seinem Filmmaterial unterstützt diesen Bezug. Denn das Fernsehen und damit auch die Nachrichten sind im Gegensatz zum Kinofilm in den 1960er Jahren noch schwarzweiß, und Romero wählte nach eigener Aussage das Schwarzweißformat, um die Glaubwürdigkeit und Authentizität des Nachrichtenfernsehens zu erreichen. Romeros Aussage hinsichtlich der Wahl des Filmmaterials verschweigt allerdings die Tatsache, dass es in Night of the Living Dead auch dazu benutzt wird, an das Archiv des Horrorfilms und anderer Genres anzuschließen. Denn die eingesetzten ästhetischen Techniken von Licht, Schatten und Kontrast zitieren Einstellungen im Stil des expressionistischen Films der 1920er Jahre und den Low Key-Style des Film Noir der 1940er Jahre ebenso wie die Schockeffekte von Hitchcocks Psycho. Neben der Authentifizierung sind es also auch ästhetische und zitierende Momente, die zu der Wahl des Filmmaterials beigetragen haben dürften.

3. Chasing Wordsworth Als Ergänzung zu den sozialpolitischen Allegorieangeboten in Night of the Living Dead muss noch die Frage nach der Medialität und der Zirkulation der Bilder der Gewalt erfolgen. Aber auch: Warum der gezeigte Exzess an Gewalt und Tod? Warum die phantastische Filmfigur des Lebenden Toten, wenn der Film eine sozialpolitische Allegorie ist? In Night of the Living Dead herrscht gerade vor der Folie der Inszenierung von Realität offensichtlich eine Rhetorik des Exzesses und der Hyperbolik vor, die den Film trotz seiner Ansprüche an Authentizität und sozialpolitischer Referenz eindeutig in die Geschichte der Horror- und Gewaltfilme einreiht. Vielleicht ist es die Frage nach dem Tod, die den Film zu diesem mehrdeutigen Ansatz veranlasst. Denn der Lebende Tote wäre der ideale filmische Botschafter, um den Lebenden von dem Reich der Toten zu berichten. Er verleiht dem Film Stimme und Gesicht des Todes, er personifiziert die Sterblichkeit und den Untergang des Menschen. Dass der letzte Lebensabschnitt, die nicht kommunizierbare Grenzerfahrung des Todes, aber ein genuines Reich der Metaphern oder allgemeiner: der Tropen sein muss, haben unter anderem schon Thomas H. Macho und Christiaan L. Hart Nibbrig ausgeführt.19 Es sind die anthropologischen und theologischen Grenzfragen nach Tod und Leben des Einzelnen und nach dem Ende der Welt und der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag, die sich in der Figur des Lebenden Toten kreuzen. Die filmische Engführung des anthropologischen mit dem apokalyptischen Diskurs wird in Night of the Living Dead unter bildrhetorische Kategorien gefasst, die in einer spezifischen Ästhetik des Todes ihren Ausdruck finden. Der Zombie repräsentiert die Fragen nach der Grenze des Lebens, weil er kein signifikantes Pendant hat, keinen außerfilmischen Referenten, und er führt vor, dass nur von der Rhetorik des Todes selbst berichtet werden kann. Auf eine signifikante Weise gehen die Lebenden Toten deshalb erst gar nicht auf den Modus von Frage und Antwort, auf das Medium der Rede ein. Die Stummheit der Zombies lässt sich deshalb im Sinne eines mächtigen und au19 Vgl. Thomas H. Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt am Main 1987 sowie Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik des Todes, Frankfurt am Main, Leipzig 1995.

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toritären Schweigens der Sirenen (1917) verstehen, wie Franz Kafka es beschreibt. Die Menschen wollen Antworten von ihren auferstandenen Toten und verzweifeln an deren Schweigen. Sowohl die Geschichte des Spiritismus als auch die Geschichte der Wissenschaft sind Geschichten vom »Wunsch mit den Toten zu reden«20. Jede Literaturgeschichte ist nach Stephen Greenblatt die Beschreibung einer Séance, in der das spiritistische Medium von der jenseitigen Welt berichten muss. Nun scheinen sich im Zombiefilm der Lebende und der Lebende Tote endlich in Augenhöhe gegenüberzustehen, aber was geschieht? Der Tote antwortet nicht auf die drängenden Fragen des Lebenden. Sein Schweigen ist für sein Gegenüber unerträglich. Viel schlimmer noch: Sein Äußeres und sein Wesen, die dem Menschen in vielen Punkten noch so ähnlich sind, entziehen sich jeder sinnhaften Zuschreibung und spotten jeder Hermeneutik. Übrig bleibt damit nur das Gerede der Interpreten, der Filmkritiker und -wissenschaftler, die wie der Literatur Kafkas dem Lebenden Toten jede mögliche Bedeutung entlocken können. Genau diese Interpreten, die nach dem Wesen der Lebenden Toten fahnden, finden ihre Repräsentation in den Zombiefilmen Romeros. Es sind die Fernsehnachrichten, die Fernsehinterviews und die Zeitungsbilder in Night of the Living Dead, in denen die Versuche nach dem Verstehen des nicht Verstehbaren gespiegelt werden. Dawn of the Dead, der nahtlos an den Vorgängerfilm anknüpft, beginnt deshalb gleich in einem Fernsehstudio, das ein Interview mit einem Wissenschaftler ausstrahlt, der die Lebenden Toten zu ergründen sucht, und setzt damit die in Night of the Living Dead vorgetragenen Ratschläge des Wissenschaftlers im Umgang mit den Lebenden Toten fort. Day of the Dead schließlich verleiht dem wissenschaftlichen Forschungsdrang mit Dr. Logan gleich eine allegorische Figur und füllt sie mit dem Klischee des skrupellosen Mad Scientist an, der für seine Forschungsergebnisse buchstäblich über Leichen geht und seine Opfer zu Tode analysiert. An dieser hermeneutisch aporetischen Stelle soll ein Vorschlag zur Lektüre der Zombiefilme Romeros gemacht werden, der die komplizierte Figur des Lebendigtoten nicht allegorisch vereinnahmt. Man muss nicht zwingend William Wordsworth anführen, um sich dem komplizierten Phänomen des modernen Zombiefilms zu nähern. Aber vielleicht helfen einige Verse von Wordsworth und eine bestimmte Lesart auf diese Verse des romantischen Dichters, um nicht zu schnell den modernen Zombiefilm auf eine Bedeutung festzulegen und damit vielleicht einer unproduktiven Fehllektüre zu erliegen. Denn das plötzliche und massenhafte Auftauchen der Figur des modernen Zombies in der Filmgeschichte stellt den Zuschauer 1968 und auch heute noch vor große hermeneutische Probleme. So schwierig wie die Figur des Zombies oder die plötzliche Emergenz von sichtbarer Gewalt in der Geschichte des Films zu verdauen sind, so schwierig ist es, genau dadurch dem Zombiefilm seinen angemessenen Platz in der Filmgeschichte und der Bildkultur überhaupt zuzuweisen. Der Erzähler der folgenden Verse sieht sich einem ähnlichen Problem gegenüber:

20 Stephen Greenblatt: »Einleitung. Die Zirkulation sozialer Energie«, in: Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt am Main 1993, S. 9-33, hier S. 9.

APOKALYPSE UND FERNSEHEN. DER ZOMBIEFILM|129 Seeking I knew not what, I chanced to cross One of those open fields, which, shaped like ears, Make green peninsulas on Esthwaite’s Lake. Twilight was coming on, yet through the gloom I saw distinctly on the opposite shore A heap of garments, left as I supposed By one who there was bathing. Long I watched, But no one owned them; meanwhile the calm lake Grew dark, with all the shadows on its breast, And now and then a fish up-leaping snapped The breathless stillness. The succeeding day – Those unclaimed garments telling a plain tale – Went there a company, and in their boat Sounded with grappling-irons and long poles: At length, the dead man, ‘mid that beauteous scene Of trees and hills and water, bolt upright Rose, with his ghastly face, a spectre shape – Of terror even. And yet no vulgar fear, Young as I was, a child not nine years old, Possessed me, for my inner eye had seen Such sights before among the shining streams Of fairyland, the forests of romance – Thence came a spirit hallowing what I saw With decoration and ideal grace, A dignity, a smoothness, like the works 21 Of Grecian art and purest poesy.

Die Verse stammen aus dem lebenslang andauernden Projekt Wordsworths, dem Versepos The Recluse, genauer: dem zumeist autobiographisch gelesenen ersten Teil, den Wordsworths Witwe nach seinem Tod dann The Prelude, or Growth of a Poet’s Mind (1799-1805, überarbeitet 1828, 1832 und 1839, erschienen 1850) genannt hat und der unter diesem Namen bekannt geworden ist. Der erste Entwurf von The Prelude ist 1805 abgeschlossen, aber Wordsworth arbeitete noch bis zu seinem Tode daran. Warum ist dieser Text von Interesse für die Lektüre des modernen Zombiefilms? Ein noch nicht neunjähriger Junge, eine »autobiographische« Retrospektive des lyrischen Ich, des Erzählers, und wie es die biographische Forschung will: eine Projektion des Dichters, vermutet, dass in dem ruhigen dunklen See jemand ertrunken sei. Allein die Kleider am Ufer des Sees zeugen von dem verschwundenen Schwimmer. Der Erzähler berichtet dann von der stochernden Suche der Menschen im Boot und von dem Schrecken des »ghastly face« der plötzlich auftauchenden gespenstischen Wasserleiche inmitten der bukolischen Szenerie. Zeitgleich geschieht im Gegenzug die Dämpfung und Kompensation dieses Schreckens, seine Relativierung und Glättung bis zur erhabenen Sublimierung der Leiche durch die literarische Vorkenntnis des Jungen, die ganz spezifisch auf die Form griechischer Kunst und die Phantas21 William Wordsworth: The Five-Book Prelude. Hg. von Duncan Wu, Cambridge 1997, S. 127-128, V. 538-563 (V. 456-481).

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tik romantischer Poesie selbst verweist und die von ihm ebenso geisterhaft Besitz ergriffen haben. In diesen romantischen Versen spiegeln sich, so die Vermutung, die Versuche und Erkenntnisprozesse, die die hermeneutische Interpretation immer schon und immer wieder unternimmt. Stößt der Leser auf das Plötzliche, Diskontinuierliche und Schreckliche, zum Beispiel auf den Tod, wie er auch eingangs in dieser Studie als Photo von zwei getöteten Vietcong-Attentätern in der amerikanischen Botschaft 1968 in Saigon auftritt, erwähnt wird und das Karl Heinz Bohrer zu einer Meditation über Gewalt und Kunst veranlasst, dann tritt der eigene Erfahrungshorizont, der auch ein Horizont literarischer Bildung sein kann, zur kompensatorischen Horizontverschmelzung fast im gleichen Moment ein. Der Schrecken (»of terror even«) ist dann schon das Gelesene und die Figur der Leiche immer schon eine Figur aus dem literarischen oder mythologischen Personal. Tod, Plötzlichkeit und Schrecken werden zu Sekundäreffekten humanistischer Bildung. Für Bohrer gehört das Photo beispielsweise schon im ersten Augenblick in die künstlerische Kategorie »Surrealismus«. Die entscheidende Referenzgröße von Wordsworth ist die Literatur. Bildung hat im deutlichsten Sinne als literarische Bildung auch für die Empfindung stattgefunden. Lehrjahre des Herzens sind in der Romantik deshalb Jahre der Lektüre. Marcel Proust findet zu diesem Einfluss der Literatur die vielleicht deutlichsten Worte, gleich zu Beginn seines Essays Tage des Lesens: »Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.«22 Die Frage wäre nun, ob rund 170 Jahre nach Wordsworth die Inszenierung einer glättenden und kompensatorischen Lektüre eines Zombiefilms mit dem Horizont von »of Grecian art and purest poesy« ebenso funktionierte. Denn die entscheidende Referenz des modernen Zombiefilms ist nicht das »fairyland, the forests of romance« von Kunst, Mythos und Literatur wie noch in der romantischen Lyrik. Es sind auch nicht mehr die Gothic Novel, die romantische Literatur, die Gruselromane des 19. Jahrhunderts und ihre Dramatisierungen, die noch die narrativen Vorbilder für den klassischen Horrorfilm der 1930er bis 1950er Jahre abgeben. Die Referenzbilder des Zombiefilms sind der Vietnamkrieg und die Unruhen und Schlachten auf den Straßen und an den Universitäten der USA. Die Bilder, mit denen ein Junge in den 1960er Jahren der USA aufwächst, zeigen keine Märchenlandschaften und mythischen Figuren im Symbolischen der Schrift, sondern es sind bedrängende Zeitungs- und Fernsehbilder vom Realen der körperlichen Gewalt und des Todes, vom Krieg und von den gewalttätigen Unruhen im eigenen Land. Zugleich entsprechen diese Referenzen wohl nur in den selteneren Fällen der eigenen Erfahrung. Der kleine Junge in den 1960er Jahren wächst deshalb vielleicht nicht mit mehr direkter Erfahrung von Tod und Gewalt auf als der kleine Junge im 19. Jahrhundert, aber statt romantischer Lektüre beeinflusst ihn das Reale von Bildern, die gerahmt durch das vermeintliche Wahrheitsformat des Nachrichtenfernsehens zu ihm dringen. Tod und Schrecken finden im Fernsehen statt. Der Bildungshorizont im 20. Jahrhundert ist ein televisueller, in Fortsetzung von Walter Benjamins Konzept des Kinoerlebnisses ein Schock-Trai22 Marcel Proust: »Tage des Lesens«, in: Ders.: Tage des Lesens. Drei Essays, Frankfurt am Main 1969, S. 7-65, hier S. 7.

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ning des sinnlichen Auges und nicht des halluzinatorischen »inner eye«, gebildet am Medium Schrift. Der Horizont ist ein auf Schock und Diskontinuität abzielender Rahmen, der auf die massenhaften Leichen im Fernsehbild und auf das Fernsehformat selbst rekurriert, als gehörten sie, wenn man der Medientheorie Marshall McLuhans im Jahre 1964 Glauben schenkt, zusammen: »The Medium is the Message.« Einen expliziten Hinweis auf diese Kopplung »of terror even« gibt Night of the Living Dead durch die Präsenz des Fernsehgeräts in dem von Zombies belagerten Haus. Dieses spiegelt in den Fernsehnachrichten exakt die Szenen, die sich im ganzen Land und um das Haus herum abspielen und relativiert sie durch die rahmenden Nachrichten, Interviews und Berichterstattungen. Die Frage nach der Repräsentation von Fernsehnachrichten im Medium des Spielfilms stellt auch die Frage nach den medialen und narrativen Rahmungen des Schreckens neu und bietet mindestens die allegorische Lesart des Zombiegeschehens als ideologiekritischen Kommentar zu den politischen und gesellschaftlichen Zuständen der USA in den 1960er Jahren, den Inhalten, der Institution und dem Format des Fernsehens an.23 Wordsworths The Prelude gehört nicht nur zu den paradigmatischen lyrischen Texten der Romantik, sondern ist auch eines der wenigen Werke, das von der amerikanischen Deconstruction der Yale Critics in ihrem wahrlich nicht breit zu nennenden Kanon an Referenztexten aufgenommen wurde.24 The Prelude wird neben Wordsworths Essays Upon Epitaphs (1810) vor allem in den Lektüren von Paul de Man und Cynthia Chase zu eine der Wasserscheiden für das dekonstruktive Lesen von Literatur. Die Schlagwörter, unter denen die Lektüren von The Prelude abgespeichert sind, lauten sinnfällig »Disfiguration« und »De-facement«. Deutlicher als es die deutsche Übersetzung von Jürgen Blasius im Suhrkamp Verlag der Texte de Mans anbietet – »De-facement« als »Maskenspiel« –, könnte eben dieser Begriff wörtlicher auch mit »Entsichtung« übersetzt werden und trüge auf diese Weise der Gewaltförmigkeit der rhetorischen Figuration, die damit bezeichnet wird, genauso Rechnung wie Disfiguration als »Entstellung« die gewaltförmige Lektüre klassischer Texte bezeichnet. Die für Wordsworths Literatur angeführten Schlüsselbegriffe »ghastly face«, Disfiguration und De-facement bezeichnen dem Primat der ständigen Selbstreflexion folgend, auch zentrale Tropen in der Rhetorik der dekonstruktiven Lektüre selbst. Es sind Gegenbegriffe zur »smoothness« einer Lektüre des Todes als griechische Kunst und pure Poesie, die man traditionell mit »hermeneutisch« umschreibt. Chases dekonstruktive Relektüre des Wordsworthschen Gedichts und der de Manschen Lektüre betont die literarische Selbstbezüglichkeit des literarischen Textes hinsichtlich der Lektüreanforde23 Auf die Einspielung des Fernsehens als Authentifizierungsmaßnahme des Zombiefilms und die deutlichen Referenzen an den Vietnamkrieg reagiert überraschenderweise die deutsche Synchronisation des Films (WDR) ziemlich direkt. So verwechselt der Moderator des Nachrichtenfernsehens in der deutschen Fassung prophylaktisch die außerfilmische (Fernseh-)Realität mit der Filmrealität. Denn nach dem Bericht über das landesweite Phänomen der Wiederauferstehung von Toten, die die Lebenden attackieren und fressen, beendet er die Sendung mit dem markanten Versprecher, dies sei der Berichterstatter aus Saigon, »entschuldigen Sie«, aus Washington. 24 Vgl. Harold Bloom (Hg.): William Wordsworth’s »The Prelude«, New York, New Haven 1986.

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rung. Ihr Aufsatz The Accidents of Disfiguration. Limits to Literal and Figurative Reading of Wordsworth’s »Books«25 arbeitet vor allem die rhetorischen Widerstände gegen das glättende Lesen eines rauen, widerspenstigen und erschreckenden Textes über den Tod heraus. Für Chase liest der fast neunjährige Junge im Gedicht die auftauchende Wasserleiche wie ein Buch, und der Schrecken bleibt bestehen, denn das Ertrinken in einem See ist ihrer Lektüre nach das Ertrinken in einem Buch.26 Das plötzliche Hochschrecken des »ghastly face« aus dem See sei ein Durchbruch, ein Riss durch die Oberfläche der Erzählung. So breche die Defiguration des Textes in der Form des entstellten, toten Gesichts selbst durch, und der Versuch der poetisch literarischen Glättung der gestörten Oberfläche des Sees innerhalb des Gedichts zeige immer nur das Scheitern eines buchstäblichen Lesens.27 Eine vergleichbare Beobachtung des Schocks, des Risses und der Störung kann man in Night of the Living Dead an der Figur des Lebenden Toten, an den Menschen fressenden Akten, an der Einspielung verschiedener dokumentarischer Medien sowie am abrupten Medienwechsel zum Schluss festmachen, Strukturmomente, die trotz desVersuchs, einen ununterbrochenen Fluss und die glatte Oberfläche eines kohärenten Erzählfilms herzustellen, wie die Fernsehnachrichten immer wieder den plötzlichen Terror des »ghastly face« präsentieren. De Mans rhetorische Lektüre von The Prelude findet fast beiläufig in dem kleinen, aber äußerst wirkmächtigen Text Autobiography as De-Facement (dt. Autobiographie als Maskenspiel, 1979)28 statt und macht dort im Rahmen einer Umschreibung der Gattungszuordnung der Autobiographie auf die Trope der Prosopopöie aufmerksam. Umfassender noch als die Masken des Monsters im Splatter- und Slasherfilm, die diese Figur in Anspruch nehmen, sind Romeros Zombies filmische Umsetzungen der Figur der Prosopopöie. Denn wenn die Lebenden Toten infolge ihrer ungeklärten Herkunft und Darstellung zwischen Phantastik und Authentifizierung die Katachrese (den Bildbruch im Sinne der Verwendung eines nahe liegenden Bildes, weil es kein entsprechendes Bild gibt) im Rahmen dieser Lektüre darstellen, kann man an der Metaphorik des Films sehen, dass die Zombies nicht mehr die Personifizierung des Todes sind, sondern eben nur die filmische Maske dieser Personifizierung. Der Tod als letztes oder transzendentales Signifikat wird desavouiert. Lebende Tote in dieser Lesart sind Figuren, die beliebig allegorisch und semantisch aufladbar sind. Sie führen wie in Benjamins Trauerspiel-Buch die Entleerung der Allegorie und damit jeder Interpretation ihr Ungenügen vor. Die Lebenden Toten sind die wandelbare Maske der Rhetorik von Rassismus-, Konsum- oder Ideologiekritik oder eben auch die Maske und Stimme des Todes. Sie sind in dieser Hinsicht die katachretischen Bilder einer Prosopopöie par excellence: Doch prosopon-poiein bedeutet, ein Gesicht geben, und impliziert daher, daß das ursprüngliche Gesicht auch fehlen kann oder gar nicht zu existieren braucht. Die Tro25 Cynthia Chase: »The Accidents of Disfiguration. Limits to Literal and Figurative Reading of Wordsworth’s ›Books‹«, in: Dies.: Decomposing Figures. Rhetorical Readings in the Romantic Tradition, Baltimore, London 1986, S. 1331. 26 Ebd., S. 16. 27 Vgl. Ebd., S. 23. 28 P. de Man: Autobiographie als Maskenspiel.

APOKALYPSE UND FERNSEHEN. DER ZOMBIEFILM|133 pe, die einen Namen für eine noch unbenannte Entität prägt, die dem Gesichtslosen ein Gesicht gibt, ist natürlich die Katachrese. Daß eine Katachrese eine Prosopopeia im etymologischen Sinn von »ein Gesicht geben« sein kann, wird an so gewöhnlichen Beispielen wie dem Gesicht eines Berges oder dem Auge eines Hurrikans deutlich. Aber es ist möglich, daß, anstatt daß die Prosopopeia eine Unterart des Gattungstyps der Katachrese (oder umgekehrt) ist, die Beziehung zwischen den beiden 29 viel brüchiger ist als die zwischen einer Gattung und einer Art.

Für de Man, der die Prosopopöie an der Gattung der Autobiographie festmacht, ist das Autobiographische bei Wordsworth ein Versuch der Selbstheilung und der Inszenierung von Erhabenheit angesichts erlebter körperlicher und geistiger Deprivation wie Verstümmelung, Verkrüppelung, Blindheit, Taubheit, Stummheit oder eben auch angesichts eines plötzlichen Schocks in früher Kindheit.30 Die Komplexität und rhetorische Irreduzibilität der Prosopopöie steht in der Autobiographie dabei gegen die außersprachliche Referenzialität des Textes. Die Prosopopöie löst bei de Man aus diesem Grund den Begriff der Autobiographie ab. Die Gattung der Autobiographie wird bei ihm selbst zu einer rhetorischen Figur und sowohl zu einer Lesehaltung als auch zu einem Organisationsprinzip von Texten, deren Funktion die Produktion der Illusion von Referenz ist. Denn die Autobiographie dient nach de Man – und an dieser Stelle werden noch einmal die Parallelen zu den Allegorieangeboten von Night of the Living Dead sichtbar – vornehmlich der Erzeugung von Referenz und zwar durch die Figuren, die sie der Prosopopöie zuordnet, seien es der Name von Autor und Erzähler oder eine Stimme im Text selbst. Die Masse der Lebenden Toten im modernen Zombiefilm kann angesichts der Entleerung ihrer allegorischen Festlegung als Prosopopöie identifiziert werden. Die Lebenden Toten sind Figuren, die vom Abwesenden, vom Tod, vom Jenseits, vom Anderen berichten könnten, die Offenbarungsrede aber durch ihre Stummheit aufschieben und dadurch die Lesarten des Zombiefilms organisieren. Das einzige, das die Zombies aus dem Grab mitbringen, ist ihr unstillbarer Hunger nach dem Fleisch der Lebenden. So wie die Filmfiguren und die Filmwissenschaftler versuchen, aus den Zombies schlau zu werden, so wie sie eine unbedingte Hermeneutik des Zombies entwickeln müssen, führen Zombies die brutale Lektüre, das Verschlingen von Körpern und Medien, bildlich vor und stellen damit jedwede Hermeneutik bloß. Die Zombies sind mit dem Begriff von Chase Film gewordene »decomposing figures«, verwesende Kompostfiguren, die nicht nur von dem Zerfall von Bedeutung und Sinnlichkeit zeugen, wie die faulende Substanz von Menschenfleisch und im Gegensatz zum relativierten »ghastly face« in Wordsworths The Prelude, das nur literarische und mythologische Diskurse hervorruft. Die Zombies zeugen stattdessen schweigend auch von der ratlos über sie berichtenden Bilderwelt aus Zeitung, Fernsehen, Filmkritik und Filmwissenschaft.

29 Paul de Man: »Hypogramm und Inschrift (1981)«, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt am Main 1998, S. 375-413, hier S. 403. 30 P. de Man: Autobiographie als Maskenspiel, S. 137.

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4. Die Melancholie der Medien Wenn man denn Night of the Living Dead einen Sinn verleihen und sich dem nicht mehr kompensierbaren Schrecken nähern möchte und abseits der reinen Rhetorizität einer Prosopopöie noch Bedeutungs- und Referenzebenen vermutet, dann geht es nicht nur um die Widerspiegelung der amerikanischen Gewaltverhältnisse in den 1960er Jahren, sondern vielmehr um die schon gespiegelten und gerahmten Bilder der Gewalt, die in den Medien Zeitung und Fernsehen zirkulieren. Die Figuren von Night of the Living Dead sind im Landhaus von der Gesellschaft abgeschnitten und stehen der Situation ratlos gegenüber. Dringend wird die Frage laut, was andere tun. Auf die wohl schon wiederholt gestellte Frage Judys, daran lässt Toms Antwort keinen Zweifel, ob das Telefon denn wirklich nicht funktioniere, kann er nur antworten: »The phone is dead out. What we only get is a recorded message.« Das Radio wird auch gleich zu Beginn angestellt. Während Ben das Haus verbarrikadiert, läuft es ununterbrochen und belegt die Tonspur. Später wird der Fernseher ins Wohnzimmer getragen und angeschaltet. Streit gibt es danach über Bens Plan, mit dem LKW nach Willard, der Stadt mit der nächsten Notstation, die im Fernsehen eingeblendet worden ist, zu fahren. Judys Zweifel, ob es denn das Richtige sei, »Are you sure we’re doing the right thing?«, werden von Tom mit dem folgenden Satz beantwortet: »Well, the television said that’s the right thing to do!« Die Autorität der Medien ist ungebrochen. Gezeigt wird auf dem Fernsehbildschirm eine Nachrichtensendung aus einem Studio. Der Moderator spricht direkt in die Kamera, und der Rahmen des Fernsehers verdoppelt unterstreichend den Rahmen des Filmausschnitts, stellt ihn damit filmisch aber auch in Anführungszeichen. (Abb. 44) Es wird eine kurze Reportage über die Befragung des Notstandsausschusses gezeigt, die keine Ergebnisse und nur widersprüchliche Aussagen präsentiert. Eingeblendet werden am unteren Rand des Bildschirms über den Studiobildern die Städtenamen mit den Krankenhäusern und Feuerwehrstationen, die zu Notstationen ausgebaut werden und zu denen man sich begeben soll. Das Interview mit einem Experten ergibt, dass alle Toten sofort auf die Straße zu werfen, mit Benzin zu überschütten und zu verbrennen seien. Es gebe keine Zeit für Feierlichkeiten. Das Fernsehen kann zusammengefasst auch nur von der Verzweiflung und vom Untergang berichten und nimmt damit das Ende von Night of the Living Dead vorweg: Judy und Tom sterben beim Versuch, den LKW startklar zu machen, um den Anweisungen des Fernsehens und Bens Folge zu leisten, und bis auf Ben überlebt keiner der Eingeschlossenen die Nacht. Während der Belagerung in der Nacht wird ständig auf die Überlebenskompetenz von Ben hingewiesen, der tatsächlich als einziger den Ansturm der Lebenden Toten übersteht. Als im Morgengrauen endlich eine große Gruppe von Zombiejägern wie die Kavallerie im Westernfilm sich nähert, kommt es aber zu einer bösen Überraschung. Die Vertreter der Bürgerwehr, die wie zu einem Jagdausflug die Lebenden Toten reihenweise abschießen und darin den Büffel- und Indianerjägern des amerikanischen Western nicht unähnlich sind, erspähen Ben durch ein Fenster im Haus und schießen ihm aus der Ferne eine Kugel in den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt endet tatsächlich auch das Medium Film und wechselt zumindest simulatorisch zum Medium

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Abb. 44: Die Wahrheit aus dem Fernsehen der Photographie über. Die dokumentarische Ästhetik des Nachrichtendiskurses verdrängt die filmischen Genres wie den Horrorfilm oder die Belagerungssituation aus Westernfilmen. Mit diesem Schluss verabschiedet Night of the Living Dead sich endgültig von jeder Form der traditionellen Horrorgeschichte und installiert den neuen authentischen und dokumentarisch anmutenden Horrorfilm, der vor Bildern der Gewalt nicht zurückschreckt, den Splatterfilm. Eine Serie von Einzelbildern zeigt, wie die weißen Jäger den erschossenen Schwarzen mit einem Fleischerhaken aus dem Haus zerren und auf einen Lastwagen hieven.31 Die Kamera fährt zoomend wie eine Lupe über die Standbilder. Der Film als kinematisches Medium kommt in dieser letzten Sequenz medial betrachtet an sein Ende und zitiert mit den gezeigten Szenen einen Grad an Realismus und Authentizität, der auf das Medium des Photos in der Zeitung oder auch im Standbild der Fernsehnachrichten rekurriert. Das Medium des Zeitungsphotos wird besonders augenfällig durch die grobe Körnung der Schlussbilder, die von von Zeitungspapier zu stammen scheinen, sowie durch die Tatsache, dass es tatsächlich Photos mit kommentierenden Untertiteln wie in Zeitungen sind. Denn über diesen Photos laufen wie im Nachrichtenfernsehen zuvor schon die Credits des Abspanns. Sie verankern in der Kombination von Bild und Schrift den Wahrheitsanspruch einer Zeitungsnachricht und erzeugen auf diese Weise verbindliche Referenz. 31 Das Ende erfüllt auch in filmpolitischer Hinsicht die rhetorische Trope der Katachrese, des Bildbruchs. Denn 1968 wäre die Darstellung der Erschießung und des Abtransports eines Afroamerikaners durch bewaffnete Rednecks in solch authentischer Inszenierung in einem Spielfilm wohl schwerlich außerhalb einer allegorischen Verschlüsselung möglich gewesen. Die Katachrese erfüllt die Funktion einer Prothese. Sie wird für etwas eingesetzt, für das man keine anderen Bilder hat, oder für Bilder, die man nicht zeigen kann.

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Abb. 45: Medienwechsel Der Medienwechsel ist auch als Kommentar zu den Bildern der Nachrichtensendungen und Zeitungsberichten selbst zu verstehen. Denn der Splatterfilm erfindet mit Night of the Living Dead zumindest in seinen Anfängen keine neuen Bilder der Gewalt, sondern schöpft und extrapoliert diese aus der medialen Aufbereitung der Realität. Mit dem Medienwechsel zum Schluss des Films trägt der Zombiefilm somit nicht nur den phantastischen Horrorfilm zu Grabe, sondern bringt auf mehreren Ebenen den Spielfilm selbst zum Ende. (Abb. 45) Night of the Living Dead kann auch als Versuch verstanden werden, dem Zuschauer die Reflexion einer notwendigen Ruhe des Blicks zurückzugeben und überdies das Moment der Melancholie der Zeitungs- und Fernsehapokalypse hinzuzufügen, die in diesem Fall eine rein technische Melancholie des Medialen ist. Denn das Ende des Films muss man aus einer photographischen Perspektive betrachten. Roland Barthes stellt beispielsweise in seiner Photographiestudie Die helle Kammer fest, dass nur die Photographie und nicht der Film melancholisch sein kann. Denn Melancholie sei eine Form des Innehaltens: Zwar gibt es im Film ohne Zweifel immer einen photographischen Referenten, doch dieser Referent ist gleitend […] die PHOTOGRAPHIE hingegen sprengt den »konstitutiven Stil« […] sie ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); sie besitzt nicht den geringsten Drang nach vorn, indes der Film weiterstrebt und somit 32 nichts Melancholisches hat.

Der schlimmste Fall von Melancholie, wie ihn Barthes im medialen Sinne versteht, ist deshalb wohl der »Engel der Geschichte« in Walter Benjamins 32 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 100.

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These IX in Über den Begriff der Geschichte (1940), der fixiert dem wachsenden Trümmerhaufen der Katastrophe in der Geschichte bis zum Untergang der Welt zuschauen muss und immer weiter als ewiger Zurückschauender aus dem Paradies geschleudert wird.33 An seine Stelle könnte auch eine Kamera stehen. Der Film hingegen läuft wie die Geschichte der Menschheit nach Barthes immer weiter und kann deshalb nicht melancholisch sein. Der Filmzuschauer kann den melancholischen Standpunkt des Engels nicht einnehmen, es sei denn, statt eines kontinuierlichen Bilderflusses liefe eine Serie von Photographien ab.34 Romeros Night of the Living Dead vollzieht diesen Medienwechsel, den Barthes für einen melancholischen und damit auch allegorischen Standpunkt als entscheidend ansieht. Er stoppt und inszeniert an seinem Ende eine Serie von Photographien. Er wird zum Photoalbum, zu einer Sammlung von Nachrichtenbildern, die von dem Ende der Menschheit berichten. Er zeigt Bilder einer Ausstellung schrecklicher Aufnahmen vom Ende der Welt. Die Endzeit der Menschheit wird medial buchstäblich genommen, in dem die Endzeit des Films performativ eingelöst wird. Hanns Zischler schreibt zu Franz Kafkas Reflexionen über das Kaiserpanorama, einer runden raumgroßen Konstruktion, in der zwanzig oder mehr Stereoskope35 eingelassen sind, die sich selbstständig weiterdrehen: »Es sind im Grunde theaterhaft nachgestellte Szenen, Bilder, die von außen nach innen gehen, von der ›befestigten Figur zu den Kulissen, während das Kinobild […] den umgekehrten, zentrifugalen Weg beschreitet.‹«36 Zischlers Diagnose des Wunsches Kafkas, das Kinema und das Stereoskop in der »Ruhe des Blickes«37 zusammenzufassen, kann deshalb als Beschreibung der Vorgehensweise von Night of the Living Dead gelesen werden: Die gewünschte Vereinigung von Kinema und Stereoskop kann es nicht geben – es sei denn, der Film käme zum Stillstand und würde zum »lebendigen Tableau« erstarren. Das motion picture, das in sich bewegliche und bewegte Bild müsste in einer undenkbaren, unentscheidbaren Bewegung zwischen Innen und Außen verharren. Der verräumlichte Stillstand der Stereophotographie macht das Bild lebendiger […]

33 Vgl. Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte (1940)«, in: Ders.: Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Hg. von Michael Opitz, Frankfurt am Main 1996, S. 665-676, hier S. 669-670. 34 Zu dem Komplex von der Melancholie in seiner Inszenierung vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925). Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1993; Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1972; Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1992; Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, Stuttgart, Weimar 1997; Hartmut Böhme: Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt am Main 1989 sowie Böhmes Aufsätze »Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik« und »Ruinen-Landschaften. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Allegorie in den späten Filmen Andrej Tarkowskijs« in der Sammlung H. Böhme: Natur und Subjekt, S. 256-273 und S. 334-379. 35 Vgl. J. Crary: Techniken des Betrachters. 36 Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 43. 37 Franz Kafka: »Tagebücher 1910-1923«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1993, S. 436.

138|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM Das (oder der) Kinema opponiert gegen die Ruhe des Blickes und erzeugt weniger 38 eine lebendige als eine mechanische Wirklichkeit, eine automatisierte Unruhe.

Das Motiv der Verschränkung von Innen und Außen findet sich buchstäblich in den Körpertableaus von Night of the Living Dead, aber auch in der Figur des Lebenden Toten sowie in der Wundästhetik des Splatterfilms wieder. Der Wechselblick von Innen und Außen entspricht dabei den medizinischen und humoralpathologischen Formationen des melancholischen Diskurses, in denen es um die Schau der schwarzen Galle im Inneren des Körpers geht, die eben nur durch die Autopsie als Öffnung des menschlichen Körpers sichtbar wird.39 Die Parallele zwischen dem Kaiserpanorama Kafkas und dem Medienwechsel vom Film zum Photo bei Night of the Living Dead bezieht sich nicht auf die Melancholie als Stimmung oder Temperament einer antiken Säftelehre, sondern auf die automatische Blickführung des Betrachters.40 Der Blick ruht jeweils auf einer toten Landschaft und geht nicht mit den Bewegungen der Lebenden mit. Kaiserpanorama und moderner Zombiefilm inszenieren eine Reise zwischen Toten und durch eine fragmentarische Welt der Ruinen und Trümmer. Beide zeigen deshalb eine Reise durch die Unterwelt. Die Lebenden Toten als bewusstseinsloses wandelndes Interieur dieser Unterwelt sind das organische Gegenstück zum Trümmer- und Ruinenhaufen der Geschichte, den der »Engel der Geschichte« mit Schrecken und Melancholie bis zum Ende der Zeit stetig anwachsen sieht. So möchte der Engel angesichts des wachsenden Trümmerhaufens »wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen«41. Aber was, wenn die Toten schon wach sind und gleich den Trümmern der Dingwelt die Geschichte und den Sinn von Lektüre von einer Katastrophe zur nächsten treiben? Bei Benjamin besteht neben der Verzweiflung über die Gewalt der Gegenwart des 20. Jahrhunderts und über die misslungene Aufklärung noch die Utopie »eine[r] schwache[n] messianische[n] Kraft«,42 die sich in der Reflexion über Kunst und über die Trümmerfragmente der Geschichte ausbilden kann. Die Erlösung kann wie der jüdische Messias jederzeit in die Realität eintreten, wenn die richtigen Bedingungen dafür vorhanden sind. Da die Welt aber an Gewalt und an ihrer Sinnlosigkeit und Trägheit, der melancholischen Acedia, leidet, färbt sich dabei jeder utopische und endzeitliche Gedanke unweigerlich melancholisch. Bei Romero gibt es nicht einmal mehr die Möglichkeit einer »schwachen messianischen Kraft«, sondern nur den melancholisch gefärbten Ton der Apokalypse sowie die Logik von Tod und Zerfall.

38 H. Zischler: Kafka geht ins Kino, S. 44-45. 39 Vgl. Elisabeth Bronfen: »Vorbereitung einer Autopsie. Gabriel von Max: Der Anatom«, in: Dies.: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1996, S. 13-27. 40 Zur Verschränkung von Photographie und Melancholie vgl. Hubertus von Amelunxen: »Skiagraphia – Silberchlorid und schwarze Galle. Zur allegorischen Bestimmung des photographischen Bildes«, in: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt am Main 1992, S. 90-108. 41 W. Benjamin: Begriff der Geschichte, S. 669. 42 Ebd., S. 666.

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III. Zombiedämmerung. Dawn of the Dead, 28 Days Later Und das Meer gab die Toten heraus, die in ihm waren; und der Tod und die Unterwelt gaben ihre Toten heraus, die in ihnen waren. Offb. 20, 13 Metaphysik als Totenpalaver. Jeder Satz, der über den Tod gesprochen wird, zehrt von der Spannung, die zwischen der Redseligkeit des lebendigen Menschen und der bedrohlichen Stummheit des Toten herrscht. Thomas Macho When there’s no more room in hell, the dead will walk the earth. George A. Romero: Dawn of the Dead

1. Der Morgen danach Elf Jahre nach Night of the Living Dead dreht Romero mit Dawn of the Dead die Fortsetzung mit einem Budget von 2 Millionen Dollar. Romero schafft es, ein Einkaufszentrum in der Umgebung von Pittsburgh jeweils für die Zeit von 23.00 Uhr bis 7.00 Uhr morgens als Drehort zu bekommen und erstellt den Film innerhalb von vier Monaten. Die Lebenden Toten haben inzwischen einen Großteil der amerikanischen Städte erobert. Peter und Roger, zwei S.W.A.T.-Polizisten, treffen in einem von Zombies belagerten Fernsehstudio auf Stephen, einen zivilen Hubschrauberpiloten, und seine schwangere Freundin Francine und fliehen mit ihnen in einem Hubschrauber. In dem Studio wird gerade ein Interview mit einem Wissenschaftler über die Zombies ausgestrahlt. Die vier erreichen ein großes Einkaufszentrum, schaffen es, sich dort zu verschanzen und sämtliche Zombies, die sich noch im Inneren befinden und geistlos die Gesten des Einkaufens weiter fortführen, nach und nach zu vernichten. (Abb. 46) Auf die entscheidende Frage von Francine, »Why do they come here?”, kann Peter nur antworten: »Instinct. Memory. This was an important place in their lives.« Die vier verbringen mehrere Monate in dem mit Waren angefüllten Einkaufszentrum und genießen das Leben im Schlaraffenland, bis plötzlich eine vorbeiziehende Biker-Gang das Zentrum stürmt und die vor den Toren versammelten Zombies hineinlässt. Die drei noch Überlebenden – der Polizist Roger hat sich nach einem Biss und einem langen Leidensweg inzwischen verwandelt – halten sich versteckt, bis Stephen auf die plündernden Biker schießt und die Situation eskaliert. Stephen entkommt der Situation nicht und wird auch zu einem Lebenden Toten. In blutigen Auseinandersetzungen unterliegen die Biker nach und nach der Übermacht der Zombies. Nur der Afroamerikaner Peter, der in seinem Pragmatismus deutlich an Ben aus Night of the Living Dead erinnert, und die ebenso pragmatische und sich zunehmend

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ermächtigende Francine, die inzwischen gelernt hat, zu schießen und den Hubschrauber zu bedienen, überleben das Massaker und können über den Luftweg in eine unsichere Zukunft fliehen. Mit Dawn of the Dead ist einer der Höhepunkte des Splatterfilms erreicht, wenn man das Genre im Sinne einer modernen Fortschritts- und Überbietungslogik an der Drastik der Darstellung sichtbarer Gewalt misst. (Abb. 48) In Dawn of the Dead schlagen aber auch skurrile und karnevalistische Elemente durch, die neben dem Schrecklichen und Monströsen eines Zombiefilms eine ambivalente Ästhetik des Grotesken inszenieren. Denn die Lebenden Toten sind auch die Clowns und Cartoonfiguren unter den Filmmonstern. Sie sind Crash Test Dummies, Stehaufmännchen und Punching Balls des modernen Horrorfilms. Sie ertragen jede Verletzung und Verstümmelung ohne Schmerz und gehen einfach weiter ihren eingeschränkten Bedürfnissen nach. Weil sie tot sind und weder Willen noch Bewusstsein besitzen, lassen sie alles mit sich machen.

Abb. 46: Zombies im Kaufhaus Dawn of the Dead leitet damit die zweite Phase des Splatterfilms der 1980er Jahre ein, als sich die Splatterästhetik in Raimis The Evil Dead mit der Komödie verbindet, in der die grotesk komischen Elemente der Gewalt herausgespielt werden. So werden in Dawn of the Dead minutenlang die Tortenschlachten der frühen amerikanischen Slapstickfilme zitiert. Die Biker, die in das isolierte Kaufhaus eindringen, bespritzen die langsamen Zombies mit Sodawasser, treten sie oder bewerfen sie buchstäblich mit Sahnetorten. Die Lebenden Toten als ausdruckslose und vor allem sehr langsame Wesen bieten sich als perfekte Projektionsflächen für komische und karnevaleske Elemente an. Ihre langsame Reaktionszeit, ihr massenhaftes Auftreten und ihr bis zur vollständigen Fragmentierung versehr- und schändbarer Körper prädestiniert sie für Malträtierungs- und Gewalttechniken jeder Art, die in der Übertreibung als derbkomische Effekte vorgeführt werden können. (Abb. 47) In Dawn of the Dead stellt Francine nach der Flucht vor den Zombiemassen in Fortsetzung des Interviews im Fernsehstudio zu Beginn der Geschichte die hilflose Frage nach der Identität der Zombies: »But what are they?« Die wenig hilfreiche und unverständliche, aber vielleicht doch präziseste Antwort, die ihr Peter geben kann, ist: »They are us.« Auch die anderen Erklärungen, die in Dawn of the Dead, aber auch in dem Vorgänger Night of

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the Living Dead und dem Nachfolger Day of the Dead versucht werden, sind wenig überzeugend und spiegeln nur die Hilflosigkeit der Figuren, das Phänomen des »Zombies« oder »Lebenden Toten« einordnen und verstehen zu können. Ob sie durch die Science Fiction-Erklärung der kosmischen Strahlung, die ein abgestürzter Satellit von der Venus hervorgerufen haben soll, wie in Night of the Living Dead, oder durch die theologische Erläuterung, die Hölle sei voll und die Toten müssten nun auf Erden wandeln, wie in Dawn of the Dead, erschaffen werden, das Phänomen »Lebender Toter« bleibt unlesbar, bleibt eine Maske für viele verschiedene Lesarten.

Abb. 47: Zombie-Slapstick Der Lebende Tote in seiner modernen Version bei Romero erweist sich als eine phantastische Kippfigur, der mit Interpretation nicht beizukommen ist und deshalb in all seinen Inkarnationen die Rhetorik der Prosopopöie voranträgt. Sie führt sämtliche Lektüren und Interpretationen auf ihre eigenen theoretischen Ursprünge zurück und entlarvt allein die Wut des Verstehens ihrer Interpreten, kann aber nichts von dem preisgeben, was sich hinter der Maske des Lebenden Toten verbirgt. Eine Bestimmung innerhalb der Reihe der Lebenden Toten muss aber dennoch getroffen werden: Der Lebende Tote bei Romero bietet sich als hässliche Spiegelfigur des zivilisierten Menschen an und ist sein Doppelgänger. Welche Charakterzüge den Lebenden Toten genau kennzeichnen, ob ein latenter Rassismus, ein darwinistischer Kapitalismus, das falsche Bewusstsein, manipuliert durch die Kulturindustrie, das Freudsche »Es«, das Lacansche »Begehren« oder etwas anderes, bleibt dabei den Interpreten überlassen.

2. Konsum und Kritik Dawn of the Dead besticht neben expliziter Gewaltsequenzen vor allem durch die Sequenzen, in denen das Verhältnis der Figuren zur Warenwelt gezeigt wird, während der Gebrauchswert der Gegenstände zugleich desavouiert wird. Die Überlebenden nehmen zum Beispiel das gesamte Geld einer verlassenen Bank im Einkaufszentrum mit, obgleich sie es nicht ausgeben können. In Großaufnahme wird die enthusiastische, massenhafte Entnahme der Scheinbündel gezeigt, und Stephen schießt erst auf die eingedrungenen Biker, als diese anfangen, neben Waren auch das inzwischen

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wertlose Geld einzusammeln. Er beschwört damit seinen Untergang und die Vertreibung aus dem Warenparadies herauf. Die Szenen innerhalb eines Supermarkts im Einkaufszentrum, in denen sich die vier frei an den Regalen bedienen, sind in langen Parallelfahrten als haltloser Konsumrausch inszeniert. Die Lebenden Toten selbst wandern währenddessen ziellos und von Kaufhausmusik begleitet mit oder ohne Einkaufswagen durch die Passagen und Kaufhäuser. Werner Faulstichs Interpretation »Der Spielfilm als Traum. Interpretationsbeispiel: George A. Romeros ›Zombie‹« war lange Zeit die einzige deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem Film Dawn of the Dead in einem akademischen Kontext.43 Faulstichs Analyse weist dabei zwei entscheidende und auffällige Verspätungen auf. Der Aufsatz erscheint zum ersten Mal im Jahr 1985 in der Zeitschrift medien + erziehung. Das bedeutet erstens, er erscheint mit einem Blick auf die Filmtheorie zehn Jahre nach Laura Mulveys äußerst wirkmächtigem Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema (1975), in dem die strukturale Psychoanalyse Lacans aus genderspezifischer Hinsicht zur feministischen Kritik des Hollywoodfilms genutzt wird. Noch einmal zehn Jahre zurück liegen der Einsatz der Lacanschen Psychoanalyse in Verbindung mit den Marx-Lektüren Louis Althussers für die Filmtheorie zum Beispiel bei Christian Metz oder Jean Louis Baudry.44 Bis dahin findet die Praxis der Psychoanalyse in der Filmtheorie vor allem im Sinne eines Übertrags der Freudschen Psychoanalyse auf die Regisseure oder Filmfiguren statt. Nach der allgemeinen Akzeptanz der Lacanschen Psychoanalyse in der Film- und Betrachtertheorie findet eine direkte Filmanalyse mit den Interpretamenten Freuds nur noch selten statt. Dass gerade Faulstichs Analyse noch im Jahre 1985 versucht, mit dem Tenor der Pionierarbeit eine an Freuds Traumdeutung orientierte psychoanalytische Filminterpretation in die Wissenschaft beziehungsweise in die Medienpädagogik einzubringen und sich dazu dieses Films bedient, muss auffallen. Was bringt diese Beobachtung? Es geht Faulstich sonderbarerweise nicht in erster Linie um die Analyse des Films, sondern dieser dient allein, wie es der Untertitel des Aufsatzes besagt, als »Interpretationsbeispiel«. Faulstichs primäres Anliegen ist also, seine Vorstellung einer psychoanalytisch motivierten Filminterpretation vorzustellen und dabei die Termini und Argumentationsstrukturen der Freudschen Traumdeutung als Folie zu nehmen. Der Film ist Traumfilm, und gerade der Zombiefilm kann nur als Traum gelesen werden. Warum aber gerade Dawn of the Dead und warum der Rekurs auf Freud? Vordergründig scheint Faulstich diesen Film für die wissenschaftliche und pädagogische Diskussion vorzuschlagen und aufzuwerten und damit den schlechten Kritiken zu diesem Film und allgemein der Abwertung von Horrorfilmen entgegenwirken zu wollen:

43 Werner Faulstich: »Der Spielfilm als Traum. Interpretationsbeispiel: George A. Romeros ›Zombie‹«, in: Ders.: Medienkulturen, München 2000, S. 57-72. 44 Die Theorien sind als Filmsemiotik, Dispositiv-Analyse, Apparatus- und ScreenTheorie bekannt. Einen guten filmtheoretischen Überblick in deutscher Sprache erhält man durch die Lektüre der Sammelbände Karsten Witte (Hg.): Theorie des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt am Main 1972; FranzJosef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001 sowie Jürgen Felix (Hg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2002.

APOKALYPSE UND FERNSEHEN. DER ZOMBIEFILM|143 Der folgende Beitrag fordert auf: den kleinbürgerlichen Gewaltbegriff, der Gewalt stets subjektiviert und jenen direkten Zusammenhang zu sehen, der besteht zwischen den bluttropfenden Hackebeilchen verstümmelter Zombies auf der einen und 45 SS-20, Pershing II und militärischen Weltraumstrategien auf der anderen Seite.

Zumindest für die deutschsprachige Wissenschaft hat er dies wohl nicht erreicht. Wissenschaftliche Beiträge zu den Zombiefilmen Romeros werden immer noch in englischer Sprache geschrieben, und Faulstichs »kleinbürgerlicher Gewaltbegriff« ist immer noch der Leitstern von FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft), BPjM (Bundesstelle für jugendgefährdende Medien) und staatsanwaltschaftlicher Zensurinstanzen. Faulstich stellt weiter mit dem »Amerikaner Norman N. Holland«46 das literarische Maskierungsmodell von Symbolisierung und Splitting in der Traumarbeit vor. »Symbolisierung« ordnet nach Faulstich einem Gegenstand eine zusätzliche Bedeutung zu, und »Splitting« bedeutet die Verschleierung eines Gegenstandes oder Geschehens, in dem es auf verschiedene Gegenstände, Ereignisse oder Personen verteilt wird. Dann listet Faulstich Unstimmigkeiten im Film auf, Brüche und unlogische Stellen in der manifesten Geschichte, Passagen, in denen sich Figuren falsch und unerwartet verhalten, oder eben auch Stellen, die das Sprechen und die mehrfachen Klärungsversuche über das Wesen und Handeln der Zombies thematisieren. Faulstich stellt danach die hermeneutische Gretchenfrage, »Was bedeuten die Zombies?« und versucht, den Film mit dem Modell der Symbolisierung und des Splittings im Sinne einer Traumarbeit zu interpretieren. Die zweite Verspätung in Faulstichs Text betrifft die Weise der Interpretation, die er aus der Betrachtung des Films als Traum entwickelt und die im Jahre 1985 sich weder in der Literatur- noch in der Filmwissenschaft großer Popularität erfreut haben dürfte. Faulstich interpretiert aus der Perspektive einer marxistisch orientierten Ideologiekritik, die entweder kritisch am bourgeois-hegemonialen Text oder im Schulterschluss mit einem Text oder Film operiert, der den Idealen des sozialistischen Realismus entspricht oder zumindest im schmalen Kanon der Moderne von Theodor W. Adorno seinen Platz fände. So identifiziert Faulstich die Zombies folgendermaßen als Symbol für die Verseuchung der Menschen durch Kapitalismus und Imperialismus. Sie sind Symbol für die Menschen als Warenbesitzer und als Waren. Ihre Fremdbestimmung, ihre Unmenschlichkeit, ihre mechanische Puppenexistenz, ihre Besitzgier und Habgier, ihr Drang zur Ausbeutung aller Menschen, ihr Instinkt, lebende Menschen entweder aufzufressen oder zu ihresgleichen zu machen – das sind die Merkmale der Natur der Ware, wie sie Karl Marx im »Kapital« unter dem Stichwort 47 ›Tauschwert‹ oder ›Wert‹ theoretisch beschrieben hat.

Die Zombies sind für Faulstich also die Versinnlichung und Verkörperung des Warenwerts. Die Kritik der Warenästhetik erfolgt in Dawn of the Dead als Abzug des schönen Scheins von Werbung und Warengesellschaft. Und wie Faulstich richtig feststellt, werden genau die beiden der vier Protagonis-

45 W. Faulstich: Spielfilm als Traum, S. 57. 46 Ebd., S. 58. 47 Ebd., S. 65.

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ten, die sich im Einkaufszentrum immer noch oder zusehends der Warenwelt verschreiben, selbst zu Zombies. Sie werden vom System vereinnahmt.

Abb. 48: Die Zombies schlagen zurück Dadurch, dass der Film auf kritischer und allegorischer Ebene Sinn erzeugt und damit der Lesart Faulstichs entspricht, ist er nicht, wie die Kritik behauptet, ein »schlechter Film, bei dem das Auffressen lebendiger Menschen sozusagen Selbstzweck sei – Horror allein um des Horrors, des Schauers willen«. Faulstich setzt dagegen: »›Zombie‹ ist ein ästhetisch ausgefeilter Spielfilm, ein Traum mit einer klaren latenten Bedeutung, ein Kunstwerk.«48 Nach Faulstich ist Dawn of the Dead kein dekadentes l’art pour l’art, kein Schrecken um des Schreckens willen ist, sondern er stiftet latent Sinn und ist damit das Dokument eines Traums. Gemäß dieser psychoanalytisch angeleiteten marxistischen Ideologiekritik macht ihn das zu einem Kunstwerk. Romero selbst führt in einem Interview innerhalb der Dokumentation The American Nightmare aus, dass der Zombie für ihn das Blue Collar-Monster sei. Der Zombie sei wie wir, ein Satz, der auch in Dawn of the Dead fällt. Man könnte den Aussagen Faulstichs und Romeros hinzufügen, dass die Filme der 1930er Jahre den Zombie auch ausschließlich als schwarzen Arbeitssklaven zeigen und die Zombies damit eine schlichte Fortsetzung der Ikonographie oder des Phantasmas vom afrikanischen Sklaven seien. Der Zombie der industrialisierten Moderne in dieser Hinsicht wäre deshalb die Masse, wäre der Proletarier als Monster, dessen Hunger nach Menschenfleisch nicht gestillt werden kann, weil dieser vom Schein der Warenästhetik der Kulturindustrie erzeugt würde. In Dawn of the Dead wird zu Beginn von einem Wissenschaftler in einem Fernsehinterview festgestellt, dass die Lebenden Toten das Menschenfleisch nicht zum Leben benötigten. Im Experiment hätten Lebende Tote auch ohne Magen weiterhin Menschenfleisch gefressen. Die Lebenden Toten verkörperten in der ideologiekritischen Lektüre also das von der Kulturindustrie verführte falsche Bewusstsein des eindimensionalen Menschen. Der Zombiefilm wäre in dieser Hinsicht die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln. 48 Ebd., S. 64.

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schen. Der Zombiefilm wäre in dieser Hinsicht die Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln. Man kann all diesen Beobachtungen und Interpretationen nur zustimmen, muss aber auch darauf hinweisen, dass Konsum- und Kapitalismuskritik durch die filmische Ökonomie des Exzesses, die der moderne Zombiefilm als Splatterfilm sowohl an den Zombie- als auch an den Opferkörpern zeigt, unterlaufen wird. Und auch wenn die Lebenden Toten die vom Schein abgezogene Tauschwertökonomie repräsentierten, dann wäre immer noch nicht klar, warum sie den Aufstand wagten und warum diese Vereinigung aller Proletarier, diese Weltrevolution, gerade solche Formen annimmt. Denn die revoltierenden Körper der Lebenden Toten sind aus marxistischer Perspektive nur die Perpetuierung des Verführtseins vom schönen Schein der Waren und nicht ihre dialektische Überwindung. Statt eines historischen Materialismus liefert Romero also vieldeutige oder entleerte Bilder und Masken des Zerfalls, des Todes und des Schreckens, die keinen ausschließlich kritischen oder revolutionären Gedanken propagieren, sondern allenfalls einen apokalyptischen und sogar einen melancholischen Ton anstimmen. Überdies wird mit den Mitteln des Splatterfilms im Filmschnitt, aber auch in der Mise en Scène, durch eine serielle Schaltung von Gewalt genau das System benutzt und ausgestellt, das es zu kritisieren gilt. Mit anderen Worten: Die Figur des Zombies, selbst wenn sie so deutlich als Allegorie in Erscheinung tritt wie in allen drei Romero-Filmen, lässt sich auf diese Interpretation keinesfalls reduzieren. Allenfalls als das Gedankenspiel von der Flaschenpost der Kritischen Theorie könnten die Zombiefilme deshalb im Sinne der Kritischen Theorie als radikales Zeugnis der Konsequenz ökonomischer und sozialkultureller Verhältnisse und damit als Epitaph der abendländischen Zivilisation verstanden werden.

3. Nach der Apokalypse Romeros drittes Kapitel seiner Reihe über die Lebenden Toten, Day of the Dead (dt. Zombie 2, US 1985), ist als Kammerspiel inszeniert und verzichtet im Gegensatz zu Dawn of the Dead vollständig auf die komische Seite des grotesken Schreckens. Gezwungen, in einem unterirdischen und getarnten Atomraketensilo irgendwo in Florida zu verharren, können die letzten Überlebenden einer von Toten beherrschten Welt, einige Wissenschaftler und Soldaten, nur selten und zu Forschungszwecken die Außenwelt mit einem Hubschrauber erkunden. Die Welt wird ausschließlich von Lebenden Toten bevölkert, die Städte sind verwaist und nur noch Ruinen- und Trümmerlandschaften. Im Bunker herrscht eine Militärdiktatur, in der einige wenige Soldaten unter dem Kommando von Captain Rhodes allein dem Ziel des Überlebens und der Perpetuierung männlich-machistischer Gesten folgen, während die Wissenschaftler unter Dr. Logan und Sarah, der Protagonistin und einzigen lebenden Frau des Films, versuchen, die Identität der Zombies zu bestimmen, um sie erfolgreich bekämpfen zu können.

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Abb. 49: Dr. Logans Experimente Die Zombies übersteigen nach Aussagen des zivilen Radiotechnikers McDermott die Lebenden dabei um »400.000 to one«. Es ist eine Welt, in der die Menschen nicht mehr die Erde beherrschen. McDermotts Bemerkungen zur Außenwelt besagen nur, dass sie schon lange den Kontakt mit dem Regierungssitz in Washington verloren hätten und dass – mit einem Seitenblick auf Dawn of the Dead – inzwischen alle Einkaufszentren geschlossen seien. In Day of the Dead gibt der Wissenschaftler Dr. Logan, der von seinen Kollegen nur mit »Dr. Frankenstein« angesprochen wird, eine fast identische Aussage zur fast menschlichen Identität der Zombies wie in Dawn of the Dead. Er berührt mit dem Ausdruck »extensions« aber auch die McLuhansche Sicht auf die durch Medien erzeugten Monster der Selbstamputation, die der moderne Horrorfilm zum Zentrum seiner Ästhetik erhebt und definiert sie anhand einer deutlich behavioristischen Sichtweise: »They are us. They are extensions of us. They are the same animal simply functioning less perfectly. They can be fooled, don’t you see? They can be tricked into being good little girls and boys. The same way that we were tricked into it with the promise of some reward to come.« Dr. Logan entspricht dem Stereotyp des Mad Scientists. Mit wirrem weißen Haar und einem stets blutbespritzten weißen Kittel wird er hauptsächlich beim Training seines Schützlings, des angeketteten Zombies »Bub«, und beim Sezieren von Leichen oder Zombies gezeigt. (Abb. 49) Klassische Konditionierung und extensive Autopsien und Sezierungen sind die Methoden des Wissenschaftlers, Zombies zu resozialisieren und rehumanisieren, aus den Zombies wieder Menschen zu machen. Diese Resozialisierung wird an bestimmten Kulturtechniken festgemacht. Bub soll Sprechen beigebracht werden, er bekommt einen Stephen King-Roman zu lesen und Musik über einen Walkman zu hören. Die Sozialisierung des Zombies erfolgt also hauptsächlich durch Konditionierung, aber auch durch die Installierung einer familiären Gruppe, in der Dr. Logan den Zombie »Bub« benennt, ihn wie sein Kind behandelt und selbst in die Mutterrolle schlüpft: »Mother is very proud of you … very proud of you indeed.« (Abb. 50)

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Abb. 50: Die Resozialisierung von Bub Die Domestizierung und Zivilisierung von Bub, das Training, Menschen nicht mehr anzufallen und zu fressen, führt gegen Ende des Films zu einem Teilerfolg. Bub schießt den despotischen Captain Rhodes nieder, nachdem dieser Dr. Logan und andere Wissenschaftler umgebracht hat, und gibt ihn seinen Mitzombies zum Fressen frei. Ansonsten wird »Analyse« im Sinne von der Zerlegung des Wissensgegenstandes von Dr. Logan buchstäblich genommen. Auf seinen Operationstischen befinden sich Teile von menschlichen Körpern, die nur deshalb noch leben und sich bewegen, weil sie bereits tot sind. Die Laborobjekte sind mitunter getötete Soldaten der eigenen Gruppe. Der Schluss wird genau wie das Ende von Dawn of the Dead und der Anfang des Films von der Flucht mit dem Hubschrauber bestimmt. Die Lebenden Toten überrennen den Atombunker und töten alle Militärs. Drei Mitglieder des Teams aus Zivilpersonen und Wissenschaft überleben durch die hektische Flucht mit dem Hubschrauber. John, der afroamerikanische Hubschrauberpilot, der Radiotechniker McDermott und die Wissenschaftlerin Sarah fliehen auf eine tropische Insel. In Day of the Dead werden zwei Themen offen angesprochen, die in den Vorgängerfilmen noch weitgehend latent vorhanden sind. Das ist zum ersten der unbedingte menschliche Wille zum Wissen. Die Protagonisten müssen um jeden Preis herausfinden, was die Zombies sind, um ihr eigenes Überleben und das der restlichen Menschheit zu sichern. Das andere Element ist der apokalyptische Tonfall. Der Film findet vollends in der Endzeit der Lebenden statt. Der »Tag« des Zombies bedeutet die »Abenddämmerung« der Menschheit, die, obgleich vereinzelt, in Chaos, Gewalt und Militärdiktatur endet. Day of the Dead funktioniert wie die dystopischen Romane um 1950 damit auch als Gesellschaftsallegorie einer Militärdiktatur im Ausnahmezustand und als Kommentar zur skrupellosen Biowissenschaft in Gestalt des Dr. Logans, der zur Erforschung, Bestimmung und Schaffung menschlichen Lebens vor keiner Methode zurückschreckt. Zusammengefasst inszenieren die Zombiefilme Romeros deshalb vor allem eine Rhetorik des Zerfalls, die jeder Aussage, sei es zum Rassismus, zu den Massenmedien oder zum Warenkonsum sowie zur Gesellschaft in der Krise oder im Ausnahmezustand, einen zusätzlichen Spiegel vorhält. Rome-

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ros Filme reihen sich damit in eine schwarze Anthropologie von der menschlichen Gesellschaft ein. Diese modernen Zombiefilme sagen dabei auffällig nichts über den Tod selbst aus. Die Filme zeigen deshalb ein vollständig diesseitiges Szenario von Tod und Zerfall und gemahnen ausschließlich an die Kreatürlichkeit und Sterblichkeit des Menschen. Die Zombies schweigen vom Jenseits. Man könnte von einer modernen Rhetorik des Lebenden Toten sprechen, die keinesfalls eine sprachliche oder literarische ist, sondern eine genuin filmische, die mit der Maske des Todes und der Inszenierung von sichtbarer Gewalt operiert.

4. Zombies Revisited Die Tatsache, dass die Attraktivität der Zombiefilme Romeros aber weniger in dem offensichtlichen Angebot zur politischen Allegorie liegt, sondern einerseits im Thema des Weltuntergangs und andererseits im Exzess der grotesken Ikonographie des Lebenden Toten zwischen Masse und Gewalt aus Zeitung und Fernsehen, zeigen die zahlreichen italienischen Epigonen des populären Themas. Italienische Zombiefilme kommen weitgehend ohne ideologiekritischen Ton, aber nicht ohne den apokalyptischen Grundton und keinesfalls ohne die Inszenierung von Gewalt, Zerstörung und Zerfall aus. Nach dem europäischen Erfolg von Dawn of the Dead dreht Lucio Fulci noch im gleichen Jahr Zombi 2 (engl. Zombie Flesh Eaters, Zombies 2, dt. Woodoo – Schreckensinsel der Zombies, IT 1979), der unter diesem Titel bewusst irreführend als Nachfolger von Zombi(e), dem europäischen Verleihtitel von Dawn of the Dead, vermarktet wird, um eine Kontinuität zu Romeros Filmen herzustellen. Nach dem Erfolg dieses ersten Zombiefilms dreht Fulci in kurzen Abständen Paura nella Cittá dei Morti Viventi (engl. City of the Living Dead, The Gates of Hell, dt. Ein Zombie hing am Glockenseil, IT 1980) und L’Aldila (engl. The Beyond, Seven Doors of Death, dt. Geisterstadt der Zombies, Über dem Jenseits, Eibon – Die 7 Tore des Schreckens, IT 1981), die das Zombiethema mit dem Spukhaus-Setting des Gothic Horrors und Versatzstücken aus den Erzählungen H.P. Lovecrafts versehen. Der Fokus der Zombiefilme Fulcis und der anderen italienischen Zombiefilme liegt noch deutlicher auf der visuellen Detaillierung der verschiedenen Zustände an Zerstörung und Verwesung, die die lebenden Leichname aufweisen, sowie an schockierenden Bildern der Gewalt am lebenden und untoten Körper. (Abb. 51) Der Zombie gleicht sich, je weiter er sich vom Vorbild Mensch entfernt, wieder den Monstern und Halbwesen des klassischen Horrorfilms an und büßt dabei vollständig seine allegorische Funktion als Doppelgänger und Spiegel des Menschen ein. Nachfolgend gerät der Zombie deshalb schnell zu einer dekontextualisierten Figur, wie in The Evil Dead oder Braindead, die vornehmlich dem Zweck dient, verschiedene Arten des Tötens und Verstümmelns am menschlichen Körper durchzuexerzieren.

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Abb. 51: Italienische Zombies Der singuläre Versuch von Wes Craven, das Thema des Zombies zurück zu seinen kulturellen Wurzeln und damit vollständig in die politische Allegorie zu überführen, sei kurz erwähnt. Mit The Serpent and the Rainbow (dt. Die Schlange im Regenbogen, US 1987) kehrt Craven wieder zum VoodooThema des Zombiefilms und damit nach Haiti zurück. Aus einer personalen Erzählperspektive zeigt der Film die Forschungen eines amerikanischen Anthropologen auf Haiti. Dieser sucht nach den chemischen Zutaten, mit deren Hilfe die Zombiefizierung vorgenommen werden kann. Gleichzeitig bricht der Bürgerkrieg auf Haiti aus. Ton Ton Macoute, ein Scherge des Diktators François »Papa Doc« Duvalier,49 erweist sich als Voodoo-Meister und transformiert den Forscher nach drastischen Folterungen in einen Zombie. The Serpent and the Rainbow versucht sich deutlich in der Parallelführung des Zombiethemas mit der außerfilmischen, realpolitischen Lage Haitis im Sinne einer Einlösung des gesellschaftsallegorischen Versprechens der Filme Romeros. Bemerkenswert ist dabei die Erzählperspektive, die einen Standard des modernen Horrorfilms, speziell des Slasherfilms, fortsetzt. Denn nach den Folter- und Albtraumsequenzen des Protagonisten, die noch in der personalen Erzählweise gezeigt werden, wechselt die Perspektive nach der Zombiefizierung des weißen Forschers gemäß der Formel des modernen Horrorfilms, die seit Carpenters Halloween besteht, zur First Person View der Ich-Erzählung. Kameraausschnitt und Blick des Protagonisten sind identisch und sehen die gewaltsamen Unruhen in Haiti fortan aus dieser monströs verschobenen Perspektive. Nach den italienischen Zombiefilmen, Cravens Politallegorie und Andersons Videospielverfilmung Resident Evil, der sich ikonographisch deutlich auf die Romero-Filme bezieht, bildet den vorläufigen Schlusspunkt des modernen Zombiefilms Danny Boyles auf HD-Videofilm und in rasanter Videoclip-Ästhetik gefilmter 28 Days Later. Der Film rekurriert erzählerisch zwar 49 »Tonton Macoute« (aus dem Französischen im Sinne von »Onkelchen Menschenfresser«) ist eine Sagenfigur Haitis, die ungehorsame Kinder in einen Sack steckt und mitnimmt. »Tontons Macoutes« werden die Mitglieder des Geheimdienstes François Duvaliers genannt, die dieser 1959 mit Clément Barbot gegründet hat. Diese mussten ihren Unterhalt zum Teil durch Raub und Erpressung verdienen und wurden auch mit Voodoo-Ritualen in Verbindung gebracht oder sogar als Zombiearmee betrachtet.

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auf die Quellen von Romeros Filmen und zitiert dabei neben Romeros Versionen vor allem Mathesons Roman I am Legend und seine Verfilmungen The Last Man on Earth und The Omega Man, schlägt aber visuell einen anderen Weg ein. Die Handlung von 28 Days Later ist schnell erzählt: Tierschützer befreien in der Exposition des Films mit einigen Schimpansen aus einem Versuchslabor auch eine Form von Tollwut – »Rage«. 28 Tage später wacht der Fahrradkurier Jim aus einem Unfallkoma auf und findet ein völlig entleertes London vor. Die Menschen sind entweder tot oder haben sich in rasende »Infected« verwandelt, die jeden Gesunden anfallen und anstecken. Mit den Überlebenden Celeste, Hanna und Hannas Vater macht er sich nach der Radiomeldung einer Militärstation auf den Weg nach Norden. Das Lager der Soldaten entpuppt sich als eine Falle, da das Radiosignal ausschließlich dazu dient, die Soldaten mit Frauen zu versorgen. Jim, Celeste und Hanna lassen in der Station deshalb einen gefangenen infizierten Soldaten frei und können während seines Amoklaufs durch das Haus fliehen. Sie machen Halt im gebirgigen Schottland, lassen sich häuslich nieder, und ihre ausgelegten Zeichen werden zum Schluss des Films von einem Militärflugzeug gesichtet. In 28 Days Later wird ein wichtiger Unterschied in der Geschichte des Zombiefilms zwischen menschlich gebliebenen Figuren und Infizierten invertiert. War es bisher üblich, die Zombies langsamer und ungelenker als Menschen darzustellen, wechseln die Rollen in 28 Days Later. In dem digitalen Videofilm für die Kinoleinwand sind Menschen und Infizierte kategorial unterschieden auf eine Weise, die sich durch ihre technische Codierung ergibt. Man erkennt die Zombies nicht nur an ihren roten Augen, dem Schaum vor dem Mund oder daran, dass sie Blut spucken, sondern sie bewegen sich außerhalb der Geschichte in einer anderen Zeit. Der Film bietet zwei Möglichkeiten, dieses »Aus-der-Zeit-Sein« in Szene zu setzen: Zum ersten nimmt die Kamera eine totale Position auf die menschlichen Figuren ein, und in dieser Distanz huschen sehr schnell nicht erkennbare Gestalten und Schatten in direkter Nähe zur Kamera vorbei. Die Figuren, die auf diese Weise ins Visier genommen werden, merken nichts von den Bewegungen im Vordergrund des Kaders. Die Infizierten erhalten dadurch eine phantasmatische Präsenz, die den Figuren nicht bewusst ist, und bei der der Kinozuschauer nicht orten kann, wann und woher sie kommen. In der zweiten Möglichkeit werden in dem Film bei der Konfrontation von Mensch und Infiziertem zwei Geschwindigkeiten direkt zusammenmontiert. Die Untoten bewegen sich hyperschnell, abgehackt und zappelig. Technisch werden den Infizierten weniger Bilder pro Sekunde zugestanden als den noch nicht Infizierten, so dass ihnen keine flüssige und langsame Bewegung möglich ist. Sie befinden sich in einer Stasis der ständigen Beschleunigung. Zudem neigen die Infizierten zu weit ausholenden Bewegungen, so dass die hysterische Zappeligkeit noch deutlicher hervortritt. Vergleichbar ist dieser Effekt mit den Bewegungen der Körper aus frühen Filmen, die mit 16 Bildern pro Sekunde gedreht wurden und heute nur noch in 24 Bilder-pro-Sekunde-Formaten im Kino oder 25 Bilder-pro-Sekunde auf Fernseh- und Videoformat zu sehen sind. In 28 Days Later kommt hinzu, dass beide Figuren in dasselbe Bild, dieselbe Kadrage, eintreten, so dass die beiden Zeitebenen direkt gegenüberstellt werden. Bei diesen Konfrontationen, die in ihrer hohen Schnittfrequenz und mit wirbelnder Kamera am ehesten dem entsprechen, was unter VideoclipÄsthetik verstanden wird, lösen sich in der Kollision der beiden Zeitebenen

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auch der Raum und damit das Moment der sichtbaren Gewalt auf. Optische und akustische Zeichen wie Blut oder Schmerzensschreie müssen für den Gewaltakt einstehen. Die Auseinandersetzungen zwischen Gesunden und Infizierten sind nicht mehr zu verfolgen, bleiben unlesbar und dienen der Desorientierung des Zuschauers. Allein die Spuren, die die Gewalt an den Körpern von Infizierten und Nichtinfizierten hinterlässt, werden in den Szenen nach diesen Schnittgewittern sichtbar, die deutlich einer Verlangsamung unterliegen. Die Tatsache, dass aber Nichtinfizierte und Infizierte tatsächlich nur sehr selten in Sequenzen zu sehen sind, die eine konventionelle Schnittzahl und eine nachvollziehbare Geschwindigkeit aufweisen, zeigt, wie der Raum der Mise en Scène durch den Zeitverlust in der Montage selbst infiziert wird. Wenn beide Zeitebenen einen Raum einnehmen, implodiert dieser in dem besagten Schnittgewitter und fällt aus der realistischen Diegese heraus. Die von Lessing entwickelte Gattungstheorie, für die in dieser Studie schon das Medium Film als Horror identifiziert worden ist, findet überdies inmitten von 28 Days Later, der die untersagte Verschmelzung von Raum und Zeit auf den videotechnisch möglichen Höhepunkt führt und mit der Übertretung des Verbots von Hässlichkeit und Ekel verknüpft, ein überraschendes Denkmal in einer Version des Laokoons selbst, der als Statue in dem Militärlager gezeigt wird, das im Finale von den Infizierten überrannt wird. (Abb. 52) Inhaltlich ist 28 Days Later eine Mixtur, die fast alles den drei Zombiefilmen Romeros entnimmt und dabei deutlicher auf die literarischen Vorlagen eingeht. Ein interessanter Punkt an der Positionierung der Protagonisten ist die Notwendigkeit der Entwicklung, dass der sanfte Jim symbolisch zu einem Tollwütigen und Infizierten werden muss, um die anderen vor den Soldaten zu retten. Seine Manöver werden nach seiner Flucht in den Wald, nach der er plötzlich die Initiative übernimmt, mit denselben Kameraeinstellungen – und zwar als schnelles Vorbeihuschen direkt vor der Kamera – gefilmt wie die Bewegungen der Zombies. Der Film erinnert damit an die Evolutionslogiken vor allem in Cravens Filmen wie The Last House on the Left, The Hills Have Eyes, A Nightmare on Elm Street oder Scream, in denen die zunächst friedlichen und zivilisierten Protagonisten die Monster nur besiegen können, indem sie so werden wie sie. Und nur beinahe erfährt Jims Verwandlung eine Sanktion. Nur beinahe wird er nach seiner Wildwerdung deshalb zweimal von Celeste und Hanna umgebracht, nachdem er die Reste der Kompanie ausgelöscht hat. Nach dem Sieg über den neuen Keim einer Zivilisation in Gestalt des britischen Militärs mutet das Ende des Films in der Reihe der apokalyptisch tönenden Zombiefilme allerdings seltsam optimistisch an. Deutlich als Heilige Familie gekennzeichnet, haben sich die drei Überlebenden in einem arkadischen Idyll eingerichtet. In einem sauberen, schönen Cottage im schottischen Hochland inmitten von grünen Hügeln hat sich auch Celeste, die Kämpferin, die sich während der Reise nur widerwillig von ihrer Machete hat trennen können, an einer Handnähmaschine niedergelassen. Alle drei legen lange Tücher aus, um die Aufmerksamkeit eines Militärflugzeugs zu erregen, das über Großbritannien kreist, und sie haben Erfolg.

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Abb. 52: Laokoon Es ist aber kein Hilferuf, der gelegt wird. Es ist nicht »Help«, wie man vermuten würde, sondern das »Hello«, das den Anfang des Films bestimmt, als Jim allein in London aufwacht und Menschen sucht, und das an den Beginn von Day of the Dead gemahnt, in dem die Heldin Sarah auf diese Weise in einer leeren Stadt nach Überlebenden sucht. In 28 Days verwandelt sich das hilflose und einsame »Hello« zum Schluss aber in die freundliche Begrüßung einer neuen Zukunft und damit in eine Wiederbegrüßung von Zivilisation, die wiederum vom Militär repräsentiert wird. Die Apokalypse ist nicht eingetreten, die alten Regeln der Zivilisation herrschen noch, und die Infizierten scheinen tatsächlich ausgerottet. Die Schlussbilder entspringen dabei direkt den Bildern des Werbefernsehens, das eine glückliche Kleinfamilie bei häuslichen Tätigkeiten zeigt. Der apokalyptische Ton der Fernsehbilder aus dem Jahr 1968 muss dem optimistischen und der Zukunft zugewandten »Hello« aus dem Jahr 2003 weichen.

DAS

GEFRÄSSIGE

AUGE. DER KANNIBALENFILM

I. Das Rohe und das Gekochte Wollen wir eigentlich sehen, wie einem lebendigen Menschen das Herz aus dem Körper geschnitten wird? Oder andere seltsame Attraktionen aus Kinoerfolgen der vergangenen Jahre: wie Menschen zu blutigem Brei geschossen werden? Wie eine stählerne Klauenhand den Bauch einer Schwangeren aufschlitzt? Wie jemand seinem Widersacher Glasscherben in die entsetzten Augen drückt? Wie jemand eruptiv sein Mittagessen wieder loswird? Oder wie ein kultivierter Kannibale seinem Opfer den Schädel öffnet, um ihm sein eigenes Gehirn zu essen zu geben. Georg Seeßlen

1. Kannibalenhorror 2003 beginnt die Renaissance des Splatterfilms der 1970er Jahre. Zivilisierte Amerikaner verirren sich seitdem wieder in der Wildnis vor allem des mittleren Westens, um dort auf Hinterwäldler treffen, die nichts anderes von ihnen wollen, als sie zu quälen und zu verspeisen. Rob Schmidts Wrong Turn (US 2003), Rob Zombies House of 1000 Corpses (dt. Das Haus der 1000 Leichen, US 2003) und Marcus Nispels Remake Michael Bay’s The Texas Chainsaw Massacre (US 2003) rekurrieren auf den kleinen Kanon an frühen Splatterfilmen wie The Texas Chainsaw Massacre und The Hills Have Eyes, die sich neben einer schonungslosen Darstellung von sadistischem Terror und blutiger Gewalt vor allem durch ihr Setting auszeichnen. Dieses ist in den meisten Fällen ein Grenz- und Randgebiet der amerikanischen Zivilisation, in dem die Bewohner durch inzestuöse Verwandtschaftsbeziehungen, moralischen Verfall, geistige und körperliche Degeneration bis hin zu einer grotesken Mischung mit Elementen des Tierhaften ausgezeichnet sind. Oft dient das Setting als Neuauflage der amerikanischen Pioniergeschichte und damit als Trainingslager für domestizierte amerikanische Familienväter oder etablierte Mittelstandsfamilien aus den Großstädten, denen die dunkle Seite des American Dreams als American Nightmare gnadenlos ins Gesicht und ins Fleisch schlägt. Der dunkle und brutale Bodensatz einer nur halb zivilisierten Gesellschaft, die immer noch ein Frontier-Leben zwischen Stadt und Wildnis führt, zwängt die zivilisierten Helden als ahnungslose Opfer in ein brutales und darwinistisches Schema, in dem sie selbst zu Mördern werden müssen, um zu überleben. Die monströse Gefahr ist dabei deutlich als eine hinterwäldlerische Variante des »White Trash« markiert, die unterprivi-

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legierte und immer auf das Kreatürliche bezogene gesellschaftliche Unterschicht, der Albtraum des zivilisierten Amerikas. White Trash bezeichnet den »weißen Abschaum« der amerikanischen Gesellschaft, der auf der untersten Sprosse der sozialen und zivilisatorischen Leiter stehen geblieben zu sein scheint.1 Der White Trash bildet im Rassenund Klassendiskurs das Gegenstück zum afroamerikanischen Sklaven im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert. Man versuchte mit diesem Modell, den wirtschaftlichen und sozialen Misserfolg bestimmter Schichten mit Erbschäden zu erklären, die durch Inzucht entstanden seien. Die Stereotypen von Inzest, Bösartigkeit, Grausamkeit und Perversion sind aber immer noch das standardisierte Bildrepertoire dieser Gruppe vor allem im Kino. Da leistet John Boormans Deliverance (dt. Beim Sterben ist jeder der erste, US 1971) für den mittleren Westen, was Walter Hills späte Vietnamreaktion Southern Comfort (dt. Die letzten Amerikaner, US 1981) für die Cajuns und Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre sowie Wes Cravens The Hills Have Eyes für den Süden darstellen. Sie zeigen moralisch und körperlich degenerierte und aggressive Wildnisbewohner, die zur primitiven Gefahr für den inzwischen zivilisierten, dem Wald und der Prärie entwachsenen Amerikaner geworden sind. Man denke bei Deliverance zum Beispiel an den Banjo spielenden Jungen mit Down-Syndrom, der in seiner Latzhose das bizarre White Trash-Gegenbild zu Mark Twains zu amerikanischen Ikonen geronnenen Figuren Tom Sawyer und Huckleberry Finn darstellt, oder an die seltene Vergewaltigung eines Mannes im Hollywoodfilm, die wie selbstverständlich nur von einem Redneck, einem Hinterwäldler, begangen worden sein kann, der zum wilden Tier degeneriert ist und gerade vom Schwarzbrennen aus dem Wald kommt. Hintergrund für viele der Serial Killer- und Menschenschlachtermythen in diesen Filmen ist der Fall »Ed Gein« aus dem Jahr 1957 in Wisconsin, auf dem schon Robert Blochs Buch Psycho (1959) und Hitchcocks gleichnamiger Film beruhen, aber auf den sich auch noch Jonathan Demmes The Silence of the Lambs und viele andere Filme beziehen.2 Der allein stehende Farmer Edward Gein ermordet nach dem Tod seiner dominanten Mutter zwei Frauen und gräbt mehrere Leichen aus. Ihre Haut und Körperteile sammelt er und 1

2

So verwundert es nicht, dass gerade das Genre des höchst medienreflexiven Serial Killer-Films den White Trash für sich entdeckt hat. So zeigt Oliver Stones Natural Born Killers (US 1995) die zugleich ins Mythische überhöhte und zutiefst profane Odyssee eines White Trash-Serial Killer-Pärchens durch ein massenmedial aufbereitetes Albtraum-Amerika. Die beiden werden durch die Willkür ihrer Morde, die den Frust und die Wut an der eigenen Familie, an der Gesellschaft und an sich selbst ausdrückt, zu Medienstars. Ein vergleichbares Projekt ist Dominic Senas Kalifornia (US 1993). Darin begleitet ein White Trashund Trailerpark-Pärchen ein Upper Middle Class-Pärchen, das mit der Reise eine Buchreportage über das Phänomen des Serial Killing verfassen möchte. Der Frust und die Minderwertigkeitskomplexe des ohnmächtigen White Trash, der ohne öffentliche Stimme auskommen muss, entladen sich in Kalifornia im Rahmen der Figur des serienmordenden Early, der zum Schluss für sein Verlangen nach der Frau einer anderen Gesellschaftsschicht abgestraft wird. Vgl. Michael Farin/Hans Schmid (Hg.): Ed Gein. A Quiet Man, München 1996. Serial Killer-Filme wie Psycho, The Texas Chainsaw Massacre, William Girdlers Three on a Meathook (US 1973), Jeff Gillens und Alan Ormsbys Deranged (KAN 1974), The Silence of the Lambs sowie Chuck Parellos Ed Gein (In the Light of the Moon, US 2000) beziehen sich auf diesen Fall.

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näht sich daraus Kleidung. Die Redneck-Splatterfilme der 1970er Jahre beziehen sich deutlich auf diesen Fall und zeichnen sich in der Inszenierung ihrer Geschichten vor allem durch eine schonungslose und authentifizierende Darstellung von Gewalt in Form von Folter, Mord und Schlachtung zivilisierter Figuren durch gewissenlose Hinterwäldler aus. Dreißig Jahre später greift Wrong Turn das Sujet der White Trash- und Redneck-Kannibalenfamilie wieder auf. Der Film personifiziert die Splätterästhetik der 1970er Jahre durch eine Kannibalenfamilie, deren Mitglieder infolge inzestuöser Verbindungen deutlich missgestaltet sind, und lässt diese gegen Jugendliche und junge Erwachsene als Vertreter einer Ästhetik der Teenager-Filme und -Fernsehserien der 1990er Jahre antreten. House of 1000 Corpses stellt sich noch deutlicher als zitatenreiches Archiv der 1970erFilmkultur dar, die er als ein Produkt der Medienkultur, die hauptsächlich von Serial Killern dominiert wird, zeigt. Der Film inszeniert dies anhand zahlreicher diegetischer Distanzierungs- und Reflexionsstrategien wie Captain Spauldings Geisterbahn, in der die Serial Killer ausgestellt werden, aber auch filmisch in der Form vieler Flashbacks und häufig invertierter Bilder, die als Zitate von Dokumentationen markiert sind. Vier junge Leute, die durch Texas fahren, um folkloristische Hintergründe von hinterwäldlerischen Serial Killern zu sammeln, werden in House of 1000 Corpses von einer Musterfamilie der 1970er-Redneck-Killer-Kultur gefangen und nacheinander gefoltert und geschlachtet. Neben Anspielungen auf reale Serial Killer-Fälle wie Ed Gein geht es vor allem um Dr. Satan, der blutige Experimente an den Körpern seiner Opfer vornimmt, um sie zu neuen Übermenschen umzuformen. Der mythische Dr. Satan erweist sich im Laufe des Films auch als der Kompagnon der mörderischen White Trash-Familie Firefly, die nicht nur die vier Reisenden, sondern auch zwei Polizisten und den Vater einer der beiden jungen Frauen als Repräsentanten jeder verfügbaren symbolischen Ordnung und Autorität umbringen. Einen Schritt weiter noch als die Frontier-Thematik im amerikanischen Splatterfilm, in dem gezeigt wird, wie sich die Zivilisation an ihren Rändern auflöst und durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, geht der italienische Kannibalenfilm der 1970er Jahre. Dieser spielt nicht mehr nur an der Grenze zur Wildnis, sondern inmitten des südamerikanischen Dschungels. Der Kannibalenfilm formuliert dabei die Widersprüche von Zivilisation und Wildnis vollends am Leitfaden der Sichtbarkeit von Gewalt und Grausamkeit und am Thema der Anthropophagie aus. In der Reihe der Authentifizierungs- und Überbietungslogik, die den frühen Splatterfilm kennzeichnet und die seit den 1980er Jahren in eine übertriebene Komik der Gewalt umkippt, erreicht der Kannibalenfilm den höchsten Grad an Realismus in der Darstellung von Gewalt. Er ist dabei ein rein europäisches Genre und vor allem ein Produkt des italienischen Exploitation-Kinos. In ihm werden überdies Strukturen sichtbar, die auf ethnologische Filme verweisen. Denn die Attraktion des Kannibalenfilms ist das Thema des Fremden. Statt des exotischen Treibens fremder Völker im Dschungel wird aber im Kannibalenfilm immer auch das wilde Denken von Ethnologie und Film offenbar. Der Kannibalenfilm wird damit zur ethnographischen Dokumentation seiner eigenen filmischen Bedingungen. Je realistischer, je »roher« das Dargestellte im Film erscheinen soll, umso artifizieller, gerahmter und »gekochter« ist die Inszenierung.

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Claude Lévi-Strauss berichtet in seinem Text Das kulinarische Dreieck3 von den Riten und Gebräuchen der Gé-Indianer in Südamerika. Von zentraler Bedeutung für die ethnologische Erforschung dieser Kultur sind die verschiedenen Arten, Menschenfleisch herzurichten. Das Fleisch wird vorzugsweise in Wasser gekocht beziehungsweise gesotten, wie im Falle der Verspeisung von Verwandten. Gebraten werden erlegte Feinde. Im Endokannibalismus werden Körper aus dem eigenen Stamm gekocht und verspeist. Der Exokannibalismus bezieht sich auf den Konsum von Personen außerhalb des eigenen sozialen Umfelds, vor allem von Feinden und mit dem bekannten Ziel, deren Kräfte in sich aufzunehmen. Eine grundsätzlichere Unterscheidung, die man dem System noch hinzufügen muss, ist die nicht zufällig in der modernen Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert getroffene Differenz von Anthropophagie und Kannibalismus. Mit Anthropophagie wird das schlichte Verspeisen von Menschenfleisch bezeichnet. Kannibalismus hingegen ist eine kulturelle Praxis und bedeutet für die Wissenschaft ein komplexes und damit faszinierendes System von Riten und Gebräuchen. Wer also eine Kultur erforscht, die auf dem Konsum von Menschenfleisch basiert, ruft unweigerlich eine Hermeneutik des kannibalischen und damit in jedem Falle symbolischen Systems auf den Plan. Der Wissenschaftler interessiert sich für die strukturellen Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Arten des Kannibalismus und dem, was sie bedeuten. Der skandalöse und gewaltförmige Akt des Verspeisens von Menschenfleisch, die Anthropophagie, ist nur Anlass und Einsatzpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung und bleibt deshalb strukturell außerhalb des ethnologischen Blicks. Erforscht, beschrieben und interpretiert wird allein das »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe«4 der jeweiligen Kultur, das sich im Zusammenspiel von Kulturtechnik und Zeichenbenutzung ausdrückt. Lévi-Strauss rekonstruiert die Strukturen fremder Riten und Gebräuche, wie zum Beispiel die des kannibalischen Systems, indem er sie wie die Sprache als ein symbolisches System auffasst, das den Inhalten Zeichen zuordnet und sie formatiert. Das geschieht nach Lévi-Strauss unbewusst und – aus der Sicht des Strukturalisten – für alle Gesellschaften gleich. Es geht also darum, in dem jeweiligen System das entscheidende Paradigma und damit das Tertium Comparationis, für Jacques Derrida: das Zentrum des Systems,5 zu erkennen und die entscheidenden kulturellen Codes des Systems zu entschlüsseln. Das Paradigma des kannibalischen Systems, der Aufnahme und Konsumtion eines fremden Körpers in den eigenen, ist für Lévi-Strauss die Art der Nahrungszubereitung.6 So kommt er zu dem Schluss, dass der unterschiedliche Garungsvorgang des Fleisches von zentraler Bedeutung auch für die soziale und kulturelle Beziehung zwischen der Identität des Fleisches und der des Konsumenten ist. 3 4 5

6

Claude Lévi-Strauss: »Das kulinarische Dreieck«, in: Helga Gallas (Hg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt 1972, S. 1-24. Nach einem Begriff von Max Weber vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1991, S. 9. Dieses »Zentrum« bezeichnet Jacques Derrida als das »strukturalistische Ereignis« und damit als das totalitäre Ordnungsprinzip des Strukturalismus. Vgl. Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen (1967)«, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1994, S. 422-442. Vgl. H. Gallas (Hg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren, S. XI-XX.

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Es geht in Lévi-Strauss’ Beispiel der Gé-Indianer um die Dichotomie von »Braten = Feinde« und »Kochen = Verwandte«. Das Kochen ist für die Endoküche reserviert. Dem Verwandten und damit auch dem Kannibalen wird nichts Fremdes hinzugefügt. Sein Fleisch gart von innen. Zugleich ist die gekochte Nahrung das Ergebnis eines doppelten Vermittlungsprozesses, »durch das Wasser, in das man sie legt, und den Behälter, der beides enthält«7. Das Gekochte oder Gesottene ist also bewusst ein »Kulturprodukt« und wird demnach auch aus zivilisatorischen Erwägungen heraus bevorzugt. Der bratende Feind hingegen gart von außen. Seinem Körper wird etwas hinzugefügt. Das Feuer steht zudem in einer »nicht vermittelten Verbindung«8 zu dem Fleisch und sorgt als Repräsentant der rohen, physischen Welt für ein älteres Modell der Fleischzubereitung und wird als primitiveres »Naturprodukt« betrachtet. Zudem geschieht das Braten als »Am-Spieß-Braten«, also in einer Position, in welcher der Feind nicht nur durchbohrt ist, sondern auch noch Saft verliert, während der köchelnde Verwandte die Substanz seines Fleisches für den Essenden im Topf bewahrt. Aber diese Verhältnisse, darauf weist Lévi-Strauss hin, müssen nicht in jedem Kulturkreis so geordnet und auf diese Weise codiert sein, sondern sie können auch genau umgekehrt vorhanden sein. Der Ethnologe bezeichnet die Art der Beziehung von »Braten/Feind« und »Kochen/Verwandter«, gleich welche Zuordnung vorgenommen wird, deshalb als »homolog«. Es besteht keine tatsächliche und metonymische Beziehung zwischen dem sozialen Verhältnis zu dem Verspeisten und der Zubereitung seines Fleisches, sondern die Beziehung ist eine Entsprechung zweier gesellschaftlicher Institutionen innerhalb einer Struktur. Man könnte die Beziehung deshalb auch metaphorisch und damit eine kulturelle oder rhetorische Inszenierung nennen. So kommen zum kannibalischen als einem der Sprache vergleichbaren System noch die Rhetorik und damit ein Moment der Theatralität hinzu, das der Ethnologe entziffern muss, gilt es doch – so gesehen – gerade umgekehrt als erwiesen, dass Kulturtheorie, Anthropologie und Ethnologie ihrerseits schon seit langem (mindestens aber seit den ethnographischen Arbeiten von Claude Lévi-Strauss) auf die immanente Sprachlichkeit ihres Gegenstandes und dessen »implizite« Theatralität rekurrieren: auf das Inszenatorische aller aus dessen sprachlicher Verfassung erwachsenden, in den kulturellen 9 Text einwirkenden »symbolischen Produktion«.

Zentral ist dabei die Erkenntnis, »daß die Küche einer Gesellschaft eine Sprache ist, in der sie unbewußt ihre Struktur zum Ausdruck bringt, es sei denn, sie verschleiere, nicht minder unbewußt, ihre Widersprüche«10. In beiden Fällen ist der menschliche Körper – wie die Sprache – als Speise im kannibalischen System, aber ebenso als initiierende Grundlage eines Zeichensystems kultureller Distinktionen zu verstehen, und die ethnologische Interpretation bedeutet den Versuch der Entschlüsselung dieses distinguierenden Systems. 7 8 9

C. Lévi-Strauss: Das kulinarische Dreieck, S. 4. Ebd. Gerhard Neumann: »Einleitung«, in: G. Neumann/C. Pross/G. Wildgruber (Hg.): Szenographien, S. 11-32, hier S. 15. 10 C. Lévi-Strauss: Das kulinarische Dreieck, S. 24.

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Die einfache Tatsache, dass Menschenfleisch verzehrt wird, fällt in diesem Beobachtungsprozess zugunsten einer Interpretation der Zeichensysteme und der kulturellen Differenzen innerhalb vergleichbarer Strukturen zurück. Es geht ausschließlich um die kulturelle Rahmung und damit um die Theatralität des »Ereignisses«, des »Zentrums«, und der Ethnologe kann sich »ein wenig wie Hermes« fühlen, »ein Kurier, der, ausgestattet mit Methoden, das Verschleierte, Verborgene, Unbewußte zu enthüllen, sich seine Kunde auch durch List beschaffen könnte. […] Er entschlüsselt die Botschaft. Er interpretiert«,11 wie Vincent Crapanzano seinen Berufsstand ausführlich beschreibt und feiert. Die vollständige Verschlingung des Körpers innerhalb des kannibalischen Systems und die ebenso vollständige Assimilation und Homogenisierung des Fleisches im Prozess der Verdauung markieren aber in jeder Hinsicht einen gewaltförmigen Extremfall des Körpers. So praktiziert der Kannibalismus nicht nur das in der Mediendiskussion seit den 1980er Jahren beklagte oder gefeierte Verschwinden des Körpers, sondern er sorgt ebenso für seine vollkommene Abstraktion in der Semiotisierung oder auch Codierung in ein System. Der materielle Körper geht vollständig in das kulturelle Zeichensystem ein und flottiert dann nicht nur frei im Magen-Darm-Trakt des Kannibalen, sondern vor allem in dessen kulturellem System und dann in zweiter Ordnung in den Notizen und technischen, vor allem filmischen Aufzeichnungen des Ethnologen. Nur aus dem semiotischen Mehrwert des im kannibalischen System verschwundenen Körpers kann der Ethnologe seine Erkenntnisse gewinnen. In dem strukturalistischen Setting, das Lévi-Strauss entwirft, gerät der Körper nicht in die essenzialistische Rhetorik von einem materiellen Rest des Realen, von einem vorsprachlichen Körper, der als vernachlässigter Referent das Zeichensystem von außen formiert. Denn der Körper ist in der Ethnologie, die im Sinne des Strukturalismus von Ferdinand de Saussure funktioniert, immer ganz Zeichen in Differenz zu anderen Zeichen und damit vollständig in ein System von Zeichen eingebettet. Der verspeiste Körper kann nur als Platzhalter, also an seinem zugewiesenen Platz in der Signifikantenkette, als gebratener oder gesottener, das kannibalische System stabilisieren und perpetuieren. Aber die deutlichen Implikationen der physiologischen Aspekte des Kannibalismus, die zumindest phantasmatisch den Prozess der Konsumtion von Menschenfleisch begleiten, reduzieren in jedem Schritt der »Abstraktion« und der »Interpretation« den Körper wieder auf seine Materialität und verweisen damit im ökonomischen Sinne auf den menschlichen Körper als verwertbare Ressource, auf den reinen Mehrwert, der vor allem in seiner Semiotisierung besteht. Erst als verschlungener ist der Körper in diesem Kontext für Kultur, Wissenschaft und dann auch für den Film interessant. Der Kannibalismus offenbart als Grundlage einer strukturalistisch geordneten Welt der Zeichensysteme ein Zentrum. Dies ist die materiell begründete Ökonomie des Körpers. Der Strukturalismus denkt und ordnet sein Material nicht nur als Zeichen, sondern ihm liegen immer auch die ökonomischen Kategorien eines Tauschsystems von materiellen Ressourcen zugrunde.12 11 Vincent Crapanzano: »Das Dilemma des Hermes: Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1996, S. 161-193, hier S. 161. 12 Abseits der Verschwendungs- und Potlatsch-Ökonomien zum Beispiel bei Marcel Mauss und Georges Bataille.

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Vergleichbare ökonomische Figuren gelten für den Kannibalenfilm. Wenn ein filmisches Sujet dem Ziel des Splatterfilms der absoluten Sichtbarkeit und der Authentizität von Gewalt am menschlichen Körper am nächsten kommt, dann ist es der Kannibalenfilm. Vergleichbar den Erkenntnissen von Linda Williams, dass Pornofilme nicht einfach nur Geschlechtsakte abbilden, zeigt der Kannibalenfilm auch nicht einfach nur den Vorgang der Anthropophagie, sondern es geht ihm wie der Ethnologie um die Theatralität und damit um die kulturelle Rhetorik des Kannibalismus. Der Kannibalenfilm kommt nicht ohne entsprechende Kontextualisierung, und das heißt, ohne die exotischen Riten, Gebräuche und Codes, die die Gewalt und das Verschlingen des Körpers begleiten, aus. Inszeniert wird im Kannibalenfilm deshalb eine doppelte Theatralität: eine des kannibalischen Systems selbst und eine des Kannibalenfilms, die noch den brutalsten Realismus wie zum Beispiel das reale Töten von Tieren vor der Kamera, »Tier-Snuff«, in Szene setzt. Die Figur des Kannibalismus zeigt weiterhin die wohl vollständigste Fassung einer Überwindung des Fremden und damit potenziell Feindlichen oder Konkurrierenden in der Transformation zum Eigenen. Franz Liebl fasst in seinem Vortrag »Betriebswirtschaftliche Dimensionen des Kannibalismus« den Kannibalismus in diesem Sinne funktionalistisch als eine Strategie der Innovation auf: Auch wenn der Ursprung im physiologischen Bereich beheimatet ist, kann metaphorisch gesehen Kannibalismus als Prozeßmodell für kulturelle Innovation aufgefaßt werden – und zwar als das bisher fortgeschrittenste. […] Es sind die folgenden vier Aspekte, die das Kannibalismus-Prinzip […] besonders radikal machen und über die anderen Innovations-Strategien hinausheben: Erste Stufe: Der Totschlag. Er bedeutet so etwas wie maximale Gewalt; der Übergang von Leben zu Tod weist damit maximale Irreversibilität auf. Zweite Stufe: Das Einverleiben. Der Übergang vom Außen zum Innen bedeutet eine Inkorporation und damit eine Auflösung kategorialer Unterschiede. Dritte Stufe: Das Verdauen. In dieser Assimilation wird die Trennung eigen/fremd aufgelöst. Viertens: Das Produzieren. Die aufgenommene Energie wird in ein eigenes Produkt umgesetzt. Zusammengefaßt beschreibt Moser den Fusionsprozeß der Anthropophagie wörtlich als »extremen Homogenisierungsprozeß mit Gewaltanwendung«, der gleichzeitig den Vorteil hat, daß das kannibalisierte Objekt quasi restlos verschwindet und dem Neuen Platz macht. Insofern muß nicht mehr wie noch bei Schumpeter auf die Produktion des Neuen dessen Durchsetzung am Markt folgen, sondern hier fallen Produktion und Durchsetzung in einem einzigen 13 Akt zusammen.

Kannibalismus bedeutet für Liebl die Metapher eines kreativen ökonomischen Prozesses, gerichtet an den unternehmerischen Entrepreneur und an den Marketing- und Trendforscher. Die vollkommene kapitalistische Assimilation des Fremden und feindlichen Konkurrenten sowie der Akt der Neuschöpfung verschmelzen im Kannibalismus für Liebl praktischerweise zu einem Vorgang. Aus dieser Perspektive müssen Differenzdenken und damit auch die eigene Positionierung zu dem Anderen und Fremden verschwinden. Denn nach Liebl kann das alles einverleibt werden, so dass die Körper in ei13 Franz Liebl: »Betriebswirtschaftliche Dimensionen des Kannibalismus«, in: Unbekannte Theorie-Objekte der Trendforschung (XL), in: http://notesweb.uniwh.de/wg/wiwi/wgwiwi.nsf/name/Kannibalismus-DE vom 11. August 2004.

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ner fleischlich-ökonomischen Unio Mystica eins und zu mehr als zur Summe ihrer Teile werden. Kannibalismus ist ein Synergieeffekt, der zwar jede Regel des differenzierenden Benchmarkings missachtet, aber zumindest marketingrhetorisch zur kreativen und innovativen Beherrschung des Marktes führen kann. Liebl fasst den Prozess der Kannibalisierung – auch im Gegenzug zur marxistisch gefärbten Sicht auf die unheimliche Macht des Kapitalismus, die klischeehaft als »vampirisch« oder »kannibalisch« markiert ist – einerseits als Metapher auf, kann andererseits aber genau wie die strukturalistische Ethnologie nicht auf die physiologischen Implikationen der Verschlingung des einen Körpers durch den anderen verzichten. Auch er benötigt das Ereignis, die theoretische Figur des Dritten oder strukturalistisch den Referenten, den initiierenden Akt der Anthropophagie. Liebls Metapher funktioniert nur, wenn der Körper einerseits im kannibalischen System ganz Zeichen ist, das einer strukturalistischen Differenzlogik gehorcht, aber andererseits immer wieder auf seine Materialität und auf seine metonymische und damit tatsächliche und kontingente Verbindung zu dem äußeren vorsprachlichen oder vordiskursiven Vorgang verweist. Letztlich erhebt Liebl die kannibalische Rahmung des einen Körpers durch den anderen zu einer Entdifferenzierung zwischen Materie und Rhetorik. Liebls Denkfigur agiert deshalb ebenso kannibalisch und entgegen ihrer eigenen Aussage selbst ganz und gar nicht innovativ. Von dem materiellen Körper ausgehend, verschlingt sie ihn im unbedingt kannibalisch zu bezeichnenden assimilierenden Prozess der Metaphorisierung und macht ihn zu einem Teil des eigenen rhetorischen Systems. Diese Figur ist weder innovativ noch schöpferisch. Denn sie funktioniert nur, wenn sie immer wieder parasitär ihren Ausgang von der akzentuierten Körperlichkeit des Menschenfleisches und dem skandalösen Akt der Anthropophagie nehmen kann und somit immer wieder im Prozess der Semiotisierung die Materialität des fleischlichen Referenten restatuiert. Die Figur funktioniert somit in einer rekursiven Schleife, die über die zweite Zeile, dem »n + 1 = Körper im Magen = Zeichen im System« nie hinauskommt, da sie immer wieder zum Ausgangspunkt »n = Körper« zurückkehrt, der während der Operation verschwinden muss. In Liebls Interpretation erweist sich der Kannibalismus damit als der eskamotierende Akt der Metaphorisierung selbst. Gleiches gilt für die Rhetorik des Kannibalenfilms. Kannibalismus als Semiotisierung oder Rhetorisierung des Körpers sowohl im Strukturalismus Lévi-Strauss’ als auch in der Trendforschung Liebls kann als Prozess der medialen Rahmung des zu verspeisenden Körpers durch den Körper des Konsumenten betrachtet werden. Das kannibalische System erfüllt damit in mehrfacher Hinsicht Marshall McLuhans Diktum, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium sei. Die Botschaft des Mediums »verspeister Körper« ist deshalb nicht das Fleisch, sondern die Wertschöpfung im kulturellen Zugewinn oder in der Positionierung auf dem Markt. Der ethnologisch-strukturalistische Zugriff von Lévi-Strauss und der marketingtheoretische Einsatz von Liebl müssen selbst über eine kannibalische Strategie der medialen Rahmung verfügen, um sich des zunächst sprachlosen und vordiskursiven Phänomens der Anthropophagie nähern zu können. Zugleich legt das Phänomen es offensichtlich nahe, schon in diesem Prozess für die eigene kulturelle Distinktion funktionalisiert zu werden. Denn die Funktion des Kannibalismus ist, wie bei anderen Zeichensystemen auch, ein Gewinn an kultureller Ausdifferenzierung und an

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Systemstabilisierung. Das kannibalische System ist nicht autopoietisch wie die sozialen Systeme in der Theorie Niklas Luhmanns. Es ist nicht operativ geschlossen, sondern bedarf eines äußeren Anstoßes. Das kannibalische System funktioniert nur supplementär, nur als Rahmenfigur und als Parasit. Es stellt überdies einen Grenz- und Extremfall im Konzept der Rahmung dar, da die Verschlingung und Vernichtung der Differenzen – der beiden Körper und damit auch der Identitäten des Verspeisten und des Verspeisenden – die Effekte dieses Prozesses sind.

2. Bilderverbot Das zugegebenermaßen exotische Beispiel von der rhetorisch geleiteten Figur des Kannibalismus spiegelt die komplizierten Verschlingungen von Körper und Medien nicht nur im Rahmen eines kulturellen, theoretischen oder wissenschaftlichen Settings, sondern vor allem auch als filmische Inszenierung. Es weist auf die wichtigen Verknüpfungen zwischen Rahmung, Körperlichkeit und Medialität im Zusammenhang mit Bildern der Gewalt hin. Eine Sonderstellung in der reflektierenden Thematisierung von Kannibalismus und Medialität nimmt dabei Ruggero Deodatos Film Cannibal Holocaust (Cannibal Massaker, Grand Guignol Cannibale, ital. Holocausto Canibal, dt. Nackt und zerfleischt, IT 1979) ein. Nach den italienischen Kannibalenfilmen scheint eine Steigerung der noch als realistisch dargestellten Gewalt im Splatterfilm nicht mehr möglich. Nur noch überboten wird der Kannibalenfilm deshalb von Formaten, die den Rahmen des Spielfilms verlassen und als Mondo- oder Snuff-Filme vorgeblich dokumentarisches Material über die Tötung von Menschen vor der Kamera zeigen. Jüngere Filme seit den 1990er Jahren greifen diese Thematik und auch die wechselseitige Rahmung eines dokumentarischen Realismus und markierter Theatralität auf, verzichten aber weitgehend auf eine authentifizierende Darstellung sichtbarer Gewalt: So thematisiert Alejandro Amenábars Film Tésis (engl. Thesis, dt. Tesis, SPA 1995) die Frage nach der Echtheit von Gewalt in Snuff-Filmen und zeigt eine Jagd nach den Videobändern des Realen, die abgefilmte Morde zeigen. Zum Schluss gelangen die beiden Protagonisten, Filmstudenten wie ihre Kontrahenten, tatsächlich an die Bänder und übergeben sie der Polizei. Der Film endet mit einer Nachrichtensendung, in der die Moderatorin einige Szenen dieser Filme ankündigt. Ab diesem Punkt verweigert Tésis sich dem Prinzip der Sichtbarkeit des Snuff-Films, und der Protagonist, der im gesamten Film hinter diesen Bildern her war, schaltet den Fernseher aus und wendet sich seiner Freundin zu. So wird in Tésis das Verlangen des Zuschauers nach den echten Bildern der Gewalt vorgeführt und zugleich enttäuscht. Drastischer inszeniert der belgische Serial Killer-Film C’est arrivé près de chez vous (engl. Man Bites Dog, dt. Mann beißt Hund, B 1992) von Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde seine Gewaltbilder. Er übernimmt das kannibalische Schema von Interferenz und mörderischem Sog der Medien aus Cannibal Holocaust. Ein Team filmt im 24 Stunden-ReportageFormat den Alltag eines Serial Killers. Während es den durchaus offenen, gut gelaunten und gesprächigen Mörder interviewt und bei seinen Mordtaten und Alltagsverrichtungen filmt, kommt es zu einer schleichenden Veränderung des Filmteams in der Einstellung zum Gefilmten. Es wechselt zunehmend von der unbeteiligten Dokumentation, dem, was die Ethnographie noch nicht

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»teilnehmende Beobachtung« nennen würde, zur aktiven Teilnahme an Vergewaltigung und Mord. Gestoppt werden können Mörder und Filmteam, dem Formular des Medienkannibalismus entsprechend, nur durch ein anderes Filmteam. Den gleichen Sog der Gewalt zeigt auch John McNaughtons Serial Killer-Film Henry. Portrait of a Serial Killer, der die Faszination des Mitbewohners Otis an den Morden Henrys, der eine Extrapolation des tatsächlichen Serial Killer Henry Lee Lucas sein soll, zeigt, diese filmt und an ihnen teilnimmt, bis er und seine Schwester selbst Opfer von Henry werden. Das bekannteste Beispiel einer jüngeren Übernahme des narrativen Konzepts von Cannibal Holocaust, der in einer verschachtelten Geschichte im Sinne eines Dokumentarfilms mit verschiedenen Authentifizierungsstrategien Gewalt und Kannibalismus zeigt, zugleich aber eine hochartifizielle Montagetechnik offenbart, ist Eduardo Sánchez’ und Daniel Myricks erfolgreicher Gruselfilm The Blair Witch Project. Mit einem Budget von 35.000 Dollar spielt der Film allein in den USA 140 Millionen Dollar ein. Der Film übernimmt von Cannibal Holocaust die Erzählstruktur vom Film im Film, lässt aber die sichtbare Gewalt am Körper wie auch die Körper selbst völlig verschwinden. Er konzentriert sich dabei ganz auf die technischen Aufzeichnungsmedien und den Moment des Verschwindens. Das Medium, in dem die Körper der Protagonisten bei ihrer Irrfahrt durch einen großen Wald verschwinden, ist nicht mehr der Magen eines Kannibalen, sondern allein noch der Film selbst. Als letzte Spuren der drei verschwundenen Filmstudenten findet man die Rollen und Bänder einer Filmkamera und einer Videokamera, die die Geschichte aus einer subjektiven Perspektive zeigen, während die Körper nicht mehr aufzufinden sind. Auf den Filmen ist zu sehen, dass die Studenten nach einigen Interviews, die die verschiedensten Variationen der Geschichte um die Hexe der Kleinstadt Blair eröffnen, in das Waldgebiet reisen, in dem die Hexe tätig gewesen und in dem viele Kinder verschwunden sein sollen. Der gesamte Film besteht aus den Interviews mit den Bewohnern der Kleinstadt und den Filmen, die die zwei Kameraleute voneinander sowie von der Regisseurin der Expedition machen. Allein die Strategie der Authentifizierung durch die pseudo-dokumentarischen Aufnahmen, die eine vollständige Innensicht der drei Filmstudenten ohne rahmende Handlung und Kommentar präsentieren, sorgen für den Schauereffekt des unheimlichen Schwankens zwischen Echtheit und Fake. The Blair Witch Project knüpft an die Debatten um digitale Medien, Echtheit und Simulation, aber auch an die Diskussionen vom Verschwinden und der Wiederkehr von Körperlichkeit, Authentizität, Schmerz und Gewalt an. Der Film befolgt dabei ein absolutes Bilderverbot der Gewalt und des Schreckens und zielt damit auf das genaue Gegenteil des italienischen Kannibalenfilms ab, der auf den Schrecken und die Obszönität der absoluten Sichtbarkeit von Gewalt setzt. So lässt The Blair Witch Project den Horror allein auf der Seite des Rezipienten stattfinden, den jugendlichen Amateurfilmern wie auch den Kinozuschauern, die immer nur Spuren und Zeichen, nie aber die Hexe von Blair oder ihre Opfer selbst finden, bis sie zum Schluss selbst im Wald verschwinden und allein das Film- und Videomaterial übrig bleibt. Mit dieser Strategie der Andeutung knüpft The Blair Witch Project an die Tradition des klassischen Horrorfilms und vor allem des Gespensterfilms an, das Monster für eine lange Zeit nicht direkt zu zeigen. Furcht und Schrecken werden allein durch die Präsenz von Gegenständen, wie das zum Logo geronnene »Hexen-

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kreuz« aus Holz, das an den Bäumen hängt, oder durch Geräusche in der Dunkelheit, aber vor allem durch Strategien der Identifizierung mit den Figuren erzeugt. Der Film erprobt – abgesehen von der körperlichen Gewalt – auf mehreren Ebenen Strategien der Authentifizierung. Gezeigt wird nur das, was die Studenten mit der Film- und der Videokamera selbst aufzeichnen. Die Bilder der Handkameras sind zumeist verwackelt und manchmal unscharf. Es gibt keine Musik, und die Erzählweise ist eine episodische, in der auch die Anschlüsse oft nicht stimmen. Oberflächlich zeigt The Blair Witch Project damit nicht nur den Verlust von Gewalt und das Verschwinden des Körpers im Horrorfilm an, sondern auch den Verlust der Form des Spielfilms als Erzählfilm. Trotzdem gibt es eine weitgehend klassische Dramaturgie der Spannung. So steigern sich, während die Filmenden tiefer in den Wald eindringen, Spannung und Schrecken von Ereignis zu Ereignis, bis die beiden überlebenden Studenten letztlich auf ein altes Haus im Wald stoßen, von dem sie schon während ihrer Nachforschungen in Blair gehört haben. Denn dort tötete die Hexe Kinder und Jugendliche, oder – nach einem anderen Gerücht – ein Serienmörder hat dort immer paarweise Kinder und Jugendliche ermordet und beim Tötungsakt des einen den anderen mit dem Gesicht zur Wand stehen lassen. Die letzten Bilder einer auf dem Boden liegenden Kamera zeigen denn auch, wie der letzte noch lebende Filmstudent mit dem Gesicht zur Wand steht.14

14 Gestützt und erweitert wird der Sichtbarmachungseffekt des Verschwindens der Körper vor allem durch einen außerfilmischen Einfluss, der den Film so erfolgreich hat werden lassen. So ist der Film The Blair Witch Project nur ein Teil eines multimedialen Marketing-Mixes, in dem vor allem eine bisher beispiellose Internet-Kampagne in den USA für eine hohe Erwartung an den Film sorgte. Die Website www.blairwitchproject.com ist als Sammlung realer Berichterstattungen gestaltet, so dass offensichtlich viele Zuschauer davon ausgingen, der Film zeige tatsächlich dokumentarisches Material. Hingegen mussten die ökonomischen und marketingtechnischen Erwägungen, die üblicherweise für einen zeitversetzten Filmstart zum Beispiel in Europa sorgen, bei diesem speziellen Projekt versagen. Denn die dokumentarische Echtheit des Films war nach der amerikanischen Marketing-Kampagne schon selbst zum Thema der europäischen Feuilletons und Filmzeitschriften geworden. Niemand in Europa konnte deshalb mehr an die Echtheit des Märchens glauben.

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II. Ruggero Deodato. Cannibal Holocaust Die Leinwand ist eine dunkle Seite, die vor uns aufgeschlagen ist, schweigend und weiß. Der Film ist gerissen, oder eine Birne im Projektor ist durchgebrannt. Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel

1. Medienkannibalismus Ruggero Deodatos Film Cannibal Holocaust gehört zu einer Reihe von Kannibalenfilmen, die in den 1970er Jahren in Italien zusammen mit den Gialli, den italienischen Serial Killer-Filmen, und den Zombiefilmen das Genre des Splatterfilms in Europa etablieren. Der erfolgreiche Cannibal Holocaust spielt weltweit ungefähr 170 Millionen Dollar ein.15 Wie der amerikanische Splatterfilm steht auch im italienischen Kannibalenfilm der geschundene, verletzte, getötete und speziell der geschlachtete und verspeiste Körper des Opfers im Zentrum der Inszenierung. In Cannibal Holocaust kommt es überdies zu einer Engführung von Diskursen der Ethnographie, der Medientheorie und der Thematisierung des Filmprozesses selbst. Der Film wird am Amazonas gedreht und spielt in nicht näher bestimmten unerforschten Gebieten jenseits von Leticia in Kolumbien. Neben brutalen Akten der Folterung, Verstümmelung und der Tötung von Tieren und Menschen sind vor allem der Kannibalismus selbst und die ethnographische und damit filmische Rahmung der Beobachtung der fremden Völker von Bedeutung. Zwei Establishing Shots aus der Luft, getrennt durch einen harten Schnitt, aber durch ein Voice Over akustisch miteinander verbunden, markieren gleich zu Beginn die beiden korrespondierenden Pole, zwischen denen die Figuren des Films positioniert werden. Cannibal Holocaust beginnt zunächst mit einem Flug über den Amazonas und wechselt dann zu der Vogelperspektive von New York und der Reportage eines Fernsehjournalisten. Dieser wird zunächst mit einer Handkamera frontal mit Mikrophon in der Hand für eine Nachrichtensendung auf einem Hochhaus in New York gezeigt. Von dort schaut er auf die Massen in den Straßen hinunter. Während die Kamera über und durch die Straßen New Yorks fliegt, berichtet der Reporter aus dem Off von dem »Green Inferno« des südamerikanischen Dschungels. Schon zu Beginn wird auf diese Weise die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem hektischen Treiben der gezeigten Menschenmassen in der Großstadt und dem Leben im Dschungel angedeutet. Weiterhin kommentiert der Reporter aus dem Off die nächsten Sequenzen des Films, die mit einem sichtbaren Schnitt, einem Jump Cut, der einen Orts- und Zeitenwechsel und in diesem Fall auch einen Medienwechsel bedeutet, eingeleitet werden. Es wird das Fernsehportrait eines bekannten Dokumentarfilmteams gezeigt, das im südamerikanischen Dschungel verschwunden ist. Die technischen Aufzeichnungen ihrer Körper zirkulieren 15 Vgl. Aaron Boone: Kannibalen!, o. O. 1998. Zitiert nach F. Liebl: Kannibalismus.

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noch in Form von Photographien im Fernsehen, während gleichzeitig von dem Verschwinden des Filmtemas im Dschungel berichtet wird. In der Reportage wird auch mit Aufnahmen aus einer südamerikanischen Stadt über die Expeditionsvorbereitungen der Gruppe an der Grenze von Brasilien und Peru berichtet. In einem Interview mit einem Reporter kurz vor dem Start mit einem Wasserflugzeug wird noch auf die beiden zuvor verschollenen französischen Expeditionen in den Jahren 1959 und 1967 hingewiesen. Die letzten Bilder der Expedition zeigen den Abflug der Gruppe in das AmazonasGebiet. Zwischendurch verlässt Cannibal Holocaust die Ebene der Fernsehsendung und zeigt, wie diese in einem Fernsehapparat hinter einem Schaufenster in New York auf der Straße ausgestrahlt wird. (Abb. 53) Die mediale Rahmung und das Verschwinden der Körper des Filmteams, um das es, wie der Zuschauer bald erfahren wird, geht, finden also schon in der Exposition des Films eine Repräsentation in der Konstruktion einer Mise en Abyme.

Abb. 53: Medien in Medien Die Geschichte des verschwundenen Filmteams wird allerdings erst zum Schluss aus dem gefundenen Filmmaterial in Gänze offenbar. Das preisgekrönte Team Dokumentarfilmer fliegt mit einem Führer in den südamerikanischen Dschungel, um einen noch unerforschten und bis jetzt noch nicht »sichtbar« gemachten Stamm Eingeborener zu filmen. Die Mitglieder des vermutlich kannibalischen Stamms werden die »Unsichtbaren« genannt. Das Team besteht aus dem jungen Regisseur Alan Yates, seiner Freundin, dem Scriptgirl Faye Daniels, den beiden Kameraleuten Jack Anders und Mark Tomaso sowie Felipe, dem kolumbianischen Führer. Der Film zeigt, wie die fünf beim Filmen des Dschungels und dann eines Eingeborenenstammes, den Yacúmo, zunehmend rücksichtsloser und brutaler vorgehen, um an interessantes Filmmaterial zu gelangen. Sie erschießen Haustiere, zünden die Hütten an, treiben die Mitglieder des Stammes mit Gewehren in die brennenden Hütten und vergewaltigen zuletzt eine Frau einer der beiden noch »unsichtbaren« Stämme. Immer wieder werden dokumentarische Aufnahmen wilder Tiere in das Filmmaterial von Cannibal Holocaust hineingeschnitten. Dem Führer Felipe wird unterwegs wegen eines

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Schlangenbisses auf blutige Weise mit einer Machete ein Bein amputiert, eine Operation, die er nicht lange überlebt. Das Rettungsteam trifft später in einer Schocksequenz auf seine fast skelettierte Leiche. Der Filmemacher Yates quittiert die tödlichen Verhältnisse im Dschungel mit der darwinistisch zynischen Bemerkung, hier herrsche eben »the survival of the fittest«. Zudem bestätigt sich aufgrund mehrerer Leichenfunde für die Dokumentarfilmer die Hypothese, dass die Bewohner des Dschungels tatsächlich Kannibalen sind. (Abb. 54)

Abb. 54: Abgefilmte Gewalt Schnell inkorporiert das Team augenscheinlich die Gewalttätigkeit des Dschungels. Doch sie vergewaltigen, setzen Hütten in Brand und morden, um es dann im sensationsjournalistischen Sinne als die Aktionen der noch nicht entdeckten Kannibalen hinzustellen. Deshalb müssen auch alle Akte der Gewalt filmisch aufgezeichnet werden. Dies geht soweit, dass Faye Daniels, die einzige Frau im Team, in ihrer Argumentation gegen die Vergewaltigung der Indiofrau durch die beiden zuletzt noch überlebenden Männer sich nicht auf moralische Bedenken beruft, sondern sich um die Tatsache besorgt zeigt oder zeigen muss, dass das Filmmaterial dabei knapp wird: »What do you need this material for, a porno?« Die von den Filmemachern Vergewaltigte gehört zu den »Yamamono«, den »Tree People«, die das Team bis dahin noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Diese Tree-People ergreifen das Team in den Schlussszenen, vergewaltigen die Frau, kastrieren den Kameramann Jack Anders und erschlagen zuletzt alle drei, um sie dann aufzuschlitzen und zu verspeisen. Zwei Monate nach dem Verschwinden der Yates-Expedition stellt der Ethnologie-Professor Harold Monroe ein Rettungsteam zusammen, das wie die erste Expedition von einem New Yorker Fernsehsender finanziert wird. Das erste, auf das Monroe noch während seiner Expeditionsvorbereitungen trifft, ist wiederum das Fernsehen. Denn als er seine Wohnungstür öffnet, um abzureisen, steht ein Reporter vor seinem Haus, um ihn zu interviewen. In Südamerika angekommen, bildet Monroe mit Mr. Chako, einem amerikanischen, und Miguel, einem spanisch-kolumbianischen Führer, sowie einem gefangenen Yacúmo-Schamanen, das zweite Forschungs- und Rettungsteam, das auf den Spuren der ersten Expedition in den Dschungel vordringt. Nachdem die Gruppe heimlich die äußerst brutale Ermordung einer Eingeborenenfrau beobachtet hat, nimmt Miguel den Kontakt zu den Yacúmos auf. Im Dorf angelangt, sieht Monroe am Hals eines Mädchens eine Filmdose hängen. Ein Dorfbewohner zeigt ihnen die augenscheinlich vom ersten Filmteam verbrannten Hütten und die Verbrennungen einiger Eingeborener. Die drei finden heraus, dass es neben dem Yacúmo-Stamm noch zwei weitere, noch nie gesichtete Stämme gibt, die das Territorium beherrschen

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und einander regelmäßig überfallen und verspeisen. Es sind der Stamm der »Yamamonos«, die Tree-People, die in und an einem heiligen Baum wohnen, und die »Shamatari«, die Swamp-People, die am Fluss wohnen. Das Team kommt bei einem Überfall der Swamp-People den Tree-People zu Hilfe und wird von ihnen zu ihrem heiligen Baum eingeladen. Dort trifft Monroe auf verweste Leichenreste, die zu einer Skulptur zusammengebunden und mit Kameras und Filmutensilien behängt sind. (Abb. 55)

Abb. 55: Filmskulptur Offensichtlich hat er das Filmteam gefunden. Monroe und seine beiden Führer werden von den Tree-People akzeptiert und eingeladen, Fleisch von einer längs aufgeschlitzten Leiche eines Mitglieds des Sumpfvolkes zu essen. Die Szene ist als das ethnologische Klischee eines Rite de Passage gefilmt. Der Ethnologe muss erst seinen Ekel überwinden und kann dann auf Zuspruch seines Führers die blutigen Fleischstücke verzehren, um von dem Stamm vollständig akzeptiert zu werden. Dann kommt es zu einem magischen Medientausch. Monroe verblüfft die Eingeborenen mit seinem Diktiergerät, das die heiligen Gesänge des Schamanen abspielt, die er zuvor aufgezeichnet hat, und kann es gegen die Filmrollen, die er am heiligen Baum entdeckt hat, eintauschen. (Abb. 56) Nach einem sichtbaren Schnitt zeigt Cannibal Holocaust Monroe, wie er in einer Talkshow über seine Expedition berichtet und versucht, begreiflich zu machen, dass die Eingeborenen glaubten, die Kamera stehle ihnen ihre Seelen, und dass die Filmrollen in den silberfarbenen Dosen eine schreckliche Kraft besäßen. In dieser Sequenz wird das Thema der medialen Rahmung, das das Thema des Kannibalismus spiegelt, formal wieder angeführt. Denn zunächst ist das Interview ausschließlich über mehrere Bildschirme sichtbar, und erst dann wird das Fernsehstudio gezeigt, in dem das Interview stattfindet. Nach der Talkshow verhandelt Monroe mit der Redaktion des Fernsehsenders, der die Expeditionen finanziert hat, und die Redakteure drängen ihn enthusiastisch, das Filmmaterial, das Monroe in den Dosen des heiligen Baumes gefunden hat, in einer Dokumentarfilmserie zu präsentieren. Als Monroe wegen des vermuteten gewalttätigen Inhalts Bedenken anmeldet, geben sie ihm zu verstehen, dass sie um die Drastik der Filminhalte des von Regisseur Alan Yates gefilmten Materials wüssten.

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Abb. 56: Magischer Medientausch In diesem Zusammenhang zeigen die Redakteure Monroe einen älteren Dokumentarfilm des Teams um Yates: The Last Road to Hell. (Abb. 57) Dieser Film im Film bricht aus der Spielfilmebene von Cannibal Holocaust aus, denn er zeigt, soweit das beobachtbar ist, einen Zusammenschnitt von Dokumentationen über militärische Exekutionen in afrikanischen und asiatischen Staaten. Kommentiert wird diese Montage von einem Fernsehredakteur, der behauptet, dass dies keine echten Exekutionen seien, sondern Yates die Soldaten zum Schauspielern gebracht habe. Ob dabei die Menschen tatsächlich exekutiert worden sind, bleibt unklar, ist aber wahrscheinlich. Während in Cannibal Holocaust Filmszenen also einerseits deutlich mit Strategien der Authentifizierung versehen sind, wird andererseits Dokumentarmaterial als Fake, als Verstellung, qualifiziert, und die Wahrnehmung von Echtheit und Bildlichkeit der Gewalt in Cannibal Holocaust wird ins Schwanken gebracht. Danach wechselt das Format des Films noch einmal. Diesmal betätigt sich Monroe als Reporter für den Fernsehsender und sucht die Hinterbliebenen des verschollenen Filmteams auf, um sie im Format einer boulevardesken Human Interest-Story nach ihren familiären und charakterlichen Hintergründen zu befragen. Nach und nach setzt sich daraus das Bild einer rücksichtslosen Filmgruppe um den skrupellosen Yates zusammen, der für Filmaufnahmen über Leichen geht. Nach der Reportage zeigt Cannibal Holocaust die Inhalte der Filmrollen, auf die im Film so lange hingearbeitet worden ist. Während die ersten Rollen Monroe noch mit einer Redakteurin und einem Cutter des Senders in einem Studio gezeigt werden, ist als Höhepunkt des Films die Vorführung der letzten beiden Rollen als Kinosituation dargestellt, die dem Publikum von Cannibal Holocaust eine Spiegelsituation präsentiert. In einem kleinen Kinosaal innerhalb der Fernsehstation werden die peinlichen, verlegenen und angewiderten Reaktionen der Fernsehredakteure gezeigt, die bis dahin noch enthusiastisch für eine Ausstrahlung des Materials votiert haben.

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Abb. 57: Film im Film

2. Das wilde Denken Zentrum und damit der Verbindungsknoten der vielen sichtbar getrennten Sektionen des Films ist die Materialisierung, Medialisierung und Konservierung der Bilder der Gewalt in Form von Filmrollen, die sich in den Metalldosen am heiligen Baum der Yamamonos befinden. Die Bewahrung des filmischen Materials steht dabei eindeutig in Korrespondenz zu dem Verschwinden, genauer: dem Verschlingen der Körper des Filmteams. Denn hätten die Dokumentarfilmer überlebt, gäbe es weder die Bilder von den Gewaltaktionen der Weißen gegen die Indios noch den kannibalischen Rückschlag der Unsichtbaren gegen ihre Dokumentatoren. Das kannibalische System des Dschungels erstreckt sich dabei offenbar nur auf den menschlichen Körper, vermag aber das Tabu, die Unberührbarkeit und auch Unsterblichkeit der technischen Medien nicht zu erfassen. Erst das zivilisierte kannibalische Mediensystem von Film und Fernsehen kann für die Rahmung der Medien in Form der Filmrollen sorgen. Die gewalttätigen Akte eines hegemonialen Imperialismus werden, wie der filmische Motor des Dokumentarfilmteams im Yacúmo-Dorf, von Medien und nicht von Personen in Gang gesetzt. Die Gewalt geschieht um der Bilder willen, die – wenn nötig – auch ausschließlich testamentarisch veröffentlicht werden. Aufzeichnung und Veröffentlichung haben Priorität. So sieht der Zuschauer am Schluss von Cannibal Holocaust – und dies inklusive der Spiegelung seiner Kinosituation – genau das, wonach die Figuren in dem Film die ganze Zeit gesucht haben. Denn der Film ist, wie der italienische Kannibalenfilm und das gesamte Genre des Splatterfilms überhaupt, dem Prinzip der maximalen Sichtbarkeit verpflichtet. Auf diesen Filmrollen gibt es die Akte der Vergewaltigung, Verstümmelung, Tötung und Verspeisung menschlicher Körper zu sehen. So entsteht eine Kippfigur, deren letzter Ausschlag Cannibal Holocaust offen lässt. Denn der Höhepunkt an authentisch wirkenden Bildern der Gewalt in der Entwicklung des Splatterfilms findet zugleich im relativierenden

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Reflexionsraum eines Kinos statt, und der Höhepunkt einer nicht mehr zu überbietenden Kritik an der »gewaltpornographischen« Lust nach Sichtbarkeit ist exakt der Punkt, an dem der Film Cannibal Holocaust das obszöne Begehren exploitativ erfüllt. Cannibal Holocaust zeigt geschauspielerte Szenen der Vergewaltigung, der Amputation, der Folterung und des Mordes. Überdies gibt es Aufnahmen davon, wie einer Schildkröte der Panzer abgeschnitten und ihre Gedärme herausgezogen werden, während Seitenschwenks in Großaufnahme auf den sich bewegenden Kopf und die noch zappelnden Beine sich immer wieder vergewissern, dass die Schildkröte während dieser Prozedur noch lebt. Deutlich sichtbar wird in einer Szene ein Hausschwein erschossen. Bei der Monroe-Expedition werden in Großaufnahme einer Moschusratte die Kehle und dann der Körper aufgeschlitzt. Neben der Darstellung des realen Tötens und Ausweidens von Tieren vor der Kamera spiegeln die wilden Handkamerafahrten und das unterschiedliche Filmmaterial der Handkameras den Dokumentarstil einer Pionierfilmarbeit. Es wird elliptisch erzählt, und das Material hat viele sichtbare Schnitte und vor allem Jump Cuts, Lücken in der kontinuierlichen Erzählung, in denen unbestimmbare Zeit vergeht und häufig auch der Ort wechselt. Dazu kommen zahlreiche Bildstörungen, deren Frequenz zum katastrophischen Ende hin ansteigt und nicht nur die ängstliche Hektik und die Fluchtbewegungen des Teams vor der Rache der Kannibalen spiegelt, sondern vor allem den Eindruck von Authentizität erzeugt. Der Spielfilm Cannibal Holocaust passt sich deutlich und sowohl auf der inhaltlichen als auch der Ebene von Mise en Scène und Montage der Form und Gestalt der Dokumentation, der ethnographischen Berichterstattung oder der Frontreportage mit der Handkamera an, ebenso wie er sich mimetisch an die Fernsehberichterstattung in New York über das verschollene Team, an die Interviewreportage mit den Hinterbliebenen oder auch dem Tierfilm im Dschungel anschmiegt. Er präsentiert sich als eine Montage von verschiedenen Dokumentarstilen mit dem Ziel der Authentifizierung des Materials, die das Thema von Gewalt und Kannibalismus in die eigene Struktur übernommen hat. Inhaltlich werden nur die Körper der Filmemacher verschlungen und damit in einem Akt der Rahmung assimiliert. Formal stellen sich die Fragen nach den Grenzen der Darstellung von Gewalt von und an Körpern und in den Medien in einem komplexen Rahmen, der diese Frage zu einer Entscheidungsfrage nach Wahrheit oder Fake, also der Wissenschaftlichkeit und der Referenz verschiebt. Die Frage lautet dabei, wie der Zuschauer auf unterschiedlich authentisch gemachte Präsentationsweisen von Gewalt reagiert. Einige Antworten gibt Cannibal Holocaust. Die Vorführung in der Fernsehstation, die sich über mehrere Filmrollen verteilt, wird mehrfach von Diskussionen zwischen Monroe und den Redakteuren des Fernsehsenders unterbrochen, die unbedingt mit ihm als Moderator die Serie ausstrahlen wollen, bis zur Sichtung der letzten Rolle, nach der das Projekt abgesagt wird. Ein Prinzip der Steigerung kann deshalb in der Sichtbarkeit der Gewalt und – korrespondierend zu den authentifizierenden Störungen im Filmmaterial – in der Vermittlung von Echtheit der Gewalt beobachtet werden.

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Abb. 58: Die letzten Bilder Nach dem Screening der letzten Filmrolle, die die Kastration, Vergewaltigung und Tötung der letzten Mitglieder des Filmteams zeigt, verlassen die Redakteure schweigend und betroffen den Vorführsaal, um sich für eine Vernichtung des Filmmaterials zu entscheiden. (Abb. 58) Professor Monroe, und an dieser Stelle taucht mit seiner Stimme im Off zum ersten Mal im Film ein innerer Monolog auf, denkt: »I wonder who the real cannibals are.« Eine weiße Schrifteinblendung vor dem letzten Bild vom Hochhaus des Fernsehsenders besagt noch vor den abschließenden Credits von Cannibal Holocaust – und der Film zitiert darin wieder die Gattung des Dokumentarfilms –, dass der Projektleiter des Fernsehsenders, John K. Kirov, 10.000 Dollar Strafe für den illegalen Erwerb von Filmmaterial zahlen musste, aber auch, dass er für den Verkauf dieses Materials 250.000 Dollar erhalten habe. Cannibal Holocaust gibt mit diesem Ende ein mögliches Muster für eine Publikumsreaktion vor und entzieht sich dadurch, wie auch mit seiner verschachtelten Konstruktion und der Inversion von »realer« und »gestellter« Gewalt, weitgehend der Frage nach der eigenen Intention in der Darstellung von Gewalt. Der Film nimmt mit dieser Strategie aber auch die Bedingungen von Kriegsberichterstattung und filmisch dokumentierender Ethnographie auf und damit auch die Auswüchse von Reality-TV und Borderline-Journalismus vorweg, die im Namen der Wahrheit, der Aufklärung oder der moralischen Verurteilung Gewalt in Film und Fernsehen darstellen.16 Cannibal Holocaust ist zwar ein Spielfilm, integriert aber dokumentarisches Material und setzt mit einem dokumentarischen Gestus Strategien der Authentifizierung ein. Cannibal Holocaust wird neben anderen Vertretern dieser Genres deshalb häufig auch als »Pseudo-Dokumentation«17 beschrie16 Die Spirale um das Thema der Ausbeutung von Bildern der Gewalt dreht sich nach dem Film weiter. Der Regisseur Deodato hatte nach eigenen Angaben 50.000 Dollar Anwaltskosten in einem Rechtsstreit um den Start des Films zu zahlen. Vgl. Ruggero Deodato: »Interview von Peter Blumenstock und Michael Nagenborg«, in: Splatting Image. Das Magazin für den unterschlagenen Film 11 (09/1992), in: http://www.splatting-image.com/index.php?option=content&task =view&id=36 vom 27. Juli 2006. 17 Pseudo-Dokumentarfilme gehören häufig zu der Gattung des »Mondo-Films«. Der Begriff »Mondo« ist dem italienischen Film Mondo Cane (engl. A Dog’s Life, dt. Welt des Hundes, IT 1962) von Gualtiero Jacopetti und Paolo Cavara entnommen. »Mondo« weist zunächst auf den dokumentarischen Anspruch einer Abbildung der Welt hin, ohne diese zu beschönigen oder etwas zu verbergen. Die Gattung der Mondo-Filme beinhaltet vor allem ethnographisch angelegte Anthologien, die einen Zusammenschnitt von inszenierter und tatsächlicher Gewalt in »exotischen Kulturen« zeigen. Der Begriff »Mondo« hat sich filmhistorisch inzwischen als Schlüsselbegriff für Filme etabliert, die extreme Gewaltdarstellungen unter dem Vorwand der Authentizität zeigen. In diesem Sinne ist auch ein Verleihtitel von Wes Cravens Film The Last House on the Left – »Mondo Brutale« – zu verstehen, mit dem schon tautologisch auf die extreme

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ben, eine Gattung des Films, die er selbst zum Thema macht. Der Film beginnt deshalb beschwörerisch mit der Warnung des Erzählers aus dem Off: »For the sake of authenticity some sequences have been retained in their entirety.« Diese Aussage kann nicht bezweifelt werden. Allerdings muss der übliche Anspruch, der mit dem Begriff der Authentizität in Verbindung gebracht wird, ein wenig variiert werden. Die Geste der Authentizität ist vorhanden, wird aber für die fiktionale Darstellung von Gewalt benutzt, in die sich wiederum die Darstellung realer Gewalt beobachten lässt. So finden sich in dem Film neben den Spiel- und Tricksequenzen auch Szenen durchgeführter körperlicher Gewalt vor der Kamera, soweit dies nach der Betrachtung des Films und nach Aussage des Regisseurs beurteilt werden kann.18 Tiere werden im Rahmen dieses Films aufgeschnitten, verstümmelt, getötet und bei lebendigem Leibe ausgeweidet. Es gibt dokumentarische Szenen, in der Erschießungskommandos Exekutionen vornehmen. Gerade diese Dokumentarszenen werden im Film aber mit einer Strategie der Inversion als gestellt präsentiert. Die Schwierigkeit der Sichtung eines Films wie Cannibal Holocaust vor allem in den Punkten Körperlichkeit, Medialität und Gewalt besteht deswegen immer auch in der Zuordnung von authentischem und inszeniertem Material. Auf diese Weise lassen sich die Fragen nach der Referenz und der Bildlichkeit von Gewalt nicht mehr trennen. Wer in diesem Film nach Gewalt fragt, muss auch nach der Echtheit und nach den Bildern der Gewalt fragen. Der Film thematisiert überspitzt die Probleme von Wahrheit und damit von den Grenzen der Darstellung und dem Problem der ethnologischen Interferenz am Leitfaden der körperlichen Gewalt, des Kannibalismus und dem medial gestützten Drang, alles sichtbar machen zu wollen. Kommunikationswissenschaftlich bedeutet Interferenz zunächst die störende Anwesenheit und Beeinflussung der zu erforschenden Situation durch den Blick und die Präsenz des Wissenschaftlers selbst.19 In Cannibal Holocaust verwandelt sich aber das Problem der unfreiwilligen Interferenz durch den Betrachter filmdiegetisch zu einem massiven und gewaltförmigen Akt des Eindringens und Zerstörens sowie zu einer verstellenden Darstellung der und sichtbare Gewalttätigkeit hingewiesen wird. Einführend zu Mondo- und Snuff-Filmen vgl. D. Kerekes/D. Slater: Killing for Culture sowie S. A. Stine: The Gorehound’s Guide, S. 249-258. 18 Vgl. R. Deodato: Interview. 19 Das Problem der Interferenz als Störung bei der wissenschaftlichen Wahrnehmung kann auch auf den Einsatz der technischen Speicher- und Übertragungsmedien bezogen werden. Sowohl die handschriftlichen Eintragungen des Ethnologen in sein Tagebuch, die Notizen mit der Reiseschreibmaschine oder die Aufnahmen mit Mikrophon und Kamera bedeuten eine Symbolisierung, eine Codierung der aufgefundenen Daten. Sie sind immer schon eine Interpretation der eigenen Interpretation und verändern durch den Aufzeichnungsakt die aufgezeichnete Situation. Für alle Wissenschaften stellt die situative und mediale Interferenz ein methodisches und methodologisches Problem dar. Gerade aber für die qualitative Sozialforschung und die Ethnographie, die ihre Daten durch Methoden wie das »qualitative Interview« oder die »teilnehmende Beobachtung« erwerben, ist das Problem der Veränderung der Situation durch die Anwesenheit des Wissenschaftlers und seiner Aufzeichnungsmedien zentral. Vgl. dazu einführend Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung, Weinheim 1993 sowie den Sammelband von Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000.

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beobachteten Kultur, während sich das Interferenzproblem auf die Kinosituation selbst verschiebt, die wiederum im Film gespiegelt wird. Der invasive und kulturassimilierende Akt des Ethnologen wird in diesem Film mit dem des Filmemachers gleichgesetzt, der für die Technik der Sichtbarmachung, also einer medialen Rahmung imperialistischen Zuschnitts steht. Es ist das grundsätzliche Dilemma des Ethnologen, dass unberührte und unsichtbare Kulturen berührt, sichtbar gemacht und dadurch zerstört werden. Der Ethnologe kann nicht anders, als aktiv in die von ihm erforschte Kultur einzugreifen. So sind die erforschten Kulturen in dem Film Cannibal Holocaust die Kulturen der »Unsichtbaren« als der noch nicht Gefilmten. Den Filmteams in Cannibal Holocaust geht es um den Kannibalismus dieser Kulturen. Cannibal Holocaust zeigt dies im Rahmen eines ethnologischen Kannibalismus des Mediums Film. Cannibal Holocaust verweist überdies auf den sittlichen Zusammenhang von »zivilisierten« und »primitiven« Figuren, gemessen an ihrem Verhältnis zur Gewalt. Dieses Verhältnis wird in dem Film radikal unter die Perspektive der Sichtbarkeit und der Aufzeichenbarkeit des menschlichen Körpers gestellt. Franz Kafkas wilder Affe Rotpeter verwandelt sich in seinem Bericht für eine Akademie (1917), einer Kurzgeschichte der menschlichen Evolution, vom wilden Affen über das typisch menschliche Fluchen, Spucken und Saufen, aber auch um den Preis der Kastration, zu einem Geschöpf der Zivilisation. Im souveränen Akt der Niederschrift dieser Verwandlung bezeugt Rotpeter aber immer noch die sittliche Überlegenheit des edlen Wilden und Primitiven nach Jean-Jacques Rousseau. Cannibal Holocaust zeigt hingegen, wie auch Lévi-Strauss, die strukturelle Vergleichbarkeit und damit Ununterscheidbarkeit im wilden Handeln und Denken der südamerikanischen »primitiven« Indios und der weißen »zivilisierten« Amerikaner. Denn beide denken und handeln gewalttätig, beide sind Kannibalen. Das wilde Denken ist das Denken in Kategorien der Gewalt und der Verschlingung. Es ist ein ökonomisches Denken, das in der Frage kulminiert: Wer verschlingt wen? Der entscheidende Unterschied zwischen dem »Wilden« und dem »Zivilisierten« besteht deshalb in der Handhabung der unterschiedlichen Medien. Im Dschungel ist es der nackte menschliche Körper, der getötet und verspeist wird. Technische Medien bleiben im Dschungel aber, wie in Cannibal Holocaust zu sehen, unangetastet und werden verehrt und gefürchtet. Die gewalttätigen Ausschreitungen des Filmteams im Dorf der Yacúmo sind deutlich als hegemoniale Gesten des Imperialismus sichtbar. In der Erschießung des Hausschweins, der Verbrennung der Hütten, dem Zusammentreiben der Dorfbewohner und auch durch den exklusiv »weißen« Geschlechtsverkehr in Missionarsstellung zwischen Alan Yates und Faye Daniels vor dem zusammengetriebenen Yacúmo-Publikum drückt sich die Überlegenheit der Kolonisatoren aus. Zugleich ist das Handeln des Filmteams die Folge des medialen Imperialismus, der der Zivilisierte untergeordnet ist. Beherrscht werden die Zivilisierten von dem Sichtbarkeitszwang ihres Mediums. Das Filmteam in Cannibal Holocaust handelt im heißen Dschungel des primitiven Kannibalismus nach den kälteren Gesetzen des zivilisierten Medienkannibalismus. Die Ausübung von Gewalt zeigt sich als eine unbedingte Folge technischer und medialer Überlegenheit. Wäre dem nicht so, gäbe es die Bilder in Cannibal Holocaust nicht. Das haben die Tree-People erkannt. Sie durchschauen die totemistische und fetischistische Bedeutung der Filmausrüstung und vor allem der Filmrollen selbst, die ihnen das Filmteam zu-

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misst, und behandeln sie entsprechend mit Furcht und Ehrfurcht. Das Filmteam wird aufgefressen, aber die Filmrollen werden zu den anderen magischen und gefährlichen Dingen an den heiligen Baum gehängt. Es stellen sich auf allen Ebenen von Cannibal Holocaust Fragen nach der wissenschaftlichen und filmischen Moral. Mit der Frage nach der ethnologischen, wissenschaftlichen oder filmischen Ausbeutung von Bildern der Gewalt entlässt der Film seine Zuschauer. Der Schlusssatz des Films, der noch einmal im Kontext des »wilden Denkens« den Übertrag des Kannibalismus von der fremden auf die eigene Kultur vornimmt, vereinfacht nur den Zusammenhang und fügt ihm eine schlichte zivilisationskritische Note hinzu. Auf eine gewaltförmige und kannibalische Art und Weise erfüllt sich in Cannibal Holocaust das strukturalistische Diktum von der Vergleichbarkeit der Kulturen. Beide Gruppen sind auf das assimilierende Verschlingen von fremden Körpern aus, beide agieren in der Ausübung ihrer kulturellen Maximen gewalttätig. Letztlich kann man die Kommunikation der Medien im Film untereinander, die Verschachtelung der verschiedenen Dokumentarfilme innerhalb des Films, nicht nur als kannibalisches Rahmenverhältnis, sondern eben auch als das »wilde Denken« des ethnologischen Strukturalismus betrachten. So erfüllt sich nicht nur Markus Konradin Leiners Vorstellung einer »totale[n] Extermination der humanoiden Rasse durch die Anthropophagie der audiovisuellen Medien«,20 sondern die betrachtenden Filmemacher und die Medien verschlingen angesichts des selbstreferenziellen Aspekts der Figur des Kannibalismus – ein Wesen verschlingt Wesen der gleichen Gattung und damit sich selbst – auch andere Medien: Der Film verschlingt den Körper und stellt den Körper als Medium damit als seinen Inhalt aus. Das Fernsehen verschlingt den Film und verkleinert ihn nicht nur im Format, sondern durch die zensorischen Möglichkeiten der Fernsehredaktion. Das Video konserviert wiederum Film und Fernsehen und bietet die einzige Möglichkeit für ein Überleben von Bildern der Gewalt, wie sie Cannibal Holocaust einfängt und zur Schau stellt. Das zentrale filmische Bild der Selbstreferenzialität in Cannibal Holocaust ist deshalb auch das, in dem die Dosen, in denen sich die Filmrollen des nicht im Dschungel zeigbaren Films befinden, am heiligen Baum der nicht mehr unsichtbaren Baumleute hängen und eben dort als magisch verehrt und gefürchtet werden. Diese »versiegelte Zeit«, wie Andrej Tarkowskij diesen materialistischen und konservierenden Blick auf das Medium Film betitelt,21 ist zu einem gewissen Teil auch die Geschichte des Kannibalenfilms Cannibal Holocaust selbst – gebannt und konserviert in der Unsichtbarkeit des Videobands, um eine Zeitlang als magische Trophäe zwischen Eingeweihten zu zirkulieren, während der Film in Teilen der Welt verboten und aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. Diese letzte Transformation trifft im Übrigen auf den Großteil der Filme zu, die sich mit der sichtbaren Darstellung körperlicher Gewalt und besonders mit der Verschlingung von Körpern durch andere Körper und durch Medien beschäftigen. 20 QRT (Markus Konradin Leiner): »Das rohe Fleisch der Leinwand. Mediale Gewalt bei Deodato«, in: Ders.: Tekknologic Tekknowledge Tekgnosis. Ein Theoriemix. Hg. von Tom Lamberty/Frank Wulf, Berlin 1999, S. 123-140, hier S. 133. 21 Vgl. Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt am Main, Berlin 1989.

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Aber es soll an dieser Stelle nicht um Theorie und Praxis von Zensur gehen, sondern um die Tatsache, dass der kannibalische Leitcode der Medien, ihr strukturalistisches »Paradigma«, nicht mehr in der unterschiedlichen Art der Nahrungszubereitung, also »Kochen/Braten« besteht, sondern in der Dichotomie »Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit« und damit in der Leitkategorie der »Aufmerksamkeit«, die den Medien zukommt.22 Das »wilde Denken« ist das Denken der wilden und kannibalischen Medien. Deren Ansinnen ist es, sich andere Medien einzuverleiben, um ihre Kraft aufzunehmen, zu verschlingen und aus Gründen der Distinktion, seien sie kulturell oder ökonomisch, im eigenen Format wieder sichtbar zu machen. Der Inhalt von Medien sind andere Medien, die vollständig der Rahmung, dem Verdauungsprozess des übergeordneten Mediums angepasst sind. So ist auch Marshall McLuhans berühmtes Diktum zu verstehen: als ein gewaltförmiges Verhältnis der Rahmung, für das der Begriff des Kannibalismus zuweilen nicht zu weit hergeholt scheint.

22 Zu dem Komplex und der Leitkategorie der »Aufmerksamkeit« vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.

DAVID CRONENBERG ALS DREHSCHEIBE. KÖRPER- UND MEDIENWELTEN I. Frühe Experimente. Stereo, Crimes of the Future Der Blick bohrt sich nun in den Raum ein, den er zu durchlaufen hat. In der ersten klinischen Erfahrung war ein äußeres Subjekt am Werk, das entzifferte und buchstabierte und von da aus die Verwandtschaften ordnete und definierte. In der anatomisch-klinischen Erfahrung sieht das Auge des Arztes die Krankheit sich ausbreiten und aufschichten, indem es selber in den Körper eindringt, in dem es sich zwischen seinen Massen vorarbeitet, indem es sie umgeht oder unterwandert, indem es in seine Tiefen hinabsteigt. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik

1. Gewaltdiskurs und Körperanalyse In den 1960er und 1970er Jahren setzen zwischen strukturalistischen und medienorientierten Theorien der Tod des Autors,1 die Abschaffung des Subjekts und seine biopolitische oder kybernetische Durchformung und Vermachtung ein. Zeitgleich findet im amerikanischen Splatterfilm von George Romero, Wes Craven oder Tobe Hooper eine exzessive Ökonomie der Gewalt am menschlichen Körper statt.2 Mit dem Körper-Horror des Splatterfilms wird der in Zeitung und Fernsehnachrichten verhandelte Diskurs um personale, strukturelle und kulturelle Gewalt in den USA,3 wie der Serial Kil1

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Vgl. Roland Barthes: »Der Tod des Autors (1967/1968)«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193; Michel Foucault: »Was ist ein Autor? (Qu’est-ce qu’un auteur?) (1969)«, in: Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1979, S. 7-31. Die Beobachtung einer »formale[n] Homologie zwischen theoretischem Diskurs und Populärkultur im Zeitalter der Postmoderne« verfolgt der Sammelband Jochen Fritz/Neil Stewart (Hg.): Das schlechte Gewissen der Moderne. Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur und Film nach 1968, Köln, Weimar, Wien 2006, hier S. 9. Dem vernachlässigten Begriff der »kulturellen Gewalt« – wie die anderen beiden Begriffe ein Konzept des Soziologen Johann Galtung – wird in Thomas Machos Antrittsrede an der Humboldt-Universität zu Berlin wieder Geltung verschafft. Vgl. Thomas Macho: »Jugend und Gewalt. Zur Entzauberung einer modernen Wahrnehmung«, in: Michael Wimmer/Christoph Wulf/Bernhard Dieck-

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ler-Fall Ed Gein, die mörderische Charles Manson-Family, die erbitterte Diskussion um den Vietnamkrieg oder um den Civil Rights Movement, auf die Kinoleinwand gebracht. Die Rhetorik der körperlichen Versehrung im Splatterfilm konzentriert sich dabei auf einen Modus, der den geschundenen, versehrten und getöteten Körper als kreatürliche Schattenseite der Vernunft in den Mittelpunkt rückt. Sie bedient sich eines ästhetisch formalen Katalogs, der seine gewaltförmigen Körperchoreographien aus Texten und Gemälden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit rekrutiert.4 David Cronenbergs Filme schließen sichtbar an die ästhetischen und narrativen Formulare des amerikanischen Splatterfilms, vor allem Romeros Night of the Living Dead, an. Aber seine Filme sind ebenso Inversionen all der Merkmale, die den Splatterfilm definieren. Statt einer getreuen Abbildung von Realität geht es Cronenberg um die filmische Wiedergabe von Metaphorik. So findet man neben splattertypischen Authentifizierungsstrategien – speziell im Bereich der Ästhetik von Gewalt und Verwundung – Hinweise auf den simulatorischen Charakter des filmischen Rahmens, die über die übliche Szenographie des Splatterfilms hinausgehen und die Themen Körperlichkeit und Medialität, Realität und Imagination sowie Theorie und Fiktion mit den Mitteln des Körper-Horrors angehen. Cronenbergs Filme leiten dabei mit dem Fokus auf dem menschlichen Körpers als Prothese der Medien und der Frage nach der Realität als einer Extension von medial erschaffener Realität sowohl in den neueren Verschwörungsfilm, den Virtual Reality-Film, als auch in den New Gothic-Film über, in dem die Kommunikation und Handlungsmacht der technischen Medien einen höheren Stellenwert einnnimmt als der Figuren. Statt einer Gewalt, die im Splatterfilm blutig und in Detailaufnahme in den Körper des Opfers eindringt, stößt in allen Filmen Cronenbergs der menschliche Körper selbst etwas in die Welt, das zum Ausbruch blutiger Gewalt führt. Cronenbergs Werk ist dabei anhand fünf markanter Codierungen lesbar, die eine Inversion all dessen vorführen, was der moderne Horrorfilm etabliert hat. Die Rede ist von den konfigurierenden Codes zu Körper/Geist, Körper/Sexualität, Körper/Psychoanalyse, Körper/technische Medien und Körper/Realität. Ihre theoretische Verhandlung als Inszenierung von Körper-Horror muss man Cronenberg zufolge ernst nehmen: »I have to make the word be flesh.«5 Es fehlt dieser Aussage allerdings der Zusatz, dass es dabei schon um das Fleisch im Wort, also um den symbolischen Körper der Rhetorik, der Literatur oder des theoretischen Diskurses geht. Cronenberg transformiert, so die These, rhetorische Konzepte von Körperlichkeit und Medialität in Film, ohne

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mann (Hg.): Das zivilisierte Tier. Zur historischen Anthropologie der Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 221-244. Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs (1929/1963), Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1985 sowie M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Günter Oesterle und Detlef Kremer haben die Figur des grotesken Körpers dann vor allem für die Literatur der Spätaufklärung und der Romantik geltend gemacht. Vgl. G. Oesterle: Illegitime Kreuzungen; Detlef Kremer: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, Stuttgart 1993 sowie D. Kremer: Prosa der Romantik. So lautet der Titel eines Interviews zwischen David Cronenberg und Serge Grünberg nach einem Zitat Cronenbergs aus diesem Interview: André Labarthe: I have to make the word be flesh. Interview mit Serge Grünberg (F 1999).

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dabei auf die schöpferischen und religiösen Konnotationen dieser Geste zu verzichten. Will man die Filme Cronenbergs deshalb in eine Denk- und Erzähltradition stellen, so fallen die üblichen literarischen Referenzen auch des modernen Horrorfilms, wie Gothic Novel und Romantik, zu einem großen Teil aus. Stattdessen findet man abseits der Literatur, die Cronenberg tatsächlich verfilmt,6 als theoretischen Einfluss eine Literatur, die wie seine Filme Thesen formuliert, indem sie diese an ihren Figuren ausbuchstabiert und in deren Körpern einschreibt: Angesichts einer Front aufgeklärter und idealistischer Programme sowie einer optimistischen Einschätzung des menschlichen Fortschritts im 18. Jahrhundert stellt eine skeptische und pessimistische Literatur, die sich in der Spätaufklärung verdichtet,7 die Frage nach den Widerständen und Schattenseiten. Als Zwilling einer Tradition der »schwarzen Anthropologie«8 spricht sie dem Menschen jegliche Vernunft, jeden Altruismus und natürlichen Gemeinsinn ab und traut ihm dafür alles an Eigensucht, Gewalt und Zerstörung zu. Cronenberg kann als Filmchronist des gewaltförmigen und grotesken Wiedereinschreibens des Körpers in seinen aufgeklärten Diskurs, sei es im Dispositiv der Medizin, der Sexualität, der Psychoanalyse, der technischen Medien oder der Wahrnehmung der Realität, betrachtet werden. Die Entdeckung der Tiefe des menschlichen Körpers im Rahmen dieser Diskurse, wird von Cronenberg dabei radikal anatomisch gedacht. In seinen frühen Filmen Crimes of the Future (KAN 1970), Shivers, Rabid, The Brood (dt. Die Brut, KAN 1979) und Scanners (dt. Scanners – Ihre Gedanken können töten, KAN 1980) wird die kontinuierlich auftauchende Figur des revoltierenden »New Flesh« als Reaktion des sexuell, wissenschaftlich und medial infizierten Körpers auf eine invasive Kolonisierung in Szene gesetzt. Hysterisch dehnt sich die blutige Revolte des Körpers gegen seine Kontrolle und Diskursivierung auf den gesamten Film aus und nimmt in Form einer Epidemie, die schon im Zombiefilm Romeros vorgezeichnet ist, apokalyptische Ausmaße an. Die Effekte der technischen Medien auf die Sinne des Körpers in den späteren Filmen Videodrome, The Fly (dt. Die Fliege, KAN 1986), Naked Lunch, Crash (KAN 1996) und eXistenZ inszeniert Cronenberg in Zitation der Thesen Marshall McLuhans als pathogene Verschmelzung von Mensch 6

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Vgl. George Langelaan: The Fly, Stephen King: The Dead Zone, James Graham Ballard: Crash, William S. Borroughs: Naked Lunch sowie Patrick McGrath: Spider. Bevorzugt besetzt diese den menschlichen Körper als Schauplatz der Auseinandersetzung. Paradigmatisch dafür ist die Brutalität der Leibnizschen »besten aller möglichen Welten«, die gewaltsam ihre Gesetze und Widersprüche in die Körper der Figuren von Voltaires Candide (1768) oder Johann Karl Wezels Belphegor (1776) einschreibt oder präziser: einprügelt und einschneidet. Auch der maschinisierende Medusenblick im Gefolge des französischen Materialismus und der Schriften René Descartes’, wie er in – nicht ganz unironisch – Julian Offray de La Mettries L’homme machine (1748) auftritt und grotesk auf Wezels Held Tobias Knaut, des Stammlers, sonst der Weise genannt (1773-76), auf die Figuren Jean Pauls, Heinrich von Kleists oder auch der Romantiker fällt, ist ein Aspekt dieser »Dialektik der Aufklärung«. Vgl. Detlef Kremer: Wezel. Über die Nachtseite der Aufklärung. Skeptische Lebensphilosophie zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, München 1985 sowie D. Kremer: Spätaufklärung als Groteske. Vgl. als paradigmatische Figuren dieser Anthropologie Niccolo Machiavelli, Thomas Hobbes, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault sowie Giorgio Agamben.

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und Maschine. Mit der labyrinthischen Verschachtelung verschiedener Realitätsebenen in den Filmen Videodrome, Naked Lunch und eXistenZ liefert er letztlich einen Abgesang auf das Modell der geschlossenen Erzählung und der Repräsentation überhaupt. Die diegetische Realität wird in diesen Filmen genau wie der menschliche Körper von den unheimlichen Mächten der Sexualität, der Wissenschaft und der Medien kolonisiert, und die Reaktion der Realität auf diese Invasion ist bei Cronenberg genauso verstörend und vernichtend wie die des revoltierenden Fleisches in seinen früheren Filmen. Die Ausmessung und Diskursivierung, auf die der Körper bei Cronenberg im höchsten Maße allergisch und hysterisch reagiert, entspricht im Wesentlichen den historisch theoretischen Befunden Michel Foucaults. Dieser verfolgt und formalisiert seit den 1960er Jahren die Geschichte der vollständigen Rationalisierung, Disziplinierung und Diskursivierung des menschlichen Körpers. Der Körper wird darin als ein privilegierter Knotenpunkt in einem Universalnetz biopolitischer Macht bloßgelegt. Als Wissensgegenstand erscheint er unter dem kalten Blick der Medizin (Die Geburt der Klinik), im Blick des Panoptikums der Haftanstalt (Überwachen und Strafen), oder er diskursiviert zwanghaft und nach bestimmten Regelsätzen sein sexuelles Begehren (Der Wille zum Wissen).9 Foucault spürt den Zugriffen der Macht bis in den menschlichen Körper hinein nach und durchleuchtet damit ein paranoisches Phantasma vom Wissens über den vollständig lesbaren, verstehbaren, disziplinierten und diskursivierten Körper. Im Zentrum der Analysen Foucaults stehen aber nicht nur der menschliche Körper und die Technologien seiner Durchleuchtung und Durchformung, sondern es geht ebenso um die Instanz des gesichtslosen Blicks und seine Technologien der Betrachtung, Formung und Diskursivierung, also auch um die Institution des Betrachterkörpers. Seine Entsprechung findet der »examinatorische Blick« dieses Betrachters, wie er vergleichsweise schon in Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz als »Apparatur« auftaucht, der sowohl die Kamera als auch das Massenpublikum bezeichnet, im modernen Horrorfilm und vorrangig in den Filmen Cronenbergs, die wie Versuchsanordnungen unter Laborbedingungen gestaltet sind, so dass der Kinozuschauer in die Rolle dieser Blickinstanz gedrängt wird. Während Foucault die archivarische Anhäufung, Formalisierung und Poetisierung des Wissens über den menschlichen Körper diskursanalytisch nachzeichnet und damit strukturell zumindest das Projekt der Aufklärung fortführt, unternehmen die Filme Cronenbergs allerdings das phantastische Gegenstück. Ihre Körperpolitik setzt eine mögliche andere Ordnung, eine postdiskursive Revolte des Kreatürlichen, in Gang, die sich der Durchleuchtung und Kontrolle des menschlichen Körpers und seiner vollständigen Symbolisierung widersetzt. Der Foucaultschen Metapher von der »Angst vor dem Wuchern der Diskurse«10 wird das Cronenbergsche »Wuchern der Metaphern

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Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963), Frankfurt am Main 1999; Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt am Main 1994 sowie Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (1976), Frankfurt am Main 1997. 10 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1970), Frankfurt am Main u.a. 1977, S. 34.

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und Motive«11 in den immer neuen Inkarnationen des »New Flesh« gegenübergestellt. Cronenberg setzt die Bonisierung des Chaos und die Intellektualisierung des Körpers der technischen und formalisierenden Vernunft gegenüber. Entscheidend für dabei die auch mediale Differenz von Schrift und Film. Denn dadurch, dass Cronenberg den symbolischen und rhetorischen Schriftkörper der Theorie in den theatralischen und imaginären Bildraum des Films transponiert, wird durch die ästhetische und narrative Aufbereitung des jeweiligen Konzepts der Körperbeherrschung die Möglichkeit zu neuen Lesarten und damit zu neuen Formen der Diskursivierung eröffnet. Die entscheidende Frage, »welcher Körper erscheint, wenn er aus seinem biologischen Sein in ein symbolisches System transformiert wird«,12 wird in den Filmen Cronenbergs deshalb als zusätzliche mediale Distanzstufe zum »biologischen Körper«, weitergedacht. Cronenbergs Filme kommen seit Stereo immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Darstellbar sind allein das Chaos, die Zerstörung und letztlich die Gewalt der Konfrontation. Der Mikrophysik der Macht13 des Macht-Wissen-Komplexes, den Foucault untersucht, stehen schon in Cronenbergs erstem Langspielfilm Shivers die buchstäblich gewordenen Metastasen der organischen Macht des Fleisches gegenüber. Man kann das Verfahren eine filmische »Cytologie der Macht« nennen. Der monströse Körper in Cronenbergs Filmen bringt damit die filmische Repräsentation des Körpers an die Öffentlichkeit,14 um den Preis seiner gewaltförmigen Metamorphose bis zur Deformation und völligen Auflösung. Es ist aber immer der schon lesbar gewordene symbolische Körper der Literatur und der Theorie, der nun vor der »Apparatur« des Kinos agiert. Der Körper des Verurteilten Robert-François Damiens,15 Foucaults Paradebeispiel für die archaische Körperdisziplinierung als brutale Zerstörung des Körpers im 18. Jahrhundert, wird bei Cronenberg wie im amerikanischen Splatterfilm deshalb immer wieder auf den Gerichtsplatz gezerrt und mit allen Raffinessen theatralischer Inszenierungskunst auf blutigste Weise gevierteilt und zerrissen. Es ist aber nicht immer der gleiche verurteilte Körper, sondern er gelangt in zahllosen Variationen als symbolische Wiederaufführung ins Kino. Das Fest der Martern wird in das Kino des Körper-Horrors verschoben, und Cronenberg bringt wie der Splatterfilm die atavistischen Körpertechniken von Folter, Opferung und Strafritual auf die Leinwand einer modernisierten Kontrollgesellschaft der psychischen Disziplinierung.16 Cronenberg inszeniert den Krieg zwischen Körper und Kontrollorgan und zeigt ihn dabei als einen Krieg der totalen Mobilmachung. Schauplatz ist das 11 Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998, S. 116, Fußnote 1. 12 Marianne Schuller/Claudia Reiche/Gunnar Schmidt (Hg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Münster 1998, Klappentext. 13 Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976. 14 Zum Verhältnis von Gewalt und Sichtbarkeit vgl. J.-L. Nancy: Bild und Gewalt. Gefeiert werden der Prozess der Befreiung des Körpers aus seiner Lesbarkeit und seine Überführung in eine neue Sichtbarkeit in der frühen Filmtheorie bei B. Balázs: Der sichtbare Mensch. 15 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 9-14. 16 Vgl. Ebd. sowie Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (1990)«, in: Ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262.

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Schlachtfeld des Körpers. Cronenberg stimmt damit Foucaults Umkehrschluss zu Carl von Clausewitz’ bekannten Diktum, Krieg sei die »bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«,17 zu: Der blutige Körper-Horror des Krieges, den Cronenberg inszeniert, zeigt allein die Spitzen eines unterschwellig stets währenden Konflikts einander feindlich gegenüber stehender Körper- und Biopolitiken. Der Modus dieser Kriegsfilme ist die filmrhetorische und häufig buchstäbliche Umsetzung literarischer und theoretischer Konzepte. Wenn in einem Film Cronenbergs jemandem etwas »Kopfzerbrechen« bereitet, dann platzt in aller Regel auch der Kopf, wie in der berühmten Eingangssequenz von Scanners. Diese Szene zeigt, wie während eines öffentlichen Experiments in einem Theatersaal, das die Kraft der Gedanken demonstrieren soll, es zu einem Duell zweier Scanner auf der Bühne kommt. »Scanner« sind seit ihrer pränatalen Entwicklung medikamentös genveränderte Menschen mit der Fähigkeit, andere Denksysteme abzuhören, zu manipulieren und zu zerstören. Die überraschende und erschreckende Folge dieses Aufeinandertreffens zweier Scanner ist, dass zum ersten Mal in der Kinogeschichte der Zuschauer, gespiegelt vom ebenso fassungslosen Publikum auf der Theatertribüne, in Zeitlupe das blutige explosive Zerplatzen eines menschlichen Kopfes beobachten kann. (Abb. 59) Cronenberg zeigt dies vor allem an wissenschaftlichen Experimenten, die außer Kontrolle geraten, und daran, wie neue Körper, die aus diesen Experimenten entstehen, buchstäblich neue Ordnungen der Wahrnehmung generieren. Die unerwünschte Nebenwirkung neuer Ordnungen ist die unausweichliche Konfrontation auf dem Schlachtfeld des Körpers und endet fast immer in der Vernichtung oder zumindest in der irreversiblen Transformation aller Beteiligten. Cronenberg filmt die Entstehung fremdartiger organischer und biomechanischer Intelligenzen, die durch Beobachtungsmaßnahmen und Experimente, mit denen der Körper klassifiziert, beherrscht und kolonisiert werden soll, spontan erzeugt werden. Als Ergebnis entsteht immer etwas Drittes, ein Monster, das aus der körperfremden Ordnung und dem kreatürlichen Widerstand des menschlichen Körpers kombiniert wird, sich aber gegen beides blutig zur Wehr setzt. Cronenbergs Filme bedienen aus diesen Gründen mitunter sehr deutlich das Klischee des Mad Scientists, wie er im frühen Film zum Beispiel vom Alchimisten Rotwang in Fritz Langs Metropolis (D 1926/27) oder von Frankenstein in James Whales gleichnamiger Verfilmung der Gothic Novel von Mary Shelley verkörpert wird.18 Die Reihe der Wissenschaftler und darunter vor allem der Ärzte in den Filmen Cronenbergs ist lang. Der erste Wissenschaftler, Dr. Luther Stringfellow, produziert auf operative Weise Telepathen (Stereo), Dr. Antoine Rouge ist der Entdecker und Namensgeber der apokalyptischen »Rouge’s Malady«, einer Kosmetikallergie, die sämtlichen Frauen nach der Pubertät auf der Erde das Leben gekostet hat (Crimes of the Future). Dr. Emil Hobbes ist der Entwickler eines mörderischen Lustparasiten, der zunächst ein Hochhaus und dann die Welt befällt (Shivers), und Dr. Dan Ke-

17 Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832-34), Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1980, S. 34 sowie Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt am Main 2001, S. 32. 18 Vgl. Torsten Junge/Dörthe Ohlhoff (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader, Aschaffenburg 2004.

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Abb. 59: Scanning des Kopfes loid transplantiert »morphogenetisch neutralisierte« Haut, die der Patientin zueinem neuen stachligen Organ in der Achselhöhle verhilft und sie in einen Vampir verwandelt (Rabid). Dr. Hal Raglan ist Spezialist für »Psychoplasmatik«. Er exterritorialisiert in seinen therapeutischen Sitzungen emotionale Störungen in somatische und produziert damit Geschwüre und die mörderische »Brut« (The Brood). Dr. Paul Ruth erzeugt mit dem Medikament Ephemerol, das Schwangeren injiziert wird, die telepathischen Scanner (Scanners), und der Fernsehprofessor Brian O’Blivion entwickelt das subliminale und tumorproduzierende Videodrome-Fernsehsignal und existiert selbst nur noch in Form von Videokassetten (Videodrome). Der sozial isolierte Systemanalytiker Seth Brundle verwandelt sich während eines Teleportation-Selbstversuchs in ein Mensch-Fliege-Hybrid (The Fly), und die Gynäkologenzwillinge Beverly und Elliott Mantle erfinden zunächst ein preisgekröntes Instrument zur Geburtshilfe, um es später in ein Folterbesteck »zur Behandlung mutierter Frauen« zu pervertieren (Dead Ringers). Zum ersten Mal vereint mit der Figur Allegra Geller in eXistenZ eine Frau als Computerspieldesignerin die bis dahin männlichen Figuren des Wissenschaftlers und Erfinders mit der des romantischen Künstlers, wie dem Schriftsteller Bill Lee in Naked Lunch, in einer Person. Sie muss diese Rolle aber im Laufe des Films an den männlichen Spieledesigner Yevgeny Nourish abgeben, der auf einer übergeordneten Spielebene agiert. Den Mad Scientist-Komplex spielt Cronenberg in vielen Variationen durch. Aber der Verlauf ist formal immer identisch: Es wird eine neue Erfindung in die Welt gesetzt, es kommt zu einem direkten Kontakt mit dem menschlichen Körper, und daraufhin gerät alles plötzlich außer Kontrolle. Aus dem Kontakt der neuen Erfindung oder neuen Ordnung mit dem mensch-

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lichen Körper entsteht etwas ungeplant Neues, etwas, das eine eigene Intelligenz besitzt, eigene Pläne verfolgt und damit seine eigene Ordnung gewaltsam gegen die etablierte behaupten muss. Das Klischee des an Hybris leidenden verrückten Wissenschaftlers ist aber nur ein Beispiel für die zahlreichen Anleihen, die Cronenbergs Filme bei den B-Movie-Genres »Horror« oder »Science Fiction« machen.19 Sie behandeln mehrfach das Thema der Telepathie beziehungsweise der Extrasensory Perception (ESP), der außersinnlichen Wahrnehmung (Stereo, Scanners, Dead Zone). Sie spielen in der Zukunft (Stereo, Crimes of the Future, eXistenZ) oder liefern moderne Varianten des Zombie- oder Vampirfilms (Shivers, Rabid, The Brood). So bedürfen Cronenbergs Filme immer auch der Camouflage des Genrefilms mit seinen stereotypen Figuren und Ereignissen, um ihren theoretischen und experimentellen Charakter bildlich umsetzen zu können. Selbst wenn die Filme den Kontext des amerikanischen Splatterfilms, dem sie zweifelsohne entstammen, verlassen, sind die Anleihen beim Genrefilm, speziell den phantastischen Genres, nicht verschwunden: Denn wäre eXistenZ kein Horroroder Science Fiction-Film, in dem statt der herkömmlichen Körperöffnungen neu erfundene Anschlüsse am unteren Ende der Wirbelsäule, so genannte »Bioports«, einen akzeptierten Bestandteil der inszenierten Kultur darstellten, fiele der Film angesichts der unterschiedlichen erotischen und gewaltsamen Inszenierungen dieser Körperöffnungen, deutlich unter das Verdikt der Pornographie. (Abb. 60)

Abb. 60: Neue Körperöffnungen »Death to Videodrome. Long live the new flesh!«, lautet der Schlachtruf von Max Renn, des Protagonisten von Videodrome. Die Kampfansage fasst präzise die bevorzugte Metapher Cronenbergs noch einmal zusammen. Das wuchernde neue Fleisch ist die exzessive Reaktion des Körpers auf die Ein19 Cronenbergs Instrumentalisierung und damit Aufwertung der so genannten »BMovies« ist kein Einzelfall, sondern auch ein Symptom für postklassisches Filmen. Vollfinanzierte A-Movies bis hin zu den Hollywood-Blockbuster-Filmen sind inzwischen zu einem großen Teil Filme der bis zum Ende der 1960er Jahren noch marginalisierten Genres »Horror« oder »Science Fiction«. Vgl. R. Blanchet: Blockbuster.

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schreibung des wissenschaftlichen Diskurses. Die Metapher vom programmierbaren menschlichen Videorecorder in Videodrome – die Figur gehorcht dem, der ihr seine Videokassette in den Leib schiebt – ist die Engführung und Rekombinierung der sexuellen, wissenschaftlichen und medialen Diskurse mit dem menschlichen Körper. Renn fungiert als wandelbare Projektionsfläche der sich bekämpfenden Verschwörungen in Videodrome. Er wird zum beschreibbaren »Living Video« und damit zu der modernen Inkarnation des programmierbaren Maschinen-Menschen, dem jedes Konzept, jede Identität und damit auch jedes Geschlecht neu eingeschrieben werden kann: The most accessible version of the »New Flesh« in Videodrome would be that you can actually change what it means to be a human being in a physical way […] Human beings could swap sexual organs, or do without sexual organs as sexual organs per se, for procreation. We’re free to develop different kinds of organs that would give pleasure, and that have nothing to do with sex. The distinction between male and female would diminish, and perhaps we would become less polarized and more 20 integrated creatures.

Den neuen Körper, der keine gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen zu erfüllen scheint und deshalb ausnahmslos als Krankheit und Verfall identifiziert wird, nennt Cronenberg nicht ohne religiösen Unterton »New Flesh«. Revoltierend greift es zunächst auf die Morphologie des Körpers der Figuren und dann auf die diegetische Realität, die ganze Mise en Scène des Films selbst über. Der Film selbst wird dabei programmatisch zum Neuen Fleisch erklärt. Sind es in den frühen Filmen Cronenbergs noch intensive Studien des Fleisches, seiner Verwundung und seiner Transformation, quellen vor allem in Naked Lunch und eXistenZ alle Räume mit bizarren Wesen aus Neuem oder »Metafleisch« über. Ihnen scheinen ständig Blut, Schleim und andere Körperflüssigkeiten zu entweichen, um neue amorphe Mutanten zu gebären. Die Logik des »Wucherns« ist für alle Filme Cronenbergs entscheidend, und in Form einer Invasion oder Kolonisierung greift diese spezifische New Flesh-Ästhetik nach und nach auf alle Ebenen der Körper- und Medienwelten über.

2. Hexenküchen Cronenberg dreht seine ersten beiden Kurzfilme 1966 und 1967 auf 16 mmFarbfilm: Transfer und From the Drain. Der erste Film Transfer setzt sieben Minuten lang einen Dialog zwischen einem Psychiater und seinem Patienten an einem gedeckten Tisch auf einem schneebedeckten Feld in Szene. In dem Gespräch gibt der Patient zu erkennen, dass der Psychiater die einzig relevante Bezugsperson für ihn darstellt, und dass er ganz im Sinne der Hysterieforschung seit Jean-Martin Charcot, für den die Patientinnen ihre hysterischen Bögen genau dann vollführten, wenn sie photographiert oder vorgeführt wurden,21 seine Geschichten allein für den Psychiater erfunden hat. From the Drain stellt ein vierzehnminütiges Badewannengespräch zwischen zwei Kriegsveteranen in einem Heim dar. Sie sprechen über die Veränderun20 David Cronenberg: Cronenberg on Cronenberg. Hg. von Chris Rodley, London 1997, S. 80-82. 21 Vgl. G. Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie.

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gen von menschlicher und pflanzlicher Biologie und verleihen unterschwellig ihrer Angst vor einer Verschwörung Ausdruck. Tatsächlich wächst plötzlich aus dem Abfluss der Badewanne eine Pflanze und erwürgt einen der Männer. Der andere steigt aus der Wanne, nimmt die Schuhe seines Gegenübers und stellt sie zu vielen anderen in einen Schrank.22 Nach diesen Versuchen wechselt Cronenberg mit seinem ersten kurzen Spielfilm Stereo (KAN 1969) zu dem professionellen 35 mm-Format, das es ihm erlaubt, die Filme auch in kommerziellen Kinos außerhalb der Screenings in Kunstversammlungen und Clubs zu zeigen. Die benutzte 35 mmArriflex-Kamera ist während des Filmens allerdings so laut, dass kein Ton am Filmset aufgenommen werden kann. So wird der gesamte Film nachsynchronisiert, und das Voice Over des Erzählers und Forschungsleiters Dr. Luther Stringfellow in Stereo findet als innerer Monolog statt. Die gleiche Technik wendet Cronenberg bei dem Nachfolger Crimes of the Future an. Dem Film wird neben der Voice Over-Stimme des Erzählers Dr. Adrian Tripod noch ein Soundtrack mit Unterwassergeräuschen unterlegt. Thematisch nehmen die beiden Filme vieles von den späteren Filmen vorweg und sollen deshalb im Sinne einer Vorstudie kurz skizziert werden. Stereo stellt die wissenschaftliche Versuchsanordnung des »Northern Institute of Parapsychological Research« und der »Canadian Academy for Erotic Inquiry« dar. Der Versuch verfolgt das Programm des »Organic Computer Dialectic System« und zeigt die künstliche Erzeugung telepathischer Kräfte durch die bessere elektrochemische Vernetzung bestimmter Teile des Gehirns. Von besonderem Interesse ist die Entwicklung der sexuellen Orientierung. Chirurgisch werden acht Probanden mit einer »elektrochemischen Induktion« die Teile des Gehirns entfernt, die für die Sprache verantwortlich sind, so dass ganz im Sinne McLuhans dem Menschen neue Sinne und organische Werkzeuge der Kommunikation mit der Umwelt erwachsen. Dokumentiert werden die Ergebnisse von Stringfellow. Den Probanden werden dann unterschiedliche Drogen verabreicht, um unter anderem Omnisexualität, ein Echo der Freudschen »polymorphen Perversität«, zu verifizieren. Die Geschlechterpolitik entwickelt sich auch zum Zentrum der Theorie, die von Stringfellow lehrbuchartig aus dem Off vorgetragen wird. Jede Einschränkung des Ideals der Omnisexualität wird als Perversion gebrandmarkt. Trotz des ideologiekritischen Tons hinsichtlich einer repressiven Sexualmoral werden die Theorien des Vortrags und damit die Autorität des Erzählers nicht nur durch die satirisch gesteigerte Pseudowissenschaftlichkeit, sondern vor allem durch den katastrophalen Verlauf des Experiments unterminiert. Schon im ersten Film Cronenbergs hat man es mit einem Mad Scientist zu tun, der verrückte Theorien in die Welt setzt und an seinen Studenten ausprobiert. In jeder Einstellung des Films wird zudem die Experimentsituation deutlich. Denn wie Oetjen und Wacker notieren, sorgen die ungeheure Langsamkeit der Probanden, ihre Isolierung und die sterile Umgebung dafür, dass der Betrachter selbst in die Position des kühlen und analytischen Examinators rückt.23 Zum Teil wird die Bewegung der Figuren mit Slow Motion-Technik 22 Die beiden Filme Transfer und From the Drain sind mir leider nicht zugänglich. Daher stammen die Informationen zu den beiden Frühwerken Cronenbergs aus den zwei umfangreichen Studien D. Cronenberg: Cronenberg on Cronenberg sowie Almut Oetjen/Holger Wacker: Organischer Horror. Die Filme des David Cronenberg, Meitlingen 1993. 23 Vgl. A. Oetjen/H. Wacker: Organischer Horror, S. 31-35.

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verlangsamt, um den exakten analytischen Blick zu gewährleisten. Das Scheitern des Experiments ist leicht ersichtlich. Die Fluchtbewegungen und Übersprungshandlungen der Probanden häufen sich. Eine der telepathischen Versuchspersonen führt – wie der telepathische Scanner Daryl Revok in Scanners – eine Trepanation an sich durch: Er bohrt sich ein Loch in die Stirn. Die meisten Figuren haben einen sich stetig steigernden Medikamentenkonsum, erscheinen autistisch oder zumindest psychisch gestört. Der Drogenkonsum steigt an, und das Experiment gipfelt in zwei Selbstmorden.

Abb. 61: Das neue Fleisch In Crimes of the Future tauchen zum ersten Mal die von Cronenberg erfundenen neuen Organe des New Flesh auf: »The idea of a creative cancer; something that you would normally see as a disease now goes to another level of creativity and starts sculpting with your own body.«24 Die Organe entstehen kurze Zeit nach der apokalyptischen Ausbreitung der so genannten »Rouge’s Malady« in der Zukunft. Ihr Nutzen ist noch unbekannt, und sie werden in Gläsern aufbewahrt. (Abb. 61) Der verschwundene Dermatologe Antoine Rouge, Leiter des »House of Skin«, ist der Entdecker der Krankheit, die für den Tod sämtlicher geschlechtsreifer Frauen auf der Erde verantwortlich ist. Die Krankheit wird als tödliche Reaktion auf verschiedene Bestandteile in kosmetischen Produkten identifiziert. Der Film zeigt die Stationen der Odyssee von Dr. Adrian Tripod, eines Schülers von Rouge, in einer Welt, in der nur noch geschlechtsreife Männer und Kinder leben. Am »Institute of Neo-Venereal Disease« entdeckt Tripod einen alten Kollegen, der eben diese neuen Organe produziert. Die Funktion der Organe bleibt völlig unbekannt. Danach trifft Tripod auf Mitglieder der »Oceanic Podiatry Group«, die sich dem Fußfetischismus verschrieben und mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen auch schon erste Mutationen zu 24 D. Cronenberg: Cronenberg on Cronenberg, S. 80.

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verzeichnen haben. Neben dem Fetischismus sind Homosexualität, Pädophilie und Gender Bending-Effekte als Folge des Frauenmangels die Hauptthemen von Crimes of the Future. Der Film schließt mit der Eingliederung Tripods in die Gruppe der Pädophilen, die ihn zum Protagonisten einer Versuchsanordnung bestimmen: Tripod soll ein fünfjähriges Mädchen schwängern, das zu ihm in einen kleinen leeren Raum geschickt wird. Tripod bemerkt angesichts des Mädchens plötzlich die Präsenz seines alten verschwundenen Lehrers Antoine Rouge, und der Film endet mit einer Nahaufnahme in Zeitlupe, die eine Träne zeigt, die aus Tripods Auge fließt. Stereo und Crimes of the Future sind Filme über die Décadence. Es geht um die Veränderung und den Verfall einer Gesellschaft, die dabei die Grenze zur körperlichen Mutation und Degeneration überschreitet. Beide Filme zeigen deshalb eine gewisse Nähe zum literarischen und bildlichen Ästhetizismus der Jahrhundertwende um 1900 bis hin zu den künstlerischen Experimenten des Surrealismus. Das Sujet der parallelen Degeneration von Gesellschaft, Geist und Körper sind bei Cronenberg in einer radikalen Geste der Entwertung allerdings bloße Bestandsaufnahme und nur ein Aufweis von Möglichkeiten jenseits des Faktischen. Die Filme entziehen sich in der Inszenierung eines streng wissenschaftlichen Modus jeder ideologischen Zuordnung. Schon die operativen und genetischen Veränderungen sowie die unterschiedlichen befremdlichen Verhaltensweisen der Figuren in Stereo und Crimes of the Future dienen ausschließlich einer Inszenierung von Körperund Geschlechterpolitik sowie der Betonung des eigenen Experimentcharakters, in dem ein utopischer Funke durch die Kunstreflexion und den phantastischen Kontext gerahmt wird. Von dem Thema des Geistes und einer Handlungstheorie der Akteure hinsichtlich ihrer Sexualität wechselt Cronenberg schon in seinen ersten Filmen zu der Darstellung eines somatischen Willens zur Macht.

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II. Das neue Fleisch. Shivers Mit seinen vierzig Stockwerken und tausend Wohnungen, seinem Supermarkt und seinen beiden Schwimmbädern, seiner Grundschule und seiner Bankfiliale bot das Hochhaus mehr als genug Gelegenheit zu Konfrontation und Gewalt. James Graham Ballard: Der Block It really is like colonialism. The colonies suddenly decide that they can and should exist with their own personality and should detach from the control of the mother country. At first the colony is perceived as being treacherous. It’s a betrayal. Ultimately, it can be seen as the separation of a partner that could be very valuable as an equal rather than as something you’d dominate. I think that the flesh in my films is like that. I notice that my characters talk about the flesh undergoing revolutions at times. David Cronenberg

1. Sex und Gewalt Während die Repräsentation des sexualisierten Körpers im amerikanischen Splatterfilm thematisch der Darstellung von personaler und struktureller Gewalt weicht oder in Akten der Gewalt sublimiert wird, ist die Sexualität in den Filmen Cronenbergs immer das Zentrum des Films. Sie bildet gerade in den frühen Filmen Shivers, Rabid und The Brood den Treibsatz, der die Gewalt auslöst. Der Splatterfilm führt in radikaler Konsequenz die Folgen industrieller und diskursiver Malträtierungstechniken am menschlichen Körper vor und verfällt dabei zwangsläufig in dieselben Ökonomien und Techniken. Die Fortführung der seriellen Schlachtung im eigenen Haus und am Menschenmaterial zum Beispiel in Tobe Hoopers paradigmatisch gewordenen Vertreter des Genres, The Texas Chainsaw Massacre, kann vom Film nur gespiegelt und zusätzlich den Techniken und Konventionen des Erzählfilms unterworfen werden, die denen der seriellen Schlachtung nicht nur zufällig gleichen. Splatterfilme machen sich den gewaltförmigen Aspekt des Filmschnitts und der Zerstückelung durch den Filmausschnitt, der Kadrierung, zunutze. Das Ergebnis von Schnitt, Ausschnitt und Montage wird in The Texas Chainsaw Massacre zum Hauptbestandteil der Mise en Scène. Das Interieur als direktes Ergebnis der Schnittarbeit im Film und der mordenden Familie besteht fast vollständig aus Knochen, Haut, Zähnen und anderen Körperteilen ihrer Opfer. Den Gipfel der Kongruenz von Film und Täterökonomie erreichen Fil-

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me wie Halloween oder The Evil Dead, die eine subjektive Kameraperspektive aus der Perspektive des Slashers oder des phantastischen Monsters einführen. Cronenberg invertiert die einseitige Täter-Opfer-Ökonomie der Gewalt, die den amerikanischen Splatterfilm auszeichnet, und umgeht damit die ästhetische Falle einer affirmativen Geste des Splatterfilms hinsichtlich einer industriell geschalteten seriellen Gewalt. Zwischen den Werken von Romero, Craven, Hooper und Carpenter ragen deshalb die Filme Cronenbergs eigentümlich heraus, da sie sich ausschließlich mit der Körperpolitik selbst und in den 1970er Jahren zunächst mit den Technologien der Sexualität beschäftigen. Später kommen die transformativen Effekte der technischen Medien und der halluzinatorischen Wahrnehmung thematisch hinzu. Während der Körper-Horror des amerikanischen Horrorfilms der Moderne gewöhnlich den Körper des Opfers als monströsen zeigt – passiv, verwundet, zerstückelt, ausgeweidet oder verspeist – betonen Cronenbergs Filme den aktiven und metamorphotischen Körper. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Täter und Opfer, es gibt nur das Monster. Während die Kamera des Splatter- und Slasherfilms in den Körper des Opfers eindringt, brechen die Sinne und Organe des Körpers bei Cronenberg aus diesem heraus. Sie exterritorialisieren sich, nachdem die Invasion des Körpers durch seine Einschreibung in ein Konzept, eine fremde Ordnung, häufig verdichtet und materialisiert in Form eines künstlichen Fremdkörpers, erfolgt ist. Die Repräsentation eines körperfremden Konzepts, das rhetorisch auf der Trope der Metapher beruht, gerinnt in der filmischen Darstellung dabei zur Metonymie, genauer: sie wird buchstäblich zur Synekdoche, zur Fragmentierung des Körpers. Der körperliche Ausbruch als hysterische Reaktion auf die filmisch übersetzte Rhetorisierung bedeutet die plötzliche Geburt des Dritten oder des Monsters, des immer wiederkehrenden »Neuen Fleisches«. Dem Protagonisten von Videodrome öffnet sich der Bauch zu einem vaginalen Videokassettenschacht. Die Bugwriters, die Schreibmaschinenkäfer in Naked Lunch, werden zu wichtigen Sexualpartnern im nicht mehr trennbaren literarischen Geschlechts- und Schreibakt, und die Bioports, die künstlichen Körperöffnungen in der Welt von eXistenZ, sind eindeutig sexuell, aber auch computertechnisch markiert. Für Boris Groys steht angesichts solcher Rhetorisierungsprozesse ohnehin fest: »Das Monster ist die verkörperte, literarische, technische, gentechnische, genetisch-literarische Rhetorik. […] Der Körper entfaltet sich hier quasi automatisch, unkontrolliert, durch eine rhetorische Vermehrung und Verformung der Körperteile, wie es in einem literarischen Text geschieht.«25 Der filmische Körper, den Cronenberg in Szene setzt, ist deshalb nicht die Repräsentation eines wie gearteten referenziellen biologischen Körpers, sondern immer schon die Repräsentation eines Konzepts vom menschlichen Körper. Der Körper ist immer schon eine Figur, eine Trope, ein Zeichensystem innerhalb einer komplexen rhetorischen Struktur.26 Cronenberg nimmt in 25 Boris Groys: »Die Heiterkeit des Monströsen«, in: Akzente 40 (1993), S. 122129, hier S. 127. 26 Zu einem erweiterten Begriff von Rhetorizität jenseits der klassischen Rhetorik vgl. John Bender/David E. Wellbery: »Die Entschränkung der Rhetorik«, in: Aleida Assmann (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1996, S. 79-104 sowie John Bender/David E. Wellbery (Hg.): The Ends of Rhetoric: History, Theory, Practice, Stanford 1990.

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seinen Filmen die Sprache – und das bedeutet vor allem das rhetorische Sprechen über den menschlichen und den nicht mehr menschlichen Körper – wörtlich in einem kinematographischen Sinne. Manfred Riepe stellt dies ausschnittweise zusammen: Das Prinzip der Buchstäblichkeit zieht sich durch Cronenbergs filmisches Schaffen wie ein roter Faden. In Rabid hat die »Rose« Rose (Marylin Chambers) einen »Stachel« (zuviel). In Die Brut brütet Nola (Samantha Eggar) tödlich reale »Kinder des Zorns« aus. In Die Unzertrennlichen sinniert ein Frauenarzt über »die Schönheit des Inneren« – und meint damit nicht etwa die Seele, sondern die Anatomie seiner Patientin. In Die Fliege bezeichnet sich der Systemanalytiker Seth Brundle als »Bodybuilder« – tatsächlich nimmt er einen Körper im Wortsinne auseinander und baut ihn wieder zusammen. In Videodrome erhält Max Renn den Befehl: »Öffne dich« – woraufhin sich in seiner Bauchdecke ein 20 Zentimeter langer Spalt auftut […] In Naked Lunch sagt der Schriftsteller Bill Lee über seine Frau: »Ich kann ohne sie 27 nicht schreiben.« Der Film handelt davon, wie wörtlich Lee dies meint.

Cronenbergs Filme visualisieren die Tropen der Rede über den Körper und seine Figurationen mit dem Geist, mit seiner Sexualität, mit den Medien oder der Wahrnehmung von Realität. In diesem Prozess gewinnen Körper- und Medientheorie an filmischem Raum und geraten rhetorisch betrachtet in den Bereich der Allegorie, der Metaphora Continua. Gattungstheoretisch geraten sie in den Bereich der Phantastik. So kann entgegen der Vermutung Renate Lachmanns, dass Phantastik eine Entfesselung der Phantasie gegenüber ihrer rhetorischen Bändigung bedeute, die Phantastik auch als Effekt einer rhetorischen und tropischen Verschiebung von immer schon metaphorischer Sprache in ein anderes Medium betrachtet werden. In einem anderen Medium kann die Metapher zur Metonymie werden und gerät damit zur strukturellen Repräsentation einer medialen Differenz. Diese weist bei Cronenberg auf die Konfrontation der Medien Körper, Schrift und Film hin. So kann der Film als der blinde Fleck des Lachmannschen Unternehmens Erzählte Phantastik28 identifiziert werden, das sich auf die literarische Phantastik beschränkt. Man kann deshalb bei den Filmen Cronenbergs von Theorieallegorie, aber eben auch von Theoriephantastik sprechen. Shivers ist der erste Film Cronenbergs in Spielfilmlänge und markiert den Eintritt des Regisseurs in das professionelle Filmen. Produziert wird der Film von dem späteren Komödienregisseur Ivan Reitman innerhalb des kanadischen Sexfilmunternehmens Cinepix, das drei Jahre benötigt, um die Finanzierung von 185.000 Dollar von der Filmförderung der kanadischen Regierung, der Canadian Film Development Corporation (CFDC), zu erhalten. Cinepix bietet Cronenbergs Drehbuch Shivers zwischendurch dem Amerikaner Jonathan Demme, der für die Filmproduktion American International Pictures (AIP) arbeitet, zur Regie an. Cronenberg erfährt auf seiner CastingReise für die Horrorfilmschauspielerin Barbara Steele in Los Angeles von Demme davon, erhält aber dann zurück in Toronto den Zuschlag für die Regie. 27 Manfred Riepe: Bildgeschwüre. Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan, Bielefeld 2002, S. 11-12. 28 Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt am Main 2002.

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Abb. 62: Emil Hobbes’ Operation Cronenbergs ursprünglich geplanter und ironisch überspitzter Titel The Orgy of the Blood Parasites spielt auf die Sexploitation-Lesart des Films an, für die er ursprünglich beantragt war. Die beiden Themen des Films sind die Invasion und die Sexualisierung des menschlichen Körpers durch eine fremde Ordnung, metaphorisch durch einen künstlichen Fremdkörper visualisiert, einen blutig-bräunlichen Parasiten in der Form ungefähr eines Blutegels oder Exkrements. Ursprünglich soll der Parasit die Funktion kranker Organe übernehmen und sich allen Störungen des menschlichen Körpers anpassen, »and so it takes a little blood for itself once awhile. What you care?«. Der Parasitenschöpfer Dr. Emil Hobbes entwickelt dann aber, wie Dr. Rollo Linsky, sein alter Kollege, in seinen Notizen liest, »a parasite that’s a combination of aphrodisiac and venereal disease, that’ll hopefully turn the world into a beautiful mindless orgy«. Die Allegorie der Geschlechtskrankheit in Shivers ist mehr als sinnfällig und wird von den Kritikern schnell erkannt: Kuss und sexueller Kontakt sind die Überträger des Parasiten, Lust und tollwütige Gewalt die offensichtlich pathologischen Folgen. Ein transparenter »diaphragmatischer«29 Regenschirm schützt zum Beispiel zwei alte Frauen vor dem Befall mit einem Parasiten, der von einem Balkon aus in den Garten vor dem Gebäude erbrochen wird. Hobbes ist nur kurz in einer der Anfangssequenzen des Films zu sehen. Er klebt seiner zwölfjährigen Geliebten Annabelle Brown, einem jungen Mädchen in Schuluniform, mit Klebeband den Mund zu, schneidet ihr mit einem Skalpell Brust und Bauch auf und schüttet ein Glas dampfende Säure in ihr Inneres. (Abb. 62) Daraufhin schneidet er sich selbst die Kehle durch. Der andere Geliebte des Mädchens, Nicholas Tudor, zeigt kurz darauf die deutlichsten (Schwangerschafts-)Symptome eines Befalls durch den Hobbesschen Sexparasiten. Die Infizierung schreitet voran, und jeder von dem Parasiten Infizierte lässt alle Hemmungen fallen und frönt seinen Geschlechts- und Gewalttrieben. Es wird mit allen Mitteln die Jagd auf jedweden Sexualpartner, gleich welchen Standes, Geschlechts, Alters oder Verwandtschaftsgrads,

29 A. Oetjen/H. Wacker: Organischer Horror, S. 43.

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durchgeführt. Die Infizierten machen vor jeder Art von zum Teil komischer Verführungspraktik, aber eben auch vor Vergewaltigung, nicht halt. Der Gebäudekomplex wird so zum Schauplatz einer sich schnell ausbreitenden Sex- und Gewaltorgie. Der Protagonist von Shivers, der neue Arzt der Starliner Towers, Dr. Roger St. Luc, dient – vergleichbar dem Captain Willard in Coppolas Apocalypse Now – als sexuell passive und kalte gepanzerte Sonde des Films, die den Zuschauer teilnahmslos durch die futuristische Appartement-Landschaft führt. Selten übernimmt er die Eigeninitiative, und dann nur, wenn er offensichtlich in seinen beiden Rollen als Arzt oder als Filmheld gefragt ist. Die sexuellen Angebote seiner Krankenschwester Forsythe ignoriert er völlig. Während der Parasit sich zunehmend ausbreitet, trifft St. Luc in ständiger Wiederholung auf die sich zuspitzenden und dem Prinzip der Steigerung folgenden Zustände, die der Parasit hervorruft.

2. Angriff der Monstersexparasiten Die Figur Nicholas Tudor entwickelt das intimste Verhältnis zum Parasiten. Er spricht und streichelt den Parasiten, der sichtbar unter seiner Bauchdecke lebt und sich, wie man später sieht, dort auch vermehrt. Der Wirtskörper Tudor geht offensichtlich bewusst schwanger mit den Parasiten. Diese Beziehung führt auch zu der blutigsten und gewaltsamsten Szene des Films, als ein störender Dritter die Mutter-Kind-Dyade stört: Dr. Linsky ist im Appartement der Tudors auf der Suche nach Dr. St. Luc und findet Tudor schlafend im Bett liegen. Unter der Decke bewegt sich etwas. Linsky zieht die Decke weg, und auf dem Bauch von Tudor ist in Nahaufnahme ein Knäuel von Parasiten sichtbar, die sich ihren blutigen Weg durch die Bauchdecke offensichtlich durch Abgabe von Säure gebahnt haben. Als Tudor in der nächsten Szene erwacht und aufsteht, ist ein deutliches Loch mit einem Brandrand im Bauch zu sehen. Zuvor springen aber einige Parasiten Linsky ins Gesicht. (Abb. 63) Es folgt eine Schuss-Gegenschuss-Kameraeinstellung zwischen Bauchdecke und dem Gesicht Linskys in Großaufnahme. Sofort sind Gesicht und Hände Linskys sowie die Decke des Bettes rot vor Blut. Linskys Brille fällt als Zeichen der Hilflosigkeit in Großaufnahme auf den Parasitenhaufen. Der Doktor rennt in die weiß gestrichene Küche und versucht mit einer Zange, die Parasiten von seinem Gesicht zu entfernen. Sein Kommentar, »It’s burning«, und der Qualm der von seinem Gesicht aufsteigt, zeigen die ätzende Qualität der Parasiten. Nachdem Linsky mit der Zange einen Parasiten schmerzhaft entfernt und im Waschbecken blutig erschlägt, erscheint Tudor in der Küche und versucht, ihm neue Parasiten in den Mund zu stopfen. Als dies misslingt, schlägt er Linsky mechanisch mehrfach auf den Kopf, bis dieser – unterhalb des Kaders – sich nicht mehr rührt. Shivers zeigt eine parasitäre Logik der Aneignung, in der sowohl das neue Organ als auch der eigene Körper eine Transformation erleben und zusammenwachsen. Die Denkfigur oder Logik des Parasiten, des organischen Supplements, das gewaltsam in den menschlichen Körper eindringt, diesen umformt oder als Wirt benutzt und dann akzeptiert wird, geht einen Schritt weiter als die Organtransplantation, beruht aber auf demselben Invasionsmodell. Shivers zeigt dann auch nur oberflächlich im Sieg des Parasiten einen Burgfrieden zwischen Mensch und Parasit. Unterschwellig bleibt der Zustand

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Abb. 63: Face-Huggers im Stadium des gewalttätigen Konflikts bestehen. Denn der Parasit lässt die Instanz der Vernunft und Selbstbeherrschung im Hochhaus zwar untergehen, aber der Körper wehrt sich schließlich gegen die neue artifizielle Ordnung, und das Ende ist nur eine Pause in der Kette der Gewalt. Der Körper als Metakörper, als künstlich stimuliertes und als sexualisiertes »Neues Fleisch«, befindet sich fortan in einem ständigen Ausnahmezustand, in dem um die Souveränität gerungen wird und in dem es zu plötzlichen Ausbrüchen blutiger Gewalt kommt, wie zum Beispiel zwischen Linsky und Tudor. Das Programm des Parasiten, der Appell an den menschlichen Körper, lautet: Erotisierung der Welt um jeden Preis. Die Perspektive des Parasiten findet sich verschriftlicht als Slogan auf einem Zettel an Dr. Linskys Kühlschrank wieder: »Sex is the invention of a clever venereal disease.« Gegen Ende des Films gibt es überdies ein Manifest des Parasiten, das die infizierte Krankenschwester Forsythe ihrem Arzt und Retter St. Luc vorträgt. Denn dieser hat sie gerade augenscheinlich vor einer Vergewaltigung durch einen Infizierten bewahrt. Sie erzählt von einem Traum, in dem sie Sex mit einem abstoßenden alten Mann hat, der ihr aber sagt, »All flesh is erotic. All flesh is sexual. […] Even old flesh is erotic. […] Even dying is erotic. […] Talking is erotic«, und sie in ihrem Traum bekehrt. Diese Predigt an den asexuellen St. Luc ist rhetorisch eine Apostrophe und dient damit auch der direkten Ansprache an den Zuschauer. In der Funktion einer Prosopopöie verleiht die Krankenschwester dem Parasiten Gesicht und Stimme bis zum schockhaften Ende der Apostrophe, als der Parasit sich in einer extremen Großaufnahme tatsächlich im geöffneten Rachen von Forsythe selbst zeigt und aus dem weit geöffneten Mund herausschaut. (Abb. 64) Dem puritanischen Arzt, der sichtlich verlegen auf den vorgetragenen Anspruch einer Omnisexualität reagiert, scheint nur eine Möglichkeit offen zu stehen: Er schlägt Forsythe ins Gesicht und macht sie und den Parasiten, genau wie zu Beginn Hobbes es mit seiner Geliebten getan hat, mit Klebeband buchstäblich mundtot. Dass die Botschaft des Parasiten als Traum formuliert wird, fordert zwar deutlich eine Interpretation im Sinne der Freudschen Traumdeutung heraus. Die zahlreichen genital und sexuell markierten Gegenstände, wie das Gespräch über die Pistole des Wachmanns, als neue Mieter in

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das Hochhaus hineingehen, oder Linskys Gurken und nicht zuletzt die Gestalt des Parasiten selbst verstärken die Forderung einer Lektüre des Films im Sinne der Psychoanalyse Freuds. Gerade eine psychoanalytische Betrachtung des Films stünde aber dem phantastischen und aufklärungskritischen Projekt des Films entgegen und liefe in die Falle, sowohl die theoretische als auch die mediale Differenz zwischen der Psychoanalyse und den Filmen Cronenbergs zu unterlaufen. Der Schluss von Shivers zeigt den bis zuletzt unberührt gebliebenen Arzt, wie er im Swimming Pool im Erdgeschoss des Hochhauses einen Rite de Passage, seine Taufe, seine Initiierung von der ihm schon längst im Film zugedachten Partnerin, der Krankenschwester Forsythe, durch einen Parasitenkuss erhält. (Abb. 65) Die Szene ist als einzige des Films in Zeitlupe gedreht, um die euphorische Lust und die Endgültigkeit dieses Aktes zu verlängern und dadurch hervorzuheben. Das Schicksal des Hochhauses ist besiegelt. In der letzten Szene fahren die Infizierten als Lust-Guerilla ruhig und diszipliniert von der Insel des isolierten Gebäudekomplexes nach Montréal und in den Rest der Welt. Der Samen der Weltbeherrschung wird wie in den Verfilmungen zu Jack Finneys Invasionsroman The Body Snatchers in die Welt hinausgetragen. Die Infizierten, wie auch die Untoten in den apokalyptischen Zombiefilmen Romeros, haben bereits gewonnen.

Abb. 64: Die Botschaft des Parasiten Doch die Zeitlupe zum Schluss ist nicht die einzige mediale Differenz in diesem Film. Denn Shivers beginnt nicht als Film, sondern als eine Serie von Werbephotos, die das Gebäude, das Interieur und die Umgebung der Starliner Towers zeigen. Eine Stimme aus dem Off berichtet in Werbesprache von den Vorzügen dieses isolierten Gebäudekomplexes auf einer Insel vor Montréal. Der Anfang von Shivers schließt damit nicht nur an die Voice Overs der ersten Filme Cronenbergs an, sondern präsentiert damit auch das Gegenstück zum Medienwechsel in Romeros Zombiefilm Night of the Living Dead, an den er mit seinen »Lustzombies« thematisch anschließt. Night of the Living Dead endet nicht als Film, sondern als Serie von Standbildern, von Photos, die das Ende des Helden und den letzten Überlebenden des von Zombies belagerten Hauses zeigen, wie er von der Redneck-Bürgerwehr erschossen und mit Hilfe eines Fleischerhakens mit den erschossenen Zombies zusammen

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auf einen Lastwagen verladen und dann auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird. Das Thema der Invasion ist inzwischen ein etablierter filmischer Topos, der dem Unbehagen an der ungeklärten Herrschaft über das eigene Haus, den eigenen Willen und an der eigenen Integrität des Körpers Gestalt verleiht. Der Titel, unter dem Shivers zuerst in die Kinos gekommen ist, They Came from Within, macht den Wechsel dieses Topos’ vom äußeren Feind, der Nation und Welt bedroht, zum inneren Feind, der Geist und Körper zu unterwerfen droht, deutlich. Der Titel ist auch die Inversion des Science FictionFilmtitels, der als Motto aller Alien-Filme dienen kann: It Came from Outer Space (dt. Gefahr aus dem Weltall, US 1953), gedreht vom bekanntesten Horror- und Science Fiction-Regisseur dieser Zeit: Jack Arnold.

Abb. 65: Die Taufe Bei Cronenberg kommt das Alien, die Inkarnation des Fremdartigen, nicht mehr aus dem All, sondern aus dem Inneren des menschlichen Körpers und aus dem Labor eines Mad Scientists. Vom Kriegsmodell nach Herbert George Wells’ Roman War of the Worlds (1898) bis zur parasitären Geist- und Körperübernahme von Robert Heinleins The Puppet Masters (1951) und Jack Finneys The Body Snatchers (1955) gibt es eine Verschiebung des Invasionstopos’ in der Science Fiction, und die Quelle des Außerirdischen ist zugleich das Außen des Weltalls und das Innere des menschlichen Körpers. Wenn aber im Invasionsfilm der 1950er Jahre, wie in Don Siegels Invasion of the Body Snatchers und seinen Remakes von Philip Kaufman, Abel Ferrara und Robert Rodriguez die Parasiten innerhalb der menschlichen Wirte diese auch geistig versklaven, so entwickelt sich in Cronenbergs Shivers die gesamte Triebstruktur des Menschen, das System also, das Geist und Körper gleichermaßen steuert, zu einem neuen monströsen Wesen, das zügellose Freiheit gewinnt. Der neue und supplementäre Sex-Körper des befallenen Menschen eröffnet eine Utopie, die radikal aus der Perspektive des »Neuen Fleisches«, dem Hybrid aus menschlichem Körper und wissenschaftlichtechnischem Diskurs, gedacht wird. Den plötzlichen Moment der Übernahme inszeniert Cronenberg dabei als Akt der blutigsten Gewalt und erweitert mit Shivers auch deutlich die Grenzen der sichtbaren Gewalt im Kino.

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Zu den filmischen Vorläufern des Invasionsfilms der 1950er Jahre, die Shivers internalisiert und invertiert, muss noch ein literarisches Vorbild oder zumindest ein fast zeitgleiches Pendant Erwähnung finden. Das gilt speziell für das Setting der hermetisch isolierten und antiseptischen Zellenstruktur des Hochhauses und den zunehmend aggressiven Reaktionen der Bewohner unter den Bedingungen der Architektur in James Graham Ballards Roman HighRise (1975). In High-Rise, nach Crash (1973) und Concrete Island (1974) letzter Teil der Betontrilogie Ballards über den Verfall der Menschheit in den Städten der Spätmoderne, der ebenso als sachlich kühle Versuchsanordnung angelegt ist wie Cronenbergs Film, zieht der Physiologiedozent Dr. Robert Laing in das Luxusappartement eines neuen Wohnblocks. Dieser ist als Teil einer Hochhaussiedlung – Hochhäuser, die 40 Stockwerke hoch sind und tausend Wohnungen umfassen – ebenso abgeschirmt von der übrigen Welt, wie der Starliner Komplex auf der Insel vor Montréal in Shivers. In den tausend Appartements wohnen betont zivilisierte Menschen, deren Kontakt untereinander sich auf das Nötigste beschränkt. Doch nach und nach heizt sich die kühle Atmosphäre auf, und von einer allgemeinen Stimmung der Gereiztheit sind es nur kleine Schritte bis zu offenen Akten des Vandalismus gegen das Gebäude und Gewalttaten der Menschen gegeneinander. Das Buch endet in einem auf ewig gestellten Belagerungszustand. Wie High-Rise widmet auch Shivers große Aufmerksamkeit der spätmodernen Architektur. In Cronenbergs Film scheint zudem noch die Dimension des Gebäudes als Körper durch, dessen Zellen schneller durchlässig werden und ein metabolisches Chaos erzeugen. Der Parasit schlängelt sich durch die Leitungen und die Rohre und gelangt so von Appartement zu Appartement, von Zelle zu Zelle. Die ersten Bilder des Films lenken die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Bedeutung des Gebäudes. Die Werbeanpreisungen, die aus dem Off, aber deutlich von der Stimme des Maklers Ronald Merrick, der danach ein neu angekommenes Paar begrüßt, die Photoserie unterlegen, berichten von dem Komfort, der Idylle und der Abgeschiedenheit der Starliner Towers, die zu einem Schiff stilisiert werden: I’m Ronald Merrick and I’m here aboard your »Starliner«. Yes, it’s true: Day to day living becomes a luxury-cruise when you’ve made your home in »Starliner« tower apartments. Although downtown Montreal is only twelve minutes away, once you’ve crossed Champlain Bridge to »Starliner«-Island, the noise and the traffic of the city might as well be a million miles away. Leave your car and the tension of the city in a space reserved for you in our vast underground garage. […] Sail through life in quiet and comfort! Cruise »Starliner« Studios, one-bedroom and two-bedroom apartments are now available – from Starco, a division of General Strategies Incorporated.

Wie Ballard, so stellt auch Cronenberg die Strenge der spätmodernen Betonlandschaft eines völlig isolierten Hochhauskomplexes als Setting für eine Situation des äußersten Chaos und der blutigsten Gewalt in Szene. Lox Loidolt vermutet in Shivers deshalb eine Abrechnung Cronenbergs mit der Heilslehre des modernen Wohnungsbaus, zum Beispiel des Städteplaners und Architekten Le Corbusier, der von der Zellenstruktur einer Wohnung ausgeht.30 In der 30 Vgl. Lox Loidolt: »Isolation und Kontrast. Eine Ikonographie der modernen Architektur bei David Cronenberg«, in: Drehli Robnik/Michael Palm (Hg.): Und

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architektonischen Struktur des Gebäudekomplexes in Shivers und in der Invasion dieser hermetischen Struktur mit ihrem Befall durch eine unaufhaltsame Krankheit zeigen sich auch Parallelen zu Edgar Allan Poes Erzählung The Masque of Red Death (1842), in der die Pest in der allegorischen Gestalt des unaufhaltsamen Roten Todes zu der Festgesellschaft des Fürsten Prospero vordringt.

Abb. 66: Stadtsäuberung Als thematische Fortsetzung, aber eher noch als Komplementärfilm, kann Cronenbergs Rabid, gelten. Nach einem Unfall benötigt eine junge Frau, Rose, eine Hauttransplantation zum Überleben. Haut, die von ihrem Schenkel entnommen wird, wird in einem experimentellen Verfahren des Schönheitschirurgen Dr. Dan Keloid,31 in dessen Institut sie gebracht wird und der sich ihrer auch sofort annimmt, »morphogenetisch neutralisiert«. Das genetisch manipulierte »neutrale Gewebe« entwickelt aber überraschend neue Organe, die wiederum fremdes Blut benötigen und einen ausfahrbaren Saugstachel in der Achselhöhle der Frau ausbilden. Fortan verführt Rose andere, umarmt sie und saugt ihnen mit dem Stachel in ihrer Achselhöhle das Blut aus. Dabei verbreitet sie ein Virus, das die Bewohner einer ganzen Stadt in tollwütig amoklaufende Zombies verwandelt. Der Regierung bleibt nichts weiter übrig, als Müllwagen mit Erschießungskommandos durch die Straßen zu schicken, die alle Zombies töten und in die Wagen verfrachten. (Abb. 66) Bemerkenswert ist die Konsequenz, mit der Cronenberg das immer gleiche Muster oder Programm weiterhin benutzt. Ein medizinisches Experiment am menschlichen Körper läuft aus dem Ruder, der Körper verschmilzt mit seinem Eindringling, das neue Fleisch revoltiert, und das Experiment endet in das Wort ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David Cronenberg, Wien 1992, S. 32-41. 31 Abseits der Bedeutung des sprechenden Namens »Keloid« als »Hautgeschwulst«, wie ihn Thomas J. Dreibrodt in Lang lebe das neue Fleisch. Die Filme von David Cronenberg von »Shivers« bis »eXistenZ«, Bochum 2000 identifiziert, könnte als latente Bedeutung auch die Nähe zum Filmkörper »Zelluloid« eine Bedeutung spielen, die den Film materialistisch als einen Körper mit Haut begreift.

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einer Katastrophe. Die Menschen werden einer fremden Ordnung unterworfen, und jede Rationalität weicht dabei den überstimulierten körperlichen Regungen. Mit der Variation der Vampirfigur in Rabid erfährt trotz aller modernistischen Tendenzen auch das Seuchenthema eine Wiedereinführung in den vampirischen Diskurs. Die Schlussszenen von Rabid können als Fortsetzung, aber eher noch als kulturpessimistische Variante von Shivers gelten. Das Immunsystem der Stadt wehrt sich. Weiße Antikörper, Kommandos in weißen Schutzanzügen, fahren als Jäger und Müllmänner durch die Stadt. Die infizierten Zombies werden erschossen und in großen Müllwagen gesammelt, um dann verbrannt zu werden. Mit diesen Schlussszenen liegt Rabid weitaus deutlicher im Tenor des apokalyptischen Night of the Living Dead als das von Cronenberg betonte libertine Happy Ending in Shivers.

Abb. 67: Parasitengeburt Nicht zu übersehen ist weiterhin die filmhistorische Fortsetzung der Geschichte von der Invasion des Parasiten, der nicht nur auf die Erde kommt, sondern auch in den Körper der Menschen eindringt. Ihren Höhepunkt findet die Ikonographie des parasitären Fremden in der Reihe der Alien-Filme, die das Modell des fremden Parasiten für das Aufeinanderprallen verschiedener Mutterschaftskonzepte bis hin zu einem postkolonialen Diskurs der Hybridität benutzt.32 Die wohl wirkmächtigste Szene des blutig aus dem Körper brechenden Parasiten im amerikanischen Hollywoodfilm ist der Ausbruch des jungen Aliens aus der Brust des befallenen Leutnant Kane in Ridley Scotts Alien. (Abb. 67) Dies ist, und Cronenberg wird auch nicht müde, selbst darauf hinzuweisen, ein Bildzitat der schon beschriebenen blutigsten Szene in Shivers, in der ein Haufen von Parasiten sich mittels Säureabsonderung durch die Bauchdecke des befallenen Tudor gefressen hat und Dr. Linsky ins Gesicht springen.

32 Vgl. Deborah Cartmell (Hg.): Alien Identities. Exploring Difference in Film and Fiction, London, Sterling 1999.

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III. Technopathologien. Videodrome, The Fly, eXistenZ Am Verhalten ließ sich rasch erkennen, wer sich für einen Menschen hielt – und wer für einen Roboter. Auch die Roboter waren also nur gespielt? Stanislaw Lem: Der futurologische Kongress Stellen Sie sich zwei Radiosender vor, einen ganz in der Nähe, mit einer Stärke von nur fünfhundert Watt. Dann den anderen, weit weg, aber auf derselben oder nahezu derselben Frequenz sendend, und das mit fünftausend Watt. Wenn es Nacht wird… Philip K. Dick: Ubik I don’t believe that anybody is in control. That’s what McLuhan was talking about when he said the reason we have to understand media is because if we don’t it’s going to control us. The media does not have a brain; it’s just technology. David Cronenberg

1. Mensch-Maschinen Die einzigartig buchstäbliche Weise der Filme Cronenbergs, aus der Sicht des Körpers die Verschaltung von Mensch und Maschine in Szene zu setzen, gleicht den medientheoretischen Vorstellungen Marshall McLuhans. Dieser hat in The Gutenberg Galaxy (1962) den Übergang vom »mechanischen« zum »elektrischen Zeitalter« vorgezeichnet und damit grundlegende Veränderungen in Mentalität und Wahrnehmung des Menschen konstatiert. Seine Texte behandeln die Ausweitung des menschlichen Körpers durch die Implementierung technischer Medien in Körper und Wahrnehmung. Es sind latent auch gewalttätige Phantasmen der Körperöffnung und -zurichtung, die mit dem Begriff der »Selbstamputation«33 belegt sind. Die Brille ist die Prothese und Erweiterung des selbstamputierten Auges, Telefon und Hörgerät sind die Erweiterungen des selbstamputierten Ohres. Zunehmend ersetzen die technischen »Extensions of Man« den neuralen und sinnlichen Körper des Menschen, und das menschliche Zentralnervensystem wird zum Appendix der Medientechnologie:

33 M. McLuhan: Understanding Media, S. 76.

DAVID CRONENBERG ALS DREHSCHEIBE. KÖRPER- UND MEDIENWELTEN|201 Mit dem Aufkommen der Elektrotechnik schuf der Mensch ein naturgetreues Modell seines eigenen Zentralnervensystems, das er erweitert und nach außen verlegt. Insofern das der Fall ist, handelt es sich um eine Entwicklung, die den Eindruck einer verzweifelten und selbstzerstörerischen Amputation macht, als ob das Zentralnervensystem sich nicht mehr auf die Körperorgane als schützende Stoßdämpfer ge34 gen die ›Pfeile und Schleuder‹ der wütenden Mechanismen stützen könnte.

Der selbstverstümmelte und prothetische Körper des Menschen ist das zentrale Monster der Medientheorie einer McLuhanschen Prägung. Er findet seinen fiktionalen Widerhall in der Figur des Cyborgs. Das elektrische Zeitalter mit seinem Protagonisten, dem elektrischen Menschen, hat zumindest in Theorie, Literatur und Film längst begonnen. Während sich in den 1960er Jahren die Kritische Theorie in Frankfurt noch Sorgen um den menschlichen Geist, das richtige Bewusstsein und den freien Willen unter den Bedingungen von Massenkultur und Kulturindustrie macht, taucht als neues kulturelles Apriori der menschliche Körper am Horizont auf. Vor allem in den 1980er Jahren entspinnen in Feuilleton und Wissenschaft Diskussionen nicht nur um die geistige Verschmelzung des Menschen mit dem Computer und um die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, sondern immer klarer zeichnen sich auch im Rahmen der fortschreitenden Transplantationstechnik die Phantasmagorien ab, die um die Figur des Cyborgs kreisen. Diese Phantasmen werden – zum großen Teil von den gleichen Protagonisten am M.I.T. – in den 1990er Jahren von der Biowissenschaftsund Gentechnikdebatte abgelöst.35 Nicht nur illustriert, sondern befördert und angeheizt werden die Debatten vom Kino, das sich als die perfekte Möglichkeit der fiktionalen Realisierung von Cyborg-Phantasien erweist. Bekannte filmische Inkarnationen des Cyborgs sind Paul Verhoevens Robocop (US 1987) oder James Camerons Filme Terminator 1 und 2 (US 1984 und 1991), die mit Jonathan Mostows Terminator 3: Rise of the Machines (dt. Terminator 3: Rebellion der Maschinen, US 2003) ihren vorläufigen Abschluss finden. Androiden und Cyborgs bevölkern Michael Crichtons Westworld (US 1972), Richard T. Heffrons Futureworld (dt. Futureworld – Das Land von übermorgen, US 1976), Aaron Lipstadts Android (dt. Der Android, US 1982), die Alien-Tetralogie (GB/US 1979 bis 1997) sowie Shinya Tsukamotos Tetsuo: The Iron Man (JAP 1989) und Tetsuo II: The Body Hammer. Jenseits von Alan Turings Frage nach der Differenz von Mensch und Maschine, die in Filmen wie Ridley Scotts Blade Runner (US 1982) oder Christian Duguays Screamers (KAN/US/JAP 1995) nach literarischen Vorlagen von Philip K. Dick illustriert wird, sind die Filme vor allem an den monströsen Bildern der Mensch-Maschine-Verschmelzung interessiert. Die literarische Bewegung des Cyberpunk der 1980er Jahre zeigt die Materialität der Mensch-Maschine-Kopplung als Beraubung der Sinne durch technische Prothesen und Erweiterungen, die den Menschen von der Maschine abhängig machen und ohne die Maschine blind und taub zurück lassen. Filme, die direkt an zentrale Motive der Cyberpunk-Literatur anschließen, 34 Ebd., S. 76. 35 Vgl. Mark Dery: Cyber. Die Kultur der Zukunft, Berlin 1997 sowie Scott Bukatman: Terminal Identity: The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction, Durham 1993.

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sind Douglas Trumbulls Brainstorm (dt. Projekt Brainstorm, US 1983), Robert Longos Johnny Mnemonic (US 1995), die Verfilmung der gleichnamigen Kurzgeschichte von William Gibson, The Matrix 1-3 der Wachowskis, Kathryn Bigelows Strange Days (US 1999) und Animés wie Mamoru Oshiis Ghost in the Shell (Kokaku kidotai, JAP/GB 1994). Neben den expliziten filmischen Darstellungen von Cyborgs gelten vor allem die Filme Cronenbergs in den 1980er Jahren als entscheidende Marken in der ästhetischen Repräsentation der Verschmelzung von menschlichem Geist und Körper mit der Maschine und geraten damit in den Diskurs des Post- oder Transhumanismus. Cronenbergs Filme Scanners, Videodrome, The Fly oder eXistenZ dokumentieren und befördern in Fortsetzung der romantischen Vorstellungen vom Automaten einen Diskurs, der seit den 1980er Jahren die Beziehung zwischen Mensch und Computer und zwischen Mensch und Roboter regelt. Dabei haben die Filme Cronenbergs wenig mit den utopischen Cyborg-Visionen der M.I.T.-Ingenieure und K.I.-Spezialisten wie Hans Moravec und Marvin Minsky oder auch mit Donna Haraways utopischer Metapher vom Cyborg36 gemein. Cronenbergs Cyborg-Visionen von den Entgrenzungsbemühungen des Menschen beschreiten andere Wege. Seine Protagonisten werden zwischen der kolonisierenden Technik rationaler Vernunft und dem irrational wild wuchernden und metastasierenden Körper zerrissen und aufgelöst. Auch der menschliche Geist wird zum buchstäblichen Trägermedium der Kommunikation. Beide, Geist und Körper, sind in den Filmen Cronenbergs aber immer an die Maschinentechnologie und an die neuen Medien anschlussfähig. Es sind vor allem zwei Filme Cronenbergs, die explizit die Vergleichbarkeit und damit die Möglichkeit einer Verschmelzung zwischen dem menschlichen Geist und der künstlichen Intelligenz sowie dem menschlichen Körper und der Maschine illustrieren: Scanners und Videodrome. In Scanners ist das Thema die Macht des Geistes über die Materie. Die Kopplung des menschlichen Geistes mit einem anderen menschlichen Geist hat Cronenberg schon in Stereo aus dem Jahr 1969 gezeigt, der von der Verschleifung von Sexualität und Telepathie handelt. In Scanners kommt er auf das Thema zurück. Der Tatbestand der Telepathie kann bei Cronenberg dabei nur erfüllt werden, wenn sich menschliches Denken auf derselben Frequenz bewegt und somit genauso mess- und schaltbar ist wie ein Computer. Es muss also den TuringTest bestehen, in dem in einem Blindversuch ein Proband anhand schriftlicher Antworten feststellen muss, ob er mit einem Menschen oder einem Computer kommuniziert. Die technische Grundlage dieses Tests ist die strukturelle Vergleichbarkeit von Mensch und Maschine. Dass dazu das menschliche Denken vergleichbar einer Maschine, einem Elektronengehirn oder einem Radioempfänger sein muss, wird in Scanners in der Szene offenbar, in der der Held seine telepathischen Fähigkeiten an einem Mainframe-Computer erprobt und diesen infiltriert. Da das Scanning im Film hauptsächlich dazu benutzt wird, die Gedanken anderer zum Erlöschen zu bringen, indem ihre Köpfe wie bei einer implodierenden Fernsehbildschirmröhre auf blutigste Weise zum Platzen gebracht werden, endet auch die Infiltration des Helden in das Computersystem mit 36 Vgl. Donna Haraway: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main 1995, S. 33-72.

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einem Duell zwischen Mensch und Maschine in einer Explosion des Rechners und des öffentlichen Telefons, über das sich der Scanner in das System eingewählt hat. Diese Analogie gilt auch für den Informationsaustausch zwischen zwei Figuren bis hin zum Austausch des Geistes und der Fusion zweier Figuren, wie in der letzten Szene sichtbar wird, dem finalen Duell der verfeindeten Scanner-Brüder. Der Geist des guten Bruders tauscht, während sein Körper vom bösen Bruder getötet wird, mit diesem den Körper und überlebt im Körper seines Bruders.

Abb. 68: Fusion von Hand und Handfeuerwaffe Videodrome erzählt von Max Renns Suche nach neuen Porno- und Gewaltfilmen für seine Fernsehstation Civic TV, nach »something that’ll break through, something tough«. Dabei stößt er auf das fremde VideodromeFernsehsignal. Auf dieser Frequenz sieht er Snuff-Filme, in denen Menschen ohne erkennbare Dramaturgie vor einer Lehmwand zu Tode gefoltert werden. Die Produktion entpuppt sich als Ausstrahlung einer verschwörerischen Gruppe, die mit dem Film zugleich ein subliminales Signal ausstrahlt, das die Wahrnehmung des Rezipienten halluzinatorisch zu verändern scheint und nach Aussagen verschiedener Figuren einen Tumor im Gehirn wachsen lässt oder, so eine andere Lesart, ein neues Fernsehwahrnehmungsorgan. Ab der ersten Sichtung Renns von Videodrome lösen sich diegetisch die Grenzen der Wahrnehmung zwischen Realität und Imagination im Film auf, genauso wie die Grenzen zwischen dem menschlichen Körper und seiner medialen Umwelt. Im Laufe des Films wächst Renn nicht nur eine Handfeuerwaffe an und in den Arm hinein, (Abb. 68) um zu einer tödlichen Prothesenerweiterung von Hand und Arm zu werden, sondern an seinem Bauch wird auch eine vaginal markierte Öffnung offenbar, in die er die Handfeuerwaffe hineinschiebt und aufbewahrt. Diese Öffnung dient aber vor allem als Videokassettenschacht, mit der Renn als mobiles Videoabspielgerät von der Videodrome-Verschwörung programmiert wird. (Abb. 69) Der Schlachtruf der Gegenverschwörung von Videodrome, der »Cathode Ray Mission«, die Renn von dem Einfluss der Videoprogrammierung befreit und ihn in das messianische, zu Fleisch gewordene »Living Video« verwandelt, beschreibt präzise das Programm der Filme Cronenbergs. »Long live the new flesh!« ist das Motto, mit dem Renn seine Taten kommentiert und religi-

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ös auflädt. Dieses »New Flesh« ist als eine Variation früherer Inkarnationen ein mit modernen Medien und Techniken auf monströse Weise verwachsener Körper: sexuell aufgeladen und tödlich, eine Erweiterung des Körpers jenseits der Grenze, die die Haut vorgibt, eine hybride Verbindung von technischen Medien und organischem Fleisch.

Abb. 69: Max Renns Videokassettenschacht Es sind die Bild gewordenen McLuhanschen Extensions of Man, die bei Cronenberg in Szene gesetzt werden, und McLuhan selbst ist in der Figur des Fernsehprofessors Brian O’Blivion erkennbar nachgezeichnet. Dieser existiert nur noch in Form von Videobändern und tritt deswegen bei Fernsehauftritten nur innerhalb eines Fernsehgeräts und damit selbst als lebendes Video auf. Die Sätze O’Blivions sind kaum verhüllte Thesen des kanadischen Medientheoretikers: The television screen has become the retina of the mind’s eye. That’s why I refuse to appear on television…except on television. Of course, O’Blivion is not the name I was born with. That’s my television name. […] The television screen is the retina of the mind’s eye. Therefore, the television screen is part of the physical structure of the brain […] Therefore: televison is reality … and reality is less than television.

Videodrome handelt ganz buchstäblich von dem direkten manipulativen Zugriff der Medien auf den menschlichen Geist und Körper. Zugespitzt handelt er von dem 1982 noch neuen Aufzeichnungs- und Abspielmedium »Video« und von der Welle von Porno- und Gewaltfilmen, die diesem Medium zum Erfolg verholfen, es aber auch früh in das Schussfeld von Kulturkritik und Medienpädagogik gebracht haben. Videodrome zeigt auf drastische Weise die Deformationen, die diese Kritik am Medium Video diagnostiziert, und besticht neben der Umsetzung der Medientheorie McLuhans durch die Totalität der Verschwörung, die durch die unmögliche Feststellbarkeit der verschiedenen Realitätsebenen hervorgerufen wird. Denn in Videodrome wird der Zuschauer durch den ausschließlich subjektiven und auf den Protagonisten zugeschnittenen Point of View ständig verunsichert und in seiner Wahrnehmung von Realität und Halluzination genauso gestört wie der Protagonist selbst. Auch Max Renn, die scheinbar einzige Konstante und damit das einzi-

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ge Identifikationsangebot des Films, changiert als programmierbarer Videorekorder rasend schnell zwischen den Fronten der Verschwörungen und wechselt dabei seine filmischen Masken als Detektiv, Opfer, Erlöser, Prophet oder Schurke. Ebenso wechselhaft sind die Positionen der verschiedenen sich bekämpfenden Verschwörungen, die letztlich nicht zu fixieren sind und in einer ständigen Verschiebung der Zeichen und Motive dem Film einen immer neuen Sinn verleihen. Das Verhältnis der verschiedenen Verschwörungen entspricht dabei genau dem ebenfalls nicht geklärten Verhältnis von Gehirntumor und Kathodenstrahl des Videodrome-Kanals. Es ist kein Ursprung der halluzinatorischen Bilder, die Renn sieht, auszumachen. So entlässt Videodrome den Zuschauer mit dem Selbstmord des Protagonisten, der diese Szene aber exakt einer bildlichen Anweisung aus dem Fernsehen entnimmt. Es bleibt unklar, wann die Halluzinationen oder Simulationen beginnen und aufhören. Es bleiben auch die Fragen nach der Aussage von Videodrome offen: ob es erstens eine Aufforderung zur Gewalt im Fernsehen und auf Video gebe, und ob man ihr zweitens dann bedingungslos Folge leisten müsse, denn, wie in Videodrome von dem Experten, dem Fernsehtechniker bemerkt wird: »Why would anyone watch a scum show like Videodrome?« Sobald das moderne und individuierte Subjekt also mit dem technischen Medium enggeführt wird, scheint sich für Cronenberg das Monströse der Buchstäblichkeit von rhetorischen Figuren als Bildsprache anzubieten. So erläutert McLuhan in einer Metaphorik der Zerstückelung eine Ausweitung und Entgrenzung des Körpers über seine von den natürlichen Sinnen und der Haut gegebenen Grenzen hinaus. Cronenberg setzt dies filmisch um. Das Technologische wie auch das Körperliche oder Organische bleiben bei Cronenberg weiterhin heterogene Räume und einander undurchsichtig. Beiden erscheint die Ordnung des anderen zunächst als die jeweils andere Vernunft, inkompatibel mit der eigenen Ordnung und deswegen unlesbar und inkommensurabel. Doch genau in diesem Widerspruch liegt die Möglichkeit einer Figur des Dritten in der Verschmelzung der beiden Räume zum Beispiel im Phantasma von der Mensch-Maschine oder dem Cyborg.

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2. Unlesbarkeit Das agonale Verhältnis von technischem Geist und scheinbar natürlich belassenem Körper scheint keinesfalls durch einen ökologischen Rechtskompromiss wie etwa einen Naturvertrag, den Michel Serres vorschlägt,37 oder durch eine postkoloniale Hybridität im Sinne eines positiv besetzten dritten Raums bei Homi Bhabha, auflösbar zu sein,38 sondern der wahrscheinliche Fall ist der Einer bösartigen Ökologie, wie es in einem Text von Jean Baudrillard heißt.39 In diesem Text geht es um die »Biosphäre II«, das Experiment einiger Wissenschaftler, die unter einer Glaskuppel mit der künstlich hergestellten Kopie der natürlichen Erdbedingungen (also der »Biosphäre I«) in vollständigem Gleichgewicht und Harmonie zu leben versuchen. Das Ziel des Experiments ist die Erforschung der Bedingungen zum Beispiel der Kolonisierung eines fremden Planeten. »Aber«, so Baudrillard, »zur Natur gehören auch Keime, Viren, das Chaos, Bakterien und Skorpione, die in Biosphäre II bezeichnenderweise eliminiert wurden«40. Auf deren Widerstand und Feindschaft wird aus guten Gründen verzichtet. Denn die Natur, wie auch das System der Dinge, die Tücke des Objekts, sabotieren die Entwicklung des Menschen, wo sie nur können. Deshalb kommt Baudrillard zu dem Ergebnis: »Man darf sich mit der Natur nicht versöhnen.«41 Gleiches gilt in den Filmen Cronenbergs für den menschlichen Körper. Der materielle Natur-Körper, das vermeintlich irreduzible Rest-Fleisch, schlägt, nachdem es einmal technisch stimuliert und animiert worden ist, unbarmherzig zurück. Es beginnt unkontrollierbar zu wuchernund, seine Umwelt zu infiltrieren und zu vernichten. Was am Ende dieser Schlacht triumphiert, ist allerdings nicht mehr der reine, unkontaminierte und natürliche Körper des Menschen, ein Sieg der Natur oder der ungehemmten Triebe, sondern ein sich in ständigem internen Widerstreit befindliches Amalgam aus dem kreatürlichen Imperativ des Körpers und seiner Triebe und der neuen domestizierenden Ordnung rationaler Wissenschaft und Technik. Diesen Körper noch zu identifizieren und zu klassifizieren, ist die vordringliche Aufgabe aller Biowissenschaften. Michel Foucaults Diagnose eines vollständig biopolitisch diskursivierten Körpers hat sich dabei im genetischen Diskurs in einem neuerlichen Logozentrismus des Codes materialisiert. Das hervorragende Kennzeichen dieses Diskurses ist die Verwendung der Schriftmetapher, wie sie gerade in der Beschreibung der menschlichen DNS, die geradezu aus einer Kette einer Viererbuchstabenkombination zu bestehen scheint, ihre Funktion als Metapher bei weitem übersteigt. The Fly übersetzt diesen biowissenschaftlichen Diskurs in eine Fusion auf der, wie es der Film formuliert, »genetisch-molekularen« Ebene. Der Film handelt dabei von der Eroberung des menschlichen Körpers durch einen technisch implementierten Fremdkörper: einer Stubenfliege. Erfasst und neu kombiniert werden die beiden Körper von einem Computer, der Körper zunächst zum Verschwinden bringen, analysieren und codieren und dann mit 37 Michel Serres: Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994. 38 Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 39 Jean Baudrillard: »Eine bösartige Ökologie/Die Unsterblichkeit«, in: Ders.: Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin 1994, S. 123-155. 40 Ebd., S. 128. 41 Ebd., S. 129.

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seiner Decodierung und Recodierung an einem anderen Ort verlustfrei neu zusammensetzen kann. Mit anderen Worten: Es geht um eine Maschine zur Teleportation von Körpern. The Fly handelt aber auch von der Überwindung von Dichotomien, die zunächst dialektisch anmuten, in der Synthese von Mensch und Fliege aber als stets dynamischer und keinesfalls harmonischer Verschiebungsprozess dargestellt werden, bis hin zur letzten tödlichen Synthese der Mensch-Fliege mit der Teleportationsmaschine selbst, die, wie man erfährt, eigentlich eine Lese- und Schreibmaschine ist und damit der Maschine in Franz Kafkas In der Strafkolonie (1919) nicht ganz unähnlich.

Abb. 70: Metamorphosen The Fly beginnt zunächst auf einer Wissenschaftsausstellung. Der Erfinder Seth Brundle trifft dort auf die Wissenschaftsjournalistin Veronica Quaife und lädt sie zu sich in sein Labor ein, das zugleich seine Wohnung ist. Während der Autofahrt zu dem Labor erfährt man, dass Brundle eine Phobie vor maschinellem Transport hat. Die Bewegung seines Körpers bereitet ihm Angst. Im Labor eröffnet er ihr seine Entdeckung der eiförmigen »Telepods«, mit denen die Teleportation durch Auflösung und Rekombination des Körpers möglich ist. Veronica macht einige Photographien und legt sie trotz der Bitte Brundles, das Geheimnis noch zu bewahren, ihrem Verleger Stathis Borans vor, der zugleich ihr ehemaliger Professor und ehemaliger Geliebter ist. Der Film entwickelt sich dann zu einer melodramatischen Dreiecks-Liebesund Eifersuchtsgeschichte, die von der Verfalls- und Mutationsgeschichte »Brundle-Flys« gekreuzt wird. Denn aus Verzweiflung über die Tatsache, dass es der Computer noch nicht geschafft hat, organisches Material richtig zusammenzusetzen, betrinkt Brundle sich eines abends, stellt die Videokamera auf und nimmt nach einigen Korrekturen, die dafür sorgen, dass der Computer die »Poesie des Fleisches« zu schätzen weiß, das Selbstexperiment des menschlichen Transports auf sich. Unglücklicherweise übersieht er die Fliege, die mit ihm in dem Pod ist und verschmilzt während der Teleportation mit ihrer DNS. Daraufhin beginnt Brundle sich zu verändern und einer Fliege immer ähnlicher zu werden. (Abb. 70) Zum Schluss scheint der sich immer schneller mutierenden Brundle-Fly nur eine Lösung anzubieten: Mit Hilfe eines dritten Raums, des

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dritten älteren Telepod-Prototyps, der noch im Labor steht, will er mit der Geliebten und dem ungeborenen Kind zu einer »ultimate family« verschmelzen und die Fliegenanteile ausmerzen. Borans kann diese Fusion nur knapp verhindern. Er schießt ein Loch in den dritten Telepod, und der Transportcomputer synthetisiert Brundle-Fly mit der Maschine. Zuletzt schießt Veronica dem neuen Metall-Fleisch-Wesen auf dessen Flehen hin mit einer Schrotflinte den Kopf weg und beendet damit die Metamorphose. Neben Kurt Neumanns Erstverfilmung von 1958 der Erzählung von George Langelaan (1957) ist ein wichtiger intertextueller Bezug für Cronenbergs Film Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1915). In diesem Text geht es um die plötzliche Transformation des Handlungsreisenden Gregor Samsa in ein »ungeheures Ungeziefer«, um die zunehmende Ausgrenzung durch seine Umwelt, vor allem durch seine Familie, bei der er wohnt, und um die Strategien Samsas, die störende falsche Materialität und Identität des Körpers zu beseitigen oder zumindest operabel und erträglich zu gestalten. Axel Hecker entwirft in seiner dekonstruktiv ausgeflaggten Lektüre der Verwandlung am Leitfaden des Motivs der Gewalt und des Körpers ein Modell der Verschiebung und der Vernichtung: »Jemand wacht morgens auf und stellt fest, daß er einen falschen Körper hat, daß sein Leib ohne Vorwarnung die Gestalt eines Monstrums angenommen hat.«42 Hecker liest den Text als eine Vernichtung des Körpers im Rahmen einer Auseinandersetzung mit einer idealistischen Tradition, die den Körper gegenüber dem Geist abwertet. Cronenbergs Monsterphantasie bedient sich – entlang dieses Gedankenganges – allerdings nicht des Topos’ der Metamorphose vom Körperaustausch, wie man ihn beispielsweise schon aus Ovids Metamorphosen kennt, sondern setzt den Körper genau im Prozess der Transformation in Szene. Dieser Verwandlungsprozess versetzt den Körper in einen permanenten Ausnahmezustand, und vergleichbar den Beispielen in Giorgio Agamben Homo sacer reduziert sich der bíos des Körpers, sein politisch-kultureller Aspekt, zunehmend auf seine zǀé, sein nacktes Leben, bis er nicht mehr von ihr zu unterscheiden ist: Paul Rabinow erzählt den Fall des Biologen Edward O. Wilson, der von dem Augenblick an, da er entdeckt hat, daß er an Leukämie erkrankt ist, beschließt, aus seinem Körper und aus seinem Leben ein Forschungs- und Experimentierlabor ohne Grenzen zu machen. Denn er ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich, die ethischen und rechtliche [sic!] Barrieren verschwinden, und die wissenschaftliche Forschung kann frei und restlos mit der Biographie zusammenfallen. Sein Körper ist nicht mehr privat, da er in ein Labor transformiert wurde; er ist auch nicht mehr öffentlich, denn nur als eigener Körper kann er die Grenzen überteten, welche die Moral und das Gesetz dem Experimentieren setzen. Experimental life ist die Wendung, 43 mit der Rabinow Wilsons Leben definiert. 42 Axel Hecker: An den Rändern des Lesbaren. Dekonstruktive Lektüren zu Franz Kafka, Wien 1998, S. 18. 43 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 194-195. Mit pointierten, herausgehobenen Stellen, die in ihrer Konstellation deutlich Aufmerksamkeit und vielleicht auch Schrecken erregen, sowie der thematischen Einspielung von Werwölfen und Mad Scientists nähert sich auch Agambens Buch zuweilen der Rhetorik einer Gothic Novel an.

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Dieser Prozess der Metamorphose produziert keinen »falschen Körper«, den Hecker bei Kafka identifiziert, sondern erschafft, angeregt durch die durchaus im Sinne Harold Blooms fehlerhafte Lektüre des Computers, etwas völlig Neues. Der neue Körper ist nicht mehr das Opfer fremder Mächte und damit die konsequente Fortsetzung von Entfremdung und Missbrauch wie der Körper Samsas, sondern er revoltiert gegen Sinn und Verstand als Formen hermeneutischer Interpretationspraxis. Er schließt dabei an Cronenbergs andere Filme wie Shivers, Rabid oder The Brood an und generiert mit der Bildung der neuen unkontrollierbaren Instanz auch eine neue unlesbare Ordnung an der Grenze der Klassifizierbarkeit selbst. So zeigt dieser Prozess auch den Prozess der Gattungsidentifzierung selbst. Er entspricht präzise der These Renate Lachmanns, die in der Phantastik eine Entfesselung des Textes von der Rhetorik vermutet.44 Rhetorik, die antike Redekunst, die auf Perspicuitas, also auf vollständige Verstehbarkeit ausgerichtet ist, muss sich gegen die Unverständlichkeit, die Obscuritas, unter der nach Lachmann die Gattung »Phantastik« fällt, zur Wehr setzen. In The Fly wird dieser rhetorische und anthropologische Konflikt in Szene gesetzt. Denn ständig wird in dem Film versucht, zu identifizieren, zu benennen, zu klassifizieren und mit Hilfe des Computers auf zellularer und molekularer Ebene den Körper beschreibbar und damit wissenschaftlich handhabbar zu machen. Der Körper als hybrider und metamorphotischer, immer im Prozess der Verwandlung begriffen, entzieht sich aber bis zuletzt jeder Definition. So ist der letzte Versuch von Brundle-Fly, mit dem Telepod und einem weiteren Menschen zu verschmelzen, nicht nur von dem Wunsch getragen, sich von den Insektenkomponenten zu befreien und zu reinigen, sondern er soll vor allem den unerträglichen Prozess der ständigen Identitätsverschiebung aufhalten und zu einem Zustand des Stillstands und der Klarheit führen. Die Reinheit, von der Brundle direkt nach seiner Teleportation und Verwandlung aufgrund seiner gesteigerten Muskelkraft und sexuellen Potenz enthusiastisch berichtet, ist die Reinheit der klaren Identität, der Les- und Zuschreibbarkeit. Das Unheimliche und Monströse ist das Unbestimmte, das Schmutzige und Polyphone, etwas, das kein Computer entziffern kann. So ist die Dichotomie von Reinheit und Schmutz eine, die im Laufe des Films zunehmend die Mise en Scène dominiert. Nach und nach überwiegt wie in Kafkas Verwandlung der Schmutzdiskurs des Fliegenhaften die Szenerie. Zum Schluss entspricht das ehemals sterile Labor des Systemanalytikers einer unüberschaubaren Müllhalde voller Essensreste, in der sich nur noch Fliegen aufhalten mögen. Die Unlesbarkeit von Brundle-Fly spiegelt die Lektüreversuche biopolitischer Ordnungsmächte wie Wissenschaft, Technik und Politik. In The Fly geht es deshalb unter anderem um die Visualisierung des gleitenden Signifikanten »Körper«, der die Schrecken der Unlesbarkeit demonstriert. Denn selbst der Computer, dem die Rolle des Meisterdecodierers und Überhermeneuten zukommt, kann er doch sogar die »poetry of flesh«, die Schrift des DNS-Codes mit dem Subtext des Lebendigen, lesen, kann Brundle-Fly ab einer bestimmten Stufe der Vewandlung nicht mehr identifizieren. Vor allem das Medium, das den Logos des Menschen nach Sokrates und Platon be-

44 Vgl. R. Lachmann: Erzählte Phantastik.

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stimmt, die Stimme, verliert ihren identifizierenden Charakter, weil sie kontaminiert und polyphon geworden ist. Die Stimmenerkennung des Computers gehorcht Brundle nicht mehr, und er muss ihn hernach manuell bedienen. (Abb. 71)

Abb. 71: Stimmenerkennung Das Thema der Unlesbarkeit wird in The Fly schon früh mit dem Satz, »The computer is giving us its interpretation of a steak«, vorweggenommen. Diese Interpretation des Computers, bevor er das Konzept, die »Poesie« des Lebens scheinbar erfasst hat, führt zu der Schaffung eines »synthetisch« schmeckenden Stückes Fleisch. Das vollkommen vom Computer erschaffene Fleisch schmeckt nicht und wird wieder ausgespuckt.45 Neben einer Aporie der logozentrischen Hermeneutik und vielleicht auch der Biowissenschaften kann Cronenbergs Remake The Fly deshalb gattungstheoretisch und filmhistorisch auch als eine Analyse und synthetische Rekombination, als eine entstellende Fehllektüre seines Vorläufers betrachtet werden. Denn Cronenberg inszeniert seine Interpretation des Films The Fly als ständigen Lese- und Analysevorgang und thematisiert daran selbstreferenziell das Problem der Lektüre oder Interpretation sowie der Synthese, die aus einem neuerlichen Versuch der Schöpfung aus dem gleichen ästhetischen Material besteht. Das Remake, die »Revisionary Narrative« (Harold Bloom), muss deshalb gleichsam synthetisch schmecken. Ein Aspekt deckt überdies noch eine Besonderheit des Remakes auf, die in die Lektüre des Originals dazwischen gemengt wurde. So gibt es in Cronenbergs The Fly eine Szene, die sehr deutlich auf den Horror der Analyse und auf die Brutalität von Lektüre hinweist und zugleich auf die Schattenseiten wissenschaftlicher Fehllektüre aufmerksam macht. Es geht um den fehlgeschlagen Transport des Pavians, der dabei von innen nach außen gekehrt wird. Zwischen The Fly aus dem Jahr 1958 und The Fly aus dem Jahr 1986 schiebt sich die neue so unlesbare wie unverdauliche Wundästhetik des

45 Abjekttheoretiker nach Julia Kristeva sähen hier bereits die Präfiguration des ultimativen Abjekts, des schmutzigen Hybridkörpers von Brundle-Fly, der zum Schluss seine Nahrung ausschließlich durch das Erbrechen Fleisch zersetzender Nahrungssäfte verflüssigt.

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Splatterfilms, der Körper mit Medien verschaltet, allein, um das Innere des Körpers auf blutigste Weise sichtbar zu machen.

3. Virtual Reality Wenn der Computer fähig ist, eine perfekte Illusion der äußeren Welt zu erschaffen, wie kann man dann noch echt von unecht unterscheiden? Diese Frage fand vor allem in den 1990er Jahren in Theorie, Literatur und Film ihren Niederschlag. Cronenbergs Filme Videodrome, Naked Lunch und eXistenZ spielen mit dieser Angst und verknüpfen sie mit dem Topos des Unbehagens an der Realität des eigenen Körpers. Die Literatur Philip K. Dicks46 und Hilary Putnams Gedankenexperiment zu den »Gehirnen im Tank«, denen die Umwelt nur vorgegaukelt wird,47 sind die erkenntnistheoretischen Blaupausen der Virtual Reality-Filme, die angesichts einer Computertechnologie, die digitale Bilder – auch im Medium Film – produziert, die keine Repräsentation von Realität mehr sind, den Verdacht auf eine neue epistemologische Ebene heben: Folgendes ist eine von Philosophen diskutierte Science-Fiction-Möglichkeit: Man stelle sich vor, ein Mensch (du kannst dir auch ausmachen, dass du selbst es bist) sei von einem bösen Wissenschaftler operiert worden. Das Gehirn dieser Person (dein Gehirn) ist aus dem Körper entfernt worden und in einen Tank mit einer Nährlösung, die das Gehirn am Leben erhält, gesteckt worden. Die Nervenenden sind mit einem superwissenschaftlichen Computer verbunden worden, der bewirkt, dass die Person, deren Gehirn es ist, der Täuschung unterliegt, alles verhalte sich völlig normal. Da scheinen Leute, Gegenstände, der Himmel usw. zu sein, doch in Wirklichkeit ist alles, was diese Person (du) erlebt, das Resultat elektronischer Impulse, die 48 vom Computer in die Nervenenden übergehen.

Das Ausmaß der Verschwörung in Videodrome, aber auch in Naked Lunch und eXistenZ, muss im Vergleich zu formal eher konventionellen Verschwörungsfilmen, wie Sydney Pollacks Three Days of the Condor (dt. Drei Tage des Condor, US 1975) oder Alan J. Pakulas All the President’s Men (dt. Die Unbestechlichen, US 1976) hervorgehoben werden. Denn Cronenbergs Verschwörungsfilme beziehen sich erstens auf den Verdacht einer Generalverschwörung, einer Vorstellung von der gesamten Welt als Simulation, und nehmen zweitens eine personale Erzählperspektive ein, die eine subjektive Perspektive radikal aus der Sicht des Protagonisten und damit im höchsten Grade »unzuverlässig« erzählt. In keinem dieser drei Filme lässt sich zu einem beliebigen Zeitpunkt sagen, auf welcher der imaginierten Realitätsebenen sich die Figuren befinden. Immer wieder werden die Figuren und damit auch der Zuschauer auf die labyrinthischen Verschleifungen dieser Realitätsoder Halluzinationsebenen zurückgeworfen. Dass der Verdacht an der Realität der Welt und das Unbehagen an der Realität des eigenen Körpers auf der Folie des alten Verschwörungsmotivs ge46 Vgl. Philip K. Dick: Der unmögliche Planet. Stories, München 2002 sowie Philip K. Dick: Ubik, München 2003. 47 Eine Vorstellung, der Putnam auf logische Weise zu widersprechen sucht. 48 Vgl. Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt am Main 1990, S. 15-40, hier S. 21.

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schieht, zeigen unter anderem die Special Agents von The Matrix, die als Suchprogramm-Schergen des buchstäblich unmenschlichen und unsichtbaren Machtsystems ikonographisch als die uniformen »Men in Black« ausgewiesen sind. Der Anführer, das Leitprogramm, bedient sich überdies des Durchschnittsnamens des »Jedermanns« Mr. Smith und ist damit eine semantische Leerstelle. Jeder ist Mr. Smith, und jeder kann zu Mr. Smith werden, wie es auf der visuellen Ebene die Morphing-Strategie von The Matrix aufzeigt. Die metallische High Tech-Ästhetik von Virtual Reality-Filmen wie The Matrix, Alex Proyas’ Dark City (US/AUS 1996) oder Josef Rusnaks The 13th Floor (US/D 1999) haben aber mit den Filmen von Cronenberg nur das Sujet gemein. Während Videodrome mit der Thematik der Videotechnik 1982 noch auf der Höhe der Technik war, sieht es in Naked Lunch und eXistenZ schon ganz anders aus: Cronenbergs Programm ist immer noch das Neue Fleisch, und inzwischen hat es die Welt der Maschine und des Anorganischen überwuchert. Die phantastischen Szenarien dieser beiden Filme verwandeln alles in Biomasse und bizarre Wetware. Naked Lunch und eXistenZ zeigen organische Fleischlandschaften, in denen technische Medien wie Schreibmaschinen, Telefone und Computerspielkonsolen aus »Neuem Fleisch« oder »Metafleisch« bestehen. (Abb. 72) Während Videodrome von den bewusstseins- und realitätsmanipulierenden Effekten der neuen Medien Fernsehen und Video handelt, setzt sich Naked Lunch auf eine geradezu nostalgische Weise mit dem veralteten Leitmedium der Gutenberg-Galaxis, dem Buch, speziell dem gleichnamigen Buch von William S. Borroughs und der Gattung der Autobiographie, auseinander. Naked Lunch scheint zunächst dabei Motive des Spionage- und Verschwörungsfilms anzunehmen. Aber die klassischen Requisiten eines Agenten- und Verschwörungsfilms sind nur noch Staffage und Genre-Camouflage. Denn die Tarnung der Spione in Naked Lunch, wie auch die HomosexuellenCamouflage des Protagonisten Bill Lee sowie die Crossed Gender-Camouflage der Figur des Dr. Benway, verweisen nur noch auf ihre simulatorische beziehungsweise auf ihre halluzinatorische Existenz. Denn die codierten Schriften und obskuren lebendigen Schreibmaschinen eröffnen allein noch den Weg zu exotischen Schauplätzen und Nicht-Orten wie »Interzone« und »Annexia«, Literatur- und Drogenwahnerfindungen. Diese hat ihre Präfigurationen nicht nur in den grotesken Höllenlandschaften von Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel sowie den Carceri von Piranesi, sondern sie rekurriert ebenso auf die anthropomorphen und zoemorphen Landschaftsbilder des 17. und 18. Jahrhunderts und verweist damit auf die Geschichte der optischen Verzerrung und Anamorphose und damit Gleichsetzung von Körper und Landschaft. Die im Virtual Reality-Film verschwundene organische Materialität des Körpers kehrt somit radikal in der Mise en Scène, der »metafleischlichen« Filmlandschaft von eXistenZ wieder. Der Film wird damit zur Bühne einer öffentlichen Autopsie. Die Seelenwanderung des Pärchens Allegra und Ted durch die verschiedenen Spielebenen von »eXistenZ« findet deshalb mit dem obligatorischen mythischen Seelenbegleiter, dem Psychopompos in Form ihres Hundes statt. Der Ausflug ins Innere ist ein Ausflug in die Unterwelt und eine Flucht, ein Exodus, vor den Projektionen nicht des Selbst, sondern vor den Projektionen der Mitspieler, ihren Avataren beziehungsweise Spielfiguren. Denn das Spiel findet in einer Kollektivpsyche statt, in der jedes Spiel mit dem Nervensystem eines jeden Spielers verbunden ist.

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Abb. 72: Metafleisch-Dinge Im Projekt der Filme Videodrome, Naked Lunch und eXistenZ besteht kein Interesse mehr, das Verlangen der Protagonisten und des Zuschauers nach der Echtheit der Realität aufrecht zu erhalten. Mit einer Struktur des Labyrinths werden die filmischen Realitäten so ineinander verschlungen, dass jedes Bemühen um Authentizität und Sinn sich in weiteren Verweisungszusammenhängen verliert. In eXistenZ werden diese Strukturen und ihr rekursiver Verweischarakter zum Hauptthema. Der Titel und der letzte Satz des Films, die Frage, ob man denn noch im Spiel sei, weisen somit deiktisch über den Rahmen hinaus: Die in eXistenZ präsentierte Simulationsmaschine »eXistenZtranCendenZ-eXistenZ«, die verschiedenen Spielebenen des Films, referieren auf die Simulationsmaschine Kino und damit die Simulationsmaschine Leben, die eigene banale und undurchsichtige Existenz.

Abb. 73: Das letzte Abendmahl Die Verkörperung von Metaphorik, die rhetorische Fleischwerdung von Geist und Raum, findet nicht zuletzt auch vor einem christlich-religiösen Hintergrund statt. So figurieren die Flüchtenden deutlich als Heilige Familie, die

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vor den Herodes-Aktionen der »Realisten« flüchtet. Die Kopplung mit dem lebendigen Gamepod ist ebenfalls ein deutliches Echo des Parasiten in Shivers, der die Menschen aus ihren zivilisatorischen Zwängen befreit. Der christliche und soteriologische Aspekt findet sich in der Bezeichnung des Computerspiels auf einer anderen Spielebene wieder: Dort geht es um das Spiel »tranCendenZ«, das genau wie »eXistenZ« in einer Kirche gespielt wird und von Menschen, die wie in einer Messe und im Aufbau von Leonardo da Vincis Abendmahl von Santa Maria delle Grazie in Mailand (1495-97) um ihren Erlöser sitzen und vor Verzückung erstarren. (Abb. 73) Die Funktion des zentralen Objekts im Film eXistenZ, des Gamepods »eXistenZ« oder »tranCendenZ«, ist letztlich die materialisierte Transsubstantiation, die Verwandlung nicht nur des Geistes der Spieler im Film, sondern selbstbezüglich auch des Films eXistenZ, in einen organisch anmutenden Körper. Emblematisch verkörpert es – entsprechend dem Medienstandard des Computers in der Turing-Galaxis, vollständig Cronenbergs Programm, Körper und Medien zu verschalten und das schöpferische Wort in Fleisch zu verwandeln: »I have to make the word be flesh.«

BIBLIOTHEKEN DER GEWALT. D E R S E R I A L K I L L E R -F I L M I. Vor-Schreiben und Nach-Lesen am Ende der Gutenberg-Galaxis Practice and theory must advance pari passu. People begin to see that something more goes to the composition of a fine murder than two blockheads to kill and be killed-a knife-a purse-and a dark lane. Design, gentlemen, grouping, light and shade, poetry, sentiment, are now deemed indispensable to attempts of this nature. […] To sketch the history of the art, and to examine its principles critically, now remains as a duty for the connoisseur, and for judges of quite another stamp from, his Majesty’s Judges of Assize. Thomas De Quincey

1. Vom Flaneur zum Detektiv Der Slasherfilm der 1980er Jahre und der »postmoderne« Serial Killer-Film der 1990er Jahre führen die Ästhetik und Erzählweise des Splatterfilms fort und unternehmen sichtbar die Anstrengung, den spektakulären Körper-Horror auf Wiederholung zu stellen. Überdies suchen sie die Explizitheit des KörperHorrors auf eine exzentrische Bahn zu verschieben, um statt der Gewalt etwas anderes in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. So wird das Skandalon der Wundästhetik zwar multipliziert, aber häufig hinter einem Schleier aus kulturell valorisierten Zeichen verborgen, der dazu eingesetzt wird, den Blick auf den Kultur und Sinn stiftenden Rahmen des Serienmords und damit letztlich auf die kulturelle Legitimierung des Serial Killer-Films zu richten. Besonderes Interesse gilt im Serial Killer-Film deshalb neben der Serialisierung von Gewalt zum einen den elektronischen Medien als Repräsentation des aktuellen Standes der Technik und zum anderen der bildenden Kunst und vor allem der Schrift, die als Insignien einer alteuropäischen Hochkultur in Erscheinung treten. Gemäß Günther Stockers These, dass in einer Zeit des Medienwechsels für »diejenigen, die sich intensiver mit Literatur beschäftigen, […] die Bibliothek heute ein romantischer Projektionsraum«1 ist, zeigt der Serial Killer-Film Schrift- und Medienkultur im Stadium einer finalen Transformation. Die Inszenierung alter Medien der Gutenberg-Galaxis ge1

Günther Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert, Würzburg 1997, S. 11.

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schieht deutlich als eine nostalgische Reaktion auf eine Herausforderung des Medienwechsels vom Film zum Computer. Alte und neue Medien treten deshalb im Serial Killer-Film in einer zuweilen apokalyptisch konnotierten Konfrontation gegeneinander an. Dieser Blick auf die Geschichte der Medien als eine Geschichte des Widerstreits wiederholt die Gesten Walter Benjamins in seinen Texten zur Großstadt, zur Flanerie und zum Film. Denn auch Benjamin wendet sich dem 19. Jahrhundert als dem Zeitalter des »Jüngstvergangenen« zu, um auf archäologische und detektivische Weise die Spuren der Widersprüche des 20. Jahrhunderts zu entziffern. Dazu stellt er den phantasmagorischen Blick des Flaneurs oder des Surrealisten in einen Zusammenhang mit den Schocks der Großstadt und des Kinos und schließt auf diese Weise das 20. mit dem 19. Jahrhundert über das Medium des Blicks kurz. Wie Benjamins PassagenWerk kann der Serial Killer-Film als Versuch des Innehaltens, der Entzifferung von Spuren und der Archivierung verstanden werden. Der Serial KillerFilm flankiert deshalb in der Aufbewahrung des Körper-Horrors, aber auch mit dem Versuch, im Rahmen der eigenen Gattungsgeschichte kulturelle und künstlerische Distinktion zu erlangen, eine neue Form von filmischem Geschichts- und Archivbewusstsein, das sich dann im New Gothic-Film in Form einer deutlichen Strategie der Zitation aus der Filmgeschichte des Horrorfilms entfaltet. An der Wiege des Serial Killer-Films steht die Stadt, ein Raum, der den Blick des Betrachters in unüberbrückbare Dichotomien aufspannt, verwirrt und zersplittert. Die Architektur der Großstadt gibt die Perspektiven vor, denen der Blick des Industriezeitalters folgen muss. Horizontale und Vertikale, Vogel- und Froschperspektive, Übersicht und labyrinthischer Schwindel auf Straßenhöhe formatieren die panoramatischen Blicke schreibender Vettern aus Eckfenstern genauso wie die stets zerstreuten Blicke der Passanten in den Straßen.2 Städtische Architektur zwischen Innen- und Außenraum, das hektische Treiben in den Straßen, aber auch die vorbeifliegende Landschaft aus einem Eisenbahnwaggon heraus sind wichtige Vorstufen des Blicks auf die Kinoleinwand. Eisenbahn, Stadt und Film sind von Anfang an aufeinander bezogen.3 Der Film ist aber auch als Fortsetzung des populären und seriellen Romans um 1900 zu begreifen und befasst sich wie jener intensiv mit den ineinander verschachtelten Phänomenen des Blicks, der Beschleunigung und der urbanen Mentalität, geformt und deformiert durch die dauerhafte Reizüberflutung der modernen Welt. Der Inszenierung des urbanen Raums und besonders der Straße als der Lebenswelt des modernen Menschen fällt in vielen Filmen besondere Bedeutung zu. Ganze Filmgenres definieren sich über die Bilderwelt der Großstadt – so der Film Noir, aber früh auch schon der Serial 2

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Vgl. Thomas Koebner: »Der Schock der Moderne. Die Stadt als Anti-Idylle im Kino der Weimarer Zeit«, in: Irmbert Schenk (Hg.): Dschungel Großstadt. Kino und Modernisierung, Marburg 1999, S. 67-82; Klaus Kreimeier: »Strukturen im Chaos. Wie Fritz Lang Ordnung in den Dschungel bringt«, in: I. Schenk (Hg): Dschungel Großstadt, S. 57-66 sowie Todd Herzog: »›Den Verbrecher erkennen.‹ Zur Geschichte der Kriminalistik«, in: Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln 2000, S. 51-77. Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000.

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Killer-Film, wie Alfred Hitchcocks Verfilmung (GB 1926)4 von Marie Belloc Lowndes’ Jack the Ripper-Roman The Lodger (1913) (Abb. 74) und Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931).

Abb. 74: Alfred Hitchcocks erster Serial Killer-Film Vor allem in der romantischen Literatur gibt es Vorarbeiten zu einem filmischen Blick, der nicht zufällig ein großstädtischer ist. Aktiviert wird dieser Blick häufig durch optische Medien, die fokussieren, verstärken und nicht selten den Betrachtern etwas vorgaukeln: Ludwig Tiecks Liebeszauber (1812), E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und Das öde Haus (1817) sowie Achim von Arnims Die Majoratsherren (1819). Walter Benjamin stellt in seinen Charles Baudelaire-Studien zwei paradigmatische Vertreter dieser protofilmischen Betrachtung von Großstadt gegenüber.5 In E.T.A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) wird eine Vogelperspektive aus dem Eckfenster eines romantischen Oberstübchen inszeniert, die einen erhabenen Panoramablick der beiden Vettern mit Leinwand und »Perspektiv« über den Berliner Gendarmenmarkt etabliert, der zunächst nur die amorphe »Volksmasse« und das Marktgewühl erkennt. Erst der zum Zoom verstärkte und begrenzte Blick durch das »Glas« erlaubt die physiognomische Ausdifferenzierung einzelner Figuren, die kunsthistorisch und mit viel Phantasie kontextualisiert werden. Die beiden Vettern benutzen die Stadt als Kulisse,

4

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Stadtgeschehen gibt es in The Lodger allerdings vor allem in der rasanten Exposition, die zunächst den Mordfund mit der Nachricht des »Avengers« in den Straßen, die erregte Masse und dann den Weg der Produktion und der Verbreitung der Nachricht vom Notieren und Telefonieren des Reporters über die Arbeit in der Zeitungsredaktion und Druckerei bis zur Auslieferung mit Autos und dem Straßenjungen auf der Straße zeigt, so dass die Nachricht wieder dort landet, wo kurz zuvor das Ereignis geschehen ist. Danach spielt der Film vorwiegend im Haus des »Mieters«. W. Benjamin: Charles Baudelaire, S. 33-65.

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als »Theaterwand«, um Vignetten über die farbig gekennzeichneten Personen zu erfinden. Diesem souveränen Blickdispositiv stellt Benjamin das London in Edgar Allan Poes The Man of the Crowd (1840) gegenüber. In dieser Erzählung taxiert der Protagonist zunächst von einem Straßencafé aus und geschützt durch eine rahmende Fensterscheibe physiognomisch die Masse auf den Straßen, um dann einem nicht kategorisierbaren Menschen in das Londoner Straßenlabyrinth zu folgen und in die Menge einzutauchen. Der nicht zu rationalisierende und damit unheimliche Fremde kann letztlich aber nicht identifiziert werden und wird darum als der »Mann der Menge« gedeutet. Gegenüber dieser gehetzten und aus der Figur des Flaneurs entwickelten Perspektive auf Straßenhöhe wertet Benjamin den erhabenen Blick Hoffmanns als den des distanzierten »Opernbesuchers« ab. Gegen die hermeneutisch kreative Phantasie der Vettern bei Hoffmann kann überdies die identische Anfangsund Schlussformel bei Poe für die Aporie eines verstehenden Beobachtens gelten: »Er lasst [sic!] sich nicht lesen.«6 Der Flaneur ist eine typische Figur der Großstadt des 19. Jahrhunderts und wird als solche vor allem in der Literatur inszeniert. Dieser Darstellung gemäß ist er ein Müßiggänger und ein ziellos durch die Stadt herumtreibender Citoyen. Der Flaneur betrachtet die Stadt als seine erweiterte Wohnung, als sein Interieur. Sein Zuhause sind die Straßen, die Passagen, die Schaufenster, die Menschenmenge und die Straßencafés. Den öffentlichen Plätzen zieht er die Rückseiten und Hinterhöfe, die verwinkelten Gassen und labyrinthisch verborgenen Orte der Stadt vor. Der Flaneur gerät während des Flanierens in einen wahren Straßenrausch und erfährt die alltägliche Stadt als eine ins Mythische reichende Phantasmagorie. Der Blick des Flaneurs ist dabei dem des Kindes ähnlich und sieht und entziffert wie im surrealistischen Traumerlebnis, der »profanen Erleuchtung« im Sprachgebrauch Benjamins, auf allegorische Weise geheime Botschaften und Zeichen in den Straßen und an den Häusern. Er denkt eher in kombinatorischen Möglichkeiten als in der positiven Wirklichkeit. Physiognomisch liest er sowohl menschliche Gesichter als auch Häuserfassaden und -architekturen. So wird ihm die ganze Stadt zum kulturell und mythisch beschrifteten Text, bis hin zur semantischen Valorisierung der Profanität von Werbebildern und -texten in Benjamins Einbahnstraße (1928). Beim Flanieren nimmt er mitunter mimetisch die mannigfaltigen Identitäten der Stadt selbst an und wird dem Beobachteten gleich. Der Flaneur ist eng mit der Figur des exzentrischen Dandys verwandt, des ästhetizistischen Schöngeists des Fin de Siècle, wie Beau Brummell, Charles Baudelaire, Sören Kierkegaard oder Oscar Wilde, und wird darin zu einer beliebten Gestalt der Literatur der Jahrhundertwende. Wie aber eine philosophische Auseinandersetzung mit dem »flanierenden Denken« erst mit der Krise der Stadt und den gebrochenen Formen des Flaneurs einsetzt, so scheint sich auch der Film mehr den modernen Metamorphosen des Flaneurs zuzuwenden, die als notwendige Reaktion einer Stadt im Verfall aufzutreten scheinen. Schon zu Poes »Röntgenbild einer Detektivgeschichte«7 behauptet Benjamin: »Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzunehmen, was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er 6 7

Im Original deutsch. Ebd., S. 46.

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gehört, genommen ward. Wurde sie ihm von London je gestellt, so gewiß nicht von dem, das bei Poe beschrieben ist.«8 »Der Flaneur ist ein Preisgegebener in der Menge.«9 Inmitten einer Explosion kapitalistischer Warenästhetik in den Kaufhäusern wird der Passant unweigerlich zum Konsumenten. Der einfühlende Blick des Flaneurs wird überreizt. Noch hat der Flaneur keinen Schutzpanzer vor den Lockungen und Reizen der Warenwelt entwickelt. Sein Blick ist noch nicht durchrationalisiert und, wie es Georg Simmel formuliert, er hat keine großstädtische »Blasiertheit«10 als Schockabwehr vor der Reizüberflutung des schönen Scheins der Waren ausgebildet. Reserviertheit, Indifferenz und Coolness sind andere Begriffe für diese an Warenästhetik und beschleunigter Modernisierung trainierte großstädtische Wahrung der Distanz, an der es dem Flaneur mangelt. Der Flaneur ist noch eine Figur der Langsamkeit und des mimetisch-einfühlenden und das heißt auch ungeschützten Blicks. Ergänzen kann man Benjamins Ausführungen zum Flaneur mit seiner Schrift über das Kino, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Denn gerade an diesem Ort von beschleunigter Wahrnehmung und trügerischem Schein, dort, wo die Montage zur Wirkung kommt und dort, wo Hollywoods Starsystem reüssiert, liegt die Möglichkeit der lebensnotwendigen Zerstreuung und rationalen Einschätzung der Großstadt. Siegfried Kracauer spricht angesichts der Berliner Kinos geradezu von einem »Kult der Zerstreuung«.11 Denn das Kino ist eine Wahrnehmungsschule der großstädtischen Blasiertheit, Indifferenz und Coolness und kann die ungefilterte Lust des Flaneurs am Auratischen in Zerstreuung umwandeln. So kann mit Benjamin ein medial-epistemologischer Wechsel des städtischen Blicks festgehalten werden: vom mythischen und mimetischen Blick des Flaneurs hin zu einem am Film trainierten, apparateförmigen und auch politisierbaren Blick der Distanz. Da aber innerhalb des Films das Sujet der Großstadt wiederum vornehmlich als Verfallsform existiert, als Sündenbabel, Großstadtdschungel und pathogener Raum, erscheinen als die beiden angemessenen Masken des Flaneurs in der ästhetischen Moderne der Kriminelle und sein Pendant, der Detektiv. Der Flaneur wandelt sich unter der einen Maske zum animalischen Verbrecher, zur Kreatur und zum Monster, das die Großstädte und das Geistesleben zu seinem Jagdrevier gemacht hat. Oder er verwandelt sich unter der zweiten Maske in den Jäger, der mit seinem flanierenden und kombinatorischen Scharfblick den Spuren des Ungeheuers folgt, um es zur Strecke zu bringen. Als Gegenstück zu James Fenimore Coopers Fährtensuchern in der amerikanischen Wildnis12 taucht deshalb der Spurensucher in der Großstadt auf. So wandelt sich der Flaneur in den Erzählungen Poes zum Detektiv. Das physiognomische und kombinatorische Vermögen des Flaneurs sowie sein 8 Ebd., S. 123. 9 Ebd., S. 53. 10 Vgl. Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. 1, Frankfurt am Main 1998, S. 116-131. 11 Siegfried Kracauer: »Kult der Zerstreuung (1926)«, in: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 311-317. 12 Vgl. James Fenimore Cooper: The Pioneers (1823), The Last of the Mohicans (1826), The Prairie (1827), The Red Rover (1827), The Pathfinder (1840) sowie The Deerslayer (1841).

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Denken in Möglichkeiten geraten bei seiner Figur Auguste Dupin zur Perfektion.13 Auf das viktorianische London übertragen, wird diese Figur zu Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes.14 Während aber dieser Detektivtypus noch Helfer und Laufburschen auf der Straße hat und damit häufig von seinem Heim aus souverän über ein Informationsnetz in der Stadt verfügt, bildet sich in der Detektivliteratur der 1930er Jahre, exemplarisch in den Romanen Dashiell Hammetts15 und Raymond Chandlers,16 sowie im Film Noir der 1940er Jahre, die Figur des »Streetwise« und »Hardboiled« Private Investigators heraus und damit ein Wesen der Straße, ein Spurensucher, der häufig von seinen eigenen Begehren und Schuldgefühlen getrieben wird. In den urbanen Gewaltfilmen der 1970er Jahre wandelt diese Figur sich zum Polizisten und Vigilanten als dem Lone Wolf der Großstadt. Man könnte diesen Typus auch den Stadtcholeriker nennen. Paradigmatisch dafür sind die Figuren in William Friedkins The French Connection (dt. Brennpunkt Brooklyn, US 1971), in Don Siegels Dirty Harry (US 1971), in Michael Winners Death Wish (dt. Ein Mann sieht rot, US 1974) und in Martin Scorseses Taxi Driver (US 1976). Sie bringen den Krieg aus Korea und vor allem aus dem vietnamesischen Dschungel in die Stadt und gehen mit der Schusswaffe gegen den Moloch Großstadt mit seiner unerträglichen Komplexität, Reizüberflutung und Kontingenz vor. Die Handfeuerwaffe ist dabei das ultimative Werkzeug zur Bereinigung und Vereinfachung. Sie schafft überschaubare Verhältnisse. Komplexe Probleme werden wie Abfall von der Straße gefegt. Autos und Revolver sind deshalb immer noch die Prothesen des modernen Western-Gunslingers, der sich damit vor der Unübersichtlichkeit des komplizierten Zivilisationsprozesses schützt. Eine moderne Version und ein paradigmatischer Fall für die Geschichte des Flaneurs in der Maske des Detektivs findet sich in Paul Austers Romantriptychon The New York Trilogy (1985). Die erste Geschichte City of Glass (1981) arbeitet mit verschiedenen Ebenen der Betrachtung von Stadt und verschmilzt adamitische und kabbalistische Sprachphilosophie mit Versatzstücken der Detektivgeschichte seit Poe. Es geht um komplizierte Doppelgängerkonstruktionen und vor allem um die Flanerie als ein nur scheinbar zielgerichtetes Wandern durch die Stadt, in der sich die Identität des Flaneurs zunehmend verliert. Held des Romans ist der Kriminalautor Daniel Quinn, der unter seinem Pseudonym William Wilson – ein Hinweis auf Poes gleichnamige Doppelgängergeschichte – über den Privatdetektiv Max Work schreibt und sich nach einem Anruf als Privatdetektiv Paul Auster ausgibt, sich also die Maske des Detektivs aufsetzt. Paul Auster ist deshalb nicht nur der Autor des Romans, sondern taucht auch als Figur auf, als Schriftsteller, der Quinn weiterhilft, den der namenlose Erzähler aber zum Schluss anklagt, am Verschwinden Quinns Mitschuld zu tragen. Quinn bekommt seinen Auftrag aufgrund einer Verwechslung. Für einen Peter Stillman soll er dessen Vater, der ebenfalls Peter Stillman heißt, im Auge behalten, damit dieser ihn nicht umbringt. Der Vater wird nach langer Haft entlassen, nachdem er seinen Sohn jahrelang eingesperrt hat, um von ihm et13 Vgl. Edgar Allan Poe: The Murders in the Rue Morgue (1841), The Mystery of Marie Rogêt (1842) sowie The Purloined Letter (1844). 14 Vgl. Arthur Conan Doyle: A Study in Scarlet (1887), The Sign of the Four (1890), The Hound of the Baskervilles (1902) sowie The Valley of Fear (1915). 15 Vgl. Dashiell Hammett: The Maltese Falcon (1930). 16 Vgl. Raymond Chandler: The Big Sleep (1939).

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was über die Ursprache in Erfahrung zu bringen. Als Quinn am Bahnhof auf den Vater wartet, gibt es zwei identisch aussehende Stillmans, wie Quinn anhand eines Photos feststellen muss. Er folgt dem etwas verwahrlost aussehenden Stillman und stellt fest, dass dieser nicht nur weggeworfene Gegenstände sammelt, sondern auch bestimmte Wege durch New York nimmt, die Quinn mit einem Stadtplan als Buchstaben entziffert, die »The Tower of Babel« ergeben. Quinn wechselt während seiner Nachforschung mehrfach seine Masken und stellt sich Stillman unter verschiedenen Namen vor. Zunehmend verlässt er dabei die Grenzen der Detektivarbeit und wird zum Stalker, zu einem Wesen, das ruhelos und getrieben anderen Menschen nachschleicht und sie beobachtet. Quinn verfolgt Stillman Tag und Nacht und behält sein Hotel von einer Mülltonne aus im Blickfeld. So übersieht er auch, dass Stillman während seiner Observierung stirbt. Quinns Auftraggeber sind danach ebenfalls nicht mehr auffindbar, und seine Wohnung ist inzwischen anderweitig vermietet. Zum Schluss verliert Quinn sich vollständig in der für ihn zu einem Text gewordenen Stadt und wird selbst zum Text. Übrig bleibt allein sein rotes Notizbuch, das Paul Auster findet. Der Roman zeigt, wie schnell die Masken des Flaneurs wechseln können und dass hinter der Maske keine wahre Identität zu enthüllen ist, sondern ein Nichts lauert, eine verschwundene Identität, die aufgegangen ist im Gewebe der Stadt selbst, oder eben im Text, verloren in der Geschichte der Literatur. Wenn es noch einen Auftraggeber für das Stalking und Mapping von Quinn gibt, dann ist dieser in keiner einzelnen Person mehr ausfindig zu machen. Er muss in der Stadt New York oder im Text seines Tagebuchs gefunden werden.

2. Die Kreatur Das Gegenstück zur Flaneursmaske des Detektivs oder Großstadtjägers ist der Verbrecher, der sich schon in Poes Detektivgeschichte The Murders in the Rue Morgue (1841) als ein mordendes Tier entpuppt. Während aber von der zivilisierten Urbanität relativ unbeleckte Filmungeheuer wie Godzilla und King Kong oder auch Tarzan bei ihren Stadtausflügen noch ziemlich deutliche Spuren in der Großstadt hinterlassen, ist der Serial Killer ein unsichtbares Wesen und wird deswegen häufig als die Allegorie der Stadt selbst inszeniert. In Bernard Rosens nach einer Erzählung von Clive Barker gedrehtem Horrorfilm Candyman (US 1992) geht die detektivisch und ethnographisch arbeitende Protagonistin beispielsweise eine mimetische Verschmelzung mit der Urban Legend des serienmordenden Candymans ein, der zum mythischen Schwarzen Mann eines ganzen Stadtteils geworden ist, und wird zum Schluss selbst zu einem Teil des städtischen Mythos. Sie geht in ihrer Metamorphose völlig in der Stadt auf und ist damit in einer urbanen narrativen Endlosschleife gefangen. Mit den Begriffen »Kreatur«, »Triebtäter« und »Lustmörder« wird der Serienmörder in der Weimarer Republik bezeichnet.17 Benjamin beschreibt den Verfall des ehemals flanierenden Straßenwesens mit Metaphern und Vergleichen des Süchtigen, des Besessenen und des Tieres: »Ein Rausch 17 Vgl. Hania Siebenpfeiffer: »Kreatur und Kalter Killer. Der Lustmörder als Paradigma männlicher Gewalt in der Moderne«, in: Hanno Ehrlicher/Hania Siebenpfeiffer (Hg.): Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert, Köln 2002, S. 109-130.

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kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte […] immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke […] Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel.«18 Die Kreatur ist eine Übergangsfigur zwischen Tier und Maschine und präsentiert die schon bei Poe beschriebene Schattenseite und Verfallsform des Flaneurs, dessen Identität vollständig in der Stadt aufgeht. Helmut Lethen stellt dazu in seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen eine Typologie von Personae der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik vor. Innerhalb dieser Typologie gibt es die kalte Persona, die gemäß der Verhaltenslehren aus dem Handorakel Balthasar Graciáns die Sachlichkeit, Einfachheit und Maschinenhaftigkeit verkörpert: den »Radar-Typen«. Das Gegenbeispiel beschreibt Lethen am Typus der »Kreatur« mit dem »Fall Angerstein«, den Kracauer in seinem Artikel Tat ohne Täter (1925) darstellt.19 Die Kreatur ist für Lethen die »Kehrseite des modernen Bewusstseins«20. Sie ist das Bild des authentischen Leidens, des reinen Reflexes und der Todesangst. Kreaturen sind die Objekte des »kalten Blicks« behavioristischer Beobachtung. Es sind nach Lethen die Randexistenzen wie »Bettler, Huren und Waisenkinder« und auch die »Kriegskrüppel«, die den selbstmächtigen und affektkontrollierten kalten Personae die Zerschlagung des Spiegels vorhalten. Einer »mächtigen ikonographischen Tradition«21 entspringend, gelangt die Kreatur in die Moderne und ist in den 1920er Jahren ein wesentliches Element theologischer, psychoanalytischer und tierethologischer Diskurse. Das Bild der Kreatur dient zur Inszenierung der Zerschlagung der Persona, zur Entblößung und Desavouierung eines selbstmächtigen Ich hinter einer Maske. Häufig ist nach Lethen der Gerichtsprozess die Bühne, auf der die Maske der Selbstgewissheit zerschlagen wird und die Unzurechnungsfähigkeit einer »Kreatur« herausgestellt werden muss. So beim Fall Angerstein. Der Kaufmann und Kleinbürger Fritz Angerstein ist ein Serienmörder, dem 1925 der Prozess gemacht wird. 1924 hat er in einer »Orgie der Axthiebe und Stichverletzungen, begleitet von Exzessen der Unterschleife und der Brandstiftung«,22 in einem »Amoklauf mit Hirschfänger und Beil«23 seine Frau und »unbeteiligte Schädeldecken« zerschlagen. Kracauers These zu diesem Fall besagt eine absolute Disparatheit und Unüberbrückbarkeit zwischen der Gewalttat und dem unauffälligen und nichtssagenden Täter. Lethen hält fest: In der Kreatur hat die psychoanalytische Kategorie des ›Es‹ ihre Maske gefunden; eine Maske jenseits der persona, die im Käfig sozialer Kategorien wie »Kleinbürger«, »Vorgesetzter« etc. befangen bleibt und deren bürgerlicher Titel des »Handlungsbevollmächtigten« ein letztes Mal die Illusion des zurechnungsfähigen Sub-

18 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften V, 1 und 2. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1998, S. 525. 19 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 256-262. 20 Ebd., S. 244. 21 Ebd., S. 256. 22 Siegfried Kracauer: Tat ohne Täter. Zitiert nach: H. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 257. 23 Ebd., S. 259.

BIBLIOTHEKEN DER GEWALT. DER SERIAL KILLER-FILM|223 jekts beschwört. Der Prozeß enthüllt ein nicht mehr zu überbrückendes Mißverhält24 nis zwischen der Person und ihrer Handlung.

Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt man bei anderen Serienmördern, wie Fritz Haarmann, Peter Kürten oder Jürgen Bartsch. Aber auch die USamerikanischen Serienmörder stehen als Person weit hinter ihrer Tat zurück. Prominente Medienfiguren wie Charles Manson oder Jeffrey Dahmer scheinen die Ausnahme zu bilden. Aber auch bei ihnen hat das nicht lokalisierbare monströse Programm der Gewalt ganz Besitz zum Beispiel von der MedienPersona »Charles Manson«, der phantasmatischen Figur mit dem Hakenkreuz auf der Stirn, ergriffen.25 Paradigmatisch für eine Verfilmung des Serienmörders als Kreatur ist M – Eine Stadt sucht einen Mörder. (Abb. 75) Fritz Langs Film illustriert oberflächlich das Modell des Triebtäters. Verschoben wird es im Laufe des Films allerdings auf die Großstadt, die Kultur und die Warenästhetik. Der Mörder als Kreatur, als Sklave einer fremden Macht, die ihm befiehlt, zu töten, ist ein Flaneur, ein letzter Getriebener durch die Großstadt. Wie Thomas Düllo in Zufall und Melancholie treffend beschreibt, ist der namenlose Mörder in M der letzte Flaneur, der in einer von Warenlogik und Rationalität beherrschten Stadt mit den dargebotenen Konsumreizen nicht umzugehen vermag und sein Verlangen deshalb verschiebt und umlenkt, die ihm aufgedrängte Konsumlogik auf seine Opfer projiziert. Der Trieb des Mörders wird hiernach eben nicht als Ergebnis einer pathologischen Einzelpsyche, eines entfesseltem psychoanalytischen »Es«, sondern als eines von Kultur, Ökonomie und beschleunigter und modernisierter Gesellschaft überreizten Bewusstseins verstanden. Seine unerfüllte Lust hetzt den Mörder durch die Straßen. Es jagt ihn als imaginärer Doppelgänger durch die Stadt, wie in dem Schlusswort des Mörders deutlich wird: »Immer muß ich durch die Straßen gehen und immer spür ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber! Manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe! Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! Muss, muss den Weg gehen, den es mich jagt!« Nur in der plötzlichen Übersprungshandlung, dem Ausleben seiner unterdrückten Wünsche, dem Töten kleiner Mädchen, findet der Mörder für kurze Zeit Ruhe. Als Schlüsselszene des Films benennt Düllo sinnfällig die Schaufenstersequenz, in der mit einer Überblende die Verschiebung des Verlangens visualisiert wird: von den Waren im Schaufenster gespiegelt hin zum Fokus auf das kleine Mädchen.26

24 H. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 257. 25 Martin Büsser, der sich klassisch psychoanalytisch für die Figuren und auch die Regisseure interessiert, versucht noch ein sozialpsychologisches Modell auf das Phänomen des Serial Killers als »ästhetisches Sujet« anzuwenden, muss aber an den Programmen der Texte und Filme, die er verhandelt, notwendig scheitern. Vgl. Martin Büsser: Lustmord – Mordlust. Das Sexualverbrechen als ästhetisches Sujet im zwanzigsten Jahrhundert, Mainz 2000, hier S. 150-162. 26 Vgl. Thomas Düllo: Zufall und Melancholie. Untersuchungen zur Kontingenzsemantik in Texten von Joseph Roth, Münster 1994, S. 296-300.

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Abb. 75: Der letzte Flaneur als Kreatur der Großstadt Durch die begradigten Straßenschluchten der Großstadt bewegt sich der versprengte Flaneur, das letzte chaotische Element in einer durchorganisierten und von Warenlogik beherrschten urbanen Lebenswelt. In der Stadt der instrumentellen Rationalität erfährt der Flaneur seine letzte Metamorphose. Er wird zum Serienmörder, einer Figur von perverser ökonomischer Ausrichtung, die auf der ewigen Suche nach Beute und Erlösung getrieben wird. So ist der Flaneur in M eine Figur des 19. Jahrhunderts, die nicht mit den rationalen Blick- und Ordnungsstrukturen der Stadt des 20. Jahrhunderts übereinkommt und zur Kreatur wird. Wie der erweiterte Titel Eine Stadt sucht einen Mörder verrät, ist die Stadt auch der eigentliche Hauptakteur des Films. Der Mörder agiert nur als Katalysator zwischen zwei sich gegenüberstehenden Mächten. Staatsmacht und Unterwelt der Stadt werden deshalb häufig parallel montiert und bilden die beiden konstituierenden komplementären Gewalten der Großstadt, die eindeutig als Berlin gekennzeichnet ist.

3. Slash. Teen-Horror Vor allem am Sujet des Serial Killers bildet sich in der Nachfolge des Splatterfilms und des Teenagerfilms das Mix-Genre des Teenager-Horror- oder Slasherfilms heraus. Die Kombination aus den seit den 1950er Jahren populären Teenagerfilmen wie Nicholas Rays Rebel without a Cause (dt. … denn sie wissen nicht, was sie tun, US 1955) und dem Serial Killer-Film rückt dabei zunehmend von der Großstadt ab und in die Vorstädte der Americana hinein. Das Setting entspricht zunächst einem Norman Rockwell- und Walt Disney-Phantasma, einem unschuldigen 1950er Jahre-Amerika, um dann aufzudecken, dass das Leben der Teenager nicht mehr den Regeln dieses mythischen Zeitalters entspricht. Teenager sind nicht unschuldig, freundlich und hilfsbereit und verrichten selbstlos Babysitting-Dienste in der Nach-

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barschaft. Sondern sie feiern, trinken Alkohol und haben Sex. Dagegen geht der Protagonist des Slasherfilms an, ein maskierter und gesichtsloser Serienmörder, der als Stalker zunächst die Teenager beobachtet und verfolgt, um dann einen nach dem anderen zumeist mit Haushaltsgegenständen, häufig mit einem großen Küchenmesser, für ihre moralischen Übertretungen zu bestrafen. Das Sujet des Serial Killings bietet sich gerade für die narrative Tendenz des Splatterfilms zur Nummern-Revue an, die Struktur des Erzählfilms zu verlassen und zunehmend episodisch die Set Pieces der Bluttaten ins Auge zu fassen.

Abb. 76: Mit Halloween-Maske und Küchenmesser Die Mischung aus Teenager- und Horrorfilm beginnt 1978 mit John Carpenters Halloween (Abb. 76) und erhält mit Wes Cravens A Nightmare on Elm Street 1984 (Abb. 77) einen weiteren Popularitätsschub. Eine Renaissance erfolgt nach der Wiedereinführung des Serial Killer-Themas in The Silence of the Lambs durch die dreiteilige Scream-Serie von Craven mit dem auf Teenager-Stoffe spezialisierten Drehbuchautor Kevin Williamson. Diese drei Filme sorgen nicht nur für eine Wiederaufnahme des Sequel- beziehungsweise Serienfilmens der Slasherfilme aus den 1980er Jahren, sondern auch für eine umfassende Wiederbelebung des Teenager-Films. Vor allem der hohe Grad an komischer Thematisierung der eigenen starren Genreregeln, die sich mit höheren Fortsetzungszahlen der Filmserien weiter verfestigen, vielen InsideJokes aus der Horrorfilmgeschichte und weniger der Einsatz von Grusel- und Schreckmomenten sind für den Erfolg der Scream-Reihe und ihrer Epigonen wie I Know What You Did Last Summer (dt. Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast, US 1997), Urban Legend (US 1998), Valentine (dt. Schrei wenn du kannst, US 2001) oder Final Destination (US 2000) verantwortlich. Neben einer Reihe neuer Teenager-Horrorfilme kommen die drei Großerzählungen A Nightmare on Elm Street mit Wes Craven’s New Nightmare: The Real Story (dt. Freddy’s New Nightmare, US 1994) inzwischen auf sieben, Halloween mit Halloween: Resurrection (US 2002) auf acht und die Friday the 13th-Serie (dt. Freitag der 13., seit 1980) mit Jason X (US 2002) auf zehn fortgesetzte Filme. Mit Ronny Yus Freddy vs. Jason (US 2003) findet das von Fans lang erwartete Crossover und damit Folge acht der Nightmare- und Folge elf der Friday the 13th-Serie mit einem Duell der beiden Slasher-Monster Freddy Krueger und Jason Vorhees statt.27 (Abb. 78) 27 Um präzise zu sein und Einwänden vorzubeugen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass im ersten Teil der Serie Friday the 13th (dt. Freitag der 13., US 1980) nicht Jason Vorhees, sondern seine Mutter die Morde begeht, und dass

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Abb. 77: Freddy Kruegers Klingenhandschuh Die Formel, die Vera Dika in Games of Terror für den Slasherfilm festlegt, ist schon im Gründungstext Halloween angelegt, der wiederum deutlich von Hitchcocks Psycho zehrt.28 Halloween beginnt 1963 in Haddonfield, Illinois, am Halloween-Abend. Aus einer subjektiven Kamera sieht der Zuschauer zunächst ein jugendliches Pärchen auf einem Sofa. Der Blick wandert durch das Haus, und ein Arm greift sich ein großes Küchenmesser aus einer Schublade. Erst nachdem der kleine Junge Michael Myers seine ältere Schwester Judy, die sich offensichtlich um ihn kümmern sollte, erstochen hat, sieht man ihn vor dem Haus in einem Clownskostüm stehen. Fünfzehn Jahre später entflieht der in eine Heilanstalt eingewiesene Michael seinen Wächtern und kehrt nach Haddonfield zurück, um Teenager, die ihre Babysitting-Pflichten vernachlässigen und lieber auf Partys gehen, zu erstechen. Allein das Final Girl Laurie, das stets seine Pflichten erfüllt und keine sexuelle Beziehung hat, kann ihm entkommen und ihn mit Dr. Loomis, der Myers seit seinem Ausbruch verfolgt, stellen und überwinden. Myers wird angeschossen und fällt aus einem Fenster. Ein kontrollierender Blick der beiden stellt aber zum Schluss des Films fest, dass der Leichnam fehlt.

1980) nicht Jason Vorhees, sondern seine Mutter die Morde begeht, und dass Halloween III: Season of the Witch (dt. Halloween III: Die Nacht der Entscheidung, US 1982) nicht von dem maskierten Serienmörder Michael Myers handelt. Der erste Punkt wird überdies zur entscheidenden Frage in dem MetaTeenager-Slasherfilm Scream: Weil ein Mädchen im Eingang des Films diese Frage dem Mörder, einem Splatter- und Slasher-Dandy par excellence, am Telefon falsch beantwortet, tötet dieser ihren Freund vor ihren Augen mit einem ausweidenden Bauchschnitt. 28 Vgl. Vera Dika: Games of Terror. Halloween, Friday the 13th, and the Films of the Stalker Cycle, London, Toronto 1990.

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Abb. 78: Freddy vs. Jason An der Figur des Slashers, der sich vom menschlichen Stalker in ein phantastisches und unsterbliches serienmordendes Monster verwandelt, ist wie in vielen Horrorfilmen seine Maske zentral. Sie ersetzt im Slasherfilm vollkommen die individuelle Identität des Mörders. In Halloween wird im Laufe des Films und weiter in der Serie der identifizierbare Slasher Myers, der schon als Kind seine Schwester hinter einer Maske ersticht, nach den Worten seines Arztes Dr. Loomis zunehmend das maskierte Antlitz des personifizierten Bösen. Er ist unsterblich und bis auf kurze Augenblicke nie ohne seine weiße Halloween-Maske zu sehen. Wie die Eishockey-Maske des Slashers Jason Vorhees in der Serie Friday the 13th und das verbrannte Gesicht unter dem schwarzen Schlapphut von Freddy Krueger in der A Nightmare on Elm Street-Serie bietet sich das »individuelle Allgemeine«,29 die Identitätslosigkeit der Monster, für verschiedene Lesarten an und erweist sich damit wie die Zombies in Romeros Filmen als eine weitere filmische Inszenierung der rhetorischen Figur der Prosopopöie, der Figur des »Gesicht-Gebens« bei Paul die Man. In der Scream-Serie wird die Maskerade noch weiter getrieben, wenn die nach Edvard Munchs Gemälde Der Schrei gestaltete Maske des Slashers im ersten Teil dazu dient, den Mörder zu multiplizieren, und in den beiden Fortsetzungen auch die große Masse der Opfer mit einbezieht. (Abb. 79) So beginnt Scream 2 mit der Kinovorstellung von »Stab«, der Verfilmung der Geschichte von Scream. Als Gimmick zur Kinopremiere erhalten alle Zuschauer Maske, Umhang und Messer des Mörders ausgehändigt, so dass der Mörder sich allein durch die Echtheit seines Mordwerkzeugs und wie er es nutzt von den Opfern unterscheidet. Hinter allen Masken aber, so behaupten es die Mörder und alle drei Scream-Filme selbst, stecken keine Individuen, sondern allein noch das Tötungsprogramm und damit das Archiv des Horror- und Serial Killer-Films. Am Slasherfilm ist neben der Serialität der Morde vor allem die Kameraarbeit bemerkenswert, die zur Markierung von Opfer und Täter eingesetzt wird, indem sie mit radikal subjektiven Points of View arbeitet. Der Täter bleibt dabei nicht nur im Dunkeln, sondern ist häufig buchstäblich unsichtbar und damit beinahe eine extradiegetische Größe: »The single most distinguishing characteristic of the stalker film is the representation of the killer as an 29 Vgl. M. Frank: Das individuelle Allgemeine. Dagegen F. Kittler: Eine Doppelgängergeschichte.

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off-screen entity, one knowable only by a distinctive set of visual and aural markers.«30 So kann Laurie als Einzige den Blick des Killers in Halloween erwidern und ihn sehen. Markiert wird dadurch schon früh im Film, dass sie nicht zum Opfer seines Blicks wird. Die obligatorisch Rolle des »Final Girl« im Slasherfilm ist also abhängig von der Blickkonstruktion zwischen Mörder und Opfer. Auch Dika macht die entscheidende Markierung des Genres am Blick des Killers fest, der nicht erwidert wird. Der Stalker oder Slasher entspringt durch seine Gesichtslosigkeit und damit durch den Mangel an Repräsentation im Film auch der anonymen Masse. Letztlich legt der Slasherfilm sogar nahe, dass der Blick des Killers der verlängerte Blick des Zuschauers ist. Verknüpft mit der puritanischen Gesinnung und der konsequenten Exekutionslogik des Slashers wird der Betrachter eines Slasherfilms immer selbst zum Monster oder zumindest zum Augenzeugen und Komplizen. Wie es in M nicht allein um die Psychopathologie eines Einzeltriebtäters geht, sondern ebenso auch um eine spezifische Inkarnation der Großstadt und die Beschleunigung der Wahrnehmung im Wechsel zur Moderne, ist der Slasher im Teenager-Horrorfilm die Personifikation und die Maske eines reaktionären Überwachungssystems. Er ist das ausführende Organ und der Agent, die »invisible hand« des Systems, das hinter einer Apparatur, sei sie technisch oder gesellschaftlich, steht. An der Kameraführung im Slasherfilm zeigen sich am einsichtigsten auch die Beobachtungen Carol Clovers in Men, Women, and Chain Saws, die sie in Korrektur an den in der feministisch geprägten Betrachtertheorie axiomatisch geronnenen Einsichten Laura Mulveys vornimmt.31 Denn das vermutete vorwiegend jugendliche und männliche Publikum von Slasherfilmen32 sympathisiert in der Betrachtung Clovers nicht auf sadistische Weise mit dem Mörder, wie es die subjektive Kameraperspektive suggerieren könnte, sondern stellt sich auf die Seite des – zumeist weiblichen – Opfers. So lädt vor allem die Figur des Final Girls zur Identifizierung des männlichen Zuschauers mit der häufig androgyn markierten Heldin ein, die durch ihre Unschuld und ihren Pragmatismus das Monster im Finale zu bezwingen vermag. Auf Steve Miners Film Halloween: H20 bezogen, den siebten Teil in der Halloween-Reihe, ergänzt und differenziert Drehli Robnik allerdings Clovers Beobachtung mit einer – unter Umständen vielleicht überspitzt dargestellten – Anekdote: Im Unterschied zu den drei vorigen »Halloween«-Filmen, die (vermutlich nicht nur hierzulande) ohne Umweg über den audiovisuellen Durchlauferhitzer namens Kino in Videotheken verwurstet wurden, startete »Halloween H20« in Wien in immerhin fünf Sälen, just einen Tag vor Halloween. […] Trotz der späten Beginnzeit war die Publikumspräsenz enorm – nicht nur in zahlenmäßiger Hinsicht. Gemeint ist Folgendes: Gegen Ende des Films, wenn Serienkiller Michael Myers seine von Jamie Lee Curtis gespielte Schwester mit gewohnter Hartnäckigkeit verfolgt, um sie aufzuschlitzen, versteckt sich die Flüchtende unter einem Tisch. Kurz darauf steigt Michael auf diesen Tisch und hält nach ihr Ausschau. Michael weiß nicht, daß Jamie unter ihm ist; Jamie weiß nicht, daß Michael über ihr ist; aber wir, das Publikum, 30 V. Dika: Games of Terror, S. 123. 31 Vgl. C. Clover: Men, Women, and Chain Saws. 32 Vgl. Ebd., S. 3-20.

BIBLIOTHEKEN DER GEWALT. DER SERIAL KILLER-FILM|229 wissen, daß Jamie unten und Michael oben ist. […] Hitchcocks klassisches Beispiel [für Suspense, A.M.] waren zwei Männer, die über Baseball plaudern, während unterm Tisch eine Zeitbombe tickt, so daß wir ihnen am liebsten zurufen möchten: »Don’t talk about baseball! There’s a bomb under the table!« Und so war es auch im Gartenbau-Kino; es wurde gerufen, und zwar zweifach: Eine Stimme im Saal rief 33 »Jamie! Auf dem Tisch!«, eine andere »Michael! Unterm Tisch!«.

Das Publikum wird in die Handlung des Films mit einbezogen. Der Slasherfilm verwandelt das Kino wieder in ein Kasperletheater zurück, einen interaktiven Medienverbund, in dem die Distanz des Publikums zur Diegese zugleich so groß geworden ist, dass es in einer dem Reflexionsgrad des aktuellen Slasherfilms angemessenen Weise den Film nur noch als Spektakel sieht und weder Opfer- noch Täterperspektive oder eben beide Positionen einzunehmen vermag. Die schon früh auf Fortsetzung und Serialität angelegten Filme, die damit ihre Binnenstruktur ökonomisch nach außen wenden, werden, so kann man beobachten, zunehmend reflexiver und operieren mit dem Wissen des Zuschauers um die vorhergegangenen Filme und damit um die Regeln des Genres. Zitathaftigkeit und Anspielungscharakter der Slasherfilme werden an eine professionalisierte Erwartungshaltung angepasst.

Abb. 79: Maske nach Edvard Munch Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist Cravens Scream-Reihe. Schon der erste Film ist eine Fortsetzung des gesamten Archivs des Slasherfilms, und er nimmt Bezug auf alle entscheidenden Momente dieses Genres. Die Serienmorde in Scream werden früh von den Figuren selbst – Täter wie Opfer – als Serienmorde eines Slasherfilms erfasst, und sie reagieren entsprechend. Die Figuren personifizieren inzwischen den wissenden Zuschauer und handeln den starren Regeln des Slasherfilmarchivs entsprechend. So bleibt neben dem steigenden Reflexionsgrad der Slasherfilme vor allem die Formel des »Numberings« weiter als konstituierendes Prinzip bestehen.

33 Vgl. Drehli Robnik: »Der Doppel-Slash. Halloween 1978 // 1998«, in: SKUG. o.H., Wien 1998, o. S.

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4. Patrick Bateman/Hannibal Lecter. Kunst und Konsum Filme wie Fritz Langs M oder Romuald Karmakars Der Totmacher (D 1995) beschreiben nicht die Monstrosität des Serienmörders, sondern die der Tat. In Ulli Lommels Zärtlichkeit der Wölfe (BRD 1973) kommt es nicht auf den Serienmord an, geht es doch um die Einbringung des aus den getöteten Jungen gewonnenen Frischfleisches in den ökonomischen Kreislauf der Nachbarschaft, von dem jeder profitiert, und von dem jeder weiß, wie er in Gang gehalten wird.34 In den 1980er Jahren wird der Umstand der Gesichtslosigkeit des Mörders durch die tatsächlichen Masken der Serial Killer in den Texas Chainsaw Massacre-, Halloween- und Friday the 13th-Filmen angedeutet. Im jüngsten Boom der Serial Killer-Filme, ausgelöst durch Scream, sind es entweder wieder die Masken oder noch weitergehende Identitätslöschungen, wie in David Finchers Se7en oder in Jon Amiels Copycat (dt. Copykill, US 1995). Die Tatsache, dass der Maskerade und nicht der Identität des Mörders die ganze Aufmerksamkeit zukommt, wird in Mary Harrons American Psycho (US 2000) und Ridley Scotts Hannibal (US 2001) deutlich ausgeführt. So beginnt Hannibal im Anschluss an das Geschehen von Jonathan Demmes The Silence of the Lambs gleich mit dem Verkauf von Souvenirs, Dingen, die der berühmte Serienmörder Hannibal Lecter während seiner Haft benutzt hat, und zeigt als Höhepunkt die inzwischen ikonisch gewordene Gesichtsmaske, die sein ehemaliger Wärter für 250.000 Dollar verkauft. In American Psycho ist es die kosmetische und transparente Kräutermaske Patrick Batemans, die ihm ebenfalls keine eigene Identität verleihen kann: Der Serienmörder ist das Unsichtbare inmitten einer Mediengesellschaft, die zwanghaft alles visualisieren muß. Er ist ein Medienereignis ersten Ranges, obwohl er sich der Mediatisierung perfekt entzieht. […] Der Serienkiller ist Opferpriester in der Ordnung der Medienkörper. Es ist das Wesen der Medien, lebloses Fleisch in Bewegung zu bringen; und es ist die Funktion des Serienkillers, das medial infizierte 35 Fleisch im Realen stillzulegen.

Die 1990er Jahre zeigen den Serial Killer entweder als vampirischen oder kannibalischen Konsumenten am Ende einer ökonomisch markierten Nahrungskette oder als postmodernen Künstler. Die neuerliche Erfolgsgeschichte dieses Sujets beginnt abseits des Teenager-Slasherfilms mit The Silence of the Lambs, der auf geschickte Weise das ehemalige B-Movie-Thema durch die Spaltung des Monsters in zwei Figuren für den Mainstream salonfähig macht. Die Aufteilung des Serienmörders in einen Vertreter der Hochkultur, der an die akzeptierte literarische Tradition des Horrorfilms bis hin zum frühen Vampirfilm der 1930er Jahre erinnert, und in den Vertreter einer verworfenen White Trash-Kultur, der die blutige Epoche des Splatterfilms der 1970er Jahre aufruft, verweist auch auf die Spaltung in der Erfolgsgeschichte des Horrorfilms selbst. Mit Hannibal Lec34 Ein ähnliches Konzept verfolgt auch Jean-Pierre Jeunets und Marc Caros Film Delicatessen (F 1991). 35 QRT (Markus Konradin Leiner): »Das kalte Fleisch des Bildschirms. Zur Interdependenz von medialer und symbolischer Gewalt«, in: Ders.: Tekknologic Tekknowledge Tekgnosis. Ein Theoriemix, Berlin 1999, S. 85-89, hier S. 87-88.

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ter nähert sich die Figur des Serial Killers wieder dem Übermenschlichen und Dämonischen früherer Horrorfilme an. Er erscheint als Sendbote eines jenseitigen Bösen. Denn Lecter befindet sich stets auf dem phantastischen Level eines seine Umgebung vollständig kontrollierenden Übermenschen oder Vampirs. Als Filmfigur gehört er damit der Epoche des klassischen Horrorfilms der 1930er bis 1960er Jahre an und entspricht der Typik eines Béla Lugosi oder Christopher Lee in ihren Dracula-Rollen. Die aus deutlich amerikanischer Perspektive zugeordneten Attribute alteuropäischer Hochkultur, wie die Ausübung und Rezeption des klassischen Kanons an Malerei, Literatur und Musik, ein ausgeprägter Differenzkonsum an Speisen und Getränken sowie ein ostentativ an Snobismus grenzender intellektueller Habitus unterstreichen das Bild des Vampirs beziehungsweise des Kannibalen der feinen Unterschiede. Lecter bleibt aber als Connaisseur der reine Konsument und muss seine monströse Exzessivität, seinen Kannibalismus, als reinen Konsum ausleben. Dass der im Keller wohnende und ausgegrenzte Serienmörder Jame Gumb, »Buffalo Bill«, der versucht, sich mittels der Haut anderer eine akzeptierte Identität zu schaffen, im Film abgestraft wird, während das kulturell valorisierte Gentleman-Monster Hannibal Lecter aufgrund seiner Bildung und seiner besseren Manieren straffrei ausgeht, kann als elitäre und reaktionäre Geste des Films, aber auch als reflexive Inszenierung des filmischen Genregedächtnisses gedeutet werden. (Abb. 80) Nach dem großen Erfolg von The Silence of the Lambs werden die anderen beiden Serial Killer-Romane von Thomas Harris36 um die Figur des Psychologen und Kannibalen Dr. Hannibal Lecter – Hannibal und Red Dragon (dt. Roter Drache, US 2002) verfilmt. Red Dragon ist schon das Remake der Erstverfilmung Manhunter (dt. Blutmond, Roter Drache) von Michael Mann aus dem Jahr 1986. Erfolgreich gruppieren sich Serial Killer-Filme wie Se7en oder Copycat, Gary Fleders Kiss the Girls (dt. … denn zum Küssen sind sie da, US 1997), Phillip Noyces The Bone Collector (dt. Der Knochenjäger, US 1999), Russell Mulcahys Resurrection (US 1999) und zahlreiche andere um das Sujet herum und führen die ehemals subalternen Splatter- und Slasherfilme mit den Mitteln des Thrillers fort. Die Mörder in diesen Filmen sind keine modernen und mordenden Fließbandarbeiter mehr, keine fordistisch arbeitenden und maskierten Slashermaschinen. Stattdessen stehen die Morde als Kunstwerke und die Archive, die die seriellen Mordprogramme in Gang setzen, im Zentrum der Filme. Die Räume der Serial Killer hängen seitdem immer voller Photos, Zeitungsausschnitten und Berichten über ihre Inspirationen und ihre Werke. Serial Killer sind fleißige Heimwerker, Sammler und Bricoleure. Häufig gibt es ein minuziös geführtes Tagebuch, in das der Serial Killer jeden noch so verräterischen Gedanken über seine Quellen niederschreibt. Zum entscheidenden Faktor im Kampf gegen den Killer wird zum Beispiel ein Tagebuch in Brett Ratners Red Dragon. (Abb. 81) Nur weil der FBI-Profiler William Graham das Buch des Killers und damit eine vollständig niedergeschriebene Autopsychoanalyse der Ängste und Traumatisierungen des Killers gelesen hat, kann er den Killer vor dem Mord an seiner Familie bewahren. In Red Dragon wird angenommen, dass das Buch fast verlustfrei den Gedanken- und 36 Vgl. Thomas Harris: Red Dragon (1981), The Silence of the Lambs (1988) sowie Hannibal (1999).

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Triebhaushalt des Killers aufnimmt und dass dieser damit sein Unbewusstes verschriftlicht und archiviert hat. Weil Graham weiß, wie der Mörder von seiner Großmutter sexuell missbraucht worden ist, kann er ihn durch die Wiederholung der verschriftlichten Geständnisse auf das Schnellste schocktherapieren, ihn von seinem Sohn weglocken und letztlich mit dem Rückhalt der funktionierenden Kleinfamilie – seine Frau übernimmt es, den Mörder endgültig zu töten – besiegen. Der Serial Killer der 1990er Jahre schlägt mit seinen zwanghaften Sammel-, Bastel- und Schreibaktivitäten auch eine Brücke zum romantischen Autor, der in der Nachfolge von Empfindsamkeit und Pietismus einem radikalen Schreibprogramm der Niederlegung seiner Gedanken und Gefühle verpflichtet ist. Detlef Kremer hat auf dieses Programm hingewiesen und zieht die Tagebucheintragungen von Novalis (Friedrich von Hardenberg) als Beleg heran. Im Journal 1797 sieht Novalis sich zum Beispiel genötigt, über seine »sinnlichen Regungen« exakt Buch zu führen. Fast jeden Tag muss er sich eingestehen: »Früh sinnliche Fantasieen.« Inmitten der hochabstrakten Schriftarbeit an Fichte, Hemsterhuis oder Kant melden sich körperliche oder imaginative Störquellen zu Wort, die zunächst noch ausgeschaltet werden können. Novalis versichert sich eines solchen Sieges schriftlich: »Dann ziemlich philosophisch« oder »Heute männlich und wohl«. Unter dem 24. April 1797 notiert er: »Meine Fantasie war zwar zu weilen ein wenig lüstern – doch war ich heute ziemlich gut.« Vier Wochen später, am 21. Mai, gerät die Disziplin stärker unter Druck: »Früh etwas aus Fichte extrahiert – ein wenig weit die Lüsternheit getrieben.« Immerhin schreibt er nicht, wie weit seine Lüsternheit die Schrift gestört hat. Am 9. Juni ist die Verlockung übermächtig geworden, und auch das muß Schrift werden: »Die lüsterne Fantasie des Morgens 37 veranlaßte Nachmittags eine Explosion.«

Offensichtlich müssen der Körper und seine Regungen unter bestimmten Bedingungen zu Schrift werden, und die Identität ist nur durch diese Verschriftlichung gesichert. Hygienische Selbstbeobachtung verbindet sich auf diese Weise mit einer modernen Ästhetik der Existenz. Das Leben wird erschrieben und damit zum Kunstwerk. Während im Splatterfilm der 1970er und 1980er Jahre der Killer noch als sadistischer Souverän die Körper der Opfer unter seriellen und ökonomischen Vorzeichen martert und tötet, wird im Serial Killer-Film der 1990er Jahre der Killer zum Künstler, und die Ökonomie des Tötens wird zur entscheidenden Grundlage seiner Existenz. Auch das Programm des Serial Killings gehorcht oberflächlich nicht mehr rein (trieb-)ökonomischen Gesetzen, sondern bezieht seine Inspiration aus Quellen, die, wie Kunstwerke auch, in der künstlerischen Verarbeitung kultureller Archive bestehen. So wechselt der Serial Killer-Film von der Betonung fordistischer Serialität zur Kunst, mithin zur Medienkunst über. Georg Seeßlen schreibt in seinem Band Thriller. Kino der Angst zum Serial Killer-Film:

37 Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens, Bodenheim bei Mainz 1998, S. 120.

BIBLIOTHEKEN DER GEWALT. DER SERIAL KILLER-FILM|233 Er [der Serienmörder, A.M.] richtet einen diskursiven Brei in der Welt der Gewalt an, berührt zugleich das Metaphysische des Bösen in einer Gesellschaft und das ungeheuerlich Triviale der physischen Präsenz von Gewalt. Das namenlos Böse kippt in ein beinahe surreal Ästhetisches um; Massenmord und Amoklauf sind gleichsam Kunstformen der Postmoderne […] Beide [Serienmörder und Amokläufer, A.M.] produzieren neben Leichen vor allem Medienbilder, und Filme über Serienkiller sind beinahe auch immer Filme über Medien, über ein seltsames Reich zwischen Fiktion 38 und Wirklichkeit.

Der große Erfolg der Filme um Hannibal Lecter hat das Sujet des Serial Killings nach Halloween und Psycho neu belebt und zugleich die exzessiven Körperbilder des Splatterfilms in den Mainstream des Hollywoodkinos erhoben. The Silence of the Lambs hat eine inzwischen unübersichtlich große Anzahl an Epigonen auf den Plan gerufen. Nachfolgefilme, wenn sie an die ästhetischen Standards und den ökonomischen Erfolg des Originals anknüpfen wollten, gingen zumeist, noch ganz im Sinne eines Projekts der Moderne, den Weg der Überbietung. So gibt es nach The Silence of the Lambs als Echo auf die Überbietungslogik des Splatterfilms der 1970er und 1980er Jahre einen Wettbewerb in der Darstellung der expliziten Gewalttätigkeit der Tötungsakte, in der Inszenierung von Grausamkeit und in der manieristischen Artifizialität des obskuren Masterplans des Mörders.

Abb. 80: Die Aufspaltung des Serial Killers Andere Wege, mit dem Sujet des Serial Killers umzugehen und damit auf die Vielfältigkeit der Figur hinzuweisen, zeigen Mary Harrons American Psycho und Tarsem Singhs The Cell (US 2000). Der serienmordende Außenseiter und Sonderling39 dient in diesen Filmen inzwischen nur noch als Vehikel beziehungsweise als Genre-Container für andere Projekte. In American Psycho, 38 Georg Seeßlen: Kino der Angst. Thriller, Marburg 1995, S. 239. 39 Zur Interpretation des Sonderlings als romantische Künstlergestalt zwischen Subjektivismus und objektiver beziehungsweise gesellschaftlicher Wirklichkeit vgl. Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung, Frankfurt am Main 1990.

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der Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Bret Easton Ellis, überwiegt der satirische Tonfall. Der Film bietet als Kostümfilm der 1980er Jahre ein entsprechendes Zeitkolorit und beginnt sinnfällig mit der satirischen Inszenierung eines Minimalgerichts der Nouvelle Cuisine, die schon auf die Fetischisierung der Oberfläche und die damit verbundene innere Leere des Protagonisten hindeutet.

Abb. 81: Das Archiv des Roten Drachen Wenn auf Patrick Batemans Bildschirm dann im Hintergrund zu seinen Sportübungen das Video von The Texas Chainsaw Massacre erscheint, in dem ein Kettensäge schwingender Leatherface auftritt, um Teenager zu zerlegen, und später im Film Bateman diese Geste imitiert, dann ist das nicht nur ein Kommentar zu Batemans mimetischen Fähigkeiten, die er aufgrund seiner oberflächlichen Nullidentität als Yuppie der 1980er Jahre besitzt und die im Film stets als Quelle der Komik ausgeschlachtet wird, sondern auch ein Hinweis darauf, dass der Serial Killer inzwischen zu einem relevanten kulturellen Diskurs geworden ist, der durchaus ein Identitäts- und Karriereangebot auch für den privilegierten US-Bürger darstellt.40 Bateman übernimmt in seinem verzweifelten Versuch, sich trotz affirmativer Oberflächlichkeit eine Identität zu schaffen, Vorlagen aus der kommerziellen Popmusik, aus der True Crime-Literatur und aus einer massiven Rezeption von Videos, Gewaltund Pornofilmen. Er bleibt dabei aber mimetisch im Gestischen, bleibt der Oberfläche verhaftet. Er wird nicht zum Leatherface, der seine Monstrosität durch eine zusammengenähte Frauenhautmaske nur zu unterstreichen braucht und seine Identität darauf festlegen kann, und er verwandelt sich schon gar nicht zum Ed Gein oder Ted Bundy, die er in der Romanvorlage mehrfach und bewundernd in Gesprächen mit seinen Kollegen einzubringen versucht. Bateman besitzt noch nicht einmal die Identität des Serial Killers, wie zum Schluss deutlich wird, da neben der Fortführung der Verwechslungen hinsichtlich der Person Batemans auch noch fraglich wird, ob er diese Morde wirklich begangen hat. Die einzigen Masken, die Bateman trägt, sind die einer abziehbaren

40 Zur Verschaltung von Kultur, Medien und True Crime vgl. Deborah Cameron/Elizabeth Frazer: The Lust to Kill. A Feminist Investigation of Sexual Murder, Oxford 1987; Philip Jenkins: The Social Construction of Social Homicide, New York 1994; M. Farin/H. Schmid (Hg.): Ed Gein; M. Seltzer: Wound Culture sowie M. Büsser: Lustmord – Mordlust.

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transparenten Gesichtskosmetik (Abb. 82) und die einer ebenfalls kosmetischen, die Augenlider beruhigenden Kühlmaske.

Abb. 82: Kräutermaske Während American Psycho das Thema der Oberflächlichkeit abzirkelt, scheint The Cell zunächst der psychoanalytischen Hybris zu erliegen und das tiefe und vielschichtige Innenleben des Serial Killers als pathogenen Raum visualisieren zu wollen. Aber schnell wird deutlich, dass der Film gar nicht davon handelt. Es geht in The Cell vielmehr um die Inszenierung von Tableaus selbst, um die filmische Aktivierung (und damit im Sinne Siegfried Kracauers auch um eine Archivierung und Rettung) der Kunstformen Malerei und Plastik beziehungsweise Installation. Der Film handelt von Tableaux Vivants, von »lebenden Bildern«, wie sie zum Beispiel auch in Goethes Wahlverwandtschaften (1809) auftauchen. Es geht vorrangig um die Animation als Reanimation statischer Bildkonfigurationen, die einen Gemäldekanon von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, zum Beispiel Damien Hirsts in Formaldehyd konservierte Tiere wie das Schaf in Away from the Flock (1994), als Archiv monströser und grausamer Visionen ausweisen. (Abb. 83) Der Thriller-Plot um das Aufspüren des Serial Killers und die Rettung seines noch versteckten Opfers geraten dabei zu Nebenhandlungen. Während aber die Psychologin in The Cell mit einer futuristischen Gedankenverschmelzungstechnik buchstäblich die Visionen des Serial Killers betrachten und sogar betreten kann, stehen seine Opfer wie selbstverständlich ebenfalls unter Beobachtung. Eine Monitorwand zeigt über mehrere Überwachungskameras regelmäßig an, wie der steigende Wasserstand in den Aquarien ist, in denen die Opfer des Serial Killers ertrinken sollen. Zu beobachten ist auch, dass in jüngeren Serial Killer-Filmen neben der Inszenierung von bildender Kunst und Schriftkultur deutlich die Darstellung des jeweiligen Medienstandards eine wichtige Rolle spielt. Während für The Silence of the Lambs noch der menschliche Körper als Medium gewalttätiger Einschreibung zentral ist und der Film damit an die blutige Materialität des aufgeschlitzten und zerstückelten Körpers im Splatterfilm erinnert, drängt sich in Fortsetzung der Blickpolitik des Teenager-Slasherfilms schon der männlich-patriarchalische Blick selbst ins Bild, mitunter mit seinen elektroni-

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schen Verstärkungen und Extensionen.41 Er spiegelt noch den von Laura Mulvey inkriminierten sadistischen und männlich-phallischen Blick des Zuschauers.42

Abb. 83: Im Geist des Serial Killers Die präzise Inszenierung des elektronisch gesteuerten und multiplizierten Blicks als buchstäbliche Wiedergabe medialer Prothesen, die zur Erweiterung und Auslagerung der selbstamputierten Sinne bei Marshall McLuhan dienen, liefert Philip Noyces Bone Collector. In diesem Film wird ein Experte der Spurensicherung bei einem Einsatz verletzt und bleibt in Reminiszenz an Alfred Hitchcocks Rear Window (dt. Das Fenster zum Hof, US 1954) gelähmt ans Bett gefesselt. Mittels audiovisueller Medien benutzt er eine Polizistin als Auge und Ohr am Tatort und steuert sie fern, um den Serial Killer zu schnappen, der sich selbstverständlich auf ein älteres Medium, ein Buch als Vorlage seiner Serienmorde, bezieht. In Jon Amiels Copycat wird dann vollends ein multimedialer Kommunikationsraum zum eigentlichen Zentrum des Films. Konzentriert sind die elektronischen Medien, Computer und Monitore, im hermetisch isolierten Appartement der agoraphobischen Psychologin und Profilerin Dr. Helen Hudson. Dieser Raum ist wiederum nur ein Appendix ihres Internet-Chatrooms, der ihren eigentlichen Fluchtraum darstellt. Die finale Konfrontation zwischen 41 Man denke an die blinde Frau, die Funktion des Filmprojektors und die Arbeit des Killers als Photoentwickler in Manhunter und Red Dragon sowie in The Silence of the Lambs an die blinde Clarice Starling im finalen Shootout und an die Männerblicke, die Starling den ganzen Film hindurch begleiten und verfolgen: von ihren FBI-Kollegen im Ausbildungszentrum Quantico und verschiedenen Passanten bis hin zu dem schielenden Entomologen und zuletzt dem Nachtsichtgerät des Mörders im Finale, einem Blick, der wie im Teenager-Slasherfilm mit dem Blick des Zuschauers gleichgesetzt wird. Vgl. Klaus Theweleit: »Sirenenschweigen, Polizistengesänge. Zu Jonathan Demmes ›Das Schweigen der Lämmer‹«. In: Robert Fischer/Peter Sloterdijk/Klaus Theweleit (Hg.): Bilder der Gewalt, München, Frankfurt am Main 1994, S. 35-68. 42 Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino (1975)«, in: F.-J. Albersmeier: Theorie des Films, S. 389-446.

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dem Copycat-Serial Killer und Hudson, die ihren nicht mehr sicheren Kommunikationskokon zum Schluss verlassen muss, findet deshalb sinnfällig im Schatten einer Parabolantenne auf dem Universitätsdach statt.43 In Hannibal stehen, wie in Bone Collector, Copycat und Carl Schenkels Knight Moves (dt. Knight Moves – Mörderisches Spiel, US/D 1992), ebenfalls audiovisuelle Medien und Computer im Vordergrund der Inszenierung. Gezeigt werden Mobiltelefone, Überwachungskamera- und Archivaufnahmen und vor allem das Internet, zum einen als Informationsraum, der die stets aktualisierten FBI-Steckbriefe parat hat, und zum anderen als Nachrichtenkanal zwischen den beiden Settings Italien und Neuengland. Die FBI-Agentin Clarice Starling in ihrem in kalten Blautönen gehaltenen Computerkeller steht dabei in deutlichem Kontrast zu dem in warmen Gelb- und Brauntönen gehaltenen Espresso-Florenz des Dandy-Flaneurs Hannibal Lecter, der einer alteuropäischen Bibliothekskultur zugeordnet ist. Auffällig ist der Wandel in der Repräsentation der elektronischen Medien in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren. Der Serial Killer-Film hält sich an mediale Standards: Während in Copycat 1995 noch die prothesenhafte Immobilität des Computerraums von Helen Hudson ihre Agoraphobie und damit ihre eigene Immobilität spiegelt, findet Kommunikation in Hannibal 2001 vorwiegend über Mobiltelefon und Laptop statt. Alle Figuren bleiben dadurch beweglich und können auch bei Verfolgungsjagden und wechselseitigen Beobachtungsaktionen miteinander kommunizieren. Ob als letzter Flaneur, als fordistischer Slasher, als vampirisch-kannibalischer Konsument oder als bibliophiler Gesamtkünstler, der Serial Killer ist eine Filmfigur, an der sich ein Remedium für den Verfall von Ordnungsstrukturen exemplifizieren lässt. Am deutlichsten wird das, wenn die metaphysische Ordnung ins Wanken gerät, wenn die Welt sich ihrem Ende nähert und wild gewordene neue Ordnungsstrukturen einer offenbarten Endzeit anstehen. Dann sorgt der Serial Killer für die Durchsetzung einer einfachen, linearen Ordnung der Liste und für den besinnenden Rückblick auf das kulturelle Archiv der Weltgeschichte. Statt vor der Katastrophe zu erstarren, nimmt er die Sache selbst in die Hand. Weder Erlöser noch Anti-Christ noch Katechon, sorgt er für die ordentliche Durchführung des Jüngsten Gerichts, indem er Sinn durch die Beseitigung alles Unsinnigen schafft. Das Sujet des Serial Killers zeigt den Film in seinem Status als Intermedium, das ein Interregnum zwischen der Gutenberg-Galaxis der Schrift und der Turing-Galaxis des Computers errichtet und mehr oder weniger offensichtlich schon mit den Mitteln des Computers die noch einmal erstrahlende spätromantische Ruine einer brüchig gewordenen Schriftkultur in einer Weise inszeniert, die man mit Fredric Jamesons Begriff des »Nostalgia Mode« oder der »Nostalgie-Welle«44 bezeichnen kann. Peter Greenaways Film Drowning by Numbers (dt. Verschwörung der Frauen, GB 1988) deutet es 43 Vgl. Steffen Hantke: »Mord im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: J. Felix (Hg.): Unter die Haut, S. 217-234. Zur Bedeutung von Bildung in Copycat vgl. Jochen Fritz: »How to Turn Murder into Art. Zitationelle Performanz von Identität in ›Copycat‹«, in: Alexandra Karentzos/Birgit Käufer/Katharina Sykora (Hg.): Körperproduktionen. Zur Artifizialität der Geschlechter, Marburg 2002, S. 195-205. 44 Vgl. Fredric Jameson: »Postmoderne – zur Logik der Kultur des Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45-102.

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an, aber vor allem die mit okkulter Semantik aufgeladenen Serial KillerFilme Angel Heart (US 1987) von Alan Parker, Jean-Jacques Annauds Der Name der Rose (Il nome della rose, Le nom de la rose, BRD/IT/F 1985/86), David Finchers Se7en und Roman Polanskis La Neuvieme Porte (La novena puerte, dt. Die neun Pforten, F/SPA 1999) zeigen die Doppelgesichtigkeit des abendländischen kulturellen Archivs angesichts der Medien-Apokalypse: Bildung als Buchkultur wird zwar als bewahrungswürdig und Sinn stiftend dargestellt, aber ebenso als die privilegierte Quelle von Gewalt.

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II. David Fincher. Se7en Überwältigt von der Macht nicht mehr der Musik, sondern der sie zum Gesamtkunstwerk ausweitenden medialen Konstruktion des heideggerschen »Gestells« könnten wir uns der totalen Vernetzungen nicht mehr erwehren, versänke die Welt von Prospero’s Books im medialen Meer der in ihnen gebannten Bilder – selbst wieder nur eine, die neueste Bücherfantasie. Seit deutsche Philologen wieder einmal des Bücherlesens überdrüssig geworden sind und sich, getreu dem in diesen Büchern aufbewahrten Wesen und Sonderweg, an eine neue Zeit- und Welterklärung machen, mussten sie zwangsläufig auf dieses letzte Nachbild ihrer selbst stoßen. Anselm Haverkamp

1. Dem Archiv verschrieben In David Finchers Serial Killer-Film Se7en aus dem Jahr 1995 verbindet sich die Poetik der diskreten Liste mit dem Countdown eines apokalyptischen Diskurses und führt am Sujet des Serienmordes eine Reflexion über Epochen aus, die durch ihre Leitmedien bestimmt werden. Alle Formulare des neueren Serial Killer-Films treffen auf den Film zu. Ein unbekannter Serienmörder in einer namenlosen Großstadt wird von zwei Polizisten gejagt. Der Mörder verfolgt mit seinen Taten einen bestimmten Plan. Die Detektive identifizieren das Muster der Morde und versuchen anhand der gelegten Spuren, die Identität des Täters festzustellen. Nebenbei hat das Polizeipaar William Somerset und David Mills – wie in einem Buddy Movie üblich – sich noch zusammenzuraufen und private Probleme zu regeln. Die Morde jagen Polizisten und Kinozuschauer in einem Wettlauf mit dem Serial Killer über genau abgemessene Spannungsbögen von einem blutigen Set Piece zum nächsten – bis zum überraschenden und schockierenden Schluss, in der sich die Wege von Mörder und Detektiv entlang der Mordliste zum letzten Mal kreuzen und offenbar wird, dass die Detektive von Anfang an Teil des Programms waren. Bis dahin herrscht, wie in einem Serial Killer-Film üblich, Zenons Paradoxon von Achilles und der Schildkröte, denn die Detektive sichern und interpretieren immer nur die Spuren, die der Täter für sie ausgelegt hat. An einer erhabenen Stelle in Se7en steht ein erratischer Block, eine mit dem Bildungswissen Alteuropas angereicherte Bibliothek. In einer Parallelmontage ausgeführt, ist diese Bibliothekssequenz das Scharnier für den kriminalistischen Einsatz des Denkens in der Handlung und dient zugleich der Gegenüberstellung der Methoden der beiden Detektive. Während der NichtLeser David Mills zuhause ratlos vor den Tatortphotos sitzt, um sich dann mit einem Bier in der Hand dem betäubenden Nullmedium Fernsehen zuzuwenden, konzentriert sich der Leser William Somerset in der Polizeibiblio-

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thek auf ein älteres Medium, den Bildungskanon in Buchform – genau wie der Serial Killer vor ihm.45 (Abb. 84) Während Mills nach Spuren der Identität des Mörders in den Photos sucht, forscht Somerset nach dem Hintergrund, nach dem tiefer liegenden Sinn der Morde. Das von Somerset vermutete Muster, die allegorische Realisierung der sieben Todsünden als Serienmord, wird während der Recherche auf diese Weise mit Sinn aufgeladen und erfährt seine kulturelle Legitimation. Musikalisch getragen wird die Bibliothekssequenz von Johann Sebastian Bachs bekannter Air aus seiner dritten Orchestersuite. So wird die Erhabenheit des Bibliothekswissens als Symbol für das Wissensarchiv des Abendlandes in die Wohnung Mills’ und letztlich in den Kinosaal übertragen. Denn die Tonspur ist zwar optisch im Film motiviert, sie kommt aus einem Radio oder Kassettenrecorder der Bibliothekswächter, aber es gibt keine Erklärung für die ätherische Diffusion der Sphärenklänge in alle Räume des Films.

Abb. 84: Nachschlagen in der Bibliothek John Miltons Paradise Lost (1667), die Parson’s Tale aus Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (1383ff.), ein Dictionary of Catholicism und Dante Alighieris Purgatory (Purgatorio) aus der Divine Comedy (Divina Commedia) (1320) – mit einem jeweils im Close Up herausgestellten Titelrücken in einer langen Buchreihe – bilden den christlich-literarischen Kern des im Film bildhaft gewordenen Archivs, aus dem Mörder wie Detektiv den Sinn und damit die Legitimation ihres Weltbildes und ihres Handelns schöpfen. In Großaufnahme notiert Somerset sie auf einer Liste. Der Film wird hernach durch Akte des Lesens (William Somerset), des Nicht-Lesens (David Mills) und des interpretierenden Fortschreibens (Serial Killer) dieses Archivs strukturiert.

45 David Mills wird nicht nur als Nicht-Leser portraitiert, sondern auch einer Kultur des Geschwätzes zugeordnet. Während der Untersuchung des ersten Mordes – Gluttony, Maßlosigkeit, – weist ihn William Somerset darauf hin, doch endlich einmal still zu sein.

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Abb. 85: Kopierarbeit Schon beim ersten Mord hinterlässt der Mörder einen literarischen Hinweis mit christlichem Hintergrund, der die Dramaturgie des Films vorwegnimmt. Es sind zwei Verse aus Miltons Paradise Lost: »Long is the way/And hard that out of Hell leads up to Light.«46 In der Bibliothekssequenz werden in Großaufnahme die bekannten Illustrationen Gustave Dorés zu Dantes Divina Commedia und Textpassagen, die Gewalt in Form von Folter und Bestrafung am individuellen Körper zum Thema haben, mit langsamen parallelen Kamerafahrten und Zooms in Szene gesetzt. Somerset vervielfältigt die Bilder und Texte der Gewalt am Kopiergerät der Bibliothek, (Abb. 85) so dass sie wie ihre Realisierungen auf den Tatortphotos, mit denen sie durch die Parallelmontage in Korrespondenz stehen, auf dem Schreibtisch von Mills gelangen. Dieser muss sich allerdings in der folgenden Szene die Erläuterungsbände Cliff’s Notes besorgen, um Somersets literarische Hinweise überhaupt verstehen zu können. (Abb. 86) Gespiegelt wird die Polizeibibliothek von der ebenfalls mit Büchern angefüllten Wohnung des noch unbekannten Serial Killers. Neben den klischeehaften Insignien eines obsessiven religiösen Fanatikers, wie das neonrot leuchtende Kreuz an der Wand des Schlafzimmers, beherbergt sie mehrere hundert Tagebücher, die wie im Vorspann schon sichtbar, zusammenmontierte Bilder und Texte der Gewalt beinhalten und damit das Archiv der Bibliothek handschriftlich fortschreiben. (Abb. 87) Als Blaupause der Serienmorde entpuppt sich deshalb die Interpretation der in der Bibliothek gezeigten Literatur, die in dem Sammel- und Schreibwerk von John Doe fortgeschrieben wird. Die Wohnung des Serienmörders ist mehr noch als eine Bibliothek eine Schreibstube und vor allem ein Ort, an dem die paradigmatischen Texte eines abendländischen Archivs interpretiert werden. Ist der Serial Killer also ein Theologe oder ein Philologe?

46 John Milton: Paradise Lost (1667). Book II. Hg. von Christopher Ricks, London 1989, S. 39, V. 432-433.

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Abb. 86: Sekundärliteratur Er ist auf jeden Fall auch ein Bricoleur. In Se7en wird der Akt des Schreibens als materialnahe Sammel-, Durchstreichungs-, Ausschneide- und Bastelpraktik inszeniert, eine Bricolage mit all ihren Identität stiftenden Implikationen.47 Neben den Indizien zu der noch unbekannten paranoiden und psychotischen Schreibexistenz des Mörders spielt gerade der komplexe Vorspann von Se7en die Materialität von Schrift und Büchern in die Geschichte ein. (Abb. 88) Ist ein Medium aber erst einmal der Inhalt eines anderen Mediums, wird seine Medialität als Materialität offenbar, eine Materialität, die in dem rahmenden Medium aufgehoben wird. Das Medium Film hat in diesem Fall die Medien Schrift und Buch geschluckt. Aber der berühmt gewordene und stilbildende Vorspann von Se7en ist auch schon nicht mehr lineares Erzählkino. In ihm kündigt sich das neue mediale Paradigma nicht nur von Kinokultur an. Denn der Vorspann ist, wie jeder Hollywoodfilm seit den 1990er Jahren, nicht nur ein photochemisch produzierter Film und die ausschnitthafte Abbildung von Realität mit photosensitivem Material, 24 Bilder pro Sekunde. Sondern er ist, in Analogie zu seinem Inhalt, das kombinierte Produkt mechanischer, chemischer und digitaler Bearbeitung von teilweise einzeln ausgeschnittenen und wieder zusammenmontierten Bildern, palimpsestartigen Schabungen auf dem Filmmaterial, einer geschüttelten alten Codalith-Kamera und vor allem von digitaler Postproduction. Die Supermedialität des Computers hat die Supermedialität des Films unterwandert und bildet inzwischen den unsichtbaren medialen Horizont filmischer Imagination. Finchers Film kann als ein paradigmatisches Werk der »Postmoderne« betrachtet werden, die sich durch die Thematisierung und Überwindung der Dichotomie von High Art und Popular Culture, durch Mehrfachcodierung und Überdeterminierung von Signifikanten, durch Intertextualität und Intermedialität und ein erhöhtes Maß an Selbstreferenzialität auszeichnen. Gemäß der Anlage vieler postmoderner Texte eröffnet Se7en auch nicht nur eine melancholische Retrospektive auf eine jüngstvergangene Epoche der Geschich47 Zugleich konnotiert die manuelle Schneide-, Klebe- und Näharbeit des Mörders die Näh- und Flickarbeiten der Serial Killers Jame Gumb/»Buffalo Bill« aus The Silence of the Lambs. Sie zeigt damit eine vergleichbare Ästhetik der Existenz, die auf subkulturell markierter Heimarbeit beruht. Im Gegensatz zu Gumb setzt der Mörder in Se7en allerdings kein sub- oder popkulturelles Gegenmodell des White Trash zum Mainstream oder zur Hochkultur auf, sondern schreibt die Texte der Hochkultur im Sinne eines semiotischen Guerrilla-Aktes fort.

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te, sondern initiiert im Gefolge der nostalgischen Rückschau auf das Archiv der Gutenberg-Galaxis einen apokalyptischen Diskurs. Es geht um das Ende einer Epoche und mithin um das Ende von Geschichte überhaupt.

Abb. 87: Die Wohnung als Archiv Se7en benutzt das Sujet des Serial Killers, um einen Schrift- und Mediendiskurs abzuspielen, der in einer wehmütigen, aber auch selbstironisch gebrochenen Geste auf ein Goldenes Zeitalter der Ordnung verweist, eine Welt, die in Form des Phantasmas geordneter Buchreihen als Lesbarkeit der Welt immer nur in der Vergangenheit und damit immer nur im virtuellen Raum des Imaginären existiert. Jorge Luis Borges’ Erzählung Bibliothek von Babel (1941) liefert das Modell für dieses Buchphantasma: Das Universum (von anderen die Bibliothek genannt) setzt sich aus einer unbestimmten, womöglich unendlichen Anzahl sechseckiger Galerien zusammen […] Und zwar traf dieser Denker die Feststellung, daß sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch sein mögen, aus denselben Elementen bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Zeichen des Alphabets […] Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er den Satz, daß die Bibliothek allumfassend 48 ist.

Andrew Kevin Walkers Drehbuch und Finchers Film können als getreue Remakes und Fortschreibungen des Borgesschen Modells sowie von Umberto Ecos Buch und Annauds Film Der Name der Rose gelten. In diesem Film geht es um eine diskrete Serie von Morden, die keinesfalls etwas mit dem prinzipiell unbeschränkten triebhaften Töten eines Serial Killers zu tun hat, sondern die sieben Zeichen setzt, um den Untergang der Welt zu verkünden. Im Zentrum befindet sich eine Bibliothek, eine »world of knowledge«, in der Verbotenes steht. Ihre Hüter leiden allerdings nicht, wie der Serial Killer in Se7en, an der Schlechtigkeit der Welt, sondern schützen die Welt vor der Sünde des Lachens, die durch das verborgene Buch kulturell legitimiert wäre. Zwei Detektive, die Franziskanermönche William von Baskerville und Adson von Melk, unverkennbar Projektionen des Detektivteams Sherlock Holmes und Dr. Watson, treten gegen eine Verschwörung von Bibliothekaren an, die unter der Leitung des blinden Jorge von Burgos, eine deutliche Anspielung auf den argentinischen Architekten der Bibliothek von Babel, nach 48 Jorge Luis Borges: »Die Bibliothek von Babel« (1941), in: Ders.: Labyrinthe. Erzählungen, München 1959, S. 187-197, hier S. 187-191.

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der Eco seine Bibliothek gebaut hat, Aristoteles’ verschollenes Buch über die Komödie und das Lachen mit tödlichem Lesegift versetzt haben. Die mörderischen Bibliothekare inszenieren die Vergiftungen der Leser als Set Pieces aus der Offenbarung des Johannes. In Der Name der Rose muss das christliche Mittelalter vor den sündigen Schriften der Antike geschützt werden. Se7en hingegen lässt mittelalterliche Dogmen in eine spätmoderne Welt der Sünde, der Gewalt und des Verfalls einbrechen, um sie selbst gewaltförmig an die Ursprünge ihrer Sünden zu erinnern. Der Vergleich der Konzepte von Se7en und Der Name der Rose mit der Geschichtsphilosophie und Literatur der Romantik, in der nach einem verklärten Goldenen Zeitalter des christlichen Mittelalters und einer gegenwärtigen krisenhaften Zeit des kulturellen Niedergangs eine reflektierte Neue Mythologie des Imaginären herrschen soll, ist augenscheinlich: »Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich.«49 Novalis’ Programm der »Romantisierung« als »Annihilation des Jetzigen« bildet eines der frühromantischen Zentren dieses Denkens: »ROMANTIK. Absolutirung – Universalisirung – Classification des individuellen Moments, der individuellen Situation etc. ist das eigentliche Wesen des Romantisirens.«50 Der Blick auf die mittelalterliche und barocke Allegorie und die Bücher und Bilder Alteuropas ist in Se7en ein antiquierender und verbrämender Rückblick auf den Glanz des Alten und weist ihm einen erhabenen Platz in dem unübersichtlichen Labyrinth der Welt zu. Die Neue Mythologie oder die romantische Mythopoetik wird im Gegensatz zu Ecos und Annauds ironisch distanzierten PasticheArchiven mit einigem Pathos allerdings von Finchers Film Se7en selbst verkörpert, der seine beeindruckende Kette an hochkulturellen Referenztexten ernst und nicht ganz unprätenziös entfaltet. Das Thema der Medienkonkurrenz als Leitkategorie für Historiographie und Epochalisierung hat sich subtil in die Codierungen des Films verlagert. Der Vorspann und schon der Titel des Films belegen das. Denn der Film läuft unter zwei unterschiedlichen Titeln im Kino, auf Videokassette, Laserdisc und DVD – Seven und Se7en. Innerhalb des Films erscheint der zweite Titel im Vorspann. Der Titel Seven ist zunächst die Verschriftlichung einer Kardinalzahl, hinter der sich eine diskrete Reihe und damit auch ein Muster verbergen, die mehr als nur christliche oder hermetische Zahlenmystik darstellen. Der Titel bezeichnet in dieser Hinsicht auf mehreren Ebenen auch das Programm des Films, denn Seven ist als Anzahl der Todsünden nicht nur Vor-Schrift, sondern auch Performanz des Serial Killers und des Films. So übersteigt der Manierismus, mit dem dieses Muster in Se7en durchexerziert wird, die Folie der sieben Todsünden, wie sie zum Beispiel in Dantes Divina Commedia an den sieben Terrassen des Purgatoriums verräumlicht wird – eine Szene, die ihrer Vorbildfunktion gemäß im Film als Illustration in Nahaufnahme aus dem Bibliothekskopiergerät läuft. Detektiv Somerset hat weiterhin genau sieben Tage bis zur Pensionierung und liefert damit den Countdown. Der Film ist durch die Schrifteinblendung der sieben Wochentage, der Zeit, in der auch in der Genesis die Erde erschaffen wird, in sieben Kapitel unterteilt. Gebäude erhalten die Anfangszahl sieben, Somerset

49 F. Schlegel: Kritische Ausgabe II, S. 313. 50 Novalis: Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 4 Bde. Bd. 2. Hg. von P. Kluckhohn/R. Samuel. Leipzig (1929), Stuttgart 1977ff., S. 482.

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Abb. 88: Vorspann kommt zum Essen um sieben zu den Mills, um in Form eines künstlichen Erdbebens, verursacht durch eine vorbeifahrende U-Bahn, einen Vorgeschmack auf den Weltuntergang zu erfahren. Um sieben Uhr erscheint am siebten Tag das Paket mit dem Kopf von Tracy Mills, um die siebte Todsünde zu erfüllen und die Geschichte zu beenden. Die »sieben« ist neben der Anzahl der Schöpfungstage der Welt auch die leitende Zahl der Offenbarung des Johannes und verweist neben zahlreichen hermetischen und numerologischen Praktiken auf die Ankunft des Jüngsten Gerichts. In dem Alternativtitel Se7en wird der Medientransfer noch eine Spur komplizierter, denn hier schmuggelt sich in den alphabetischen Code die Zahl als Signifikat des ausgeschriebenen und verfilmten Signifikanten selbst ein. Der Signifikant der Zahl hybridisiert den Titel und weist auf die nächste Potenz der Medialität hin, dem alphanumerischen Code, der die Linearität verlässt und damit schon eine mathematische Logik, die eine unilineare Zeilenreihung übersteigt, andeutet. Also: Nicht Nach-Lesen, sondern Bibliotheksbenutzer zählen, speichern und abrufen. Und unsichtbar: Nicht der Film ist das neue Reich der Medien, sondern die mathematische und digitale Logik des Computers. Der Film lässt hingegen auffälligerweise die Möglichkeit der Einbindung von Profiling, das zum Standard für den Serial Killer-Film geworden ist, völlig aus. Profiling ist die polizeiliche Hermeneutik, die die Grenze des NachLesens übersteigt. FBI-Profiler lesen die Tatorte auf eine Spur, auf eine Handschrift, hin, um ein Muster der Psyche von Serial Killern herzustellen, sie zu lesen und zu verstehen, um sie auf die Zukunft hin vorausberechnen zu können – eben den Serial Killer besser zu verstehen als dieser sich selbst. Filmisch schlägt sich die Figur des Profilers spätestens seit Manhunter 1988 in fast jedem Serial Killer-Film nieder. Gerade die Verfilmungen der Romane von Thomas Harris kreisen auch um die Psychologisierung der FBI-Profiler selbst. So ist ein Grund, warum Se7en aus der Reihe der jüngeren Serial Killer-Filme ausbricht, das völlige Desinteresse an einer Hermeneutik des Profiling. Es geht nicht um Psychologie und Polizeiarbeit, sondern um Bibliotheksrecherche und Interpretation. In diesem Sinne versteht Elisabeth Bronfen Se7en als Gang in die Bibliothek51 und nimmt den Archivcharakter des Films mit einigem Recht ernst. 51 Elisabeth Bronfen: »Einleitung. Der Gang in die Bibliothek. Seven (David Fincher)«, in: Dies.: Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood, Berlin 1999, S. 9-38.

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Tatsächlich werden die mittelalterliche Allegorie in der Gattung des Morality Play und ein barock anmutendes Bibliotheksuniversum inszeniert. Bronfen betrachtet in Se7en deshalb vor allem die »Texte des Christentums«52 als »gedankliche Heimat«53 des Detektivs Somerset und des Mörders John Doe und interpretiert für Se7en daher eine Depotenzierung von Gewalt: Wie ein Schutzschild schirmt die Heimat des tradierten kulturellen Bildrepertoires den der irdischen Existenz innewohnenden traumatischen Kern eines nie aufzulösenden Antagonismus ab, indem es diesen in einen von einer göttlichen Macht geführten Kampf zwischen Gut und Böse übersetzt. Dank der Übertragung materialisierter Gewalttaten in das Reich der Zeichen wirkt das Verbrechen, als sinnstiftende Geschichte umformuliert, erbaulich und erhaben […] und überhaupt […] Auslöser 54 par excellence für das Entwerfen und Umsetzen von kulturellen Bildern […]

Diese Strategie ist in Se7en sicherlich angelegt. Die kulturelle Aufladung und Valorisierung des Serial Killings durch Attribute des Göttlichen und Kosmischen sowie Referenzen an die abendländische Schriftkultur sollen dem Film selbst eine mythologische Bedeutungsebene und damit intellektuellen Glanz verleihen. Sie versehen die Installationen der Gewalt mit einer Sinn stiftenden Erhabenheit, die sich aus dem kulturellen Gedächtnis des Abendlandes speist. Se7ens Serial Killer John Doe steht dabei als anonymer Künstler hinter seinem Werk zurück. Er erfüllt Gottes Auftrag: »I was chosen.« Für Bronfen ist Se7en eine Bühneninszenierung, ein »postmoderne[r] Moralitätenspiegel«,55 eine Variation des Morality Plays mit seinen Personalallegorien, die durch die Figuren der Todsünden repräsentiert werden. Sie charakterisiert Se7en als »humanistische Predigt«.56 Dagegen akzentuiert Matthias Bickenbach die ebenfalls in Se7en thematisierte Materialität von Buch und Film und setzt sie in einem rhizomatisch zu bezeichnenden Textbegriff in eins. Jenseits der inhaltlichen Semantiken des Films, die Bronfen im Auge hat, betrachtet Bickenbach die nicht mehr hermeneutisch zu fassende Dimension der Gutenberg-Galaxis. Film erscheint Bickenbach dabei genau wie Schrift als Textum, als handgefertigtes Gewebe: »Cut up von Text: Zunähen, aufschneiden, falten, kleben, binden […] Das, was Film als Medium ausmacht, selbstreferentiell.«57 Der Text als Gewebe – Textum, Textura – spielt die Hauptrolle in Bickenbachs Lektüre: »Bücher mögen Anfang und Ende noch simulieren, Texte nicht. ›Weben‹ ist selbst ein ganzer langer Text. Wir finden Fäden, die aus Fäden bestehen, die verstrickt sind. Filz. Spuren von Spuren. Unmöglich auch nur der Metapher Text zu folgen.«58 Doch sollte man bei Se7en sowohl in der Annahme des Films als »Gang in die Bibliothek« als auch bei der Nivellierung der verschiedenen 52 53 54 55 56 57

Ebd., S. 16. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Matthias Bickenbach: »Voll im Bild? Die Mimesis von Literatur in Sie7en. Beobachtungen zum Medienwechsel«, in: Verstärker. Von Strömungen, Spannungen und überschreibenden Bewegungen 1 (Oktober 1996), in: http://www. culture.hu-berlin.de/verstaerker/vs001/se7en/bickenbach_7.html vom 27. Juli 2006. 58 M. Bickenbach: Voll im Bild?

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Medien zu einem allgemeinen Textbegriff vorsichtig sein, denn gerade die Möglichkeiten und vor allem die Grenzen und Unterschiede von Lektüre sowie die Differenz und Konkurrenz der verschiedenen Medien Schrift, Film und Computer werden in Se7en zum tödlichen Thema und rekurrieren auf gefährliche Weise auf das alte Schreib- und Gedächtnismedium des menschlichen Körpers. Se7en scheint auch eine Technik-Kehre in der Reihe der Serial KillerFilme einzuleiten und setzt der modernen Überbietungslogik der audiovisuellen Medien, die im jüngeren Serial Killer-Film der Überbietungslogik in der Darstellung von Gewalt zu entsprechen scheint, die Emphase des Alphabets und der kriminalistischen Hermeneutik entgegen. Scheinbar. Denn in Se7en geht es um das Lesen als »Wut des Verstehens«59 in der Krise. Der Serial Killer-Film wird dabei zwar im Sinne Michel Foucaults als Bibliotheksphänomen inszeniert,60 die Verweise und Querverweise häufen sich, und die Spuren zum jeweils nächsten Mord und damit zum Masterplan des Mörders liegen auf der Hand. Dass aber eine kriminalistisch ausgerichtete Hermeneutik der Spurensicherung und der Interpretation, wie sie von Somerset personifiziert wird, allein in der Stiftung von Sinn verharrt und damit dem Countdown des Tötungsprogramms notwendig hinterherläuft, wird im Laufe der polizeilichen Recherche deutlich. Denn das Archiv, das im Film in der Bibliothekssequenz materialisiert vorliegt, liefert in aller Drastik zwar die monströse emblematische Bild- und Schriftvorlage für die Gewalttaten. Die Bedeutung, der tiefere Sinn, der Morde kann dadurch verstanden werden. Aber solange die Detektive nur den Spuren, den extra für sie präparierten VorSchriften des Serial Killers, folgen, so lange sie auf der Zeile seines Textes bleiben und syntaktisch und linear denken, so lange bleiben sie den entscheidenden Schritt hinter ihm auf der Liste der Morde zurück. Erst mit der radikalen und medienreflexiven, und das heißt in diesem Fall bibliotheksreflexiven Außenlektüre, durch das Abrufen des illegalen Metaarchivs mit den Daten des FBI über die Benutzer öffentlicher Bibliotheken, brechen die beiden Detektive aus dem linearen Denken der Gutenberg-Galaxis aus und finden zumindest zur Wohnung und Schreibstube des Mörders. Se7en inszeniert deshalb aus der Perspektive medientheoretischer Epochalisierung die Altlasten und das Ende der Geschichte der Gutenberg-Galaxis. Se7en zeigt dies an einem Symptom, und zwar an der Krise der alphabetischen und damit der symbolischen Ordnung und der hermeneutischen Vernunft. Der Einsatz von Se7en in dieser Krise lautet aber nicht Turing-Galaxis oder elektronisches Zeitalter und verheißt eine entdifferenzierte und hyperreale Computerwelt, sondern hält im Gegenteil als eine Art Interregnum, als »Zwischenreich«, wie Friedrich Kittler sagt, das schon nostalgische und veraltete Erzählkino dagegen. Dies steht einerseits als Container für ein vergangenes und nicht mehr zeitgemäßes Schriftuniversum und lässt andererseits den Einsatz des Computers tunlichst unsichtbar.

59 Zu diesem Ausdruck von Friedrich Schleiermacher vgl. Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt am Main 1998. 60 Vgl. Michel Foucault: »Nachwort«, in: Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt am Main 1996, S. 215-251.

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2. Die Ästhetik des Serienmords Tobe Hoopers Splatterfilm The Texas Chainsaw Massacre beginnt mit einer Reporterstimme aus dem Off, die auf ein »work of art« hinweist. Mit diesen Worten wird selbstreferenziell der Film selbst eingeführt. Gezeigt wird die Skulptur einer verwesten Leiche, die auf einem Grabstein befestigt ist und einen menschlichen Schädel in den Händen hält. Und tatsächlich sind spätestens seit den Serial Killer-Filmen der 1990er Jahre die exzentrischen Bahnen des Serial Killers unauflöslich mit seiner Aktivität als seriell mordender Gesamtkünstler verschränkt. So verwirklicht der Mörder »Tooth Fairy« aus Manhunter und Red Dragon beim Morden seine phantasmatische Identität als Roter Drache nach einem Bild von William Blake. »Buffalo Bill« aus The Silence of the Lambs näht sich, ähnlich wie Leatherface aus dem Texas Chainsaw Massacre, ein Gewand aus Frauenhaut, um sich selbst eine neue Identität zu schaffen. Der Copycat-Killer inszeniert in Negation seiner eigenen Identität auf aufwendige Weise die Morde realer Serial Killer nach, und John Doe aus Se7en existiert für sein Archiv und sein Opus Magnum, dem allegorischen Gesamtkunstwerk der sieben Todsünden. So erfüllen Serial Killer-Filme zwei Zuschauerbedürfnisse zugleich und überbrücken dabei die Spaltung von Popular Culture und High Art. Denn mit der blutigen Gewalt, die der Serial Killer dem Splatterfilm der 1970er und 1980er Jahre entlehnt, reiht er sich zum einen in eine Tradition der Exploitation ein und kann als reißerischer Genrefilm betrachtet werden. Mit dem Einsatz der Bilder der Gewalt in einen Kontext der Kunst und der Hochkultur allerdings versucht er zum anderen, sich als Autoren- und als Kunstfilm zu behaupten. Die Thematisierung aktueller Kunstdiskurse wertet deshalb auch den blutigen Serial Killer-Film selbst auf. Er wird diskursfähig. Die Spuren, die Se7en auslegt, dienen deshalb deutlich zur ästhetischen Valorisierung der profanen Gewalttaten und damit zur Sinnstiftung und Diskursfähigkeit des Films selbst. Se7en lädt zu einer ästhetischen und hermeneutischen Lektüre von Serienmord und Film gleichermaßen ein und schreibt sich damit in ein Archiv ein, das er selbst als gewaltförmig desavouiert. Wenn man den zeitgenössischen ästhetischen Diskurs umreißt, der im Hintergrund von Se7en und anderer Serial Killer-Filme der 1990er Jahre aufscheint, könnte man ihn mit Kategorien der »ästhetischen Postmoderne« umschreiben. Die literarische und filmische Postmoderne kann man in aller Kürze dabei mit den Aspekten der Oberfläche, der Simulation, des Pastiche und der Intertextualität kennzeichnen.61 61 Vgl. Ihab Hassan: »Postmoderne heute«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1994, S. 47-55. Immer noch im ästhetischen Diskurs auch der Postmoderne marginalisiert ist die Struktur der Serialität, die nicht nur spätestens mit der Pop-Art in die Kunst, sondern mit dem populären Fortsetzungsroman seit dem 19. Jahrhundert bis heute, wie dem Fortsetzungsfilm, den Radio- und Fernseh-Serials sowie paradigmatisch mit der Kunstform des Comics in Nachfolge der Pulp-Magazine in fast jede ästhetische Repräsentation eingegangen ist. Mit der Ausnahme vielleicht Umberto Eco: »Die Innovation im Seriellen«, in: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München 1990, S. 155-180. Arthur Danto verortet die ästhetische Differenz nach Marcel Duchamps Ready-Mades gänzlich in der Rezepti-

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Für die Figur des Serial Killers in Se7en steht überdies einerseits Roland Barthes’ Diktum vom »Tod des Autors«62 ein, verknüpft mit der Frage nach dem Autor, die Michel Foucault im Anschluss an Barthes stellt.63 Die äußerst wirkmächtigen Texte von Barthes und Foucault eröffnen die Bestimmung von Literatur und Kunst als Diskurseffekt ohne Schöpfer. Im Vorspann von Se7en findet dieser Prozess des Verschwindens des Autors statt: Haare werden abrasiert, Haut und Fleisch von Fingerkuppen geschält, und der Name des Mörders wird im Film gegen eine Leerstelle ausgetauscht und zwar gegen den amerikanischen Universalnamen für nicht identifizierbare Leichen: »John Doe«. Dagegen geraten zum einen die Medien Buch und Schrift ins Zentrum der Inszenierung. Zu sehen sind paranoide handschriftliche Einträge, das Löschen, Ausschneiden und Einkleben von Wörtern und Bildern sowie die Erstellung von Manuskripten mit Nadel und Faden. Andererseits erhebt sich aber subtil eine andere Autorfigur, wenn im Vorspann gleichzeitig auf der Tonspur von den Nine Inch Nails beziehungsweise Trent Reznor im Vers »You get me closer to god« das letzte Wort intoniert und aus der Dollarnote das Wort »God« ausgeschnitten wird und dazu der Name des Regisseurs »David Fincher« aufscheint.

Abb. 89: Direktionale Beleuchtung Die weitere Mise en Scène von Se7en wird im Einzelnen von Zeichen der Gewalt und des Untergangs sowie vom Kampf Gut gegen Böse dominiert, die sich vor allem im kontrastreichen Umgang mit Licht und Dunkelheit in der namenlosen Stadt abzeichnen. In der Außenwelt bilden der ständige Regen und die Dunkelheit die engen Grenzen der Großstadt. Der Klaustrophobie der Dunkelheit entspricht auch die Enge und Abgeschlossenheit der Innenräume. Die Breite eines Raumes in Se7en, wie zum Beispiel die Darstellung des Büros der beiden Detektive, ist zuweilen mit der Kadrierung des Bildes identisch, so dass ein Rahmen das Bild komplett umfasst. Das Licht in geschlossenen Räumen, wie das Büro des Police Captain oder auch der Polion und macht dies an seriellen Kunstwerken, unter anderem an den Brillo Boxes und Campbell-Suppendosen Andy Warhols fest, an die in der Installation des ersten Mordes in Se7en auffällig erinnert wird. Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1984. 62 R. Barthes: Tod des Autors. 63 M. Foucault: Was ist ein Autor?

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zeibibliothek, ist im Low Key-Style des Film Noir gefilmt und in seiner Herkunft sichtbar direktional, also von filmisch auszumachenden Lichtquellen in der Mise en Scène, zumeist einzelner Tischlampen. (Abb. 89) Es gibt auffälligerweise keine merkbare Vollausleuchtung durch Studioscheinwerfer (High Key-Ausleuchtung). Auch die düsteren Tatorte müssen zu einem Teil mit Taschenlampen erforscht werden. Tageslicht gibt es erst ab der Sequenz, in der John Doe sich im Polizeirevier stellt. Nach dem sechsten Mord wird auf diese Weise die überraschende Wende der Mordserie und damit auch des Films markiert, bis hin zum taghellen Finale des Tötungsprogramms, dem letzten Punkt auf der Liste. Danach gewinnt der Film im Dénouement wieder an Dunkelheit.64 Die Mise en Scène von Se7en wird zu einem großen Teil über die einzelnen Tatorte gestaltet. Der Film inszeniert dabei das Arrangement der ersten fünf Gewaltverbrechen in umgekehrter Reihenfolge der Todsünden des Maßes und des Zieles (Gula: Maßlosigkeit, Avaritia: Habsucht, Acedia: Trägheit, Luxuria: Wollust, Superbia: Stolz, Invidia: Neid, Ira: Zorn) zu den Todsünden bei Dante, die die Ebenen des Läuterungsberges in der Hölle bezeichnen (Superbia, Invidia, Ira, Acedia, Avaritia, Gula, Luxuria). Se7en zeigt den Tatort auch als kompliziertes Wechselspiel unterschiedlicher Medien, die wiederum andere Medien zum Inhalt haben. Die Schrift taucht am Tatort dabei gleich doppelt auf, als Verschriftlichung der Todsünde selbst und als parergonaler Kommentar und Botschaft für die detektivischen Leser. Die Schrift selbst besteht zum Teil aus dem Körpermaterial der Opfer, wie Fett oder Blut, und dehnt metonymisch den getöteten Körper auf den ganzen Raum aus. Die entscheidende Vorlage der monströsen Installationen ist das barocke Emblem. Es besteht aus der Pictura, dem Körper und seinem Raum, der Inscriptio, der schriftlichen Niederlegung der Todsünde, sowie der Subscriptio, des erläuternden, aber allegorisch verschlüsselten Kommentars. Das Mordarrangement wird auf diese Weise doppelt an einen literarisch-künstlerischen und an einen christlichen Diskurs angeschlossen, die beide gewöhnlich die Tätigkeit der Allegorese, der hermeneutischen Sinndeutung, in Gang setzen. Die Körper der Opfer sind statische Splatterinstallationen, die allerdings immer nur nach dem Gewaltverbrechen sichtbar sind. Das bedeutet, Detektiv und Zuschauer sehen die Gewalttaten des Serial Killers nur im Nachhinein. Der Leser liest in Se7en immer nur das schon fertig Geschriebene, das vollendete Werk. Der Bär ist dem Fechter wie in Heinrich von Kleists Marionet-

64 Helligkeit und Schatten von Se7en haben auch in filmtechnischer Hinsicht einen größeren Kontrast als in den meisten Hollywoodfilmen. Gewährleistet wird das durch den inzwischen wieder bekannt gewordenen Prozess des Resilvering. Gewöhnlich werden das Silber beziehungsweise verschiedene Silberhalogenide wie Bromsilber während der Entwicklung vom Film abgewaschen, um die Kontraste auszugleichen. Bei Se7en hat der Director of Photography Darius Khondji dem Film während der Farbbäder das Silber wieder zugeführt. Das Resultat ist ein äußerst tiefes Schwarz und ein hoher Kontrastreichtum. Allerdings gibt es nur wenige Kopien dieser Fassung. Die DVD des Films benutzt aber diese Version. Andere Filme, bei denen Khondji das Verfahren schon angewendet hat, sind Jean-Pierre Jeunets und Marc Caros Delicatessen, La cité des enfants perdus (engl. The City of Lost Children, dt. Stadt der verlorenen Kinder, F/SPA/D 1994) sowie Polanskis La Neuvieme Porte.

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tentheater immer um einen Schritt voraus.65 Allein die Perspektive des entsetzten Zuschauers kann deshalb inszeniert werden, in der Reaktion der Polizisten und dem von Walter Benjamin bezeichneten »posthume[n] Chock«66 des photographischen Blicks, der in der Photographie der forensischen Spurensicherung seine Entsprechung findet. Gewalt tritt in Se7en deshalb nicht als dynamische Körperzurichtung oder überhaupt als Bewegung auf. Stattdessen bricht Gewalt in Form des gequälten, getöteten und beschriebenen Körpers statisch in die Geschichte ein, bremst die Dynamik des Films und nähert ihn dadurch an das Episodische und das Listenhafte an. Zynisch könnte man bei den Morden von »Nature Morte«, von »Stillleben« sprechen. Der ästhetische Formationskanon dieser Morde ist, wie beispielsweise an den Höllenillustrationen Gustave Dorés sichtbar wird, der Katalog an christlichen und literarischen Bestrafungen in einer deutlich alttestamentarischen Lesart.67 Das erste Opfer der Gluttony, der Sünde der Maßlosigkeit, ist ein hyperbolisch exzessiver Körper, ein obszöner Körper der Fettleibigkeit, der sich die Welt auf groteske Weise bis zu seinem Tode einverleibt hat. Der Raum ist vollständig dem Essen, der Verwesung und dem Schmutz gewidmet. Die Küchenschaben animieren und betonen nur den Charakter des Stilllebens dieser Verwesungsinstallation, und die pyramidal aufgestapelten Spaghettidosen verweisen nicht nur auf eine Kunst der hyperbolischen Anhäufung und Reihung, wie sie beim Sloth-Opfer zum Beispiel in Form zahlreicher Dufttannen, die an der Decke hängen, auftreten, sondern konnotieren deutlich die CampbellSuppendosen der seriellen Ästhetik Andy Warhols und spielen damit Mord und Film in einen avantgardistischen Kunstdiskurs der Serialität ein. Das zweite Opfer – Greed, die Sünde der Habsucht –, der Tod des jüdischen Anwalts Eli Gould, spielt auf Shylocks Forderung in Shakespeares The Merchant of Venice (1596/97) an. Der Leichnam kniet an einen Bücherstapel gelehnt auf dem Boden. Ein Pfund Fleisch hat er sich herausgeschnitten, und auf dem Boden steht in seinem Blut seine Todsünde geschrieben. Der zeitgenössische Kunstdiskurs wird in dieser Installation als Rätsel eines umgedrehten abstrakten Gemäldes eingespielt, hinter dem eine versteckte Botschaft, »Help Me«, steckt, die zum nächsten Opfer führt. Denn der Mörder hat die Hand des nächsten Opfers abgetrennt, um mit seinen Fingerabdrücken die Spur weiterzulegen. Das Thema der Performance-Art wird über die Herstellung des KlingenDildos im Lust-Mord und über die Einbeziehung eines Dritten als Ausführenden direkt angesprochen. Dem Pride-Opfer, einem weiblichen Model, wird die Nase ab- und das Gesicht zerschnitten und bandagiert. Das Bad ist voller Blut, und das Opfer wird mit seinen Photos, dem heilen, aber inzwischen vergangenen Doppel, auf dem Bett drapiert. Die letzten beiden Kunstwerke Envy (Neid) und Wrath (Zorn) erweisen sich als Happenings einer Konzeptkunst, die gemäß der Performance-Ästhetik schlussendlich sowohl den Körper des Künstlers als auch interaktiv den Zuschauer, die beiden Detektive, mit in das Kunstwerk einbeziehen. Somit erhält jeder Mord im Film

65 Vgl. Paul de Man: »Ästhetische Formalisierung: Kleists ›Über das Marionettentheater‹«, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, S. 205233. 66 W. Benjamin: Charles Baudelaire, S. 126. 67 Präziser funktioniert dies über die talionische Bußpraktik der »Contrapasso«, der Bestrafung der Sünde durch ihr Gegenteil.

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mindestens eine Anbindung an einen christlich-literarischen und an einen ästhetischen Diskurs.68

3. Ökonomie der Gewalt/Gewalt der Ökonomie Serial Killer-Filme zeichnen sich durch ein Struktur- und Organisationsprinzip aus, das sie deutlich von anderen Krimis und Thrillern unterscheidet. Während der Mord im Kriminalfilm das plötzliche und singuläre Ereignis der Diskontinuität darstellt,69 das die symbolische Ordnung in Form des Alltags entsetzt und die Mächte dieser Ordnung auf den Plan ruft, um diese wiederherzustellen, ist der Serienmord die Schaltung des Ereignisses auf Wiederholung. Die Aura der unerhörten Begebenheit wird zu einem Serienprodukt. Der Mord erweist sich dabei als Ergebnis einer wie immer gearteten und zumeist auf das Unendliche zielenden Ökonomie des Begehrens, die unbedingt gestoppt werden muss. Bronfen betont in ihrer Se7en-Lektüre die ordnenden und archivierenden Akte dieser Ökonomie, die in Se7en von Mörder und Detektiv gleichermaßen ausgeführt werden, um das Skandalon des Mordes in ein referenzier- und recherchierbares Bibliotheksphänomen zu verwandeln und somit in das vermeintlich überschaubare Reich der Zeichen zu bannen. In dem selbstreferenziellen Signifikantenspiel, das der Film damit betreibt, muss deshalb die Allegorie zur dominanten Figur werden. Bronfen und Kremer70 betrachten diesen Vorgang als Semiose von Gewalt und sehen darin das Angebot der Depotenzierung des Skandalons der Gewaltförmigkeit. Wenn die Unfassbarkeit der Gewalttat zählbar und damit erzählbar wird, wenn ihr Sinn und Ordnung verliehen werden, dann verwandelt sich das schreckliche Reale der Bluttat in das Symbolische der Aufzeichnungssysteme, bis hin zur tödlichen Langeweile von Rechnungswesen und Buchhaltung. Letztlich lösen sich die Spannung und das Unerhörte des Ereignisses im unaufgeregten alphanumerischen Code des ökonomischen Diskurses auf, der immer auch ein bürokratischer ist. Die Taten eines Gilles de Rais oder die Phantasmagorien eines Marquis de Sade widerstehen deshalb zu einem großen Teil einer wie auch immer gewaltpornographisch erregten Lektüre, da die Ereignisse unweigerlich einer Verwandlung und Nivellierung in unaufgeregte Buchstaben- und Zahlenreihen unterzogen werden. 68 Ein Diskurs, der im Film nur sehr subtil eine Reflexionsmarkierung erhält, ist, abgesehen von Szenen des Körper-Horrors selbst, der des Splatterfilms. Die Figur des Gerichtsmediziners, die in den beiden drastischsten Blutinstallationen des Films, dem Greed-Mord im Büro des Anwalts und dem Pride-Mord in Schlafzimmer und Bad des Models, das Ausmaß des Schreckens photographiert und kommentiert, wird von Allan Kolman verkörpert, der unter dem Namen Allan Migicovsky in der Rolle des Nicholas Tudor die ausgedehntesten und blutigsten Szenen in David Cronenbergs Shivers spielt. Vergleichbar unauffällig wird auch auf das Thema des afroamerikanischen Detektivs im amerikanischen Film aufmerksam gemacht. Als Staatsanwalt in Se7en agiert Richard Roundtree, der 1971 als Privatdetektiv »Shaft« in Gordon Parks gleichnamigem Film berühmt geworden ist. 69 »In dieser (wie in jeder) Kriminalgeschichte dreht sich alles um ein Verbrechen. Dies Verbrechen ist einmalig, ungewöhnlich, mehr noch un-stimmig, und übt darum auf den Leser eine ungeheuere Faszination aus.« Klaus Günter Just: »Edgar Allan Poe und die Folgen«, in: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman I, München 1971, S. 9-32, hier S. 13. 70 Vgl. D. Kremer: Deformierte Körper.

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Aber zugleich scheint neben der Ästhetik gerade in der Serialität und Musterhaftigkeit des Mordens der Reiz des Serial Killer-Films zu liegen. Die Unheimlichkeit als das erschrockene Wiedererkennen von Bekanntem und damit auch die Spannung des Serienmords liegen also in den kulturellen und damit ökonomischen Ordnungs- und Sinnangeboten verborgen. Monströser noch als die einzelne Bluttat scheint das Programm durch, das diese Serien produziert, und es geht dabei nicht um ein psychoanalytisches Erfassen der Triebstruktur des Täters. Die Figur des Serial Killers, die oberflächlich zu faszinieren scheint, weil sie sich jeder symbolischen Ordnung und des Realitätsprinzips entzieht und gleichzeitig souverän und gezwungen nur den eigenen Trieb gelten lässt, das eigene Begehren exzessiv auslebt, erweist sich aus diesem Blickwinkel nicht als der Selbsthelfer oder der romantische Künstler, sondern als das notwendig ausgelagerte Medium der dominanten Kultur: als ihr Agent, Supplement und Parasit. Der Serial Killer gehorcht geradezu mechanisch bis in die feinsten Manierismen einem Tötungsprogramm, das seinen Quellcode in den Archiven und Fundamenten der abendländischen Kultur hat. Der Serial Killer übersetzt und interpretiert das vorhandene Archivmaterial, wie die Bestrafungen der Todsünden in der Bibliotheksszene von Se7en, und verwandelt sich dabei in den verlängerten Arm einer unheimlichen Macht. Der Serial Killer kann deshalb auch als prothetisches Medium und ausführendes Organ einer Kultur identifiziert werden. Er ist buchstäblich die »Invisible Hand« der Ökonomie Adam Smiths und auch bezeichnenderweise auch der Gothic Novel.71 Im Serial Killer-Film wird der Mord, der das transzendentale Signifikat jeder Kriminalgeschichte darstellt, in einer Bewegung der Différance immer wieder zum nächsten Mord verschoben. Die Befriedigung des Begehrens nach dem Signifikat, dem Sinn des Mordes jenseits des Programms, findet in der Reihe des Serienmordes selbst nicht statt, bis entweder das Muster erfüllt ist oder im Falle einer nicht-diskreten, also unendlichen Reihe der Mörder erwischt wird. Das Verlangen von Serial Killer und Zuschauer stößt deshalb immer wieder auf die lustvolle Lücke in der Sinnstruktur des Mordens. Beide müssen auf das zugrunde liegende rekursive Programm zurückgreifen, das auf die Wiederholung des Aktes setzt, bis diese Lücke mit dem etymologischen Pendant des »Glücks« gefüllt ist. Das auf dieses Programm zurückgeworfene Begehren wird in Se7en mit dem reflexiven Loop der Liste selbst implementiert, die die Polizisten als Variablen einsetzt. Doch die Lücke füllt sich nicht mit dem etymologischen Pendant des Glücks, der Erfüllung des Verlangens, sondern verweist allein wieder auf die Erfüllung der vorgeschriebenen Liste.

4. Der Untergang des Abendlandes Detektiv David Mills ist der Angry White Man und die Allegorie der Todsünde des Zorns. Er ist ein Nachfahre der vigilantischen Revolverhelden aus The French Connection und Taxi Driver sowie den Dirty Harry- und Death Wish-Serien der 1970er und 1980er Jahre, die ihrerseits Aspekte des Westerns spiegeln. Sein sieben Tage vor der Pensionierung stehender Kollege 71 Vgl. Stefan Andriopoulos: »The Invisible Hand: Supernatural Agency in Political Economy and the Gothic Novel«, in: English Literary History 66 (1999), S. 739-758.

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Somerset hingegen entstammt einer anderen Tradition: einer dezidiert zivilisiert alteuropäischen. Dieser Umstand mutet zunächst etwas seltsam an, scheint Somerset als Afroamerikaner doch keiner der beiden Traditionen anzugehören. Die Paarung der beiden als Detektivteam ergibt aber, neben der Entwicklung dieser Paarung im jüngeren Buddy Movie,72 einen Sinn, wenn man beide Detektive als Kontrastfiguren in einem Film über die Schrift versteht. Und zwar buchstäblich als Protagonisten von »schwarz« und »weiß«. William Somerset ist deutlich als Leser gekennzeichnet. Dargestellt wird er mit einer Lesebrille, die er zuweilen hervorholt, während Mills der analphabetische Choleriker mit der Schusswaffe ist. Wenn man die Temperamentenlehre weiter bemüht, ist Somerset ikonographisch als Melancholiker ausgezeichnet. Er nimmt eine gebückte Haltung ein und trägt dunkle, braune Kleidung. Weiße Augen schauen aus seinem dunklen Gesicht heraus, und auch der Aspekt der melancholischen Trägheit, der Acedia, erfüllt sich bei ihm, wie in einem für einen Polizeifilm obligatorischen Kneipengespräch deutlich wird. Er wird als der letzte Humanist und als Stadtmelancholiker gezeichnet, der als »Engel der Geschichte« die Grausamkeit von Welt und Stadt nicht mehr verstehen kann und nur mehr Katastrophen sieht. Als hermeneutisch operierender Berufsleser und Bibliotheksbenutzer hat er deshalb, wie der Kinozuschauer auch, die frustrierende Rolle des handlungsunfähigen NachLesers inne. Somerset kann den Autor und Spurenleger der mörderischen Inszenierungen immer nur mit dem einen entscheidenden Schritt Verspätung folgen. So gerät Se7en auch zu einer Inszenierung der Aporie der Lesemöglichkeiten von Stadt und Welt überhaupt.

Abb. 90: Die Ordnung der Dinge Der Hermeneut kann Schleiermachers Forderung nicht mehr nachkommen und den Autor besser verstehen als dieser sich selbst, da dieser einem Tötungsprogramm folgt, das keinen singulär identifizierbaren und schon gar keinen psychologisch analysierbaren Ursprung hat. Es ist das unlesbar gewordene Archiv der abendländischen Kultur selbst, das der Serial Killer konsequent weiterführt. Die Stadt in der Posthistoire von Se7en ist für den flanie72 Dieser Gegensatz bezeichnet die Essenz einer bestimmten Form des Buddy Movies, in dem zwei Männer, einer davon Afroamerikaner, zunächst zwangsweise zusammenarbeiten und sich zusammenraufen müssen, bis sie Freunde werden und einander das Leben retten. Vgl. Martin Brests Beverly Hills Cop (US 1984), Richard Donners Lethal Weapon (US 1987) und die jeweiligen Fortsetzungen.

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renden und physiognomisch kombinierenden Detektiv in der Nachfolge von Auguste Dupin oder Sherlock Holmes ein nicht mehr lesbarer Text. Das seit Hans Blumenberg sprichwörtliche Paradigma einer Welt der Lesbarkeit hat ausgedient.73 Detektiv und Film werfen deshalb einen melancholischen Blick zurück auf eine Epoche der Ordnung und des Sinns, einer Zeit, in der die Welt versteh- und das heißt lesbar war. Eine neue Ordnung, eine neue Mythologie gibt es zumindest in Se7en nur im Erzählkino selbst. In der ersten Szene des Films, die noch vor dem Vorspann den Tagesbeginn Somersets zeigt, kleidet dieser sich an und macht sich bereit für die feindliche Außenwelt der Stadt. In einer Linie beziehungsweise Zeile penibel aufgereiht auf einem sauber gemachten Bett ist das tägliche Leben von William Somerset. (Abb. 90) Als erstes liegt dort ein Blumenmotiv auf einem grünen Stück Tapete, das einem idyllischen Stück des Films entstammt, das aus dem Rahmen der Stadt, dem Regen und der Dunkelheit hinausführt und deshalb aus der Kinofassung geschnitten wurde. In den Film geschlichen hat sich nur diese Spur.74 Es folgen weiter in gerader Linie angeordnet: die Dienstmarke, ein zusammengeklapptes Taschenmesser, ein Kugelschreiber und zuletzt die Handfeuerwaffe im Holster.75 Die Gegenstände markieren Ordnungswillen und Linearität und im McLuhanschen Sinne auch das Denken in der Syntaxe. Im zweiten Teil der Eingangssequenz, in der der erste Mord des Films stattfindet, wird Somerset durch seine Frage am Tatort, ob das Kind gesehen habe, wie seine Mutter seinen Vater getötet habe, als letzter Humanist gekennzeichnet. Im Gegensatz zu seinem Kollegen, den diese Frage zu einem Wutausbruch veranlasst: »What kind of fucking question is that? […] It’s always these questions with you. Did the kid see it? Who gives a fuck? He’s dead. His wife killed him. Anything else has nothing to do with us.« Somersets Spurensuche, die den Windungen des hermeneutischen Zirkels folgt, führt ihn in seinem letzten Fall unweigerlich zu einem Circulus Vitiosus, aus dem es kein Entkommen gibt. Der Interpret verbleibt in der selbst geschaffenen Sinnlektüre und kann keine Außenposition einnehmen. So wird auch der Besuch der Polizeibibliothek, der »world of knowledge« und dem einzigen Locus Amoenus des Films, zu einer Flucht Somersets vor der Gewalt und der Sinnlosigkeit der Stadt. Seine Anweisung an den Taxifahrer lautet, er wolle nur »far away from here«. Die melancholischen und poetologischen Diskurse in Se7en sind unauflöslich mit dem apokalyptischen Diskurs verschränkt. Die Handlung von 73 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1999. 74 Zugänglich ist die als Eingangssequenz gedachte Szene nur auf der DVD Platinum Edition. Deshalb an dieser Stelle eine kurze Erläuterung: Detective William Somerset besichtigt ein kleines Haus. Er sucht augenscheinlich nach einem neuen Heim außerhalb der Stadt, in dem er seinen Ruhestand verbringen kann. Mit seinem Taschenmesser schneidet er aus der Tapete innerhalb des Hauses ein Stück mit einem Blumendruck heraus und steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie. Diese Szene hätte dem Film eine Tageslichtrahmung verliehen, die erstens der Sieben-Tage-Struktur, zweitens der paranoiden Enge und Düsternis der Stadt und drittens dem apokalyptischen Countdown bis zum taghellen düsteren Finale widersprochen hätte. 75 Vergleichbare Aufreihungen von Requisiten, die zumeist ikonographisch und christlich aufgeladen sind, gibt es in den Filmen Andrej Tarkowskijs, die sich ebenfalls der Verschränkung der Sujets Melancholie und Apokalypse widmen. Vgl. besonders Nostalghia (IT 1983).

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Se7en bewegt sich deutlich im Zustand der Posthistoire und damit immer am Rande der Apokalypse: »Dadurch daß die Posthistoire wie das positivistische Endstadium das befürchtete katastrophale Ereignis unendlich lange aufhalten soll, verwandelt sie sich als das Katechon selbst in die Katastrophe. Die Posthistoire ist sozusagen die unendlich ausgedehnte Zeitlupe des katastrophalen Augenblicks.«76 Die Sinnlosigkeit der Welt wird mit einem christlichen und numerologischen Diskurs, der mit der Danteschen Folie zusätzlich an das Mittelalter und damit an einen eschatologischen Diskurs gekoppelt wird, mit Sinn aufgeladen. Das Ende von Se7en findet im Tageslicht und außerhalb der Stadt statt. Es gilt für diese symbolische Apokalypse Jacques Derridas Bestimmung einer Offenbarung, die zunächst nicht gezeigt werden darf: Apokalypto war sicherlich ein gutes Wort für gala’. Apokalypto, ich entdecke [decouvre], ich enthülle [dévoile], ich offenbare [révèle] die Sache, die ein Körperteil, der Kopf oder die Augen, sein kann, ein geheimer Teil, das Geschlecht, oder was auch immer da verborgen zu halten ist, ein Geheimnis, diese zu verbergende Sache, eine Sache, die weder gezeigt noch gesagt, die vielleicht bedeutet wird, aber 77 zunächst nicht dem Augenschein preisgegeben werden kann oder darf.

Materialisiert erscheint diese verborgene Eröffnung von »apokalypto« als das unsichtbare Subliminal Image des Kopfes von Tracy Mills. (Abb. 7) Der abgeschnittene Kopf der schwangeren Frau des Detectives in dem Paket darf dem Augenschein des Zuschauers nicht preisgegeben werden. Dieser muss verborgen bleiben, wird aber durch den einen unsichtbaren Frame »bedeutet«. Die Offenbarung erfüllt sich damit jenseits der Detektivgeschichte und jenseits der Wahrnehmungsschwelle des Kinogängers. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Sinnlosigkeit der Welt aus der Sicht des Melancholikers und Allegorikers in Se7en mit einem christlichen und humanistischen Diskurs gekoppelt und dadurch mit einem Versuch der Lesbarkeit aufgeladen wird. Aber als Leser können Somerset und John Doe nur die Vorzeichen des Untergangs der Welt, also ihre Unlesbarkeit, erkennen und überdies, dass die Gewalt in der Stadt, auf die immer wieder hingewiesen wird, ihre Ursprünge ausgerechnet in einem Archiv hat, dass im Kern der abendländischen Schriftkultur zugrunde liegt. Der Untergang der Welt ist deshalb vorprogrammiert. Ob man sie in die Tat umsetzt oder der Acedia verfällt, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Zurück bleiben das erfüllte Programm des Serial Killers, das Ende der Gutenberg-Galaxis durch die Komplettierung der Liste, ihre Aufhebung im Hollywood-Erzählkino sowie der melancholische Blick des Lesers im Film zurück auf die Geschichte des Universums von Schrift und Verstand, der blind ist für die Ankunft des elektronischen Zeitalters. Dieser romantisch verklärte Blick, zurück auf die Ruinen der Geschichte gerichtet, ist in Se7en eine katachretische Figur des tatsächlich apokalyptischen Moments der Posthistoire, die Theatralität eines kontinuierlich durch76 Hannes Böhringer: »Die Ruine in der Posthistoire«, in: Ders.: Begriffsfelder. Von der Philosophie zur Kunst, Berlin 1985, S. 23-37, S. 25. 77 Jacques Derrida: »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: Ders.: Apokalypse. Hg. von Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, S. 9-90, hier S. 12.

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geführten Schwanengesangs.78 Das Ende der Geschichte tritt in Se7en nicht ein. Der Film hält, indem er die Gutenberg-Galaxis kinematographisch bewahrt und »aufhebt« und damit die archivierende Macht des Filmischen betont, den Untergang des Medienzeitalters und den Advent der Turing-Galaxis offen und erfüllt damit präzise den von Friedrich Kittler formulierten katechontischen Auftrag der Unterhaltungsindustrie. Solange im Hollywoodkino also noch spektakuläre Bilder vom Weltuntergang laufen, so lange tritt dieser nicht ein.

78 Vgl. Norbert Bolz: »Schwanengesang der Gutenberg-Galaxis«, in: Willem Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt am Main 1992, S. 224-260.

GEISTER UND MEDIEN. DIE VERSCHWÖRUNG DER DINGE I. New Gothic Horror Ich schlage vor, anstelle der ›Medien‹ – an der Stelle im genauen Sinne dessen, wofür sie stehen, und dass sie überhaupt für etwas außer ihnen selbst, sponte sua, stehen – Latenz als Grundbegriff der Kulturwissenschaften zu supponieren: von Kulturwissenschaften in einem Medienzeitalter, in dem der verflossene Geist der Geisteswissenschaften die Medien heimsucht wie das Gespenst des alten Hamlet die Bühne Shakespeares. Anselm Haverkamp

1. Postmoderne und Körper-Kino Über das Kino der Postmoderne und die Postmoderne im Kino ist viel geschrieben worden. Prekär blieb in den Diskussionen zwischen Postmoderne und Kino die Stelle des menschlichen Körpers. Aber es stellt sich zunächst die Frage, was die Postmoderne aus der Sicht des Kinos ist. Jean-François Lyotard bestimmt in seinem Bericht Das postmoderne Wissen1 die Postmoderne als den Kultur- und Wissensstand hoch entwickelter Gesellschaften. Dieser zeigt sich unter anderem in der Betrachtung der Kultur als ein Ensemble von Sprachspielen. Deshalb ist die Postmoderne von einer starken Skepsis an den großen Erzählungen der Moderne geprägt, wie die Emanzipation des Subjekts, die Entfaltung von Ideen, Teleologie und Fortschritt sowie die meisten übergreifenden Erklärungssysteme. Postmoderne bedeutet nach Lyotard deshalb ein Reflexivwerden der Moderne. In der Postmoderne lösen sich nach Fredric Jameson auch endgültig die Grenzen zwischen Kunst, Massenkultur und Marketing auf. Kunst wird dabei sozial und ökonomisch umcodiert. Jameson erklärt in diesem Sinne die ästhetische Postmoderne nicht als eine künstlerische Stilrichtung, sondern als die »kulturelle Dominante«2 des spätkapitalistischen Zeitalters. Konstitutive Merkmale der Postmoderne sind die Oberflächlichkeit, der Verlust von Historizität, die Abhängigkeit der Phänomene von einer völlig neuen Technologie, »die ihrerseits für ein neues Weltwirtschaftssystem steht«3 und die Wandlung des Raumgefühls.4 Ihab Hassan hat überdies einen Katalog an 1 2 3 4

Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986. F. Jameson: Postmoderne, S. 48. Ebd., S. 50. Vgl. Ebd.

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Merkmalen zusammengestellt, an denen postmoderne Kunst und Kultur ablesbar sind. Dazu gehören Unbestimmtheit, Fragmentarisierung, die Auflösung des Kanons, der Verlust von Identität und Tiefe, das Nicht-Zeigbare, Nicht-Darstellbare, Ironie, Hybridisierung, Karnevalisierung, Performanz und ein ausgestellter Konstruktcharakter.5 Folgt man Lyotards Ausführungen über die Postmoderne, bleibt der menschliche Körper ein Signifikant in einem Netz aus Sprachspielen. Teilt man Jamesons neomarxistische Thesen, ist der Körper immer noch in einer inzwischen globalisierten Kulturindustrie eingespannt, um sich im Kino zu regenerieren und dann wieder Mehrwert für das Kapital zu schöpfen. Oder man konsultiert Hassans breit angelegten ästhetischen Merkmalskatalog, der merkbar auf das Groteske der Frühen Neuzeit, auf das Barock und implizit auf die Romantik und die jeweiligen Körperkonzepte, die in der Postmoderne wiederkehren, rekurriert. Innerhalb des Films haben zumindest bei Jameson auch längst die Dinge die Überhand gewonnen. Sie knüpfen das globale Netz der Kommunikation, in dem der Körper des Konsumenten zappelt und das die Figuren im Film nicht mehr überblicken können. Für Jameson ist deswegen der Verschwörungsfilm die entscheidende Allegorie der Postmoderne.6 Von Interesse für die Diskussion um ein Körper-Kino in der Postmoderne sind weiterhin Jürgen Felix’ programmatische Reader Die Postmoderne im Kino7 aus dem Jahr 2002 und Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper8, der vier Jahre vor dem Postmoderne-Band erscheint und sowohl das Ende der Postmoderne heraufbeschwört als auch gegen diese Postmoderne eine neue Authentizität des Körpers im Kino ausspielt. Die Erfahrung dieser neuen Authentizität macht der Band vor allem an den Inszenierungen von Gewalt und Schmerz fest. Dem Großteil der Beiträge dieses Sammelbandes gemäß springen diese Erfahrungen auch auf geradezu magische Weise von den Figuren der Leinwand auf das Publikum über. Unter die Haut spiegelt mit dieser Ansicht ein allgemeines Dilemma in der Filmtheorie. Denn innerhalb des Mediums Film, das technisch immer den Körper zeigt, gilt es genretheoretisch und historisch zu unterscheiden, wie der menschliche Körper im Film in Erscheinung tritt. In der Filmtheorie bezieht sich das Körper-Kino erstaunlicherweise zunächst auf den Körper des Betrachters. Es geht um sein Mitfühlen und Mitleiden, seine Erregung, sein Erschrecken, seine Furcht und seinen Ekel, Regungen, die sicht- und messbar und bis jetzt fast ausschließlich empirisch oder psychoanalytisch ausgelotet worden sind. Die Reaktion des Betrachters ist aber auf seltsame Weise mit den Erfahrungen der Körper im Film verbunden, so dass die somatische Seite des Kinos immer auch mit der Semiotik oder Ästhetik auf der Leinwand verbunden ist, sei es bei weinenden Körpern im Melodram, bei denen das Publikum mitweinen muss, bei sexuell erregten Körpern im pornographischen Film oder bei Spannung, Angst, Schrecken und Ekel angesichts von Gewaltakten im modernen Horrorfilm.9

5 6 7 8 9

I. Hassan: Postmoderne heute. Vgl. Fredric Jameson: The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System. London 1995. Jürgen Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader, Marburg 2002. J. Felix (Hg.): Unter die Haut. Zu der doppelgängerischen Verbindung zwischen Betrachter und Bild vgl. E. Morin: Der Mensch und das Kino, S. 28-41.

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Das jüngere Kino ist ein Kino der Körper auch im Sinne von Gilles Deleuze, der mit seinen Bänden Das Bewegungs-Bild. Kino 1 und Das ZeitBild. Kino 2, basierend auf einer Verbindung des semiotischen Instrumentariums von Charles S. Peirce mit der Bewegungs- und Zeittheorie von Henri Bergson,10 vielleicht den letzten ambitionierten Wurf einer filmischen Großtheorie vorgelegt hat. Deleuzes Theorie zersplittert dabei in viele Einzelbeobachtungen und -analysen, die sich wiederum in dem Feuerwerk an semiotischer Terminologie spiegeln, das Deleuze anführt. Aus seiner Perspektive herrscht unter anderem im aktuellen »Zeit-Bild-Kino« ein modernes Kino der Körper vor, in dem es ausschließlich auf die »Präsenz der Körper«11 ankommt und weniger auf andere Akte der Repräsentation oder der Narration. Deleuze löst damit auch den Widerspruch von Theater und Kino bei Antonin Artaud in der Theatralität eines Kinos der Körper auf. Man kann Artauds Manifest eines Theater der Grausamkeit (1932) zusätzlich entgegenhalten, dass die Grenzen des Zelluloidstreifens, die für Artaud die Poesie des Kinobildes so einschränken, dass dieses der Poesie des Theaterbildes nichts entgegenzusetzen habe, genauso einschränkend und damit aber auch genauso angreifbar sind wie die Grenzen der guckkastenorientierten Theaterbühne. Avanciertes Theater genau wie der avancierte Film können beide als ständiger Versuch betrachtet werden, die medialen Rahmenbedingungen zu überschreiten oder sie zumindest reflexiv so zu thematisieren, dass sie auf die eine oder andere Weise künstlerisch oder intellektuell eingeholt werden können. Dem Theater dabei ein höheres Maß an Authentizität, eine bessere Anpassung an die »Erfordernisse […] des Lebens«12 und damit auch eine höhere Effektivität zuzugestehen, wie es Artaud unternimmt, bedeutet in dieser Frage nur, die Kategorien zu vertauschen. Der Film ist hingegen genau das Medium, in dem für Deleuze die Formel »Gebt mir einen Körper«, die ein Denken durch und nicht gegen den Körper verlangt, ausgespielt wird: »Durch den Körper (und nicht mehr durch Vermittlung des Körpers) vermählt sich das Kino mit dem Geist, mit dem Denken.«13 Unausgesprochen bleibt in der Feststellung eine Referenz an die Kinotheorie Siegfried Kracauers, der in der Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960) im Kino ebenfalls das Denken »von unten nach oben«, also durch den Körper zum Geist verlaufen sieht.14 In beiden Körperkonzepten wird die Tendenz deutlich, über das Medium des Körpers im Film Aussagen über den Betrachterkörper im Kino treffen und damit metonymische Verbindungen zwischen beiden Körpern herstellen zu können. Auf diese Weise wird der reine metaphorische Repräsentationscharakter des filmischen Körpers unterlaufen. Das filmtheoretische Schwanken zwischen einer Beschreibung der Ebene des Films und einer Beschreibung des Betrachters, die man Kinosituation oder Kinodispositiv nennen könnte, scheint gerade für das Kino der Körper (Pornofilm, Horrorfilm, Melodram, Actionfilm) symptomatisch zu sein, da hier am deutlichsten somatische Effekte hervorgerufen werden, wie das 10 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1982. 11 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1997, S. 259. 12 Antonin Artaud: »Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest)«, in: Ders.: Das Theater und sein Double. Das Théâtre de Séraphin, Frankfurt am Main 1979, S. 95-107, S. 106. 13 G. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 244. Vgl. E. Morin: Der Mensch und das Kino. 14 Vgl. S. Kracauer: Theorie des Films.

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Zurückschrecken, das Augenschließen, das Aufstellen der Nackenhaare oder die Gänsehaut. Die Unentschiedenheit der Filmtheorie zwischen einer »Semiotik« des Films und einer »Somatik« des Kinos entspricht wohl auch dem Wunsch nach einer deutlichen und messbaren Korrespondenz zwischen Filmkörper und Betrachterkörper. Dieser Wunsch verfolgt die Theorie von den Anfängen bei Kracauer oder auch Béla Balázs bis zur ihrem zersplitterten Ende bei Deleuze. Deutlich wird in der Betrachtung der meisten gegenwärtigen Körperfilme auch, dass der Aspekt, den Deleuze mit der Inszenierung des »alltäglichen Körpers« zum Beispiel in Filmen Andy Warhols, John Cassavetes’ und JeanLuc Godards beschreibt, von der Inszenierung dessen, was Deleuze den »grotesken Körper« oder den »Opern-Körper« nennt, abgelöst worden ist.15 Die Inszenierung des Körpers im neueren Film kann mit den Worten Deleuzes nur noch als »liturgisch« oder »zeremoniell«, in vielen Fällen mit dem Begriff Michail Bachtins als »grotesk« bezeichnet werden. Gerade der postmoderne Film des Körpers »veranstaltet eine Zeremonie, nimmt einen initiatorischen und liturgischen Aspekt an und versucht, sämtliche metallischen und flüssigen Kräfte eines heiligen Körpers zu beschwören, bis hin zum Schrecken und zur Revulsion«16. Genau beim »Schrecken« und bei der »Revulsion« setzt der Sammelband Unter die Haut in einer Auseinandersetzung mit der »Postmoderne« im Film ein. Der Herausgeber Felix teilt dem Leser im Vorwort des Bandes mit, dass am Anfang die Vermutung war, daß sich das postmoderne Spiel mit Zeichen und Zuschauer erschöpft hatte, ein Referenzsubjekt neu verortet wurde: daß sich der Körper wieder als seismographisches Instrument und möglicher Ort authentischer Erfahrung er17 weist – ein geschundener, gequälter, bis zur Selbstauflösung destruierter Körper.

An dieser Feststellung sind zwei Dinge auffällig: Zunächst ist in dieser Reihe Gewalt die exklusive authentische Körpererfahrung. Die Repräsentation von Lust oder anderen Körpererfahrungen scheint für die Repräsentation im Kino der Körper nur eine marginale Rolle zu spielen. Ebenso zählt Felix eigentümlicherweise zu der Vermutung der Erschöpfung des postmodernen Films präzise drei Beispiele auf, die als exponierte Vertreter innerhalb des postmodernen Spiels mit Zeichen und Zuschauer gehandelt werden: Peter Greenaways The Belly of an Architect (dt. Der Bauch des Architekten, GB 1986), David Lynchs Blue Velvet und Léos Carax’ Les Amants du Pont-Neuf (dt. Die Liebenden von Pont-Neuf, F 1991). Was bedeutet also die polarisierende Gegenüberstellung von Postmoderne und Körper-Kino? Felix macht in dem Klappentext des Bandes ein »Ende« mit der »postmodernen Dekade«,18 behält sich im Vorwort aber noch ein »möglicherweise« und eine »exakte Periodisierung des filmischen Postmodernismus« vor.19 Trotzdem scheint eines klar zu sein: »Das Kino der Körper, wie es Greenaway, Lynch und Carax, Almodóvar, Cronenberg und viele andere, auch der späte Fassbinder, inszeniert haben«, fordert nicht nur »zur 15 16 17 18 19

Vgl. G. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 244-262. Ebd., S. 247. Jürgen Felix: »Vorwort«, in: J. Felix: Unter die Haut, S. 9-12, S. 9. Vgl. J. Felix: Unter die Haut, Klappentext. Vgl. Ebd., S. 9.

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Neubestimmung einer Filmkultur heraus«,20 sondern macht mit seinem Rekurs auf den Körper einerseits Schluss mit der Postmoderne und weist andererseits auf eine spezifische Perspektive innerhalb der »Hochzeit des Postmodernismus« hin: Im selbstreferentiellen Spiel mit Zeichen und Zuschauer wird die zur ›Leerstelle‹ degradierte Identität neu markiert – im Rückbezug auf klassische Vor-Bilder, in der Wiederkehr des hysterischen Frauenkörpers und den modellierten Bodies der Muskelmänner ebenso wie in den multiplen Images der Pop-Ikonen und den Strategien des Gender-Crossing. Die Auflösung der natürlichen Körpergrenzen gebiert Schreckensvisionen, fordert zugleich zu einer Neubestimmung des Subjekts heraus: in den pornographischen Selbstinszenierungen und Szenarien des Serial Killer-Films, im Nachlaß der Splatter Movies wie im Kontext des Underground- und Experimental21 films.

Allein, wenn man die von Felix genannten Beispiele im Auge behält, bleibt der Verdacht nicht aus, dass erstens der Zuschauer überhaupt nicht aus den postmodernen Zeichenlabyrinthen entlassen wurde und dass zweitens gerade der postmoderne Film seine »leeren Zeichenspiele« eben mit dem menschenförmigen Körper veranstaltet. Denn eben dieser Körper stand trotz aller neuen Forderungen nach Authentizität, Präsenz und Indexikalität schon immer im Zentrum des postmodernen Films.22 Die Körper der Figuren in diesen Filmen dienen weder der Referenz und spielen einen realen, vordiskursiven Körper des Schmerzes, des Leidens oder der Gewalt wieder in die Kunstform Film ein, noch dienen sie der Repräsentation abwesender Körper oder Körperbilder. Stattdessen verlängern sie die kritisierten »leeren« Signifikantenketten und schachteln auf selbstreferenzielle Weise abstrakte Konzepte über weitere abstrakte Konzepte. So deutet beispielsweise Felix selbst die Blickkonstruktionen in Blue Velvet als Variationen der Freudschen Urszene. (Abb. 3) Diese Szenen bieten demzufolge eine deviante Relektüre des Konzepts der Psychoanalyse an, angereichert mit Bildern der Gewalt und der Monstrosität, aber sie zeigen keinesfalls den Körper einer Figur als Ort einer möglichen Authentizität. In Greenaways Filmen findet überdies, wie kaum in anderen Kunstwerken sonst, eine komplexe Verschränkung verschiedener Kunstdiskurse mit dem Melancholiediskurs und einer überbordenden Verwendung ikonographischer Traditionen von Künsten und Medien, Zeichen, Symbolen und Allegorien statt. So wird beispielsweise der Bauch des Architekten Kracklite in The Belly of an Architect an einer zentralen Stelle zusammen mit einem Kopiergerät inszeniert. Der maschinelle Medientransfer eines »Bauchbildes«, die Verschriftlichung und damit in mehrfacher Hinsicht die Verflachung des Bauches (einer Statue) auf das Kopierpapier, weist neben der Unendlichkeit aufeinander abbildbarer Zeichenketten und Referenzen, die das »System Pe-

20 Ebd. 21 Ebd., Klappentext. 22 Ein Blick in Felix’ Band Die Postmoderne im Kino bestätigt diesen Verdacht: Zumindest die Filmemacher Peter Greenaway und David Lynch sind als herausragende Vertreter einer filmischen Postmoderne sogar jeweils mit zwei Beiträgen zu ihren Filmen vertreten. Vgl. J. Felix: Postmoderne im Kino.

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ter Greenaway«23 in all seinen Filmen anbietet, eben auch darauf hin, dass der Körper und das technische Medium als Prothese im McLuhanschen Sinne immer schon in einem supplementären Verhältnis zueinander stehen. (Abb. 91)

Abb. 91: Das ist kein Bauch Denn auch Kracklites Bauch ist kein Bauch, sondern die Abbildung eines Bauches und der Titel eines Films, wie man frei nach René Magrittes Bild Ceci n’est pas une pipe (1928/29) formulieren kann. Kracklites Bauch ist ein Effekt der Medien, und Kracklites Bauch ist, wie andere Körperteile in den Filmen Greenaways auch, schon als mythischer mehrfach präfiguriert und damit überdeterminiert. Der tatsächliche Tumor in Kracklites Bauch kann letztlich nur als Ergebnis einer kunsthistorischen und allegorischen Diskursivierung betrachtet werden und damit als symbolische Inbesitznahme des Bauches beziehungsweise immer schon als »Kopie«, als Simulakrum des Bauches des Architekten Louis Etienne Boullée, als dessen Epigone Kracklite auftritt.24 Kracklite stellt sich in eine genealogische Reihe, die Boullée anführt, und erbt auch dessen vermuteten Bauchkrebs. Der Tumor im Bauch des Architekten ist also das Ergebnis eines genealogischen Projekts, basierend auf Aufzeichnungs- und Übertragungssystemen wie Büchern, Bildern, Skulpturen, Architektur, Kopiergeräten und auch Vermutungen und Gerüchten. So materialisiert allein die durch verschiedene Archive gesteuerte Imagination Kracklites und gerinnt zum Tumor. Sie wird damit zu einem störend materiellen Körperrest im Bauch des Architekten einerseits und dabei ganz Imagination, Diskurs, Simulation und Effekt der Medien andererseits. Die Inszenierungen von Körperlichkeit und postmodernem Zeichenspiel sind gerade im Rahmen der Filme von Lynch, Greenaway und auch Carax eben nicht wechselseitig exklusiv, sondern bedingen vielmehr einander. Das Kino der Körper ist im postmodernen Film nicht säuberlich vom Kino der Zeichen und 23 Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München 1998. 24 Grundlegend zu dem reichen Archiv an ikonographischen und diskursiven Anschlüssen in den Filmen Peter Greenaways ist Detlef Kremer: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher, Stuttgart, Weimar 1995.

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der Selbstreferenzialität zu trennen. Der Körper im Film ist immer ein Zeichen unter anderen, und jeder Versuch, ihn innerhalb des Films als einen möglichen Ort des Authentischen zu identifizieren, fällt auf die anderen Zeichen zurück, zu denen der Körper different Stellung bezieht. Die Szene mit Kracklite am Kopiergerät bietet aber einen wunderbaren Einstieg für eine weitere Beobachtung: Das postmoderne Kino der Körper als Kino des extremen Körpers ist ein Kino der technischen Medien. Stellt Deleuze auch ein Kino der »Präsenz des Körpers« fest, so ist es sicherlich auch eines der Präsenz von technischer Medialität. Die Repräsentation des Körpers im modernen und postmodernen Film verläuft dabei zumeist im Rahmen einer Repräsentation des Repräsentationssystems selbst, und die einfachste Art und Weise, dies zu reflektieren, ist eben, das Medium in die Diegese des Films selbst einzuspielen. Die Veränderungen der Körperdarstellungen gehen deswegen mit einer Veränderung der Repräsentation von Medialität einher. Das Kino der Körper zeigt vielleicht eine weitere Stufe der Medienevolution, die man als Simulation oder mit der vollständigen wechselseitigen Beschreibbarkeit und Aufzeichenbarkeit von Mensch und Medium bezeichnen kann. Der Medienwechsel zieht die Transformation des Körpers nach sich. Neue Phantasmen der Kombination von Mensch und Medium werden im modernen und postmodernen Film durchgespielt, neue Schematismen eines körperlichen und medialen Modells vom Menschen werden erprobt. Wie Friedrich Kittler in seiner Vorlesung Optische Medien feststellt, weiß man »nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen«25. Kittler belegt diese These einleuchtend an dem Wandel der Metapher für die menschliche Seele, die in der Antike noch die Tabula Rasa, die Wachstafel, ist, während um 1900 die Bergsteiger, die nach ihrem Absturz davon berichten können, erzählen, dass »in der Sekunde des drohenden Todes […] vor den inneren Augen vielmehr in rasendem Zeitraffer der Film eines ganzen gewesenen Lebens noch einmal [abläuft]«26. Wenn der postmoderne Film also Körper in Szene setzt, dann sind diese Körper weder etwas Vordiskursives noch verweisen sie auf ein authentisches Original. Es sind vielmehr Körper aus kulturell eingeübten Zeichensystemen und Praktiken sowie zeitgenössischen technischen Registraturen.

2. Unsterblichkeitstechniken Als »New Gothic« kann der postmoderne Horrorfilm bezeichnet werden, der von der Explizitheit des Körper-Horrors im Splatterfilm abrückt und eine Renaissance des inventarlastigen Gothic Horrors vornimmt.27 New Gothic schreibt den Gothic Horror aber nicht bruchlos fort, sondern benutzt ihn als 25 F. Kittler: Optische Medien, S. 28. 26 Ebd., S. 30. 27 Der Begriff »The New Gothic« entstammt der gleichnamigen Anthologie mit Erzählungen, herausgegeben von Patrick McGrath und Bradford Morrow, die ihn allerdings nur als Merkmal für das Fortbestehen des Gothic Horrors in der Gegenwart benutzen: »Würde Poe diese Sammlung in die Hand bekommen, wäre er vielleicht erstaunt über die verschiedenartigen Akzente und Schauplätze der Texte, aber er würde den Geist, der sie beseelt, unzweifelhaft erkennen und gutheißen. Dies ist ›the new gothic‹.« P. McGrath/B. Morrow (Hg.): The New Gothic, S. 13.

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ein Archiv für Geschichten in neuen ästhetischen und narrativen Rahmen. Häufig geht es dabei um eine Relektüre des Gothic Horror-Archivs im Modus der zitierenden Stellenlektüre, in der bestimmte Figuren, Settings und Narrative, aber auch filmästhetische Merkmale sowie ikonische Schauspieler und Regisseure, wie zum Beispiel James Whale in Gods and Monsters, neu hervorgehoben werden. (Abb. 92) Die Kehrseite dieses Prozesses ist eine Musealisierungseffekt, der den Gothic Horror im Akt der Zitierung reanimiert, ihn aber zugleich schon als das Vergangene und Tote im Akt der Erinnerung bestätigt. Der Status des Gothic Horrors im neuen Rahmen von New Gothic ist deshalb ein »Nachleben[…] der Werke«28. Er bestätigt auch das melancholische Interesse am Vergangenen und Toten, wie er motivisch an der Renaissance von Vampirismus und Spuk im Film zu belegen ist. »Allegorisch«, »fixierend« und »mortifizierend« kann der New Gothic-Blick auf den Gothic Horror im Sinne Walter Benjamins bezeichnet werden.29 Der Gothic Horror wird zur Hieroglyphe, die als änigmatische und ornamentale Folie dem New Gothic-Horror zugrunde liegt, wie das barocke Wissensarchiv in Form der Bücherkabinette dem deutschen Trauerspiel – mit all den melancholischen Implikationen, die Benjamin in dieser Beziehung sieht:30 Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück, so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. […] Ein Schema ist sie [die Allegorie, A.M.], als dieses Schema Gegenstand des Wissens, ihm unver31 lierbar erst als ein fixiertes: fixiertes Bild und fixierendes Zeichen in einem.

Mit der postmodernen und allegorischen Reanimation des Gothic Horrors kehren in Anführungszeichen vor allem das dramatische Personal, die Monster, und das »Mobiliar« der Gothic Novels des 18. und 19. Jahrhunderts über die Reaktivierung und Zitierung der klassischen Horrorfilme der 1930er und 1940er Jahre zurück. Zu den Filmen, die sich speziell über die UniversalMonster den literarischen Vorlagen des Gothic Horrors nähern, gehören Mike Nichols’ Wolf (US 1994), Kenneth Branaghs Mary Shelley’s Frankenstein (US 1994) und Stephen Frears Mary Reilly (US 1996) nach dem gleichnamigen Roman (1990) von Valerie Martin über das Hausmädchen von Robert Louis Stevensons Figur Dr. Jekyll/Mr. Hyde. Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula, der 1992 diese Reihe initiiert, besticht durch den Versuch, das 19. Jahrhundert in Stokers Roman als

28 W. Benjamin: Passagen-Werk, S. 575, [N 2,3]. 29 Vgl. W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiel, S. 138-167. Vgl. Bettine Menke: »Das Nach-Leben im Zitat. Benjamins Gedächtnis der Texte«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main 1991, S. 74-110. 30 Zu einer exemplarischen Verschränkung von Körper-Horror und melancholischem New Gothic in den Filmen Guillermo del Toros vgl. Arno Meteling: »Melancholie und Groteske. Vaterlose Gesellschaft in den Filmen Guillermo del Toros«, in: Splatting Image 58 (Juni 2004), S. 7-14. 31 W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 161.

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Abb. 92: Nachgestellt: The Bride of Frankenstein eine »Archäologie des Jüngstvergangenen«32 aus der Perspektive der technischen Medien zu erzählen. Das im Roman ungenannte Jahr der Ereignisse ist in der Verfilmung 1897, das Erscheinungsjahr des Romans, und dem Medienverbund des Romans wird eine Episode über eine kinematographische Vorführung in London hinzugefügt. Graf Dracula, im Roman eine Allegorie des exotischen und gefährlich unzivilisierten Orients, überschreitet mit seinem Habitus in Coppolas Film die Grenze seiner ihm zugeschriebenen Animalität und mit seinem Kinobesuch auch die Grenze von Hoch- und Popkultur. So wird in Bram Stoker’s Dracula eine optische Reminiszenz an die beiden paradigmatischen urbanen Figuren des 19. Jahrhunderts, den Flaneur und den Dandy, eröffnet.33 (Abb. 93) In dieser Rolle wandelt der verjüngte Graf durch das viktorianische London, angetan mit einem auffälligen Anzug mit Frackschößen, langen lockigen Haaren, einem Spazierstock und einer Brille mit blauen Gläsern, dem letzten Schrei aus dem Accessoire-Kästchen des Fin de Siècle. In diesem Aufzug trifft er in London auf dem Weg zum Kinematographen, der selbst ein Stück Film simuliert, das von einer frühen Filmkamera gefilmt wurde, zum ersten Mal auf Mina Murray. Als er sie nach dem Weg zum Kinematographen fragt und diesen als kulturelle Errungenschaft des Westens lobt, antwortet ihm die zuvor mehrfach als Leserin und Schreiberin ausgewiesene Mina: »If you seek culture, then visit a museum. London is filled with them.« Draculas Dandy-Persona ist in dieser Szene mit der modernen »Camp«-Haltung im Sinne Susan Sontags verknüpft, »einer Erlebnisweise, die das Ernste ins Frivole verwandelt.«34 Denn Dracula interessiert sich weniger für die Errungenschaften der britischen Hochkultur, sondern hat mit seinem Interesse für den Kinematographen einen ausgesprochenen Hang zu einer Kunstform des Populären und Frivolen. Außerdem personifiziert er als dandyistisch gekleidetes Filmmonster im Jahr 1992 einen weiteren Anspruch von Camp: »Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder ein Kunst-

32 Zum Begriff vgl. Burckhardt Lindner: »Das ›Passagen-Werk‹, die ›Berliner Kindheit‹ und die Archäologie des ›Jüngstvergangenen‹«, in: Norbert Bolz/ Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München 1984, S. 27-48. 33 Den Hinweis auf Dracula als Dandy verdanke ich André Suhr. 34 Vgl. S. Sontag: Anmerkungen zu »Camp«, S. 322.

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Abb. 93: Dracula als Dandy werk tragen.«35 Auf Coppolas Version des unsterblichen Grafen trifft beides zu. Es stehen sich mit Mina und Dracula Vertreter einer alteuropäischen Hochkultur von Museen, Literatur und Langsamkeit und einer kinematographisch geprägten Popkultur der zunehmend beschleunigten Wahrnehmung gegenüber. Welche Konstellationen diese Konfrontation noch einnehmen wird, ist Geschichte. Denn was die viktorianische Leserin Mina obendrein nicht weiß, ist die Tatsache, dass sie nur der Maske eines dandyhaften Flaneurs gegenübersteht, hinter der im Jahr 1992 mehr noch als eine literarische Figur schon längst ein Kinomonster steckt. So fällt Mina letztlich auf den schönen Schein Hollywoods selbst hinein, und beide besuchen den Kinematographen. Dort werden nicht nur frühe Erotika gezeigt, sondern mit dem Film über einen heranfahrenden Zug wird auch auf den ersten mythischen Schockfilm der Filmgeschichte angespielt. Diesem kehrt Mina den Rücken zu. (Abb. 94) Mit der Reanimation des Figurenarsenals der Gothic Novel und seiner Modernisierung im 19. Jahrhundert sowie des klassischen Horrorfilms setzt der New Gothic-Film auf eine Wiederbelebung der im kulturellen Gedächtnis abgelegten Ikonographien dieser Stoffe und Monster, seien es bestimmte Settings, Kameraeinstellungen oder auch die Gesichter von Schauspielern, die zu Ikonen der Horrorfilmgeschichte geworden sind. Im klassischen Horrorfilm der 1930er und 1940er Jahre, die eine Übersetzung von dramatisierter Literatur für den Film vornehmen, werden vornehmlich Gesicht, Stimme und Körper der Schauspieler als Transportmedien des Schreckens genutzt. Romane wie Dracula und Frankenstein werden schnell zu äußerst erfolgreichen Theaterstücken umgeschrieben und mit markanten Schauspielern aufgeführt.36 Der Erfolg der Aufführungen führt dann nahtlos zu der Verfilmung der Stücke.

35 »Phrases & Philosophies for the Use of the Young [Lehren und Sprüche für die reifere Jugend].« Ebd., S. 324. 36 Vgl. D.J. Skal: Monster Show.

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Abb. 94: Die Ankunft des Zuges Für Tod Brownings Verfilmung des Dracula-Stücks, dem oft seine sichtbare Bühnenherkunft zum Vorwurf gemacht wird, wird beispielsweise nach dem Tod von Lon Chaney der ungarische Schauspieler Béla Lugosi verpflichtet, der in Dracula die Rolle seines Lebens spielt. Lugosi zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass er zunächst nur wenig Englisch versteht und sich deswegen seinen Text als reines Aufzeichnungs- und Abspielmedium phonetisch merken und ihn so deklamieren muss, sondern auch durch eine manieristische Pose der Übertriebenheit.37 Das Medium ist in diesem Fall der Theaterschauspieler Lugosi als Körperspeicher und Abspielgerät. Der exaltierte Gestus von Lugosi wird zum Ausgangspunkt einer Kette von Zitaten übertriebener Posen bis zum New Gothic-Film. So engagiert Edward Wood den alten und morphiumsüchtigen Lugosi für seinen Film Plan 9 from Outer Space (US 1956). In diesem Film ist Lugosi in seiner Paraderolle als transsylvanischer Vampir schon längst ein Filmmonster und in diesem letzten Auftritt tatsächlich ein Untoter, da er schon vor Drehbeginn verstorben ist und privates Archivmaterial genutzt werden muss. Der »schlechteste Regisseur aller Zeiten« benutzt privates Filmmaterial, das Lugosi zeigt, wie er in einem schwarzen Vampirkostüm aus seinem Haus tritt und an einer Blume riecht, um ihn dann im Laufe des Films von einem Amateurschauspieler, der ständig seinen Mantel vor das Gesicht halten muss, zu ersetzen. (Abb. 95) In dem New GothicFilm Ed Wood von Tim Burton erlebt die Übertragungskette ihre endgültige Fassung, wenn diese Szene nachgespielt wird und die Filmfigur Ed Wood ihn in den nachgespielten Plan 9 from Outer Space einbaut. Damit erfährt diese Stelle eine zweite Zitation und mit der neuen Rahmung auch eine neue Lektüre. Die Theatralität der frühen Horrorfilme setzt sich in den 1950er und 1960er Jahren in den Filmen der britischen Hammer-Filme, die Stoffe von Universal und RKO übernehmen, fort. Ein Aushängeschild für übertriebenes Agieren, Chargieren und Posieren in den Filmen, die deswegen schnell einer Camp-Rezeption zum Opfer fallen, ist der Schauspieler Christopher Lee, der vor allem wegen seiner Rolle als Vampir Graf Dracula in den Filmen der 37 Vgl. Harun Maye: »Béla Lugosi in Hollywood – Ein Liebhaber, ein Dilettant«, in: Hungarian Studies 14 (2/2000), S. 285-295.

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Hammer-Film Productions bekannt geworden ist. Lee findet sich 1999 in Burtons Film Sleepy Hollow als deutliche Referenz auf die Ära des HammerHorrorfilms wieder. (Abb. 96) Er spielt den New Yorker Richter, der den aufgeklärten Polizeidetektiv Ichabod Crane in das verfluchte Dorf Sleepy Hollow schickt. In einer geschickten Einstellung werden dem Schauspieler dabei Flügel verliehen.

Abb. 95: Nachgestellt: Plan 9 from Outer Space Es geht in dem Film auch weniger um die Verfilmung der schauerromantischen Gespenstererzählung The Legend of Sleepy Hollow (1819/20) von Washington Irving, deren Fabel deutlich verändert wird, sondern um die zitierende Auflistung bestimmter Topoi, die für die Geschichte des Horrorfilms einstehen, bis hin zu dem grausamen Tod der Mutter des Helden in Grand Guignol-Manier, in einer »Eisernen Jungfrau«. Sleepy Hollow verhandelt verkürzt das Verhältnis von Aufklärung und Schauerromantik anhand des Themas optischer Effekte, die in dem Film wechselseitig der Ratio und der Magie zugeordnet werden, sowie der Genealogie als Familienstammbaum und Archiv. Während das in dem Film reichlich fließende Blut den hellen, unechten Ton der Hammer-Filme zitiert, spiegelt das Finale James Whales Frankenstein an der brennenden Windmühle.38 (Abb. 98) Das Ende ist aber auch schon ein Selbstzitat Burtons, der in seinem zweiten Kurzfilm Frankenweenie (dt. Frankensteenie – Der kleine, süße Horrorhund, US 1984), in dem die Handlungsstränge von James Whales’ Frankenstein und The Bride of Frankenstein auf die Wiederbelebungsgeschichte eines Hundes übertragen werden, das Finale von Frankenstein noch einmal inszeniert. (Abb. 97) Den Horrorfilmen der britischen Hammer Film Productions mit ihren beiden Stars Peter Cushing und Christopher Lee entsprechen zeitgleich in den USA die American International Pictures (AIP). Speziell die Produktionen unter der Regie von Roger Corman, der mit dem Bühnenschauspieler Vincent Price das Gesicht des übertriebenen und bis zum Camp gezeichneten Horrors der 1960er und 1970er Jahre prägt, bestimmt mit einer Reihe von Verfilmun-

38 Vgl. Helmut Merschmann: Tim Burton, Berlin 2000, S. 19-26.

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Abb. 96: Christopher Lee als Richter gen, die lose auf den Erzählungen und Gedichten Edgar Allan Poes beruhen, die Kontinuität des Gothic Horrors in der Moderne.39 Price reüssiert in seinem letzten Film als müde Version einer typischen Figur des Gothic Horrors, des Mad Scientists. (Abb. 99) Es ist Burtons Edward Scissorhands (dt. Edward mit den Scherenhänden, US 1990), in dem Price stirbt, nachdem er sein letztes Geschöpf, eine blasse und schwarz gekleidete Figur der Gothic Ästhetik, die gegen die bonbonfarbene Disney- und Norman Rockwell-Welt eines kleinen amerikanischen Vororts eingesetzt wird, ganz im Sinne der Romantik nur fragmentarisch und mit gefährlichen technischen Prothesen erschaffen hat.40 Der zitathafte Einsatz der gealterten Ikonen des Horrorfilms offenbart das Medium Film als eine mortifizierende Wiederbelebungsmaschine und als repetetives Bildarchiv zugleich. Ob Schauspieler als Körperspeicher, Bücher, Schriften und Bibliotheken als Embleme der Gutenberg-Galaxis, Massenmedien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen als Spiegel von Gesellschaft und der Medialität des Films oder auch die Darstellung von Film selbst eingespielt werden, sie alle werden im Horrorfilm zum Thema neben und zentral in der Geschichte der Bedrohung von Geist und Körper. Im Horrorfilm geht es um Bewahrung und Speicherung, um Mumifizierung und Zombiefizierung, aber auch um die Kannibalisierung von Körpern und Medien. Der Film ist das perfekte Archiv und zugleich das Geisterreich anderer Medien. Auf der filmischen Ebene verhandelt keine Gattung stärker das Thema von Verfall, Tod, Unsterblichkeit und Wiederauferstehung als der Horrorfilm. Kein Genre ist von solch einer konsequenten Logik der Serialität und damit von einem Begehren nach dem ewigen Fortbestehen der Bilder

39 Vgl. E. Warth: Haunted Palace. 40 Tim Burtons erster Kurzfilm mit dem sprechenden Namen Vincent (US 1982), ein schwarzweißer Stop-Motion-Trickfilm mit Puppen, handelt von einem Kind, das so sein möchte wie sein Vorbild Vincent Price und seine Umgebung deshalb einer Gothisierung unterzieht. Gesprochen wird der Text des Films, der in Verse gesetzt ist, von Vincent Price selbst.

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Abb. 97: Zitat: Die brennende Windmühle

Abb. 98: Zitat des Zitats: Die brennende Windmühle und Geschichten beherrscht wie der Horrorfilm. Auf die meisten Horrorfilme folgen deshalb zahlreiche Fortsetzungen und Serialisierungen, Remakes, Spin Offs, Rip Offs und TV-Versionen als Remakes oder Fernsehserien. Der Horrorfilm kommt dabei weiterhin mit relativ wenigen Sujets und mit einem überschaubaren Kanon unterschiedlicher archetypischer Monster aus. Denn diese werden in einen kontinuierlichen Zirkulations- und Recycling-Prozess eingespannt, der bis heute andauert.

Abb. 99: Vincent Price als Mad Scientist

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3. Mystery Nachdem der Splatterfilm mit dem Primat von der maximalen Sichtbarkeit der Gewalt in die Hyperrealität umgekippt ist und seine Nah- und Detailaufnahmen über den Zoom bis zur Endoskopie in den menschlichen Körper hinein verfolgt hat, entfernt sich im New Gothic-Kino die Kamera wieder vom Körper und lässt ihn in Korrespondenz zum Raum und zu den Dingen um ihn herum treten. Den Horror nach dem Splatterfilm, der unter dem Begriff »Mystery« erscheint, belegt Georg Seeßlen mit dem Begriff »SoftcoreHorror«:41 Das »neue« Genre Mystery war zunächst eine Reaktion auf eine ganz andere Tendenz des fantastischen Films, die in den 70er Jahren mit Filmen wie The Texas Chainsaw Massacre oder Dawn of the Dead begann. Die »jungen Wilden« des amerikanischen Independent Films führten den Horror so nah wie nie zuvor an unsere Wirklichkeit. Die amerikanischen und italienischen B-Film-Regisseure machten daraus eine »nihilistische« Ästhetik des unbarmherzigen, detailreichen Zeigens von Gewalt und Ekel. Dieser Hardcore-Horror brach die Übereinkunft; er gewann zwar vor allem bei jüngeren Menschen über die Sensation (wieviel halten wir noch aus?) einen Kult-Status, war aber in dieser Form im Mainstream nicht mehr vermittelbar. Er hatte, nach den großen Schocks des Anfangs, schlicht aufgehört, etwas über die Welt, in der wir leben, zu erzählen. So entstand in den 80er Jahren als Gegenbewegung eine Form von Softcore-Horror in Serien wie Poltergeist oder Nightmare in Elm Street [sic!], die den Traumcharakter ihrer Visionen betonten: Statt das Dämonische in den Alltag zu schicken, entwickelten sie einen Sog ins Jenseitige und Traumhafte und was in dieser Parallelwelt geschah, schien zugleich dem Handbuch 42 des Schreckens und dem der Psychoanalyse entnommen.

Muss man Seeßlens Feststellungen auch in Einzelheiten widersprechen, wie der einseitigen Einschätzung des Splatterfilms oder der Tatsache, dass er nichts mehr über die Welt zu erzählen habe, so sind die Beobachtungen, dass der Mysteryfilm, wenn nicht eine »Gegenbewegung«, so doch eine andere erstarkende Tendenz im Horrorfilm ausdrückt und dass dieser schon dem Handbuch der Psychoanalyse selbst entnommen ist, nicht von der Hand zu weisen. Allenfalls könnte man zum letzten Punkt noch hinzufügen, dass der Horrorfilm schon viel früher und vielleicht schon seit seinen Anfängen die Psychoanalyse neben ihren Vorläufern, der romantischen Literatur und der Gothic Novel des 18. und 19. Jahrhunderts, als »Handbuch« benutzt. Mit der Rückkehr des Gothic Horrors im New Gothic aber, der die phantastische Tradition des Horrors wieder aufnimmt, erfolgt paradoxerweise auch die Rückkehr der Detektivgeschichte, von der sich die phantastische Horrorgeschichte schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, namentlich bei 41 In der Unterscheidung zwischen den Begriffen »Hardcore« und »Softcore« wird auch die strukturell vergleichbare Beschreibbarkeit des Horrorfilms zum erotischen und pornographischen Film deutlich. 42 Georg Seeßlen: »Vom Horror zur Mystery«, in: Kinofenster 01-01 vom 12. Januar 2001, in: http://www.kinofenster.de/ausgaben/kf0101/hinter1.htm vom 27. Juli 2006.

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Edgar Allan Poe, entfernt hat. In dem neuen Genre des Mysteryfilms verbindet sich die phantastische Erzählung wieder mit der urbanen Detektivgeschichte und vor allem mit dem Sujet der Verschwörung. Während der Serial Killer-Film wie jeder Thriller immer noch das Gerüst der Recherche als Handlungsbogen benötigt, hat sich der moderne Horrorfilm spätestens seit dem Splatterfilm weitgehend davon befreit, auch wenn eine Journalistenoder Detektivfigur häufig als Protagonist eingesetzt wird, um den unbekannten Schrecken zu untersuchen und rationale Erklärungsmuster am Übernatürlichen scheitern zu sehen. Das ist auch das Grundgerüst der Fernsehserie The X-Files (dt. Akte X, US 1993-2002). The X-Files hat eine Laufzeit von neun Jahren über neun Staffeln hinweg, und das FBI-Ermittlerpärchen Fox Mulder, der für einen rückhaltlosen Glauben an außerirdische Wesen und das Übernatürliche steht, und Dana Scully, die wissenschaftliche Skeptikerin, sind weltweit zu Ikonen auch außerhalb einer globalen Fankultur geworden. Aus der Fernsehserie entspringt der Kinofilm The X-Files (dt. Akte X: Der Film – Fight the Future, US 1998) von Rob Bowman, der als Gelenkstelle zwischen der sechsten und der siebten Staffel fungiert, sowie zwei Spin Off-Serien – Millennium (US 1996-1999) und The Lone Gunmen (US 2001). The X-Files ist nicht nur für den Boom an Mysteryserien im Fernsehen der 1990er Jahre verantwortlich, sondern ebnet auch den Weg für eine neue Form des Horrorfilms. Die Serie verdankt ihren Erfolg unter anderem dem »postmodernen« Verfahren, Motive der filmischen B-Genres, namentlich des »Horrors« und der »Science Fiction«, ihrem eigenen Format, das vornehmlich der Darstellung von Detektivarbeit und Verschwörungstheorie dient, unterzuordnen und dadurch neue narrative Aspekte oder neue optische Reize abzugewinnen. Kein Motiv, kein Sujet und kein Genre bleiben ungeschoren. So gewinnt der Titel The X-Files der Serie eine zusätzliche Bedeutung. In dem Plural des Titels zeigt sich, dass die Serie wie die meisten Fernsehserien zunächst als lose Sammlung einzelner Episoden konzipiert ist. Zusammenhanglos stehen die einzelnen Folgen und Fälle nebeneinander, allein verbunden durch den Rahmen des gemeinsamen »wissenden« Beobachters des Geschehens, in diesem Falle Mulder, Scully und der Fernsehzuschauer. Aber ein Garant für den Erfolg der Serie ist sicherlich die Kontinuität. Als roter Faden fungiert die biographische Einbindung der beiden Hauptfiguren in die große Außerirdischen-Verschwörung auf der Basis der Verschwörungstheorie von der Majestic 12-Gruppe, einer regierungsgestützten Geheimgesellschaft alter Männer in Anzügen und dunklen Mänteln, die mit den Außerirdischen kommunizieren. Die Folgen, die sich mit dieser universalen Verschwörung beschäftigen, sind zumeist Doppelfolgen, die als Gelenkstellen zwischen den einzelnen Staffeln fungieren. Sie bilden den narrativen Rahmen der Serie und verschieben das transzendentale Signifikat der Verschwörung, die »Wahrheit« hinter allem, »The Truth is out There«, wie der Leitspruch von Mulder lautet, ins Unendliche. Der Mehr- und Gebrauchswert der Erkenntnis wird auf ewig fortgeschoben, dem Gesetz der Fernsehserie folgend. Ist die Wahrheit erst einmal erfasst, ist das Spiel zu Ende. Aber da Mulders Begehren dem Begehren des Zuschauers entspricht, der jede Woche neu einschalten muss, muss die Wahrheit hinter dem Zeichengewirr, hinter dem verwirrenden Labyrinth an Spuren, Indizien, Red Herrings und MacGuffins, die die Serie präsentiert, immer weiter verschoben werden. So bleiben »Spooky« Mulder und dem »X-Phile« nur die unendliche Jagd bis

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zur nächsten Folge übrig und damit letztlich nur die Zurückgeworfenheit auf das eigene Begehren. »I Want to Believe!« ist Motto des UFO-Plakats an der Wand im Büro Mulders. Exemplarisch soll die Folge The X-Files: Unusual Suspects (dt. Akte X: Die unüblichen Verdächtigen, US 1997) für das synkretistische Verfahren der Serie stehen, auf Bestandteile von Verschwörungstheorie und amerikanischer Paranoia43 umzumünzen und zu einem Serienformat zu formen. Diese Folge markiert den Beginn der fünften Staffel und wirft als Flashback ein Licht auf das erste Zusammentreffen von FBI-Agent Fox Mulder mit den drei Lone Gunmen, die als Mulders Informanten für Verschwörungstheorien fungieren.44 Die Folge spielt im Jahr 1989. Ein Lagerhaus wird von einem S.W.A.T.-Team gestürmt. Eine Blutpfütze ist zu sehen. Mulder liegt nackt und verwirrt auf dem Boden. Die drei Gunmen Langly, Frohike und Byers tauchen eingeschüchtert auf. Im Rahmen eines Verhörs wird das Geschehen in einer Reihe unterbrochener Flashbacks aus Byers’ Perspektive erzählt: Zusammengefasst geht es um Daten, die dem ARPA-Net, dem militärischen Vorläufer des Internet, entnommen werden müssen, weil diese Daten beweisen, dass Regierungsstellen (»Them«) geheime Gedankenkontrollexperimente durchführen und dazu ein Mind Control-Gas produziert haben. Es gibt in dieser Folge eine Vielzahl an Merkmalen des postmodernen Erzählens, die mit Elementen der Verschwörungstheorie verschränkt werden. Es existiert kein linearer Erzählstrang. Alle Inhalte werden in Flashbacks gezeigt, die von rahmenden Verhörszenen unterbrochen werden. Diese erfahren überdies eine deutlich subjektive Perspektivierung. Es gibt keine auktoriale Erzählinstanz mehr, die einen gesicherten, objektiven Boden von Realität und Wahrheit verspricht. Die objektivierte Bedrohung ist auch keine zentrale mehr. Nicht von singulären Atombomben oder ihren geheimen Formeln, die sich im Keller eines Mad Scientists oder einer Terroristengruppe befinden und erobert werden können, berichtet die Folge, sondern es sind kleine, unauffällige Einheiten, die unsichtbar in die Gesellschaft diffundieren können. Dieser Aspekt spiegelt sich im Aggregatzustand der Gefahr selbst. Denn es geht um ein Gas, ein Aerosol, das kranken Menschen in Asthma-Inhalatoren verabreicht werden soll. Dass das Gas unbemerkt in das Innere des Körpers eindringt und zusätzlich noch Gedankenkontrolle ausübt, markiert die Inhalatoren deutlich als überdeterminierte Signifikanten im Spiel einer postmodernen Revue klischeehafter Verschwörungsrequisiten. Der allegorische Aspekt der unsichtbaren Diffusion wiederholt sich demzufolge auch auf mehreren Ebenen – in dem für die Folge zentralen Computer-Hacking, dem unbemerkten osmotischen Infiltrieren eines fremden Systems, und in den inzwischen zum Verschwörungsklischee erstarrten Hotelbibeln, die als unauffälliges Abhörinstrument in jedem amerikanischen Hotelnachttisch liegen. Am deutlichsten ausformuliert findet sich das Konzept des unbemerkten Eindringens in ein fremdes System in dem Zahnmikrophon, das der vor der Regierung fliehenden Suzanne Modeski von ihrem Zahnarzt und 43 Vgl. Richard Hofstadter: »The Paranoid Style in American Politics«, in: Ders.: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York 1965 sowie Claus Leggewie: »Fed up with the Feds. Neues über die amerikanische Paranoia«, in: Kursbuch 124. Verschwörungstheorien (Juni 1996), S. 115-128. 44 So benannt nach der offiziellen und von allen aufrechten Verschwörungstheoretikern heftig bestrittenen Einzelschützenversion des Mordes an John F. Kennedy am 22.11.1963 in Dallas.

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vermeintlichen Freund implantiert wurde. So gelangt ganz plastisch die fremde Macht in den eigenen Körper und vor allem in den eigenen Kopf und hört diesen ab. Im Motiv der Paranoia treffen sich die Genres Horror- und Verschwörungsfilm – in dieser Folge allerdings ohne phantastische Elemente – und werden für das neue Genre des Mysteryfilms ausformuliert. Von ebenso großer Bedeutung wie die Protagonisten für diese Folge sind die Dinge, die als Zeichen auf eine mögliche Verschwörung hindeuten. Computer und ARPA-Net, die Inhalatoren mit dem Mind Control-Aerosol sowie die Hotelbibeln und das Zahnmikrophon weisen auf die Bedeutung technischer Kommunikationsmedien für eine Verschwörungsgeschichte hin. Sie spielen Fredric Jamesons Theorem eines unheimlichen Systems der Dinge im postmodernen Verschwörungsfilm durch.45 An Filmen wie Sydney Pollacks Three Days of the Condor (dt. Die drei Tage des Condor, US 1974), Alan J. Pakulas All the President’s Men (dt. Die Unbestechlichen, US 1976) und David Cronenbergs Videodrome sieht Jameson dabei vor allem den Verdacht an der globalen Unübersichtlichkeit filmisch umgesetzt. Allegorisch für diesen Verdacht steht die Verschwörung ein, die durch das undurchsichtige Netz von technischen Medien repräsentiert wird. So weist der Verschwörungsfilm durch den Hinweis auf das Unsichtbare und Undarstellbare der Welt hinter und zwischen den Medien auf die Generalverschwörung des Weltsystems hin.

45 Vgl. F. Jameson: Geopolitical Aesthetic.

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II. Gespenster. The Others, The Mothman Prophecies, Ringu Wie die Technik immer wieder die Natur von einer neuen Seite zeigt, so variiert sie auch, indem sie an den Menschen herantritt, immer von neuem seine ursprünglichsten Affekte, Ängste und Sehnsuchtsbilder. […] Es ist aber auch in der Technik, ihrer Natursache halber, intensiver als in andern Bezirken. Daher wirken alte Photographien gespenstisch: nicht alte Graphik. Walter Benjamin Es ist, als ob etwas an Ihren Augen saugte. Ihre Augäpfel sind, das haben Sie inzwischen begriffen, der einzige Teil Ihres Totenkörpers, der im altlebendigen Sinne zu spüren vermag. An den Augen zieht es Sie in die Abteilung für Unterhaltungselektronik. Georg Klein: Unsere lieben Toten

1. Spuk Die Gespenster sind nie tot gewesen. Sie geistern immer noch höchst lebendig durch die Philosophie, die Kulturwissenschaften, die Medientheorie sowie durch die Künste und die Medien. 2002 findet eine Tagung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit dem Titel Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien statt. In der Einleitung des Sammelbandes heißt es dazu programmatisch: Zwischen diesen Polen der Metaphorizität und der Realität [des Gespenstischen, A.M.] liegt aber noch ein Drittes: der weite Bereich der Medialität, der sich in seiner modernen Fassung – Begriffe wie ›Medium‹ oder ›Fernsehen‹ zeugen davon – ohnehin vom Spiritistischen herschreibt und zwischen Wirklichkeit und Rhetorik, zwischen Wesen und Erscheinung, seine Prozesse der Kodierung und Übertragung ansetzt. Eine weitere These […] lautet, dass Gespenster sich in den unterschiedlichen Medien – Literatur, Fotografie, Film, Internet – nicht nur verschieden darstellen, 46 sondern dass sie selbst Reflexionsfiguren der Medialität sind.

Nicht allein das Gespenst des Marxismus verhandelt Jacques Derridas Buch Marx’ Gespenster, sondern das gesamte Hegelsche Erbe und all das, was in den Geisteswissenschaften verabschiedet worden ist: Autor, Subjekt, Welt46 Moritz Baßler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005, S. 924, hier S. 11.

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geist und auch der menschliche Körper. Aber sie gibt es noch: als Gespenster, als Signifikanten ohne Signifikat und damit als referenzlose Theoriegebilde. Um sie zu fassen und ihren Fluch zu bannen, muss man zu ihrem Ursprung zurückkehren, Spurensicherung, Archäologie und Genealogie betreiben und den begrabenen Körper finden, um ihn mit den richtigen Worten und Ritualen endgültig zur Ruhe zu legen. So ist der Geist nach Derrida als Gespenst auch die Spur einer zugrunde liegenden vorgängigen Körperlichkeit: Die Produktion des Spuks, die Konstituierung des Phantom-Effekts, das ist nicht einfach eine Vergeistigung, ja noch nicht einmal eine Verselbständigung des Geistes, der Idee oder des Gedankens, so, wie sie par excellence im Hegelschen Idealismus stattfindet. Nein, erst wenn diese Verselbständigung mitsamt der entsprechenden Enteignung und Entfremdung einmal verwirklicht ist, und nur dann, stellt sich das gespenstische Moment plötzlich ein, es stößt ihr zu, es fügt ihr eine zusätzliche Dimension hinzu, ein Simulakrum, eine Entfremdung oder eine Enteignung mehr. Das heißt einen Körper! Einen Leib! Denn es gibt keinen Spuk, kein Gespenst-Werden des Geistes, ohne zumindest den Anschein eines Leibs, in einem Raum unsichtbarer Sichtbarkeit, als Verschwinden (dis-paraître) einer Erscheinung (apparition). Damit es Spuk gebe, bedarf es einer Rückkehr zum Leib […] Der spektrogene Prozeß antwortet also auf eine paradoxe Verleiblichung. Wenn die Idee oder der Gedanke einmal von ihrem Substrat abgelöst sind, zeugt man Gespenster, indem man ihnen einen Leib gibt.47

Derrida beschreibt im Rekurs auf das von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest (1848) beschworene »Gespenst des Kommunismus« eine Gegenwart, die spürbar und in ihrer Unsichtbarkeit unheimlich und bedrohlich ist. Er weist damit auf die Virulenz einer Denkfigur hin, die auch den verabschiedeten »Geisteswissenschaften« geeignet scheint, eine Fremdheit im Eigenen diskursiv verfügbar zu machen, die Spur einer Präsenz, die aus der Vergangenheit und aus verschüttet geglaubten Archiven kommt und ungehindert in den Diskursen spukt. Nach der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften,48 so der Titel einer der ersten programmatischen Sammelschriften des Poststrukturalismus in deutscher Sprache (1980), fällt auf, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gespenstern und Spiritismus nach dem Tod von Autor, Subjekt und den Geisteswissenschaften vermehrt und vor allem im Umfeld einer technikzentrierten Medientheorie zu beobachten ist. Der böse Geist von Poststrukturalismus und Medientheorie trägt Namen wie »Sinn«, »Weltgeist« oder »Hermeneutik«. Nach der Bildungsreform der Jahre 1770 bis 1800 sei, so Friedrich Kittlers Einleitung, an die Stelle vieler Geister »der Geist« getreten, »dem fortan alle Felder und alle Wege des Wissens anbefohlen sind«49. Spätestens seit Nietzsche aber, so die Poststrukturalisten, sei damit Schluss. Doch womit schlagen sich die Geisteswissenschaften nach dem Tod von 47 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 200. Vgl. Michael Sprinker (Hg.): Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s Spectres of Marx, London 1999 sowie Jacques Derridas Antwort auf die Thesen des Symposions in Jacques Derrida: Marx & Sons, Frankfurt am Main 2004. 48 F. Kittler: Einleitung. 49 Ebd., S. 8.

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Autor, Subjekt und Weltgeist herum? Als Antwort darauf wendet sich auch die technikorientierte Medientheorie nicht selten dem Gespenstischen zu.50 So feiert es als Diskurs des abgeschafften Geistes in einer Geschichte der Medien seine Wiederauferstehung. Hubertus von Amelunxen führt an der Funktion des Mediums im 19. Jahrhundert folgendes Paradoxon aus, das man gut auf das gegenwärtige spiritistische Interesse der Medientheorie anwenden kann: Die Aufgabe des Mediums besteht in der Überwindung räumlicher wie zeitlicher Distanzen. Im spiritistischen Medium tritt die Medientechnik des 19. Jahrhunderts in kristalliner Form zutage: Das Medium als Träger erzeugt eine Präsenz und hat sie zugleich zu bezeugen. Es soll vermitteln – zwischen Geist und Mensch oder Sender und Empfänger – diese Vermittlung aber ebenfalls authentifizieren und archivieren. […] Der Geisterseher, das Medium, muß sich gezwungenermaßen der verfügbaren Signifikanten bedienen, um dem immateriellen Eindruck des Jenseits (des Unsicht51 baren) einen materiellen Träger Ausdruck zu verleihen.

Das Medium muss einerseits den Kontakt herstellen und einen magischen Kanal ins Jenseits öffnen. Andererseits muss es für die Authentizität eben dieses Kontakts bürgen und damit Zeuge sein. Das Medium ist in diesem Fall selbstbegründend und nur scheinbar apriorisch. Es beschreitet in der Sprache der Logik den Weg des infiniten Regresses, der unendlichen Rekursion. Spiritistische Séancen oder Hypnose sind aus dem Blickwinkel der Kulturwissenschaft aber nur der verdünnte Teil dessen, was jedes Medium an rituellem Charakter, an magischer und religiöser Faszination, an einer kultischen Codierung des Umgangs beinhaltet und programmiert. Die Kulturwissenschaft (als Gespensterwissenschaft) verbucht dies deshalb buchstäblich unter dem Kapitel »Mediale Praktiken«: Der Begriff »Medium« wird heute meist nachrichtentechnisch aufgefasst. […] Historisch gesehen ist dies ein reduzierter Sprachgebrauch, der ein ursprünglich magisches und kultisches Erbe verdrängt hat: »Medien« sind im herkömmlichen Sinn nicht einfach Übermittler von Botschaften, sondern Vermittler von spirituellen Kräften. Sie dienten nicht nur der Distribution von kulturellem Wissen zwischen Sendern und Empfängern, sondern führten zum Erlebnis einer Transformation der Beteiligten im Vollzug kultureller Praktiken – mit allen Vorzügen und Risiken der Selbstpreis52 gabe. Man mag ähnliche Tendenzen auch den technischen Medien attestieren.

Parallel zur Renaissance des Spiritismus in der Medientheorie im Sinne einer Ausweitung der archäologischen und genealogischen Archivarbeit auf das Jenseits kehrt auch der Wiedergänger in das Kino des Horrorfilms zurück. Zunächst ist es die Figur des Vampirs, die zeitlos und unsterblich als histori50 Vgl. F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 20-25; John Durham Peters: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication, Chicago, London 1999; W. Hagen: Der Okkultismus der Avantgarde; W. Hagen: Radio Schreber sowie S. Andriopoulos: Besessene Körper. 51 Hubertus von Amelunxen: »Einbruch in die Transzendenz«, in: Edith Decker/ Peter Weibel (Hg.): Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Köln 1990, S. 307-316, hier S. 314. 52 H. Böhme/P. Matussek/L. Müller: Orientierung Kulturwissenschaft, S. 179.

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scher Weggefährte des Films inszeniert wird – in Filmen wie Bram Stoker’s Dracula, Interview with the Vampire oder Shadow of the Vampire.

Abb. 100: Der Vampir im Kino Interview with the Vampire zeigt neben den homoerotischen und familiären Beziehungsketten, die der Film aus dem gleichnamigen Roman von Anne Rice extrahiert, vor allem das existenzielle Problem, das den Vampir zur Allegorie oder besser: zum Gesicht, zur Maske des Mediums Film macht. Denn aufgrund seiner Unsterblichkeit ist der Vampir dazu verdammt, sein Denken, sein Fühlen und sein Begehren bis hin zu seinen Gesten auf ewig zu wiederholen. Das Licht, das er sieht, ist nie die Sonne selbst, sondern immer nur reflektiert und damit geliehen. Ewig starrt er auf die Platonischen Höhlenwände des künstlichen Lichts. Letzteres erfährt der Vampir Louis, als er, endlich im 20. Jahrhundert angekommen, in einem Kino mit Friedrich Wilhelm Murnaus Sunrise (US 1927) nach langer Zeit seinen ersten Sonnenaufgang sieht. Dass mit Bildern aus Murnaus Nosferatu in Interview with the Vampire auch der erste Filmvampir in Erscheinung tritt, weist überdies auf die tödliche Gefahr für die Vampire durch das direkte Sonnenlicht hin, an dem der Nosferatu Graf Orlok 1921 in Murnaus Film stirbt. (Abb. 100) »Burned by Light« ist auch der Arbeitstitel von Shadow of the Vampire, der den Filmdreh von Nosferatu nachstellt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass in Shadow of the Vampire der Vampir echt ist. Mit Max Schreck in Shadow of the Vampire hat Murnau, der in getreuer Zeichnung des Gothic Topos vom Mad Scientist, komplett mit Schutzbrille und weißem Kittel, als besessener und wissenschaftlich akribisch arbeitender Filmemacher vor allem am Realismus seiner Filme interessiert ist, einen Vampir für seinen Film rekrutiert. Als Gage saugt Schreck dem Filmteam nach und nach das Blut aus, bis er in der Schlussszene Nosferatus, in der sich Ellen Hutter opfert, um den Vampir zu töten, die Hauptdarstellerin Greta Schröder aussaugen kann. Daraufhin wird es Tag, die Sonne geht auf, und beide Filme stehen kurz vor ihrem Ende: Schröder in der Rolle der Hutter wird getötet, Schreck stirbt im Sonnenlicht, und Murnau dreht immer weiter an der Kurbel seiner Kamera, besessen, alles auf Film zu bannen und die Szene damit unsterblich zu ma-

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Abb. 101: Nachgestellt: Nosferatu chen. (Abb. 101) In Shadow of the Vampire wird damit en passant auch die Subversion des klassischen Horrorfilms durch den Körper-Horror der Moderne gezeigt, da sich das Motiv des Snuff-Films, des modernen Mythos vom realen Mord vor der Kamera, in das Finale von Nosferatu einschleicht.53 Kurz nach der Renaissance des so genannten postmodernen Vampirfilms, der das Inventar der frühen Horrorfilme zitierend als Museum oder Archiv benutzt, startet die Karriere des Gespensterfilms, der noch anschaulicher die Fragen nach Leben und Tod und nach Grenzen wie Körper, Geist und Seele, Vergangenheit und Gegenwart stellt: Überlebt der Geist seinen Körper? Überdauern Flüche ihre Träger? Können Orte oder Dinge heimgesucht oder besessen sein?

Abb. 102: Der Gastgeber vom House on Haunted Hill 53 Vgl. Helmut Draxler: »Der reine Horror. Bildsprachen der Gewalt und die kinematische Wahrnehmungssituation im neueren Horrorfilm«, in: Texte zur Kunst 43 (2001), S. 93-106.

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Der Gespensterfilm stellt vor allem die Lebendigkeit der Figuren zusammen mit der Echtheit der gezeigten Bilder in Frage. Immer wieder wird – genau wie im Verschwörungsfilm – zunächst die Frage gestellt: Ist es real, was die Figur und der Zuschauer sehen oder hören? Ist es ein Trick oder sind es tatsächlich Nachrichten aus dem Jenseits? Im Gespensterfilm wird offenbar, dass in einer Zeit, in der Bilder digital produziert werden, Repräsentation keine notwendige Bedingung mehr für das Bild ist. Die gespenstischen Signifikanten, schemenhafte Bilder und unklare Geräusche, weisen nicht mehr unbedingt auf das Signifikat des Verstorbenen hin, sondern zeigen nur noch auf den Übermittler der Botschaft – auf sich selbst. So inventarisiert der Gespensterfilm wie der Verschwörungsfilm das unheimliche System der Dinge. Alltägliche Gegenstände und Medien wie Radio und Telefon, Fernseher, Videorecorder und Computer werden zu Portalen, zu unsichtbaren und jenseitigen Räumen. Der Gespensterfilm etabliert diese Dinge als »Mobiliar«54 eines neuen Gothic Horrors. Gespensterfilme beziehen sich dabei auf einen erstaunlich schmalen Kanon. Sie beruhen fast ausschließlich auf zwei Texten und ihren Variationen: Henry James’ Erzählung The Turn of the Screw (1898) und Shirley Jacksons Spukhausroman The Haunting in Hill House (1959). Richard Mathesons Roman Hell House (1971) ist schon eine Variation von Jacksons Text.

Abb. 103: Die Erscheinung in The Innocents Verfilmt wurde Hell House von John Hough unter dem Titel The Legend of Hell House (dt. Tanz der Totenköpfe, US 1973), für den Matheson auch die Drehbuchfassung schreibt. Eine präzise Verfilmung von The Turn of the Screw ist Jack Claytons The Innocents (dt. Schloss des Schreckens, GB 1961) (Abb. 103), während Alejandro Amenàbars The Others eine Variation darstellt, die die Unschlüssigkeit über die Gespensterhaftigkeit der Ereignisse noch steigert, in dem der Erzählfokus auf Toten liegt. Die beiden Filme The Haunting von Robert Wise (dt. Bis das Blut gefriert, US 1963) und das Remake von Jan de Bont (dt. Das Geisterschloß, US 1999) beziehen sich direkt auf den Spukhausroman von Jackson. James Whales The Old Dark House, William Castles House on Haunted Hill (dt. Das Haus auf dem Geisterhügel, 54 P. McGrath/B. Morrow: The New Gothic, S. 9.

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Die sieben Särge des Dr. Horror, US 1958) (Abb. 102) und das Remake The House on Haunted Hill (dt. Haunted Hill, US 1999) von William Malone variieren das Spukhausthema schon, indem sie es mit der Idee von einem inszenierten Schrecken im Sinne einer Geisterbahn mischen und den Zweifel an der Echtheit der gespenstischen Ereignisse zum Thema erheben.55

2. Okkulte Medien Mit Tobe Hoopers und Steven Spielbergs Poltergeist kündigt sich schon die Rolle der technischen Medien im neueren Gespensterfilm an. In Poltergeist kommen die Geister aus dem Fernsehen, genauer: aus dem postnationalen Rauschen nach der amerikanischen Nationalhymne, dem Weißen Rauschen eines toten Kanals nach Sendeschluss. (Abb. 104) Die beiden Fortsetzungen variieren das Thema der amerikanischen Kleinfamilie nur, indem sie das Böse in einer Figur personalisieren und damit aus der Familie entfernen (Brian Gibson: Poltergeist II – The Other Side, dt. Poltergeist II – Die andere Seite, US 1985) und zuletzt auf den beliebten Through the Looking Glass-Topos des Geisterreiches hinter den Spiegeln übertragen (Gary A. Sherman: Poltergeist III, dt. Die dunkle Seite des Bösen – Poltergeist III, US 1987), wie es John Carpenter im gleichen Jahr für Prince of Darkness macht. In Noberto López Amados Nos miran (They’re Watching Us, dt. Sie sind unter uns, SPA/IT 2002) können nur Kinder die Geister sehen. Ausgesuchten Erwachsenen erscheinen sie einzig in spiegelnden Oberflächen und technischen Aufzeichnungen wie den Bändern von Videoüberwachungskameras. Robert Zemeckis What Lies Beneath (dt. Schatten der Wahrheit, US 2000) ist zunächst eine Rekombination von Suspense-Elementen in deutlicher Anlehnung an Hitchcock. Der Verdacht der Protagonistin wird mit Gründen der Rationalität zunächst unterlaufen, um dann letztlich aber in eine übernatürliche Gespensterrachegeschichte, die aus der Vergangenheit ihres Ehemanns kommt, zu wechseln. Sam Raimis The Gift (dt. The Gift – Die dunkle Gabe, US 2000) ist ebenfalls eine Mord- und Rachegeschichte mit einer Hellseherin im Mittelpunkt, die von dem Gespenst eines Mordopfers heimgesucht wird, bis sie den Mörder findet. Jian gui (The Eye, GB/HK/Thailand/Singapur 2002) der Pang Brothers benutzt das alte Horrormotiv vom Eigenleben eines fremden Körperteils, das in den eigenen integriert wird.56 Die Transplantation 55 Weitere Gespensterfilme sind Dan Curtis’ Burnt Offerings (dt. Landhaus der toten Seelen, US 1976) nach dem gleichnamigen Roman von Richard Macascos (1973) und Peter Medaks The Changeling (dt. Das Grauen, US 1980). Die umfangreiche Sammlung des bekanntesten Erzählers von Geistergeschichten, M.R. James, bleibt, bis auf Jacques Tourneurs Night of the Demon, die Verfilmung von James’ Erzählung Casting the Runes (1911), allerdings unverfilmt. Stephen Kings Spukhausroman The Shining (1977) wird 1980 von Stanley Kubrick verfilmt. William Castles Spukhausfilm 13 Ghosts (dt. 13 Geister, US 1960) erfährt ebenfalls ein Remake, Steve Becks (Thir13en Ghosts, dt. 13 Geister, US 2001). Mit Becks Ghost Ship (US/AUS 2002), David Twohys U-Boot-Version Below (US 2002) und Gore Verbinskis Pirates of the Carribean Sea: The Curse of the Black Pearl (dt. Fluch der Karibik, US 2003) kommt auf drei völlig unterschiedliche Weisen auch das Thema des Geisterschiffs wieder in das Kino. 56 Gewöhnlich sind es die Hände, die im Horrorfilm ein mörderisches Eigenleben entwickeln. Vgl. Robert Wienes Orlacs Hände (Ö 1924), Karl Freunds Mad Love (The Hands of Orlac, US 1935) sowie Oliver Stones The Hand (dt. Die Hand, 1981) und Rodman Flenders Teenager-Variante Idle Hands (dt. Die Kil-

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von Hornhaut aus den Augen einer paranormal begabten Seherin, die einer blinden Musikerin ihr Augenlicht zurückgibt, verleiht dieser auch die Fähigkeit, wie die Verstorbene Tote wahrzunehmen und Katastrophen vorherzusehen.

Abb. 104: Der Spuk aus dem Fernsehen Die wichtigsten Beiträge zum neuen Mysterygenre57 und auch der erfolgreichste Beitrag zur Wiederbelebung des Gespensterfilms stammen von Manoj »Night« Shyamalan. The Sixth Sense bringt die Erzählweise und Ästhetik des Mysteryfilms mit der Figur des Gespenstes zusammen. Auffällig gibt es neben der Erzählung um den kleinen Jungen mit der Fähigkeit, Tote sehen zu können, einen überraschenden Plot Twist, der die Geschichte des Erzählers perspektiviert. Denn der Erzähler ist selbst ein Gespenst, ein Toter, der den Angriff seines letzten Patienten, der ebenfalls Tote sehen konnte, nicht überlebt, und den der Junge sich zu Hilfe gerufen hat. Zum Schluss wird der Rahmen der Erzählperspektive erweitert, und der Erzähler wird all der Merkmale gewahr, die ihn als Toten auszeichnen – bis hin zu der blutigen und tödlichen Schusswunde. Dieser Erkenntnisprozess ist wie ein Zeitraffer gestaltet, in dem das ganze Leben des toten Kinderpsychologen noch einmal an ihm vorüber zieht. Wie es im Film heißt, sehen die Gespenster nur das, was sie sehen wollen. Genauso ergeht es dem Zuschauer, dem mit dem Schluss des Films der narrative Boden unter den Füßen weggezogen wird. Mit The Sixth Sense etabliert sich für das postmoderne Kino ein Format des »unzuverlässigen Erzählens«, dessen sich der Zuschauer erst in

lerhand, US 1999). Tim Burton nimmt mit seinem Film Edward Scissorhands (dt. Edward mit den Scherenhänden, US 1990) auf dieses Motiv spielerisch Bezug. In John Carpenters und Tobe Hoopers Episodenfilm Body Bags (US 1993) dreht Hooper mit der Episode The Eye einen Kurzfilm über das Auge eines Mörders, das einem anderen implantiert wird und ihn zusehends in den hingerichteten Mörder verwandelt. 57 Im Tenor eines Mysteryfilms verhandelt Shyamalan mit Unbreakable (US 2000) das Thema des Superhelden und mit Signs (US 2002) das Thema einer Invasion durch Außerirdische.

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den letzten Sequenzen, die eine Erweiterung des narrativen Rahmens vornehmen, bewusst wird. Geistergeschichten thematisieren zusammengefasst am deutlichsten die Beschäftigung mit der Angst vor Sterblichkeit und Tod. Freud führt seine Bemerkungen zum Unheimlichen neben der Lesart von Hoffmanns Sandmann vor allem am Phänomen des Todes aus: Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt. Wir haben ja gehört, daß manche moderne Sprachen unseren Ausdruck: »ein unheimliches Haus« gar nicht anders wiedergeben können als durch die 58 Umschreibung: ein Haus, in dem es spukt.

Die Gespenstergeschichte illustriert aus den gleichen Gründen aber auch die Faszination und die Neugier auf einen nicht sichtbaren Raum, ein Jenseits, das Kontakt mit uns aufnimmt. Hans Richard Brittnacher stellt fest, dass die Gespensterangst in der Literatur der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert tatsächlich ein bevorzugtes Sujet ist.59 Für eine Gespenstergeschichte ist überdies die Erzählperspektive zentral, die um 1800 beginnt, sich zu verengen. Um 1900 schwenkt sie dann radikal von der auktorialen in die personale Perspektive um und bildet innere Monologe und erlebte Redeweisen aus. Die Gespenstergeschichte kann dabei durchaus als das literarische Testfeld für die Erprobung dieser neuen Erzählperspektiven betrachtet werden. Sie tritt dabei in zwei Formaten auf. Die Gespenstergeschichte wird zunächst in allen Fällen als ein Bericht zurückliegender Ereignisse erzählt, entweder aus zweiter Hand – in diesem Fall hat jemand die Geschichte gehört – oder als Erlebnisbericht aus erster Hand. In dem zweiten Fall hat der Erzähler die Geschichte erlebt und berichtet aus der Ich-Perspektive. Durch die Einführung der eingeschränkten Perspektive des personalen Ich-Erzählers gibt es keine vertrauenswürdige Erzählinstanz in einer Gespenstergeschichte. Das Paradebeispiel dafür ist James’ The Turn of the Screw. Die Erzählung arbeitet durch die Verengung der Erzählperspektive doppelbödig und lehnt sich latent einer psychologischen Deutung zu, ohne jedoch eindeutig zu entscheiden, ob die Erzählerin von phantastischen oder eingebildeten Geschehnissen berichtet. So macht die Gespenstergeschichte genau das zu ihrem Inhalt, was sich in der literarischen Moderne in Bezug auf die Erzählperspektive abzeichnet: Die Autorität des auktorialen oder allwissenden Erzählers hat ausgedient. Statt der väterlichen Figur, die uneingeschränkt Zugang zu allen Fakten der Erzählung hat, sind die Tatsachen der Fabel nicht mehr sicher. Die vertrauenswürdige Erzählerinstanz verschwindet, und es bleiben nur noch die irrlichternden und paranoiden personalen Ich- und Er-Erzähler übrig. Eine der wichtigen Stationen innerhalb des Wandels der Erzählperspektive ist deshalb zugleich und nicht zufällig eine Geschichte, die nah an den Formularen des Gothic Horrors und vor allem der Gespenstergeschichte liegt: Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher (1787-89), das zum Schluss nur wenig überzeugend als rationale Verschwörungsgeschichte erklärt wird. Im Gespensterfilm wird die Frage nach der Objektivität in der Erzählperspektive zusehends komplizierter. Verschiedene Bilder generieren ver58 S. Freud: Das Unheimliche, S.161. 59 Vgl. H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 48.

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schiedene Realitäten und erzählen unterschiedliche Wahrheiten. Auch im Film wird selten die Instanz eines auktorialen Erzählers, der gewöhnlich als innerer Monolog, als akusmatische Stimme aus dem Off erscheint, in Anspruch genommen. Die personale Erzählperspektive wird im Erzählfilm häufig auch auf mehrere Figuren verteilt. In Konkurrenz dazu ist die Präsenz von Spiegelungen und technischen Aufzeichnungen innerhalb des Films geeignet, jenseits der Aufgabe der Authentifizierung Perspektiven zu relativieren und menschliche Perspektiven technischen gegenüberzustellen. In diesen Filmen zersplittern deshalb diese Perspektiven und können angesichts unterschiedlicher Aufzeichnungsmedien widersprüchliche Positionen einnehmen. Eine Videoüberwachung, die im Film gezeigt wird, kann zum Beispiel der mündlichen Erzählung einer Figur widersprechen und fordert auch vom Zuschauer durch die Suggestivität der Bilder einen höheren Wahrheitsgehalt ein. Im Doppelgängerfilm Fight Club wird beispielsweise im Überwachungsmonitor gezeigt, wie der namenlose Erzähler nicht gegen sein Double Tyler Durden ankämpft, sondern gegen sich selbst. Die Gespensterfilme Honogurai mizu no soko kara (engl. Dark Water, JAP 2001), Ju-On: The Grudge (JAP 2001), Nos miran und Jian gui und auch schon David Lynchs Twin Peaks: Fire Walk with Me (US 1992) zeigen die Differenz von menschlicher Wahrnehmung und medialer Aufzeichnung anhand von Überwachungskameras. Auf dem Monitor werden die Gespenster plötzlich sichtbar oder fehlen, wie in Fight Club. In der Frage nach der Echtheit und Präsenz von Geistern und Gespenstern stehen die technischen Medien deshalb einerseits gegen die Aussagen von menschlichen Figuren oder erreichen anderseits die seherische Fähigkeit der menschlichen Medien. Die medial vermittelte Erfahrung des Realen durch die Überwachungstechnik, so könnte man schlussfolgern, spiegelt in unheimlicher Weise erstens eine Verunsicherung und zweitens eine Implementierung des Okkulten in eine visuell geprägte Kultur der Medien. So dreht David Koepp nach Mathesons Roman A Stir of Echoes (1958) den gleichnamigen Gespensterfilm (dt. Echoes – Stimmen aus der Zwischenwelt, US 1999) als Film über den Einbruch der Geisterwelt in den Alltag über verschiedene Medienkanäle. Der Film beginnt auf einer Party. Schon zu Beginn lässt der Protagonist Tom Witsky kaum das Babyphon aus der Hand, das mit dem Zimmer seines kleinen Sohnes verbunden ist. Von Anfang an ist er der »Telefonmann«, und nicht zufällig ist sein Beruf Telefontechniker. Auf der Party beschwert sich seine Frau allerdings öffentlich darüber, dass er so unsensibel und unzugänglich sei. Witsky lässt sich deshalb von einer Freundin seiner Frau hypnotisieren. Diese gibt ihm den hypnotischen Befehl, dass von nun an sein Gehirn für alles in der Umgebung empfänglicher werden solle. Danach verwandelt sich Witsky in ein menschliches Empfangsgerät für Signale aus dem Jenseits. Er sieht und hört Nachrichten aus dem Totenreich. Seine erste Reaktion darauf, dass ein Geist zu ihm spricht, ist allerdings, mit der Fernbedienung in der Hand den Fernseher auf »stumm« zu stellen. Und in der Tat verschwindet der Geist vorerst, um sich später aber immer wieder zu melden. Es handelt sich um ein Mädchen, das offiziell vermisst wird, tatsächlich aber von zwei Nachbarsjungen getötet wurde. Jeder Kontaktversuch der toten Samantha wird danach von einem Rotfilter des Films begleitet, und wie in vielen Filmen David Lynchs sind es Kopfschmerzen, die eine Überlagerung der beiden Realitäten in Analogie zu Funkfrequenzen in der Empfängerfigur anzeigen. Witskys Kopf ist die Empfangsstation für Frequenzen, die aus dem Reich der Geister stammen. Auch Witskys Sohn nimmt

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die Kontaktversuche wahr, und wie in Stanley Kubricks The Shining kommuniziert er mit dem Geist. Filmtechnisch spricht er im Sinne des Brechtschen dramatischen Verfremdungseffekts aber in diesen Dialogen direkt in die Kamera. Der Zuschauer wird dadurch im Blick des Sohns in die Rolle von Gespenst und Mordopfer positioniert.

3. Photographische Gespenster Die Photographie löst die Phantasien von den Bildern der Maler und Dichter ab, die gespenstische Dinge aus ihren Visionen auf die Leinwand übertragen. Die Photographie wird auch im modernen Horror von H.P. Lovecraft zum Geheimnis von überwältigender Malerei selbst. So ist in seiner Erzählung Pickman’s Model (1927) der Schrecken des Realen nur photographisch zu bannen. Die Gemälde von den Leichen fressenden Ghoulen, die den Maler Pickman mit einem Schlag berühmt und berüchtigt machen, müssen den Umweg über die Photographie nehmen, die Pickman unter der Stadt und auf Friedhöfen von den untoten Monstern aufnimmt. Untote und Photographie haben, wie Kittler feststellt, eine gemeinsame Geschichte: Photoalben errichten ein Totenreich unendlich viel präziser, als es Balzacs literarischem Konkurrenzunternehmen der Comédie humaine gegeben wäre. Medien, im Unterschied zu Künsten, sind eben nicht darauf beschränkt, mit dem Gitter des Symbolischen zu arbeiten. Sie rekonstruieren Körper, heißt das, nicht nur im System der Wörter oder Farben oder Tonintervalle. Medien und erst sie erfüllen vielmehr ›die anspruchsvolle Forderung‹, die wir (laut Rudolf Arnheim) seit Erfindung der Photographie »an die Abbildung stellen«: »Sie solle nicht nur dem Gegenstand ähnlich sein, sondern die Garantie für diese Ähnlichkeit dadurch geben, daß sie sozusagen ein Erzeugnis dieses Gegenstandes selbst, d.h. von ihm selbst mechanisch hervorgebracht sei – so wie die beleuchteten Gegenstände der Wirklichkeit ihr Bild mechanisch auf die photographische Schicht prägen« oder wie die Frequenzkurven von 60 Geräuschen ihre Wellenformen der phonographischen Platte einschreiben.

Amenábars Gespensterfilm The Others ist in vielerlei Hinsicht der Tradition des Gothic Horrors, aber mehr noch The Turn of the Screw verpflichtet. Er handelt, wie in einer Gothic Novel üblich, von einer Familie und ihrer dunklen Vergangenheit. Die Mutter Grace bewohnt mit ihren Kindern Anne und Nicholas 1945 ein einsames vernebeltes Herrenhaus auf der Kanalinsel Jersey. Der Vater ist noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Nachdem die ersten Dienstboten auf rätselhafte Weise verschwunden sind, melden sich Mrs. Mills, Mr. Tuttle und das stumme Mädchen Lydia als neue Dienerschaft. (Abb. 107) Sie berichten, dass sie schon für die vorherigen Besitzer des Hauses gearbeitet haben. Grace entspricht dem Klischee einer viktorianischen und streng religiösen Mutter, mit Hang zu Hysterie und Migräne, die ihre Kinder unentwegt diszipliniert und versucht, jederzeit vollständige Kontrolle über alles, was im Haus geschieht, auszuüben. Ihren Kindern gibt sie strengen Unterricht nicht nur in Bibelkunde, sondern auch in eher apokryphen Lehren wie der Topographie der Hölle, in der es so etwas wie einen »KinderLimbus« gibt, ein ewiges Zwischenreich des Zwielichts zwischen Leben und 60 F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 21.

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Tod. Besonders auf die Einhaltung der Regel, dass die Fenster immer verhängt und jede Tür nach dem Durchtreten verschlossen werden, beharrt sie fanatisch. Die Vorsichtsmaßnahme dient vorgeblich der Gesundheit ihrer Kinder, die beide an einer schweren Lichtallergie leiden. Als es dann im Haus zu spuken beginnt – Anne, die widerspenstige Tochter, unterhält sich mit dem unsichtbaren Jungen Victor, Türen und Fenster öffnen sich selbsttätig oder das Klavier spielt von allein – gerät Grace zusehends aus der Fassung.

Abb. 105: Die Séance Sie findet nicht nur heraus, dass die drei neuen Dienstbosten allen Hinweisen zufolge schon lange tot sind, sondern auch Graces Mann kehrt verstört aus dem Krieg zurück, um dann rätselhaft wieder im Nebel, der das Haus ständig einhüllt, zu verschwinden. Letztlich stellt sich als überraschende Lösung für all diese rätselhaften Ereignisse heraus, dass es die Versuche der Besitzer aus der Gegenwart sind, mit Hilfe eines Mediums auf einer Séance Kontakt zu den Toten aufzunehmen, die in der Vergangenheit des Jahres 1945 verharren und das Haus weiter bewohnen. (Abb. 105) Die kleine Familie existiert deshalb noch in dieser Zwischenwelt, weil die Mutter in einem Anfall ihre Kinder und sich selbst umgebracht hat, und sich alle drei ihres Todes nicht bewusst sind. Die drei Dienstboten, ältere Tote, sollen die Familie auf die Erkenntnis ihrer gespenstischen Existenz vorbereiten. Die Titel gebenden »Anderen« sind deshalb weder die »toten« Diener noch die »spukenden« Eindringlinge der spiritistischen Sitzung aus der Zukunft, sondern die in einer sich ewig wiederholenden Vergangenheit gefangenen Gespenster Grace, Anne und Nicholas. Die Pointe des Films besteht letztlich darin, dass es einen »unzuverlässigen Erzähler« gibt, weil aus dem Fokus der Figuren erzählt wird, die gestorben sind und um ihren Tod nicht wissen. Diese Technik der Unzuverlässigkeit und Ambiguität, die prinzipiell einfach eine Variation des modernen personalen Erzählens darstellt, erfährt mit Ambrose Bierces Geschichte An Occurance at Owl Creek Bridge (1891), die aus der Perspektive eines Toten berichtet, einen ersten Höhepunkt und ist seit

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den 1990er Jahren immer häufiger im neueren Gespensterfilm anzutreffen.61 In The Others wird diese Erzählweise vor allem mit der Einspielung des Photographischen gekoppelt und damit ein Medium ins Zentrum gerückt, dem von Beginn an auch die Aufnahme der Welt jenseits des Sichtbaren zugetraut wird: Wenn Erinnerungen und Träume, Tote und Gespenster technisch reproduzierbar werden, erübrigt sich die Kraft des Halluzinierens bei Schreibern wie bei Lesern. […] Prompt haben photographische Platten – auch und gerade bei geschlossener Kamerablende – Abbildungen von Geistern oder Gespenstern geliefert, deren 62 schwarzweiße Verschwommenheit die Ähnlichkeitsgarantie nur noch unterstrich.

Woher kommen aber die Informationen über das Reich der Geister? Wie kann man den Nicht-Ort benennen, von dem die Informationen stammen, deren Resonanzen die Figuren ohne sichtbare Quelle erreichen? Claudia Liebrand macht anhand von The Others auf Emanuel Swedenborgs Konzept des Limbus aufmerksam, wie er in Vom Himmel und von den wunderbaren Dingen desselben; wie auch von der Geisterwelt und von dem Zustand des Menschen nach dem Tod; und von der Hölle; so wie es gehöret und gesehen worden/De coelo et eius mirabilibus, et dein de mundo spirituum et de flatu hominis post mortem; et de inferno, ex auditis et visis (1758) aufgezeichnet wird. Der Limbus ist eine Zwischenwelt, die von Toten bewohnt wird, die nicht wissen, dass sie gestorben sind, und noch nicht Himmel oder Hölle zugeordnet sind.63 Der Film berichtet davon, wie der Raum des Limbus, die geisterhafte Zwischenwelt, gestaltet ist und wie die Bewohner diesen wahrnehmen. Auf Swedenborgs Von dem Zustande der Ehegatten nach dem Tode aus Wonnen der Weisheit über die eheliche Liebe; worauf folgen Lüste der Torheit über die buhlerische Liebe/Delitiae sapientiae de amore cunjugiali; post quas sequuntur voluptates insaniae de amore scortatiorio (1768) rekurrierend, kehrt auch der Ehemann aus dem Krieg zu dem nebligen und isolierten Herrenhaus zurück, wo seine Frau und seine beiden kleinen Kinder warten, und die Ehegatten treffen im Zwielicht vor dem Haus aufeinander. Allein die änigmatische Bemerkung des Soldaten, »Sometimes I bleed«, setzt den Zuschauer auf die Fährte, dass es nicht um eine Begegnung der Überlebenden des Krieges und damit um ein Happy Ending des Familienromans gehen kann.

61 Am bekanntesten für die Wende, aus der Perspektive eines Toten zu berichten, ist wohl The Sixth Sense. Aber einen frühen Beginn findet diese Fokussierung in Tim Burtons Gespensterkomödie Beetlejuice (dt. Lottergeist Beetlejuice, US 1988), in der ein totes Ehepaar versucht, mit Hilfe des »Bio-Exorzisten« Betelgeuse und verschiedenen Special Effects aus der Geschichte des Horrorfilms die neuen Bewohner ihres Hauses zu vertreiben. Vgl. aber auch Alejandro Amenábars Abre los Ojos (engl. Open Your Eyes, SPA/F/I 1997), Guillermo del Toros El Espinazo del Diablo (engl. The Devil’s Backbone, SPA/MEX 2001), Brian Gilberts The Gathering (GB/US 2002) sowie Sam Mendes’ American Beauty (US 1999). 62 F. Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, S. 20; 23. 63 Vgl. Claudia Liebrand: Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende, Köln 2003, S. 197-223.

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Abb. 106: Das Buch der Toten Bemerkenswert ist, wie The Others den gespenstischen Diskurs mit dem photographischen koppelt. Liebrand weist auf die vampirische Existenz der beiden Kinder hin, die wie die lebenden Toten kein Sonnenlicht zu Gesicht bekommen dürfen.64 Ob ihre Lichtallergie tatsächlich real ist oder – wie das ganze Szenario – eine Projektion der Mutter, bleibt unentschieden. Aber sichtbar wird auf diese Weise die Parallele, die zwischen den lichtscheuen Gespenstern und den lichtempfindlichen Aufzeichnungsmedien Photographie und Film gezogen wird. Die Kinder müssen in mehrfacher Hinsicht im Dunkeln verharren, damit sie nicht belichtet werden, damit ihre Existenz als Gespenst nicht offenbar wird und damit sie diese Existenz weiter fortleben können. Der photographische Diskurs findet neben diesem metaphorischen aber noch einen weiteren Einlass in die Geschichte. So stößt Grace im Film zweimal auf Photographien. Beim ersten Mal entdeckt sie ein ganzes Photoalbum, in dem Photos von vermeintlich schlafenden Menschen auf Stühlen abgeheftet sind. (Abb. 106) Mrs. Mills klärt Grace darüber auf, dass das ein »Book of Dead« sei. Die Photographien seien Abbildungen von Toten. Beim zweiten Fund zeigen die Bilder keine unbekannten Menschen, sondern mit einem Schockeffekt die drei neuen Dienstboten. (Abb. 108) Aus der Rückschau verweist der Film deshalb nicht nur auf die Praxis der Totenphotographie, sondern latent auch auf die Praxis der korrespondierenden Geisterphotographie,

64 Vgl. C. Liebrand: Gender-Topographien, S. 197-205.

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Abb. 107: Die neuen Dienstboten die eine eng verwobene Geschichte von Photographie und Spiritismus dokumentiert und den Film The Others selbst in diese Tradition setzt.65 Walter Benjamin betont in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, der nicht zufällig die Reihe der Künste im Kino enden lässt, mit einem Zitat von Paul Valéry die Gespensterhaftigkeit der Dinge: »Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.«66 Wie von Geisterhand schleichen sich die Versorgungs- und Kommunikationskanäle in unsere Häuser, und die Vermutung, dass unser Inventar wie in der Gothic Novel Einfallstore für Gespenster sein können, liegt der filmischen Logik nicht fern.67 65 Roland Barthes widmet der Verschränkung von Photographie und Tod ein ganzes Buch. Vgl. R. Barthes: Die helle Kammer. Die Idee der geisterhaften Zwischenwelt, die punktuell über Medienkanäle in die Welt der Lebenden einfällt, verfolgen Kiyoshi Kurosawas Kaïro (Pulse, JAP 2001), in dem die Geister durch eine Website in die Welt der Lebenden gelangen, und Nos miran, in dem Geister nur in Spiegelflächen, Videoüberwachungsbändern und Kinderaugen sichtbar werden, aber immer präsent sind. Einführend zu dem Komplex des phantastischen Raums vgl. T. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur; Rein A. Zondergeld (Hg): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main 1974; Christian W. Thomsen/Jens Malte Fischer (Hg): Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt 1980; U. Durst: Theorie der phantastischen Literatur sowie R. Lachmann: Erzählte Phantastik. 66 Paul Valéry: Pièces sur l’art, Paris o. J., S. 105. Zitiert nach W. Benjamin: Kunstwerk im Zeitalter, S. 11. 67 Schon in der ersten Gothic Novel, darauf weist Stefan Andriopoulos hin, in Horace Walpoles Castle of Otranto, wird 1764 mit der »Invisible Hand« eine unsichtbare und gespenstisch korrigierende Kraft der Dinge inventarisiert, wie sie beispielsweise auch in der Ökonomie von Adam Smith auftritt. Vgl. S. Andriopoulos: The Invisible Hand. Vergleichbar sind auch die Allmachtsphantasien der unsichtbaren Kontrolle über die Umwelt in Filmen über paranormale, zumeist telekinetische Kräfte, wie in Byron Haskins The Power (dt. Die sechs Verdächtigen, US 1967), Brian de Palmas Carrie (US 1976) und The Fury (dt.

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Abb. 108: Die Dienstboten im Buch der Toten Stanley Cavell beschreibt in Nachfolge einer Philosophie des Gewöhnlichen, die er bei Wittgenstein und seinem Lehrer Austin verortet, die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen:68 »Eine Verwandtschaft zwischen diesen Sichtweisen des Gewöhnlichen [Cavells und Heideggers, A.M.] […] besteht darin, dass sowohl die Heideggers als auch die meine auf das Phantastische reagieren, an das Menschen sich gewöhnen – nennen wir es den Surrealismus des Gewohnten […].«69 Cavell fährt nach der Feststellung der Gewöhnung an das Phantastische, die er mit dem philosophischen Skeptizismus zusammenliest, mit einer Lektüre von Freuds Sandmann-Lektüre fort und findet sie fehlerhaft. Freuds vierfache Leugnung, dass die Ursache für das Gefühl des Unheimlichen die Unfähigkeit sei, zwischen Beseeltem und Unbeseeltem zu unterscheiden, erregt Cavells Aufmerksamkeit und Widerspruch. Von Bedeutung ist für Cavell vor allem der literarische Mechanismus, mit dem die Unsicherheit hervorgerufen wird – das von ihm als »magisch« interpretierte Perspektiv Nathanaels im Sandmann: Das Fernrohr ist ein todesschwangeres rhetorisches Gerät, das in einem Fall das Bewusstsein von (Olimpias) Leben durch Figuration erzeugt oder ausdrückt, im anderen (Claras) Fall durch Verbuchstäblichung oder Defiguration. Man kann es auch als beständiges Beseelungsgerät ansehen, als Parodie einer bestimmten Art des romantischen Schreibens; außerdem, nicht ohne Zusammenhang damit, als eine unheimliche 70 Vorwegnahme der Filmkamera.

Teufelskreis Alpha, US 1978) sowie Jack Golds The Medusa Touch (dt. Der Schrecken der Medusa, GB/F 1978), in dem ein Komapatient noch auf spektakuläre Weise eine Kathedrale einstürzen lässt. 68 Vgl. Stanley Cavell: »Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen«, in: Ders.: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays. Hg. von Davide Sparti/Espen Hammer. Mit einem Nachwort von Hilary Putnam, Frankfurt am Main 2002, S. 76-110. 69 Ebd., S. 77-78. 70 Ebd., S. 82.

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Cavell macht damit im Rekurs auf Freuds Sandmann-Lektüre nicht nur auf die Bedeutung der romantischen Literatur in der Geschichte der Theorie des Unheimlichen aufmerksam, sondern vor allem auf die unheimlichen Dimensionen, die gerade gewöhnliche und nicht beachtete Gegenstände und besonders: optische Medien in sich bergen. Für Cavell besteht die strukturelle Vergleichbarkeit zwischen dem Beseelten und dem Unbeseelten in der Notwendigkeit der Wiederholung. Zwar sei der Unterschied zwischen dem Menschlichen und dem Mechanischen notwendig, aber es existiere keine Sprache, keine Rhetorik für diesen Unterschied. Allegorisiert werde durch das Fernrohr deshalb ein Skeptizismus, der das Verschwinden der Welt bedeuten kann, »ausgelöst, vielleicht durch den Gedanken, dass man schläft, dabei träumend, man sei wach«71. Das Fernrohr als Allegorie des romantischen Schreibens oder auch der Filmkamera ermöglicht den Blick auf die Gewöhnlichkeit, auf das »unauffällige Andere«, als eine »todesschwangere Vision« oder eine »Lektüre des Grauens«.72 Cavell geht mit dieser Prämisse zu Hume, Wittgenstein, Heidegger und folgerichtig zu Lacans Lektüre von Poes Entwendetem Brief und Hitchcocks Verschwörungsfilm North by Northwest (dt. Der unsichtbare Dritte, US 1959) über. Norbert Stresau greift im Sinne Cavells auf das Konzept der Unheimlichkeit der Dinge als Merkmal des modernen Horrorfilms zurück. An Dario Argentos Inferno (Horror Infernal, IT 1980), der fast ohne kohärente Erzählung auskommt und allein sieben episodische Set Pieces zeigt, in denen die Figuren, die sich dem Geheimnis der drei Hexen Mater Suspiriorum, Mater Lacrimarum und Mater Tenebrarum nähern, auf spektakuläre Weise umkommen:73 Schon die ersten Szenen von Inferno machen unmißverständlich klar, daß das Geschehen nur scheinbar in der realen Welt spielt. Drei Gegenstände tauchen in Nahaufnahme auf. Ein Messer. Ein Schlüssel. Ein Buch. […] Die Dinge waren vor dem Menschen da; sie sind sich selbst genug, besitzen vielleicht sogar ein Eigenleben. Tatsächlich werden in allen sieben set pieces harmlose Gegenstände Macht über ihren Benutzer gewinnen und sich gegen ihn wenden: Ein gläserner Türknopf zerbricht und schneidet Rose in die Hand, Schlösser versperren sich selbständig. Das 74 Böse ist mit den Dingen liiert […].

Die Welt des Gewöhnlichen ist eine Welt der unbeseelten Dinge und vor allem eine Welt der technischen Medien. Der Verdacht der Beseeltheit der Dinge erzeugt das Unheimliche.

4. Geisterstimmen Neben den Bildmedien Photographie und Film gibt es noch eine andere Technik der Aufzeichnung und Wiedergabe von Informationen, die in Ge71 Ebd., S. 82-83. 72 Vgl. Ebd., S. 83. 73 Dies ist Konzept, das Argento von Thomas De Quincey übernimmt und schon in Suspiria (IT 1979) aufgreift, in der die Mutter der Seufzer eine Freiburger Ballettschule heimsucht. 74 N. Stresau: Der Horror-Film, S. 58-59.

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spenstergeschichten Verwendung findet. Die Rede ist von unheimlichen akustischen Phänomenen. Das audiovisuelle Medium Film besinnt sich mit dem Thema der Verschwörung wie auch dem Gespensterthema deshalb auf beiden Ebenen seiner Möglichkeiten. Brian de Palma, dessen Werk die Geschichte des modernen Horrorfilms seit seinen frühen Hitchcock-Pastiches verfolgt und exzentrisch umkreist,75 hat ein Pendant zu Michelangelo Antonionis berühmten Photographiefilm Blow-Up (GB 1966) gedreht, einen Film über einen Tonsetzer für Horrorfilme, der mit seiner Aufnahmeausrüstung den Plan für einen Präsidentenmord aufzeichnet – Blow Out (dt. Der Tod löscht alle Spuren, US 1981). Eine Pointe des Films liegt darin, dass der Toningenieur in der Rahmengeschichte vor dem Verschwörungsfall auf der Suche nach dem richtigen Schrei für einen Duschmord in einem Horrorfilm ist. Auf tragische Weise zeichnet er dann den realen Mord an seiner Mitermittlerin auf und kommt dadurch zu einem realistischen Todesschrei, den er zum Schluss des Films in den Horrorfilm einsetzen kann. Eine effektive Möglichkeit, den Filmton als Mittel eines Horrorfilms einzusetzen, ist der Einsatz eines Telefons. »Mr. Watson – Come here – I want to see you.« Das sind berühmte erste Worte, gesprochen in das erste amerikanische, praktisch verwertbare Telefon im März 1876. Der Gehörlosenlehrer und Telefonerfinder Alexander Graham Bell ruft seinen Assistenten Watson an. Das erste Bellsche Telefonat ist nicht nur Anruf und Befehl, sondern es sucht seltsamerweise die neue Erfindung zu überspringen, indem Bell nach der körperlichen Präsenz seines Watsons verlangt. Dabei macht die Aussage auf etwas aufmerksam: Offensichtlich scheint die mangelnde Präsenz des Gesprächsteilnehmers Unbehagen zu verursachen. Zur Adressierung der Stimme will der Anrufer noch den Körper als visuelle Versicherung haben. Doch wie sieht es am anderen Ende des Drahtes aus? Welche Sicherheit hat Watson, dass es tatsächlich Bell ist, der ihn ruft? Reicht die Stimme ohne die Versicherung des dazugehörigen Körpers aus? Mit anderen Worten: Welche Autorität hat eine Stimme ohne Körper und Gesicht? Die Antwort ist einfach und überraschend: jede. Schon früh gewinnt die Stimme eine Autorität, die weder auf den Körper noch auf das Gesicht angewiesen ist. Sie partizipiert an einer religiös konnotierten Macht, die nicht erst existiert, seitdem ein Anruf auf einem Mobiltelefon jedes Live-Gespräch, jede Face-to-Face-Kommunikation zu unterbrechen vermag. Schon körperlose Stimmen in säuselnden Winden und brennenden Dornbüschen des Alten Testaments haben diese Autorität. Das Telefon ist der technische Verstärker und die unterstellte Garantie für die Echtheit der Stimme aus einer verborgenen Quelle. Ihre Autorität speist sich exakt aus der Abwesenheit und Unsichtbarkeit und damit aus der fehlenden Identität des Anrufers. Marshall McLuhan stellt hellhörig fest: »Mit dem Telefon kommt es zu einer Ausweitung des Gehörs und der Stimme, die eine Art außersinnliche Wahrnehmung darstellt.«76 Unsichtbare Stimmen leiten Propheten und Wahn75 Vgl. Brian de Palmas Filme Sisters (Blood Sisters, dt. Schwestern des Bösen, US 1972), Obsession (dt. Schwarzer Engel, US 1976), Carrie, The Fury, Dressed to Kill (US 1980) sowie Body Double (dt. Der Tod kommt zweimal, US 1984). Das kontinuierliche Voyeurthema in den Filmen de Palmas ist der männliche Blick auf die Frau. Die Blickkonstruktionen in Alfred Hitchcocks Rear Window (dt. Das Fenster zum Hof, US 1954), Vertigo (US 1958) und Psycho sind entscheidend für de Palmas gesamtes filmisches Schaffen. 76 M. McLuhan: Understanding Media, S. 403.

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sinnige mit unbefragter Macht. »Mit der Stimme des Donners reden zu können«,77 wünscht sich Gerhart Hauptmanns Apostel (1890), der von Gott selbst seinen Missionsauftrag erhält. Hauptmanns Erzählung zwischen Wirklichkeit und Wahn läuft ausschließlich über akustische Phänomene, bis hin zum Glockengeläut zu Pfingsten, dem Fest der Vielstimmigkeit und des Verstehens aller Sprachen. Der Text endet mit folgenden Worten: »Er beugte sich vor und lauschte, als es zu ihm heraufkam. […] Er horchte lächelnd wie auf eines alten Freundes Stimme, und doch war es Gottvater, der mit seinem Sohn redete.«78 Unsichtbarkeit und Gesichtslosigkeit schaffen ein antikes und biblisches Kommunikationsverhältnis immer wieder neu, das definitorisch asymmetrisch ist und deshalb der Übersetzer und Boten bedarf, seien es die Engel oder der Götterbote Hermes. Dass allein der Bote, das Medium, sichtbar ist, deutet dem Angerufenen schon auf die Macht und die Befehlsgewalt der Quelle hin. So weiß Walter Benjamin in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1932/38) von der »Gewalt« des Telefons zu berichten und zeigt, wie ohnmächtig das Kind in der Frühzeit des Telefons den Anordnungen seines technischen »Zwillings«, des unheimlichen körperlosen Doppelgängers, sofort Folge leistet: Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie [die Telefonstimme, A.M.] auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, wie sie die Besinnung auf Zeit und Pflicht und Vorsatz mir entwand, die eigene Überlegung nichtig machte, und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich 79 mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging.

Die Trennung von Körper und Stimme führt neben Echtheit und Autorität zu einem Effekt, der im Freudschen Sinne als »unheimlich«80 und im Sinne von Tzvetan Todorov als »phantastisch«81 bezeichnet werden kann. Gerade weil das Telefon optisch als gewöhnlicher Gegenstand nicht beachtet wird, ist es ein unangekündigter, sich immer plötzlich und laut tönend meldender Eindringling, der in jede geschlossene Wohnung kommt. Man lässt ein Telefon nicht klingeln. Es zwingt zum Gespräch. Das Telefon repräsentiert die stets drohende Störung des geschützten Heims durch die Umwelt.82 So kommt es, dass die Verbindung zwischen Geist und Telefon über das Ohr stets direkter gezeichnet wird als jede Informationsaufnahme über den Gesichtssinn. Das Bellsche Telefon ist nicht nur der Physiologie des mensch77 Gerhart Hauptmann: »Der Apostel (1890)«, in: Wolfdietrich Rasch (Hg.): Dichterische Prosa um 1900, Tübingen 1970, S. 16-31, hier S. 21. 78 Ebd., S. 31. 79 Walter Benjamin: »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, in: Ders.: Gesammelte Schriften IV, 1. Hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 242-243, hier S. 243. Zu der Funktion der technischen Medien bei Benjamin vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 105-149 sowie zum Telefon als Medium aus dem Jenseits Manfred Schneider: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, München 1994, S. 263-270. 80 Vgl. S. Freud: Das Unheimliche. 81 Vgl. T. Todorov: Fantastische Literatur, besonders S. 25-39. 82 Vgl. die Ratten, über die Michel Serres in seinen kommunikationstheoretischen Fabeln erzählt. Vgl. Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt am Main 1987, S. 1133.

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lichen Ohrs nachgebildet und als direkter Draht zum Hörsinn gedacht,83 sondern es ist auch ein Allgemeinplatz, dass das Ohr im Gegensatz zu den Augen nicht verschließbar ist. Nach den Shell Shocks, den Knalltraumata aus den Weltkriegen, gehören inzwischen Tinnitus und Hörstürze zu den Zivilisationskrankheiten und zeugen von der Verletzbarkeit durch den Hörsinn. Der Ton hat via Hörsinn einen direkten Zugang zum Kopfinneren, und seine Medien sind nicht mehr göttliche Wahrheit, sondern Macht, Gewalt, Wahnsinn und Tod. Die Kehrseite der imperativen Stimme, ob live oder via Telefon, sind Ohnmacht, Täuschung oder körperliche Gewalt, von der Friedrich Kittler zu berichten weiß: Die Explosion der akustischen Medien schlägt um in eine Implosion, die unmittelbar und abstandslos ins Wahrnehmungszentrum selbst stürzt. Der Kopf, nicht bloß als metaphorischer Sitz des sogenannten Denkens, sondern als faktische Nervenschaltstelle, wird eins mit dem, was an Informationen ankommt und nicht bloß eine sogenannte Objektivität, sondern Sound ist. […] Also ist die Geschichte des Ohrs im Zeitalter seiner technischen Sprengbarkeit immer schon Geschichte des Wahnsinns. […] Von weißem Rauschen über Zischen, Wassertropfen, Flüstern bis hin zu Reden und Schreien reicht die Skala der sogenannten Aktuasmen, die der Wahnsinn wahr 84 nimmt oder macht.

Kittler identifiziert die psychiatrisch zu behandelnden Geräusche zwar an Songs von Pink Floyd, aber der panische Wahnsinn eines »Brain Damage« ist nicht exklusiv. Man kann ihn auch im Kino sehen und hören, bevorzugt in Filmen über »einflüsternde Teufel und schreiende Hexen«,85 in denen die Stimmen aus einer jenseitigen Welt eine dämonische Qualität gewinnen. Charles Grivel fasst zusammen: »Die Literatur scheint unaufhörlich zu wiederholen, daß es möglich ist, das Unhörbare zu vernehmen, zugleich jedoch, daß sein tatsächliches Vernehmen, sobald es sich vollzieht, den Zuhörer ›tötet‹ oder ihn ›in den Wahnsinn treibt‹.«86 Seit der Trennung von Körper und Stimme durch die Techniken der Aufzeichnung, Übertragung und Wiedergabe im elektrischen Telegraphen und im Phonographen ist Mediengeschichte eine Geschichte des Dämonischen, Paranormalen und Gespenstischen. Präzise nach dem Modell des elektrischen Telegraphen wird auch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine elektrische Kommunikation87 zwischen den Seelen vermutet, ob lebendig oder tot: 83 Vgl. Wolfgang Hagen: »Gefühlte Dinge. Bells Oralismus, die Undarstellbarkeit der Elektrizität und das Telefon«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt am Main 2000, S. 35-60. 84 Friedrich Kittler: »Der Gott der Ohren«, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 130-147, hier S. 139. 85 Charles Grivel: »Phonographie. Versuch über das Imaginäre einer Maschine«, in: Friedrich A. Kittler/Georg Christoph Tholen (Hg.): Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989, S. 37-50, hier S. 47. 86 Ebd. 87 In Nachfolge magnetisch-sympathetischer und -fluidaler Kommunikationsmodelle zwischen Körpern aus dem 18. Jahrhundert, zum Beispiel bei Franz Anton Mesmer und dem Marquis de Puységur. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, hier S. 101-112; Peter Sloterdijk: Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse

GEISTER UND MEDIEN. DIE VERSCHWÖRUNG DER DINGE|297 To many, the electrical telegraph seemed the latest in a long tradition of angels and divinities spiriting intelligence across vast distances. […] Spiritualism, the art of communication with the dead, explicitly modeled itself on the telegraph’s ability to receive remote messages. Though the ambition of forging contact with the dead via mediums is ancient and widespread, spiritualism’s birth as an organized practice dates to 1848, four years after the successful telegraphic link of Baltimore and 88 Washington.

John Durham Peters berichtet von den Begründern des modernen Spiritismus, den Geschwistern Kate und Margaret Fox in Hydesville, New York. Der Fall der telegraphischen Klopfgeräusche aus dem Jenseits wird unter den Schlagworten »Fox-« oder »Hydesville Rappings« berühmt.89 Die verschiedenen Leseweisen dieses Falls setzen die Ideen des »tierischen Magnetismus« aus dem 18. Jahrhundert fort und perpetuieren die Idee, dass nicht nur Distanzen auf der Erde, sondern auch die Grenzen zum Reich der Toten überbrückt werden können. Vom 19. Jahrhundert an wird bis heute eine Vielzahl von Aufzeichnungsgeräten dazu benutzt, aus dem Weißen Rauschen toter Kanäle im Äther etwas Intelligibles zu entziffern und dadurch stimmlichen Kontakt mit dem Totenreich zu errichten. Die moderne Tonbandstimmenforschung entwickelt sich exakt parallel zu der Geschichte der akustischen Aufnahmegeräte. Thomas Alva Edison, dessen Phonograph unter anderem damit beworben wird, dass er die Stimmen großer Männer unsterblich machen werde, folgt zum Beispiel der von Ernst Florens Friedrich Chladni vorgezeichneten Aufschreibetheorie, dass phonographische Geräusche reine Transkriptionen von Vibrationen seien und dass ein originales Geräusch nicht nötig sei. Mit der entsprechenden Verstärkung könnten deshalb auch die Stimmen von Toten aufgezeichnet werden.90 Zunehmend ersetzen Mikrophone das in Trance geratene Medium der Séancen, während der spiritistische Begriff des Mediums beibehalten wird.91 So verwandelt sich auch die Stimme des Herrn im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zunehmend zu einem Ton aus dem Reich der Toten und damit aus dem unsterblichen Reich der Medien. 1900 zeigt das Emblem der Gram-O-Phone Company des Bell-Assistenten Emil Berliner genau das: Der Foxterrier Nipper lauscht noch heute am Grammophon der Stimme und den Rappings seines inzwischen verstorbenen Herrn: »His Master’s Voice«. H.P. Lovecraft beschreibt in seiner Erzählung The Statement of Randolph Carter (1919) die nächtliche Erforschung eines Friedhofs. Verbunden sind der Ich-Erzähler Randolph Carter und sein Freund Harley Warren, der ein Grab hinuntersteigt und dort eine Welt unterhalb des Friedhofs findet, mit

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im Jahr 1785. Epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie, Frankfurt am Main 1985. J.D. Peters: Speaking into the Air, S. 94-95. Vgl. Ebd., S. 89-108. Vgl. W. Hagen: Okkultismus der Avantgarde, W. Hagen: Radio Schreber sowie Wolfgang Hagen: »Die entwendete Elektrizität. Zur medialen Genealogie des ›modernen Spiritismus‹«, in: http://www.whagen.de/publications/Entwendete Elektrizitaet/26Hagen.htm vom 27. Juli 2006 sowie Anthony Enns: »Voices of the Dead: Transmission/Translation/Transgression«, in: Culture, Theory & Critique 46 (2005), S. 11-27. Vgl. H. Böhme/P. Matussek/L. Müller: Orientierung Kulturwissenschaft, S. 179.

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dem Kabel eines tragbaren Telefons. Warren stößt beim Abstieg und in der Kürze des Statements schnell auf etwas so Grauenvolles, dass er Carter hysterisch bittet, sofort die Granitplatten wieder auf das Grab zu legen und zu fliehen. Doch eine Telefonleitung gibt man nicht so schnell auf. Nach einem letzten Schrei Warrens herrscht nach zahlreichen Kontaktversuchen Carters Stille in der Leitung. Während Carter weiter versucht, Warren zu erreichen, antwortet ihm aber etwas ganz anderes: But after a while there was a further clicking in the receiver, and I strained my ears to listen. […] I do not try, gentlemen, to account for that thing – that voice – nor can I venture to describe it in detail, since the first words took away my consciousness and created a mental blank which reaches to the time of my awakening in the hospital. Shall I say that the voice was deep; hollow; gelatinous; remote; unearthly; inhu92 man; disembodied?

Die körperlose Stimme am unterirdischen Ende der Telefonleitung lässt Carter in gnädige Ohnmacht fallen. Diese kurze Geschichte der Telekommunikation endet mit dem Satz der Kreatur: »You fool, Warren is DEAD!«93 Neben der Geschichte der spiritistischen Stimmenforschung ist es, wie das Beispiel kurz andeuten soll, in Literatur und Film vor allem der unauffällige und schon fast unsichtbare Haushaltsgegenstand »Telefon«, der nicht nur in Situationen der Suspense und des Schocks plötzlich in den Vordergrund rückt, sondern der häufig dazu benutzt wird, Todesnachrichten, Todesprophezeiungen und sogar Nachrichten aus dem Reich der Toten zu übermitteln. Die Kopplung der telefonischen Wahrnehmung mit dem Tod ergibt sich dabei aus folgender Frage: Wo sind wir, wenn wir hören?94 Wer telefoniert, begibt sich mit einem ungeschützten Sinn an einen Ort, der nicht einsehbar und deshalb auch nicht vorhersehbar ist. Man gibt am Telefon seine prometheische Souveränität auf. Am anderen Ende lauert nicht nur die Wahrheit, sondern ebenso die Täuschung oder der plötzliche Schock des Unerwarteten und Grauenhaften, Botschaften, auf die man nicht gefasst ist. Das ist das Risiko, der Vertrag, den man eingeht, wenn man den Telefonhörer aufnimmt. Neben dem Schreck über die fremde Stimme oder das nicht identifizierbare Geräusch am anderen Ende der Telefonleitung gibt es zudem noch die Polyund Kakophonie der Hintergrundgeräusche im Kanal selbst. Bekannt sind die Klick-, Knister- und Rauschtöne, deren Herkunft man seit Beginn des 20. Jahrhunderts entweder technischen Abhörmaßnahmen oder dem Medium selbst zuschreibt. Informationstheoretisch bietet sich auch das an der Telefontechnik ausgerichtete Modell des Rauschens im Schema von Claude Elwood Shannon an. Doch sowohl die Unsichtbarkeit des Dialogpartners als auch die Möglichkeit eines parasitären Dritten an oder in der Leitung lassen Raum für spiritistische

92 H.P. Lovecraft: »The Statement of Randolph Carter (1919)«, in: Ders.: Omnibus 1. At the Mountains of Madness and Other Novels of Terror, London 1985, S. 351-360, hier S. 359-360. 93 Ebd., S. 360. 94 Die Frage ist eine Erweiterung der ausschließlich an einem Ort der Musik interessierten Frage Peter Sloterdijks in Weltfremdheit, Frankfurt am Main 1993, S. 294-325.

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Spekulationen. Auch Hans Richard Brittnacher legt die »Gespensterangst« schon früh in der Literatur als ein akustisches Phänomen fest: Sonderbare akustische Sensationen, erkennbar nicht von dieser Welt, begleiten das Erscheinen der Gespenster: »Dumpfes, heimliches Gelächter« […], »fürchterliches Brausen« […] oder eine »hohe, seltsam irre Musik« […]. Schlimmer noch als jeder akustische Terror ist jedoch die eisige Stille: »Auch war es totenstill um mich« […] – das attributive Bezugswort in Metaphern wie ›Grabesruhe‹, ›Todesstille‹, ›Friedhofsruhe‹, ›Sterbensangst‹ oder ›totenstill‹ nennt den Schrecken deutlich beim Na95 men.

Die Beschreibungen der Angst vor Tod und Selbstauflösung, die Brittnacher zentral für die Gespensterliteratur setzt, zeigen den Weg des Einfalls des »Reich[s] der Toten [in] die Welt der Lebenden«96 über das ungeschützte Ohr als offenes Tor des Gemüts. Während die neueren Gespensterfilme deshalb weitgehend dem vom New Gothic-Film und exemplarisch auch dem von The Blair Witch Project neu installierten Bilderverbot direkter physischer Gewalt folgen und auf eine Ästhetik des Körper-Horrors verzichten, verschieben sich die Gewaltverhältnisse auf die Tonspur. Die neuen digitalen Tonsysteme Dolby Digital, Digital Theater Systems (DTS) und Sony Dynamic Digital Sound (SDDS) werden zu Beginn der 1990er Jahre zu kommerziellen Standards und sorgen mit bis zu sechs diskreten Kanälen für die perfekte auditive Formatierung des Kinozuhörers.97 Über das Gehör und nicht über den Gesichtssinn erfüllt das moderne Horrorkino inzwischen den romantischen Anspruch einer synästhetischen Überwältigung der Sinne. The Blair Witch Project mag die Dogma-Ästhetik verwackelter Handkameras besitzen, die Tonspur ist perfekt ausgelotet in Dolby Digital. Gespiegelt wird die Verschiebung auch in den Filmen selbst. Während im Körper-Horror der 1970er Jahre noch der Akzent auf blutige Visualität gelegt wird, kündigt sich in William Friedkins The Exorcist schon mit der teuflischen Polyphonie im Körper der zwölfjährigen besessenen Regan der Horror der Stimme an, die mit der Hilfe eines Tonbands, das rückwärts gespielt wird, decodiert werden muss. (Abb. 109) Der mit dem Academy Award (»Oscar«) für Ton ausgezeichnete Film kehrt denn auch 2000 als

95 H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 48-49. Brittnacher bezieht sich bei seinen Zitaten auf folgende Ausgaben: Johann August Apel: »Der Brautschmuck (1810/12)«, in: Ders./Friedrich Laun (d.i. Friedrich August Schulze) (Hg.): Das Gespensterbuch (1890), Stuttgart o. J., S. 287-310 sowie Johann Heinrich Jung-Stilling: »Die unterirdische Musik (1808)«, in: Martin Federspiel (Hg): Spukgeschichten, München, Berlin 1985, S. 33-39. Vgl. auch die Neuausgabe des Gespensterbuchs: Johann August Apel/Friedrich Laun (Hg.): Das Gespensterbuch. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Robert Stockhammer, Frankfurt am Main, Leipzig 1992. 96 H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 48. 97 Zur Digitalisierung der Tonsysteme vgl. R. Blanchet: Blockbuster, S. 194-204. Bernhard Siegert macht die Entwicklung des Stereotons in Kinofilmen interessanterweise an der »Autoreferenz« in Kurt Neumanns The Fly fest. Vgl. Bernhard Siegert: »Die Spur der Fliege. Eine kleine Diskursanalyse des Stereotons im Film«, in: Peter Berz/Annette Bitsch/Bernhard Siegert (Hg.): FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag, München 2003, S. 183-191.

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»Director’s Cut« nicht nur mit zehn neuen Filmminuten, sondern vor allem in Dolby Digital ins Kino zurück.98 Michel Chion beschreibt das konventionelle Verhältnis der drei akustischen Grundkategorien im Erzählkino – Stimme, Musik und Toneffekte – folgendermaßen: We all carry a few film sounds in our memory – the train whistle, gunshots, galloping horses in westerns and the tapping of typewriters in police stations – but we forget that they are heard only occasionally, and are always extremely stereotyped. In fact, in a classical film, between music and the omnipresent dialogue, there’s hardly 99 room for anything else.

Es muss diegetisch deshalb schon etwas Besonderes in Szene gesetzt werden, wenn plötzlich ein subalterner Toneffekt den dominanten Fluss aus Stimme und Musik unterbricht. Im Horrorfilm geraten die Informationskanäle dabei weitgehend durcheinander, und es kommt nicht nur auf die Differenz zwischen der Wahrnehmung von Zuschauer und Filmfigur an, sondern immer häufiger auch auf den Unterschied der Wahrnehmung zwischen den Figuren und den technischen Medien. Denn die Medien zeichnen mehr, präziser und damit glaubwürdiger die Realität auf als die menschlichen Sinne. So stehen Figuren, die gespenstische Zeichen wahrnehmen, im Gegensatz zu technischen Medien, die das Reale aufzeichnen, immer im Verdacht des Wahnsinns und setzen sich, strukturell identisch mit dem Paranoiaverdacht in Verschwörungsfilmen, dem Unglauben ihrer Mitmenschen aus. Jüngere Beispiele sind die Geisterseher in The Sixth Sense, Stir of Echoes, Nos miran, The Ring oder im asiatischen Kino Ringu, Honogurai mizu no soko kara, Ju-On: The Grudge und Jian gui. In den neuen Gespensterfilmen sind das unsichtbare Telefonnetz und körperlose Telefonstimmen sowie viele andere Empfangsgeräte äußerst präsent. Es gibt beispielsweise die Stimmen Verstorbener auf dem Tonband des Psychiaters in The Sixth Sense, den Geist auf dem Babyphon in Stir of Echoes, die Geisteranrufe mit der Todesprophezeiung in Ringu, seinen Fortsetzungen und seinem Remake The Ring, oder es gibt die Außerirdischen, deren Signale mit einem Babyphon in Signs empfangen werden. Wie Peters ausführt: »Ghosts and angels haunt modern media, with their common ability to spirit voice, image, and word across vast distances without death or decay.«100 Die historische Auseinandersetzung um die Herkunft der unheimlichen Stimmen und Geräusche am Modell des Telefons ist deshalb nicht nur Mediengeschichte, sondern auch an ihrer Sedimentierung in Kunst und Kultur ab98

Im Klappentext der DVD-Fassung heißt es: »Die von Regisseur William Friedkin und Produzent und Drehbuchautor William Peter Blatty komplett digital überarbeitete Version enthält zusätzliche 10 Filmminuten […] sowie eine vollständig neu bearbeitete Sound-Atmosphäre in Dolby Digital 5.1 EX. Das Resultat ist ein packenderes und bedrohlicheres Filmerlebnis als jemals zuvor und öffnet die Tür zu unseren tiefsten Ängsten…« 99 Michel Chion: Audio-Vision: Sound on Screen, New York 1994, S. 148. Zur deutschen Übersetzung der ersten drei Kapitel vgl. Michel Chion: »Mabuse – Magie und Kräfte des ›Acousmêtre‹. Auszüge aus ›Die Stimme im Kino‹«, in: Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 124159. 100 J.D. Peters: Speaking into the Air, S. 75.

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lesbar. Großen Erfolg hat zum Beispiel André de Lordes Einakter Au Téléphone (1902), an dessen Schluss die Hauptfigur André Marex hilflos und live den Mord an seiner Frau und seinem kleinen Kind über das Telefon miterleben muss. Mit dem Telefon eröffnet sich damit eine neue Variation der Teichoskopie. Die Konstellation zeigt auch, wie schon bei Benjamin und Lovecraft, aber auch in Franz Kafkas Der Nachbar (1917/31) oder Das Schloss (1926), dass die Asymmetrie göttlicher Kommunikation als wichtiges narratives Moment der Inszenierung literarisch fortgesetzt wird. Das Gefälle von Macht und Wissen zwischen den Telefonierenden wird zumeist durch die Fokussierung auf den einen, und zwar den angerufenen und ohnmächtigen Gesprächspartner gewährleistet.101 Während in der Literatur sich das Unheimliche und die Autorität von Telefonstimmen zwar schnell einen Platz gesichert haben, müssen sie im Gegensatz zum Film dennoch den Umweg der Umschreibung und Übersetzung von Ton nehmen. Im Film hingegen trifft die Ikonographie des Telefons auf die Möglichkeit der Tonspur.

Abb. 109: Die Stimme des Teufels wird entschlüsselt Das Abspielen eines Diktaphons mit einer Stimme aus dem Totenreich spielt eine entscheidende Rolle in Manoj »Night« Shyamalans Film The Sixth Sense. Nachdem der Kinderpsychologe Dr. Malcolm Crowe den Fall des achtjährigen Cole Sear übernommen hat, der behauptet, Tote wahrnehmen zu können, erinnert er sich an einen anderen Fall. Er hört eine alte Sitzung mit Vincent Grey ab, der die gleichen Symptome aufwies wie Cole und sich nach der erfolglosen Behandlung erschoss. Crowe hört die Kassette der Sitzung ab, findet aber zunächst nichts Auffälliges. Dann lässt ihn doch etwas aufhorchen, und er dreht mehrfach den Lautstärkeregler hoch, eine Geste, die von dem Zoom der Kamera bis in die Detailaufnahme auf den Regler und das sich 101 Telefonfilme und -TV-Serien, die beide Enden der Leitung zeigen, arbeiten häufig mit Split-Screens, um die Trennung zu betonen. Wenn eine Parallelmontage eingesetzt wird, ist ein Schuss-Gegenschuss-Verfahren nicht selten, um die Intimität des Dialogs zu bewahren. Einige Beispiele liefern HeinzJürgen Köhler und Hans J. Wulff in »Filmtelefonate«, in: Stefan Münker/ Alexander Roesler (Hg.): Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt am Main 2000, S. 125-141.

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drehende Band begleitet wird. (Abb. 110) Zunächst ist nur das Rauschen des Aufnahmegeräts hörbar. Als Crowe aber die Aufnahme einer Unterbrechung der Sitzung abhört, einige Minuten, in denen er den Raum verlassen hat, hört er ein Wispern. Jemand spricht offensichtlich zu Vincent, ein Spanier, der ständig wiederholt, dass er nicht sterben wolle. Die Grundannahme des Films beruht auf der Annahme, dass Cole als einzige Figur die Geister sehen und hören kann. Deswegen wenden sich die Toten an ihn. Aber technische Aufzeichnungsmedien machen es möglich: Ein Tonband nimmt die Stimme eines Geistes auf und scheint damit die Aufschreibetheorien von Chladni und Edison zu bestätigen. Es hat wie Cole den sechsten Sinn für eine Welt jenseits der menschlichen Wahrnehmung. Wenn ein Telefonat von außen betrachtet eine höchst einseitige Sache ist, so geht man doch davon aus, dass sich das Gespräch der beiden Teilnehmer irgendwo zwischen den Verbindungsdrähten und Kohlemikrophonen trifft. William Gibson hat in seinem Roman Neuromancer 1984 für diesen Raum, diese Black Box, an die nunmehr Computer via Telefon angeschlossen sind, den Begriff des »Cyberspace« geprägt. Gemeint ist ein nur simulatorisch sichtbarer elektrischer und elektronischer Nicht-Ort im Netzwerk der Telefonleitungen, der heute »Internet« genannt wird. Dort trifft alle Kommunikation aufeinander. Das Phantasma vom Cyberspace ist dem mythologischen Limbus sehr ähnlich und kann als geisterhafte Zwischenwelt im Zeitalter der Neuen Medien betrachtet werden. Während die Oberflächen des World Wide Web, des populärsten Raums im Internet, der häufig mit den Isotopien des »Datenmeeres« und des »Surfens« verbunden ist, wenig Furcht einflößend ist, muss der Gedanke an die Untiefen der unzähligen und unsichtbaren Verknüpfungen, die dahinter liegen, abstrakt und dunkel bleiben.102 Im Mahlstrom des Internets lauern Gefahren, selbst wenn man es von seinem eigenen Heim, seinem Oikos, aus betritt. Informationen in Telefonleitungen verlaufen eben in zwei Richtungen, und das Unheimliche und Schreckliche kann ungehindert ins Haus kommen. Freud stellt zwar noch einfach fest, »[i]m allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt«103, aber er legt noch stärkeres und etymologisches Gewicht auf die topographische Komponente des Unheimlichen, das mit dem Heimlichen zusammenfällt. Unheimlich ist nach Freud ein Ort, an dem es spukt, aber wo es früher heimlich im Sinne von heimelig war, wie zum Beispiel die Angst vor dem Scheintod aus der Lüsternheit der Phantasie vom Leben im Mutterleib erwächst.104 Wer auf das Gesicht und besonders den Mund von Filmschauspielern achtet, wird sich an der Asynchronie von Bild und Ton bei synchronisierten Filmen stören. Aber schon die Einführung einer Tonspur in das Filmband überhaupt stellt die Echtheit des Tons in Frage. Stanley Donens und Gene Kellys Film Singin’ in the Rain (US 1952) zeigt beispielsweise die heiklen Versuche der unsichtbaren Platzierung der Mikrophone möglichst nahe am

102 Vgl. Matthias Bickenbach/Harun Maye: »Zwischen fest und flüssig. Das Medium Internet und die Entdeckung seiner Metaphern«, in: Lorenz Gräf/Markus Krajewski (Hg.): Soziologie des Internet: Handeln im elektronischen WebWerk, Frankfurt am Main, New York 1997, S. 80-98. 103 S. Freud: Das Unheimliche, S. 161. 104 Vgl. Ebd., S. 163.

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Abb. 110: Diktaphon Schauspieler in der Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm. Viele Schauspieler der Stummfilmzeit können auch ihren Beruf seit dem Tonfilm nicht mehr ausüben. Sigrid Weigel berichtet von Marcel Blistènes Film Ètoile sans lumière (dt. Chanson der Liebe, F 1946), der im Übergang zum Tonfilm von der Aufteilung eines weiblichen Stars in eine gefeierte Schauspielerin und eine zunächst versteckte Sängerin erzählt und davon, dass nach dem Tod des Stars die stets unsichtbare Sängerin keine eigene Karriere verfolgen kann, weil das Bild der Toten sie heimsucht. An dieser Stelle treten die Medien in Konkurrenz, und der Film zeigt nicht nur, wie ein Medium ein anderes als Phantom heimsuchen kann, sondern er zeigt auch die erzwungene Illusion von Natürlichkeit in der Erzählung der Synchronie verschiedener Medien.105 Eine Möglichkeit des Films, auf die gespenstischen Geräusche und Stimmen durch das Telefon aufmerksam zu machen, ist die Reduzierung des laufenden Tons zu einem leisen Rauschen, während zunächst ein überlautes Klingeln und dann die isolierte Telefonstimme die Tonspur dominieren. Das Fading des Dauertons entspricht optisch dem Wechsel der Tiefenschärfe und wird häufig von einem Zoom auf den Telefonapparat begleitet. Ein Beispiel dafür liefert Hideo Nakatas Ringu. Der Film bietet im Anschluss an die Geschichten Bells, de Lordes, Benjamins oder Lovecrafts eine Fortsetzung des Telefons als Übermittler von Todesbotschaften, verknüpft dies aber mit der Tatsache, dass die Stimme selbst aus dem Totenreich stammt. Die Geschichte beginnt mit einer Urban Legend, die zwei Teenager sich erzählen. Es heißt, dass ein Video existiert, nach dessen Sichtung man sieben Tage später stirbt. (Abb. 111) Verkündet wird das in einem Telefonanruf. Mehrere Teenager sterben denn auch gleichzeitig, und Reiko Asakawa, Journalistin und die Tante eines der toten Mädchen, macht sich auf Spuren suche. Sie findet das Video in einem Sommerhaus, das die Verstorbenen besucht haben, schaut es sich an und hört telefonisch die Todesprophezeiung. (Abb. 112) 105 Sigrid Weigel: »Die geraubte Stimme und die Wiederkehr der Geister und Phantome. Film- und Theoriegeschichtliches zur Stimme als Pathosformel«, in: Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): Once upon a time … Film und Gedächtnis, Marburg 1998, S. 57-72.

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Abb. 111: Das tödliche Video Bei ihrer Recherche findet sie dann heraus, dass auf dem Video der Fluch eines ermordeten Mädchens gebannt ist, der alle Zuschauer vor Angst sterben lässt, indem das Mädchen sie aus dem Video heraus heimsucht, sofern sie nicht eine Kopie des Videos an andere weiterreichen. Seltsamerweise geht die Journalistin während des ganzen Films den visuellen Spuren des Videos nach, aber die Frage nach der Herkunft des Anrufs wird nicht weiter erörtert.

Abb. 112: Todesbotschaft am Telefon Das Telefon ist zwar nur Handlanger in dieser unheimlichen Medienkopplung, aber der gespenstische Effekt beruht auf der Tatsache, dass allein das Medium Telefon den Videogucker persönlich ansprechen kann. Jemand Unsichtbares muss also alles beobachtet haben, jemand muss die Telefonnummer kennen und genau wissen, dass diese Figur am anderen Ende der Telefonleitung den Anruf entgegennimmt. Erst der Telefonanruf mit der Ankündigung des Todes besiegelt also ihr Schicksal, und Asakawa muss im Film mehrere Telefone klingeln lassen und mehrere Mobiltelefone überprüfen, um sich des Fluchs auch bei anderen sicher zu sein oder ihn vielleicht abzuweh-

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ren. Zum Schluss des amerikanischen Remakes The Ring von Gore Verbinski wird überdies vor den Schlusscredits das tödliche Video noch einmal gezeigt, und während die Kinozuschauer aus dem Saal gehen, stellen sie ihre Mobiltelefone wieder an. Die zweite Variante des gespenstischen Tons ist die Verringerung des Signal-Rausch-Abstands selbst. Es bedeutet Rauschen, Interferenzen, falsche Töne und Stimmen, unverständliches Flüstern, Summen, Brummen, Verzerreffekte und das Schockgeräusch der Rückkopplung am Telefon. Es sind zumeist nichtmenschliche Maschinengeräusche, deren Quelle nicht ermittelt werden kann, weil sie jenseits der filmischen Diegese liegt und nur in Hinweisen und symbolischen Verdichtungen existiert – am anderen Ende des Informationskanals oder im Kanal selbst. Die Unklarheit der Herkunft des Tons setzt aber immer eine Hermeneutik in Gang. Der Wunsch nach der Lesbarkeit von Tönen aus nicht bestimmbarer Quelle reicht von Chladnis Klangfiguren und romantischer Oralität bis zur modernen Phonetik, Phonologie und digitaler Spracherkennung. In der Hochphase des filmischen Körper-Horrors in den 1970er Jahren manifestiert sich der Teufel noch im Körper eines kleinen Mädchens und produziert neben einer großen Menge grünen Schleims vor allem eine Legion an Stimmen. The Exorcist verdichtet die Merkmale des Teufelsfilms als Fokus auf die schockhafte Inkompatibilität von Stimme und Körper des zwölfjährigen Mädchens Regan.106 Während ihrer Besessenheit spricht sie mit der tiefen Stimme eines erwachsenen Mannes, nennt sich selbst den Teufel und gibt obszöne und blasphemische Beschimpfungen von sich, deren Tonart ebenfalls unpassend und verstörend wirken. Visuell drückt sich dies im Gesicht aus, das Merkmale einer teuflischen Fratze aufweist. (Abb. 113) Der Teufel bleibt unsichtbar107 und ist durch Stimmenmultiplikation tatsächlich Legion. Denn in dem Körper des Mädchens verstecken sich mehrere Stimmen, die Stimmen von anderen Menschen werden perfekt nachgeahmt, und der Teufel spricht Aramäisch. Regan wird zum Sprachrohr einer Hölle der Polyphonie. Der Moment der Erkenntnis kommt Pater Damien Karras erst beim Abhören seines Diktaphons, als er erkennt, dass die Stimme rückwärts spricht.108 Außerdem werden in der Stimme des Teufels Unsicherheiten hinsichtlich seines Geschlechts deutlich, da er sich eines Mädchens als körperliches Medium bedient, aber zumeist mit einer männlichen Stimme spricht. Zusammengefasst wird dem Teufel in The Exorcist ein menschliches, wenn auch verzerrtes Gesicht verliehen. Das bedeutet filmisch die reflexiv deutlich

106 Zu einer einführenden Übersicht in das Genre des Teufelsfilms vgl. Werner Faulstich: »Antichrist, Besessenheit und Satansspuk. Zur Typologie und Funktion des neueren Teufelsfilms«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi). Jg. 17. H. 66 (1987), S. 102-117. 107 Ganz ohne eigenes Bildarsenal bleibt der Teufel nicht. Vgl. die Subliminal Images in The Exorcist, die eine Teufelsfratze jeweils in nur wenigen Frames zeigen und damit für den Kinozuschauer unsichtbar bleiben. 108 Hier wird der Topos der versteckten satanischen Botschaft, die beim Rückwärtsspielen einer Schallplatte offenbar wird, angesprochen. Zugleich ist die Kombination Regan/Teufel in Körper und Stimme ein Beispiel für die schon angesprochene Verstörung der Praxis der Synchronisierung. Aus der Figur sprechen mehrere Stimmen, die alle unterschiedlich synchronisiert werden müssen.

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gewordene künstliche Zusammenfügung von Bild und Ton, deren Offenlegung als Quelle des Schreckens ausgenutzt wird. 2001 verzichtet Mark Pellingtons Film The Mothman Prophecies (dt. Die Mothman Prophezeiungen, US 2001) vollständig auf Bilder der Gewalt und die schockierende Inszenierung des falschen Körpers zur Stimme und dezentralisiert stattdessen die unheimlichen Mothmen, in dem er sie auf verschiedene und genau abgestimmte und diskrete elektronische Kommunikationskanäle verteilt. Der Film beginnt dabei unüberhörbar mit einer Rückkopplung. Erschrocken reißt sich der Journalist John Klein den Telefonhörer von seinem Ohr. (Abb. 114) Klein ist der Starreporter der Zeitung Washington Post, die schon für All the President’s Men, den Film zur Watergate-Affäre, der ebenfalls ein ausgesprochener Telefonfilm ist, den Hintergrund liefert. Werden visuell die Leitmotive von Lichtstrahlen, elektrischen Leitungen und das Mothman-Motiv in Form eines »Y« und rotem diffusen Licht in den Film eingeführt, so ist es akustisch die Störung.

Abb. 113: Das Gesicht des Teufels Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau, die in ihren letzten Tagen zahllose Zeichnungen der Mothmen angefertigt hat, stößt Klein in der Stadt Point Pleasant immer wieder auf unerklärliche Phänomene, die die Sightings von Mothmen betreffen. Am auffälligsten ist die Tatsache, dass die Menschen, die mit den fremden Wesen kommunizieren, zu Todesboten werden und wie der Geisterseher Emanuel Swedenborg Katastrophen vorhersagen. Als das Medium Gordon Smallwood Klein in seinem Hotelzimmer ein Gespräch mit einem gewissen Indred Cold vermittelt, wird an vielen Beispielen dessen Allwissenheit und damit die Asymmetrie der Verbindung unter Beweis gestellt. Gekennzeichnet wird das unheimliche Wesen durch eine technisch tönende verzerrte Stimme, und das Gespräch endet abrupt mit einer lauten Rückkopplung. Klein zeichnet das Gespräch mit dem Anrufbeantworter und einem Diktaphon auf. (Abb. 115) Eine Überprüfung des Gesprächs stellt allerdings klar, dass Smallwood ihn überhaupt nicht angerufen hat. Wer war also am anderen Ende der Leitung? Eine Stimmenanalyse im Labor, die dem hermeneutischen Drang Kleins folgt, ergibt, dass die Stimme nicht identifiziert werden kann. (Abb. 116) Sogar das Geschlecht ist nicht feststellbar. Allein die Tatsache, dass die

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Stimmfrequenz nicht menschlich ist und mit keiner anderen Stimme übereinstimmt, lässt die Forscher ratlos zurück. »No matching results found«, gibt der Computer aus und gleicht damit den Informationswert der fremden Stimme, die semantisch Allwissenheit präsentiert hat, dem der Rückkopplung, der Störung des Tonkanals, an.

Abb. 114: Erste Rückkopplung

Abb. 115: Anrufbeantworter Ob die rätselhaften mottengestaltigen Figuren und Todesboten deshalb psychotische Wahnvorstellungen, Geister, Außerirdische, Dämonen oder den Tod selbst darstellen, bleibt offen. Allein die Tatsache, dass der Film buchstäblich immer wieder aus der Perspektive der technischen Medien in die Räume und auf die Figuren blickt, lässt den Schluss zu, dass es um ein unsichtbares Reich der elektronischen Medien geht, das geisterhaft und unerklärlich die menschlichen Sinne und den Verstand übersteigt. Der Film endet mit dem Versprechen der allwissenden, aber identitätslosen Stimme Colds, dass Klein seine verstorbene Frau am Heiligabend um Punkt 12.00 Uhr am

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Telefon wird sprechen können. Tatsächlich klingelt es, nachdem Klein den ganzen Tag gewartet hat. Kleins Gebete im Rahmen der asymmetrischen Kommunikation zwischen ihm und Cold scheinen erhört worden zu sein.

Abb. 116: Stimmenanalyse Letztlich nimmt Klein aber trotz des dauernden Klingelns, das von Nah- und Detailaufnahmen des Telefons begleitet wird, nicht ab, und er folgt stattdessen der Einladung Connie Parkers, der Polizistin von Point Pleasant, die ihn kurz vor 12.00 Uhr angerufen hat. Klein reißt sogar das Telefonkabel aus der Wand, aber es klingelt weiter. (Abb. 117) Das Gespräch kommt nicht zustande. Das Versprechen der Telefonstimme wird nicht eingelöst. Die im Film beinahe unmögliche Weigerung, ein Telefongespräch anzunehmen, macht Klein am Schluss des Films zum Retter von Parker in einer ihm allerdings von den Mothmen vorhergesagten und von ihm zunächst missverstandenen Katastrophe. Der neuere Mystery- oder Gespensterfilm wiederholt somit die Transformation der Dingwelt in eine unheimliche Welt gespensterhafter Medien, die der Verschwörungsfilm in den 1970er Jahren vorgenommen hat: »What has happened to the objects of our object-world is neither youth nor age, but their wholesale transformation into instruments of communication […].«109 Der Gespensterfilm nimmt sich der allegorischen Ikonographie der elektronischen Medien an und zeigt ein System der Dinge, das ein klandestines Reich der Kommunikation hinter dem Rücken der Menschen ausformt. Die Geister kommen nicht mehr aus der Hölle, aus dem Totenreich oder aus dem Unbewussten, sondern sie entstammen einem Limbus, der das unsichtbare Reich der Medien oder auch das Universum der technischen Bilder110 genannt werden kann, das direkt den medien- und informationstheoretischen Diskursen entspringt.

109 F. Jameson: Geopolitical Aesthetic, S. 11. 110 Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1992.

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Abb. 117: Der letzte Anruf

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III. Chris Cunningham. Come to Daddy Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist. William Gibson: Neuromancer Ich will ihn schon die ganze Zeit davon überzeugen, dass wir zusammen einen Zombiefilm machen. Wenn Chris den drehen würde, wäre das der beste verdammte Zombiefilm ever. Aber er macht sich zuviel Gedanken um sein Bild in der Öffentlichkeit und will nicht so recht. Aphex Twin

1. Information und Theorie Die Bilder und Narrative des modernen Horrorfilms haben inzwischen ihr Medium transzendiert und zirkulieren in den neuen populären Leitmedien der Gegenwart: im Computer- und Videospiel sowie im Videoclip. Der Medienverbund des Recycling-Kreislaufs aus den Monsterarchiven hat sich inzwischen auch so weit ausgedehnt, dass der Horrorfilm Computer- und Videospiele adaptiert und sich die spezifische Ästhetik und Erzählweise des Videoclips aneignet. So wurde der Zombiefilm 28 Days Later zum Beispiel nicht nur komplett auf digitalem Videofilm gedreht, sondern zeichnet sich auch durch eine durchgängige Videoclip-Ästhetik aus. Ten Shimoyamas Spukhausfilm Otogiriso (engl. St. John’s Wort, JAP 2001) adaptiert inhaltlich und formal vollständig die Ästhetik eines Video- oder Computerspiels. Die Zombiefilme Resident Evil und Resident Evil: Apocalypse (US 2004) sind genau wie Christophe Gans’ Silent Hill (US/KAN/JAP/F 2006) schon Verfilmungen der gleichnamigen Videospielreihen. Erstere rekurrieren deutlich auf Romeros Zombiefilme, während Silent Hill unter anderem auf Topoi des Gespensterfilms basiert, aber vor allem auf die Monsterikonographie der HellraiserFilme verweist. Mit der jungen Kunstform des Musikvideos oder Videoclips ist eine neue Qualität in der Verschränkung der Bilderwelten von Körperlichkeit und Medialität erreicht, die sich vor allem als Thematisierung der eigenen hybriden medialen Grundlagen offenbart.111 Die selbstreferenziellen Qualitäten von Videoclips zeigen sich dabei immer wieder in der Verwendung verschiedener Variationen der Mise en Abyme-Figur als Inszenierung von Medien in Medien. In Videoclips vereinen sich Musikfernsehen, Werbespot, Experimentalund Erzählfilm zu einer neuen audiovisuellen Kurzform. Chris Cunninghams Videoclip Come to Daddy (1997) besticht vor allem durch zwei Momente: 111 Vgl. Thomas Düllo: »Coole Körpermaschinen, hysterisierte Räume. Maskierte Identitätsvokabeln in neueren Musik-Clips«, in: Ders./Arno Meteling/André Suhr/Carsten Winter (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft, Münster 2000, S. 259-275.

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Zum ersten nimmt er Marshall McLuhans Theorem wörtlich, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist und setzt diese Aussage an den Beginn einer Geschichte, die von der Geburt eines Monsters aus dem Musikfernsehen erzählt. Zum zweiten versieht der Clip mit dieser Geschichte die für jede Kommunikation und damit auch für jeden Horrorfilm geltende Informationstheorie Claude Elwood Shannons nicht nur mit einer narrativen Struktur, sondern auch mit einem Körper, filmt also die Theorie seiner eigenen Übertragung ab. Shannons bekanntes mathematisches Kommunikationsmodell beschreibt in aller Kürze die Transmission von Information von einer Quelle zu einem Empfänger über einen Kanal. Die Information im Kanal ist sowohl geordnet (Signal) als auch ungeordnet (Rauschen/Noise). Wenn man dieses Modell in kinematographische Bilder umsetzt und dabei, nach Ulf Poschardt, wie Cunningham »den Glauben an das Fleisch nicht aufgegeben hat«,112 dann kommt man, wie Come to Daddy, auf eine Fusion von Körper und Medium, die nur in einem organischen Geburtsvorgang aus den Medien enden kann. Dieser Prozess stützt sich in dem Clip allerdings notwendig auf ein Arsenal blasphemischer und grotesker Figurationen, die vor allem dem Archiv des modernen Horrorfilms, namentlich den Filmen David Cronenbergs und des Teufelsfilms der 1970er Jahre, entspringen. Die mediale Verschachtelung in Come to Daddy erweist sich als die Öffnung eines Informationskanals zwischen der diegetischen Umwelt und einem verborgenen Raum in den Medien, der auf geradezu kosmisch-elektrische Weise in einem Fernsehgerät wie in einem Fenster zur Hölle sichtbar und zum Einfallstor für das phantastische Monster in die Welt wird. Der Fernsehbildschirm verspricht nach seiner Aktivierung die Existenz eines latenten Raums, eines nicht mehr darstellbaren Jenseits unter der medialen Oberfläche, der durchaus als mediale Fortsetzung eines sozialpsychologischen »kollektiven Unbewussten« gelesen werden kann. Dieser Fernsehraum faltet und stülpt sich113 in der Diegese des Clips in seine Umwelt hinein und gebiert ein Fernsehmonster, das religiöse Verehrung einfordert und ein blasphemisches Pendant zur christlichen Trinität Gottes darstellt. The medium is the message. Der monströsen Botschaft aus dem Fernsehen, die Signal und Rauschen zugleich beinhaltet, muss eine Gestalt verliehen werden. Der Körper der Kreatur, die Maske oder das Gesicht des jenseitigen Fernsehraums, ist aber kein Nachrichtensprecher, kein Fernsehmoderator und auch nicht mehr der Götterbote Hermes oder gar ein Engel, wie noch die Figuren der Informationstheorie Michel Serres’ nach Shannon suggerieren,114 sondern der Mittler dessen, was sich hinter dem Bildschirm befindet, ist ein Monster. Es ist die Verkörperung des Rauschens, des Parasiten, der im Informationskanal hockt (Noise/bruit parasite)115 und zugleich der Advent des Antichristen, des Nachkommen von Lucifer, des gefallenen und verführerischen Satans John Miltons. Dieser haust inzwischen zeitgemäß in der hellen Scheinwelt des Fernsehens, genauer: in der Videoclip-Hölle des Musikfernsehens, und seine Fleisch gewordene Botschaft, so Come to Daddy, ist die jugendliche Gewalt in den Vorstädten. (Abb. 118) 112 Ulf Poschardt (Hg.): Video – 25 Jahre Videoästhetik, Ostfildern-Ruit 2004, S. 16. 113 Durchaus im Sinne von Jacques Derridas gattungstransgredierender »Invagination«. Vgl. J. Derrida: Law of Genre, S. 238. 114 Vgl. Michel Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt am Main, Leipzig 1995. 115 Vgl. M. Serres: Der Parasit.

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Abb. 118: Das Fernsehgesicht

2. Medienpädagogik Come to Daddy ist in einem blaugrünstichigen Ton gefiltert, markiert also zu Beginn schon eine Differenz zu einer möglichen realen Welt der Referenz im Farbspektrum und damit eine unaufholbare Verschiebung in den Raum des Imaginären. Zunächst wird die graue, monotone Hochhaus- und Betonlandschaft einer Vorstadt aus einer schief gehaltenen Untersicht eingeführt. (Abb. 119) Die Decke einer Unterführung schneidet den Horizont schräg ab. Eine alte Frau mit weißem Haar, hellem Mantel, Turnschuhen und einer Brille mit großen Gläsern führt ihren weißen Hund an einer Leine durch die Hochhausschluchten. Einleitend werden die Bilder der Exposition unterbrochen und stakkatoartig eingeschnitten. Die Insert-Bilder zeigen im Kontrast zum kühlen Blaugrün des Erzählstrangs eine Rotverschiebung. Das Doppellogo von Aphex Twin (Richard D. James), dem Komponisten des Musikstücks Come to Daddy, das dem Videoclip unterliegt, ist abwechselnd das Piktogramm eines Menschen in einem Kreis und ein diagonaler Pfeil, der ebenfalls in einem Kreis von links unten nach rechts oben führt. Beides zusammen zitiert Leonardo da Vincis berühmten homo ad circulum, die Proportionsstudie der menschlichen Gestalt nach Vitruv (1485/90). Das Logo wird nacheinander links unten im Kader in schnell wechselnden Frames eingeblendet, die Funken und Flüssigkeit in einer Seitwärtsbewegung zeigen. Die Bilder konnotie-

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ren einen Schweißvorgang, der die Montage der Bilder selbst thematisiert. Der gesamte Videoclip wird danach immer wieder von Störstreifen, Flackern und Rauschen unterbrochen.

Abb. 119: Hochhauslandschaft in Beton In der Mitte eines Hofes zwischen den Hochhäusern liegt ein umgekippter Einkaufswagen in einer großen Pfütze. Neben einigem Müll befindet sich dort ein schwarzes und neu aussehendes Fernsehgerät. Die Frau mit dem Hund betrachtet zunächst die Szene, schaut dann aber ängstlich über ihre Schulter. In einem dunklen Hauseingang erscheint kurz eine zwergenhafte Gestalt, die auf Figuren in Nicolas Roegs Don’t Look Now (dt. Wenn die Gondeln Trauer tragen, GB 1973) und Cronenbergs The Brood verweist. Die Gestalt versteckt sich beim Blick der Frau sofort wieder hinter einer Mauer. Der Hund hebt sein Bein und uriniert an das Gehäuse des Fernsehgerätes. Elektrische Blitze funken und koppeln den Urinstrahl an seinen Absender zurück. Der Fernsehbildschirm flackert, und das Gerät schaltet sich ein. Die Initiation des artifiziellen und medialen Grauens, die Animation des toten Fernsehobjekts, erfolgt also im traditionell alchimistischen Modus der Homunkulus-Züchtung, also durch Körperflüssigkeit wie Sperma, Tränen oder Urin, der hier noch einmal grotesk als Hundeurin profaniert wird, und rekurriert damit auf phantastische Traditionen in Folklore und Literatur. Hinzu kommt die moderne Kraft der Elektrizität als Leben spendende Kraft, wie sie bestens bekannt ist aus Mary Shelleys und James Whales Frankenstein, Thea von Harbous und Fritz Langs Metropolis und Villiers de l’Isle-Adams Roman L’Eve future (1886), in dem der Glühbirnen- und Filmerfinder Thomas Alva Edison höchstpersönlich den modernen Prometheus personifiziert.

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Abb. 122: Die Kinderhorde Der Hund stürzt sich nach dem elektrischen Schlag aggressiv bellend auf den Fernseher und kann von der alten Frau nicht mehr zurückgehalten werden. Hunde reagieren in den Texten und Filmen der Phantastik und speziell im Horrorgenre besonders sensibel auf das Übernatürliche und Teuflische. Sie nehmen es mit ihren nichtmenschlich erweiterten Sinnen wahr, wenn sich ein Portal zu einem phantastischen Raum öffnet. Es folgt ein Zoom auf den Fernsehbildschirm. Die zur Fratze deformierte Wiedergabe des Gesichts von Richard D. James alias Aphex Twin erscheint in einem Blauton. Der Mund ist zu einem konstanten Schrei geöffnet. Zu der wortlosen elektronischen Musik, die bis dahin die Tonspur des Videoclips füllt, kommt mit dem Erscheinen des Gesichts auch der Texteinsatz des Refrains: »I want your soul. I rape your soul. Come to daddy.« Die alte Frau flüchtet daraufhin in einen Hauseingang und fasst sich an die Brust. Kleine Kinder strömen derweil aus einem Haus- oder Hofgang. Teilweise bewaffnet mit Stangen, die unter anderem dazu benutzt werden, an Wandgestänge Lärm zu erzeugen, tragen sie alle das manisch grinsende Gesicht von Aphex Twin, dem bösen Alter Ego des Komponisten. (Abb. 120) Die Gruppe terrorisiert die Umgebung, wirft Müll um und verfolgt einen jungen Mann, der entsetzt in sein Auto springt und damit flüchtet. Diese Konstellation zitiert auch das Bild vom unaufhaltsamen Rudel oder Schwarm, dem man mit Ratio und Argumentation nicht mehr beikommen kann, wie er vor allem im modernen Horrorfilm auftritt. Referenzfilme dieser Horde sind Night of the Living Dead, John Carpenters Assault on Precinct 13, Philip Kaufmans Invasion of the Body Snatchers, Cronenbergs Shivers und Rabid oder Fritz Kierschs Children of the Corn (dt. Kinder des Zorns, US 1984). Danach wird der Erzählstrang mit der alten Frau wieder aufgenommen. Diese findet das Fernsehgerät wiederum in einer Pfütze, diesmal in einer Halle, wo die Kinder es hingeschleppt haben. Der Bildschirm stülpt sich aus – ein deutliches Bildzitat aus Cronenbergs Videodrome –, um dann neben der monströsen Fernsehfratze eine neue und organische Inkarnation herauszuschälen und die Geburt eines Wesens einzuleiten, das zunächst fötal in einer flexiblen Eihaut des Fernsehers steckt, sich dann aber ablöst und als dämonische und übergroße Kreatur entpuppt. (Abb. 121) Diese steht nach Geburt und Häutung schreiend vor der alten Frau, so dass der Frau die Haare nach

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hinten geblasen werden. (Abb. 122) Diese Reaktion weist eine groteske und synästhetische Comic-Logik auf, in der Lautstärke visuell umgesetzt wird. Sie verweist auch in reduzierter Weise auf die eigentliche Funktion von Videoclips und damit noch einmal auf den Noise-Aspekt des informativen Rauschens. Der Kopf von Aphex Twin, erkennbar an seiner Ähnlichkeit mit seinen diminutiven Doppelgängern, ist zunächst haarlos und hat eine graue Haut, die seiner vorstädtischen Betonumgebung gleicht. Optisch ist das Monster ein Geschöpf dieser sub-/urbanen Vorhölle. Es hat zudem ein Raubtiergebiss mit verlängerten Eckzähnen und länglich verzerrte Züge. In einer der letzten Einstellungen sieht man nach der vollendeten Metamorphose des Wesens eine durch Montage zusammengeschnittene, zum Rhythmus zuckende und tanzende hagere Gestalt mit dem Kopf von Aphex Twin, diesmal in der Tradition einer christologischen Ikonographie mit langen Haaren und Bart. Das Gesicht ist mit den Köpfen der Kinder, seinen Jünger-Aposteln, identisch, die ihn umringen und die er wohlwollend und väterlich stolz betrachtet. (Abb. 123) Die rötlich eingefärbten Funkenbilder, die anfangs die Geschichte mit schnellen Schnitten unterbrochen haben, tauchen wieder auf und führen den Videoclip zu seinem Ende. Diese Markierungen und auch das Flackern des Bildes selbst, die Bildstörung, die zu Beginn und am Ende des Clips selbstreferenziell auf die Fernseh- beziehungsweise Videomedialität des Dargestellten verweist, entsprechen neben den sprichwörtlich schnellen Schnitten der so genannten Videoclip-Ästhetik und erfüllen damit eine vergleichbare Rolle der Reflexion wie die Geburt des vorstädtischen und televisuellen Grauens selbst. In Come to Daddy geschieht genau das, was nicht nur Medienpädagogen, sondern auch moderne Horrorfilme wie Videodrome, Poltergeist oder Ringu immer schon gewusst haben: Das Monster steckt im Fernsehen, dem Bildschirm, der kein Fenster zur Welt ist, sondern ein Kanal zum Jenseits oder gar ein Portal zur Hölle. Das Unheimliche am Fernsehen ist die latente Möglichkeit der magischen Überschreitung seiner medialen Grenzen durch die Übertragung seiner Inhalte, zum Beispiel dadurch, dass es Gewalt zeigt, die von den Zuschauern mimetisch nachgeahmt wird. Schon Cronenbergs Videodrome zeigt eine solche Fernseh- und Videoformatierung von Sex und Gewalt. Gerade im Kontext des Musikfernsehens, im dem Videoclips wie Come to Daddy gezeigt werden, verschärft sich diese medienkritische Figur, da die Zielgruppe aus Kindern und Jugendlichen besteht. In einem nicht einsehbaren Raum hinter dem Fernsehgerät liegt in der Informationssenke auch die Quelle der Gewalt, die über die magischen Kanäle des Fernsehens in die Welt findet. Informationstheoretisch kommt deshalb mit dem Signal, der geordneten Information von Musik und Bild, subliminal auch das gefährliche Rauschen, die ungeordnete und kryptisch-dionysische Aufforderung zu Bewegung, Tanz, Chaos und Gewalt in die Kinder- und Jugendzimmer. Was in Videodrome noch ein unsichtbarer Tumor oder ein neues Fernsehempfangsorgan ist, ist in Come to Daddy die körperliche Transformation und Gleichschaltung aller kindlichen Zuschauergesichter.

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Abb. 121: Fernsehgeburt Für die Geburt des monströsen Körpers in die Welt hinein ist nicht mehr der Horrorfilm, sondern das Fernsehgerät zentral. Weggeworfen liegt es in einer großen, dunklen Wasserpfütze und inmitten von stereotypem VorstadtGhettomüll zwischen einem umgekippten Einkaufswagen, Farbeimern mit weißer Farbe, Tüten und McDonalds-Bechern. In der Lesart von Boris Groys stellt die Sammlung aber durchaus eine noch nicht musealisierte und valorisierte und deswegen noch zur Sphäre des Profanen gehörende Videoinstallation dar,116 die in dieser sub-/urbanen Wüste des Realen als Abjekt der Stadt im Sinne Julia Kristevas inszeniert117 und zugleich ihr Ursprung, ihre Quelle, ist. Denn der Ursprung des betongrauen Monsters in die Vorstadt hinein folgt einer Logik der Supplementarität, in der das Monster im Medium Fernsehen sitzt, aus dem Fernsehen geboren wird und dann dennoch, wie es die Shannonsche Definition von Information besagt, im Fernsehen verbleibt. Nach der Geburt existiert die schreiende Fratze weiter im erleuchteten Raum des televisuellen Tabernakels. Diese Multiplizierung der Monster, die streng informationstheoretisch funktioniert, findet ihre exakte Entsprechung in der göttlichen Trinität des christlichen Glaubens. So muss Come to Daddy auch als groteske Blasphemie oder Dämonisierung der paradoxen Figuren von Dreieinigkeit und Transsubstantiation verstanden werden. Der teuflische »Daddy« hält sich weiter im erleuchteten »Heilig-Geist-Raum« des Fernsehens auf und bringt als reine Parthenogenese den Antichristen zur Welt, der sofort von seinen minderjährigen Jüngern, denen die Gewaltbotschaft des Fernsehens schon am Gesicht anzusehen ist, umringt wird. In der Filmtrinität von Roman Polanskis Rosemary’s Baby, William Friedkins The Exorcist und Richard Donners The Omen ist diese Konstellation schon vorgedacht: Die Kinder sind die modernen Träger der bösen Saat des Musikfernsehens. 116 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt am Main 1999. 117 Vgl. J. Kristeva: Powers of Horror.

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Abb. 122: Das Fernsehmonster und die alte Frau Zusammengefasst kann man an dieser phantastischen und teuflischen Mediengeburt – der Fernseher benötigt nicht einmal mehr den Anschluss an das Stromnetz – die dämonische Herkunft des sub-/urbanen Terrors im Trägerund Transmissionsmedium Fernsehen ablesen. Kinder mutieren zu chaotischen und gewalttätigen Medienzombies, wenn sie sich den Videoclips des Musikfernsehens aussetzen. Der informationstheoretische Aspekt des Medienbegriffs muss nach Come to Daddy, der die Albträume der Medienkritik verkörpert, deshalb um spiritistische und okkulte Facetten erweitert werden. Die Gewalt in den Vorstädten und der Terror der Kinder beruhen, wie es jeder Pädagoge oder Medienkritiker eines Formats von Neil Postman bestätigen kann, auf dem Fernsehkonsum. Das Fernsehgerät ist in Come to Daddy auch tatsächlich der Fetisch, das Objekt kultischer Verehrung der Kinder, der Ursprung ihrer identischen Gesichter und Gesinnung sowie vermutlich auch ihres Vandalismus. Vergleichbar dem Schweinekopf, der Titel gebenden Inkarnation des Bösen in William Goldings Lord of the Flies (1954), der auch der »Lord of the Lies« ist, der lügende und leuchtende Schein des diabolischen Fernsehens, ist er zentral für den walpurgischen Hexentanz, der von den Kindern aufgeführt wird. Die Kinder tragen den Fernseher mit sich, die Fratze im Fernsehen schreit unbeirrt weiter. Identität und Subjektivität, in dem Clip emphatisch als Essenz mit einem metaphysisch-religiösen Begriff gekennzeichnet – »I want your soul« – werden von der Televisions-Technologie transformiert und gleichgeschaltet. In der profanen Erleuchtung vor dem Fernsehaltar sind und werden alle gleich monströs. So überwindet das Medienmonster beispielsweise mühelos auch Geschlechtergrenzen. Kleine Mädchen haben nur noch Aphex Twin, also das Musikfernsehen, im und als Kopf.

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Abb. 123: Das Fernsehmonster und seine Jünger

3. Filmhorror Die Bildzitate schließen Come to Daddy deutlich an die ikonographische Geschichte des Horrorfilms an und verweisen neben den Filmen, in denen der Horror direkt dem Fernsehgerät entsteigt, auf das Genre des Teufelsfilms, das sich seit 1967 von den Hexen weg und zu der Figur des minderjährigen Antichristen hinbewegt.118 Der Videoclip schließt überdies deutlich an einen Mediengewaltdiskurs an, der vor allem das Sprechen über Kinder und Jugendliche steuert und deutliche Orte des Bösen im Fernsehprogramm ausmacht. Die alte Frau im Video unternimmt somit eine mehrfach codierte Reise durch gewalt- und das heißt: medienbesetzte Räume der Vorstadt als mythische Höllenvision. Der Hund als Begleiter ist der psychopompos, der Seelenbegleiter, der ihre Seele über die Ufer der Lethe in das Niemandsland geleitet. Er könnte aber auch ein später Nachfahre von Toto sein, dem treuen Begleiter von Dorothy durch das »zauberhafte Land«, dem paradigmatischen filmischen Archiv und Urtext der Americana, der Verfilmung von Frank L. Baums Roman Wizard of Oz (1900) durch Victor Fleming (dt. Das zauberhafte Land, US 1939): »Toto, I have the feeling, this ain’t Kansas anymore!« Die bukolischen Visionen von einer heilen Kinderwelt der Vorstädte ohne Fernseher sind vorbei. Der betongraue Alltag der Gegenwart hat sie eingeholt. Dorothy wäre in dieser Lesart allerdings ziemlich in die Jahre gekommen, und die medialen Illusionen des Zauberers von Oz, die am Ende des Weges als betrügerische, aber effektive Placebos enttarnt werden, sind dann endgültig die Illusionen des Fernsehens und damit die simulierte Hyperrealität der Medien selbst. In diesem Sinne offenbart sich Come to Daddy vergleichbar den Filmen Cronenbergs definitorisch nicht als Riss oder Einbruch einer unbestimmten, phantastischen Ordnung in die Alltagslogik,119 sondern die Figuration der Geburt des Fernsehmonsters und seiner minderjährigen Anhänger entspringt dem verteufelndem und epidemisierenden »Medien und Gewalt«-Diskurs selbst. Groys erhebt diesen Verdacht gegenüber einem medialen Tiefenraum 118 Vgl. W. Faulstich: Satansspuk. 119 Vgl. R. Caillois: Bild des Phantastischen.

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des Submedialen, dem das Monster in Come to Daddy entsteigt, geradezu zum Prinzip der Medien.120 Er definiert den Verdacht als Riss im Raum-ZeitKontinuum, den der phantastische und unendliche Raum unter der Oberfläche der Medien hervorruft, als Effekt eines rekursiven Verweisungszusammenhangs von Repräsentationen: Der Effekt der Unendlichkeit ist ein durch und durch künstlicher Effekt, der durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren erzeugt wird. Weder das Äußere noch das Innere sind als solche unendlich. Allein durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren wird der Traum von Unendlichkeit erzeugt – und allein dieser Traum ist 121 wirklich unendlich.

In diesem Sinne kann das Monster von Come to Daddy auch als eine kinematographisch Fleisch gewordene Figura cryptica gelten,122 die auf monströse Weise den latenten Figurationen von Informations- und Medientheorie einerseits und von Mediengewaltkritik andererseits auf paranoische Weise in der monströsen Bildwelt des modernen Horrorfilms zu einem Gesicht und damit zur Evidenz verhilft.

120 Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München, Wien 2000. 121 Ebd., S. 13. 122 Vgl. Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt am Main 2002.

F I L M -M O N S T E R . R E S Ü M E E Zu Beginn dieser Studie wurde mit dem Zirkulationsmodell des New Historicism, der Automatisierungsthese des Russischen Formalismus und der Einflusstheorie Harold Blooms die Frage nach den Möglichkeiten einer Historiographie des Horrorfilms gestellt. Vergleichbar den Reihen in der Literaturgeschichte wurde daraufhin vermutet, dass »starke Texte«, ältere Filme, die als Gesetzgeber für bestimmte Figurationen von Sujets, Ästhetiken und Erzählweisen gelten können, von Nachfolgefilmen und speziell von den für die Gattung Horrorfilm typischen Formen der Fortsetzung und des Remakes produktiv fehlgelesen werden. In diesen Fehllektüren ergeben sich Entstellungen im Sinne von neuen Figurationen entscheidender Elemente der Filme, die Maßnahmen der Renovierung oder modernisierenden Innovation, der rahmenden Zitation und der Verschiebung vornehmen. Genau diese Fehllektüren und Entstellungen, die wieder zu neuen Formularen des Horrorfilms führen, verdichten sich in einem Recycling-Prozess der Rahmung, Zitation und Verschiebung zu einem Archiv des Horrorfilms, das auf diese Weise immer wieder aktuelle soziale, kulturelle, politische, mediale und theoretische (psychoanalytische, körper- und medientheoretische) Standards und Diskurse adaptiert und zirkulieren lässt. Mit Boris Groys gesprochen, taucht aus dem unendlichen Reich des Profanen und der Latenz immer wieder und plötzlich das »Neue« im Archiv des Horrorfilms auf.1 Das können neue Monster wie der Kannibale oder der Slasher der 1970er und 1980er Jahre sein, neue Perspektiven wie der Wechsel vom Invasionshorror zum paranoiden Horror vor dem Inneren des Körpers, neue Erzählweisen wie die wachsende Serialisierung der »Gewalt-Nummern« sowie neue Bilderwelten wie der Eintritt von expliziter Wundästhetik im Splatterfilm oder die Rückkehr der unheimlichen Welt der Dinge im New Gothic Horror. Die beiden zentralen Figurationen, an denen die Analysen dieser Studie sich orientieren, sind der menschliche Körper und die technischen Medien. Damit werden zwar auch die spezifischen Interessen einer psychoanalytischen Filmwissenschaft angesprochen, die beide Figuren als Projektionen der Konflikte im Unbewussten versteht. Aber durch die Auslassung einer zuweilen reflexartigen Identifizierung filmischer Ereignisse, Figuren, Räume oder Gegenstände mit psychoanalytischen Termini versucht diese Studie, in einer größeren Nähe zum Filmischen selbst zu bleiben. Vermieden werden soll in jedem Fall ein in der psychoanalytischen Filmwissenschaft häufig festzustellender Gestus der Entdifferenzierung, der in einer allzu schnell simplifizierenden Interpretation der Identifizierung filmischer Mittel und Strategien mit anthropologischen oder psychologischen Begriffen (Rite de Passage, Initiation, Name des Vaters, Phallus, Ödipus, Ding, Objekt klein a, Medusa, Vagina Dentata, »gute« und »böse« Mutter, Abjekt) besteht. Am Leitfaden von Körperlichkeit und Medialität konnten in dieser Studie zwei paradigmatische Markierungen ausfindig gemacht werden, die den modernen Horrorfilm an bestimmte Traditionen binden und produktive Fehl1

Vgl. B. Groys: Über das Neue.

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lektüren besonders herausstellen: Gothic Horror und Körper-Horror. Gothic Horror bezeichnet die Inszenierung des klassischen Horrorfilms der 1930er bis 1960er Jahre, der sich noch deutlich an die Gothic Novel, die romantische Literatur sowie ihre Erben in der modernen Schauer- und Horrorliteratur und ihre Dramatisierungen anlehnt. Körper-Horror, der vor allem mit dem Splatterfilm ab 1963 in die Filmgeschichte eintritt, rekurriert vor allem auf die theatrale Vorgeschichte des Horrorfilms in den vor- und frühmodernen Freak- und Horrorshows sowie dem Théâtre du Grand Guignol des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Splatterfilm, so konnte überdies festgestellt werden, dringt auch das Medium selbst zum ersten Mal sichtbar gewaltsam in den Film und in die Körper der Figuren ein. Mit der neuen medialen Wundästhetik treten auch neue Figuren und Sujets in die Geschichte des Horrorfilms ein: Kannibalen und Lebende Tote, Zombies, die das Fleisch der Lebenden verspeisen, sowie Slasher, die Menschen mit scharfen und spitzen Haushaltsgeräten am Fließband ermorden. Die Identität dieser Monster tritt dabei in den meisten Fällen zugunsten einer allegorischen Entleerung zurück. Auf diese Weise eröffnet beispielsweise die Maskierung des Serienmörders als Agent eines latenten Mordprogramms eine Vielzahl an möglichen Lesarten und Interpretationen. Diese filmisch umgesetzte Trope der Prosopopöie lässt sich buchstäblich an dem maskierten Gesicht des Monsters, aber auch an seinen Stimmsupplementen, den Mordwerkzeugen und ihren speziellen Soundtracks identifizieren. Dient die neue Ästhetik des Körper-Horrors am Beginn des Splatterfilms (Night of the Living Dead, The Last House on the Left, The Texas Chainsaw Massacre, The Hills Have Eyes) noch einer Strategie der Authentifizierung des Geschehens und damit trotz aller Versperrung eindeutiger Lesarten als deutliches Angebot zu einer sozialpolitischen Referenzialisierung, so kehrt in einer zweiten Phase des Splatterfilms seit den 1980er Jahren (The Evil Dead, Bad Taste, Braindead) die Phantastik zurück, und die Wundästhetik kippt am Ende einer Überbietungslogik von Gewalt in die hyperbolische Komik des Grotesken um.2 Die neuen Ästhetiken und Erzählweisen bleiben auch nicht ohne Folgen für die Rezeption. Denn mit dem Splatterfilm wird der Horrorfilm episodischer. Er erzählt serieller und konzentriert sich auf die Inszenierung des singulären Opferkörpers. Damit einher geht eine neue Kulturtechnik des Horrorfilme Schauens, die sich dem episodischen Erzählfluss anpasst und am Videorecorder oder DVD-Player von Stelle zu Stelle spult. Den souveränen Splatter-Dandy interessieren allein noch die exponierten Stellen oder »Gewalt-Nummern«. Mit Night of the Living Dead tritt 1968 die moderne Figur des Menschen fressenden Zombies auf die Bühne des modernen Horrorfilms und dieser in eine Phase des Realitätsprinzips ein. Dazu gehören Bilder der Gewalt genauso wie die Einspielung von Nachrichten als Strategien der Authentifizierung des Geschehens. Vergleichbar der Maske des Slashers kann auch der Lebende Tote als Prosopopöie im Sinne Paul de Mans aufgefasst werden. Statt Antworten über dringende Fragen zum Tod zu liefern, schweigt der Zombie und verbleibt eine universale Reflexionsfigur. Allenfalls verweist er auf die Formate der zeitgenössischen Massenmedien wie Zeitungs- und Fernseh2

Zum filmischen Chiasmus von Groteske und Erhabenheit in der Wundästhetik des jüngsten Splatterfilms vgl. Arno Meteling: »Endspiele. Erhabene Groteske in Braindead, Koroshiya 1 und House of 1000 Corpses«, in: J. Köhne/R. Kuschke/Ders. (Hg.): Splatter Movies, S. 47-62.

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nachrichten, die wie die Interpreten des Films die vermeintliche Wahrheit über die Lebenden Toten verkünden. Am italienischen Kannibalenfilm Cannibal Holocaust lässt sich vor der phantastischen Phase des Splatterfilms der Höhepunkt in der Überbietungslogik authentifizierender Gewalt ausmachen und letztlich als eine Praxis der wechselseitigen Verschlingung von Körpern und Medien definieren. Die Kannibalen verspeisen die Körper des Filmteams, das Filmteam verübt Gewaltakte an den Kannibalen, um diese in Filmen auszustellen, und Cannibal Holocaust selbst kannibalisiert Körper wie Medien in verschachtelten Rahmenkonstruktionen zu einem verschlungenen Labyrinth dokumentarischer Bilderwelten. Mit den Filmen von David Cronenberg konnte der Wechsel vom KörperHorror des Splatterfilms (Shivers, Rabid, Scanners, The Fly) zur Reflexion von Realität in Zeiten des Wechsels von audiovisuellen Medien zum Computer (Videodrome, Naked Lunch, eXistenZ) nachgezeichnet werden. Cronenberg betreibt kein Erzählkino im Sinne einer realistischen Verfilmung, sondern setzt eine filmische Rhetorik von Körper- und Medientheorie in Szene. Seine Filme können auch als Blaupause für den Wechsel des modernen Horrorfilms vom Körper-Horror zum New Gothic Horror über das Scharnier des Virtual Reality-Films der 1990er Jahre (Dark City, The Matrix, The 13th Floor, Avalon) betrachtet werden. Der Serial Killer-Film der 1990er Jahre läutet eine weitere Phase in der Neukonfigurierung des Horrorfilms ein. Im Rückblick auf den Körper-Horror der Teenager-Slasherfilme stehen immer noch die Körper der Opfer als Installationen der Wundästhetik im Vordergrund. Die Identität des Serial Killers ist dabei entweder radikal konsumorientiert, wie bei den Figuren Patrick Bateman (American Psycho) und Hannibal Lecter (Manhunter, The Silence of the Lambs, Hannibal, Red Dragon), oder sie dient einem Gesamtkunstwerk, wie im Fall von Jame Gumb/»Buffalo Bill« (The Silence of the Lambs) und »John Doe« (Se7en). Im Serial Killer-Film tritt überdies verstärkt das Thema der Medienevolution auf, in der das audiovisuelle Medium Film eine herausgestellte Position zwischen der Bibliothek der Gutenberg-Galaxis und dem alles nivellierenden Supermedium Computer der Turing-Galaxis bekleidet. Mit dem Thema der Medien, die nach dem Splatterfilm nicht mehr in die Körper der Figuren eindringen, sondern auf unheimliche Weise wieder den Hintergrund und das »Mobiliar« der Mise en Scène bilden, leitet der jüngere Serial Killer-Film auch zum New Gothic-Horrorfilm über. Dieser setzt neben dem Verschwörungstopos im Mysterygenre (X-Files) vor allem Vampire (Bram Stoker’s Dracula, Interview with the Vampire, Shadow of the Vampire) und Gespenster (The Sixth Sense, The Others, The Mothman Prophecies, Ringu) als unsterbliche Reflexionsfiguren latenter Mächte ein und illustriert die filmische Ausrichtung auf die Geschichte der Medien und des Horrorfilms selbst. Seit der Existenz digitaler Bilder wird in Mystery- und Gespensterfilmen auch das Modell des »unzuverlässigen Erzählens«, das aus der Gespenstergeschichte stammt, mit den Mitteln der simultanen Inszenierung der Wahrnehmung der Figuren und der Speicherung und Wiedergabe durch technische Medien illustriert. Auffällig schwindet auch die sichtbare Gewalt aus dem New Gothic-Film und wird zunehmend auf die Tonspur gelegt. Im New Gothic-Film wird die für den Horrorfilm konstitutive Bedrohung für Leib, Leben und geistige Gesundheit der Figuren auf eine neue Ebene gehoben. Technische Medien als Verschwörung der Dinge haben eine neue und un-

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sichtbare Ebene der Gewalt, der Macht und der Kontrolle über die Figuren erlangt. Diese bedrohliche Dingwelt kann psychoanalytisch nicht mehr ausschließlich als Projektion des Unbewussten der Figuren aufgefasst werden, sondern es werden Spuren zu einer neuen Welt gelegt, die verborgen vor den menschlichen Sinnen nicht mehr das »Unbewusste« heißt, sondern das klandestine Reich der technischen Medien darstellt, eine bedrohliche mediale Latenz, die Boris Groys als »dunkle, gefährliche Subjektivität« des »submedialen Raum[s]«3 bezeichnet. Mit dem Abschlusskapitel zu Chris Cunninghams Videoclip Come to Daddy konnte gezeigt werden, wie diese gefährliche Subjektivität exemplarisch aus dem Musikfernsehen tritt. Überdies ließ sich beobachten, wie die Bilder- und Erzählwelten des modernen Horrorfilms auf die neuen Leitmedien (Videoclip, Video- und Computerspiel) übertragen werden. Ebenso konnte an den – häufig melancholischen – Gesten des Rückblicks und des Rückgriffs auf die älteren Bestiarien und Monsterarchive, die für den modernen Horrorfilm konstitutiv sind, eine kontinuierliche Zirkulation zwischen Horrorfilm und Körper-, Kultur- und Medientheorie bestätigt werden. Ausgespart wurde in dieser Studie bisher eine Erläuterung der Titel gebenden »Monster«. Allenfalls tauchen diese zuweilen in einem alltagssprachlichen Verständnis auf und werden nicht näher erläutert. Dabei ist das Monster keineswegs ein reiner MacGuffin, weder für die Geschichte des Horrorfilms noch für diese Studie. Sondern das Konzept des Monsters bedarf einer separaten Theoretisierung, die zum einen über die Betrachtung von Horrorfilmen hinausgeht, aber zum anderen nicht von ihr zu trennen ist. Denn das Monster ist das Gattungsmerkmal des Horrorfilms im Sinne von Jacques Derridas Definition von »taking part in without being part of«4. Der Horrorfilm ist die Gattung, in der dem nicht Sichtbaren, sei es das Unbewusste, das Innere des menschlichen Körpers oder das geisterhafte Reich der technischen Medien, zumindest in seinen Spuren und Effekten Gestalt gegeben wird. Diese Operation der Enthüllung funktioniert im Horrorfilm über die Figur des Monsters und beruft sich dabei auf die Etymologie, die Kultur- und die Theoriegeschichte des Monströsen. Michael Hagner versucht in seinem Sammelband Der falsche Körper, basierend auf der vielfältigen Etymologie des Begriffs, verschiedene Traditionen zum historischen Verständnis des Monsters zu erarbeiten. Er muss schließlich feststellen, dass die »Heterogenität der monströsen Erscheinungen und ihre disparate Zeichenhaftigkeit«5 die Problematik der Kategorisierung selbst spiegelt. So unterscheidet man in der Aufklärung im Deutschland des 18. Jahrhunderts vor allem zwischen »Missgeburt« und »Monster«, eine Unterscheidung, die nach Hagner vor allem die Differenz von abweichender, aber natürlicher, und von widernatürlicher Geburt repräsentiert. Diese Differenz ist auch moralisch besetzt. Beide Versionen des Begriffs entstammen dem Lateinischen. »Monstrare« heißt »zeigen«, »hinweisen«, »lehren« und leitet sich von »monere« ab, das »erinnern«, »(er)mahnen«, »warnen«, »raten«, »anweisen«, »zurechtweisen« und »strafen« bedeutet. Das Adjektiv »monstrosus« meint sinnfällig schon »wunderbar«, »widernatürlich«, »unge3 4 5

B. Groys: Unter Verdacht, S. 32. J. Derrida: Law of Genre, S. 227. Michael Hagner: »Monstrositäten haben eine Geschichte«, in: Ders. (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, S. 7-20, hier S. 8.

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heuerlich«, »missgestaltet« und »scheußlich«. Substantiviert werden daraus »Monstrum«, das erstens das »Ungeheuer« und zweitens das »Wunderzeichen« oder »göttliches Mahnzeichen« bedeutet, sowie »Monstrositas«, das seit dem 18. Jahrhundert in einem engeren Sinne für Missbildung oder Missgestalt verwendet wird. Als Zeichen für das Göttliche bleibt weiterhin der Begriff des Monstrums belegt und verschwindet deswegen aus dem wissenschaftlichen Diskurs, so dass in der Teratologie des 19. Jahrhunderts nur mehr von »Monstrositäten« die Rede ist, einer Begriffsvariante, der sich Hagner anschließt.6 Um die Unschärfe der historischen Klassifikation und damit auch die etymologische Doppelbedeutung von »Monstrum« als »Ungeheuer« und »Zeichen« zu erhalten und produktiv zu wenden, distanziert sich diese Studie von dem einseitig teratologischen Ansatz, den die Wissenschaftsgeschichte verfolgt. Denn das Film-Monster des Horrorfilms impliziert immer auch die Bedeutung des »Wunderzeichens«, die Figuration eines »Jenseitigen«, den »Griffel Gottes«. In einen semiotischen Kontext übersetzt, bedeutet dies allerdings auch: Das Monster in seiner Bedeutung und Funktion als »Zeichen« ist der Signifikant eines transzendentalen und nicht eines transzendenten Signifikats. Denn dieses Signifikat entspringt zunächst keinem äußeren Raum, keinem Zirkus und keiner Freakshow, sondern ist das Produkt von Literarizität oder Filmizität selbst sowie der Imagination des Lesers oder Betrachters. Gerade der Monster-Signifikant entzieht sich deshalb immer dem Signifikat als einer eindeutigen und sinnhaften Referenz auf eine Außenwelt. Das Monster ist die paradigmatische Figur des Anzeigens einer Verschiebung und Differenz, exemplarisch ausgeführt am »Gespenst« bei Derrida, das der »Signifikant nach dem Tod des Signifkats«7 ist. Auf diese Weise kann auch Derridas Heidegger-Lektüre in Heideggers Hand (Geschlecht II) mit dem Hinweis auf die Implikationen des französischen Begriffs »monstre« gelesen werden. Das Monstrum ist in dieser Lektüre ebenfalls nur der verschobene Signifikant, der stets auf etwas anderes zeigt und vor etwas anderem warnt und somit die paradigmatische Figur der Grenze und des Randgängigen sein muss: Was ist ein Monstrum (un monstre)? […] denn im Französischen hat la monstre (ein Wechsel der Gattung, des Genus oder Geschlechts*) die dichterisch-musikalische Bedeutung eines Diagramms, das in einem Musikstück die Zahl der Verse und die Zahl der Silben, die dem Dichter zugewiesen werden, (de)monstriert (montre). (De)Monstrieren, das ist zeigen/beweisen; und ein Monstrum ist eine Zeige/eine Schau/eine Uhr […]. Das Monstrum oder die monstre, das ist das, was zeigt, um zu 8 verkünden oder zu warnen.

Das Zeichen-Monster versperrt dabei stets warnend und stets verschiebend den Zugang zu sich selbst. Immer verweist es auf etwas anderes, zeigt auf ein transzendentales Signifikat, das sich ständig als weiterer Signifikant eines 6 7 8

Vgl. Ebd., S. 9. B. Groys: Unter Verdacht, S. 182. Exemplarisch dafür das »Gespenst des Kommunismus« in J. Derrida: Marx’ Gespenster. Jacques Derrida: »Heideggers Hand (Geschlecht II)«, in: Ders.: Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz, Wien 1988, S. 45-108, S. 53-54.

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immer neuen Archivs entpuppt. Strukturell vergleichbar den nur tautologisch funktionierenden Definitionen der Gewalt, des Todes, des Fremden, des Heiligen oder auch des Realen, des Objekts klein a oder des Abjekts verweist das Monster als Grenzfigur auf einen Raum außerhalb des Systems, auf einen Ort des Kommunikationsabbruchs, der Formlosigkeit und der Nicht-Bezeichenbarkeit. Das Monster als etymologischer Inbegriff von Sichtbarkeit, Oberfläche, Körperlichkeit und Bezeichenbarkeit tritt, vergleichbar dem Medium des Verdachts bei Groys, an die Stelle dieses vermuteten außersystemischen Außen ein: »Als abnorme Kreatur ist das Monstrum ganz Äußerlichkeit, Oberfläche, Physis; und doch ist diese Äußerlichkeit gleichgültig, verweist auf etwas Eigentlicheres, ein Anderes, auf etwas, das noch kommen wird […] Monstren sind stigmatisierte Pendler zwischen dem Jenseits und der Realität.«9 Diese Transzendenzformel Hans Richard Brittnachers zum Monster in der Horrorliteratur wird mit einem Hinweis auf vermutete numinose Spuren frühmenschheitlicher Tierverehrung belegt.10 Obgleich die Referenz der vormodernen Tierverehrung nur noch schwerlich an den Monstern des modernen Horrorfilms auszumachen ist, da diese im Hinblick auf die Veränderungen der Monsterphantasmen seit der industriellen Moderne weitgehend nicht mehr an Tieren, sondern an das Phantasma der Maschine und inzwischen an das Imaginäre der technischen Medien orientiert sind, bleibt Brittnachers Feststellung der Zeichenlogik des Monsters grundsätzlich gültig. Dass der Horrorfilm sich überdies in der Szenographie des Monströsen nicht nur im Gothic Horror und New Gothic Horror der verdunkelnden und elliptischen Erzählweisen des Verschwörungs- und Virtual Reality-Films bedient, ist deshalb nicht zufällig. Korrespondierende ästhetische Maßnahmen des Horrorfilms, wie die Aussparung von Establishing Shots und Totalen, die unklare Aufteilung von Figur und Grund oder der dominante Einsatz von Dunkelheit sind augenfällig. Das Monster verbleibt in der vieldeutigen Obscuritas. Oder wie Anselm Haverkamp formuliert: in der »Latenz«. Das Monster ist die Repräsentation einer notwendigen medialen Latenz des Horrors. Es ist eine paradoxe Doppelfigur, die sowohl auf einen möglichen Referenzraum, ein jenseitiges Außen, als auch auf die eigene Medialität verweist. Haverkamp identifiziert diesen Akt der Offenbarung des Latenten am Pygmalion-Mythos, wie ihn Ovid aufgezeichnet hat, auch als eine Relektüre von Medientheorie und Rhetorik. Er bezeichnet dieses Format der Latenz von Enthüllung dabei als eine »Techne«, »die Kunst […], […] ihr[e] eigene Technik zu verbergen«.11 Hingewiesen wird damit auf die Janusköpfigkeit dieser Latenzfigur, die im Horrorfilm als »Film-Monster« in Erscheinung tritt und mit Alexander Gottlieb Baumgarten als »Figura cryptica« bezeichnet werden kann. Abseits der etymologischen und semiotischen Bestimmung des Monsters bleibt überdies die Frage bestehen, auf welche kulturhistorischen Quellen die Repräsentationsformen des Monsters im Horrorfilm zurückzuführen sind. Aus einer Perspektive der diskursiven und rhetorischen Zirkulation lässt sich der Einfluss einer Geschichte der Monstrosität in Wissenschaft und Kultur 9 H.R. Brittnacher: Ästhetik des Horrors, S. 185. 10 Vgl. Ebd. 11 Anselm Haverkamp: »Repräsentation und Rhetorik. Wider das Apriori der neuen Medialität«, in: Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln 2001, S. 77-84, hier S. 78.

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nicht gänzlich ausschließen. Theoretisch mag deshalb für die Lesbarkeit des Horrorfilms das Konzept der Monstrosität als Missgeburt nicht von Belang sein. Dennoch bleiben die ikonographischen Ursprünge der Film-Monster weitgehend im Dunkeln. Sie entspringen einem Raum zwischen der »Monstrositas« vor- und frühmoderner Horrorshows, wie Freakshow, Panoptikum und Zirkus, und dem »Monstrum« der Kunst- und Literaturgeschichte, das sich schon früh in den Bibliotheken der antiken Reiseberichte und mittelalterlichen Bestiarien wiederfindet. Thomas Macho führt die Fäden dieser beiden Traditionen zusammen. Er verschränkt die Genese des Monsters mit dem Phänomen der menschlichen Deformation und formuliert damit eine These der kulturellen Verdrängung. Er verfolgt in seinem Text über den Ursprung des Monströsen12 deshalb eine doppelte Geschichte. Die eine handelt von den »Phantasmen menschlicher Einbildungskraft« und beschreibt die Ungeheuer aus der Bibliothek, wie sie im Mythos, in Gustave Flauberts Versuchung des heiligen Antonius (1874) oder in Jorge Luis Borges’ Einhorn, Sphinx und Salamander (1967) in Erscheinung treten. Die Kehrseite dieser Geschichte handelt von den missgestalteten Menschen, ihrem Auftreten in Freakshows und ihrem nachhaltigen Verschwinden aus dem öffentlichen Raum. Während Macho aber seine Aufmerksamkeit auf die Verdrängungsstrategien der missgestalteten Menschen richtet und den monströsen Diskurs des Imaginären als wenig ergiebiges Forschungsfeld abtut, besagt seine zentrale These der Verdrängung nichts anderes, als dass diese beiden Geschichten an vielen Punkten und vor allem an ihren Ursprüngen miteinander verwoben sind. So muss als Konsequenz aus der Erkenntnis dieses Zusammenhangs auch die Geschichte der imaginären Monster als ein kulturell relevantes Archiv anerkannt werden, das durchaus zur Erforschung Anlass gibt. Eine Genealogie des Monströsen geht, wie Macho feststellt, zwar nicht in der »Interpretation des Monströsen als ›Code‹ für Grenzerfahrungen«,13 als das psychoanalytisch definierte Heimlich-Unheimliche, als die Wiederkehr des Verdrängten oder als Opfertier und Sündenbock der Gesellschaft14 auf. Aber wenn es eine Verbindung dieser beiden Geschichten des Monsters gibt, so muss die Aufmerksamkeit auch der kultischen und mythischen Zirkulation des Monsters gelten, die sich nicht nur in der Aufzeichnung realer Fehlbildungen erschöpft, sondern ebenso zur Quelle für Geschichten in der bildenden Kunst, der Literatur und des Films wird. Letztlich kann man nicht umhin, den zugleich ausschließenden und archivierend-einschließenden Diskurseffekt sowie die ungeheure Streuung und Popularität der ästhetisch-symbolischen Verhandlung des Monströsen bis hin zum modernen Horrorfilm zu verfolgen. In der Geschichte des Monsters, das sich immer wieder einer eindeutigen Definition entzieht, werden vor allem zwei Mechanismen der Diskursivierungsbemühungen offenbar. Zum ersten fordert das Monster immer Akte der Archivierung und Klassifizierung heraus, etwas, das mit Niklas Luhmann als

12 Thomas H. Macho: »Vom Ursprung des Monströsen. Zur Wahrnehmung des verunstalteten Menschen«, in: Adolf Holl (Hg.): Wie werden aus Menschen Monstren?, Graz 1990, S. 55-94. 13 Ebd., S. 69. 14 Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt am Main 1992.

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»Typologie« und »Gattungslogik« bezeichnet werden kann.15 Zum zweiten ergibt sich aus diesem Mechanismus immer eine Logik der Addition. So kommen bei jedem Akt der Archivierung und Klassifizierung als neuerliche Grenzziehungen einer symbolischen Ordnung neue Monster hinzu. Jeder Versuch der Abschließung eines Monsterarchivs produziert immer wieder neue Monster. Wie Torsten Hitz nach dieser Bestimmung von Luhmann sinnfällig in seinem Vortrag Das Monströse in der neueren Forschung und Deutung (1970-1995) ausführt, gilt dem Monströsen genau aus diesem Grund auch das wesentliche Interesse von Typologie und Gattungslogik.16 Denn diese Denkformen sind vor allem an der rationalen Verknappung von Kommunikation interessiert. Gattungslogik, Typologie und auch Statistik sollen eine Welt voll endlicher Dinge überschaubar und klassifizierbar machen. Wird etwas von dieser Ordnung nicht erfasst, ist es das Monströse, die Ausnahme, die die Regel bestätigen soll und damit auf einer höheren Ebene ebenfalls ihren zugewiesenen Platz in dieser Ordnung erhält: »Der Begriff des Monströsen ist somit der Name für die drohende Unmöglichkeit des Limitierens, der allerdings die Limitationalität der Welt gerade von ihren Fehlformen her plausibel machen soll.«17 Das Monströse stellt also die Ordnung der Dinge zugleich in Frage und stabilisiert sie, da es durch sein Hinausweisen über die Grenze zum Skandalon und Faszinosum wird, auf das sich alle Arbeit der diskursiven Integrations- und Klassifikationspolizei richtet. Bis in die gegenwärtige Wissenschaft werden demnach tabellarische und synoptische Übersichten und exakte Genealogien der verschiedenen Gattungen der Monster erstellt, um diese dann klassifikatorisch in eine überschaubare Ordnung der Dinge einfließen zu lassen. Das Monster muss in das System – notfalls unter Zuhilfenahme von Supplementärgattungen und -reihen oder eben mit der domestizierenden Installierung der Ausnahmeregelung – reintegriert werden. Die grenzüberschreitende Figur des Monsters bedeutet immer eine Störung des Systems und hält dadurch dessen Stabilisierungs- und Assimilationskräfte in Bewegung. So gehört der Großteil der Monsterliteratur auch zu den Gattungen der Kataloge, der Synopsen, der Enzyklopädien, der Handbücher und der Kompendien, Bücher zur Katalogisierung des nicht Katalogisierbaren. Eine bekannte literarische Spiegelung dieser Versuche zur Archivierung des Monströsen ist die »Zoología Fantastica« von Borges und Margarita Guerrero, El libro de los seres imaginarios (dt. Einhorn, Sphinx und Salamander, 1967), in dem mit der Methode der Lexikographie der Form halber das aufklärerische Projekt der Enzyklopädie weiter verfolgt wird. Aber die Reihung der Monster betrifft erstens ausschließlich das Imaginäre und wird zweitens auf eine selbstreferenzielle Weise in eine unreine, grenzüberschreitende und damit monströse Reihung überführt. Denn Borges’ und Guerreros Monster entstammen nicht gleichberechtigten mythischen und literarischen

15 Vgl. Niklas Luhmann: »Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn. Zur Genese von Wissenschaft«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie. Sonderheft Wissenssoziologie. H. 22 (1980), S. 102-139. 16 Vgl. Torsten Hitz: Das Monströse in der neueren Forschung und Deutung (19701995), Unveröffentlichter Vortrag auf dem Kulturwissenschaftlichen Symposium Karlsruhe 1995. 17 Ebd., S. 10.

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Quellen, sondern sie repräsentieren die phantastische und monströse Heterogenität und Disparatheit solch einer Zusammenstellung selbst. Noch deutlicher wird es in Borges’ kurzem Text Die analytische Sprache John Wilkins,18 in der eine »gewisse chinesische Enzyklopädie«19 zur Grundlage für die Reflexion über die Paradoxie von Reihung und Klassifikation selbst wird. Michel Foucault hat sich dieser monströsen Taxonomie als Motto für seine Ordnung der Dinge angenommen. So lautet der erste Satz des Vorworts: Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert, die für uns die zahlenmäßige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen lassen und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Ande20 ren […] schwanken läßt und in Unruhe versetzt.

Es geht Borges um die Erschütterung von Ordnungen und die literarische Darstellung unmöglich zu denkender Rubriken und Reihen. Unmöglich wird diese »chinesische Enzyklopädie« nach Foucault nicht durch den Einschluss der Fabeltiere, sondern durch den »geringen Abstand«21 der Tiere unterschiedlicher Kategorien zueinander. Monströs ist nach Foucault bei Borges deshalb der gemeinsame Raum des Zusammentreffens dieser Tiere, der im Akt der Darstellung aufgelöst wird. Es ist die Unmöglichkeit der Platzierung, die keinen eigenen Raum in Anspruch nehmen, sondern allein in der Reihung der Sprache und auf der Buchseite stattfinden kann. Während aber Utopien, die nicht existierenden imaginären Räume des Wunsches, eine Trostfunktion hätten, seien solche Heterotopien, wie sie Borges präsentiere, Stifter einer beunruhigenden und unheimlichen Unordnung, einer unterminierenden Sprache, einer zerstörenden Syntax und einer verdrehten Klassifizierung. Das Monströse ist für Foucault deshalb nicht der Nicht-Raum des Begehrens, sondern das Monströse markiert den Grenz- oder Zwischenraum zwischen Ort und Nicht-Ort, zwischen einer geordneten Kommunikation und einem formund sprachlosen Abgrund. Die Ordnung der Dinge berichtet demnach nicht nur von der Entdeckung des Menschen und einer Poetologie des Wissens davon, sondern sie handelt ebenso von den Grenzen dieses Wissens und damit von den Monstern an den Rändern dieser Grenzen, die durch ihre ständige Verschiebung das ordnende Wissen zur Integration, Abgrenzung und damit zu einer additiven Erweiterung und auch zur Re-Repräsentation zwingen.

18 Jorge Luis Borges: »Die analytische Sprache John Wilkins«, in: Ders.: Inquisitionen. Essays 1941-1952, Frankfurt am Main 1992, S. 113-117. 19 »Auf ihren uralten Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt unterteilen: a) dem Kaiser gehörige, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie tolle gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.« Ebd., S. 115-116. 20 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt am Main 1997, S. 17. 21 Ebd., S. 18.

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Das Monster markiert nach Foucault auch den Raum »zwischen Buch und Lampe«22. Aus diesem Grund hat sich Foucault einer weiteren literarischen Monsterenzyklopädie angenommen: Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius (1874). In seinem Nachwort Un ›fantastique‹ de bibliothèque (1966) formuliert er die entscheidende Definition des literarischen Monsters der Moderne: »Es ist ein Bibliotheksphänomen.«23 Zu Flauberts »Monument gründlichsten Wissens«24 lehnt Foucault sämtliche Lesarten (inklusive der Äußerungen Flauberts selbst) ab, die von Traum, Wahnsinn und Phantasma berichten, und deckt sukzessive die Quellen auf, die Flaubert in seinen Text montiert hat. Neben ausführlichen Schilderungen einzelner Szenen bekannter bildlicher Darstellungen sind es genau die Monsterkataloge und Enzyklopädien, denen Flauberts Monster entspringen.25 In der modernen Phantastik, spätestens aber in der romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts, sind Monster und Phantasmen nicht mehr Produkte des Traums, des Wahnsinns oder des Schlafs der Vernunft, sondern die Monster sind Ergebnisse gelehrten Fleißes: Das Chimärische entsteht jetzt auf der weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, der, geöffnet, einen Schwarm vergessener Wörter entlässt; es entfaltet sich säuberlich in der lautlosen Bibliothek mit ihren Buchkolonnen, aufgereihten Titeln und Regalen, die es nach außen ringsum ab26 schließt, sich nach innen aber den unmöglichsten Welten öffnet.

Festzuhalten bleibt, dass ein modernes Denken des Monströsen spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Denken innerhalb der Archive ist. Haben sich diese Archive in der »klassischen Epoche« Foucaults scheinbar noch aus einer Phänomenologie des Monströsen (Monster-Sightings, Reiseberichte, Teratologie, Kryptozoologie) formiert, so sind die Monster der literarischen Moderne deutlich Buchprodukte und Bibliotheksphänomene, Monster mindestens schon zweiter Ordnung. Die Geste der scheinbar authentischen Erfahrung des Monsters durch Flaubert verrät sich aber auch schon in ihren Medien als künstlich vermittelt. Denn Traum, Drogen, religiöse Ekstase und Wahnsinn sind nicht nur die Medien der Monstersichtung nach Flaubert, sondern auch die Etiketten für kulturelle Archive, in denen die Monster inzwischen traditionell hausen. Es stehen sich bei Flaubert demnach ein benanntes, aber unsichtbares, und ein verborgenes, aber jederzeit einsehbares Archiv gegenüber: zum einen das nur vermeintlich unvermittelte, aber schon durch Tradition und Konvention determinierte und katalogisierte Archiv der Monstererfahrung in variierenden Bewusstseinszuständen sowie zum anderen das säuberlich klassifizierte Archiv von Mythos, antiken Reiseberichten, mittelalterlichen Monsterkatalogen und früher Schauer- und Horrorliteratur.

22 Michel Foucault: »Nachwort«, in: Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt am Main 1996, S. 215-251, hier S. 222. Zum Thema der Verschränkung von Monstrosität und Archiv in der Bibliothek vgl. auch Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter, Köln, Weimar, Wien 2000, besonders S. 47-121. 23 M. Foucault: Nachwort, S. 222. 24 Ebd., S. 220. 25 Vgl. Ebd., S. 220-221. 26 Ebd., S. 221.

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Letztlich sind beide Traditionen in die Register der Bibliothek eingegangen. Denn allein die Bibliothek eröffnet als eine heterogene und nicht diskriminierende Sammlung die Möglichkeit des Raums einer disparaten Zusammenstellung des Monströsen, wie sie zum Beispiel bei Flaubert oder Borges literarisch umgesetzt wird. Das Monster ist, mehr noch als die Maskenfigur der Prosopopöie und die Latenzfigur der Figura cryptica, die entscheidende Figur der Grenze und des Archivs und damit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Systemtheoretisch figuriert das Monster als der Code »innerhalb/außerhalb« einer Grenze des Systems, literarisch und filmisch betrachtet, als die Grenze von Gattung selbst. Der moderne Horrorfilm kann wie die Bibliothek deshalb als ein Archiv der kontinuierlichen Sammlung und Neuordnung betrachtet werden. Mit den Dynamiken der Störung, der Assimilation und der Addition ist der moderne Horrorfilm deshalb auch der privilegierte Raum für die Zirkulation der rhetorischen Konfigurationen und der Episteme von Körperlichkeit und Medialität.

FILME The 13th Floor. US/D 1999. L: 100’. R: Josef Rusnak. 13 Ghosts (dt. 13 Geister). US 1960. L: 85’. R: William Castle. 13 Ghosts (Thir13en Ghosts, dt. 13 Geister). US 2001. L: 91’. R: Steve Beck. 28 Days Later. GB/NL/US 2002. L: 112’. R: Danny Boyle. 2001: A Space Odyssey (dt. 2001 – Odyssee im Weltraum). GB 1968. L: 141’. R: Stanley Kubrick. Abre los Ojos (engl. Open Your Eyes). SPA/F/I 1997. L: 117’. R: Alejandro Amenábar. L’Aldila (engl. The Beyond, Seven Doors of Death, dt. Geisterstadt der Zombies, Über dem Jenseits, Eibon – Die 7 Tore des Schreckens). IT 1981. L: 88’. R: Lucio Fulci. Alien. GB 1979. L: 117’. R: Ridley Scott. Alien 3. US 1992. L: 115’. R: David Fincher. Alien Resurrection. US 1997. L: 109’. R: Jean-Pierre Jeunet. Aliens. US 1986. L: 137’. R: James Cameron. All the President’s Men (dt. Die Unbestechlichen). US 1976. L: 138’. R: Alan J. Pakula. American Beauty. US 1999. L: 122’. R: Sam Mendes. The American Nightmare. US 2000. L: 71’. R: Adam Simon. American Psycho. US 2000. L: 101’. R: Mary Harron. An American Werewolf in London (dt. American Werwolf). GB 1981. L: 97’. R: John Landis. Android (dt. Der Android). US 1982. L: 80’. R: Aaron Lipstadt. Angel Heart. US 1987. L: 113’. R: Alan Parker. Anthropophagus (dt. Man Eater – Der Menschenfresser). IT 1979. L: 85’. R: Aristide Massaccesi (Joe D’Amato). Apocalypse Now. US 1979. L: 153’. R: Francis Ford Coppola. The Army of Darkness – The Medieval Dead (The Evil Dead III, dt. Armee der Finsternis). US 1992. L: 90’. R: Sam Raimi. L’Arrivée d’un train en gare le la Ciotat. F 1895. L: 1’. R: Auguste/Louis Lumières. The Asphyx (Asphyx – Spirit of Dead, Horror of Death). GB 1972. L: 99’. R: Peter Newbrook. Assault on Precinct 13 (dt. Assault – Anschlag bei Nacht). US 1976. L: 91’. R: John Carpenter. Asylum (dt. Irrgarten des Schreckens). GB 1971. L: 88. R: Roy Ward Baker. Bad Taste. NEUS 1987. L: 92’. R: Peter Jackson. Basket Case (dt. Basket Case – Der unheimliche Zwilling). US 1981. L: 91’. R: Frank Hennenlotter. The Beast from 20.000 Fathoms (dt. Panik in New York). US 1953. L: 80’. R: Eugène Lourié. Beetlejuice (dt. Lottergeist Beetlejuice). US 1988. L: 92’. R: Tim Burton. Below. US 2002. L: 105’. R: David Twohy.

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Child’s Play (dt. Chucky – Die Mörderpuppe). US 1988. L: 87’. R: Tom Holland. La cité des enfants perdus (engl. The City of Lost Children, dt. Stadt der verlorenen Kinder). F/SPA/D 1994. L: 112’. R: Jean-Pierre Jeunet/Marc Caro. Come to Daddy. GB 1996. R: Chris Cunningham. Copycat (dt. Copykill). US 1995. L: 123’. R: Jon Amiel. Crash. KAN 1996. L: 100’. R: David Cronenberg. Creature from the Black Lagoon (dt. Der Schrecken des Amazonas). US 1954. L: 79’. R: Jack Arnold. Crimes of the Future. KAN 1970. L: 65’. R: David Cronenberg. Crimewave (dt. Crimewave – Die Killer-Akademie). US 1985. L: 86’. R: Sam Raimi. The Curse of Frankenstein (dt. Frankensteins Fluch). GB 1957. L: 82’. R: Terence Fisher. Dark City. US/AUS 1996. L: 100’. R: Alex Proyas. Darkman (dt. Darkman – Der Mann mit der Gesichtsmaske). US 1990. L: 91’. R: Sam Raimi. Darkness Falls (dt. Der Fluch von Darkness Falls). US 2003. L: 86’. R: Jonathan Liebesman. Dark Water. US 2005. L: 105’. R: Walter Salles. Darkness. US/SPA 2002. L: 102’. R: Jaume Balagueró. Dawn of the Dead (dt. Zombie). US 1979. L: 126’. R: George A. Romero. Dawn of the Dead. US 2004. L: 109’. R: Zack Snyder. Day of the Dead (dt. Zombie 2 – Das letzte Kapitel). US 1985. L: 102’. R: George A. Romero. Dead Creatures. GB 2001. L: 90’. R: Andrew Parkinson. Dead Ringers (dt. Die Unzertrennlichen). KAN 1988. L: 115’. R: David Cronenberg. The Dead Zone. US 1983. L: 103’. R: David Cronenberg. Death Wish (dt. Ein Mann sieht rot). US 1974. L: 94’. R: Michael Winner. Delicatessen. F 1991. L: 99’. R: Jean-Pierre Jeunet/Marc Caro. Deliverance (dt. Beim Sterben ist jeder der erste). US 1971. L: 109’. R: John Boorman. Deranged. US 1974. L: 82’. R: Jeff Gillen/Alan Ormsby. The Descent. GB 2005. L: 99’. R: Neil Marshall. The Devil’s Rejects. US/D 2005. L: 109’. R: Rob Zombie. Dirty Harry. US 1971. L: 101’. R: Don Siegel. Don’t Look Now (dt. Wenn die Gondeln Trauer tragen). GB 1973. L: 110’. R: Nicolas Roeg. Dracula. US 1931. L: 85’. R: Tod Browning. Horror of Dracula (Dracula). GB 1958. L: 82’. R: Terence Fisher. Dressed to Kill. US 1980. L: 105’. R: Brian de Palma. Dr. Jekyll and Mr. Hyde (dt. Dr. Jekyll und Mr. Hyde). US 1931. L: 98’. R: Rouben Mamoulian. Drowning by Numbers (dt. Verschwörung der Frauen). GB 1988. L: 119’. R: Peter Greenaway. Dr. Terror’s House of Horrors (dt. Die Todeskarten des Dr. Schreck). GB 1965. L: 98’. R: Freddie Francis. Dune (dt. Dune – Der Wüstenplanet). US 1984. L: 141’. R: David Lynch.

336|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Eaten Alive (Death Trap, Horror Hotel Massacre, dt. Blutrausch). US 1976. L: 89’. R: Tobe Hooper. Ed Gein (In the Light of the Moon). US 2000. L: 89’. R: Chuck Parello. Edward Scissorhands (dt. Edward mit den Scherenhänden). US 1990. L: 105’. R: Tim Burton. Ed Wood. US 1994. L: 127’. R: Tim Burton. El Dorado. US 1966. L: 127’. R: Howard Hawks. The Elephant Man (dt. Der Elefantenmensch). US 1980. L: 124’. R: David Lynch. El Espinazo del Diablo (engl./dt. The Devil’s Backbone). SPA/MEX 2001. L: 106’. R: Guillermo del Toro. Eraserhead. US 1977. L: 89’. R: David Lynch. Escamotage d’une dame au théâtre de Robert Houdin (engl. Conjuring of a Woman at the House of Robert Houdin, The Vanishing Lady). F 1896. R: Georges Méliès. Ètoile sans lumière (dt. Chanson der Liebe). F 1946. L: 82’. R: Marcel Blistène. The Evil Dead (dt. Tanz der Teufel). US 1982. L: 86’. R: Sam Raimi. The Evil Dead II (The Evil Dead II: Dead by Dawn, dt. Tanz der Teufel II – Jetzt wird noch mehr getanzt). US 1987. L: 85’. R: Sam Raimi. eXistenZ. KAN 1998. L: 97’. R: David Cronenberg. The Exorcist (dt. Der Exorzist). US 1973. L: 122’. R: William Friedkin. The Exorcist – Director’s Cut (dt. Der Exorzist – Director’s Cut). US 2000. L: 132’. R: William Friedkin. The Faculty. US 1998. L: 104’. R: Robert Rodriguez. Fight Club. US 1999. L: 133’. R: David Fincher. Final Destination. US 2000. L: 98’. R: James Wong. The Fly (dt. Die Fliege). US 1958. L: 94’. R: Kurt Neumann. The Fly (dt. Die Fliege). KAN 1986. L: 100’. R: David Cronenberg. The Fly II (dt. Die Fliege 2). US 1989. L: 104’. R: Chris Walas. The Fog (dt. The Fog – Nebel des Grauens). US 1979. L: 91’. R: John Carpenter. Forgotten Silver. NEUS 1995. L: 53’. R: Peter Jackson/Costa Botes. Frankenstein. US 1931. L: 71’. R: James Whale. Frankenstein Meets the Wolfman. US 1943. L: 74’. R: Roy William Neill. Frankenweenie (dt. Frankensteenie – Der kleine, süße Horrorhund). US 1984. L: 29’. R: Tim Burton. Freaks. US 1932. L: 64’. R: Tod Browning. Freddy vs. Jason. US 2003. L: 97’. R: Ronny Yu. The French Connection (dt. Brennpunkt Brooklyn). US 1971. L: 104’. R: William Friedkin. Friday the 13th (dt. Freitag der 13.). US 1980. L: 95’. R: Sean S. Cunningham. The Frighteners. NEUS/US 1996. L: 110’. R: Peter Jackson. The Funhouse (dt. Kabinett des Schreckens). US 1981. L: 96’. R: Tobe Hooper. The Fury (dt. Teufelskreis Alpha). US 1978. L: 118’. R: Brian de Palma. Futureworld (dt. Futureworld – Das Land von übermorgen). US 1976. L: 107’. R: Richard T. Heffron.

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Gangs of New York. US 2002. L: 166’. R: Martin Scorsese. The Gathering. GB/US 2002. L: 92’. R: Brian Gilbert. Geheimnisse einer Seele. D 1926. L: 97’. R: Georg Wilhelm Pabst. Ghost in the Shell (jap. Kokaku kidotai). JAP/GB 1994. L: 83’. R: Mamoru Oshii. Ghost Ship. US/AUS 2002. L: 91’. R: Steve Beck. The Gift (dt. The Gift – Die dunkle Gabe). US 2000. L: 112’. R: Sam Raimi. Gods and Monsters. US 1998. L: 105’. R: Bill Condon. Godzilla (jap. Gojira). JAP 1954. L: 98’. R: Ishirô Honda. Der Golem, wie er in die Welt kam. D 1920. L: 69’. R: Paul Wegener. The Gore Gore Girls. US 1971. L: 81’. R: Herschell Gordon Lewis. The Grudge (dt. Der Fluch). US 2004. L: 92’. R: Takashi Shimizu. Halloween (dt. Halloween – Die Nacht des Grauens). US 1978. L: 91’. R: John Carpenter. Halloween III: Season of the Witch (dt. Halloween III: Die Nacht der Entscheidung). US 1982. L: 98’. R: Tommy Lee Wallace. Halloween: H20: 20 Years Later (dt. Halloween: H 20: Zwanzig Jahre später). US 1998. L: 85’. R: Steve Miner. Halloween: Resurrection. US 2002. L: 94’. R: Rick Rosenthal. The Hand (dt. Die Hand). US 1981. L: 104’. R: Oliver Stone. Hannibal. US 2001. L: 131’. R: Ridley Scott. The Haunted Palace (dt. Die Folterkammer des Hexenjägers). US 1963. L: 85’. R: Roger Corman. The Haunting (dt. Bis das Blut gefriert). GB 1963. L: 112’. R: Robert Wise. The Haunting (dt. Das Geisterschloß). US 1999. L: 113’. R: Jan de Bont. Haute Tension (engl. High Tension, Switchblade Romance). F 2003. L: 91’. R: Alexandre Aja. Heavenly Creatures. NEUS 1994. L: 98’. R: Peter Jackson. Hellraiser (dt. Hellraiser – Das Tor zur Hölle). GB 1986. L: 93’. R: Clive Barker. Hellraiser II: Hellbound. GB 1988. L: 97’. R: Tony Randel. Hellraiser III: Hell on Earth. US 1992. L: 97’. R: Anthony Hickox. Henry: Portrait of a Serial Killer. US 1986. L: 90’. R: John McNaughton. The Hills Have Eyes (dt. Der Hügel der blutigen Augen). US 1976. L: 90’. R: Wes Craven. The Hills Have Eyes. US 2006. L: 107’. R: Alexandre Aja. Honogurai mizu no soko kara (engl. Dark Water). JAP 2002. L: 101’. R: Hideo Nakata. Hostel. US 2005. L: 94’. R: Eli Roth. House of 1000 Corpses (dt. Haus der 1000 Leichen). US 2003. L: 89’. R: Rob Zombie. House of Dracula (The Wolf Man’s Cure). US 1945. L: 67’. R: Erle C. Kenton. House of Frankenstein. US 1944. L: 71’. R: Erle C. Kenton. House on Haunted Hill (dt. Das Haus auf dem Geisterhügel, Die sieben Särge des Dr. Horror). US 1958. L: 75’. R: William Castle. House on Haunted Hill (dt. Haunted Hill). US 1999. L: 96’. R: William Malone. The Howling (dt. Das Tier). US 1980. L: 90’. R: Joe Dante.

338|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Idle Hands (dt. Die Killerhand). US 1999. L: 90’. R: Rodman Flender. I have to make the word be flesh. Interview mit Serge Grünberg (David Cronenberg). F 1999. L: 60’. R: André S. Labarthe. I Know What You Did Last Summer (dt. Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast). US 1997. L: 101’. R: Jim Gillespie. The Incredible Shrinking Man (dt. Die unglaubliche Geschichte des Mr. C.). US 1957. L: 81’. R: Jack Arnold. Inferno (dt. Horror Infernal). IT 1980. L: 107’. R: Dario Argento. The Innocents (dt. Schloß des Schreckens). GB 1961. L: 99’. R: Jack Clayton. Interview with the Vampire (dt. Interview mit einem Vampir). US 1994. L: 122’. R: Neil Jordan. Invaders from Mars (dt. Invasion vom Mars). US 1953. L: 78’. R: William Cameron Menzies. Invaders from Mars (dt. Invasion vom Mars). US 1985. L: 99’. R: Tobe Hooper. Invasion of the Body Snatchers (dt. Die Dämonischen). US 1956. L: 80’. R: Don Siegel. Invasion of the Body Snatchers (dt. Die Körperfresser kommen). US 1978. L: 115’. R: Philip Kaufman. The Invisible Man (dt. Der Unsichtbare). US 1933. L: 71’. R: James Whale. It Came from Outer Space (dt. Gefahr aus dem Weltall). US 1953. L: 81’. R: Jack Arnold. I Walked with a Zombie (dt. Ich folgte einem Zombie). US 1943. L: 69’. R: Jacques Tourneur. Jason X. US 2001. L: 93’. R: James Isaac. Jian gui (engl./dt. The Eye). GB/HK/Thailand/Singapur 2002. L: 99’. R: Oxide Pang Chung/Danny Pang. John Carpenter’s Ghosts of Mars. US 2001. L: 98’. R: John Carpenter. Johnny Mnemonic. US 1995. L: 96’. R: Robert Longo. Ju-On. JAP 2000. L: 70’. R: Takashi Shimizu. Ju-On. The Grudge. JAP 2003. L: 92’. R: Takashi Shimizu. Ju-On. The Grudge 2. JAP 2003. L: 95’. R: Takashi Shimizu. Kalifornia. US 1993. L: 118’. R: Dominic Sena. Kaïro (Pulse). JAP 2001. L: 118’. R: Kiyoshi Kurosawa. King Kong (dt. King Kong und die weiße Frau). US 1933. L: 100’. R: Ernest Schoedsack/Merian C. Cooper. King of the Zombies. US 1941. L: 67’. R: Jean Yarbrough. Kiss the Girls (dt. … denn zum Küssen sind sie da). US 1997. L: 115’. R: Gary Fleder. Knight Moves (dt. Knight Moves – Mörderisches Spiel). US/D 1992. L: 116’. R: Carl Schenkel. Kwaïdan. JAP 1964. L: 183’. R: Masaki Kobayashi. Land of the Dead. US 2005. L: 97’. R: George A. Romero. The Last House on the Left (Mondo Brutale, Krug and Company, Sex Crime of the Century, dt. Das letzte Haus links). US 1971. L: 91’. R: Wes Craven.

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The Last Man on Earth (ital. L’Ultimo Uomo della Terra). IT/US 1964. L: 87’. R: Ubaldo Ragona/Sidney Salkow. The Legend of Hell House (dt. Tanz der Totenköpfe). US 1973. L: 95’. R: John Hough. The Leopard Man. US 1943. L: 69’. R: Jacques Tourneur. Lethal Weapon (dt. Zwei stahlharte Profis). US 1987. L: 110’. R: Richard Donner. Lifeforce (Lifeforce – Die tödliche Bedrohung). GB 1985. L: 101’. R: Tobe Hooper. Le Locataire (engl. The Tenant, dt. Der Mieter). F 1976. L: 126’. R: Roman Polanski. The Lodger: A Story of the London Fog (dt. Der Mieter). GB 1926. L: 85’. R: Alfred Hitchcock. Lord of Illusions. US 1995. L: 119’. R: Clive Barker. The Lord of the Rings: The Fellowship of the Ring (dt. Der Herr der Ringe: Die Gefährten). US 2001. L: 178’. R: Peter Jackson. The Lord of the Rings: The Two Towers (dt. Der Herr der Ringe: Die zwei Türme). US 2002. L: 179’. R: Peter Jackson. The Lord of the Rings: The Return of the King (dt. Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs). US 2003. L: 201’. R: Peter Jackson. Los sin nombre (engl. The Nameless). SPA 1999. L: 102’. R: Jaume Balagueró. Lost Highway. US 1996. L: 135’. R: David Lynch. M – Eine Stadt sucht einen Mörder. D 1931. L: 118’. R: Fritz Lang. Mad Love (The Hands of Orlac). US 1935. L: 70’. R: Karl Freund. The Mad Magician (dt. Der wahnsinnige Zauberkünstler). US 1954. L: 72’. R: John Brahm. The Manchurian Candidate (dt. Botschafter der Angst). US 1962. L: 126’. R: John Frankenheimer. Manhunter (dt. Blutmond, Roter Drache). US 1986. L: 120’. R: Michael Mann. Le manoir du diable (engl. The Haunted Castle). F 1896. L: 2’. R: Georges Méliès. Marebito. JAP 2004. L: 92’. R: Takashi Shimizu. Mary Reilly. US 1996. L: 109’. R: Stephen Frears. Mary Shelley’s Frankenstein. US 1994. L: 123’. R: Kenneth Branagh. The Matrix (dt. Matrix). US 1999. L: 136’. R: Andy/Larry Wachowski. The Matrix Reloaded. US 2003. L: 138’. R: Andy/Larry Wachowski. The Matrix Revolutions. US 2003. L: 129’. R: Andy/Larry Wachowski. The Medusa Touch (dt. Der Schrecken der Medusa). GB/F 1978. L: 105’. R: Jack Gold. Meet the Feebles. NEUS 1989. L: 97’. R: Peter Jackson. Metropolis. D 1927. L: 147’. R: Fritz Lang. Michael Bay’s The Texas Chainsaw Massacre. US 2003. L: 98’. R: Marcus Nispel. Mondo Cane (engl. A Dog’s Life, dt. Welt des Hundes). IT 1962. L: 105’. R: Gualtiero Jacopetti/Paolo Cavara. The Most Dangerous Game (The Hounds of Zaroff, dt. Graf Zaroff – Genie des Bösen). US 1931. L: 63’. R: Ernest Schoedsack/Irving Pichel.

340|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

The Mothman Prophecies (dt. Die Mothman Prophezeiungen). US 2001. L: 119’. R: Mark Pellington. Mulholland Drive. US 2001. L: 145’. R: David Lynch. The Mummy (dt. Die Mumie). US 1932. L: 72’. R: Karl Freund. The Mummy (dt. Die Rache der Pharaonen). GB 1959. L: 88’. R: Terence Fisher. Naked Lunch. GB/KAN 1991. L: 115’. R: David Cronenberg. Natural Born Killers. US 1995. L: 119’. R: Oliver Stone. The New York Ripper (ital. Lo Squartatore di New York, dt. Der New York Ripper). IT 1982. L: 92’. R: Lucio Fulci. Nightbreed (dt. Cabal). US 1990. L: 102’. R: Clive Barker. A Nightmare on Elm Street (dt. Nightmare – Mörderische Träume). US 1984. L: 91’. R: Wes Craven. Night of the Demon (Curse of the Demon, dt. Der Fluch des Dämonen). GB 1957. L: 82’. R: Jacques Tourneur. Night of the Living Dead (dt. Die Nacht der Lebenden Toten). US 1968. L: 96’. R: George A. Romero. Night of the Living Dead (dt. Die Rückkehr der Untoten). US 1990. L: 96’. R: Tom Savini. North by Northwest (dt. Der unsichtbare Dritte). US 1959. L: 136’. R: Alfred Hitchcock. Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens. D 1922. L: 92’. R: Friedrich Wilhelm Murnau. Nos miran (engl. They’re Watching Us). SPA/IT 2002. L: 104’. R: Noberto López Amado. Nostalghia. IT 1983. L: 126’. R: Andrej Tarkowskij. Obsession (dt. Schwarzer Engel). US 1976. L: 98’. R: Brian de Palma. The Old Dark House. US 1932. L: 71’. R: James Whale. The Omega Man (dt. Der Omega Mann). US 1971. L: 98’. R: Boris Sagal. The Omen (dt. Das Omen). US 1976. L: 111’. R: Richard Donner. One Hour Photo. US 2002. L: 96’. R: Mark Romanek. Onibaba. JAP 1964. L: 103’. R: Kaneto Shindô. Orlacs Hände. Ö 1924. L: 92’. R: Robert Wiene. The Others. US 2001. L: 101’. R: Alejandro Amenábar. Otogiriso (engl. St. John’s Wort). JAP 2001. L: 85’. R: Ten Shimoyama. Out of the Past (Build my Gallows High, dt. Goldenes Gift). US 1947. L: 96’. R: Jacques Tourneur. Paura nella Cittá dei Morti Viventi (engl. City of the Living Dead, The Gates of Hell, dt. Ein Zombie hing am Glockenseil). IT 1980. L: 83’. R: Lucio Fulci. Peeping Tom (dt. Augen der Angst). GB 1960. L: 109’. R: Michael Powell. The Phantom of the Opera (dt. Das Phantom der Oper). US 1943. L: 42’. R: Arthur Lubin. Pirates of the Caribbean Sea: The Curse of the Black Pearl (dt. Fluch der Karibik). US 2003. L: 143’. R: Gore Verbinski. The Plague of the Zombies (dt. Nächte des Grauens). GB 1966. L: 91’. R: John Gilling. Plan 9 from Outer Space. US 1956. L: 79’. R: Edward D. Wood Jr.

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Planet of the Apes (dt. Planet der Affen). US 1967. L: 112’. R: Franklin J. Schaffner. Poltergeist. US 1982. L: 114’. R: Tobe Hooper. Poltergeist 2: The Other Side (dt. Poltergeist 2 – Die andere Seite). L: 90’. R: Brian Gibson. Poltergeist III (dt. Die dunkle Seite des Bösen – Poltergeist III). US 1987. L: 98’. R: Gary A. Sherman. The Power (dt. Die sechs Verdächtigen). US 1967. L: 108’. R: Byron Haskin. Prince of Darkness (dt. Die Fürsten der Finsternis). US 1987. L: 101’. R: John Carpenter. Psycho. US 1960. L: 109’. R: Alfred Hitchcock. Quella Villa accanto al Cimitero (engl. The House by the Cemetery, dt. Das Haus an der Friedhofsmauer). IT 1981. L: 86’. R: Lucio Fulci. The Quick and the Dead (dt. Schneller als der Tod). US 1995. L: 108’. R: Sam Raimi. Rabid. KAN 1975. L: 91’. R: David Cronenberg. Re-Animator. US 1985. L: 86’. R: Stuart Gordon. Rear Window (dt. Das Fenster zum Hof). US 1954. L: 112’. R: Alfred Hitchcock. Rebel without a Cause (dt. … denn sie wissen nicht, was sie tun). US 1955. L: 111’. R: Nicholas Ray. Red Dragon (dt. Roter Drache). US 2002. L: 124’. R: Brett Ratner. Repulsion (dt. Ekel). GB 1965. L: 104’. R: Roman Polanski. Resident Evil. GB/D 2001. L: 96’. R: Paul W. S. Anderson. Resident Evil: Apocalypse. L: 94’. US 2004. R: Alexander Witt. Resurrection. US 1999. L: 108’. R: Russell Mulcahy. The Return of the Fly (dt. Die Rückkehr der Fliege). US 1959. L: 80’. R: Edward L. Bernds. The Return of the Living Dead (dt. Verdammt, die Zombies kommen). US 1984. L: 91’. R: Dan O’Bannon. The Return of the Living Dead 3. US 1993. L: 97’. R: Brian Yuzna. Return of the Living Dead Part II. US 1987. L: 89’. R: Ken Wiederhorn. Revenge of the Zombies. US 1943. L: 61’. R: Steve Sekely. Revolt of the Zombies. US 1936. L: 65’. R: Victor Halperin. The Ring (dt. Ring). US 2003. L: 115’. R: Gore Verbinski. The Ring 2 (dt. Ring 2). US 2005. L: 110’. R: Hideo Nakata. Ringu (engl./dt. Ring). JAP 1998. L: 96’. R: Hideo Nakata. Ringu 2 (engl./dt. Ring 2). JAP 1999. L: 95’. R: Hideo Nakata. Ring 0: Bâsudei (engl. Ring 0: Birthday, dt. Ring 0). JAP 2000. L: 99’. R: Norio Tsuruta. Rio Bravo. US 1959. L: 141’. R: Howard Hawks. Robocop. US 1987. L: 102’. R: Paul Verhoeven. Rosemary’s Baby. US 1968. L: 137’. R: Roman Polanski. Salem’s Lot (dt. Brennen muß Salem). US 1979. L: 100’ (TV: 200’). R: Tobe Hooper. Saló, o le Centoventi Giornate di Sodoma (engl. Saló, or the 120 Days of Sodom, dt. Die 120 Tage von Sodom). IT/F 1975. L: 117’. R: Pier Paolo Pasolini.

342|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Scanners (dt. Scanners – Ihre Gedanken können töten). KAN 1980. L: 103’. R: David Cronenberg. Scream. US 1996. L: 111’. R: Wes Craven. Scream 2. US 1997. L: 120’. R: Wes Craven. Scream 3. US 2000. L: 116’. R: Wes Craven. Screamers. KAN/US/JAP 1995. L: 109’. R: Christian Duguay. The Serpent and the Rainbow (dt. Die Schlange im Regenbogen). US 1987. L: 97’. R: Wes Craven. Se7en (Seven, dt. Sieben). US 1995. L: 127’. R: David Fincher. Shadow of the Vampire. US 2000. L: 92’. R: Elias Merhige. Shaft. US 1971. L: 100’. R: Gordon Parks. The Shining (dt. Shining). US/GB 1980. L: 146’. R: Stanley Kubrick. Shivers (The Parasite Murders, They Came from Within, dt. Parasitenmörder). KAN 1974. L: 87’. R: David Cronenberg. Shocker. US 1989. L: 110’. R: Wes Craven. Shutter. THAI 2004. L: 97’. R: Banjong Pisanthanakun/Parkpoom Wongpoom. Signs (dt. Signs – Zeichen). US 2002. L: 106’. R: Manoj »Night« Shyamalan. The Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer). US 1991. L: 118’. R: Jonathan Demme. Silent Hill. US/KAN/JAP/F 2006. L: 127’. R: Christophe Gans. Singin’ in the Rain. US 1952. L: 102’. R: Stanley Donen/Gene Kelly. Sisters (Blood Sisters, dt. Die Schwestern des Bösen). US 1972. L: 92’. R: Brian de Palma. The Sixth Sense. US 1999. L: 107’. R: Manoj »Night« Shyamalan. Sleepy Hollow. US 1999. L: 105’. R: Tim Burton. Society. US 1989. L: 99’. R: Brian Yuzna. Spellbound (dt. Ich kämpfe um dich). US 1945. L: 111’. R: Alfred Hitchcock. Spider. KAN 2001. L: 98’. R: David Cronenberg. Spider-Man. US 2002. L: 121’. R: Sam Raimi. Spider-Man 2. US 2004. L: 127’. R: Sam Raimi. Stereo. KAN 1969. L: 65’. R: David Cronenberg. Stir of Echoes (dt. Echoes – Stimmen aus der Zwischenwelt). US 1999. L: 99’. R: David Koepp. Strange Days. US 1995. L: 145’. R: Kathryn Bigelow. Straw Dogs (dt. Wer Gewalt sät). GB 1971. L: 118’. R: Sam Peckinpah. Der Student von Prag. D 1913. L: 85’. R: Stellan Rye. Sugar Hill (dt. Die schwarzen Zombies von Sugar Hill). US 1974. L: 91’. R: Paul Maslansky. Southern Comfort (dt. Die letzten Amerikaner). US 1981. L: 106’. R: Walter Hill. Suspiria. IT 1977. L: 97’. R: Dario Argento. Tales from the Crypt (dt. Geschichten aus der Gruft). GB 1972. L: 92’. R: Freddie Francis. Tarantula. US 1955. L: 80’. R: Jack Arnold. Taxi Driver. US 1976. L: 114’. R: Martin Scorsese. Terminator. US 1984. L: 107’. R: James Cameron. Terminator 2: Judgement Day (dt. Terminator 2 – Der Tag des Jüngsten Gerichts). US 1991. L: 135’. R: James Cameron.

FILME|343

Terminator 3: Rise of the Machines (dt. Terminator 3: Rebellion der Maschinen). US 2003. L: 109’. R: Jonathan Mostow. Tésis (engl. Thesis, dt. Tesis). SPA 1995. L: 125’. R: Alejandro Amenàbar. Tetsuo: The Iron Man. JAP 1989. L: 67’. R: Shinya Tsukamoto. Tetsuo II: The Body Hammer. JAP 1991. L: 83’. R: Shinya Tsukamoto. The Texas Chainsaw Massacre (dt. Blutgericht in Texas). US 1974. L: 83’. R: Tobe Hooper. The Texas Chainsaw Massacre 2. US 1986. L: 95’. R: Tobe Hooper. Them! (dt. Formicula). US 1954. L: 94’. R: Gordon Douglas. The Thing (dt. Das Ding aus einer anderen Welt). US 1982. L: 109’. R: John Carpenter. The Thing from another World (dt. Das Ding aus einer anderen Welt). US 1951. L: 87’. R: Christian Nyby/Howard Hawks. Three Days of the Condor (dt. Die drei Tage des Condor). US 1975. L: 118’. R: Sydney Pollack. Three on a Meathook. US 1972. L: 79’. R: William Girdler. Der Totmacher. D 1995. L: 110’. R: Romuald Karmakar. Twilight Zone – The Movie (dt. Unheimliche Schattenlichter). US 1983. L: 101’. R: John Landis/Joe Dante/Steven Spielberg/George Miller. Twin Peaks: Fire Walk with Me (dt. Twin Peaks – Der Film). L: 135’. US 1992. R: David Lynch. Unbreakable. US 2000. L: 106’. R: Manoj »Night« Shyamalan. Urban Legend (dt. Düstere Legenden). US 1998. L: 99’. R: Jamie Blanks. Valentine (dt. Schrei wenn du kannst). US 2001. L: 96’. R: Jamie Blanks. Vertigo. US 1958. L: 128’. R: Alfred Hitchcock. Vincent. US 1982. L: 6’. R: Tim Burton. Videodrome (dt. Videodrom). KAN 1982. L: 89’. R: David Cronenberg. Weekend. F/IT 1967. L: 103’. R: Jean-Luc Godard. Wes Craven’s New Nightmare (dt. Freddy’s New Nightmare). US 1994. L: 112’. R: Wes Craven. Westworld. US 1972. L: 89’. R: Michael Crichton. What Lies Beneath (dt. Der Schatten der Wahrheit). US 2000. L: 130’. R: Robert Zemeckis. White Noise. US 2005. L: 101’. R: Geoffrey Sax. White Zombie. US 1931. L: 73’. R: Victor Halperin. Wild at Heart. US 1990. L: 124’. R: David Lynch. The Wizard of Gore. US 1970. L: 96’. R: Herschell Gordon Lewis. The Wizard of Oz (dt. Das zauberhafte Land). US 1939. L: 101’. R: Victor Fleming. Wolf. US 1994. L: 125’. R: Mike Nichols. The Wolf Man (dt. Der Wolfsmensch). US 1941. L: 70’. R: George Waggner. Wrong Turn. US/D 2003. L: 84’. R: Rob Schmidt. X2: X-Men United (dt. X-Men 2). US 2003. L: 133’. R: Bryan Singer. The X-Files: Home (dt. Akte X: Blutschande). US 1996. L: 45’. R: Kim Manners. Staffel 4. Folge 3. TV. The X-Files (dt. Akte X: Der Film). US 1998. L: 121’. R: Rob Bowman.

344|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

The X-Files: Millennium (dt. Akte X: Millennium). US 1999. L: 45’. R: Thomas J. Wright. Staffel 7. Folge 5. TV. The X-Files: The Unsusual Suspects (dt. Akte X: Die unüblichen Verdächtigen). US 1997. L: 45’. R: Kim Manners. Staffel 5. Folge 1. TV. Les yeux sans visage (engl. Eyes without a Face, The Horror Chamber of Dr. Faustus, dt. Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff, Augen ohne Gesicht). F/IT 1959. L: 90’. R: Georges Franju. Zärtlichkeit der Wölfe. BRD 1973. L: 83’. R: Ulli Lommel. Zombi 2 (engl. Zombie Flesh Eaters, Zombies 2, dt. Woodoo – Schreckensinsel der Zombies). IT 1979. L: 91’. R: Lucio Fulci.

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350|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

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LITERATUR|351

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352|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

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356|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

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360|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

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ABBILDUNGEN Abb. 1 (20): Abb. 2 (29): Abb. 3 (53): Abb. 4 (54): Abb. 5 (55): Abb. 6 (56): Abb. 7 (57): Abb. 8 (65): Abb. 9 (67): Abb. 10 (68): Abb. 11 (69): Abb. 12 (70): Abb. 13 (71): Abb. 14 (72): Abb. 15 (75): Abb. 16 (76): Abb. 17 (77): Abb. 18 (78): Abb. 19 (79): Abb. 20 (80): Abb. 21 (82): Abb. 22 (83): Abb. 23 (84): Abb. 24 (86): Abb. 25 (89): Abb. 26 (90): Abb. 27 (91): Abb. 28 (92): Abb. 29 (92): Abb. 30 (93): Abb. 31 (94): Abb. 32 (95): Abb. 33 (102): Abb. 34 (105): Abb. 35 (110): Abb. 36 (111): Abb. 37 (112): Abb. 38 (114): Abb. 39 (116):

Apokalyptisches Graffito (28 Days Later) Vagina Dentata und Medusenhaupt (Aliens) Urszene mit Atemgerät (Blue Velvet) Urszene mit Pistole (Tetsuo II: The Body Hammer) Die unsichtbare Teufelsfratze (The Exorcist) Der unsichtbare Tod von Mr. Eddy (Lost Highway) Der unsichtbare Kopf von Tracy Mills (Se7en) Théâtre des Vampires (Interview with the Vampire) Béla Lugosi als Dracula (Dracula) Frankensteins Braut (The Bride of Frankenstein) Christopher Lee als Graf Dracula (Horror of Dracula) Vincent Price als Charles Dexter Ward (The Haunted Palace) Die Kamera als Mordwerkzeug (Peeping Tom) Duschmord zwischen den Schnitten (Psycho) Schüsse aus dem Fernseher (Videodrome) Das Datum des Massakers (The Texas Chainsaw Massacre) Leichenteile im Blitzlicht (The Texas Chainsaw Massacre) Zeichen des Untergangs (The Texas Chainsaw Massacre) Leatherface (The Texas Chainsaw Massacre) Am Haken (The Texas Chainsaw Massacre) Kettensäge in The Last House on the Left Kettensäge in The Wizard of Gore Kettensäge in The Texas Chainsaw Massacre Formlosigkeit des »Dings« (The Thing) Kamerafahrt des Bösen (The Evil Dead) Tonbandstimmenforschung (The Evil Dead) Kettensäge in The Evil Dead Blutrote Filmgeschichte (The Evil Dead) Kamera essen Seele auf (The Evil Dead) Kettensäge in Bad Taste Rattenaffe aus Sumatra (Braindead) Zombie-Party (Braindead) Stellenlektüre: Halloween und die Regeln (Scream) Pikante Stellen in den Arabian Nights (Bram Stoker’s Dracula) Unternehmenszombies in Resident Evil Infizierte in 28 Days Later Meister Legendre und sein Opfer (White Zombie) Zombies in The Plague of the Zombies 1985 und 2002: The Dead Walk! (Day of the Dead/Resident Evil)

368|MONSTER. ZU KÖRPERLICHKEIT UND MEDIALITÄT IM MODERNEN HORRORFILM

Abb. 40 (120): Abb. 41 (121): Abb. 42 (124): Abb. 43 (126): Abb. 44 (135): Abb. 45 (136): Abb. 46 (140): Abb. 47 (141): Abb. 48 (144): Abb. 49 (146): Abb. 50 (147): Abb. 51 (149): Abb. 52 (152): Abb. 53 (165): Abb. 54 (166): Abb. 55 (167): Abb. 56 (168): Abb. 57 (169): Abb. 58 (171): Abb. 59 (183): Abb. 60 (184): Abb. 61 (187): Abb. 62 (192): Abb. 63 (194): Abb. 64 (195): Abb. 65 (196): Abb. 66 (198): Abb. 67 (199): Abb. 68 (203): Abb. 69 (204): Abb. 70 (207): Abb. 71 (210): Abb. 72 (213): Abb. 73 (213): Abb. 74 (217): Abb. 75 (224): Abb. 76 (225): Abb. 77 (226): Abb. 78 (227): Abb. 79 (229): Abb. 80 (233): Abb. 81 (234): Abb. 82 (235): Abb. 83 (236): Abb. 84 (240): Abb. 85 (241): Abb. 86 (242): Abb. 87 (243):

Der Schädel in Psycho Der Schädel in Night of the Living Dead Vampire in The Last Man Vampire in The Omega Man Die Wahrheit aus dem Fernsehen (Night of the Living Dead) Medienwechsel (Night of the Living Dead) Zombies im Kaufhaus (Dawn of the Dead) Zombie-Slapstick (Dawn of the Dead) Die Zombies schlagen zurück (Dawn of the Dead) Dr. Logans Experimente (Day of the Dead) Die Resozialisierung von Bub (Day of the Dead) Italienische Zombies (Zombi 2) Laokoon (28 Days Later) Medien in Medien (Cannibal Holocaust) Abgefilmte Gewalt (Cannibal Holocaust) Filmskulptur (Cannibal Holocaust) Magischer Medientausch (Cannibal Holocaust) Film im Film (Cannibal Holocaust) Die letzten Bilder (Cannibal Holocaust) Scanning des Kopfes (Scanners) Neue Körperöffnungen (eXistenZ) Das neue Fleisch (Crimes of the Future) Emil Hobbes’ Operation (Shivers) Face-Huggers (Shivers) Die Botschaft des Parasiten (Shivers) Die Taufe (Shivers) Stadtsäuberung (Rabid) Parasitengeburt (Alien) Fusion von Hand und Handfeuerwaffe (Videodrome) Max Renns Videokassettenschacht (Videodrome) Metamorphosen (The Fly) Stimmenerkennung (The Fly) Metafleisch-Dinge (eXistenZ) Das letzte Abendmahl (eXistenZ) Alfred Hitchcocks erster Serial Killer-Film (The Lodger) Der letzte Flaneur als Kreatur der Großstadt (M) Mit Halloween-Maske und Küchenmesser (Halloween) Freddy Kruegers Klingenhandschuh (A Nightmare on Elm Street) Freddy vs. Jason (Freddy vs. Jason) Maske nach Edvard Munch (Scream) Die Aufspaltung des Serial Killers (The Silence of the Lambs) Das Archiv des Roten Drachen (Red Dragon) Kräutermaske (American Psycho) Im Geist des Serial Killers (The Cell) Nachschlagen in der Bibliothek (Se7en) Kopierarbeit (Se7en) Sekundärliteratur (Se7en) Die Wohnung als Archiv (Se7en)

ABBILDUNGEN|369

Abb. 88 (245): Abb. 89 (249): Abb. 90 (254): Abb. 91 (264): Abb. 92 (267): Abb. 93 (268): Abb. 94 (269): Abb. 95 (270): Abb. 96 (271): Abb. 97 (272): Abb. 98 (272): Abb. 99 (272): Abb. 100 (280): Abb. 101 (281): Abb. 102 (281): Abb. 103 (282): Abb. 104 (284): Abb. 105 (288): Abb. 106 (290): Abb. 107 (291): Abb. 108 (292): Abb. 109 (301): Abb. 110 (303): Abb. 111 (304): Abb. 112 (304): Abb. 113 (306): Abb. 114 (307): Abb. 115 (307): Abb. 116 (308): Abb. 117 (309): Abb. 118 (312): Abb. 119 (313): Abb. 120 (314): Abb. 121 (316): Abb. 122 (317): Abb. 123 (318):

Vorspann (Se7en) Direktionale Beleuchtung (Se7en) Die Ordnung der Dinge (Se7en) Das ist kein Bauch (Belly of an Architect) Nachgestellt: The Bride of Frankenstein (Gods and Monsters) Dracula als Dandy (Bram Stoker’s Dracula) Die Ankunft des Zuges (Bram Stoker’s Dracula) Nachgestellt: Plan 9 from Outer Space (Ed Wood) Christopher Lee als Richter (Sleepy Hollow) Zitat: Die brennende Windmühle (Frankenweenie) Zitat des Zitats: Die brennende Windmühle (Sleepy Hollow) Vincent Price als Mad Scientist (Edward Scissorhands) Der Vampir im Kino (Interview with the Vampire) Nachgestellt: Nosferatu (Shadow of the Vampire) Der Gastgeber vom House on Haunted Hill Die Erscheinung in The Innocents Der Spuk aus dem Fernsehen (Poltergeist) Die Séance (The Others) Das Buch der Toten (The Others) Die neuen Dienstboten (The Others) Die Dienstboten im Buch der Toten (The Others) Die Stimme des Teufels wird entschlüsselt (The Exorcist) Diktaphon (The Sixth Sense) Das tödliche Video (Ringu) Todesbotschaft am Telefon (Ringu) Das Gesicht des Teufels (The Exorcist) Erste Rückkopplung (The Mothman Prophecies) Anrufbeantworter (The Mothman Prophecies) Stimmenanalyse (The Mothman Prophecies) Der letzte Anruf (The Mothman Prophecies) Das Fernsehgesicht (Come to Daddy) Hochhauslandschaft in Beton (Come to Daddy) Die Kinderhorde (Come to Daddy) Fernsehgeburt (Come to Daddy) Das Fernsehmonster und die alte Frau (Come to Daddy) Das Fernsehmonster und seine Jünger (Come to Daddy)

»Film« bei transcript Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium November 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-563-4

Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm November 2006, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-552-9

Christian Wenger Jenseits der Sterne Gemeinschaft und Identität in Fankulturen. Zur Konstitution des Star Trek-Fandoms August 2006, 406 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-600-2

Markus Fellner psycho movie Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm Mai 2006, 424 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-471-9

Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.) Unfinished Business Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften April 2006, 188 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-437-9

Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard März 2006, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-440-9

Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film Januar 2006, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-401-8

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen 2005, 478 Seiten, kart., ca. 250 Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-383-6

Joanna Barck, Petra Löffler (u.a.) Gesichter des Films 2005, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-416-6

Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie 2005, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2

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»Film« bei transcript F.T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0

Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4

Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung 2004, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-239-2

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus

2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1

2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-180-9

Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de