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German Pages [464] Year 2010
André Schlüter Moeller van den Bruck
André Schlüter
Moeller van den Bruck
Leben und Werk
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Portrait Arthur Moeller van den Brucks. Aus: Willy Andreas, Wilhelm von Scholz (Hg.): Die Großen Deutschen. Neue Deutsche Biographie, Band 4, Berlin 1936. © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20530-0
Vorwort
Auch wenn die jüngste Monographie über Moeller van den Bruck inzwischen fast 50 Jahre alt ist, bedarf ein solches Projekt der Erklärung. Warum ein Buch über einen Mann, der heute nur noch den Spezialisten ein Begriff ist? Warum ein Buch über eine der vielen Gestalten der Konservativen Revolution, die erst in jüngerer Zeit zu einem solide bearbeiten Gegenstand der Geschichts- und Sozialwissenschaften avancierte? Die Antwort lautet, weil Moeller vorzugsweise im Kontext der deutschen Rechten in der Weimarer Republik und nicht oder nur selten auch als überaus wandlungsfähiger Autor gesehen wird. Durch die eingeschränkte Sichtweise der Fachleute ist ein Großteil seiner frühen Arbeiten heute weitgehend vergessen. Sein „geistiges“ Vorleben, über das Moeller später angeblich nur ungern sprach, wurde schon unmittelbar nach seinem Tode (1925) mystifiziert. Das führte und führt noch immer zu Mißverständnissen. So ist Moeller, der erst in den 30er Jahren bei einem breiteren Publikum populär wurde, heute unter dem Namen Arthur Moeller van den Bruck bekannt: Die Autoren der Jungen Freiheit beispielsweise kennen „eine weitreichende Geistestradition“ zu deren Ahnherren „Ostwald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger oder Juan Donoso Cortez“1 gehören. Einen Mann mit Namen Arthur Moeller van den Bruck hat es aber niemals gegeben. Arthur Moeller, der sich seit 1904 Moeller van den Bruck nannte, hat nur eine einzige Arbeit – Verirrte Deutsche (1904) – unter dem Namen Arthur Moeller van den Bruck publiziert. Die wenigen Lesern seiner Schriften zur modernen Literatur kannten dagegen den Kritiker Arthur Moeller-Bruck. Da der Autor des Dritten Reiches (1923) seine schriftstellerische Karriere im wilhelminischen Reich als Literaturkritiker begann, lag es nahe, Arthur Moeller auch einmal aus der Perspektive der Literaturwissenschaft zu betrachten. Das Ergebnis ist die intellektuelle Biographie eines Außenseiters, der sich nach dem Untergang des Kaiserreiches in der Rolle des geistigen Führers eines erneuerten deutschen Konservatismus sah – und der gut sieben Jahre nach seinem Selbstmord von seinen unmittelbaren Erben zum Wegbereiter des „Dritten Reiches“ stilisiert wurde. Moellers Lebensweg scheint dabei paradigmatisch, ohne typisch zu sein. Als Förderer der literarischen Avantgarde trat er früh schon als national gesinnter Autor auf, der beispielsweise in den Gedichten Stefan George viel „Undeutsches und Unzeitgemässes“2 entdeckte. Im Pariser Exil und unter der dem Eindruck des integralen Nationalismus französischer Prägung, wandelte er sich dann zum nationalen Schriftsteller, mit starken Sympathien für völkische Autoren. „Stil“ wurde ihm bei dieser Neuausrichtung zum Losungswort, um einer Katastrophenerfahrung zu widerstehen. 1 2
Vgl. Claus-M. Wolfschlag, Der Feind im eigenen Land, Junge Freiheit, 17.11.2000. Arthur Moeller Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 636.
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Vorwort
Denn Moeller glaubte in einem erst wieder zu schaffenden Nationalstil ein Mittel gefunden zu haben, durch das sich die sich aus der weitverbreiteten Furcht vor der Ausdifferenzierung der Lebenswelt speisende kulturelle Krise überwinden ließe. Die aus diesem Kulturoptimismus hervorgehende Haltung und der früh ausgeprägte Hass auf den die Partikularisierungstendenzen befördernden „Liberalismus“ sowie seine persönliche Ausstrahlung ließen Moeller nach dem Ersten Weltkrieg zu einer der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der jungkonservativen Bewegung werden. Moellers schriftstellerisches Vermögen erweist sich jedoch als begrenzt. Die Mehrzahl seiner Bücher und Aufsätze ist wirr, weitschweifig und unverständlich und auch redlich bemühte Zeitgenossen verzweifelten an Moellers Begabung. Karl Scheffler, einer der wichtigsten zeitgenössischen Kunstkritiker, nannte Moeller beispielsweise einen „Prinzen Beinahe“, weil trotz eines „lebendigen Instinkts“, „die Kristallisation und damit die klare Form“3 in den Büchern aber ausbleibe. Der uneinheitliche Eindruck rührt nicht zuletzt daher, dass Moeller ein Autodidakt war und sich in seinen griffige Sentenzen mit neuidealistischen und völkischen Vokabular vermischen und Allgemeinplätze der nationalen Geschichtsschreibung oft unvermittelt neben erstaunlichen Betrachtungen zur Literatur, zu bildender Kunst und Architektur stehen. Die vorliegende Arbeit hebt das Eine hervor, ohne das Andere zu vernachlässigen und versucht, trotz der biographischen Zäsuren, ein buchloses Bild von Moellers literarischem Werk zu zeichnen. Der Rückgriff auf Rezensionen und Briefzeugnisse liefert zudem einen Eindruck von der Wahrnehmung Moellers in der interessierten Öffentlichkeit. Mein Dank geht an Prof. Ernst Osterkamp und Prof. Herfried Münkler, die diese Arbeit betreuten sowie an Carola Köhler, die die Korrekturen des Buches übernahm und der ich manchen wichtigen Ratschlag verdanke, ferner an meine Eltern und natürlich auch an Nelly Möller, ohne deren Unterstützung diese Arbeit nicht hätte geschrieben werden können.
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Karl Scheffler, Der Preussische Stil von Moeller van den Bruck, in: Kunst und Künstler. Monatsschrift für Bildende Kunst und Kunstgewerbe, 15. Jg., Heft 3, Dezember 1916, S. 150
Inhalt
Vorwort .................................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ..................................................................................................... VII 1.Einleitung...............................................................................................................
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2. Der junge Moeller ................................................................................................ 29 2.1. Kindheit und Jugend .................................................................................. 29 2.2. „Die moderne Literatur“ ............................................................................ 42 2.2.1. Plan und Anspruch ......................................................... ................... 42 2.2.2. Auseinandersetzung mit der Dekadenz: Nietzsche, Conradi, Przybyszewski ................................................. 45 2.2.3. Kritik des Naturalismus. Arno Holz, Gerhart Hauptmann .................. 53 2.2.4. Kulturoptimismus. Liliencron, Dehmel, Schlaf und andere ................ 57 2.2.5. Deutsche, weniger Deutsche und Österreicher ....................................66 2.3. „Das Varieté“ ............................................................................................... 73 2.3.1. Ein Zeitdokument ................................................................................ 73 2.3.2. Eine systematische Abhandlung ? ....................................................... 77 2.3.3. Das moderne Varieté ........................................................................... 81 2.4. Vom Kulturoptimisten zum Kulturdarwinisten ........................................... 85 3. Im Ausland ............................................................................................................. 87 3.1. „Das Théâtre Français“ ................................................................................ 89 3.2. „Die Zeitgenossen“ ...................................................................................... 94 3.2.1. Selektionsoptimismus .......................................................................... 94 3.2.2. Zeugen der Desintegration. Wilde und Rodin .................................. 103 3.2.3. Die Deutschen auf dem Weg zum Stil ...............................................106 3.2.4. Ästhetische und weltanschauliche Positionierung .............................112 4. Als Nationalpädagoge im wilhelminischen Reich ............................................... 115 4.1. „Die Deutschen“ ........................................................................................ 119 4.1.1. Zur Einführung .................................................................................. 119 4.1.2. „Verirrte Deutsche“ ........................................................................... 123 4.1.3. Geschichtsbewusstsein und Gründungsmythos .................................127 4.1.4. Christentum, Reformation und Gothik .............................................. 130 4.1.5. Wider den Klassizismus .................................................................... 138 4.1.6. Der lange Weg zum Nationalstaat ..................................................... 145 4.1.7. Propheten des neuen Deutschland ..................................................... 151
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Inhaltsverzeichnis
4.1.8. Wilhelm II. als Repräsentant der „scheiternden Gegenwart . ............ 156 4.2. Moellers nationalpädagogische Zielvorstellungen .................. .................. 161 4.3. Beim „Tag“ ................................................................................................ 164 4.4. Entdeckung des Konservatismus ............................................................... 167 4.5. Deutsche „Kulturwirkung“. Moeller als Kulturimperialist ....................... 171 5. Die „Werte der Völker“ ........................................................................................ 174 5.1. Arbeit an Dostojewskij ............................................................................... 174 5.1.1. „Werte“ der Russen............................................................................ 176 5.1.2. Wirkung der Ausgabe ........................................................................ 186 5.1.3. Was sind „Werte“?............................................................................. 187 5.2. Abstraktion und nationale Integration ....................................................... 192 5.3. Moellers Futurismusrezeption ................................................................... 200 5.4. „Die italienische Schönheit“....................................................................... 204 5.4.1. Einführung ........................................................................................ 204 5.4.2. Vom germanischen Geist ................................................................... 206 5.4.3. Von italienischer Erde........................................................................ 211 5.4.4. Verlust an Religiosität und Stil .......................................................... 217 5.4.5. Vom Stil zum Naturalismus .............................................................. 221 5.4.6. Die Würdigung des Piero della Francesca ......................................... 225 5.4.7. Ein Boehmien auf dem Weg nach „Norden“ ..................................... 230 5.5. Apotheose des Preußentums....................................................................... 232 5.5.1 Moeller Aufsätze zur Architektur ....................................................... 232 5.5.2. Preußisch versus Deutsch .................................................................. 236 5.5.3. Der „Zopf“ des Soldatenkönigs ......................................................... 241 5.5.4. Vom preußischen Stil zur modernen Baukunst.................................. 244 5.5.5. Ein Beitrag zur geistigen Mobilmachung ........................................ 252 5.6. „Stil“. Ein Zwischenfazit............................................................................ 254 6. Im Kriege .......................................................................................................... 261 6.1. Moeller und die deutsche Kriegspropaganda ............................................. 261 6.2. Abkehr vom „“Westen“, Hinwendung zum „Osten“.................................. 267 6.3. Dostojewskij als Politiker........................................................................... 272 6.4. „Das Recht der jungen Völker“.................................................................. 279 7. In der Weimarer Republik..................................................................................... 287 7.1. Revolution .................................................................................................. 287 7.2. Im „Juni-Klub“ ........................................................................................... 289 7.2.1. Was ist der „Ring“?............................................................................ 289 7.2.2. Juni-Klub. Gründung und Zielsetzung............................................... 293 7.2.3. Moellers Nachkriegspublizistik ........................................................ 306 7.2.4. „Die neue Front“ ................................................................................ 314 7.3. Als Autor des „Gewissens“ ........................................................................ 318 7.3.1. Kritik an den demokratischen Parteien .............................................. 318 7.3.2. Ostpolitik............................................................................................ 322
Inhaltsverzeichnis
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7.3.3. Behandlung der Kriegsschuldfrage .................................................... 324 7.3.4. Innenpolitik als Außenpolitik............................................................. 326 7.3.5. Der Kapp-Putsch und die Genese der Konservatismuskonzeption Moellers................................................ 330 7.4. Im Politischen Kolleg ................................................................................. 334 7.5. Ruhrkampf.................................................................................................. 343 7.6. „Das dritte Reich“....................................................................................... 347 7.6.1.Führungsanspruch .............................................................................. 347 7.6.2. Titel .................................................................................................... 349 7.6.3. Versagen des Konservatismus. Schuld an der Niederlage ................. 355 7.6.4. Feindbestimmung. Noch mal wider den Liberalismus ...................... 357 7.7. Moellers Haltung in Bezug auf den Faschismus ........................................ 365 7.8. Krise des „Rings“, Krankheit, Tod............................................................. 369 8. Postumer Ruhm..................................................................................................... 374 8.1. Die Rezeption bis 1933 .............................................................................. 374 8.2. Die Rezeption zwischen 1933 und 1945 .................................................... 388 9. Bibliographie ....................................................................................................... 405 9.1. Schriften Moeller van den Brucks.............................................................. 405 9.1.1. Bücher und Flugschriften................................................................... 405 9.1.2. Aufsätze und Artikel .......................................................................... 406 9.1.3. Anonym bzw. unter Pseudonym publizierte Beiträge........................ 412 9.1.4. Editionen ............................................................................................ 415 9.1.5. Die Einführungen in die Dostojewskij-Ausgabe................................ 415 9.2. Rezensionen, Autorenporträts, Briefe ........................................................ 416 9.3. Nicht publizierte Quellen ........................................................................... 420 9.4. Sekundärliteratur zu Moeller van den Bruck.............................................. 420 9.5. Weitere Literatur ........................................................................................ 422 9.5.1. Bücher vor 1945................................................................................. 422 9.5.2. Aufsätze vor 1945 .............................................................................. 426 9.5.3. Bücher nach 1945............................................................................... 429 9.5.4. Aufsätze nach 1945............................................................................ 438 10. Register ...............................................................................................................441
1. Einleitung
Moeller van den Bruck ist inzwischen nicht mehr bloß als geistiger Mittelpunkt des Juni-Klubs und Verfasser von Das dritte Reich bekannt.1 Dass er vielmehr auch als Literaturkritiker, Herausgeber und Autor kunstgeschichtlicher Bücher erwähnt zu werden verdient, ist nachgerade einigen jüngst erschienenen Untersuchungen zu verdanken. Bereits 1985 versuchte Elisabeth Kleemann, Moeller als Bohemien zu verorten.2 Diese sozialgeschichtliche Neupositionierung des Autors öffnete unter anderem den Blick für die Bedeutung von Das Varieté (1902) und anderer früher Schriften. Kleemann zufolge ist Moellers bohemientypische Verachtung der bürgerlichen Welt die Basis sowohl seines symbolischen Protestes gegen das Wilhelminische Reich als auch seines politischen Widerstandes gegen die Weimarer Republik.3 In diesem Sinne besteht die Pointe von Kleemanns Analyse in der These, dass Moellers Liberalismuskritik überwiegend ästhetisch motiviert sei: Nach dem Krieg übertrage Moeller „die ganze Verachtung, die er für den Bildungsphilister des Wilhelminischen Reiches hegte, auf den liberalen Bürger der Weimarer Republik“4. 1998 war es dann Christoph Garstka, der sich in seiner dem Entstehen der ersten deutschsprachigen Dostojewskij-Werkausgabe gewidmeten Arbeit5 mit dem Einfluss des großen Russen auf das moellersche Œuvre sowie mit Moellers herausgeberischer Leistung befasste.6 Ausgehend von der Tatsache, dass es insbesondere die von den 1
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Über den einschlägigen Wissensstand informiert wie immer die Brockhaus-Enzyklopädie. In der aktuellen Ausgabe heißt es über Moeller van den Bruck: „Moeller van den Bruck, Arthur, Schriftsteller, * Solingen 23.4.1876, † (Selbstmord) Berlin 30.05.1925, übte als geistiger Mittelpunkt des ‚Juniklubs‘ einen nachhaltigen Einfluß auf die Jungkonservativen aus. Er bekämpfte den Liberalismus und Parlamentarismus und suchte nat. und soziale Vorstellungen miteinander zu verbinden; er vertrat u. a. die Idee einer ‚konservativen Revolution‘. [...] Der Titel seines Buches ‚Das dritte Reich‘ (1923) diente den Nationalsozialisten als polit. Schlagwort.“ (Brockhaus-Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, 19., völlig neu bearbeitete Aufl., Mannheim 1991, Bd. 15, S. 5). Elisabeth Kleemann, Zwischen symbolischer Rebellion und politischer Revolution. Studien zur deutschen Boheme zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik – Else Lasker-Schüler, Franziska Gräfin Reventlow, Frank Wedekind, Ludwig Derleth, Arthur Moeller van den Bruck, Hanns Johst, Erich Mühsam, Frankfurt am Main 1985. Vgl. ebd., S. 180 f. Ebd., S. 160 f. Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1908–1919. Eine Bestandsaufnahme sämtlicher Vorbemerkungen und Einführungen von Arthur Moeller van den Bruck und Dmitrij Mereschkowskij unter Nutzung unveröffentlichter Briefe der Übersetzerin E. K. Rahsin, Frankfurt am Main u.a. 1998. Letztere wird von Garstka vernichtend beurteilt. So hätten „die einführenden Bemerkungen Moeller van den Brucks zu dem von ihm herausgegebenen Werk Dostojewskijs [...] für das
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Einleitung
jeweiligen Schriften absehenden Vorworte Moellers waren, die das „ideologisch verzerrte Dostojewskij-Bild“7 in Deutschland begründeten, untersuchte Garstka vor allem Moellers eigenwillig zweckgerichtete Nietzsche-Interpretation: Diese ziele letztlich darauf, den Deutschen einen neuen (und hier zitiert er Moeller) „nietzscheanischgermanisch-naturalistisch[en] Wille[n] zum Leben“8 und somit „einen ‚naturhaften‘ Trieb zur Vormachtstellung in der Welt“ zuzuschreiben.9 Derart orientiert, wies Garstka anhand der Einführungen nach, dass Moeller weder als Dostojewskij-Kenner noch als russophil bezeichnet werden könne. So seien die Einführungen in die einzelnen Bände zwar der „Versuch der Annäherung eines fachlichen Dilettanten an ein ihn faszinierendes, weitgehend unbekanntes Land“10, doch wiesen die abfälligen Äußerungen über das seiner Ansicht nach passive Russentum Moeller zweifelsfrei als einen deutschen Nationalisten aus11, der in Dostojewskij vor allem einen Verbündeten im Kampf gegen den als zunehmend dekadent empfundenen Westen erblickte. Einen unschätzbaren Beitrag zur historisch-archivarischen Aufhellung der Geschichte des Juni-Klubs, des Politischen Kollegs und auch der Biographie Moellers hat Berthold Petzinna mit seinem die Geschichte der Ring-Bewegung aufarbeitenden Buch Erziehung zum deutschen Lebensstil (2000) geleistet.12 Ein besonderes Verdienst Petzinnas ist es, dass er auf die herausragende Rolle der Stilmetaphorik in Moellers intellektueller Biographie hingewiesen hat.13 Die Arbeit leidet jedoch darunter, dass ihr Autor die Differenzen zwischen den in die Ring-Bewegung mündenden, kulturreformerischen Strömungen nicht hinreichend berücksichtigt hat. Petzinna sieht Moeller mit dem Kreis um Stefan George, Franz von Papen und Edgar Julius Jung in einer geistigen Formation, die letztlich doch nur durch einen ebenso unscharfen wie inflationären Begriff der widerständig aristokratischen Haltung zusammengehalten wird.14 Das Werk Moellers wurde zudem von Petzinna nur ausschnittweise gesichtet. Er nahm zum Beispiel nicht zur Kenntnis, dass Moeller, nachdem er ihn in einer ersten Kritik bereits abwertend als einen „Dekorative[n] grossen Stils“15 gewürdigt hatte, Stefan George zu den „wahrhaft Degenerierten der Epoche“16 rechnete. So ist es im Wesentlichen mangelnde Werkkenntnis, die Petzinna auf den Gedanken
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Verständnis desselben [...] keinerlei Hilfestellung“ gegeben: „[...] sie verschleiern vielmehr den Blick auf die künstlerische Meisterschaft, die Originalität und den wahren Aussagegehalt seiner Romane.“ (Ebd., S. 83). Ebd., S. 3. Vgl. Moeller van den Bruck: Führende Deutsche, Minden 1905, S. 246. Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1908–1919, Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 29. Ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, S.118–189. Vgl. ebd., S. 12 ff., 39. Vgl. ebd., S. 23, 28, 39, 260, 264. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 613. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 202.
Einleitung
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kommen ließ, zwischen dem unbedingt fortschrittsbejahenden und sozial inklusiven Nationalismus des einen und dem zeitablehnenden und aristokratisch-exklusiven Ästhetentum des anderen eine Verbindung zu suchen. Auf eben diese Bejahung vor allem des technischen Fortschritts und der Dynamisierung der Geschichte abhebend, sucht Giuseppe Balistreri17 die Ambivalenz des moellerschen Denkens verständlich zu machen. Als Propagandist einer modernen Ästhetik habe Moeller beispielsweise beträchtliche Affinitäten zum italienischen Futurismus. Dieser scheine ihm ein Moment der extremen Radikalisierung der kulturellen Brüche am Ende des 19. Jahrhunderts: „Il futurismo viene assunto, positivamente, come il momento di estrema radicalizzazione delle rotture epocali e culturali prodottesi alla fine del secolo.“18 Das Ergebnis von Moellers Versuch, die revolutionäre Rhetorik mit seiner noch unscharfen Konservatismuskonzeption zu amalgamieren, sei eben die Vorstellung eines [eigentlichen] revolutionären Konservatismus, wie er laut Moeller in jeder revolutionären Bewegung (als Gegenbewegung) enthalten sei.19 Im Gegensatz zum beispielsweise von de Maistre vertretenen traditionellen Konservatismus suche sich dieser revolutionäre Konservatismus nicht der Revolution entgegenzustellen, sondern beabsichtige, sich an deren Spitze zu setzen. Den Nexus zwischen revolutionärem Prozeß und Modernität aufkündigend, wende sich Moeller gegen die seit der Französischen Revolution eingebürgerte Vorstellung, dass die Revolution als Hebamme der Revolution funktioniere: „Il proposito di Moeller è che modernità e rivoluzione viaggino su binari separati: è questo ľattaco di fondo che egli intende portare alla rottura epocale operatasi con la rivoluzione francese, di cui non contesta tanto ľevento rivoluzionario in sé, ma il fatto che con essa la rivoluzione si sia annunciata come levatrice del Moderno.“20 Wiederum in Anlehnung an Petzinnas Darstellung und unter Berücksichtigung nachgelassener Schriften hat Michel Grunewald21 das Bild des Nationalpädagogen Moeller im Hinblick auf geschichtsphilosophische Aspekte präzisiert. Ausgehend von der Feststellung eines in den meisten Schriften nachweisbaren nationalerzieherischen Programms22 erkennt Grunewald, dass der philosophische Inhalt 17 18 19 20 21
Giuseppe A. Balistreri, Filosofia della konservative Revolution: Arthur Moeller van den Bruck, Milano 2004. Ebd., S. 82. Ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 321 ff. Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, 2 Bde., Bern u.a. 2001. Unter den Papieren des Schriftstellers Hans Schwarz fanden sich Manuskripte Moellers, die Schwarz gemeinsam mit Moellers Ehefrau Lucy für den Druck vorbereiten wollte. Das sind insbesondere die Schriften Rasse und Nation und Meinungen über deutsche Dinge. Rasse und Nation war als Vorband eines größeren Projekts geplant, dass den Titel Werte der Völker tragen sollte (Diese Publikation kam aber aufgrund des mangelnden Verkaufserfolges von Die Deutschen nicht zustande.). Meinungen über deutsche Dinge ist eine Sammlung von 20 Aufsätzen aus den Jahren 1909 bis 1914, die Moeller während des Krieges – oder unmittelbar danach – geordnet und für eine Buchveröffentlichung zum Teil umgearbeitet hat. Beide Texte sind zusammen mit einem Essay über Oswald Spengler (erstmals in: Deutsche Rundschau, 46. Jg, Heft 10, Juli 1920, S. 41–70) im zweiten Band von Grunewalds Publikation abgedruckt.
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Einleitung
von Moellers nationaler Pädagogik sich nicht von seiner „deutschen“ Dimension trennen lasse23, der zufolge die „germanische Form“ die Nachfolge des Christentums in der Weltgeschichte der Philosophie antreten werde.24 Dabei bestehe der Gehalt der Schriften zunächst vor allem in einer „Metaphysik der Wirklichkeit“25, die Moeller in Reaktion auf die Vorherrschaft der Naturwissenschaften konzipierte, um angesichts des aufkommenden Relativismus diejenigen Werte zu retten, die das eigentliche Deutschland auch zukünftig symbolisieren sollten. Beispielhaft in diesem Sinne sei vor allem das Nietzsche-Kapitel der Deutschen (1904–1910), in dem der Philosoph als typisch deutscher Antipode Darwins erscheine. Da Moeller Nietzsche gleichsam zum Erfinder einer „Metaphysik der unmittelbaren Entwicklung“26 erkläre, werde dieser zum neuen Repräsentanten der „germanischen Form des Denkens“.27 Die in solchen Denkfiguren sichtbare Affinität zu evolutionistischen Modellen schwand, laut Grunewald, im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Alternativ hätte Moeller zwischenzeitlich die „Urzeugung“28 als das maßgebliche Element des geschichtlichen Werdens betrachtet, bevor er sich im Verlauf des Krieges zu einer deutlich deterministischen Auffassung bekannte.29 In einer dritten und letzten Schaffensperiode schließlich sei vor allem „eine ständige Verstärkung der konservativen Komponente“30 zu erkennen. Hätten doch in Das dritte Reich (1923) Begriffe wie „Erhaltungskraft“ und „Ewigkeit“31 eine ebenso hohe Bedeutung wie in Die Deutschen noch der Begriff der „Entwicklung“.32 Grunewald hat die Entwicklung Moellers vom Evolutionisten zum Jungkonservativen verständlich gemacht, wiewohl bezweifelt werden muss, dass der aus dem Affekt denkende Moeller33 „ein eigenes System geschaffen“ hat, „auf dessen Grundlage er eine Konzeption der Geschichte entwickelt[e], die dann in seinen politischen Stel-
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Ebd., Bd. 1, S. 9. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 16 ff. Vgl. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 240. Vgl. Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, Bd. 1, S. 29 f. Vgl. Moeller van den Bruck, Das Unvorhergesehene in der Weltgeschichte, in: Der Tag, 14.07.1914. Grunewald weist nach, dass Moeller diesen Begriff von dem Biologen, Anthropologen und Geographen Karl Ernst von Baer (1792–1876) übernommen hat. (vgl. Grunewald, Michel: Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, Bd. 1, S. 98 f.). Vgl. ebd., S. 109. Ebd., S. 130. Vgl. hierzu Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 223. Vgl. Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, Bd. 1, S. 130 f. Vgl. Stefan Breuer, Moeller van den Bruck und Italien, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 84, Köln u.a. 2002, S. 413–437, hier 416.
Einleitung
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lungnahmen ihren Niederschlag gefunden hat“.34 So ist bei überwiegender Richtigkeit der Ausführungen zu bemängeln, dass Grunewald, da er Moeller attestiert, sich in seinen nationalpädagogischen Schriften am deutschen Idealismus zu orientieren35, diesen über Gebühr erhöht. Nicht Kant, Fichte und Schelling, sondern Julius Langbehn, Max Nordau und Ludwig Woltmann sind die Ahnherren von Moellers Weltanschauung. Da Grunewald nicht diese Verwandtschaften, sondern die vergleichsweise spärlichen Bezüge auf den Neuidealismus hervorhebt, unterstreicht auch diese hervorragende Einzeluntersuchung den Bedarf an einer ausführlichen Moeller-Monographie. Dass die neueren Untersuchungen zu Moeller gleichsam in der Luft zu hängen scheinen, ist auch dadurch begründet, dass die maßgeblichen werkbiographischen Arbeiten inzwischen relativ alt und durch Einzeluntersuchungen überholt sind.36 So muss die Dissertation von Hans Joachim Schwierskott (Erlangen 1960)37 als die immer noch bedeutendste Arbeit über Moeller van den Bruck vorgestellt werden. Neben der Biographie sind besonders die Bibliographie und das umfangreiche Personenregister weiterhin unentbehrlich. Schwierskott hat sich intensiv mit dem Nachlass beschäftigt und noch lebende Freunde befragt, sodass seine Arbeit ebenso grundlegend für jede spätere Diskussion des moellerschen Werkes ist. Schwierskott ging es in erster Linie um den „Nachweis der zentralen, paradigmatischen Bedeutung Moellers für die gesamten Wiederbelebungsversuche des konservativen Gedankens unter der Weimarer Republik“.38Eine vergleichsweise umfangreiche Analyse der frühen literaturkritischen und kulturhistorischen Arbeiten Moellers wird dabei dadurch gerechtfertigt, dass Moeller „trotz seiner zahlreichen polemischen Ausfälle gegen das Literatentum“ selbst immer „ein Literat geblieben“39 sei. Eine frühe politisch-didaktische Intention wurde von Schwierskott vor allem in den Schriften zum Theater (Das Varieté (1902) und Das Théâtre Français (1905)) erkannt. Demnach zeige sich bereits in Das Varieté jenes für Moeller typische „gegen Konventionen der Kunst und Gesellschaft protestierende [...] Bestreben [...], welches in der einseitigen, von Friedrich Nietzsche abgesehenen Verherrlichung des Lebens als eines ungebrochenen 34 35 36
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Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, Bd. 1, S. 4. Vgl. ebd., S. 16 ff. Besonders hervorzuheben sind hier die Aufsätze Stefan Breuers: Arthur Moeller van den Bruck: Politischer Publizist und Organisator des Neuen Nationalismus in Kaiserreich und Republik, in: Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Politik, Stuttgart/München 2000, S. 138–150; Moeller van den Bruck und Italien, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 84, Köln u.a. 2002, S. 413–437; Religion und Mystik bei Moeller van den Bruck, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 32. Jg., Heft 2, April–Juni 2000, S. 289–298; Welf wie Waiblingen – Moeller van den Bruck und der ‚Preußische Stil‘, in: Revue d’Allemagne, 34. Jg., Heft 1, März 2002, S. 3–17. Ich zitiere den gekürzten und überarbeiteten Text von 1962 (Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962). Ebd., S. 10. Ebd., S. 38.
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vitalen Instinktes“40 gipfelte. Darüber hinaus dokumentiert die Arbeit, wie der literarisch-künstlerische Gegenstand allmählich hinter die politisch-didaktischen Anliegen zurücktrat. Schwierskott vermochte es jedoch nicht, die politisch relevante Transformation ästhetischer Positionen in ihrer ganzen Breite darzustellen, wie auch sonst die Analyse der Schriften Moellers häufig nicht in die Tiefe geht. Zu der immerhin 745 Seiten starken Italienischen Schönheit heißt es lediglich, es sei ein „Werk, das die italienische Malerei, Plastik und Architektur von den etruskischen Anfängen bis zum Ende der Renaissance als Lebensausdruck eines Volkes und des von ihm bevölkerten Raumes zu deuten versuchte“.41 Der Wert von Schwierskotts Darstellung liegt somit in ihrer Quellenarbeit, in der Darstellung der organisatorischen und ideellen Basis der Ring-Bewegung sowie in der Beleuchtung von Moellers politischen Positionen. Darüber hinaus gebricht es dieser Arbeit vor allem an einem hinreichenden Abstand zu dem verhandelten Gegenstand. Da man liest, dass Moeller ein „Musterbeispiel für die Ohnmacht des guten Willens in der Politik“42 sei, wird deutlich, dass die Arbeit in problematischer Nähe zum „Antidemokratischen Denken“ steht. Mit Bezugnahme auf die von ihm geschriebene Geschichte des Jungkonservatismus heißt es bei Schwierskott folglich: „Ich sah meine Aufgabe darin, das Schicksal einer Gruppe zu zeigen, die einen Weg suchte, der an Kommunismus, Nationalsozialismus und der Herrschaft der Parteifunktionäre vorbeiführen sollte.“43 So gehört auch Schwierskott zu jenen Autoren, die jegliche Affinitäten der Jungkonservativen zum Nationalsozialismus bestreiten. Das dritte Reich (1923) erscheint als das Werk eines Idealisten, dessen „Reichskonzeption [...] für eine ausschließlich politische Betrachtung nicht faßbar“44 sei. Während Schwierskott trotz gegenteiliger Bekundungen im Grunde also eine „Apologie und nachträgliche Rehabilitation Moeller van den Brucks und des Jungkonservatismus“45 geschrieben hat, bemühte sich Fritz Stern in Kulturpessimismus als politische Gefahr (1963), die geistige Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu skizzieren. Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Moeller van den Bruck hätten in dieser Vorgeschichte des Nationalsozialismus vor allem deshalb einen herausragenden Platz, weil sie mit ihren Schriften jene „Enttäuschung über die Kultur“46 des Deutschen Reiches befördert haben, die nach Stern das politische Bewusstsein der Deutschen nachhaltig geprägt und ihre Ablehnung „von der Modernität – von Liberalismus, Säkularismus und Industrialismus“47 gestärkt habe: „[...] sie nährten die Ableh40 41 42 43 44 45
46 47
Ebd., S. 26. Ebd., S. 18. Ebd., S. 162. Ebd., S. 7. Ebd., S. 108. Ebd., S. 7. Dass Schwierskott den Jungkonservativen nicht hinreichend kritisch gegenüberstand, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Alexander Ringleb, der Finanzbeauftragte des Juni-Klubs (vgl. 7.2.2.), den Druck von Schwierskotts Dissertation finanzierte (vgl. ebd., S. 8). Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 18. Ebd., S. 18.
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nung der modernen Gesellschaft [...] und deren Ressentiment gegen die Unzulänglichkeiten ‚westlicher‘ Ideale und Institutionen, woraus der Demokratie in Deutschland großer Schaden erwuchs.“48 Dieser geistesgeschichtliche Zugang bedingt, dass Stern sich schwerpunktmäßig mit Moellers gesellschaftskritischen Äußerungen befasste, wobei er in der Angst vor den „nach der Reichsgründung weiterbestehenden ungelösten Gegensätzen innerhalb der deutschen Gesellschaft“ – Stern nennt den Partikularismus der Länder, die konfessionellen Streitigkeiten und die soziale Frage49 – die Triebkraft von Moellers publizistischer Produktion erkannte. Stern zufolge war Moeller der Auffassung, dass „die deutsche Gesellschaft“ am stärksten „durch die Unzufriedenheit des Einzelnen, durch das Unbehagen, das [...] schließlich alle Deutschen ergreifen würde“50 bedroht sei. Ferner verknüpfte er Moellers Gegnerschaft zum die Partikularisierungsprozesse befördernden Liberalismus mit der zuvor diagnostizierten kulturkritischen Haltung.51 Daher verkannte Stern, dass sich Moellers Kritik vor allem auf das defizitäre nationalästhetische Bewusstsein der Deutschen sowie auf das „offizielle Deutschland“52, nicht aber auf die moderne Kultur bezog. Entschieden widersprochen werden muss auch der Behauptung, dass „Moellers Weltanschauung [...] der Gegenwart feindlich“53 gewesen wäre, wie es auch wenig glücklich ist, Moeller als „Kulturpessimisten“ zu apostrophieren. Denn die Gegnerschaft der unter diesem Begriff subsumierten Autoren galt eher dem, was ihre spätere Leserschaft Zivilisation zu nennen gewohnt war54, während sie der mit Kunst synonym gesetzten Kultur positiv gegenüberstanden. So vertrat Julius Langbehn in Rembrandt als Erzieher (1890) die Ansicht, dass vor allem Wissenschaft und Intellektualismus die deutsche Kultur zerstört hätten. Im „Spezialismus“, urteilte der promovierte Archäologe Langbehn, spreche sich „der demokratisirende, nivellirende, atomisirende Geist des jetzigen Jahrhunderts aus“.55 Der Textverlauf bestätigt dann, dass Langbehn sich von der Kunst eine 48 49 50 51
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55
Ebd., S. 4. Ebd., S. 239. Ebd. Vgl. auch Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 262 Stern formuliert: „Wie Lagarde [...] sah Moeller den Erzfeind im Liberalismus: es gab keinen Mißstand, für den der Liberalismus nicht verantwortlich war, keine Gefahr, die er nicht heraufbeschwor. Zwar verschwieg Moeller, was er unter Liberalismus verstand, aber offensichtlich war für ihn der Begriff ‚liberal‘ gleichbedeutend mit unaufrichtig, verkrüppelt, schwach, rückratlos, hilflos, tolerant, materialistisch, demokratisch und korrupt. Mit vielen seiner Zeitgenossen griff Moeller den Liberalismus nicht als politische oder soziale Philosophie, sondern als Lebensstil und Geisteshaltung an.“ (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 239). Ebd., S. 246. Zum Topos vom „offiziellen Deutschland“ vgl. 3.2.3. und Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 78. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 235. Zur Geschichte der Antithese von „Kultur“ und „Zivilisation“ vgl. Jörg Fisch, Zivilisation, Kultur, in: Geschichtliche Grundbegriffe (hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck), Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774, bes. S. 751 f. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 16. Aufl., Leipzig 1890, S. 1.
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Lösung der soziokulturellen Krise versprach: „Je mehr die Wissenschaft sich, innerhalb der ihr gezogenen Grenzen, nach einer künstlerischen Richtung hin entwickelt, desto eher wird sie dem ihr jetzt anhaltenden Fluch des Spezialismus entgehen.“56 Kunst schien somit ein hochbesetztes Gegenbild zu den vermeintlichen Einseitigkeiten der Moderne57: „da die Deutschen in ihrer Bildung an dem Spezialisten- und Schablonenthum kranken, kann nur der ausgesprochene Universalist und Individualist: Rembrandt ihnen helfen: Er kann sie zu sich selbst zurückführen.“58 Mit Stern könnte man gegen einen derartigen Kunst- oder Kulturoptimismus59 zwar einwenden, dass sich Langbehns Utopie in sozialökonomischer Hinsicht an einer idealisierten „mittelalterlichen Gemeinschaft“60 orientierte, doch bedeutet seine rückwärtsgewandte Kritik an zeitgenössischer Wissenschaft und Politik noch lange nicht, dass Langbehn der Zukunft grundsätzlich pessimistisch entgegengesehen hätte. Sein reformistischer Ansatz lässt, wie Stern selbst einräumt, Langbehn als einen „Propheten der Erneuerung“61 erscheinen. Vollends fragwürdig wird der Begriff des „Kulturpessimismus“ in den Moeller gewidmeten Kapiteln. So war Moeller im Gegensatz zu Paul de Lagarde und Langbehn keineswegs technik- und industriefeindlich. Auch hat er im Unterschied zu diesen ein positives Verhältnis zu moderner und modernster Kunst. Moeller, so Stefan Breuer in einem ersten bemerkenswerten Aufsatz, sei vielmehr ein „Futurist avant la lettre, dem es auf vielen Gebieten gar nicht modern genug zugehen konnte“.62 Dies wird von Stern jedoch übersehen. Nicht nur, dass Moeller sich explizit gegen den „moderne[n] Kulturpessimismus“63 wandte, Stern selbst bestätigt, dass der Verfasser der Zeitgenossen (1906) „das Fehlen großer Interpreten der Modernität auf geistigem und künstlerischem Gebiet“64 beklagt habe. In dieser Arbeit soll nun gezeigt werden, dass man Moeller nicht gerecht wird, wenn man ihn mit Etiketten wie Kulturkritik oder Kulturpessimismus belegt oder sein gesamtes Schaffen unter ideologische Begriffe wie denjenigen der konservativen Revo56 57 58 59
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Ebd., S. 58. Vgl. Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 438 ff. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 16. Aufl., Leipzig 1890, S. 9. Der Begriff des Kulturoptimismus ist, soweit ich das zu überblicken vermag, von Stefan Breuer in die neuere Forschung eingeführt worden (vgl. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 5). Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 166. Ebd., S. 188. Stefan Breuer, Arthur Moeller van den Bruck: Politischer Publizist und Organisator des Neuen Nationalismus in Kaiserreich und Republik, in: Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Politik, Stuttgart/München 2000, S. 138–150, hier 144. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 12. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 235.
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lution subsumiert. Moeller hatte im Gegenteil eine äußerst emphatische Auffassung von dem, was er als Kultur gelten ließ. Soweit er Kritik übte, galt sie der kulturlosen Zivilisation, weshalb im Folgenden die geistesgeschichtliche Position des Zivilisationsskeptikers und Kulturoptimisten Moeller neu beschrieben werden soll. Hilfreich erscheint dabei eine Zuordnung zum Lager der Ästhetischen Opposition, wie es zuerst von Gert Mattenklott fixiert worden ist65, weil damit noch die Nachkriegsschriften Moellers als Nachhall der im Fin de siècle bzw. Zeitalter der Nervositä (Joachim Radkau) erlebten Krisenstimmung gedeutet werden können. In diesem Sinne nimmt die Untersuchung Moellers Texte als intellektuell diskursive Äußerungen ernst, betrachtet sie als Bestätigung eines über die Verwerfungen des Wilhelminismus und die historische Zäsur des Ersten Weltkriegs und der Revolution hinweg reichenden biographisch, geistesgeschichtlichen Kontinuums, an dessen Ende noch immer die prekäre sozialpsychologische Disposition des wilhelminischen Übergangsmenschen, seine nationalästhetische Obdachlosigkeit und seine Identitätssuche unter Verwendung einer die modernen Partikularisierungstendenzen problematisierenden Metaphorik thematisiert werden, deren Schlüsselbegriff der des Stils ist.66 Dabei soll unter anderem auch der Nachweis erbracht werden, dass der durch den Glauben an die integrative und repräsentative Kraft der ganzheitlichen Form bestimmte Stilbegriff auch Moellers Liberalismuskritik sowie seine Konservatismuskonzeption bestimmt hat. Für die eine solche Vorgehensweise legitimierende Zuordnung zum Lager der „Ästhetischen Opposition“ spricht, dass sich Moeller bereits in seinen ersten Veröffentlichungen scharf von der Kultur des 19. Jahrhundert absetzte, welches er von Lebensangst, Dekadenz und einer „epidemischen Erkrankung des Vitalitätsnerves“67 beherrscht sah. Er geißelte dessen „müden Pessimismus“68, den dumpfen, lähmenden Fatalismus69 und lobte Autoren wie Dehmel oder Nietzsche, weil sie einen neuen Glauben, einen „Regenerationsidealismus“70 begründet hätten. Dieser neue Mythos stände zum Leben in allen seinen Manifestationen, einschließlich der „grandiose[n] Ausbildung der Industrie“71, in einem Verhältnis der unbedingten Bejahung. Pessimismus erschien ihm Ausdruck „nervischer Schlappheit“72, als Unfähigkeit, mit dem Tempo der Technik mitzuhalten. Weit davon entfernt, in die Klagen eines Lagarde
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Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1985. Verfahrensweise und/oder Ergebnisse der nachstehenden Untersuchung berühren sich und werden in den einzelnen Zügen bestätigt von einigen Veröffentlichungen die in den letzten Jahren erscheinen sind. Das sind neben den schon genannten Aufsätzen Stefan Breuers, die Dissertation Berthold Petzinnas sowie die oben bereits erwähnte Arbeit Balistreris. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin u. Leipzig 1902, S. 420. Ebd., S. 420. Vgl. ebd., S. 427. Ebd., S. 435. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 28. Ebd., S. 14.
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über den Verlust der Ganzheit und Harmonie einzustimmen73, feierte Moeller in Das Varieté (1902) die modernen „Lionardomenschen“: „[...] wessen Blick die feurigen Schlangen, die mit rasender Eile in ihrem gewaltigen Netze alltäglich Stadt und Land und Erdteile verbinden, in einer symbolischen Einheit zu sehen vermag, wer in unseren Hüttenwerken einen ungeheuren Triumph der Arbeit empfindet und im Surren des Telephons mehr hört als ein blosses Geräusch, den kosmischen Ton einer Weltkraft vielmehr, den Erdkraft in den Dienst der Menschheit gezwungen [...] – der weiß, dass es keine anmassende Lästerung ist, uns so zu nennen: Lionardomenschen.“74
Auch wenn eine revolutionäre Spitze gegen den bestehenden Staat in den Vorkriegsschriften Moellers noch ganz fehlte – sie formierte sich erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und kehrte sich dann mit aller Schärfe gegen die Weimarer Republik75 – sind die rebellischen Töne in Das Varieté kaum zu überhören, auch weil im Porträt des als Antipoden des „Lionardomenschen“ auftretenden „Restmenschen“ – eine Spitze gegen den Kaiser, den Bauherrn des Berliner Doms, spürbar ist. Moeller rief diesem „Restmenschen“ zu: „Tretet ab! Es wäre besser, [...] ihr hättet nie gelebt! wie es besser und würdiger gewesen wäre, [...] man hätte nicht um das Jahr 1900 in der Hauptstadt des Deutschen Reiches die beschämende Baukastenarchitektur des Berliner Doms, das Musterbeispiel falsch verbrauchter Kunst Finanz und allgemeiner Kulturkraft [...] hingesetzt.“76
Da hier offensichtlich das Ästhetische zum Medium eines sozialen und politischen Protestes wurde, Moeller das Zweite Kaiserreich als eine „Epoche des Bureaukratismus“77 und der „falschen und übertriebenen Kultur“78 kritisierte, wird er als Angehöriger einer Ästhetischen Opposition identifizierbar; zumal er dem „offiziellen Deutschland“ in Die Zeitgenossen (1906) bescheinigte, nur eine „juridische und militärische Kultur“ zu besitzen, die „nach der schöpferischen Seite ohne jeden Zusammenhang mit der Nation“ sei. 79 Mit Gert Mattenklott knüpft solche politische Nutzung des Ästhetischen an eine seit dem 18. Jahrhundert bestehende Tradition an: Seitdem stelle die Idee des ästhetischen Menschen „eine Provokation von gesellschaftlich an den Rand gedrängten oder sich im sezessionistischen Protest abspaltenden Schichten, die für ihre reale Ohnmacht Entschädigung und Kompensation, Trost und Ersatz, Rückzugspositionen und
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Vgl. Paul de Lagarde, Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand, Berlin, Göttingen 1886, S. 138 f. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 13 f. Eine seiner bekanntesten Sentenzen lautet: „Die Republik ist die Summe der Dinge, durch die wir hindurch müssen“. (Moeller van den Bruck: Konservativ, Ring-Flugschriften, Berlin 1923, S. 22). Ebd., S. 16 f. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 140. Moeller van den Bruck, Wir sind ein Volk für den Ernstfall, in: Der Tag, Berlin 19.08.1914. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 78.
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Angriffsstellungen suchen“, dar.80 So sind mit Charles Baudelaire die Augen des Dandy „vor allem auf Distinktion gerichtet“81 und somit der Tendenz der Nivellierung nach unten entgegengesetzt. Weiter heißt es zum Dandyismus: „Es ist eine Art Kult des eigenen Ich, es ist die Freude, Staunen zu erzeugen, und die hochmütige Befriedigung, selbst niemals erstaunt zu sein.“82 Allgemein wies Baudelaire dem Dandyismus seinen Ort in einer Transformationsperiode zu, in der seine Oppositionshaltung darauf gerichtet sei, die Trivialität zu bekämpfen und zu zerstören: „Der Dandyismus erscheint vornehmlich in Übergangsepochen, in denen die Demokratie noch nicht allmächtig und die Aristokratie erst halb erschüttert und heruntergekommen ist. In der Wirrnis dieser Epochen können einige deklassierte, angewiderte, müßiggängerische, aber kraftvolle Männer den Plan fassen, eine neue Art Aristokratie zu begründen, die um so schwerer zu brechen sein wird, je mehr sie auf den kostbarsten Gaben, unzerstörbarsten Fähigkeiten basiert und auf göttlichen Gaben, mit denen Geld und Arbeit sich nicht messen können. Der Dandyismus ist die letzte Verwirklichung des Heroismus in Zeiten des Verfalls.“83
Diese Selbsterhaltung und Schutz gewährleistende, stoische Komponente beeinflusste ferner das in der „ästhetischen Opposition“ vertretene Ideal der „Haltung“. Einen Hinweis auf die ethische Dimension des Ideals findet sich in den Schriften Georg Lukács‘. Dieser wies der Haltung die zentrale Stelle in der Problematik des Intellektuellen vor dem Hintergrund von Bildungszerfall und Werterelativismus zu: „Die Frage geht aufs Zentrum: die ‚Haltungs‘-Moral ist aufs engste mit den seelisch-geistigen Lebensbedingungen des besten Kulturträgers, der ehrlichsten Intellektuellen des wilhelminischen, der verpreußten Deutschland verbunden.“84 Kennzeichnend für diese politisch machtlose ästhetische Intelligenz ist somit eine in Begriffen wie „Stil“, „Haltung“85, „Geste“ oder „Gestalt“86 greifbare „Habitus-Sehnsucht“87, die letztlich einem sozial-ethischen Verbindlichkeitsrahmen kultureller Produktion galt: „Diese Sehnsucht nach einem kollektiven kulturellen Unbewußten beruht auf der Faszination durch allgemein akzeptierte ‚objektive Intentionen‘, subjektunabhängige Bedeutungsstrukturen, die über den individuellen, sei’s moralischen, sei’s ästhetischen Impuls so erhaben sind, daß sie deren Inhalte (etwa im Sinne einer Reinigung) bestimmen können [...].
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Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1985, S. 322. Zitiert nach Franz Schonauer, Stefan George, Reinbek 1986, S. 19. Ebd. Ebd. Georg Lukács, Thomas Mann, in: Faust und Faustus. Vom Drama der Menschengattung zur Tragödie der modernen Kunst, Reinbek 1975, S. 223. Zum Stellenwert des „Haltungs“-Ideals nach 1918 vgl. auch Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 60 ff. Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1985, S. 184. Ebd., S. 337.
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Diese Struktur erzeugt aber im Verlauf eines Umschlagens von Formgestalt in Inhalte die individuellen Verhaltensweisen, Anschauungen, ethischen Orientierungen.“88
So ist diese Habitus-Sehnsucht letztlich durch die Kultur-, Status- und Orientierungskrise des Fin de siècle motiviert, da man „mit ästhetischen Mitteln ein kulturelles Unbewußtes quasi synthetisch zu erzeugen“89 versuchte. Mit anderen Worten, die „Habitus-Sehnsucht“ der randständigen Intelligenz verdankte sich einer ebenso nervösen wie tiefen Verunsicherung auch breiter Bevölkerungsschichten. Entsprechend scharf profilierte sich die oppositionelle Position: „Aus der Ideengeschichte des ‚ästhetischen Menschen‘ ist das bedingungslose Selbsthelfertum nicht wegzudenken, jene Entschlossenheit, aus der verderbt, korrumpiert oder lethargisch empfundenen Gesellschaft auszubrechen und Gemeinschaft nur mit ähnlich Entschiedenen zu suchen.“90 Hans-Ulrich Wehler etwa hat zudem die Herausbildung der Ästhetischen Opposition katalytisch beschleunigenden Unbehagen gegenüber der Kultur bemerkt, dass es auf eine Statusverunsicherung des Bildungsbürgertums zurückgehe, die wiederum durch einen Komplex durchaus rationaler Antriebsfaktoren verursacht sei. Dazu gehörten der Strukturwandel hin zur Klassengesellschaft, die Zunahme offener Interessenkonflikte, der Aufstieg des organisierten Proletariats, die Urbanisierung und Binnenwanderung, die Auflösung der bildungsbürgerlichen Honoratiorenverbände, die Veränderung der sozialen Mobilitätsbedingungen, der Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums und nicht zuletzt die wachsende Distanz zum Lebensstil der neureichen „Geldaristokratie“.91 Signifikantes Zeugnis für die mehr oder weniger unterschwellig vorhandenen bildungsbürgerlichen Ängste ist Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900). Simmel erwähnt in dem berühmten Kapitel über den Stil des Lebens „eine große Anzahl von Berufen, die keine objektive Form und Entschiedenheit der Betätigung aufweisen“ würden: „gewisse Kategorien von Agenten, Kommissionäre, all die unbestimmten Existenzen der Großstädte, die von den verschiedenartigsten, zufällig sich bietenden Gelegenheiten, etwas zu verdienen leben. Bei diesen hat das ökonomische Leben, [...] überhaupt keinen sicher anzugebenden Inhalt, außer dem Geldverdienen, das Geld, das absolut Unfixierte, ist ihnen der feste Punkt, um den ihre Tätigkeit mit unbegrenzter Latitüde schwingt.“92
Man sieht leicht: Soweit bei Simmel vorhanden, galt die Angst den Kräften des freien Marktes, dem scheinbar identitätslosen Oszilieren zwischen oben und unten, der beschleunigten „demokratische[n] Nivellierung“93, der Zerstörung der Werte als deren
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92 93
Ebd., S. 338. Ebd., S. 340. Ebd. S., 340. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd.: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 745 f. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, Bd. 6, Frankfurt am Main 1989, S. 596. Ebd., S. 613.
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Sinnbilder der „Pfennig-Bazar“94 und der Kommissionär erschienen. Angeregt durch diese Folgeerscheinungen der beschleunigten sozial-ökonomischen Transformation, begann Simmel selbst an einer Theorie der Kultur und ihrer Differenzierungen zu arbeiten. Das Individuum, so Simmel, produziere Kultur, um das Leben zu steigern, die Kultur verselbständige sich und versklave den Menschen, der sie nicht mehr integrieren könne: Kultur und Erkenntnis dienten nicht mehr dem Leben, dies sei die Tragik der Moderne.95 Motor dieser Entwicklung war der Markt, den Simmel als den Komplexität und Differenzierung erzeugenden Mechanismus betrachtete. Differenzierung, so eine der Thesen der Philosophie des Geldes, erfordere Austausch zwischen den Marktteilnehmern, der reibungslos nur mit dem Geld als allgemein anerkanntem Äquivalent funktioniere. Über dem Geldfluss entstehe die ausgebildete Tauschgesellschaft, ein quasi „naturgesetzlicher Kosmos“96, in dem alles mit allem getauscht werden könne, weil alles zur Ware geworden sei. Das Geld sei zum Maßstab aller Dinge geworden, nivelliere alles und präge allem seinen Stempel auf.97 Ferner schien Simmel das Geld, dadurch, dass es das „Tempo des Lebens“98 erhöhe und eine ewige Unruhe, ein Hin-und-her-gerissen-Werden zwischen einer Vielzahl Wünschen erzeuge, auch mit ursächlich für die chronische Unzufriedenheit der Epoche. Das Wesen dieses allgemein anerkannten Äquivalents besteht ja nicht darin, dass es einen bestimmten Wunsch erfüllt, sondern dass eine Chance zur Befriedigung beliebiger Bedürfnisse verschafft. Dadurch bietet es die materielle Basis für jenen Dauerzustand diffuser Begierden. Das verunsicherte Individuum, der „Einzelmensch“, wie er sich „im Lauf der Neuzeit aus der Geborgenheit und Selbstverständlichkeit vorgegebener sozialer Ordnungen“ herauslöste, ist am Ende des 19. Jahrhunderts „in eine beunruhigende neue Welt unsicherer Normen hineingeraten, in der nicht mehr festliegt, wo jemand hingehört, und in der man für alles selber sorgen muss und selbst verantwortlich ist“. Wachsende Selbstreflexion potenziere den psychischen Stress: „Nicht genug damit, daß der eigne Ort unsicher geworden ist: Die psychische Unsicherheit erhöht sich noch durch die Selbstbezogenheit, das orientierungslose Nachdenken über die Unsicherheit. Die instinktive Verhaltenssicherheit ist dahin.“99 Ein Mittel, diese Unsicherheit zu bewältigen, schien bis zur Jahrhundertwende die Statusdemonstration durch Kunstkonsum, der neu gewonnene Sozialstatus sollte dadurch demonstriert werden, dass Stilformen früherer Epochen, sofern diesen zugleich eine symbolische Bedeutung zugeschrieben wurde, vom selbstbewusst aufstrebenden Bürgertum in Anspruch genommen wurden. Laut Wolfgang Mommsen ging man da94 95 96 97 98 99
Ebd., S. 639. Vgl. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911), Gesamtausgabe, Bd. 14 Frankfurt am Main 1996, S. 385–414, bes. S. 391 f. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt am Main 1989, S. 593 f. Vgl. ebd., S. 593 f. Vgl. Georg Simmel, Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens, Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1992, S. 215 ff. Joachim Radkau, Das nervöse Zeitalter. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 22 f.
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von aus, dass man über die Geschichte gleichsam frei verfügen und daher die ästhetischen Symbole vergangener Kulturen nach Belieben zur visuellen Dokumentation des eigenen sozialen Status einsetzen könne100: „Die Bauherren wählten je nach gesellschaftlichem Status und Zweckbestimmung unterschiedliche Stilformen für die repräsentativen Bauten und deren künstlerische Ausstattung“, wobei „den bürgerlichen Schichten vornehmlich der Rekurs auf mittelalterliche Kunstformen und zunehmend auf solche der italienischen Renaissance“101 vorbehalten blieb. Auch in der zunehmend opulenten Innenausstattung wurde bewährten Stilformen die Präferenz gegenüber Neuem gegeben. Historismus wurde zur steingewordenen Statussicherung des zu Wohlstand und gesellschaftlichem Ansehen aufgestiegenen Bürgertums. Die Repräsentanten dieses neuen Bürgertums konkurrierten damit vielfach mit den traditionellen Eliten, namentlich der Aristokratie, und vermochten diese nicht selten auszustechen. Auch hier war das historische Zitat ein beliebtes Mittel, den eigenen Sozialstatus zu untermauern. Das Problem dabei war, dass es alsbald jedermann oder doch den Angehörigen der gehobenen Schichten freistand, nach Belieben ästhetische Symbole und historische Artefakte als Symbole ihres Sozialstatus in Anspruch zu nehmen und das eigene Haus oder die eigene Wohnung mit ästhetisch aufwendigem Mobiliar auszustatten, das historische Stilformen nachahmte und diese zuweilen sogar in manieristischer Übersteigerung verwirklichte.102 So ist der Aufstieg und Fall des Historismus sicherlich auch ein Stück „Nervengeschichte“.103 Er suggerierte eine Überfülle an Geborgenheit und ein Fortschreiten zum Altvertrauten. Aber je üppiger er wurde, desto mehr offenbarte psychologischen Tücken. Die Ruhe, die er verheißen hatte, verwandelte sich durch die Akkumulation immer neuer alter Stile in Unruhe; die Wohnzimmer bekamen durch das Überquellen der Ornamente etwas Erstickendes. Friedrich Nietzsche hatte zweifellos diese Unruhe im Blick, als er in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1873) formulierte: „Die Cultur eines Volkes als der Gegensatz jener Barbarei ist einmal, wie ich meine, mit einigem Rechte, als Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes bezeichnet worden.“104 Seinen auf auch auf nationale Identitätsstiftung abzielenden Stilbegriff eignet, dass er im Lager der Ästhetischen Opposition zusammen mit benachbarten Begriffen wie dem der „Haltung“, der „Geste“, der „Gestalt“ Wunschvorstellungen organisierte und Protestpotentiale wider den Historismus und die wilhelminische
100 101 102 103 104
Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, Frankfurt am Main 2000, S.108. Ebd., S. 104 f. Vgl. ebd., S.108. Joachim Radkau, Das nervöse Zeitalter. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 270. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kritische Studienausgabe (hg. von Giorgio Colli und Mazzion Montinari), München 1999, Bd. 1, S. 274 f.
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Kultur entfalten half.105 Wie Mattenklott anmerkt, sind neben der Forderung nach Ausbildung eines neuen Stils auch die Forderung nach Konstruktion der „Gestalt“ und „nach Zeichnung eines neuen ‚Bildes‘ vom Menschen“ als Chiffren zu verstehen. Von diesen Begriffen heißt es, sie seien „Wegweiser zum Verständnis einer epochalen Einheitlichkeit des Fin de siècle samt seiner bis in die zwanziger Jahre langenden Ausläufer“.106 So bezog sich auch Simmel auf Nietzsche und dessen Kritik des Historismus, als er den „Griechen und manchen Epochen des Mittelalters“ eine beneidenswerte „Fraglosigkeit der Lebensgrundlage“ attestierte, wie sie so in der Moderne nicht mehr gegeben sei, da man „auf allen Gebieten über eine große Anzahl von Stilen“ verfüge.107 Schließlich schrieb er gerade dem Stil und der Stilisierung eine von den Nöten des Subjektivismus entlastende, objektivierende Funktion zu: „Es ist, als ob das Ich sich doch nicht mehr allein tragen könnte oder sich wenigstens nicht mehr zeigen wollte und so ein generelles, mehr typisches, mit einem Worte: ein stilisiertes Gewand umtut. [...] die stilisierte Aeußerung, Lebensform, Geschmack – alles dies sind Schranken und Distanzierungen, an denen der exaggerierte Subjektivismus der Zeit ein Gegengewicht und eine Hülle findet.“108 Wohnungseinrichtung und Kleidung sollten „das Gefühl von Sicherheit und Ungestörtheit“ vermitteln, „denn in seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, [...] die damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen [...] Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muß“.109 Wilhelm Worringer, der Georg Simmel zu deren „heimlich-unbewußte[n] Geburtshelfer“110 seiner wirkungsmächtigen Dissertation erklärte111, ging sogar noch einen Schritt weiter. In Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908) wurde nicht, wie bei Simmel, die „Versöhnung“112 mit dem Kosmos der Tauschgesellschaft, sondern dessen Negation empfohlen. „Stil“ figuriert in Worringers den Aufstieg der nicht gegenständlichen Malerei begleitenden Schrift als eine Kategorie des zeitlos absoluten Kunstwollens, die auf der Ebene des Produkts mit 105
106 107 108 109 110 111 112
Vgl. hierzu die Überlegungen von Hans Ulrich Gumbrecht, Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffes; Georg Bollenbeck, Stilinflation und Einheitsstil, in: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskursbegriffes, Frankfurt am Main 1986. Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1985, S. 184. Georg Simmel, Das Problem des Stiles, in: Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1993, S. 383. Ebd., S. 382. Ebd., S. 380. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Dresden 1996, S. 9 f. Vgl. Claudia Öhlschläger, Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005. Georg Simmel, Das Problem des Stiles, in: Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1993, S. 381.
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dem „Abstraktionsdrang“ äquivalent sei113, wobei Worringer, da er den Abstraktionsdrang als Folge eines „psychischen Verhalten dem Kosmos gegenüber“114 betrachtete, auf Simmels Analyse der Kulturwirkung des Geldes Bezug nahm. Worringer zufolge äußere sich die von der „verwirrenden Welt der Erscheinungen“115 ausgelöste „große[...] innere[...] Beunruhigung des Menschen“116 in einer „geistige[n] Raumscheu“ sowie in dem Bemühen „das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf dieser Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden“.117 Diese Kontextualsierung bestätigt: Die Entdeckung des Abstraktionsdranges war als gegen den vom Geld durchfluteten „Kosmos“118 gewendetes Kunstwollen eine Art schöpferischer Vergeltungsakt119, eine mehr oder minder bewusste Reaktion auf die Gewalterfahrung des Marktes, die Tragödie der Kultur und die Verunsicherung des sich von der Geldwirtschaft bedroht fühlenden Bildungsbürgertums. Im Klima der „Kulturkrise“ entwickelte der bildungsbürgerliche Aufsteiger Worringer das Axiom, dass der Mensch ästhetische Beglückung ursprünglich, in reduzierten, geometrischen Formen gefunden habe. In Angst vor dem unergründlichen Kosmos seien Objekte der Außenwelt aus dem Naturzusammenhang herausgerissen und aus diffuser Lebensabhängigkeit und Zeitlichkeit gelöst worden.120 „Stil“ wurde darüber als Gegensatz zum „Naturalismus“ und Ausdruck eines psychischen Prozesses gefasst, der das einzelne, einer als bedrohlich wahrgenommenen Umwelt entstammende Ding von aller Willkür reinigen möchte und von allem, „was Leben und Zeitlichkeit an ihm ist“121, unabhängig zu machen versuchte und zwar durch dessen Darstellung in der Ebene, seine „Verflächigung“, und durch die Überführung des Naturvorbildes in geometrisch-starre, kristalline Linien.122 Nicht objektivierende Naturnachahmung, sondern Entkörperlichung und Enträumlichung wurden hier zu den Bestimmungsmerkmalen eines puristischen „Stils“, bei dessen Betrachtung noch der moderne Mensch „von seiner Differenzierung ausruhen“ könne.123 In der Entgegensetzung dieses künstlichen „Stils“ zum „Naturalismus“ 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123
Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, 3. Aufl., München 1911, S. 37. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Dresden 1996, S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe Bd. 6 Frankfurt am Main 1989, S. 594. Vgl. Claudia Öhlschläger, Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005, S. 18. Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Dresden 1996, S. 51, 56, 75 f. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 72.
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werden jene zeitkritischen, aufs Monumentale gerichteten Momente sichtbar, die sie für den Expressionisten Walter Serner interessant werden ließ. Dieser formulierte: „Der Naturalismus ist der Ausdruck der lebensfrohen Zeit, der Stil die Form der Lebensflucht. Dort die kokettierende Selbstbestärkung im Raum, hier die asketische Suche nach Ewigkeitswerten. Naturalismus ist erbärmliches Behagen, Stil Größe.“124 Von dem bei Worringer und Serner anklingenden demiurgischen Pathos zeugen nach Darstellung Berthold Petzinnas125 auch die weniger radikalen Stellungnahmen des zeitgenössischen Kunstkritikers Karl Scheffler, der als „Papst der antwilhelmischen Moderne“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist.126 Scheffler, für den „Jugend [...] das Schlagwort“127 der Epoche war, charakterisierte den über den ästhetischen Bereich hinausgehenden Anspruch des Jugendstils und rückte ethische und politische Zielvorstellungen in den Mittelpunkt. Dabei schienen der Stilbegriff als Vehikel für eine vom Ästhetischen ausgehende Gesamtreform: „Für uns war der Kampf um die Form ein Ereignis, das den ganzen Menschen beanspruchte [...]. Denn als die Generation jener Zeit vom ‚Neuen Stil‘ sprach, dachte sie sich eine verwandelte Welt mit neuer Gesittung, sie dachte an Ziele, für die inzwischen Blut geflossen ist und Revolutionen entfesselt worden sind.“128 Der „Neue Stil“ war mithin eine Chiffre, die den Anspruch auf eine umfassende Neugestaltung der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Während des Ersten Weltkriegs bezeichnete Karl Scheffler den vollen Gegenstand dieser weithin etablierten Redeform: „Mit Hilfe von Stilbegriffen wird darüber gestritten, was schön und häßlich sei; wenn man aber schön und häßlich sagt, so meint man im Grunde wahr und unwahr, sittlich und unsittlich, stark und schwach. Die mit prunkvollen Wortetiketten verzierten Stilbegriffe verraten [...] die Sehnsucht nach einer großen Einheit, den Vollkommenheits-Ehrgeiz der Zeit.“129 Vor dem Hintergrund der Funktion der Stilmetaphorik als einer auf die gesamtgesellschaftliche Krise Bezug nehmenden Diskursform erschließt sich auch die Bedeutung von Dolf Sternbergers Hinweis auf das spezifische „Pathos“ der künstlerischen Avantgarde, welches aus der Ausweitung des künstlerischen Schöpfungsakts auf das ganze gesellschaftliche Feld entsprungen sei: „Die revolutionären Künstler von 1896 wollten nicht betrachtete Stile mehr genießend und sich drapierend nachbilden, sie wollten selbst – und das ist eben dieses Pathos, das sie einigt – solche Einheit der Formen, solchen innigen Zusammenhang aller Lebenserscheinungen, kurz einen neuen, eigentümlichen, in keiner Weise schon vorgegebenen und vorgeformten Stil aus sich selber schaffen.“130 Die vom Ästhetischen ausgehende Stilschöpfung wird 124
Walter Serner, Kunst und Gegenwart, in: Die Aktion, 3. Jg., Nr. 25, Berlin 18.06.1913, S. 614. 125 Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 21. 126 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, München 1998, Bd. 1, S. 730. 127 Karl Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht, Leipzig u. München 1946, S. 53. 128 Ebd., S. 12. 129 Karl Scheffler, Was will werden? Ein Tagebuch im Kriege, Leipzig 1917, S. 139 f. 130 Dolf Sternberger, Jugendstil, Begriff und Physiognomik, in: Ders.: Über Jugendstil, o. O. 1977, S. 28.
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demnach bei diesen Künstlern als dezisionistischer Akt erkennbar, der sich auf das gesamte gesellschaftliche Feld erstrecken sollte. Das kulturoptimistische Pathos verdankte sich dabei dem der Beliebigkeit der pluralistisch-unverbindlichen „Stile“ entgegengesetzten Ordnungsentwurf, umso mehr, als das „Fehlen einer allgemeinverbindlichen Form zunehmend als Mangel empfunden“ wurde. 131 Dass insbesondere in Deutschland „die Formlosigkeit [...] zur Quelle der Unsicherheit“132 werden konnte, man einen den Einzelnen wie die Gesamtheit des Volkes einer allgemein verpflichtenden Idee unterstellenden Einheitsstil133 herbeisehnte, hat unter anderem damit zu tun, dass in breiteren Bevölkerungsschichten die „innere Einheit“ als noch nicht hinreichend realisiert angesehen wurde. Zwar gab es für eine gegenteilige Ansicht gewichtige Zeugen, wurde der Sedantag – in der Zeit des Kulturkampfes für viele Katholiken noch ein „Satanstag“ – seit den 1890er Jahren auch in der katholischen Welt gefeiert und hatte sich die deutsche Sozialdemokratie seit dem Fall des Sozialistengesetzes ihr revolutionäres Pathos ritualisierend deutlich dem Reformismus zugewandt, doch war es immerhin Max Weber, der in seiner akademischen Antrittsrede (1895) meinte, dass Bismarcks Lebenswerk unvollendet und die „innere[...] Einigung der Nation“134 ausgeblieben sei. Ursächlich hierfür sei das defizitäre nationalpolitische Bewusstsein vor allem des deutschen Bürgertums, seine mangelnde politische Reife, die verhindere, dass entschlossen das beschlossen und getan werde, was im Interesse der Erhaltung der Machtstellung des deutschen Nationalstaates im Osten geboten sei: die Schließung der deutsch-polnischen Grenze für polnische Wanderarbeiter, um der polnischen Einwanderung ein für alle Mal den Weg zu verlegen, und die Parzellierung großer Teile des Großgrundbesitzes zugunsten der Ansiedlung deutscher Bauern, die vorwiegend nicht für den Markt produzieren und demgemäß weniger krisenanfällig sein würden. Zu Webers Schlussfolgerungen gehörte dabei unbedingt auch die Forderung nach einer „politischen Erziehung“135 nicht nur des Bürgertums, sondern auch der Arbeiterklasse. Die „deutsche Politik“, so Weber weiter, müsse wieder „durchweht“ sein „von der ernsten Herrlichkeit des nationalen Empfindens“.136 Symptomatisch für die durch die „nationale Formlosigkeit“ mobilisierten Ängste ist ferner die enorme Popularität Julius Langbehns. Dieser hatte in seinem den Aufstieg des integralen Nationalismus begleitenden Rembrandt-Buch137 den Maler als einen Idealtyp des „Niederdeutschen“ gezeichnet, dessen bäuerliche Tugenden die 131 132 133 134 135 136 137
Joachim Radkau, Das nervöse Zeitalter. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 328. Ebd., S. 328. Vgl. Richard Hamann, Jost Hermand, Stilkunst um 1900, München 1973, S. 212. Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), in: Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 4.2, Tübingen 1993, S. 567. Vgl. Ebd., S. 570. Ebd., S. 574. Vgl. Gerhard Göhler u. Ansgar Klein, Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, in: HansJoachim Lieber (Hg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 632 f.
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kulturelle, politische und militärische Stärke des Volkes ausmachten. Ein künstlerischer „Stil“ sei demnach auch „kein Kleid, das man aus- und anzieht“, sondern „ein Stück vom Herzen des Volkes selbst“. Er könne, wie Langbehn am Beispiel Goethes demonstrierte, „sich nur aus der Persönlichkeit und zwar aus dem tiefsten innersten Keime der Persönlichkeit eines Volkes entwickeln“.138 Schließlich sei dessen Iphigenie „im Grunde nicht griechischer [...] als die griechischen Reifrockdamen Racine’s; es ist eine Deutsche, die sich griechisch geberdet; aber sie würde besser thun, sich deutsch zu geberden. Dann würde sie wirklich von Stil von deutschem Stil durchdrungen sein.“139 Binnen kurzem wurde Rembrandt als Erzieher (1890) zum Kultbuch, nicht nur der völkischen Bewegung, sondern auch gemäßigter Lebensreformer und ist also ein signifikantes Zeugnis für die Nachfrage nach einem Nationalstil. Zugleich deutet sich in dem Zitierten an, dass sich das deutsche Nationalgefühl und mithin auch der Wunsch nach einem Einheitsstil mit Vorliebe gegen Frankreich konstituierte. Beispielhaft für eine deutlich offensive außenpolitische Stoßrichtung der „ästhetischen Opposition“ sind die Ausführungen Oskar A. H. Schmitz‘. Dieser zunächst dem George-Kreis nahestehende Literat schrieb am 02.08.1897 in sein Tagebuch: „Ich entwickle mich durch den Antagonismus. In Paris, wie schon in Rom werden in mir gerade die germanischen Eigenschaften geweckt.“140 Und einige Monate früher (Paris, 15.03.1897): „Immer klarer wird mir, daß die Deutschen keine eigentliche Kultur, sondern nur hervorragende Einzelpersönlichkeiten gehabt haben.“141 In Frankreich und namentlich in Paris entdeckte Schmitz hingegen allerorten Zeugnisse einer gegen die individualistische deutsche deutlich abgesetzte, geschlossene französische Nationalkultur (Paris, 18.05.1897): „Hier ist der Stil aller gleich. Sie stammen alle aus der selben Schicht [...] einer lebt wie der andere. Empfang in literarischen Salons, Verkehr im Caféhaus, auf den öffentlichen Bällen des Quartier Latin und Montmartre. Anderes kennen sie nicht. Gereist sind sie nicht, aber stark belesen, jedoch nur französisch. Sie sind völlig durchtränkt mit einer immerhin großen Kultur. Das Leben ist für sie zu leicht, zu amüsant. Sie haben alle zu wenig gelitten.“142
Schmitz‘ Sympathien für die Kultur des „Erbfeindes“ resultierten dabei nicht zuletzt daher, dass er bei den Franzosen ein breiteres Interesse für eine dandyistisch antibürgerliche Literatur zu beobachten glaubte: „Hier war noch die aristokratische Kritik gegen das Bürgertum lebendig, wie sie zuerst die französische Romantik gepflegt hatte, besonders ihr Wortführer Theophil Gauthier, dann Barbey d’Aurévilly,
138 139 140 141 142
Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 16. Aufl., Leipzig 1890, S. 27. Ebd., S. 30 f. Oskar A. H. Schmitz, Das wilde Leben der Boheme. Tagebücher Bd. 1 1869 1906 (hg. von Wolfgang Martynkewitz), Berlin 2006, S. 115. Ebd., S. 69. Ebd., S. 104.
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Villiers de l’Isle-Adam, zuletzt Flaubert.“143 Damit korrespondiert auch die in Französische Gesellschaftsprobleme (1907) dargelegte Einschätzung, dass das „Stilproblem [....] die Franzosen mehr als die Deutschen“ beschäftige144, den Deutschen ihre Kultur weit weniger selbstverständlich und alltäglich sei als den Franzosen, ein Manko, das wie bei Moeller kurz vor Kriegsbeginn als Handicap in der außenpolitischen Konkurrenz gewertet wurde: „Eine im Innersten noch so unsichere Kultur kann keine moralischen Eroberungen machen.“145 Daher sei die nationale Formfindung eine der vorrangigen Aufgaben. Mit ihr sah Schmitz Macht und Schicksal des Reiches verknüpft: „Diesen dionysischen Drang appollinisch zu bändigen mit einer selbstgefundenen, nicht romanischen Form, das ist die Kulturaufgabe der Deutschen der nächsten Generationen. Gelingt sie, so wird die deutsche Vorherrschaft in der Welt sicher; gelingt sie nicht, so wird dieses Reich von kurzer Dauer sein.“146 Noch hätten vor allem die Franzosen die Fähigkeit, das, was sie wollten, auch Wirklichkeit werden zu lassen: „Nirgends wie in Frankreich fühlt man so sehr das Leben der Ideen.“147 Doch ergänzte Schmitz seine Beobachtung auch dahingehend, dass die „sogenannte ästhetische Kultur“ inzwischen auch in Deutschland „tief in die Mittelklasse gedrungen“ sei.148 Herausragendes Beispiel für dieser Entwicklung scheint der Dürer-Bund. Der um die seit 1887 erscheinende Zeitschrift Kunstwart herum gruppierte Bund, dessen geistiges Oberhaupt Ferdinand Avenarius, ein zeitweilig Medizin und Naturwissenschaften studierender, später auch Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte hörender Autodidakt, verfocht auf breiter Basis ein über ästhetische Gehalte vermitteltes Reformprogramm. Es fehle ein „Stil, der aus unserem Wesen hervorgegangen wäre“149, stellte der anonym gebliebene Verfasser eines ersten Überblicks über den Zustand der Künste fest, nicht ohne aber auch Anzeichen einer die vorherige „unbeschränkte Hochschätzung der Verstandesbildung“150 korrigierende „Gesundung“151 zu beobachten. Die Fortsetzung der Standortbestimmung im zweiten Heft des Kunstwartes bestätigte die publizistische Aufgabe, die die Zeitschrift übernehmen wollte: durch Veröffentlichung und Sichtung das Verständnis für eine „wahre Kunst“ und ihre Entwicklung zu fördern, die Geist und seelische Tiefe haben sollte.152 So stand die auf den nationalen Raum bezogene Bildungs- und Vermittlungsaufgabe zunächst im Vordergrund des publizistischen Selbstverständnisses. Im weiteren Erscheinungsverlauf ist dann beim Kunstwart eine sukzessive Verstärkung des nationalpädagogi143 144 145 146 147 148 149 150 151 152
Oskar A. H. Schmitz, Ergo sum. Jahre des Reifens, München 1927, S. 19. Oskar A. H. Schmitz, Französische Gesellschaftsprobleme, Berlin 1907, S. 127. Oskar A. H. Schmitz, Was uns Frankreich war, München 1914, S. 35. Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 283. Anonym (Avenarius), Unsere Künste, in: Kunstwart, 1. Jg. Heft 1, Oktober 1887, S. 2. Ebd., S. 1. Ebd., S. 4. Vgl. Carl Spitteler, Kunstfrohn und Kunstgenuss, in: Kunstwart, 1. Jg., Heft 2, Oktober 1887, S. 13 f.
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schen Moments zu beobachten. War bereits 1896 der Untertitel Halbmonatsschrift über Dichtung, Theater, Musik und bildende Kunst“ durch „Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu tun!“, ein Wort Richard Wagners, ergänzt worden, so nannte sich der Kunstwart seit 1907 Halbmonatsschau für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten und machte damit auf eine stärker kulturreformerische Orientierung aufmerksam. Diese publizistische Selbstbestimmung als ein Hüter deutscher Wesensentfaltung kulminierte schließlich in der Änderung des Titels selbst: Seit 1912 firmierte der Kunstwart unter dem Titel Kunstwart und Kulturwart. Analog hieß es in dem von Avenarius im Oktober 1899 neu formulierten kulturpolitischen Programm: „Die allerwichtigste Aufgabe der ganzen ‚Kunstpolitik‘ ist: die starken Talente aus allen Kreisen des Volkes zu entdecken und zu fördern, damit ein jeder gerade da dem Ganzen nütze, wo er als Glied am besten dienen kann. Auch das hat zur Voraussetzung ästhetische Kultur, und zwar allgemeine. So ist’s eine Wechselwirkung: sind die Genies die großen Kunstförderer, so ist eine ästhetische Kultur die große Förderin des Genies.“153
Im Sinne dieses auf eine ästhetische Erziehung des eigenen Volkes abzielenden Programmes kritisierte Avenarius neben den „Stilmoden“154 und dem „Französeln[...]“155 auch die Kunstpolitik Wilhelms II. Die Siegesallee bezeichnete er als Produkt einer „Repräsentations- und dynastische Agitationskunst“, die „mit jener Kunst, die das Fühlen und Schauen der führenden Geister der Nation mitzuteilen strebt und dadurch den Austausch und die Weiterentwicklung dieses Fühlens und Schauens bewirkt, nur die äußerlichen Mittel gemein“ hat.156 Zugleich war im Kunstwartprogramm bereits der Grundgedanke des Aufrufs Zum Dürer-Bunde! (1901) enthalten: Ausgehend von der Behauptung, dass der „natürliche Kunstsinn des Volkes“ zurückgehe, es folglich vom „ästhetische[n] Tod“ bedroht sei157, empfahl Avenarius die „Pflege des ästhetischen Lebens“158 und setzte seine Hoffnung auf das Wirken der vereinzelten kulturaristokratischen Persönlichkeit. Denn der „ästhetische Tod“ würde bedeuten „[...] daß unser Volk bis auf Vereinzelte und Vereinsamte die Sprache für all das verlernt hätte, was nicht in Begriffen sprechen kann, daß es sich für sein Fühlen und Schauen nicht mehr mit natürlicher Sicherheit zu Aug´ und Ohr mitteilen, daß sich nicht mehr ein jeder am Innenleben des anderen ergänzen, erfreuen, erheben, erziehen könnte, daß man begänne, für den Ausdruck der Phantasie und des Gefühlslebens taubstumm zu werden.“159
153 154 155 156 157 158 159
Anonym (Avenarius): Was wir wünschen, in: Kunstwart, 13. Jg., Heft 1, Oktober 1899, S. 3. Ferdinand Avenarius, Wider „Jugend“- und „Sezessions-Stil“, in: Kunstwart, 17. Jg., Heft 6, Dezember 1902, S. 422–423, hier 422. Ferdinand Avenarius, Deutsch und Französisch, 14. Jg., Heft 1, München Oktober 1900, S. 1 – 7, hier 1. Ferdinand Avenarius, Zur Rede des Kaisers, in: Kunstwart, 15. Jg., Heft 8, Januar 1902, S. 365. Ferdinand Avenarius, Zum Dürer-Bunde! Ein Aufruf, in: Kunstwart, 14. Jg., Heft 24, September 1901, S. 469–474, hier S. 470. Ebd., S. 470. Ebd.
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Gegen den so umschriebenen Desintegrationsprozeß waren die Anstrengungen des Bundes wie der Zeitschrift auf die Stärkung der gefährdeten „natürlichen Sicherheit“ gerichtet. Der identitätsstiftende Charakter einer nicht auf das „Gebiet des Ästhetischen“ beschränkten „Ausdruckskultur“ sprach aus der Forderung, „daß wir selbst entscheiden, was unserem Wesen angemessen ist und uns nicht fremde Formen aufdrängen lassen“.160 Dass die Position des Bundes zum integralen Nationalismus hin prinzipiell offen war, wird deutlich, wenn es heißt: „Daß die Lebensordnung unserem Wesen entsprechen muß, das fordert die Ausdruckskultur.“161 Die Zielvorgabe, einen einheitlichen Lebenszusammenhang zu etablieren, stellte das spätere Mitglied des Juni-Klubs, der sudetendeutsche Volksschullehrer Hermann Ullmann (vgl. 7.2.2.), vor den Hintergrund der fehlenden integrativen Kraft des herkömmlichen Bildungsideals und der durch die Spezialisierung geförderten „Zersplitterung des geistigen Lebens“.162 Überdies beklagte Ullmann einen Mangel der deutschen Geselligkeit: „Es fehlt uns an Formen, die der Auslese aller Schichten genügen könnten. Es wäre natürlich töricht, solche Formen schaffen zu wollen. Sie müssen entstehen, als Ausdruck einer in dieser Elite einheitlichen Denk- und Fühlweise, die eben noch nicht gewonnen ist.“163 Das Zusammenfließen von kulturoptimistischer und integralnationaler Zielsetzung bestätigt sich ferner in einem Beitrag über Deutsche Kleider (1914), in dem die auf der Werrbund-Ausstellung in Köln präsentierten Entwürfe, „deutsche Frauenkleider, -‚kostüme‘ und -mäntel, die [...] ganz aus deutschen Stoffen hergestellt sind“164, als Beitrag zur Verdrängung „der Pariser Kokotten-Eleganz“165 gewürdigt wurden. Im Sinne dieser Zielsetzung und gegen die Nervosität des Zeitalters gewendet, war das Erziehungsprogramm des Dürer-Bundes wesentlich daran orientiert, „daß der Mensch vorzüglich als ein wollendes Wesen aufzufassen sei“.166 Die idealistisch gestimmten Mitglieder orientierten sich am Ideal des Willensmenschen, dem der neue Führertyp als „Vorbild normativer Gesinnung, als Führer, Mitarbeiter und, wenn möglich, Kamerad“ galt.167 Bildungsziel war nicht der einseitige, der in seinem Beruf spezialisierte, aber auch nicht der auf eine schablonenhafte Allgemeinharmonie hin gebildete, sondern der zur individuellen Harmonie seiner entfalteten Anlagen und Fähigkeiten gelangte Mensch, wie er in dem programmatischen Beitrag Harmonische Bildung (1913) imaginiert wurde. Um zu dem angestrebten „Vollmenschentum“ zu 160 161 162 163 164 165 166 167
Karl Wilhelm, Gesamtleben und Ausdruckskultur, in: Kunstwart, 25. Jg., Heft 4. November 1911, S. 241–246, hier 242. Ebd., S. 243. Hermann Ullmann, Die Gebildeten und das Volk, in: Kunstwart, 24. Jg., Heft 10, Februar 1911, S. 233–237, hier 234. Ebd., S. 235. Heinrich Helling, Deutsche Kleider, in: Kunstwart, 27. Jg., Heft 14, April 1914, S. 88–90, hier: 89. Ebd. Zitiert nach Gerhard Kratzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969, S. 323. Ebd., S. 325.
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gelangen, sollte jedem zunächst „Spielraum und Bildungsgelegenheit“ gegeben werden „um eben allen die Möglichkeit zu bieten, gerade ihrer Eigenheit entsprechend zu wachsen und zu werden“.168 Avenarius selbst sah den Bund perspektivisch als Vorbereitung eines „idealen Bunde[s] der Intelligenz“, für den die Zeit noch nicht da sei, „denn hier müßten die Dinge, die vom politischen Parteileben beschlagnahmt worden sind, zunächst aus diesem herausgelöst werden“.169 Es gelte, so Avenarius, „den Michel aus fünfzigjährigem Stumpfsinn zu wecken“.170 In dieser Bezugnahme auf das „Leben“ wurde auch dem Ästhetizismus eine Absage erteilt: „Wir hassen auch die ‚Ästheten‘, denen die Kunst, dieses Mittel um zum Leben zu kommen, selber der Zweck ist.“171 In bewusster Abgrenzung zu den Parteien sollte die Organisation des Bundes lose gestaltet sein. Man sah sich auf die Zellenbildung verwiesen und begrüßte daher „überall die Entstehung von kleineren Gruppen, von Gemeinde- und Bezirksverbänden, von wirtschaftlichen und kulturellen Vereinigungen. Der Sinn für kleinere Lebenskreise, die wir zu überschauen vermögen, muß sich entfalten.“172 So war der um den Kunstwart gruppierte Dürer-Bund um 1912 ein 300 000 Personen umfassender überregionaler Zusammenschluss, dem neben „unmittelbaren“ Mitgliedern elf Zentralverbände und 329 Einzelvereine, darunter 27 nach 1902 gegründete Dürervereine angehörten.173 Avenarius nahm den in der Vorkriegszeit stetigen Bedeutungszuwachs174 zum Anlass, um seine Mitglieder auf deren gesamtgesellschaftliche, quasi aristokratische Führungsrolle einzuschwören: „[...] wir, die wir nicht Pöbel sein wollen, sondern Herren, wir müssen uns auf eigenem Grunde Warten bauen zum Überblick über die fremden Gründe hin zu denen, die nicht Pöbel, sondern Herren sind anderswo. Wir müssen Leuchtfeuer anzünden zum Höhenverkehr von Warte zu Warte über die Niederungen weg. Wir müssen die besten verbünden von Stand zu Stand, von Beruf zu Beruf zu gemeinsamen Diensten im Ganzen.“175
Vorgelebte Authentizität, geschlossenes Auftreten und eine deutliche Artikulation der eigenen Forderungen schienen dabei Mittel, die sonst schweigenden Gleichgesinnten zu mobilisieren: „Wer ausspricht, was er meint, und seine Handlungen den Ausdruck seiner Persönlichkeit sein läßt, kann immer auf Gefährten rechnen, die sich freuen, Gleichgesinnte zu treffen, welche die von ihnen mehr oder weniger bewußt im stillen 168 169 170 171 172 173 174 175
Ernst Weber, Harmonische Bildung, in Kunstwart, 26. Jg., Heft 13, April 1913, S. 26–28, hier 27 f. Ferdinand Avenarius, Zum Dürer-Bunde! Ein Aufruf, in: Kunstwart, 14. Jg., Heft 24, September 1901, S. 469–474, hier S. 469. Ebd., S. 471. Ebd., S. 471. Karl Wilhelm, Gesamtleben und Ausdruckskultur, in: Kunstwart, 25. Jg., Heft 4, November 1911, S. 241–246, hier S. 245. Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis, Berlin 1989, S, 87. Vgl. Gerhard Kartzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969, S. 336 ff. Ferdinand Avenarius, Führen, dienen fördern, in: Kunstwart, 24. Jg., Heft 1, Oktober 1910, S. 1–3, hier 2 f.
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gehegten Ansichten öffentlich verkünden.“176 Die mit solchen Vorstellungen verbundene Hoffnung, das Parteien- und Regierungssystem zu unterlaufen, brachte Avenarius 1912 zum Ausdruck, als er formulierte: „Es ist wohl bald soweit, daß die gebildetsten Deutschen sich als Angehörige einer Kulturpartei fühlen, deren Abgeordnete in allen Fraktionen sitzen mögen.“177 Den engen Zusammenhang der Vorstellungswelt des Dürer-Bundes mit einer weit verbreiteten Mentalität innerhalb der kulturoptimistischen Gebildetenreformbewegung im deutschen Kaiserreich bestätigt wiederum dessen personelle Verflechtung mit dem Deutschen Werkbund.178 Die 1907 von Künstlern, Industriellen und Kunstfreunden betriebene Gründung verdankte sich dem Gefühl, „[...] daß Deutschlands übereilte Industrialisierung und Modernisierung eine Gefahr für die nationale Kultur heraufbeschwöre. [...] Seine Gründer wollten [...] beweisen, daß es durch eine Zusammenarbeit mit fortschrittlichen Kräften in der Industrie möglich sein müßte, den Rang der deutschen angewandten Kunst zu erhöhen, der Arbeit ihre Würde zurückzugeben und so einen harmonischen nationalen Stil zu entwickeln, der mit dem Geist der Neuzeit in Einklang stände.“179
So verfolgte der Werkbund bei grundsätzlicher Akzeptanz der Modernisierungsprozesse das wesentlich konservative Anliegen, „die verlorene sittliche und ästhetische Harmonie der deutschen Kultur zurückzugewinnen“.180 Bereits 1903 erklärte dessen späterer zweiter Vorsitzender, Hermann Muthesius, dass aus der „Stiljagd des neunzehnten Jahrhunderts nur eine höhere künstlerische Forderung an die moderne Architektur“ erwachse: „die Beherrschung aller Mittel, die die bisherige Kultur zur Verfügung gestellt hat in einem einheitlichen Sinne, ihre Verwendung zu einem höheren künstlerischen Zwecke“.181 Und in Bezug auf Wohnungseinrichtungen hieß es, dass diese von einer „geräuschlose[n] Bescheidenheit“182 zu sein habe. Die unter dem Geboten der Sachlichkeit und Nüchternheit stehende Gestaltung von Gebäuden und Gebrauchsgegenständen sollte auch Unruhe und Nervosität transzendieren helfen, wie sie laut Muthesius nicht allein aus dem von akademischer Stilüberlieferung befeuerten Historismus, sondern auch aus einer modernen, „hochgradig individuell 176 177 178
179 180 181 182
Karl Wilhelm, Gesamtleben und Ausdruckskultur, in: Kunstwart, 25. Jg., Heft 4, November 1911, S. 241-246 hier 246. Ferdinand Avenarius, Nach den Wahlen, in: Kunstwart, 25. Jg., Heft 9, 1912, S. 153–156, hier 155. Trotz des sozial unterschiedlichen Profils beider Organisationen gehörte 1912 nahezu die Hälfte der Mitglieder des Vorstandes des Werkbundes dem Dürer-Bund an. Vgl. Joan Campbell, Der Deutsche Werkbund 1907 – 1934, Stuttgart 1981, S. 35. Zum Werkbund siehe auch die mit einem Quellenanhang versehene Darstellung von Kurt Junghanns, Der Deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt, Berlin 1982 sowie Sebastian Müller, Kunst und Industrie. Ideologie und Organisation des Funktionalismus in der Architektur, München 1974. Joan Campbell, Der Deutsche Werkbund 1907 – 1934, München 1989, S. 7. Ebd. S. 16. Hermann Muthesius, Stilarchitektur und Baukunst, Mühlheim/Ruhr 1902, S. 40. Hermann Muhesius, Kultur und Kunst, Jena und Leipzig 1904, S. 5.
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gefärbt[en] Kunst“183 entstehen würde. So beklagte Muthesius stets den „wilden Individualismus“184 und forderte, da man sich „seit mehr als drei Jahrhunderten ausschließlich im Zustande der Anpassung an Fremdes“ befinde, die Entwicklung einer Ausdrucksform, die ein geschlossenes „Bild einer im gewissen Sinne echten und reinen Kultur“185 ergeben sollte. Entsprechend bestimmte er, gegen das Abwechslungsbedürfnis gewandt, das Ziel des Kunstgewerbes: „Das Kunstgewerbe hat das Ziel, die heutigen Gesellschaftsklassen zu den alten Idealen von Gediegenheit, Wahrhaftigkeit und Einfachheit zurück zu erziehen.“186 Architektur und Kunstgewerbe standen bei Muthesius und anderen WerkbundMitgliedern somit als klassenübergreifendes Erziehungsinstrument im Dienste einer im Grunde puristisch konservativen Gesellschaftsutopie.187 Guter Geschmack und nicht zuletzt auch die Qualität der Arbeit scheinen ihnen stittlich-moralische Werte und Verpflichtung. Die neue Geschmackskultur sollte die Massen erreichen und bilden, vom formlosen Materialismus der Konsumgüter durch ein Ethos der schönen Gestaltung befreien, sollte entproletarisieren, sollte die Klassen verbinden und ausgleichen und so zum Nukleus einer erneuerten Nationalkultur werden. Das nationale Stilwollen war dabei auch zunehmend gegen die Dominanz englischer und französischer Einflüsse gerichtet, wobei die Konfrontation mit Frankreich auch die Wahl Kölns als Standort der großen Werkbund-Ausstellung von 1914 bestimmte.188 Friedrich Naumann zum Beispiel hatte die ästhetische Programmatik schon frühzeitig in den Horizont einer in Deutschland nachzuholenden Entwicklung gestellt. Bereits 1902 bekannte er: „Wir wollen Markt gewinnen [...]. Es ist auf die Dauer unmöglich, daß England und Frankreich den Geschmack machen, wir aber die Waren.“189 Und 1913 erklärte er Qualität und Funktionalität zu Privilegien des neuen deutschen Stils. Demnach habe „der deutsche Gewerbestil etwas hartes und gerades, etwas, was der französisch erzogene Geschmack als steif oder linear empfindet. Die Konstruktion beherrscht den Bau.“ Und: „Es ist zum großen Teil deutsche Wissenschaft gewesen, die auf allen Gebieten zur größeren Knappheit und Durchsichtigkeit erzogen hat, nicht zur bloßen oberflächlichen Übersichtlichkeit, in der die Romanen Meister bleiben, sondern zur sachlichen Knappheit, die mitten im Gedränge sich selber fragt: was will ich und mit welchen Mitteln?“190 In Köln schließlich hielt Naumann eine Rede, 183 184 185 186
187 188 189 190
Ebd., S. 4. Hermann Muthesius, Die Einheit der Architektur: Betrachtungen über Baukunst, Ingenieurbau und Kunstgewerbe, Berlin 1908, S. 56. Hermann Muthesius, Die nationale Bedeutung der kunstgewerblichen Bewegung, in: Kunstgewerbe und Architektur, Jena 1907, S. 110 f. Hermann Muthesius, Die Bedeutung des Kunstgewerbes (1907), zitiert nach: Julius Posner (Hg.), Anfänge des Funktionalismus. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund, Berlin u.a. 1964, S. 176–186 hier 180 f. Vgl. Joan Campbell, Der deutsche Werkbund 1907 – 1934, Stuttgart 1981, S. 16. Vgl. ebd., S. 99. Friedrich Naumann, Kunst und Volk (1902), in: Werke, Bd. 6: Ästhetische Schriften (hg. von Walter Uhsadel und Theodor Schieder), Köln und Opladen 1964, S. 78–93, hier 82. Friedrich Naumann, Der deutsche Stil, Hellerau o. J. [1913], S. 22.
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deren Tendenz sein Biograph Theodor Heuss als „die Ansage eines seelisch-geistigen Imperialismus“ kennzeichnete.191 Naumann hatte darin die „Legende“ propagiert, „daß jetzt die französische Kultur vorbei ist und die deutsche germanische Periode gekommen ist“.192 Diese als ästhetische Kampfansage aufzufassende Inszenierung der Kölner Ausstellung schien bei ihren Adressaten entsprechend verstanden worden zu sein. In der französischen Presse soll von einem „künstlerischen Sedan“ gesprochen und geargwöhnt worden sein, der Werkbund sei insgeheim ein Werkzeug der deutschen Regierung.193 Betrachtet man die hier als ästhetische Opposition vorgestellten Gruppierungen und Einzelpersonen im Überblick, so ergibt sich für die Situation vor dem Ersten Weltkrieg das Bild eines strukturierten Feldes, in dem eine periphere ästhetische Intelligenz einen kulturreformistischen Diskurs entfaltete, der auch die im Bewusstsein eines nationalästhetischen Defizits lebenden Mittelschichten erfasst hatte. In diesem Diskurs ist der „Neue Stil“ eine von vielen Chiffren, mit der der Anspruch auf eine Reformierung der tief gespaltenen und verunsicherten Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wurde. Gegen die Beliebigkeit der pluralistisch-unverbindlichen „Stile“ wie gegen die weitverbreitete Orientierungslosigkeit glaubte man, mit dem „Neuen Stil“ einen verbindlichen Ordnungsentwurf setzen zu können. Kennzeichnend ist ferner die zunehmend offensiv nationalästhetische Stoßrichtung der Stellungnahmen. War für die Protagonisten des Dürer- und des Deutschen Werkbundes zu Beginn die Annahme eines mangelnden nationalkulturellen Bewusstseins die Haupttriebkraft ihrer Aktivitäten, so zeugen beispielsweise die Ausführungen Friedrich Naumanns von der Ausbildung eines Auserwähltheitspathos, das sich unmittelbar gegen die westeuropäischen Erzfeinde wenden ließ. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass auch Moeller seinen Ort in diesem Feld hat. Vorab ein kurzer Ausblick: Nachdem sich der deklassierte Literat und Bohemien Arthur Moeller-Bruck zunächst noch als Dandy zu stilisieren versuchte und in seiner Übersetzer- und Herausgebertätigkeit Sympathien für die Literatur der Dekadenz erkennen ließ, präsentierte er sich bereits um 1900 als ein national gesinnter und einer vitalistischen Willensästhetik zugewandter Autor. In seinen Schriften zeigte sich jedoch alsbald jenes zeittypische demiurgische Pathos, insofern, als er in den künstlerischen Äußerungen seiner Zeit den Zeitgeist, ihren „Stil“, den „Form gewordene Rhythmus der Zeiten“194 entdecken und in seinem Sinne zu deuten versuchte, wobei er als Kulturoptimist unterstellte, dass die emphatisch begrüßte Moderne in Kürze zur repräsentativen Form finden würde. 191 192
193 194
Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, Das Werk, Die Zeit, Stuttgart und Berlin, 1937, S. 300. Friedrich Naumann, Werkbund und Weltwirtschaft, in: Werke, Bd. 6: Ästhetische Schriften (hg. von Walter Uhsadel und Theodor Schieder), Köln und Opladen 1964, S. 331–350, hier 345. Vgl. Joan Campbell, Der deutsche Werkbund 1907 – 1934, Stuttgart 1981, S. 99. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 13.
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Obwohl sich diese Hoffnung nicht erfüllte und Moeller – 1902 nach Paris übergesiedelt – den Franzosen zugestehen musste, wenigstens auf der Bühne und mindestens vorübergehend einen identitätsstiftenden Stil hervorgebracht zu haben195, deutete er in Die Zeitgenossen (1906) das nationalästhetische Defizit der Deutschen positiv. Während die Franzosen als „altes Volk“ in ihrer bereits gewordenen Form zur Erstarrung verdammt seien, hätten nunmehr allein die Deutschen, da sie als „junges Volk“ mit der bismarckschen Reichsgründung soeben die nationalstaatlichen Voraussetzungen geschaffen haben, die Möglichkeit zu einem modernen Nationalstil zu gelangen. Beeinflusst vom integralen Nationalismus, verband Moeller dabei den nationalpädagogisch-kulturreformerischen Aspekt mit einem kulturimperialistischen Anspruch in dem Sinne, dass ein Volk, welches eine der Epoche angemessene Nationalkultur hervorbringen könne, auch zur politischen Expansion berechtigt sei. Die in Die Deutschen (1904–1910) gewährten Ausblicke auf die moderne Kultur sollten somit vor allem bestätigen, dass nunmehr allein die Deutschen „den weltgeschichtlichen Beruf [hätten], [...] Europa im Namen des Germanentums [...] vor den großen Blut- und Geist-, Staats- und Stilgegensätzen der Erde [zu] vertreten“196. Entsprechend abfällig gerieten auch Moellers Äußerungen über die Leistungen andere Völker. So attestierte er beispielsweise in seinen Einführungen zu den Bänden der Dostojewskij-Ausgabe den Russen zwar eine außergewöhnliche religiösen Begabung, bescheinigte ihnen aber zugleich, ein wesentlich passives und unschöpferisches Volk zu sein, das zudem besonders schwer unter den Einflüssen des Westens gelitten habe. Dass hinter solchen Überlegungen konkrete kulturimperialistische Vorstellungen standen, bestätigt die Einführung zu Aus einem Totenhaus (1908). Darin bezeichnete Moeller, noch bevor er sich für die deutsche „Kulturwirkung“ im Baltikum interessierte, Sibirien als „Land einer großen slavischen Zukunft“197, was impliziert, dass es sich aus europäischen Belangen herauszuhalten hätte, nicht zuletzt deshalb, weil das östliche Europa künftig von Deutschland dominiert würde. Eine im Grunde unüberbietbare heilsgeschichtliche Ausdeutung erfuhr dann der Stil-Begriff in Der preußische Stil (1916). Mit Friedrich Naumann teilte sein Verfasser die Idee, dass die Funktionalität ein Privileg des deutschen, genauer des preußischen Stils sei. Über Naumann und andere Exponenten des Werkbundes hinausgehend schrieb Moeller nach Beginn des Ersten Weltkrieges auch dem zweifellos ebenfalls funktionalen preußische Heer eine stilbildende Kraft zu. Da Moeller ferner den „preußischen Stil“ unter ausdrücklichem Bezug auf Preußens „soldatisches Wesen“ als einen „Stil an sich“198 apostrophierte, wurde Preußen zum Träger der in seinem Stil-Begriff eingeschlossenen Herrschafts- und Erlösungsphantasien. Entsprechend hieß es in einem Herrschaft durch Stil (1913) betitelten Beitrag: „Völker herr195 196 197
198
Vgl. Moeller van den Bruck, Das Théâtre Français, Berlin und Leipzig 1905, S. 10 f. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 295 f. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten, in: F. M. Dostojewski, Aus einem Totenhaus, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Achtzehnter Band, München 1908, S. XIV. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 108.
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schen durch Stil.“199 Das Konzept, von einer im Grunde peripheren Position durch nationalpädagogisches Schrifttum politisch wirksam zu werden, wurde von Moeller auch nach dem Kriege weiterverfolgt. Dabei bestätigt ein bereits 1915 publizierter Artikel die Verschiebung der Akzente. In Unser Stil ist die Haltung war der „preußische Stil“ ein Jahr nach Kriegsbeginn als „Haltung“ vorübergehend zu einem gesamtnationalen Charakteristikum geworden. In der Entfaltung der aristokratischen Komponenten der „Haltung“ und deren Projektion auf das kämpfende Kollektiv wurde dieses über sich selbst erhoben. Es wurde als vornehm und unerschütterlich, distanziert und aufrichtig vorgestellt. Nach 1918 war die „Haltung“ dann wieder exklusiv. Außeralltägliche Qualitäten schrieb Moeller nur noch den „Außenseitern“200 und dem „Einzelnen“, der „Generation von 1919“201, dem „Auslandsdeutschen“202 und schließlich auch dem „konservative[n] Mensch[en]“203 zu. All diese Protagonisten der politischen Publizistik Moellers schienen eines exklusiven Wissens teilhaftig, das sie in der politischen Dauerkrise der frühen Weimarer Republik über das Chaos erhob. Es lässt sich somit sagen, dass dieses Vertrauen auf die charismatische Ausstrahlungskraft der „Einzelnen“ die Basis von Moellers nationalpädagogischem Konzept der Nachkriegszeit war: „Und von den Einzelnen wird schließlich eine Wirkung auch auf die Menge ausgehen.“204 Als politisierenden, der „ästhetischen Opposition“ nahestehenden Autor kennzeichnet Moeller dabei, dass er, obwohl er sich nach dem Kriege politischen Themen widmete, kaum Aufmerksamkeit auf die Analyse sozialer oder ökonomischer Strukturen verwandte. Die politische Krise scheint ihm vielmehr ein Problem der aus typisch deutscher politischer „Unförmigkeit“205 resultierenden Unordnung zu sein, dem er noch in Das dritte Reich sowohl durch die Denunziation des politischen Feindes als auch durch die geistige Ausbildung seiner Zeitgenossen begegnen zu können glaubte. Da sich noch in Moellers Spätwerk seine Affinität zu ästhetisch vorgeformten Denkfiguren bestätigt, soll sich diese Arbeit auch der Frage widmen, auf welche Weise sich politisches und ästhetisches Denken im Werk Moellers bedingen.
199 200 201 202 203 204 205
Moeller van den Bruck, Herrschaft durch Stil, in: Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt, 1. Jg., Nr. 28, 12.04.1913, S. 348–350, hier 348. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Außenseiter, in: Der Tag, 15.01.1919. Vgl. Moeller van den Bruck, Die drei Generationen, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, 1. Jg., Heft 18/19, 01.12.1919, S. 1–11, hier S. 10. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Auslandsdeutsche, in: Grenzboten, 79. Jg., Nr. 16 u. 17, April 1920, S. 81–89. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 40, 03.10.1921. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (20. Januar 1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck, Einheit, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 3, 16.01.1922.
2. Der junge Moeller
2.1. Kindheit und Jugend Am 23. April 1876 wurde Arthur Moeller, der sich nach dem Namen seiner Mutter späterhin Moeller-Bruck und schließlich seit 1904 Moeller van den Bruck nannte, geboren. Sein Vater war der königlich-preußische Baurat Ottomar Victor Moeller, der sich mit einem Beitrag über Die Baugeschichte der Stadt Düsseldorf1 auch als Architekturhistoriker versuchte. Die Familie der Moellers, aus der bis dahin eine lange Reihe von Pfarrern hervorgegangen war, stammte aus dem Thüringischen. Die Urgroßeltern lebten in Schloßwippach bei Weimar. Sie hatten vermutlich vier oder fünf Kinder. Der Großvater Ernst Ludwig Moeller war Kaufmann in Erfurt, zog dann aber nach Nordhausen am Südrand des Harzes, wo er Amalie Barthel, die Tochter eines Branntweinfabrikanten, heiratete und selbst auch im Branntweinhandel tätig war. Er übernahm die Fabrik seines Schwiegervaters, verkaufte sie dann wieder und kaufte von dem Erlös 1862 das Rittergut Schmorkau bei Königsbrück in Sachsen. Nach dem Tode ihres Mannes (1863) verkaufte Amalie Moeller das Gut. Sie ging zurück nach Erfurt. Ihre Söhne Rudolf und Alwin hatten inzwischen eine militärische Laufbahn einschlagen. Moellers Vater Ottomar beschloss Architekt zu werden. Er heiratete Elise van den Bruck, die Tochter seines Vorgesetzten, eines königlich-preußischen Baurates aus Deutz bei Köln.2 Zunächst deutete nichts daraufhin, dass Arthur Moeller zu einem politischen Visionär und als solcher zum „Künder“ des Dritten Reiches (vgl. 9.2.) werden sollte. Die Eltern hatten sich gewünscht, dass ihr Sohn Offizier oder Jurist würde, doch dieser und auch seine Lehrer waren anderer Meinung. Nach der Aussage seiner damaligen Freundin und späteren ersten Ehefrau, Hedda Maase, war der „außerordentlich frühreife“3 Moeller überhaupt nicht geneigt, sich den Zwängen einer solchen Laufbahn zu beugen. Statt seinen schulischen Verpflichtungen am städtischen Gymnasium in Düs1 2 3
Ottomar Moeller, Die Baugeschichte von Düsseldorf, in: Geschichte der Stadt Düsseldorf in zwölf Abhandlungen. Festschrift zum 600jährigen Jubiläum, Düsseldorf 1888, S. 351–384. Der Familiennachlass befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin im Nachlass Moeller van den Bruck. Vgl. Paul Fechter, Moeller van den Bruck: Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 17; der Schriftsteller Paul Fechter ist Moellers erster Biograph. Der damalige Feuilletonredakteur der Vossischen Zeitung hatte Moeller spätestens bei Kriegsbeginn kennengelernt. Nach dem Krieg wirkte er gemeinsam mit Moeller im Juni-Klub. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er für das Stinnes-Blatt Deutsche Allgemeine Zeitung.
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seldorf nachzukommen, verschlang und diskutierte er die Lyrik von Hermann Conradi, Arno Holz, Johannes Schlaf und Richard Dehmel und las, wenn er einmal wieder Rat und Stärkung suchte, in den Werken Friedrich Nietzsches. Überhaupt muss in der damaligen bürgerlichen Jugend Düsseldorfs das Interesse für die moderne Literatur, die Philosophie Nietzsches und die soziale Frage besonders groß gewesen sein. So berichtet Maase von einem Kreis aus Studiengenossen und -genossinnen, die sich im Hause ihrer Eltern getroffen hätten, um eben diese zu diskutieren, und zu dem sich auch der „blonde, junge, schweigsame Schöpfer des Buches vom Dritten Reich“4 regelmäßig, wenn nicht gar täglich, um fünf Uhr nachmittags einfand. Weil er für die Schule nichts tat, vor allem aber weil er der Autor eines Aufsatzes über bekannte Düsseldorfer Maler gewesen sein soll, „der durch seinen Ton und Inhalt großes Aufsehen erregte“5 und der anonym in einer viel gelesenen Düsseldorfer Zeitung erschien6, wurde Moeller der Schule verwiesen. Die Eltern schickten daraufhin den jungen Mann, der sich beim Abschied noch mit Hedda Maase verlobt hatte, zur Großmutter und Tante nach Erfurt, wo er seine Schulausbildung beenden sollte. Im April 1895 wurde er in die Obersekunda des Erfurter Gymnasiums aufgenommen. Als er zu Ostern 1896 wegen mangelhafter Leistungen nicht in die Unterprima versetzt wurde, brach er die Schule ab und ging nach Leipzig, um dort „zu studieren“. Knapp vierzig Jahre später erinnert sich der Literaturwissenschaftler Paul Ssymank: „Es war am 17. April 1896. Da wurde mir von einem Freund und Studiengenossen [...] auf seiner Studentenbude in der Hauptmann-Straße zu Leipzig ein junger Mann vorgestellt, der kurz vorher seine in Düsseldorf begonnenen und in Erfurt mit wenig Erfolg fortgesetzten Gymnasialstudien eigenwillig abgebrochen hatte, als er zu Ostern 1896 wegen mangelhafter Leistungen in Latein, Griechisch und Mathematik nicht nach Unterprima versetzt worden war. An der Universität Leipzig wollte er den Geist der Wissenschaft kennenlernen, doch konnte er als Immaturer dort nicht als vollwertiger Student immatrikuliert werden, sondern besuchte nur als Hörer – und zwar sehr unregelmäßig – einzelne Vorlesungen, darunter die des berühmten Philosophen Wilhelm Wundt, der im Sommer 1896 sein allgemein geschätztes Kolleg über Psychologie las.“7
Weiterhin hörte Moeller die Vorlesungen des Kunsthistorikers Hans Merian. Diesem ist der zweite Band der Modernen Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen
4 5 6 7
Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 20. Das Dokument konnte nicht nachgewiesen werden. Paul Ssymank, „Es gellt wie Trommelklang“, in: Velhagen & Klasings Monatshefte, 49 Jg., Heft 9, Mai 1935, S. 262–265, hier 262.
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gewidmet.8 Merian dürfte es dann auch gewesen sein, der Moeller die Publikation erster Aufsätze in der Gesellschaft ermöglichte.9 Die 1885 von Michael Georg Conrad gegründete, zunächst in Anlehnung an die Gegenwart Paul Lindaus als Wochenschrift konzipierte, dann seit 1886 als Halbmonatsschrift erscheinende Gesellschaft nahm für sich in Anspruch, wahrhaft und aufrichtig über die neuen realistischen Strömungen in Kunst und Literatur zu berichten. Sie verstand sich in erster Linie als literarische Kampfzeitschrift für „Wahrheit und Realismus“ und war bis 1890 das Medium der Auseinandersetzung der „Jungen“ und Modernen mit den „Philistern“ und ihren Organen, den Familienblättern10, und somit auch das Medium für die Verbreitung oppositioneller Kulturvorstellungen.11 In Sachen moderner Kunst hatte sie ihre Meinungsführerschaft jedoch Anfang der 90er Jahre an die kosmopolitische Freie Bühne (seit Januar 1892 Neue deutsche Rundschau, seit 1903 Neue Rundschau) des Fischer Verlages abgeben müssen. Im selben Zeitraum lässt sich innerhalb der Mitarbeiterschaft der Gesellschaft die Spaltung in eine national abgegrenzte und eine an internationalem Austausch interessierte Moderne verfolgen.12 Beispielhaft ist Conrads Austritt aus dem Theaterverein Freie Bühne, der sich im Sommer 1889 zur zensurfreien Aufführung naturalistischer Dramen konstituiert hatte. Conrad war der Auffassung, dass sich der Verein ausschließlich auf deutsche Künstler beschränken sollte, und bezeichnete die Freie Bühne aufgrund ihrer internationalen Ausrichtung „als schleppennachtragende Dienerin des Auslandes“.13 Gleichwohl sich hiernach bei den Hauptbeiträgern der Gesellschaft ein demonstrativer Nationalismus zeigte, publizierten in der Zeitschrift Mitte der 90er Jahre neben den Vertretern der Heimatkunstbewegung (allen voran Friedrich Lienhard) auch namhafte moderne Autoren wie Richard Dehmel, Detlev von Liliencron, Stefan Zweig, Else Lasker-Schüler, Heinrich und Thomas Mann. Moeller befand sich mit seinen ersten Beiträgen somit in keiner schlechten Gesellschaft, wiewohl in der Entwicklung der Gesellschaft die eigene Wandlung hin zum radikalen Nationalisten bereits vorgeprägt war. 8 9
10
11 12 13
Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen, Bd. 2: Neutoener, Leipzig 1899, S. 5. Moellers früheste nachweisbare Publikation erschien im Mai 1896. Sie trägt den Titel de profundis und setzt sich mit einer gleichnamigen Erzählung Stanislas Przybyszewskis auseinander (de profundis, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., Mai 1896, S. 664–669). Vgl. Birgit Kulhoff, Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871–1914), Bochum 1990, S. 73 f. Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis, Berlin 1989, S. 78. Vgl. ebd., S. 76. Michael Georg Conrad, Die sogenannte „Freie Bühne“ in Berlin, in: Die Gesellschaft, März 1890, S. 403.
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Ferner war Die Gesellschaft, da in der Freien Bühne, nur dem Fischer Verlag nahestehende Autoren publizierten und die übrigen Rundschauzeitschriften (Deutsche Rundschau, Nord und Süd) nur etablierte Schriftsteller und Gelehrte akzeptierten, einer der wenigen Orte, an dem sich ein junger, der Moderne verpflichteter Autor und Autodidakt wie Moeller einem breiteren literarisch interessierten Publikum vorstellen konnte. Moeller hat diese Chance genutzt. Bis zum April 1899 hat er in der Gesellschaft noch fünf weitere Aufsätze veröffentlichen können, in denen er sich ausnahmslos als ein jugendlich selbstbewusster Kritiker der zeitgenössischen Literatur präsentierte. Seinen hohen Anspruch hat er dabei wie folgt formuliert: „Manchem wird mein Urteil zu streng erscheinen – aber ich durfte es nicht gelinder fassen, wenn ich dem Wesen unserer modernen Kritik nicht zuwider die Werte bestimmen wollte – jener Kritik, die an alles, was gegenwärtig in die Erscheinung tritt, den Maßstab einer zukünftigen, umfassenden Litteraturgeschichte legt. Darum schrieb ich vom Standpunkte derjenigen Dramatik aus, die sich zur Zeit noch aus den Wirrungen der Künste zu entwikkeln anschickt, die aber, wie ich fest glaube, kommen wird, um uns den Sinn unserer ganzen modernen Kultur zu zeigen und so den eigentlichen und einzigen Zweck aller Kunst zu erfüllen.“14
Dem Publikationsort angemessen, schlug Moeller in seinen Besprechungen moderner Literatur einen Ton an, der ihre vermeintlichen Gegner als unverständige Masse oder „Premierenpöbel“15 denunzierte, ihre Schöpfer hingegen als „Propheten“16, „Seher und Deuter“17 des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens pries. Letzteres impliziert ein Literaturverständnis, das unter anderem Sympathien für den durch Arno Holz vertretenen konsequenten Naturalismus, der dem Kunstwerk nur „Wesen und Wirkung eines Kinomatographen zugedacht“ hatte18, grundsätzlich ausschließt. Dem entgegen favorisierte Moeller eine Kunst, welche aus dem „modernen Fatalismus“ die „Konsequenzen“ zu ziehen versuchte,19 eine in ihrer Grundhaltung optimistische Kunst, die das Leben nicht als eine bloße Aneinanderreihung isolierter Einzelereignisse, sondern als einen Sinnzusammenhang darstellen sollte. Beispielhaft hierfür ist die positive Besprechung von Johannes Schlafs Prosadichtung Frühling (1896), in der Schlaf „in machtvoll tönendem Dithyrambenstil das Lied aller Einheit“ singen würde.20 Dieser Auffassung von der Rolle des Dichters als Seher und Deuter folgend, 14 15 16 17 18 19 20
Arthur Moeller-Bruck, Vom modernen Drama, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., Juni 1896, S 937. Vgl. ebd., S. 933. Arthur Moeller-Bruck, Johannes Schlaf, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., November 1897, S. 161. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Richard Dehmels Lyrik, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., Februar 1897, S. 255. Arthur Moeller-Bruck, Johannes Schlaf, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., November 1897, S. 154. Arthur Moeller-Bruck, Der Mitmensch, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., September 1896, S. 1206. Arthur Moeller-Bruck, Johannes Schlaf, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., November 1897, S. 161.
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forderte Moeller in einer Generalkritik an den Premierendramen der Saison 1895/96 – Florian Geyer (Gerhart Hauptmann), Lebenswende (Max Halbe), Liebelei (Arthur Schnitzler), Mütter (Georg Hirschfeld) usw. – von den zeitgenössischen Dramatikern auch mehr Mut zur künstlerischen „Synthese“.21 Unverkennbar, dass die Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches Maßstab von Moellers Kunstbetrachtungen war. So bezeichnete er den Zarathustra als „das größte Buch dieses Jahrhunderts“22 und Nietzsche selbst – noch vor Dostojewskij – als den „größten Psychologen“.23 Durch Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, so schrieb Moeller an anderer Stelle, wäre „der Apfel der Erkenntnis zum zweiten Mal genommen“24 und der Kunst wäre von nun an die Aufgabe gestellt, ein Leben zu gestalten, „das die alten Begriffe von ‚Schuld‘ und ‚Sühne‘ nicht kennt [...]. Starke Menschen, Vollmenschen braucht es dazu – Übermenschen, wenn man will! Übermenschen, in denen an Stelle des gestürzten Willens zur Wahl ein lebendiger, individueller Trieb wach ist, sei es zum Vernichten bestehender, sei es zum Begründen und Aus-sichherausentwickeln neuer Werte.“25 Und im nächsten Beitrag erklärte er gar: „Man wird verstehen, daß ich die Erziehung zum Übermenschen im Sinne habe.“26 Nietzsche, so der Gedankengang Moellers, hätte mit seinem Übermenschen das Erziehungsideal vorgegeben, dem es in Zeiten des „Individualismus und Fatalismus“27 zu folgen gelte. Es zu lehren und zu verbreiten; „die Heranzüchtung praktischer Genies“28, die Offenbarung des „Typus des modernen Herrenmenschen“29, das Hervorbringen einer neuen Moral, das wären nach Moellers Auffassung die Aufgaben der zeitgenössischen Dichtung. Eine solche vitale Dichtung zu schaffen, dazu bedürfe es eines seiner selbst bewussten Dichters, der der zeitgenössischen Unsicherheit entgegenzutreten vermöge: „Er verzweifelt nicht, zergrübelt sich nicht in fruchtlosen Philosophierereien, sondern wagt ewig von neuem den alten Kampf der alten Sehnsucht [...]“.30 Der Dichter, den Moeller im Sinn hatte, ist Richard Dehmel. Als Dramatiker war er durch seinen Mitmensch (1895) für Moeller mit Shakespeare vergleichbar31 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Arthur Moeller-Bruck, Vom modernen Drama, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., Juni 1896, S. 932. Ebd., S. 934. Vgl. ebd., S. 937 f. Arthur Moeller-Bruck, Der Mitmensch, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., September 1896, S. 1204. Ebd., S. 1203 f. Arthur Moeller-Bruck, Richard Dehmels Lyrik, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., Februar 1897, S. 248. Ebd., S. 254. Ebd. Ebd., S. 249. Ebd., S. 252. Arthur Moeller-Bruck, Der Mitmensch, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., September 1896, S. 1206.
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und als Lyriker schien ihm Dehmel die „Persönlichkeit der ganzen sich jetzt erst vorbereitenden Kultur- und Kunstperiode“32 zu sein. Dabei mochte Moeller das dramatische Schaffen Richard Dehmels überschätzt haben, seine Beurteilung der Künstlerpersönlichkeit Dehmel hingegen war geradezu visionär. Hatte doch Dehmel, wie kaum ein anderer, die folgenden fünfzehn Jahre literarischen Lebens in Deutschland bestimmt. Auch wenn relativierende Einschübe zeigen, dass Moeller über seinen von einem pädagogischen Impetus getragenen Ausführungen die Realität nicht gänzlich aus den Augen verloren hatte, verraten seine Texte, dass er sich selbst auch als einen die bürgerlichen Konventionen verabschiedenden „Übermenschen“ sah. Da er zudem der dehmelschen Lyrik bescheinigte, sie wäre ein Zeugnis „jener Neukultur [...], von deren Zukunftsmöglichkeiten ich ausging – jener Neukultur, durch die die MoralWeltanschauung, die unsere Gegenwart und zweitausendjährige christliche Vergangenheit so entkräftet, entnervt hat, endlich abgelöst wird“33, wird deutlich, dass Moeller nicht allein durch seinen Schulabgang ein Bohemien im Sinne Helmut Kreuzers34 und zugleich ein gutes Beispiel dafür ist, dass sich Boheme und Dandiysmus zuweilen überlappen.35 Bezeichnend hierfür sind neben seinem Hass auf das „JusteMilieu“, bei dem er Aufrichtigkeit, Unbedingtheit und ideelle Ziele und Maßstäbe36 vermisste, seine grundsätzlich antiinstitutionelle und antiautoritäre Einstellung (Abbruch der Schulausbildung, freies Studium)37, sein auf den Triumph der modernen Literatur abhebendes elitär-aristokratisches Überlegenheitsgefühl38, die soziale Bindungs- und Heimatlosigkeit (häufige Wohnungswechsel: Leipzig, Berlin, Zürich, Paris, ausgedehnte Reisen) sowie die prinzipiell anti-ökonomische Grundhaltung39, aus der auch die nie endenden finanziellen Schwierigkeiten Moellers resultierten. Wegweisend ist diesbezüglich der Beginn seiner „Karriere“. Da Moeller mit seiner Flucht aus Erfurt auch das Recht auf den regelmäßigen elterlichen Wechsel verwirkt hatte, blieb ihm zunächst nichts anderes übrig, als sich durchzuschnorren. Eines seiner „Opfer“ war der durch seine Königslieder (1894) bekannt gewordene Schriftsteller Franz Evers. Moeller hörte eine seiner Lesungen in der Literarischen Gesellschaft. Die Begegnung wird von Paul Fechter wie folgt geschildert: 32 33 34 35 36 37 38 39
Arthur Moeller-Bruck, Richard Dehmels Lyrik, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., Februar 1897, S. 255. Ebd., S. 254. Helmut Kreuzer, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968. Vgl. ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 43 ff und S. 141 ff. Vgl. ebd., S. 45 ff und 326 ff. Vgl. ebd., S. 253.
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„[...] nach der Vorlesung erschien unter den Gästen ein junger Mann, setzte sich neben den damals schon berühmten Verfasser der Königslieder, bekannte sich als einen Schüler, der mit den Gewalten des Gymnasiums in Konflikt geraten war, und bat den Dichter um finanzielle Hilfe, um dableiben und weiter in seiner Gesellschaft sein zu können. Evers, dem der junge, leidenschaftliche Mensch gefiel, drückte ihm mit der gleichen Selbstverständlichkeit zwanzig Mark in die Hand und aus der beiderseitigen Natürlichkeit des Bittens und Erfüllens erwuchs eine Freundschaft, die bis in Moellers letzte Lebensjahre gedauert hat.“40
Im August 1896 übersiedelte der inzwischen zwanzigjährige, heimatlose Bohemien nach Berlin und heiratete Hedda Maase. Eine von Moellers Großvater mütterlicherseits hinterlassene Erbschaft sicherte zunächst die wirtschaftliche Selbständigkeit des Paares und gab ihm die Möglichkeit, sich ein Häuschen am Tegeler See zu mieten. Bedeutsam waren zu dieser Zeit die gemeinsam mit seiner Frau erarbeiten Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen. Der nicht sehr sprachbegabte Moeller wird sich dabei hauptsächlich auf die stilistischen Verbesserungen der von seiner Frau erarbeiteten Übersetzungen41 sowie die Auswahl der Werke und die Pflege der Verlagskontakte42 konzentriert haben. Zwei Briefe veranschaulichen Moellers umtriebige Tätigkeit. Am 22. Februar 1899 bat Moeller den Verleger Axel Juncker um die Zusendung der Werke Edgar Allan Poes nebst aller deutschsprachigen Einzelausgaben.43 Drei Wochen später schrieb er bereits an einen andern Verleger: „Ich schreibe Ihnen heute wegen eines neuen Verlagsanerbietens, daß Sie buchhändlerisch und vor allem auch literarisch interessiren [sic] dürfte. Es handelt sich um eine Gesamtausgabe der Werke, pardon: der ‚Dichtungen‘ Poes, der im Winter diesen Jahres seinen 50jährigen Todestag hat. Aus diesem letzten Grunde wird wohl auch in unserer verfluchten Presse einiger Lärm um den großen Toten geschlagen werden. Die Zeit ist also günstig! [...] Und das Meiste und Beste ist noch unübersetzt! Ganz abgesehen von zwei bis drei Dutzend Novellen: der Roman ‚Gordon Pym‘ und die wunderbare, heute in Momberts und Dauthendeys Zeiten, urmoderne Kosmogonie ‚Heureka‘ sind seither übertragen. [...] Teilen Sie mir bitte Ihre Ansicht mit, schreiben Sie mir, wie sie sich zu meinem Plane, das Versäumte nachzuholen stellen.“44
Die bei J.C.C. Bruns in Minden erschienene Ausgabe der Werke Poes war der zweifellos größte Erfolg des Paares. Doch waren die zehn Bände bei weitem nicht das 40 41
42 43 44
Fechter, Paul: Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 20. In Hedda Eulenbergs (geb. Maase, geschiedene Moeller-Bruck) Erinnerungen gibt es über die Zeit im Häuschen am Tegeler See einen bezeichnenden Passus, der die Arbeitsaufteilung an der Übersetztertätigkeit charakterisiert: „Er [Moeller] erzählte mir, die ich immer arbeitend, in Tegel allein geblieben beim Nachhausekommen, ich müsse den Eulenberg durchaus kennenlernen“. (Hedda Eulenberg, Im Doppelglück von Kunst und Leben, Düsseldorf 1952, S. 10). Vgl. Klaus Martens (Hg.), Literaturvermittler um die Jahrhundertwende. J.C.C. Bruns’ Verlag seine Übersetzer und Autoren, St. Ingerbert 1996, S. 29 ff, 85 u. 111 ff. Vgl. Arthur Moeller-Bruck an Axel Juncker (22.02.1899), in: Ebd., S. 112 f. Arthur Moeller-Bruck an Gustav Bruns (13.03.1899), zitiert nach: Ebd., S. 113.
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einzige Ergebnis ihrer Tätigkeit. Bis 1907 gaben sie folgende Werke heraus: von J.A. Barbey d’Aurevilly, Die Besessenen. Novellen (1900)45, sowie Finsternis (1902); Edgar Allan Poe, Werke in zehn Bänden (1901–1904); Thomas de Quincey, Bekenntnisse eines Opium-Essers (1902); Michel Provins, Der letzte Flirt (1902); Daniel Defoe, Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders (1903); sowie Guy de Maupassant, Ausgewählte Novellen in acht Bänden (1902–1907). Eine solche Auswahl lässt ein der literarischen Dekadenz zugewandtes Gemüt erkennen, zumal das Paar nach Angabe von Hedda Eulenberg auch Werke Charles Baudelaires übersetzt hatte, ein enormes Pensum für zwei gerade Zwanzigjährige.46 Und weil sich Moeller bei der mühsamen Übersetzertätigkeit ein wenig zurückgehalten hatte, blieb ihm auch noch Zeit für eine eigenständige literarische Produktion. Seine erste Frau erwähnt zwei Novellen – Herbstfarben und Warum dies Lied? –, die nicht erhalten sind.47 Das literarischen Leben hingegen spielte sich für Moeller nicht in Tegel, sondern vor allem in den Künstlerlokalen der Hauptstadt ab. In „unregelmäßiger Regelmäßigkeit“ traf er sich zum Zwecke des künstlerischen Austausches und zur Feier des Lebens mit Richard Dehmel, Frank Wedekind, Wilhelm Schäfer, Franz Evers, Fidus, Peter Hille, Detlev von Liliencron, Max Dauthendey, Stanislas Przybyszewski und dem Komponisten Conrad Ansorge in einem nach seinem leutseligen Wirt „Schmalzbacke“ genannten Lokal an der Tauentzienstraße.48 Im Lokal „Zum schwarzen Ferkel“ in der Dorotheenstraße war er zudem ein regelmäßiger Gast der von Richard Dehmel gegründeten „Tafelrunde“, zu der unter anderem Edvard Munch, Otto Erich Hartleben, die Brüder Hart und August Strindberg kamen.49 Hier fand er Anschluss an den Friedrichshagener Künstlerkreis. Erich Mühsam lernte ihn dort als einen netten, aber unbeschreiblich leichtsinnigen Kerl kennen, der kaum je fünfzig Pfennig in der Tasche hatte und seine Mitstreiter groschenweise anpumpte. Eines Abends entschloss er sich, eine ganze Schar von Leuten zu einem opulenten Souper in den Friedrichshagener Ratskeller einzuladen. „Als es ans Zahlen ging, überreichte er mit einer vornehmen Geste dem Kellner [lediglich] seine Visitenkarte: Wir haben unter monatelangem Schwitzen den Schaden durch Umlagen und Vergleiche mit dem Wirt ausgleichen müssen.“50 Moeller gab in diesen Kreisen den Dandy und „inneren Aristo45 46 47 48 49 50
Ohne Beteiligung Arthur Moeller-Brucks. Vgl. Hedda Eulenberg, Der junge Moeller van den Bruck. Aus seinen Berliner Sturm- und Drang-Jahren, in: Berliner Tageblatt, 18.09.1934. Hedda Eulenberg, In der Zeit des Naturalismus. Am Vortragspult: Moeller van den Bruck, Berliner Tageblatt, 26.09.1934. Hedda Eulenberg, Der junge Moeller van den Bruck. Aus seinen Berliner Sturm- und DrangJahren, in: Berliner Tageblatt, 18.09.1934. Vgl. Hedda Eulenberg, In der Zeit des Naturalismus. Am Vortragspult: Moeller van den Bruck, Berliner Tageblatt, 26.09.1934. Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, in: Ausgewählte Werke, 2 Bde., Berlin 1978, 2. Bd., S. 513.
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kraten“51, der den baldigen Untergang der bürgerlichen Welt in einer ernsten und würdigen Haltung erwartete. Er kleidete sich sehr gewählt – ging in sehr origineller Eleganz, Monokel im Auge, langer grauer Gummimantel, Stöckchen mit silbernem Griff und hellgrauer Zylinder – und suchte sich eine gemessene Sprache und gewählte Umgangsformen anzugewöhnen. Über seinem heimischen Schreibtisch hing der Totentanz-Zyklus von Félicien Rops, an den Wänden Bilder von Beardsley und Jan Toroop sowie eine auf schwarzem Seidentuch angebrachte Maske Napoleons über dem Bücherbord. Trotz seiner durch Kleidung und Interieur zur Schau gestellten offensiv antibürgerlichen Haltung zog Moeller, begleitet von Richard Dehmel, vor ein bourgeoises Publikum. In der im vornehmen Westen gelegenen Galerie „Keller und Reiner“ hatte Moeller Anfang 1898 die Möglichkeit, sich als Propagandist der modernen deutschen Literatur zu betätigen. An sechs von der Berliner Gesellschaft für Moderne Kunst gestalteten Abenden las Dehmel eigene und fremde Gedichte, und Moeller gab Einführungen in die Werke von Dehmel, Schlaf, Holz und Mombert.52 In Berlin nahm auch Moellers publizistische Tätigkeit eine neue Größenordnung an. Sein sicheres Gespür für literarische Innovationen, die Kenntnis der modernen Literatur und persönliche Bekanntschaften verschafften ihm Zugang zu weiteren Zeitschriften. So konnte er zwischen November 1897 und Juni 1904 sechs Artikel in dem traditionsreichen Magazin für Litteratur unterbringen. Die seit 1832 in Berlin erscheinende Wochenschrift wurde in diesem Zeitraum von seiner „Stammtischbekanntschaft“, dem Philosophen und späteren Anthroposophen Rudolf Steiner, sowie von Erich Hartleben und Moritz Zitter herausgegeben. Zu den Autoren des Jahres 1899 gehörten neben Moeller auch Maurice Maeterlinck, Samuel Lublinski, Rudolf Steiner und Bruno Wille. Ihrem Selbstverständnis nach war diese Zeitschrift eine vielseitige und vorurteilslose moderne Revue, was auch Moeller zu einer Mäßigung seiner Tonlage veranlasst haben dürfte. In seinen Beiträgen fehlten die in der Gesellschaft noch üblichen Attacken auf vermeintliche Gegner. Seine Besprechungen waren sachlich, wenn er neue Werke schon bekannter Autoren wie Johannes Schlaf und Ar-
51 52
Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 16. Vgl. Hedda Eulenberg, In der Zeit des Naturalismus. Am Vortragspult: Moeller van den Bruck, Berliner Tageblatt, 26.09.1934. Moellers Engagement ist auch durch einen Brief an Richard Dehmel belegt. Darin bittet er den Dichter ihm „umgehend“ mitzuteilen ob er „außer den neuen Gedichten von Holz, nicht noch ein paar andere unveröffentlichte Gedichte lesen könne!? Etwa eigne? Oder Scheerbart, Mombert, Dauthendey? Das wäre dann ein guter Anknüpfungspunkt für meine kleine Anfangsnotiz. Es brauchen ja nur etwa drei Namen zu sein – und ich kann von ‚Verschiedenen‘ sprechen.“ (Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel (05.01.1898), in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg: DA: Br.: M. 424).
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no Holz vorstellte53, und überschwenglich, wenn er dem Publikum gänzlich neue und außergewöhnliche Erscheinungen präsentierte. Zumindest zweimal ist ihm dies gelungen. Das erste Mal im Januar 1899, als er die ersten drei Gedichtbände Alfred Momberts54 präsentierte, und ein weiteres Mal in seiner im Juni 1904 erschienenen Rezension von Dimitij Mereschkowskijs Tolstoi und Dostojewski als Menschen und Künstler (1903).55 Diese Artikel sind insofern bedeutsam, als jener über Mombert der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem außergewöhnlichen Dichter war, die mit einem eigenen Kapitel im dritten Band der Deutschen (1906) endete. Mit der Rezension von Mereschkowskijs Buch begann Moellers DostojewskijRezeption, die in der Herausgabe Sämtlicher Werke Dostojewskijs gipfelte. Richard Dehmel war es vermutlich, der Moeller auf den Lyriker Alfred Mombert aufmerksam gemacht hatte. Zwischen den beiden Dichtern gab es seit dem September 1894 eine intensive Korrespondenz, und im Spätsommer 1896 kam es zu einer ersten Begegnung in Heidelberg.56 Moeller hat dann auf einigen gemeinsam mit Dehmel bestrittenen Vortragsabenden aus den Gedichten Momberts gelesen und eine der ersten öffentlichen Einführungen in sein Werk gegeben. Die Wirkung, die Momberts Lyrik auf den jungen Moeller ausübte, wird von Hedda Eulenburg gut dreißig Jahre später wie folgt beschrieben: „Sie kam seiner eigenen Grenzenlosigkeit entgegen, seinem Abscheu vor all den Banalitäten, die den Inhalt der unvermeidbar gekommenen Kunst ausmachen mußten, dem Ekel vor Brotfragen und [...] dem Geschrei, das von unzeitigen Schwangerschaften gemacht wurde. Mombert riß ihn dahin, wo er selber in jenen Jahren durchaus und allein wirklich heimisch war, in die Welt ungeheuer symbolträchtiger Bilder.“57 Zwischen dieser Deutung und der Rezension gibt es keinen Widerspruch. Moeller begrüßte Momberts Abkehr vom „MenschlichAllzumenschlichen“58 und feierte ihn als einen Dichter, der schon mit seinem zweiten Gedichtband, Der Glühende (1896), zum „Propheten“ geworden sei.59 Momberts 53
54 55 56. 57 58 59
Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Johannes Schlafs drei Essays, in: Magazin für Litteratur, 67. Jg., Nr. 18, 07.05.1898, S. 416–420. Arno Holz und die neue Lyrik, in: Magazin für Litteratur, 67. Jg., Nr. 27, 09.07.1898, S. 633– 637. Arthur Moeller-Bruck, Alfred Mombert, in: Magazin für Litteratur, 68. Jg., Nr. 44, 04.01.1899, S. 1036–1044. Arthur Moeller-Bruck, Tolstoi, Dostojewski und Mereschkowski, in: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Juni 1904, S. 305–308. Vgl. Alfred Mombert. Ausstellung zum 25. Todestag (hg. von Anselm Schmitt), Karlsruhe 1967, S. 171 f. Vgl. Hedda Eulenberg, In der Zeit des Naturalismus. Am Vortragspult: Moeller van den Bruck, Berliner Tageblatt, 26.09.1934. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Alfred Mombert, in: Magazin für Litteratur, 68. Jg., Nr. 44, 04.01.1899, S. 1039. Vgl. ebd., S. 1039.
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Werk, so der Gedankengang des Textes, vollziehe eine Grundtendenz der „Menschheitsentwicklung“ nach, welche „von der Aeußerlichkeit der Anschauung zur Verinnerlichung, von der Naivität zum Raffinement will“60, letztlich aber auch zur Vereinsamung führe. Noch an die äußere Welt gebunden, aber deswegen nicht von geringerer Bedeutung, schien dem Rezensenten der erste Gedichtband, Tag und Nacht (1894). Mombert, so Moeller, hätte hier wie kein anderer die Stellung des Menschen im Kosmos erfasst; sowohl nach unten in dem „Bewußtsein des Tierischen“ als auch nach oben mit dem Gedanken, dass er Teil des „großen Gefüge[s] des Weltalls“ sei.61 In den beiden folgenden Gedichtbänden, Der Glühende (1896) und Die Schöpfung (1897), löse sich dieser Kontakt mit dem Stofflichen. Der Dichter beginne, sich immer mehr als Einzelwesen, aber auch als Ausgestoßener zu fühlen: „Er glüht in sich selbst.“62 Moeller betonte, dass es nunmehr nur noch das „Gefühl zur Schöpfung“ sei, das ihn über seine „Delirien der Verzweiflung hinwegbringt“63, und erkannte in der vollständigen Vergeistigung die besondere Begabung Momberts: „Seine ‚Schöpfung‘ ist dadurch vielleicht die kosmischste Offenbarung geworden, die je in künstlerischer Form geschrieben wurde.“64 So hatte Moeller im Vergleich zu anderen Zeitgenossen ein außergewöhnliches Verständnis für die Bedeutung von Momberts Lyrik. Während beispielsweise Johannes Schlaf 1898 von einer „völlig bodenlosen Mystik“ schrieb, der der „Charakter eines Kunstwerkes gänzlich abhanden“ gekommen sei65, würdigte Moeller Mombert als einen Dichter, der den Menschen in die Unendlichkeit des Alls gestellt, der das menschliche Leben nicht nur tellurisch, sondern planetarisch erfahren hätte und für die Darstellung dieser Erfahrung eine angemessene Sprache gefunden habe. Dieses Urteil wurde dann fünf Jahre später in Samuel Lublinskis Bilanz der Moderne bestätigt.66 Die „Entdeckung“ Momberts hatte Moellers Position im literarischen Leben Berlins gefestigt. Im Februar 1899 erhielt er Zugang zu einem weiteren angesehenen Publikationsorgan, der von Paul Lindau herausgegebenen Zeitschrift Nord und Süd. Hier veröffentlichte er bis zum Oktober 1905 drei Aufsätze. Die in Berlin erscheinende „deutsche Monatsschrift“, wie sich Nord und Süd im Untertitel nannte, gehörte mit der Deutschen Rundschau zu den etablierten gründerzeitlich geprägten Kultur- oder 60 61 62 63 64 65 66
Ebd., S. 1037. Ebd., S. 1038. Ebd., S. 1039. Ebd., S. 1040. Ebd., S. 1041. Johannes Schlaf, Neue Lyrik, in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift, Bd. 15, 11.06.1898, S. 176–169, hier 169. Vgl. Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne (1904), (hg. von Gotthart Wunberg), Tübingen 1974, S. 156.
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Rundschauzeitschriften. Auch wenn Nord und Süd nicht das wissenschaftlich elitäre Niveau der Deutschen Rundschau erreichte, ist diese Zeitschrift in Bezug auf ihre Reputation und Verbreitung als ein im Vergleich zur Gesellschaft gehobener Publikationsort anzusehen.67 Moellers erster Beitrag in Nord und Süd war ein erneuter, diesmal vermutlich autorisierter Lobgesang auf Richard Dehmel. Denn auf den vorangegangen Seiten des Heftes präsentierte der Dichter selbst mit Auszügen aus Lucifer (1899) noch „ein geschlossenes Bruchstück aus einem pantomimischen Drama“.68 Moeller kam daran anschließend die Aufgabe zu, den Dichter und sein bisheriges Werk vorzustellen. Dessen Genese wird von Moeller als Prozess der Reifung und Klärung beschrieben: „Reife ist das Zeichen, unter dem einst die frühe Wildheit“ von Dehmels „Jugend stand und jetzt die Stärke seiner vollen Männlichkeit steht“.69 Betrachtet wurden dafür das Ergebnis der Überarbeitung des ersten Gedichtbandes, der Erlösungen (erstmals 1891), sowie die vorangegangenen Gedichtzyklen Aber die Liebe (1893) und Die Verwandlungen der Venus (1896). Der thematische Schwerpunkt des letzten Gedichtbandes bedingt, dass der Reifeprozess Dehmels von Moeller am Beispiel der künstlerischen Bewältigung des Themas der geschlechtlichen Liebe nachvollzogen wurde. An dessen Ende stehe Dehmels Imagination des „willensbewussten“ männlichen Individuums. Dieses wisse sowohl von seiner Natur – der Notwendigkeit der Arterhaltung, der eigenen Vergänglichkeit – als auch vom bewussten Genießen des Lebens im Augenblick.70 In einem solchen Individuum erblickte der Interpret sein Ideal von einem „großen“ Menschen und mithin den würdigen Mittelpunkt71 der gereiften Lyrik Dehmels. Auch in formaler Hinsicht wurde Dehmels lyrisches Werk von Moeller begutachtet. Das ist neu und als Zeichen wachsenden Selbstbewusstseins anzusehen. Dehmel, so Moeller, habe, da er sich nicht den Zwängen von Reim und Strophe verweigerte, einen neuen lyrischen Kunststil geschaffen, dessen Besonderheit darin bestehe, dass es „alle Eigenthümlichkeiten unserer Tage“, nicht als Einzeltöne, sondern in einer großen Synthese, als Sinfonie zum Klingen brächte.72 In diesem Zusammenhang stellte Moeller Dehmel auch über Stefan George, dem er vorwarf, lediglich sein gänzlich subjektives „ästhetische[s] Bedürfnis“73 zu befriedigen.
67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis, Berlin 1989, S. 62 f. Richard Dehmel, Lucifer. Ein Tanz- und Glanzspiel, in: Nord und Süd, 22. Jg., Bd. 88, Heft 263, Februar 1899, S. 140 ff. Arthur Moeller-Bruck, Richard Dehmel, in: Nord und Süd, 22. Jg., Bd. 88, Heft 263, Februar 1899, S. 162–172, hier 163. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 168. Ebd., S. 170. Ebd.
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Indem Moeller Dehmel auch in der Formgebung über George und auch über Holz stellte, bezeichnete er ihn als den maßgeblichen Lyriker seiner Zeit. Sein Werk war für ihn der ideale künstlerische „Ausdruck der Gegenwart“.74 Solch ein Urteil ließ eine differenzierte Sichtweise auf den Dichter, wie sie Moritz Heimann schon 1897 in der Neuen Deutschen Rundschau empfohlen hatte, nicht zu. Heimann, obwohl sonst voll des Lobes für Dehmels Lyrik, kritisierte den in dem Zyklus Weib und Welt (1896) offensichtlich werdenden „Mangel an Anschaulichkeit“.75 Moeller hingegen war für ein solches Defizit – wohl, weil auch seine Schriften darunter leiden – völlig unempfindlich. Abstriche in der Bewunderung für den Dichter waren in diesem Aufsatz auch deshalb nicht möglich, weil es nicht darum ging, einen jungen, entwicklungsfähigen Autor durchzusetzen oder auch nur zu empfehlen. Das Anliegen dieser an gehobenem Ort erschienenen Publikation war es vielmehr, einen bereits etablierten Autor weiterzubringen, auf seinem Weg zur Kanonisierung. Dass Richard Dehmel und Paul Lindau Moeller eingeladen hatten, dabei behilflich zu sein, spricht einmal mehr dafür, dass man ihn, nachdem er schon mehrmals auf das Werk Dehmels aufmerksam gemacht hatte, als Literaturkritiker zu schätzen gelernt hatte. Hierdurch in seinem Selbstvertrauen gestärkt, widmete der eher langsam schreibende Moeller seine ganze Kraft dem ersten seiner ehrgeizigen Pläne. Er begann mit der Niederschrift einer Trilogie über die moderne deutsche Kunst, vollendete aber nur den ersten Band. Nachdem seit 1899 vier Jahre lang Teillieferungen dieses ersten Bandes erschienen waren, kam 1902 das vollständige Buch unter dem Titel Die moderne Literatur heraus. Es war eine 795 Seiten umfassende kritische Würdigung der zeitgenössischen Literatur, eine eindrucksvolle Leistung, wenn man bedenkt, dass Moeller gerade erst 22 Jahre alt war, als er mit seiner Arbeit begann, zumal 1902 auch noch ein weiteres Buch, die Abhandlung über Das Varieté erschien.
74 75
Ebd., S. 162 f. Moritz Heimann, Richard Dehmel, in: Neue Deutsche Rundschau, 8. Jg., Heft 12, Dezember 1897, S. 1280–1289, hier 1283.
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2.2. „Die moderne Literatur“ 2.2.1. Plan und Anspruch Moellers erstes umfangreiches Werk erschien in zwölf schmalen Einzelbänden von 1899 bis 1902 unter dem Sammeltitel Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen bei Schuster & Loeffler in Berlin und Leipzig.76 Die durch ihren markanten Einband auch als blaue Hefte bekannten zwölf Einzelbände wurden 1902 unter unerheblichen Veränderung der Texte zu Die moderne Literatur vereint. Das in einer Auflage von 600 Exemplaren erschienene Werk77, sollte jedoch nur der erste Teil eines noch umfangreicheren Projekts sein.78 Moeller hatte geplant, eine Trilogie über die moderne deutsche Literatur zu schreiben, und hoffte, schon 1903 einen Band über Das moderne Drama herausbringen zu können. Ihm sollte, sofern die Produktion jüngerer Autoren es rechtfertigte, „recht bald“ ein „Separatband“ mit dem Titel Der deutsche Roman folgen. Diese Werke sind niemals geschrieben worden, und auch die Vollendung des ersten Teils verzögerte sich immer wieder. Moeller und sein Verlag rechneten zunächst damit, jeden Monat einen Teilband und das vollständige Werk bis Ende 1900 publizieren zu können. Moeller kam jedoch mit der Produktion nicht hinterher. Ein sicheres Indiz hierfür: Die später erschienenen Bände sind deutlich kürzer als die des Jahres 1899. Der stärkste Band der Serie, Die deutsche Nuance (1899, Bd. 4), misst 160 Seiten, Der neue Humor: Varietéstil und die Propheten (1902, Bd. 11 und 12) nur noch etwa 40 Seiten, wobei bei Letzteren zehn Seiten nahezu identisch mit einem früher erschienenen Artikel sind. Trotz dieser seriellen Produktion und ihres fragmentarischen Charakters vermag Die moderne Literatur als frühzeitiger Versuch einer Gesamtdarstellung der modernen deutschen Literatur auch für sich zu stehen. Mit Nietzsche einsetzend, behandelte Moeller die Dichter Hermann Conradi, Detlev von Liliencron, Arno Holz, Johannes Schlaf, Gerhart Hauptmann, Stanislaw Przybyszewski, Richard Dehmel, Hermann Stehr, Otto Julius Bierbaum, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg, Paul Scheerbart, Frank Wedekind, Max Dauthendey und Alfred Mombert. Die Qualität der einzelnen, Aufsätze ist höchst unterschiedlich. Anders als in seinen bis76
Die Titel der einzelnen Bände lauten: Tschandala Nietzsche (1899), „Neutoener!“ (1899), Die Auferstehung des Lebens (1899), Die deutsche Nuance (1899), Mysterien (1899), Richard Dehmel (1900), Unser aller Heimat (1900), Bei den Formen (1901), Stilismus (1901), Das junge Wien (1902), Der neue Humor: Varietéstil (1902), Propheten (1902).
77
Vgl. Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel (14.06.1901), in: NL Richard Dehmel: SUB Hamburg: DA: Br.: M: 433. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 795.
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herigen Rezensionen schrieb Moeller nun auch über Autoren, für deren Werk er überhaupt kein oder nur ein eingeschränktes Verständnis hatte, die er ob seines hohen Anspruches aber nicht unerwähnt lassen konnte. Hugo von Hofmannsthal und Stefan George wären hier zu nennen. Anderseits können die Darstellungen, bei denen sich die Interpretation auf einen persönlichen Kontakt mit dem Autor stützte, noch heute im literaturwissenschaftlichen Sinn als gehaltvoll gelten. Das trifft besonders auf die Beiträge über Stanislaw Przybyszewski, Hermann Stehr und Alfred Mombert zu. Hinzu kommt das Verdienst, den Ruf einiger dieser zumeist jungen Dichter durch eine erste umfangreiche Würdigung begründet zu haben. Jedoch erweist sich der Anspruch, die Entwicklung der modernsten Literatur, ihr gesamtes „Ideen- und Gefühlsgebiet“ zusammenfassend darzustellen, als Verlagsreklame.79 Moeller fehlten hierfür literaturgeschichtliche Vorkenntnisse und methodische Schulung ebenso wie die für eine zusammenfassende Darstellung unabdingbare Distanz zum Gegenstand. Ursächlich für eine Vielzahl von Defiziten waren nach Auffassung Moellers vor allem die Produktionsbedingungen. Gegenüber Richard Dehmel bekannte er: „Ich glaube, das Buch dürfte so, wie es als solches vorliegen wird, keinen einzigen Widerspruch zwar, aber eine ganz nette Anzahl an Unbeholfenheiten, Umständlichkeiten, Wiederholungen enthalten. Und da wird es gut sein, wenn die Leser spüren, daß die Schuld nicht an einem Unvermögen der einzelnen Materie gegenüber lag, sondern an der einfachen Thatsache, daß der erste Satz in Druck gegeben werden mußte, bevor die Fülle der weiteren geschrieben war. Mehr noch: daß über einen Autor geurteilt wurde, bevor ich über seinen Gegenpol so recht klar war. Daß so das Ganze also gewissermassen erst vorletzte Niederschrift ist!“80
Ein Rezensent bemerkte, dass „diese interessante kleine Schrift [der Verfasser bespricht nur den VI. Band Richard Dehmel][...] mitten in ihrem inneren Entstehen niedergeschrieben sei“, meinte aber auch, auf einen „gewissen Mangel an plastischer Darstellung“ hinweisen zu müssen: „[...] die reichen Gedanken des Verfassers drängen durcheinander. Er kann sich ihrer, habe ich das Gefühl, kaum erwehren; so machen sie sich den Rang streitig; ein unruhiger Eindruck bleibt.“81 Dieser unruhige Eindruck entspringt vor allem dem offenkundigen Unwillen zum abwägenden Urteil sowie aus dem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein des Autors. Moeller wollte mehr sein als nur ein Literaturkritiker: Er wollte in den künstlerischen Äußerungen seiner Zeit den Zeitgeist, ihren „Stil“ – für Moeller der „Form gewordene Rhythmus der Zeiten“82 – entdecken und eine Deutung der Epoche vom Standpunkt eines mo79 80 81 82
Vgl. Schlussseite in jedem Einzelband Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel (14.06.1901), in: NL Richard Dehmel: SUB Hamburg: DA: Br.: M: 433. Richard Dehmel, in: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde, 3. Jg., Heft 21, August 1901, S. 1506. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 13.
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dernen Literaten schaffen. So war das, was er in Die moderne Literatur schrieb, nicht allein eine Bestandsaufnahme sprachlicher Kunstwerke, sondern auch eine didaktische Darstellung der jüngeren Geschichte und Gegenwart, oder wie Fritz Stern schrieb: „eine willkürlich geschaffene Vergangenheit, die zu einer imaginären, idealen Zukunft hinführen sollte“.83 Die Grundannahme dabei war, dass sich während der vergangenen Jahrzehnte eine gewaltige Umwälzung auf geistigem Gebiete vollzogen habe, die von Nietzsche als Erstem erkannt worden sei und deren Bedeutung nunmehr von einer neuen Künstlergeneration begriffen und erklärt werden müsse. „Liliencron und Nietzsche [...] stehen an der scharfen Biegung, mit der die Kultur in unserer Zeit von der öden Heerstraße vielhundertjähriger moralischer Lebensanschauung und moralischer Lebensbethätigung abbog, um in ein neues Land zu wallfahren – in ein Land, in dem das Leben in Macht und Größe und in Schönheit und Größe wiedererstanden war und seine bunten Reigen um das Dasein flocht.“84
Künstler im Allgemeinen und Schriftsteller im Besonderen seien demnach als geniale Individuen bestimmt, Seher, Propheten und Erzieher der Menschheit zu sein. Sie scheinen der „krampfhaft gestreckte Arm, der in trüber Nacht auftaucht aus dem Chaos des Noch-Allgemeinen, Allzuallgemeinen, um mit bebendem Finger von sirrenden Sternen das Neue, Ungewöhnliche, Nochnichtdagewesene herabzustreifen“.85 Quer zu solchen, die Kunst als „Wegweiser“86 in Anspruch nehmenden Vorstellungen liegt jedoch der Gedanke, dass die einzelnen Dichter im Grunde nur Medien des prinzipiell vitalen Zeitgeistes seien. Nach Auffassung Moellers war es die „Zeit, die durch das Wort der ihr angehörenden Dichter verkünden will, was ihr an homologen, parallelen und divergierenden Werten eigentümlich ist“.87 So erfuhr zwar auch ein unter Dekadenzverdacht stehender Schriftsteller wie Stanislaw Przybyszewski eine vormalige Sympathien bestätigende Würdigung. Letztlich bescheinigte ihm der sich nun als Volkserzieher betätigende Bohemien jedoch, dass „keiner die Bejahung des Daseins unsäglicher missachtet, keiner [...] sie wilder verleugnet oder unbändiger verhöhnt“ hätte „wie Stanislaw Przybyszewski“.88 Über Richard Dehmel als die zentrale Gestalt der Modernen Literatur hingegen ist zu lesen, dass „er Gedichte schrieb, deren sinnlicher und geistiger Wert als die künstlerisch stärkste Äußerung des Entwicklungswillens unserer Zeit zu definiren [sic] ist.“89 Somit zeichnen sich in Moellers Urteilen auch die Grundzüge seiner Lebensphilosophie ab. Er verband eine robu83 84 85 86 87 88 89
Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern u.a. 1963, S. 228. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 137. Ebd., S. 7 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 92. Ebd., S. 332 f. Ebd., S. 368.
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ste, weit verbreitete Vorstellung von Nietzsches Übermenschen mit einer stark vereinfachten Auffassung von Darwins Kampf ums Dasein und fand so zu einer Einstellung, deren „prototypische Formel“90 er in Richard Dehmels Imagination eines Menschen, „der dem Schicksal gewachsen ist“,91 entdeckte. Moellers avantgardistischer Kulturoptimismus (vgl. 1.) erschöpfte sich jedoch nicht in Sympathien für eine vitale Energien beschwörende Literatur. Dass der junge Kritiker bereits um 1900 den Aufschwung einer dezidiert deutschen Kultur herbeizusehnen begann, bestätigt ein in der Wiener Rundschau (1899) erschienener Beitrag, in dem Moeller Langbehns Rembrandt als Erzieher als „erdgeborene[n] Culturausdruck“ würdigte. Moeller zufolge drängten „unsere Tage [...] in Leben und Kunst dahin, auf einer einheitlichen und, wenn man recht versteht, nationalen Basis die Unzahl der neuwertigen Linien zu schliessen und die Kräfte, von denen diese bewegt sind, in einem gemeinsamen Punkte zusammenströmen zu lassen: zu einer mystischen Synthese aller Gegenwartswerte, die den Dingen unseres Daseins ihre so besondere Bedeutung zutheilt – ihren so ganz eigenthümlichen Sinn, der diesen Dingen das Augenblickliche lässt und zugleich das Ewige mit einer gewissen unzweifelhaften Nuance begabt, an der allein der Stil unserer Cultur erkennbar werden kann“.92
In dieser Würdigung von Langbehns nationalpädagogischen Ausführungen deutet sich an, dass Moeller sich nicht allein für die Darstellungsleistung der ihm vorliegenden sprachlichen Kunstwerke interessiert. Er hebt gezielt diejenigen Texte heraus, die seiner Ansicht nach den „Stil“ der künftigen deutschen Nationalkultur zu prägen versprechen. So scheinen letztlich alle seine Werturteile von der Sehnsucht nach einem großen, die nationalen Eigenheiten in einer zeitgemäßen Form zum Ausdruck bringenden Werk geprägt.
2.2.2. Auseinandersetzung mit der Dekadenz: Nietzsche, Conradi, Przybyszewski Gemäß seiner Auffassung, dass der im Grunde vitale Zeitgeist auf eine immer deutlichere Ausformung dränge, kritisierte Moeller in seinem Erstling zunächst diejenigen Dichter, denen „im Persönlichen“ noch ein „negative[s] Moment“ anhaften würde.93 So ist der unter dem Titel Tschandala Nietzsche (1899) veröffentlichte erste Teilband der Serie beispielhaft dafür, dass Moellers emphatische Vorstellung vom modernen Leben Die moderne Literatur maßgeblich bestimmt hat. Das Wort Tschandala ist 90 91 92 93
Ebd., S. 431. Richard Dehmel, Eine Lebensmesse. Dichtung für Musik, in: Ders., Erlösungen, 2. Aufl., durchweg verändert, Berlin 1898, S. 300, 302, 306. Arthur Moeller-Bruck, Zur Kunst des Hintergrundes, in: Wiener Rundschau. Zeitschrift für Cultur und Kunst, 3. Jg., Heft 18,1899, S. 435–437, hier 437 u. 435. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 361.
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dem Werk Nietzsches entnommen. In der Götzen-Dämmerung (1889) benannte es einmal die unterste, nach dem Gesetz der Manu von allen anderen geschmähte HinduKaste94 und ein anderes Mal als Tschandala-Gefühl das selbst gewählte Schicksal außergewöhnlicher Menschen, ausgeschlossen zu sein von der wilhelminischen Gesellschaft.95 Auch Nietzsche, der laut Moeller „wie keine andere Persönlichkeit unserer Zeit [...] uns den Begriff: Dekadent“96 illustriert habe, trage dieses Zeichen des Tschandala. Er habe erkannt, „dass er in einem trägen Menschenmeere von genügsamer und noch dazu eingebildeter Mittelmäßigkeit, erbärmlicher Kleinheit und behaglichem Alltagsinteresse stand. [...] Aber gleichzeitig fühlte er auch mit instinktiver Gewissheit, dass sein Temperament nie mit den bedächtigen Schleichgängen seiner Zeitgenossen gleichen Schritt halten würde.“97 Das heißt, als Nietzscheaner erklärte Moeller den Meister zunächst zu einem großen Einzelnen, dem die in Mittelmäßigkeit verharrende Menge den Tribut der Bewunderung verweigerte, weil der sich seinerseits von dieser Menge distanzierte. Damit war zugleich aber auch der Einwand gegen die Person Nietzsches formuliert: „Seine [Nietzsches] geistige Physiognomie zeigt denn auch alle Merkmale einer Tschandalanatur unserer Zeit schmerzhaft ausgeprägt. Unzugehörigkeit zur Menschheit steht da geschrieben – Unfähigkeit zum Genuss, Unzufriedenheit, Ohnmacht, Trotz und verhaltene Erbitterung. Immer war Nietzsche der Kranke, dem die eigene Schwäche die Befriedigung seiner Gelüste verbat.“98 Schließlich ist der nunmehr zur Verherrlichung des Vitalismus tendierende Kritiker der Ansicht, dass Nietzsche sich als höherer Mensch nicht nur in seinem literarischen Werk99, sondern auch im „Leben“ hätte bewähren müssen, weshalb dessen Weltflucht von Moeller nunmehr als Zeichen der „Einseitigkeit“100 und also als Makel gedeutet wird. Damit jedoch nicht genug. Der stark von der Lebensphilosophie Nietzsches ab94
95 96 97 98 99
100
Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, in: Ders., Kritische Studienausgabe (hg. von Ciorgio Colli und Mazzino Montinari), München 1999, Bd. 6, S. 100. Vgl. ebd., S. 147 f. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 46. Ebd., S. 14. Ebd., S. 46. Weil Moeller über keine systematische philosophische Vorbildung verfügte und eine philosophische Untersuchung in einer Darstellung der modernen Literatur auch gar nicht am Platze wäre, verlegte sich der junge Kritiker auf eine Betrachtung dessen, was er als das „künstlerische[...] Schaffen[...]“ (ebd., S. 22) Nietzsches apostrophierte. Mehrmals betonte er seine Absicht, nur „die intuitiv, schöpferische, dichterische Persönlichkeit Nietzsches in ihren Umrissen“ festlegen zu wollen (ebd., S. 21). Konkret bedeutet dies, dass er sich auf eine oberflächliche Interpretation von Also sprach Zarathustra (1883–85) nebst einiger Gedichte sowie die Deutung des Lebensweges beschränkte, wichtige Werke gänzlich unerwähnt lässt bzw. auf einen Aspekt reduziert oder nur am Rande erwähnt. Ebd., S. 45 f.
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hängige Moeller bescheinigt Nietzsche ferner eine „Unfähigkeit zum Leben“, kritisiert die „Einseitigkeit seines theoretischen Genies“101 und bestätigt damit den polemischen Charakter des Lebensbegriffes.102 Zugleich ist durch diese gegen den vermeintlich dekadenten Intellektualismus Nietzsches gewendete vulgäre Lebensphilosophie auch die Stoßrichtung der Beurteilung von Also sprach Zarathustra (1883–85) vorgegeben.103 Volle Zustimmung fand dabei die „glänzende Kritik der Zeit“104, der wilhelminischen Gesellschaft.. Desinteressiert bis ablehnend hingegen stand Moeller den wichtigen positiven Entwürfen des Zarathustra gegenüber. Die Idee der ewigen Wiederkunft erwähnte er mit keinem Wort, und der Übermensch ward gemäß der Forderung nach künstlerischer Authentizität als „Faktum der Selbsttäuschung“105 und „unendlich erhabenes Phantom“106 bezeichnet. Weil der in einem „begeisterten Rauschzustande“107 gesehene Übermensch keine Entsprechung im „Leben“ Nietzsches hätte, das vitale „Leben“ aber den Maßstab abgab für die Beurteilung des Werkes, kam Moeller zu dem Schluss, dass Also sprach Zarathustra in der Schilderung des Übermenschen „den Ton der ruhigen, sicheren Ueberzeugung verlor und die Nuance einer ganz bewußten Selbstlüge bekam“108, weshalb das ganze Buch auch als ein Zeugnis der „Schwäche“ und des „Erlösungsbedürfnis[ses] des unfreien Menschen“109 Nietzsche anzusehen sei. Dieses Fazit bestimmte letztlich auch die Positionierung Nietzsches innerhalb der Modernen Literatur. Nietzsche war für den jungen Kritiker nun mehr nicht die Richtschnur, an der sich alle anderen hätten messen müssen. „Nur als Vorläufer erscheint er – als Späher, den die alte Kultur in die Wildnis der neuen ausschickte und der darin umkam; freilich nicht ohne die Zweige zu knikken, die den nachrückenden Massen die Richtung zeigten, die sie nehmen muss-
101 102 103
104 105 106 107 108 109
Ebd., S. 48. Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978, S. 57 ff. Keineswegs originell ist die Interpretation des Zarathustra. Bezeichnend für ihr Niveau ist die Behauptung einer uneingeschränkten Identität von Nietzsche mit seiner Figur: „der Held, Zarathustra, ist Nietzsche selbst“ (S. 33). Zwar muss man dem jungen Autor zugute halten, dass die Differenz zwischen dem Autor Nietzsche und seiner Figur Zarathustra jedoch erst in jüngerer Zeit einer größeren Leserschaft bewusst geworden ist. (vgl. Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Würzburg 2000, S. 220).Doch zeigt sich hier erstmals die der ganzen Serie eigene Tendenz, von den formalen Eigenschaften eines sprachlichen Kunstwerks abzusehen, und es als Mainfest des vom Künstler erfahrenen Zeitgeistes zu lesen. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 36 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 49. Ebd., S. 40. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33.
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ten.“110 Dass Moeller bei seinem Versuch, Nietzsche als „Vorläufer“ einer vitalen zeitgenössischen Literatur zu verorten, nicht eben glücklich agierte, war bereits seinen Zeitgenossen aufgefallen. So riet ihm der sonst wohlwollende Michael Georg Conrad in einer in der Gesellschaft erschienenen Rezension dringend zum Besuch eines „vertrauenswürdigen Nervenarztes“, derart abstrus schien ihm die Behauptung Moellers, aus dem Zarathustra eine „Selbstlüge“ Nietzsches herausgehört zu haben.111 Und in einer in Das litterarische Echo veröffentlichten Sammelbesprechung war zu lesen, dass man in dieser in „einem recht fragwürdigen Deutsch brillierende Negation“ seiner Dichtung Nietzsche unmöglich wiedererkennen könne.112 Durch diese von Arthur Seidel (zu diesem Zeitpunkt Herausgeber am Nietzschearchiv) verfasste Rezension wird deutlich, dass Moeller, obwohl er das gern für sich in Anspruch nahm, zu keinem Zeitpunkt als ein Kenner der Werke Nietzsches galt. Die in dem Band über Nietzsche so starke lebensweltliche Argumentation dominiert auch den Hermann Conradi (1862–1890) gewidmeten Teilband. Das Leben und Werk des schon im Alter von 27 Jahren verstorbene Dichters wurde von Moeller in Neutoener (1899, Bd. 2 der Serie) unter der bezeichnenden Kapitelschrift Zeitopfer dargestellt. Conradi erschien darin als herausragender Vertreter der dem „Vorläufer“ Nietzsche folgenden frühnaturalistischen Dichtergeneration, einer „jungen Generation“113, der noch etwas Unsicheres und Unfertiges angehaftet hätte, die ob ihres engen, vom studentischen Dasein bestimmten Lebenshorizonts noch keinen Sinn hatte für die grundlegend neuen Tendenzen des modernen Lebens114 und die sie daher nicht künstlerisch darzustellen vermochte. Das tragisches Schicksal dieses „Übergangsmensch[en]“.115 – er starb, völlig verarmt und körperlich ausgezehrt, an den Folgen einer Lungenentzündung – unterschied sich Moeller zufolge kaum von dem vieler anderer unbekannter Poeten, die „diese Zeit [die zweite Hälfte der 1880er Jahre] brutal auf den Markt des Lebens ausspie“.116 Gleichwohl habe Conradi ein Werk hinterlassen, auf das die „Literaturgeschichte der Zukunft“ zurückgreifen müsse, 110 111 112 113 114 115
Ebd., S. 44. Michael Georg Conrad, Nietzsche-Literatur, in: Die Gesellschaft, 15. Jg., April 1899, S. 74. Arthur Seidel, Neuere Nietzsche-Litteratur, in: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde, 1. Jg., Heft 19, 1. Juli 1899, S. 1198. Überschrift der Einleitung. (Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 53). Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 84. Moeller übernimmt hier eine Formulierung Conradis. Dieser hatte sich in einem nicht vollendeten Essay – Ein Kandidat der Zukunft – Uebergangsmenschen (1890) – als „Uebergangsmensch“ bezeichnet (Hermann Conradi, Ein Kandidat der Zukunft – Uebergangsmenschen, in: Gesammelte Schriften (hg. von Gustav Werner Peters) 3 Bde., München und Leipzig 1911, Bd. 3., S. 447–481, hier 454).
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„wenn sie die Gesetze, die revolutionären und evolutionären Faktoren bestimmen will, die die rapiden Wandlungen in Kultur und Kunst unseres Jahrhunderts bewirkt haben“.117 Wichtig an diesem Werk war für Moeller auch dessen Nietzsche-Bezug. Conradis Schriften sind durchsetzt mit Versuchen, Nietzsche literarisch zu erschließen. In den Liedern eines Sünders (1887) findet sich ein Gedicht mit dem Titel Triumph des Uebermenschen (1887)118 und in Conradis erstem Roman, Phrasen (1887), bezeichnet sich die stark autobiographisch gefärbte Hauptgestalt des Heinrich Spalding als „Jünger Nietzsches“.119 Im Sinne seiner Kritik an Nietzsche konstatierte Moeller daher zunächst, dass Conradi, „mit einer blinden Begeisterung“, die Worte Nietzsches aufgriff, anders als dieser aber der „Wirklichkeit des Daseins“ verbunden sei.120 Dabei ging sein Lob dieses Dichters, auf einen Roman – Adam Mensch (1889) – zurück, in welchem die Gedanken Nietzsches nur noch als hohle Phrasen aus dem Munde des aufgeblähten Helden, des Privatdozenten Dr. Adam Mensch, vorkommen. Bemerkenswert schienen Moeller vor allem die „Psyche“ und das „Naturell[...]“121 der Hauptfigur sowie ihre Abhängigkeit von anderen Akteuren wie der verkümmerten Philosophentochter Hedwig Irmer oder dem „Vollblutweib“122 Lydia Lange. Er konstatierte Menschs geistige und emotionale Leere, seine zynische Brutalität. Moeller meinte, dass es sich bei Mensch um „ein durchaus problematisches negatives Individuum“ handle, das „zum Leben, nicht zum Tode verurteilt zu sein scheint und nur durch seinen unbändigen Freiheitsdrang eine positive Beziehung zwischen sich und dem Leben herstellt“.123 In diesem Sinne suchte Moeller verständlich zu machen, dass Menschs Opfer diese negativen Züge durch ihre Disposition erst bestimmend werden ließen124, der Roman nicht nur das Leben eines von den tradierten Bindungen und Werten befreiten, zwischen Triebhaftigkeit und Selbstreflexion schwankenden modernen Individuums, sondern das Wesen der modernisierten Gesellschaft überhaupt darstelle: So sei es „Conradi thatsächlich gelungen, den Rhythmus festzuhalten, nach dem sich der ganze Übergangsprozess vollzog“125, wie denn Adam
116 117 118
119 120 121 122 123 124 125
Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 68. Ebd., S. 70. Ein 36-zeiliges Gedicht mit dem Schluss: „Glaubst du den Sternen, vergißt du der Schatten,/ Die dir zu Füßen in Knäuln sich winden:/ Die sich in der Kraft nie verloren hatten,/ Werden in der Kraft sich nie wiederfinden!“ (Hermann Conradi, Triumph des Uebermeschen, in: Lieder eines Sünders, Leipzig 1887, S. 145 f.). Hermann Conradi, Phrasen, Leipzig 1887, S. 43. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 72. Ebd., S. 79. Ebd., S. 83. Ebd., S. 80. Ebd., S. 82. Ebd., S. 71.
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Mensch auch der „erste[...] moderne[...] Roman überhaupt“ sei.126 Da er Conradi zugleich attestierte, mit Mensch „einen neuen, in seiner Zerrissenheit doch wieder einheitlichen Typus“127 geformt zu haben, zeugt seine Interpretation des Romans nicht zuletzt auch von der Integrationsleistung, die Moeller der modernen Literatur zuwies. Indem er die Figur des Adam Mensch sowie das Leben ihres Schöpfers, Hermann Conradi, als typisch für die Folgen der in den 1880er Jahren sich beschleunigenden gesellschaftlichen Modernisierung annahm, bekräftigte er zudem seinen Anspruch, nicht nur Literaturkritiker, sondern auch Analyst des Zeitgeistes sein zu wollen. Stanislaw Przybyszewski, dem der fünfte Band der Serie – Mysterien (1899) – gewidmet war, schien Moeller ebenfalls eine im Negativen befangene Übergangserscheinung zu sein. Kennzeichnend für Moellers Positionierung des Polen als „einseitig entwickeltes Temperament“128 ist, dass er ihn den „Dichter[n] der Seele“129 zuschlug, die ihr Augenmerk weniger der äußeren Form als vielmehr den im Grunde des Herzens verborgenen Inhalten zugewendet hätten. Diese (Moeller nennt keine weiteren Vertreter) würden, da sie den „psychologische[n] Naturalismus“130 begründeten, zwar einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der künstlerischen Epochenstruktur geleistet haben, doch sei der „Gefühlsgehalt“ ihrer zu einem Übermaß an psychopathologischen Elementen neigenden Dichtungen „durchweg negativer Art“.131 Auch sei Przybyszewski derjenige unter den zeitgenössischen Dichtern, welcher „die Bejahung des Daseins und der Daseinskräfte unsäglicher missachtet“132 hat als jeder andere. Demnach war es ein zweifelhaftes Kompliment, wenn der Kulturoptimist Moeller der Eigenart und Geschlossenheit des Gesamtwerks Rechnung tragend, alle Publikationen Przybyszewskis unter einem Begriff zusammenzufassen suchte: „Zur Psychologie des Individuums“.133 Das semantische Volumen jenes Titels, den die beiden ersten Essays des Polen erhalten hatten134, schien Moeller den Inhalt sämtlicher nach126 127 128 129 130 131 132 133 134
Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 352. Ebd., S. 325. Ebd., S. 316. Ebd., S. 332. Ebd. Vgl. ebd., S. 338. Stanislaw Przybyszewski, Zur Psychologie des Individuums, 2 Bde. (1. Bd. Chopin und Nietzsche, 2. Bd. Ola Hansson), Berlin 1892. In Chopin und Nietzsche erblickte Przybyszewski zwei repräsentative Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit. Laut Przybyszewski eigne diesem ein Gefühl der Dominanz und die Unmöglichkeit es zu befriedigen. Sonderstellung und soziale Isolierung, nervliche Übersensibilität und eine damit verbundene Intensität des Empfindens, insbesondere des Schmerzempfindens, ungenutzte Schöpferkraft und Schwächung der individuellen Lebenspotenz – diese Merkmale lassen das zeitgenössische geniale Individuum zum Instrument kultureller Veränderungen werden, zugleich verurteilen sie es zum Untergang
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folgender Publikationen zu bündeln. Dabei war, Moeller zufolge, Leiden für Przybyszewski das einzige Lebensgesetz, Rausch und Ekstase hingegen die einzigen Mittel, die – wenigstens zeitweise – Linderung brächten. Dieses Leiden des modernen Menschen zeige der Autor der Totenmesse (Prosapoem, 1893)135 in verschiedenen Varianten, in immer neuen Inkarnationen von Adam und Eva; zur Grundlage des Erlebens seiner Gestalten mache er jedoch stets die eigene, intime Erfahrung: „[...] diese Menschen sind alle Przybyszewski selbst“.136 So beschreibe der neurasthenische Pole wie kein anderer das moderne Individuum, bei welchem Gefühl und Gehirn auseinanderfielen. Er unternehme den komplizierten Versuch, die Veränderungen aufzudecken, die in seinen Zeitgenossen vorgingen, um damit den Charakter der Gegenwart und deren neue Qualität zu enthüllen. Przybyszewskis Dichtung wurde von Moeller nicht nur als Erkundung der menschlichen Psyche gedeutet, sondern auch als eine Art intellektuell-diskursive Äußerung namentlich zur Problematik der modernen Sexualität gesehen. Gerade diese Aktualität, dieser Einklang mit dem emotionalen Klima der Epoche raube den Werken ihren „ewigen“ Wert und die Chance auf einen Nachruhm: So weise Przybyszewskis Schaffen zwar einerseits auch die Tendenz zur Darstellung absoluter, ewiger Wahrheiten auf, anderseits seien aber insbesondere die Romane (etwa der Roman Satans Kinder (1897) „an Übergangserscheinungen gebunden“137, was einen allzu häufigen Abfall des künstlerischen Niveaus bewirke. Am höchsten bewertet wurden folgerichtig die Prosapoeme: In Totenmesse erweise sich Przybyszewski als Interpret seiner Zeit, in Vigillen (1895) und Himmelfahrt (1894) als Prophet der Ewigkeit, in der Romantrilogie Homo sapiens (1896) erblickte Moeller die „europäische“ Fortsetzung von Hermann Conradis Roman Adam Mensch.138 Przybyszewski, der laut Moeller „von den Bluttraditionen des dekadenten Polentums [...] erfüllt ist“139, wird in Die moderne Literatur noch öfter erwähnt, insbesondere in jenen zwei Bänden – Richard Dehmel (1900) und Unser aller Heimat (1900) – in denen er den Spiegel bildet, in dem sich die Epoche selbst betrachtet und dessen Refle-
135
136 137 138 139
zugunsten der Gattungsevolution. In Chopin und Nietzsche erblickte Przybyszewski vor allem die Träger „kranker Nerven“, äußerst empfindsame Psychologen des Unbewussten. Das Poem, das mit der blasphemischen Paraphrase des ersten Satzes aus dem JohannesEvangelium, „Am Anfang war das Geschlecht“, beginnt, ist eine ungewöhnliche Schöpfungsgeschichte. Przybyszewski deutet darin das Geschlecht als wirkendes Element jeglicher Entwicklung, als Triebkraft des Lebens, als kosmische Macht, die die Welt geschaffen hat und ihre Evolution bestimmt. Das neurotische und pathologische Ich des Poems wird vom Autor als Versuchsobjekt betrachtet, das der Erkundung des individuellen Lebens in Bezug auf seinen „Geschlechtswillen“ dient (vgl. Stanislaw Przybyszewski, Totenmesse (Einleitung), Berlin 1893, S. 9). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 337. Ebd., S. 354. Vgl. ebd., S. 343–349. Ebd., S. 345.
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xe mit anderen, gegensätzlichen poetischen Auffassungen kontrastieren. Moeller stellt darin Przybyszewski den nach seiner Meinung bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Dichtern gegenüber: Richard Dehmel und Johannes Schlaf. Er erkannte die Inspirationen Przybyszewskis an mehreren Stellen, vor allem in Dehmels Gedichtband Aber die Liebe. Hier fand Moeller Ähnlichkeiten im thematischen Bereich. Die Darstellung der Liebe, besonders des „Weibmysteriums“, erinnere an eine Spezifik im Werk des Polen.140 Die – an Przybyszewski geschulte – okkultische Beziehung zur Frau sei jedoch in den folgenden Dichtungen von Dehmel überwunden worden. Nach Moeller bildete Dehmel trotz der engen Verbindung zu Przybyszewski dessen Gegenpol, und zwar sowohl im Formalen (Dehmels Werke seien das Ergebnis sorgfältiger künstlerischer Bearbeitung) als auch im Ideologischen (Dehmel sei von der pessimistischen Ethik Przybyszewskis weit entfernt).141 Auch das Werk von Johannes Schlaf, obgleich Przybyszewskis Schaffen verwandt142, weist laut Moeller bei der Erfassung und poetischen Abbildung der Realität beträchtliche Divergenzen auf. Moeller verglich die Schriften des Deutschen und des Polen und gelangte zu dem Schluss, Denkart und Weltempfinden beider seien gegensätzlich. Während Schlaf Leben und Tod ein freudiges Ja zurufe, berausche sich Przybyszewski am Leiden.143 Bei dem einen finde man ein Bild des Glücks und die Bejahung des Daseins, bei dem anderen das Leben unter dem Blickwinkel äußersten Leidens. Moeller schrieb: „Przybyszewski ist wohl der Tiefere, in dessen Wahnidee ein eigenes Leid zum riesigen Leiden der ganzen Menschheit auswächst.“144 Nie aber wisse man, ob die Tragik nicht im nächsten Moment in grelle überschwengliche Komik umschlage. „Dichterisch ist das natürlich nur um so erschütternder“, so Moeller. Schlaf, der Deutscher sei, bleibe beim klaren und eindeutigen Gefühl, während der Pole das Gefühl in einen sentimentalen, sensitiven Epikurismus transponiere.145 Die so formulierte Erkenntnis von der Gegensätzlichkeit beider Schriftsteller besonders auf der weltanschaulichen Ebene wurde von Moeller an anderer Stelle und besonders deutlich durch die Feststellung eines „kosmologische[n] Pessimismus“ bei Przybyszewski und eines „kosmologische[n] Optimismus“ bei Schlaf illustriert.146
140 141 142
143 144 145 146
Ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 396–402. In einem Essay über den neuen deutschen Roman rechnete Johannes Schlaf den Polen zu den wesentlichen Erscheinungen in der Prosa seiner Zeit (vgl. Johannes Schlaf, Der neue deutsche Roman, in: Die Kritik, Nr. 173, 1899, S. 234). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 479. Ebd., S. 480. Vgl. ebd., S. 480 f. Vgl. ebd., S. 467.
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2.2.3. Kritik des Naturalismus. Arno Holz, Gerhart Hauptmann Da Moeller sich zu seiner „Unlust an den endlosen Einzelheiten, Fällen und Beispielen“ bekannte147 und in Ablehnung des als „Kunst des Vordergrundes“148 apostrophierten konsequenten Naturalismus eine „Erdgeruch“ und „Weltgeist[...]“149 zusammenführende Kunst des Hintergrundes propagierte150, kam er an einer Auseinandersetzung mit Arno Holz nicht vorbei. So wurde der „Vater der Moderne“ (Heißenbüttel)151 im vierten Band der Serie – Die deutsche Nuance (1899) – zwar als „Vorläuferindividualität“152 der modernen deutschen Literatur gewürdigt, doch sind die Ausführungen Moellers wesentlich von einer fundamentalen Ablehnung vor allem der kunsttheoretischen Arbeiten bestimmt. So setzte er den berühmten Sätzen „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jedweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung“153 ein eigenes Postulat entgegen: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein – und zwar im Sinne einer Bewertung. Oder: Die Kunst hat die Tendenz, der Sinn der Natur zu sein.“154 Signifikant für die Stoßrichtung der Gedankengänge Moellers ist, dass er Holz’ Kunstgesetz „K [Kunst] = N [Natur] – x [Handhabung der Reproduktionsbedingungen]“155 durch ein „+ y“156 ergänzt wissen wollte. Dieses „+y“ bezeichne laut Moeller einen vom Künstler darzustellenden „Sinn der Natur“157 und sei somit für eine den „Weltwillen“ offenbarende Kunst unabdingbar. Moeller beließ es jedoch nicht bei solcher, man möchte sagen, konstruktiver Kritik. Seine grundsätzliche Aversion gegen die holzsche Theorie bekennend nannte er sie das „Resultat einer Wahnvorstellung“158 und provozierte damit eine Replik des Autors.159 Ferner glaubte er, in Holz‘ 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159
Arthur Moeller-Bruck, Zur Kunst des Hintergrundes, in: Wiener Rundschau. Zeitschrift für Cultur und Kunst, 3. Jg., Heft 18, 1899, S. 435–437, hier 436. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 309. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Zur Kunst des Hintergrundes, in: Wiener Rundschau. Zeitschrift für Cultur und Kunst, 3. Jg., Heft 18, 1899, S. 435–437, hier 436. Ebd., S. 436 f. Helmut Heißenbüttel, Über Literatur, Olten 1966, S. 36. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 148 ff. Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und Ihre Gesetze, Berlin 1891, S. 117. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 169 f. Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und Ihre Gesetze, Berlin 1891, S. 112. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 167. Ebd., S. 172. Ebd., S. 175. Holz hat seine „Abrechnung“ in der letzen Fassung seiner theoretischen Schriften plaziert. „Und nun, Herr Möller-Bruck, [...] kommen wir endlich zu unserer Abrechnung. Sie leisten sich den Mut und erklären meinen Satz, an den Ihr Intellekt nicht heranreicht, für das ‚Resultat einer Wahnvorstellung‘. Und zwar einer Wahnvorstellung, ‚die in der Art und Weise, mit der sie von mir vertreten, verteidigt wird, alle Merkmale einer fixen Idee aufweist‘. Herr! Ihr
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dichterischem Werk sowohl mangelndes psychologisches Einfühlungsvermögen als auch Unfähigkeit zur künstlerischen Synthese diagnostizieren zu können. Als „stumpfer Psychologiker“160 mit „einer scharfen logischen Veranlagung“161 schien Holz, laut Moeller, zu einer schöpferischen Leistung prinzipiell unbegabt zu sein: „Es ist, wie wenn ein Baumeister, der in Eisenkonstruktionen, verwertbar zu praktischen, utilitarischen Zwecken, Neues, Unerhörtes vielleicht, leisten könnte, auf den Gedanken käme, Tempel zu bauen.“162 So wurden der Prosaband Neue Gleise (1892, zusammen mit Schlaf) sowie die Dramen Sozialaristokraten (1896) und Familie Selicke (1890, ebenfalls mit Schlaf) von Moeller zwar für die Detail- und Milieudarstellung gelobt, letztlich schien ihm die dichterische Produktion Holz’ jedoch das „Fluidum der Seele“ zu entbehren.163 Dass Moeller trotz dieses Abgesangs in Holz eine „Vorläuferindividualität“164 erkannte, war demnach weniger durch dessen originäre literarische Leistung als durch seine Bedeutung für die Herausbildung des deutschen Naturalismus begründet.165 Daher gestand Moeller Holz zu, „das Bewusstein der Wirklichkeit“166 geschärft zu haben, wie er ihm auch bescheinigte, dass seine „Schüler“ Hauptmann und Schlaf bei ihm „vor allem, die deutsche Sprache naturlogisch, gemäss den Formen des äusseren Lebens handhaben“ gelernt hätten.167 Holz’ Verdienste würden sich somit auf die Vermittlung einiger unverzichtbarer technischer Voraussetzungen moderner dichterischer Produktion beschränken. Ihre erfolgreiche Anwendung sei jedoch Hauptmann und Schlaf vorbehalten geblieben. Deren Dramen stand Moeller überwiegend wohlwollend gegenüber, das heißt der Verfasser der Deutschen Nuance versuchte sich, so gut es ging, der Kritik zu enthal-
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infamer Rezensentendünkel, der, wie auf dem Umschlag ihres Heftchens zu lesen steht, sich nun glücklich in einer zusammenfassenden Darstellung der modernen Literatur hermacht, hat sich unterstanden [...] zu wünschen, daß ich ‚die Gabe der Selbstkritik, die mir so sehr fehlt, noch einmal gewänne‘. Es mag ja in der Tat vielleicht möglich sein, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht. Jedenfalls Ihnen wünsche ich diese Gabe erst gar nicht. Denn erstens würden Sie sie doch nie gewinnen und zweitens, wenn Sie sie gewännen, diese Gabe müßte Ihnen ja mindestens gleich Ihren Selbstmord aufdrängen oder Ähnliches. Aber eines wenigstens habe ich geglaubt, hier nicht unterlassen zu dürfen: nämlich an Ihnen eine Operation zu vollziehen, die allerdings nicht gerade zu den appetitlichen gehört, auch leider nicht zu den wohlriechendsten, die aber nichtsdestoweniger in unserem Metier ab und zu effektuiert werden muß. So, und nun bitte Waschwasser!“ (Arno Holz, Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten Dokumente, in: Das Werk von Arno Holz, Berlin 1926, 10. Bd., S. 199 f). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 201. Ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Ebd., S. 229. Ebd., S. 148. Vgl. ebd., S 151. Ebd., S 177. Ebd., S 191 f.
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ten und das hervorzuheben, was in den Werken von Holz gar nicht oder nur rudimentär gestaltet war, die psychologische Disposition einzelner Figuren und die durch sie bestimmte dramatische Handlung. So lobte er an Schlafs Meister Oelze (1892) die Gestaltung der Dialoge zwischen dem kranken und sterbenden Tischler Oelze und seiner Stiefschwester Pauline und bezeichnete die betreffenden Szenen als „Meisterwerke einer impressionistischen Psychologie“.168 Ferner bestätigen einige Formulierungen die nationale Gesinnung des jungen Kritikers. Schließlich ist Moeller der Ansicht, dass Gerhart Hauptmanns Kunst „im wesentlichen Heimatkunst“ sei. Oder etwas blumiger formuliert: „Wenn Hauptmann auf die Nürnberger Meister zurückgreift, so taucht Schlaf bis weit hinab in die grauen Zeiten der Edda: [...] So steckt Schlaf tiefer, aber weniger greifbar – so steht Hauptmann fester, breiter im Deutschtum.“169 Obgleich Moeller in diesem Teilband noch nicht offen als Nationalist auftrat170, sind solche Sätze nicht nur als Feststellung eines Sachverhalts, sondern als Wertung zu verstehen. Demnach hielt Moeller diejenigen Dramen Hauptmanns für besonders gelungen, deren Figuren fest „auf der Scholle seiner schlesischen Heimat“ oder der Mark Brandenburg ständen. Dieses Lob bedeutete zugleich auch eine Einschränkung. Nicht nur, dass ihm der „eigentliche Großstadtmensch [...] nie“ gelungen sei171, auch als Psychologe schien Hauptmann dem jungen Kritiker von minderer Begabung zu sein. So zeuge die Traumdichtung Hanneles Himmelfahrt (1893) vom großen Können des Dramatikers Hauptmann nur dort, wo er das Milieu schlesischer Armenhäusler sowie ihre Charaktere vorstellt. Dagegen sei es ihm versagt gewesen, die traumhaften Visionen der Hannele glaubwürdig darzustellen.172 Ebenso misslungen und daher für Moeller von geringem Interesse sei Hauptmanns damals größter Bühnenerfolg, das Märchendrama Die versunkene Glocke (1896).173 Das in Versen geschriebene Drama schien Moeller der Beweis, dass Hauptmann „auf die naturalistische Sprachbehandlung nicht verzichten darf“.174 Das Urteil, Hauptmann könne nur einfache Charaktere und Milieus in der ihnen eigenen Sprache darstellen, gab zugleich auch das Kriterium für die Beurteilung einzelner Werke vor. Am Anfang sah Moeller die noch von dem Vorbild Holz beeinflussten naturalistischen Familiendramen Vor Sonnenaufgang (1889), Das Friedensfest (1890) und Einsame Menschen (1891). Ihnen gemeinsam sei die Anwesenheit
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Ebd., S 258. Ebd., S. 274. Ein Indiz für Moellers zu diesem Zeitpunkt noch latenten Nationalismus ist, dass er Ibsen als Vorbild Hauptmanns mit keinem Wort erwähnt. Ebd., S 275. Vgl. ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 302 f. Ebd., S. 302.
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eines „geistigen Helden“175 (Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang und Johannes Vockerat in Einsame Menschen), der, weil er eben nicht dem „Milieu“ angehörte, auch von Hauptmann nicht „belebt“ werden konnte und dessen Existenz Moeller als einen „künstlerische[n] Mangel“ auswies.176 Durchgehendes Lob hingegen ernteten die Schilderung der Milieus und der „Durchschnittscharaktere“177 sowie das 1893 uraufgeführte Sozialdrama Die Weber, das gänzlich ohne einen problematischen „geistigen Helden“ auskam und daher dem Kritiker als „gekonntestes Werk“178 Hauptmanns galt. An das Thema des gewaltsam ausgetragenen sozialen Konflikts knüpfte Hauptmann mit dem Bauernkriegsdrama Florian Geyer (1896) an. Die Sympathie, die Moeller diesem Werk trotz eingestandener mangelnder Bühnentauglichkeit entgegenbrachte, verwundert zunächst. Das Drama war bei der Premiere durchgefallen und von der zeitgenössischen Kritik aufgrund episierender Tendenzen durchweg abgelehnt worden: Die eigentlich dramatischen Vorgänge seien hinter die Bühne verlegt, man erlebe nur „Entscheidungen vor der Tat und Stimmungen nach der Tat“ (Paul Schlenther)179, dementsprechend zerfalle das Drama in unzusammenhängende „Einzelbilder“ (Heinrich Hart)180; schließlich führe die differenzierende Charakterisierung der rund fünfzig Figuren zu einer unüberschaubaren Vielfalt: „die Bühne ist kein Schauplatz für Nüancierungen“ (Theodor Fontane).181 In diesem Sinne bestätigte auch Moeller, dass „der harte Mißerfolg, den Hauptmanns wuchtigstes Schauspiel hatte“ vom „dramaturgischen Standpunkt“ aus „leider durchaus gerechtfertigt“ sei.182 Wenn Moeller entgegen solchen Bedenken Hauptmanns monumentale Bauernkriegstragödie als das „im besten geistigen Sinnen – gewollteste Drama Hauptmanns“ bezeichnete183, so signalisiert dies, dass der junge Kritiker für eine zeitgemäße Bearbeitung historischer deutscher Stoffe besonders empfänglich war. Im Florian Geyer, so könnte man unter Verweis auf die „Kunst des Hintergrundes“ mutmaßen, sah Moeller „Erdgeruch“ und „Weltgeist[...]“ in noch nicht perfekter Weise vereint.184 175 176 177 178 179 180
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Vgl. ebd., S. 295. Ebd., S. 294. Vgl. ebd., S. 287 ff. hier 290. Ebd., S 303. Paul Schlenther, Gerhart Hauptmann. Sein Lebensgang und seine Dichtung, 4. Aufl., Berlin 1898, S. 241. Heinrich Hart, Die Berliner Theater im Winter 95/96, zitiert nach: Bernhard Zeller (Hg.): Gerhart Hauptmann. Katalog der Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, Stuttgart 1962, S. 104. Theodor Fontane an Paul Schlenther (07.01.1896), in: Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, München (Hanser) 1982, 4. Abt., 4. Bd., S. 526. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 307. Ebd., S. 303. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Zur Kunst des Hintergrundes, in: Wiener Rundschau. Zeitschrift für Cultur und Kunst, 3. Jg., Heft 18, 1899, S. 435–437, hier 436.
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2.2.4. Kulturoptimismus. Liliencron, Dehmel, Schlaf und andere Neben die einer als dekadent geschilderten „Wertherlinie“ angehörenden Autoren Nietzsche, Conradi und Przybyszewski185 stellte der Nervosität, Dekadenz und akademischen Intellektualismus bekämpfende Verfasser der Modernen Literatur Detlev von Liliencron als einen naiv dem Leben zugewandten „Typus der einseitig entwikkelten Temperamente“186. Unter dem bezeichnenden Titel Die Auferstehung des Lebens (1899) gewürdigt, wurde Liliencron wie kaum ein anderer der in der Serie behandelten Autoren als optimistischer „Prototyp des Zeittemperaments“187 in Anspruch genommen, wobei sich Moeller als unempfänglich für die resignativen Töne der Gedichte (1889) erweist.188 Immer wieder betonte er, dass der Dichter der Adjutantenritte (1883) das „Leben“ – d. i. hier die Liebe, der alkoholische Rausch, die Großstadt und im Kontrast die Natur – im Unterschied zum problematisch vergeistigten Nietzsche auch sinnlich erfahren habe und seine dichterische Leistung darin bestehe, dass in seinen diese Erfahrungen wiedergebenden Gedichten ein neuer Rhythmus sei, wie er sich in Liliencrons zuweilen unkonventionellen Vers- und Strophenformen manifestiere. So brächten es, „die sinnlichen konkreten Stoffe Liliencrons mit sich, dass er speziell die neue formale Naturanpassung gegenständlicher, deutlicher zeigte und so in einen scharfen Gegensatz zur alten Gedichtform rückte“.189 Solches Lob von Inhalt und Form und der dauernde Vergleich mit Nietzsche verweisen zugleich auf die Grenzen des Dichters. Moeller gestand zu, dass dem Werk Liliencrons symbolische Tiefe und gedankliche Systematik abgingen, der Dichter es nicht vermochte, „seine ganze heroische Lebens- und Weltanschauung zu ihrem höchsten Ausdruck zu führen“190, weshalb auch Liliencron kein uneingeschränkt großer, sondern nur ein einseitiger, nämlich – und darauf kommt es Moeller an – dem vital alltäglichen Leben verpflichteter Dichter sei: „Aber besser ist es schon, Liliencron zu folgen, als Nietzsche, weil er nicht mit den Füssen des isolirten Geistes tanzt, sondern mit den Füssen des Leibes.“191 Dieses Urteil Moellers und die dadurch bezeichneten Sympathien für Liliencrons heute fast vergessenes lyrisches Werk waren
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Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 476. Ebd., S. 95. Ebd., S. 133. Den in dem Band Gedichte aufgenommen Zyklus Mit Zithern und Zymbeln leitet Liliencron beispielsweise mit nachstehenden Versen ein: „Mit Zithern und Zymbeln,/ Mit Reigen und Tanz,/ Das Ganze Leben/ Ein Rosenkranz!/ Der Liebe Leiden,/ Der Liebe Not,/ Das ganze Leben/ Entsagung und Tod“. (Detlev von Liliencron, Gedichte, Leipzig 1889, S. 15). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 134 f. Ebd. S. 362. Ebd., S. 137 f.
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nicht allein einer zeittypischen Bewunderung geschuldet.192 Sie signalisieren, dass Moeller bei den Lesern der Modernen Literatur einen Kultur- und Lebensenthusiasmus zu initiieren gedachte, wie er für alle seine späteren Schriften kennzeichnend ist. Wesentlich an Liliencron sei: „dass in seine Dichtungen etwas von jener sinnlichen [...] Kraft überströmte, die die Verschiebungen der Zeit veranlaßte oder zur Folge hatte“.193 Als Höhepunkt von Moellers kulturoptimistischen Deutungen der Gegenwartsliteratur erweist sich schließlich der sechste Band der Serie. Er ist zugleich der einzige Teilband, dessen Titel ausschließlich den Namen des vorgestellten Autors nennt: Richard Dehmel (1900). Dies und einige einleitende Ausführungen, nach denen allen bisher behandelten Dichtern „etwas Negatives“194, sprich Unvollendetes, Unharmonisches und Einseitiges anhafte, sollten auf die Sonderstellung Dehmels in der zeitgenössischen Literatur hinweisen. Dem Dichter der deutschen Jugend195 bescheinigte Moeller, Gedichte geschrieben zu haben, „deren sinnlicher und geistiger Wert als die künstlerisch stärkste Äusserung des Entwicklungswillen unserer Zeit zu definiren [sic] ist“.196 Die sich in solchen Sätzen ausdrückende hohe Wertschätzung Dehmels – nur wenige Zeitgenossen hatten sie bereits als eine Mode erkannt197 – war schon in drei vorangegangenen Publikationen sichtbar geworden.198 Die in der Gesellschaft und in Nord und Süd erschienenen Aufsätze sowie ein Vergleich mit dem Teilband Richard Dehmel verdeutlichen, dass Moellers große schriftstellerische Produktivität in nicht geringem Umfang auf der Mehrfachverwendung ganzer Abschnitte beruhte. Richard Dehmel war vor allem eine erweiterte Fassung der Artikel. Seine bisher publizierten Ausführungen wiederholend suchte Moeller auch in Die moderne Lite192
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Vgl. etwa Hermann Bahr, Das jüngste Deutschland, (1893), in: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904, (hg. von Gotthart Wunberg), Stuttgart u.a. 1968, S. 140). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 122. Ebd., S. 359. Zur Wirkung Dehmels vgl. Julius Bab, Richard Dehmel. Die Geschichte eines LebensWerkes, Leipzig 1926, S. 239 ff. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 368. Entsprechend heißt es in einer Rezension: „Sicherlich wird man der vorliegenden Studie an vielen Stellen mit dem Vorwurfe begegnen, sie überschätze Dehmel. Das ist unbegründet. Moeller-Bruck hätte sich freilich ein wenig deutlicher zu der natürlichen und unabwendbaren Befangenheit eines nächsten Zeitgenossen bekennen dürfen.“ (Wilhelm von Scholz, Richard Dehmel. Von Arthur Moeller-Bruck, in: Das litterarische Echo, 3. Jg., Heft 21, August 1901, S. 1506). Arthur Moeller-Bruck, Der Mitmensch, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., September 1896, S. 1201–1206; Richard Dehmels Lyrik, in: Die Gesellschaft, 13. Jg., Februar 1897, S. 247–255; Richard Dehmel, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, Bd. 88, Heft 263, Februar 1899.
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ratur in der Genese des dehmelschen Werkes einen Prozess der Reife vorab vorhandener geistiger und schöpferischer Anlagen zu erkennen.199 Die Stufenfolge ging diesmal von der „Intellektualität“ 200, die die erste Fassung der Erlösungen (1891) noch fast ausschließlich bestimmt habe, über die letztlich gebändigte Sinnlichkeit in Aber die Liebe (1893) und Die Verwandlungen der Venus (1896)201 bis hin zu den Büchern der „lichten Glut“: Das waren das Drama vom Mitmenschen (1895), die Lebensblätter Gedichte und Anderes (1895) und endlich der Gedichtzyklus Weib und Welt (1896). Letztere wurden von Moeller gemeinsam mit dem bereits in Auszügen veröffentlichten Roman (in Romanzen) Zwei Menschen (1903) als gemäßigtharmonischer Abschluss der bisherigen künstlerischen Entwicklung Dehmels, seiner Hinwendung zur Welt gelobt.202 Moellers Interpretationen gerade dieser jüngsten Gedichtbände wie auch der umgearbeiteten zweiten Auflage der Erlösungen (1898) waren bestimmt, von dem Bestreben, Dehmel als den richtungweisenden, den „gewordenen“203 Dichter seiner Zeit vorzustellen. Richtungweisend sei Dehmel jedoch nicht allein in künstlerischer Hinsicht. Denn er sei, wie Moeller betont, nicht nur ein Dichter wie andere auch, sondern ein Schöpfer großer „Wirklichkeitskunst“204, ihm sei es gegeben, die Epoche zu deuten und ihren inneren Zusammenhang zu erfassen. „Dehmel nun – der Allseitige! – sieht das ‚Bedeutendste‘ in der ganzen Welt, in der Kohäsion all ihrer Bestandteile; gleichgültig, von welcher besonderen Zugehörigkeit sie sind.“205 Er habe zu einer inneren Beruhigung und „Gefühlsfülle“ gefunden, die nur zu beschreiben sei mit dem Wort von der „Seligkeit!“: „Seligkeit! Sie ist es, mit der er jetzt die Erscheinungen begreift, als subjektives Ganzes im objektiven Ganzen umgreift, mit der er das Getrennte zueinander führt.“206 Die Metaphorik war dabei nicht zufällig vom Kritiker gewählt. Dehmel selbst hatte mancher seiner Dichtungen durch Titel und Inhalt (Erlösungen) einen religiösen Bezug gegeben, der nun von dem um eine Sakralisierung von Kunst und Leben bemühten Moeller dankbar aufgenommen wurde. Im Sinne des Dehmel zugeschriebenen „religiösen Gesetzgeberwunsche[s]“207 attestierte er dem Dichter beispielsweise, das „Geschlechtliche so“ geläutert zu haben, „dass es als solches zur Religion wurde, 199
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Für Moeller steht fest, dass Dehmel schon zu Beginn seines dichterischen Schaffens einen „festen Anschauungskreis besass, den er wohl im Laufe der Jahre bedeutend zu erweitern, aber nie in eine andere Lage zu bringen, ihm nie einen anderen Schwerpunkt zu geben trachtete“. (Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 377). Ebd., S. 375. Vgl. ebd., S. 404. Vgl. ebd., S. 416 f. Vgl. ebd., S. 412. Vgl. ebd., S. 410. Ebd., S. 414. Ebd., S. 418. Ebd., S. 377.
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zu einem metaphysischen Medium, um wie durch ein Gebet zu Gott [...] vorzudringen“.208 Dehmel wurde somit zum Initiator einer die gegenwärtige Unruhe und Orientierungslosigkeit aufhebenden, neuen Religiosität erklärt: Dichter habe den Menschen ihren von wissenschaftlicher Kritik und pessimistischer Philosophie zermürbten Glauben an eine sinnvolles gemeinschaftliches Dasein zurückzugeben.209 So sei der stärkste Ausdruck von Dehmels religiösen „Absicht[en]“210 das dramatische Gedicht Eine Lebensmesse, das der Dichter in die zweite Auflage seiner Erlösungen (1898) aufgenommen hatte.211 Durch kollektive Sprecher (Chor der Greise, Chor der Väter etc.) schilderte Dehmel darin die Menschheit als ideale nach Generation, Geschlecht und persönlichem Rang gegliederte Gemeinschaft, die ihren Angehörigen einen sozialen und ideellen Halt gebe.212 Da „Eine Jungfrau“ in der Bestimmung Mutter zu werden, ihre Zugehörigkeit zur Menschheit erkenne, „Ein Held“ im Kampf seinem Leben einen Sinn gebe und eine Gemeinschaft „Eine Waise“ aufnehme, würde aus diesen vereinzelten Individuen ein „Mensch, der dem Schicksal gewachsen ist.“213 Seine Interpretation des Gedichts zeigt zum wiederholten Male, dass der Wert eines sprachlichen Kunstwerkes für Moeller zuvorderst durch dessen demiurgisches Pathos und das ihm inhärente pädagogische Potential bestimmt wurde. Weil Dehmel in Eine Lebensmesse die Macht, welche die Gemeinschaft über die Individuen ausübe, als einen vorbildlichen, positiven und lebensnotwendigen Zwang beschrieb, weil er das einfache menschliche Dasein in dieser Gemeinschaft bedingungslos bejahte und weil die optimistische Grundaussage der Lebensmesse sowie der in ihr vorgestellte Menschentypus problemlos generalisierbar war, begrüßte Moeller das Gedicht. Signifikant hierfür sind die Bezeichnung des zentralen Ausspruches vom „Mensch[en], der dem Schicksal gewachsen ist“ als „prototypische Formel“214 und die Entdeckung dieses Menschen in den europäischen Hochkulturen: im antiken Griechenland, der Renaissance, im späten Mittelalter und in der Moderne in der Ge-
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213 214
Ebd., S. 396. Vgl. ebd., S. 422. Vgl. ebd., S. 438. Richard Dehmel, Eine Lebensmesse. Dichtung für Musik, in, Ders., Erlösungen, 2. Aufl., Berlin 1898, S. 299–308. So spricht der „Chor der Greise“: „Wenn der Mensch,/ der dem Schicksal gewachsen ist,/ sein zerfurchtes Gesicht/ vor der Allmacht der Menschheit beugt,/ nur vor der Menschheit:/ dann wird seine Seele wie ein Kind,/ das im dunkeln mit geschlossenen Augen/ an die Märchen der Mutter denkt./ Alle Sterne/ werden dann sein Spielzeug;/ durch das wilde Feuerwerk der Welt kreist er furchtlos mit den unsichtbaren Flügeln, sieht er inning und verwundert zu,/ wie das Leben aus der Werkstatt des Todes sprüht./ Denn nicht über sich,/ denn nicht außer sich,/ nur noch in sich/ sucht die Allmacht der Mensch, der dem Schicksal gewachsen ist.“ (ebd. S. 299 f). Ebd. S, 306. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 431.
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stalt des Arbeiters.215 Die Möglichkeit solcher Bezüge auf die „Welt des Konkreten“216 war für den Kulturoptimisten Moeller das sichere Indiz, dass Dehmel in Eine Lebensmesse nicht nur einen idealen Zustand veranschaulichen, sondern seiner beschädigten „Gegenwart und Mitwelt ins Zeitgewissen reden“ wollte.217 Moellers Aufsatz über Dehmel ist damit ein erneuter Ausdruck früher erzieherischer Absichten. Die Gegenwartsmenschheit218 sollte durch Dehmels vorbildliches heroisches Leben und sein quasi religiöses Werk missioniert werden. Von Moellers Kulturoptimismus zeugen ferner die Teilbände Unser aller Heimat (1900, 7. Bd.), Der neue Humor: Varietéstil (1902, 11. Bd.) und Propheten (1902, 12. Bd.). Nicht nur, dass er als Autor der Modernen Literatur manchen zeitgenössischen Dichter überschätzte bzw. von ihm erwartete, was er nicht zu leisten gewillt war, Moeller bemühte sich auch, dem jeweiligen Werk eine möglichst optimistische Grundaussage abzuringen. Symptomatisch hierfür ist unter anderem das Porträt Johannes Schlafs in Unser aller Heimat, dem zufolge Schlaf der nach Dehmel bedeutendste moderne deutsche Dichter sei: „einer, der tief Bescheid weiss um die Gegensätze, die seine Zeit aufwirft“.219 Schwerpunktmäßig wurden in dem Aufsatz die Skizzensammlung Dingsda (1892) und die Prosadichtung Frühling (1896) als Höhepunkte impressionistischer Naturschilderung und Ausdruck einer mystischen Naturerfahrung gewürdigt220, während Moeller die einer anschließenden „analytischen Periode“221 zugerechneten Novellenbände Sommertod (1897) und Leonore (1899) sowie die beiden Dramen Gertrud (1898) und Die Feindlichen (1899), in denen Schlaf die Ängste und Sehnsüchte des modernen, dekadenten Individuums thematisierte, als „Zwischenwerk“222 apostrophierte. In dieser Bezeichnung drückte sich die Hoffnung aus, dass Schlaf in einer mit dem Roman Das dritte Reich (1900) beginnenden „dritten Periode [...] die Weltfreudigkeit“, die schon Dingsda und Frühling bestimmt habe, auch „auf das reale Leben zu übertragen“ vermöge.223 Solch optimistischer Schluss – 215 216 217 218 219 220
221 222 223
Vgl. ebd., S. 435. Ebd., S 436. Ebd., S. 437. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S 461. So schrieb Moeller: „Frühling! – in der geistigsten Bedeutung dieser Naturerscheinung für die Natur selbst hatte Schlaf das grosse Symbolum, in das er jenen Trieb seiner Seele verallgemeinern konnte, der ihn mit inniger Begierde immer wieder zwang zwischen allem, was er an sinnlich Erdgebundenen, wie an Uebersinnlichem wahrnahm, die Zusammenhänge aufzudekken und, sich einwühlend in die Geheimnisse der realen wie irreal energetischen Erscheinungsformen, diesen das eigentlich Geheimnisvolle dadurch zu nehmen, dass er ihnen das so selbstverständlich Natürliche gab“ (ebd., S. 468). Ebd., S. 483. Ebd., S. 483. Ebd., S. 483 f.
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Moeller verzichtete darauf, den in seiner sprachlichen Gestaltung trivialen Berliner Roman [Untertitel von Das dritte Reich]224 näher vorzustellen – verdeutlicht, welche Motive Moeller in diesem Aufsatz leiteten: Auch wenn insbesondere die in der Titelnovelle Sommertod geschilderten Halluzinationen eines jungen Schriftsteller225 eine zeitweilige Verwandtschaft mit Przybyszewski augenfällig werden ließen, sollte Schlaf als Gegenpart zu dem dekadenten Polen geschildert werden: „Schlaf“, so Moeller, „ist der deutsche [sic]“, für den „die Dinge, und gerade im Untergange, immer heilig bleiben.“226 Während Johannes Schlaf zum Zeitpunkt des Erscheinens von Unser aller Heimat bereits als ein etablierter Autor galt, war der von Gerhart Hauptmann geförderte schlesische Dichter Hermann Stehr im Jahre 1900 nur wenigen bekannt. Moeller war der Erste, der ihm einen Essay widmete und seine Stellung in der zeitgenössischen Literatur zu bestimmen suchte. Der Analyse zugrunde lagen die vier bis dahin erschienenen Texte, die Erzählungen Der Graveur, eine psychologische Monographie und Meicke, der Teufel (zusammen in: Auf Leben und Tod, 1899), die Novelle Der Schindelmacher (1899) und der Roman Leonore Griebel (1900). Diese wurden unter dem Stichwort der „Erlösung“ besprochen.227 Als von der Lebensphilosophie Nietzsches geprägter Kulturoptimist hielt Moeller jedoch nicht viel von der moralischen Nuance in Stehrs Werk. Das schlug sich in den Wertungen und in der Systematik nieder. An der Erzählung Der Graveur228 kritisierte Moeller, dass das hier als Befreiungswut auftretende Motiv der Erlösung, „mit einem Rachemotiv verschmolzen“ sei, „das sie auf fremde, nicht auf eine eigne ‚Schuld‘ wirft“.229 An Meicke, der Teufel, dem „für die Beurteilung des ganzen Erlösungsmoments“ wichtigsten Text, wurde bemängelt, dass in der Erzählung „die moralische Nuance rein, unerweitert und unübertragen“ sei: „Von zwei Menschen [dem vom Teufel besessenen Fuhrmann Marx und seiner vom unsittlichen Lebenswandel gezeichneten Jugendliebe Maria] wird sie beherrscht, die eingestandenermassen um die Entsündigung ihres Ich ringen, bezw. gerungen haben.“230 Schließlich sei aber, so Moeller weiter, in der Schindelmacher 224 225 226 227
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Vgl. hierzu Johannes Scheidweiler, Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf. Eine Interpretation des Romanwerkes, Frankfurt am Main u.a. 1990, S. 65–77. Vgl. Johannes Schlaf, Sommertod. Novellistisches, Leipzig 1897, S. 78–95. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 480 f. Diesbezüglich schreibt Moeller: „In all seinen Büchern handelt es sich bei der Lösung des Konflikts um eine Erlösung in einen anderen irgendwie ‚besseren‘ Zustand. Das giebt ihnen dann eine gewisse Gleichheit, die als Einheitlichkeit, aber auch als Eintönigkeit empfunden werden kann“ (ebd., S. 512). Stehr schildert in dieser Novelle das Schicksal eines Handwerkers, der, nachdem er von seinem Bruder niedergeschlagen wurde, dem Wahnsinn verfällt, da die Vergeltung ausbleibt, das Vertrauen in seine Umwelt verliert und, aus der Gemeinschaft der Arbeitenden ausgestoßen, sich schließlich umbringt. Ebd., S. 513. Ebd., S. 512 f.
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und in Leonore Griebel „der ‚bessere‘ Zustand dagegen schon nicht mehr die Sehnsucht eines ‚Schlechtigkeits‘-bewusstseins“.231 Das Erlösungsbedürfnis entspringe in beiden Werken nicht mehr moralischen Vorstellungen, sondern sei im Schindelmacher durch „Freiheits- und Selbstständigkeitsdrang“ und in Leonore Griebel durch „Schönheitsüberschwang“ ersetzt.232 Allerdings wusste Moeller mit dieser weiblichen Variante von amoralischer Erlösung233 deutlich weniger anzufangen, als mit dem männlichen „Freiheits- und Selbstständigkeitsdrang“ des Schindelmachers. Der Roman wurde nur mit einer Inhaltsangabe gewürdigt. Die Novelle hingegen erfuhr (nach einem zweiseitigen Zitat) eine kurze aber signifikante Interpretation. Der zitierte Text schildert das archetypische und ins Mystische deutende Symbolereignis der Zerstörung eines Wohnhauses und der zugehörigen Wirtschaft durch ein enthemmtes Individuum.234 Moeller sah in dieser künstlerischen Gestaltung des Erlösungsmotivs einen erheblichen qualitativen Sprung. Er meint, dass hier „das Naturalistische zum Mystischen geläutert wurde“, und deutet die Schilderung als „einen Sieg des Germanischen über das Slavische“.235 Mit anderen Worten: Moeller war der Ansicht, dass die Figur des Schindelmachers befreit sei von Melancholie und Fatalismus, welche das „Slavische“ auszeichneten.236 So war Moeller, auch wenn er sich eigentlich eine optimistischere Darstellung erhoffte, im Großen und Ganzen einverstanden mit der Komposition der stehrschen Figuren und des ihnen zugedachten zwingenden Schicksals: „Seine Menschen haben Fleisch und Blut, haben bestimmte Gesten, Lebensgewohnheiten, Ziele, sind jeder für sich wieder ein unterschiedlicher Charakter: Und wenn sie [...] mit dem ‚Stil‘ unserer Kultur natürlich nichts gemeinsam haben – so kennen wir sie doch alle [...]. Denn ihre psychische wie physische Muskulatur ist die ewig menschliche. Und die Scholle, auf der sie sitzen, dehnt sich zur ewigen Erde.“237
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Ebd., S. 513. Ebd., S. 513 f. Die Heldin ist mit einem schlicht gearteten Mann verheiratet, der den durch physische Schwäche und unerfüllte erotische Schwingungen verursachten zunehmend pathologischen Sehnsüchten seiner Frau hilflos gegenübersteht. Sie flüchtet in Traumwelten, wird ihm geistig untreu, schränkt die Nahrungsaufnahme ein und stirbt innerlich zerrüttet und entkräftet nach der Geburt eines zweiten Kindes. Es ist eine Rachetat. Der Schindelmacher, der nach dem Tod seiner Frau sein Anwesen an eine Nichte und deren Mann übergeben hat, beantwortet die hernach von ihnen erfahrenen Demütigungen mit der Vernichtung der heimatlichen Existenzgrundlage. Nach dieser befreienden Tat bringt er sich um. Ebd., S. 519. Geprägt wurden Moellers Vorstellungen vom „Slavischen“ vor allem durch Przybyszewski und dessen Werk (vgl. ebd., S. 510). Ebd., S. 523.
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Moeller hielt Stehr also für einen Autor, der geeignet ist, die Dekadenz-Kultur vitalistisch zu überwinden. Der Verweis auf die „Scholle“ bedeutet dabei nicht zwangsläufig, dass Moeller in Hermann Stehr einen Repräsentanten der Heimatkunst sah. Für Moeller waren die von Stehr und Schlaf geleisteten Darstellungen von Heimat, ländlicher Natur und provinziell geprägten Menschen Teil der modernen Literatur, d.h. er erkannte, dass sie nur von in moderner Wissenschaft erfahrenen Dichtern geschaffen werden konnten, und hob gerade die spezifisch modernen Momente der jeweiligen Dichtungen hervor – im Falle von Schlafs Frühling beispielsweise die Tatsache, dass der impressionistische Blick auf die Natur nur dem „differenzierte[n] Individuum“ möglich sei238; beim Schindelmacher und Leonore Griebel die Tendenz zum „symbolische[n] Psychologismus“.239 – Mithin kann man sagen, dass der national gesinnte Kritiker hier dem beschädigten modernistischen Bewusstein eine archaisch konservative Kur empfahl. „Heimat“ ist in diesem Sinne vor allem ein urwüchsiger Ort der Regneration für das krisengeschüttelte moderne Individuum. Dass der zur Verherrlichung des Vitalismus tendierende Kritiker ferner in phantastischer Weltflucht eine unzeitgemäße Erscheinung erkannte, verdeutlicht das Paul Scheerbart gewidmete Porträt. Signifikant für Moellers kulturoptimistische Erwartungshaltung ist dabei nicht allein die Überschrift des Einführungskapitel – Der neue Humor. Moeller hoffte, dass Paul Scheerbart in absehbarer Zeit „den grossen komischen Roman unserer Zeit“240 schreiben und eine Lücke in der zeitgenössischen Literaturproduktion schließen würde. Weil jedoch Scheerbarts Werk von fragmentarischen Formen und phantastischen Charakteren bestimmt wurde, stieß es bei Moeller auf nur wenig Verständnis. Einzig und allein die Figuren des Rechtsanwalt Müller aus Ich liebe Dich. Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos (1897) und der Köchin aus dem Roman Tarub, Bagdads berühmte Köchin (1897) fanden seine Zustimmung. Müller war, mit seiner platten, kapitalistischen Denkweise, seiner Pedanterie, einer naiven politischen Linientreue, besonders aber mit seinem Kunstbanausentum ein idealtypischer Vertreter des gehobenen neureichen Berliner Bürgertums. Moeller nannte ihn, das antagonistische Verhältnis zur anderen Romanfigur (dem Ich-Erzähler Scheerbart) herausstellend: „den typischen Repräsentanten aller der Dinge [...], die sozusagen ausserscheerbartschen sind und Scheerbart doch in einer gewissen Weise angehen“.241 Die krass naturalistisch gezeichnete Figur der Köchin Tarub, Scheerbart hatte hier seine Lebensgefährtin, die schlagkräftige und bodenständige Köchin Anna Sommer, porträtiert, wurde von Moeller gar als „vorzüglich“242 gelungen bezeichnet. 238 239 240 241 242
Ebd., S. 470. Ebd., S.524. Ebd., S. 738. Ebd., S. 732. Ebd., S. 739.
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Somit lobte Moeller die wenigen realistischen Momente in Scheerbarts Dichtungen. Dessen überwiegend phantastischen Schilderungen und Figuren hingegen vermochte er nichts abzugewinnen. Abgelehnt wurden ferner Scheerbarts „Vorlesetechnik“243 – das in drei Romanen244 praktizierte Verfahren, kurze Geschichten in einer losen Rahmenhandlung zu plazieren – und der „gemütliche Ton“245 seiner Prosa. Beide Eigenheiten wurden von Moeller als qualitative Beeinträchtigungen gedeutet. So fand sich bis auf die Zeichnung der Figur des Rechtsanwalt Müller eigentlich nichts, das die Erwartung rechtfertigt, der künstlerische und gesellschaftliche Außenseiter Paul Scheerbart würde in absehbarer Zeit den repräsentativen komischen Roman schreiben, wie es auch sonst keinen zeitgenössischen deutschen Humoristen gab, der Moellers Erwartung einer künstlerisch wertvollen Gestaltung des „neuen Humors“, d.h. der Überwindung der tragischen Momente des modernen Leben durch Komik246, gerecht wurde. In dem im Teilband Propheten (1902) erschienenen Porträt Maximilian Dauthendeys247 schließlich zeigt sich Moellers Wille zur optimistischen Deutung, weniger in der Erwartung eines noch nicht geschriebenen Werks als in der zum Teil fragwürdigen Interpretation des vorhandenen. So suchte der für Dauthendeys symbolträchtige Sprache empfängliche Kritiker auch weniger virtuose Leser zu überzeugen, dass des Dichters Verzicht auf gegenständlichen Ballast einhergeht mit der Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns: „Wer sich hochreckt von ihr [der Erde], weit und verachtend ab vom Erdentreiben, und dann in einsamer Nacht den Blick visionär zu den grossen Gestirnen spannt, der kann als Mensch dann wohl schon den ersten Morgenschimmer von Geheimnissen erfahren, die sich hellen.“248 Weniger verdienstvoll hingegen ist Moellers bewusst einseitige Interpretation der Reliquien (erstmals 1897). Bewusst einseitig, weil Moeller zugab, Dauthendey als Erbauungsdichter für den ruhelosen modernen Tatmenschen in Anspruch nehmen zu wollen: „Dichter wie Dauthendey haben die Aufgabe [...] unsere schauenden Sinne auf den Weg zu reinigenden Opfern zu weisen.“249 Moeller löste dafür den Zusammenhang des Gedichtbandes – die Abfolge Liebeslyrik (S. 3–58), Herbst- und Winterlyrik (S. 59–79) Frühjahrslyrik (S. 80–92) – auf und brachte dadurch das Werk aus dem Gleichgewicht. Indem er den 243 244
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Ebd., S. 737. Paul Scheerbart, Ich liebe Dich. Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos, Leipzig und Berlin 1897; Na prost! Phantastischer Königsroman, Leipzig und Berlin 1898; Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman mit 83 merkwürdigen Geschichten, Minden 1902. Moeller-Bruck, Arthur: Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 736. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 714 ff. zusammen mit Alfred Mombert Ebd., S. 761. Ebd., S. 776.
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lebensbejahenden Grundtenor der Liebeslyrik an den Schluss seiner Betrachtung stellte, schob er Dauthendey eine optimistische Grundaussage unter, die im Werk durch die resignativen Herbst- und Wintergedichte250 sowie die verhaltene Frühjahrslyrik relativiert war. Ferner suchte er eingangs ein die Isolation thematisierendes Wintergedicht251 als Ausdruck ebenso persönlicher wie zwischenzeitlicher Vereinsamung zu marginalisieren. Die freiwillige Abkehr vom „Leben“, so Moeller, bewirke, dass „sich denn auch bei Dauthendey manchmal unter die Töne höchsten Stolzes, geheime, nur im blossen Klang und ganz von fernher angegebene der Verzweiflung“ schöben.252 Bedeutsam an seinem Werk sei demgegenüber, dass das lyrische Ich von Dauthendeys Gedichten einen allgemein männlichen Zug habe.253 Die Deutung, dass Dauthendey darüber den „Anschluss an das wirkliche Sein“254 gefunden habe, schien Moeller jedoch noch nicht zu genügen. Der Blick auf ein anderes Gedicht255 zeigte dem Kulturoptimisten, dass Dauthendey noch eine weitergehende Berufung hatte. Nahm Moeller Dauthendeys leichthändige Naturbetrachtung sowie die Schilderung der Emotionen zweier Liebenden zunächst noch zum Anlass, den Dichter in die Nähe des Volksliedes zu rücken256, so behauptete er noch auf derselben Seite, dass „in seiner Lyrik [...] der Trieb zum grossen Gesang“ stecke.257
2.2.5. Deutsche, weniger Deutsche und Österreicher Wiewohl Moeller in seinem Erstling nicht offen als Nationalist auftrat, sind zumindest zwei Teilbände der Modernen Literatur von einer wesentlich nationalistischen Argumentation bestimmt. Das sind der Otto Julius Bierbaum und Stefan George gewidmete Band Stilismus (1901, Bd. 9) und der die zeitgenössische österreichische Literatur vorstellende Band Das junge Wien (1902, Bd. 10). Kennzeichnend für Ersteren ist, dass Moeller dem als „isolirter Romane unter Deutschen“258 apostrophier250
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256 257 258
Hier ein Beispiel: „Unsere Augen so leer,/ Unsere Küsse so welk,/ Wir weinen und schweigen,/ Unsere Herzen schlagen nicht mehr“. (Maximilian Dauthendey, Reliquien. Gedichte, Minden 1900, S. 62). „Meine Augen sind voll Asche,/ Meine Ohren haben die Töne verloren,/ Bäume, Wind, Gestein,/ Eure Sprache fällt mir nicht mehr ein./ Höre im Weltraum nur mich,/ Mein wildes hungerndes Ich!“ (ebd., S. 70). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 770. Ebd., S. 771. Ebd., S. 772. „Maimond über dem Dach,/ Maimond sieht in das Haus,/ Golden stehen die Scheiben,/ Sehnsucht leuchtet heraus. Draußen Blatt bei Blatt/ Schlafen dunkel die Bäume, Drinnen unter dem Dach/ Liegt die Liebe wach./ Schwüre glühen im Dunkel,/ Funkeln hinaus in die Nacht“. (Maximilian Dauthendey, Reliquien. Gedichte, Minden 1900, S. 16). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 773. Ebd., S. 773. Ebd., S. 635.
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ten Stefan George mit Otto Julius Bierbaum einen Dichter an die Seite stellte, den er zwar als den „deutscheste[n]“ unter den lebenden Dichtern259 vorstellen konnte, von dessen künstlerischem Rang er aber selbst nicht unbedingt überzeugt war. Das Problem einer Gesamtdarstellung des vielgestaltigen, zum großen Teil „leichten“ und harmlosen Werkes von Bierbaum ward dabei dadurch umgangen, dass Moeller sich auf die Interpretation zweier früher Gedichtbände (Erlebte Gedichte von 1892 und Nemt Frouwe Disen Kranz von 1894) beschränkte und andere Werke wie den – gemessen an den Verkaufszahlen – erfolgreichsten zeitgenössischen Gedichtband, den 1900 erschienenen Irrgarten der Liebe oder Stilpe den Roman aus der Froschperspektive (1897) nicht berücksichtigte. Damit war zugleich eine Konzentration auf die für Moeller erwähnenswerten Aspekte des Werkes möglich, unter anderem auf den, dass Bierbaum bei seiner lyrischen Produktion sich stark an anerkannten deutschen Vorbildern, Walther von der Vogelweide, Goethe oder Klopstock orientierte und wenig wirklich Originelles geschaffen hat. Moeller stellte diesen Sachverhalt etwas anders dar. Für ihn war Bierbaum ein innovativer, da mit einem ganz persönlichen Stil begabter260, moderner, vor allem aber ein deutscher Dichter. Seine stilistischen und thematischen Entlehnungen wurden als erfolgreiche Wiederbelebung überlieferter Formen261 und authentische Fortsetzung einer von Walther bis Liliencron reichenden Lyriktradition begrüßt. Beispielhaft hierfür seien die Gedichte Tanzlied262, in dem Bierbaum den Ton Walthers von der Vogelweide treffe263, und Die schwarze Laute264, das für ihn „durch und durch deutsch-mittelalterlich und so ganz und gar antiromansisch [sic] und im besonderen antiitalienisch“ sei. So bestätige sich bei Bierbaum jene durch Motivwahl und Sprachgestus erwiesene „ursprüngliche Macht [...] der deutschen Rasse“265, für die insbesondere Stefan George nicht empfänglich sei. Das beide Dichter Trennende wurde von Moeller jedoch nur partiell als nationaler Gegensatz thematisiert. Im Zentrum der kulturoptimistisch gefärbten Darstellung standen zunächst ästhetische und programmatische Differenzen. Bezeichnend hierfür ist der Versuch einer begrifflichen Differenzierung zwischen einer notwendigen „naturalistischen“ und einer entbehrlichen „dekorativen“ Kunst266, die sichtlich von der Intention bestimmt ist, George als den einzigen dekorativen Lyriker erscheinen zu lassen. Moeller selbst bekannte: „Mein Weg ins Allgemeine [...] sollte zeigen, [...] in welchem Verhältnis er zu diesen andern Dichtern, zu der Linie Nietzsche, Liliencron, 259 260 261 262 263 264 265 266
Ebd., S. 601. Vgl. ebd., S. 595. Vgl. ebd., S. 592. Otto Julius Bierbaum, Nemt Frouwe Disen Kranz, Berlin 1894. S. 4. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 595. Otto Julius Bierbaum, Nemt Frouwe Disen Kranz, Berlin 1894, S. 41. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 599. Vgl. ebd., S. 606 ff.
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Dehmel usw. einzig stehen kann.“267 Da für Moeller Kunst, kein eigengesetzlicher Bereich war und er Literatur als das Medium eines prinzipiell vitalen Zeitgeistes ansah, stand er Georges „Kunst für die Kunst“268 ausgesprochen kritisch gegenüber. Dessen dem zeitlosen Ideal eines festlich paradiesisch befriedeten Lebens verpflichtete Lyrik wurde von Moeller als nur formal bedeutsam, sprich „dekorativ“ und damit als zweitrangig angesehen. Weil aber George ein „Dekorativer grossen Stils“269 und ein ausgesprochener „Formkünstler“270 war, erfuhr er in dieser ersten ihm gewidmeten Buchpublikation eine verhaltene Würdigung. Moeller räumte darin ein, dass der Dichter nicht nur technisch versiert, sondern auch wichtig für die Ausbildung des modernen Formgefühls sei271, und schließlich bemerkte er sogar, dass George „Stimmungen und Zustände, die an sich am wenigsten sinnfällig sind“ sichtbar zu machen verstehe.272 Moeller schien also, obwohl er unter anderem seinen Mangel an Leidenschaft273 und seine resignative Geisteshaltung274 erkannte, durchaus bereit, George als einen richtungweisenden modernen Künstler anzusehen. Es kam jedoch nicht dazu, weil er einsah, dass dessen elitäres, ästhetisches Programm unvereinbar mit seinen Vorstellungen von der Bedeutung zeitgenössischer Dichtung war. Georges bewusst entrückte, auf französischen Vorbilder (Mallarmé) zurückgehende Haltung wurde von Moeller als ein mangelndes Vermögen und in der Folge auch als „undeutsches“ Verhalten gedeutet. George schien ihm ein Dichter, „dem so das schöne Anrecht, ein von Allen, von dem Volk geschautes Vorbild sein zu dürfen, nicht mit in die Wiege gelegt wurde. Weil eben diese Wiege, seine Heimat nicht im Schosse seiner und unserer Rasse liegt, sondern in dem magischen Import des Salons.“275 Moeller stieß sich bei der hiermit einsetzenden weltanschaulichen Kritik sowohl an Georges nicht national begrenztem geistigem Horizont als auch an dessen Verachtung aktueller und lebensnaher Stoffe. Gemäß seiner vorherigen Benennung Georges als „dekorativen“, vom französischen Salon beeinflussten Dichters suchte er über mehrere Seiten hinweg, „Undeutsches und Unzeitgemässes“276 in dessen Gedichten nachzuweisen. Höhepunkt dieser Bemühungen ist die Deutung eines Titels als Zeichen mangelnder Volksverbundenheit. George hatte seinen jüngsten Zy-
267 268 269 270 271 272 273 274 275 276
Ebd., S. 612. Aus der programmatischen Einleitung der von George initiierten Blätter für die Kunst (Blätter für die Kunst, 1. Bd., Oktober 1892, S. 1). Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 613. Ebd., 624. Vgl. ebd., S. 622. Ebd., S. 647 f. Vgl. ebd., S. 634. Vgl. ebd., S. 646 f. Ebd., S. 635. Ebd., S. 636.
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klus Der Teppich des Lebens (1900)277 genannt. In diesem Gedichtband wurde eine „Urlandschaft“ imaginiert, die ikonographisch all jene Züge trägt, in denen sich die Deutschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts als schollenverbundenes Urvolk stilisiert hatten. Oder in den Worten Moellers: „Und was von ihm geistig erschlossen wird, ist die Evolution der Menschheit unter dem symbolischen Gesichtswinkel der ausdrücklich deutschen Rasse und Kultur.“ Problematisch sei jedoch, dass auf diese „germanische Begriffswelt ein orientalisches Vorstellungsbild, eben der Teppich angewandt worden“ ist. „Und das wäre einem Dichter einfach unmöglich gewesen, in dessen Adern wirklich nur deutsches Blut rinnt.“278 Somit war Moellers Distanz zu den Gedichten Georges gleich in doppelter Weise begründet. Nicht nur ihr resignativer Zug machte sie ihm unannehmbar; um die geistige Biographie George wissend, entdeckte er in jedem Detail auch eine kosmopolitische Tendenz, die er als national gesinnter Autor zurückweisen musste. Die so offenkundige Gesinnung bestätigend, entwickelte Moeller gleich zu Beginn von Das junge Wien ein antinomisches Grundmuster. Er unterschied kategorisch zwischen entwicklungsfähigen „Norddeutschen“ respektive „amerikanischen Europäer[n]“ und in der Degeneration befindlichen Österreichern, zwischen einer ernsten Literatur und einer Literatur, die man nicht ernst nehmen könne. Wann und wie lese man in Norddeutschland ein Buch über Österreich?, fragte Moeller einleitend, „wir thun es mit einem Gefühl, das dem Abspannungsbedürfnis verwandt sein mag, das sehr geistige Männer wohl nach geistiger Arbeit nervös zur geistlosen Lektüre eines Indianerbuches oder einer Mordgeschichte greifen läßt“. Und weiter: „Als ‚Literatur‘ empfinden wir das Meiste, was aus Wien in dichterischer Form zu uns kommt, nicht als Schöpfung. Diese Bücher könnten sein und könnten nicht sein: Europa würde immer das gleiche Antlitz und in ihm den gleichen scharfen Entwicklungszug zeigen; höchstens an der Stelle, wo jetzt Wien liegt, wäre dunkle Gegend.“279
Moeller operierte in Das junge Wien durchgängig mit einer „wir hier – dort drüben die anderen“-Rhetorik und stützte sich dabei auch auf deutsch-nationale und völkische Ideen.280 Nach seiner Prognose könnten sich das degenerierte Österreich und seine Kultur, „wenn überhaupt“, nur „aus der Provinz heraus regenerieren“.281 Solche 277 278 279 280
281
Vgl. Stefan George, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod: mit einem Vorspiel, in: Ders., Sämtliche Werke in 18 Bänden, Stuttgart 1984, Bd. 5. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 640. Ebd., S. 655. Moeller entwickelt die Vision von einem „zerbröckelnde[n] Österreich“, das „in fünfzig Jahren [...] nur noch eine abhängige Provinz der nördlichen Macht sein wird“. Daraus folgert er in der Art sozialdarwinistischer Dekadenzkritik: „In diesem Sinne ist es natürlich lediglich Egoismus, aber ein berechtigter, wie ihn alle hinaufsteigenden Völker allen hinabfallenden gegenüber gehabt haben, wenn wir wünschen, dass wir uns bis dahin tüchtig an der Wiener Kultur und namentlich auch an allem, was sie uns ästhetisch geben könnte bereichern“. (ebd., S. 656). Ebd., S. 669.
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und ähnliche Äußerungen zeigen, dass sich Moeller, wenn es seinen Intentionen entsprach, gern im Ideenschatz der Heimatkunstbewegung282 bediente. Doch war er, es sei noch mal gesagt, kein Überzeugungstäter. Die Bezeichnung der Metropolen Paris, New York und Petersburg als vorbildliche „männliche“ Kulturzentren283, vor allem aber ein positives Verhältnis zu Amerika offenbaren beispielsweise erhebliche Differenzen zu den Anschauungen Julius Langbehns. Die Diskreditierung der „weiblichen“ Kulturstadt Wien284 war nur die Vorbereitung für die Demontage der dort ansässigen Autoren: „In Wien wird man wie ein Weib hysterisch und sentimental: und dieser Feminismus ist für uns der grässlichste Zug an der wiener Literatur, den so ziemlich alle Literaten haben.“285 So schrieb er über Felix Döhrmann, dass er „auf das Geistige, wie alle Wiener Dichter verzichtete, und nur Nervosismen und Erotizismen in die Welt hinein zu spielen versuchte“.286 Und bei Hugo von Hofmannsthal beobachtete er eine „versliche Gewandtheit“, die in „Manier, Fadheit und rückratlos glattes Wesen umschlagen muss“. Hofmannsthal sei ein „Jongleur der Sprache [...] schon habe ich Gedichte von ihm gelesen, [...] die ihn abwärts zum Nur-Gezierten zeigten“, und da er „das Dichten sportlich, spielerisch betreibt, wird [er] bald garnichts anderes sein können als Epigone.“287 Der einzige Vertreter der modernen Wiener Literatur, der in Moellers Augen noch halbwegs bestehen konnte, war Peter Altenberg. Er begründete dies damit, dass Altenberg als einziger von den Jung-Wienern ein „Weltmann“ sei.288 Altenberg habe „neben dem Reaktionär-Christlichen noch das Pionierhaft-Amerikanische, von dem ich ausging – jenes Weltmännische, auf das ich wies“.289 Seine Prosaskizzen seien „Depesche[n]“.290 Die darin gestalteten „Bilder sind Lokomotive, Shrapnell und ähnliche. Einmal sagt er beispielsweise von tanzenden jungen Leuten: ‚hier öffnete das junge unverbrauchte Leben eine seiner Ventilklappen und liess Begeisterung und Jugendlust ausströmen.‘“291 Mit anderen Worten Altenberg sei Wiener nur bis zu einem gewissen Grade, doch er sei es bestimmt. Seine bevorzugte Behandlung gründete sich auf der Annahme, dass seine Prosaskizzen Ergebnis eines ernsthaften künstlerischen Schaffens sind, wurde ihm doch attestiert, „der einzige Dichter“ zu sein, „bei dem
282 283 284 285 286 287 288 289 290 291
Vgl. dazu: Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Mesenheim am Glan 1970, bes. S. 85–121. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig 1902, S. 658. Ebd., S. 658. Ebd., S. 662. Ebd., S. 665 f. Ebd., S. 675 ff. Ebd., S. 696. Ebd., S. 699. Ebd., S. 693. Ebd., S. 700.
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christliche Moral nicht Phrase oder intellektuelles Armutszeugnis [...], sondern Erlebnis“ sei.292 Allen anderen Dichtern des jungen Wien warf Moeller vor, ein spielerisches Verhältnis zur Kunst zu haben. Dabei arbeitete er mit der Unterstellung, artifizielles Sprachspiel sei ein Indiz für mangelnde individuelle Kreativität, auf die Schönheit der Worte zu achten, hieße, auf ihren Sinn zu verzichten. Im Gegensatz hierzu positionierte Moeller „unsere“ norddeutschen Autoren, er nannte als bedeutende Vertreter Nietzsche, Liliencron, Conradi, Hauptmann, Dehmel und, überraschend, George sowie „die mehr oder weniger kuriosen Erscheinungen“ Przybyszewski, Scheerbart, Wedekind und Mombert, schrieb diesen einen charakteristischen „norddeutschen Stil“293 zu und meinte, dass „es bei uns im Norden einige Bücher giebt, die Schicksal sind, Schicksal der ganzen letzten Menschenalter und der Zukunft dazu; in ihnen wie in unserer ringenden Kultur, die sie ausdrücken, schlägt das Herz der Weltgeschichte.“294 Dass Moeller mit dieser Polarisierung, eine Kampfansage abgab, war auch den Wiener Literaten nicht verborgen geblieben. Dies belegt eine in der in Wien erschienenen Wochenschrift Die Zeit veröffentlichte, für Moeller nur wenig schmeichelhafte Rezension. Ihr Verfasser bat Moeller, sich künftig mit anmaßenden Äußerungen zurückzuhalten, benannte sein geringes sprachliches Niveau und bescheinigte ihm kritische Inkompetenz.295 292 293 294 295
Ebd., S. 697 f. Ebd., S. 660. Ebd., S. 655. Der Rezensent schreibt: „Ich freue mich Herrn Arthur Moeller-Bruck erst beim zehnten Band seiner Werke kennen gelernt zu haben. Das erspart mir die vorigen neun und künftigen x Bände, die freilich noch folgen werden. [...] Gleich zu Anfang wird die ‚Wacht am Rhein‘ angestimmt. ‚Bei uns ist Frische, Kraft Wille; wir saugen auf, was war, was seine Größe hinter sich hat.‘ Bei uns, das heißt in Norddeutschland. Das alles fehlt nach Moeller-Bruck in Wien. [...] Wenn aber ein norddeutscher Recke ein Wiener Buch zur Hand nimmt, dann thut er es ‚mit dem Gefühl, das dem Abspannungsbedürfnis (?) verwandt sein mag, das sehr geistige Männer wohl nach schwerer Arbeit nervös zur geistlosen Lektüre eines Indianerbuches oder einer Scandalchronik greifen lässt‘. Darauf gäbe es mancherlei Antworten. Sie wären dem Wiener Volksmund zu entnehmen, und entbehren der Frische sowenig, wie der Kraft. Aber es lohnt der Mühe nicht. [...] ‚Man sehe sich den norddeutschen Stil an!‘ ruft Moeller-Bruck. Das wollen wir gerne thun. Allein, kaum schicken wir uns an, der freundlichen Aufforderung zu folgen, da stolpern wir schon über ein Wort: ‚seltsambezeichnenderweise‘. Das ist Kraft, man muß es zugeben. Auch Schwere – der Verfasser ist auf Schwere sehr stolz – liegt in dem achtsilbigen Ungeheuer. Ganze Centner. ‚Was von der Diction des Lyrikers gilt, besteht natürlich auch von der des Dramatikers Hugo v. Hofmannsthal zu Recht.‘ Warum: natürlich? Es gibt Lyriker, die im Drama eine völlig andere Diction schreiben. Und dass eine Meinung ‚natürlich‘ – ‚zu Recht bestehe‘ ist in der Kunstsprache eine neue Decidiertheit. [...] Weiter: ‚Die Beziehung, die so zwischen Hofmannsthal und d’Annunzio besteht, ist von einer Weise, die mich auf den zweiten Punkt bringt, in dem der erstere als Dramatiker versagt.‘ Die Schwierigkeit, sich hier zurecht zu finden, ‚ist von einer Weise‘, die einem algebraischen Rebus nahe kommt. Und welch ein Frohsinn spricht aus der Betheuerung: ‚Ich meine selbstverständlich
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Insgesamt zeigt sich in Moellers Interpretationen moderner Literatur eine Wendung weg von der Dekadenz. Gegen die in den Übersetzungen noch sichtbaren Präferenzen wurde eine Willenskultur propagiert, die, weil sie beispielsweise die in den Schriften Przybyszewskis beklagte Nervosität und Dekadenz mit dessen polnischer Herkunft assoziierte, nicht ohne nationalistische Spitze ist. Der exaltierte „negative“ Subjektivismus von Autoren wie Nietzsche, Conradi oder Przybyszewski, insbesondere ihre Vorliebe für Psychisch-Pathologische sollte aufgefangen werden in einer von Adolf Barthels der „Modernitis“296 verdächtigten Ästhetik, die sich zu den Erscheinungen der Moderne, zu neuen Moralvorstellungen, zu Technik und Beschleunigung ebenso bekannte wie zum nationalen Erbe. Moellers Polemik gegen George beispielsweise bestätigt: Seine Kritik galt sowohl der sich autonom behauptenden Kunst als auch dem entrückten Individuum, insbesondere dann, wenn es unter Verdacht stand fremden (französischen) Einflüssen zu unterliegen. Allerdings fehlt, sieht man einmal von der Attacke gegen das junge Wien ab, den Ausführungen Moellers noch der chauvinistische Radikalismus, wie er sich in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Frankreich entfaltete. Moeller war das Individuum fragwürdig geworden, daher das Lob von angeblich fest in der heimatlichen Erde wurzelnden Dichtern wie Gerhart Hauptmann und Hermann Stehr. Er hoffte auf die Integrationskraft der literarischen Tradition, deshalb die Sympathie für Bierbaum. Und er wünschte, dass die Literatur selbst Orientierungen geben, Bindungen stiften und zur inneren Beunruhigung der Zeitgenossen beitragen würde. Schließlich liefen seine zum Teil befremdlichen Dauthendey- und Dehmel-Interpretationen darauf hinaus, die Dichter als Erbauungs-
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nicht, dass das das Böse sei, dass ...‘ Aber gewiss nicht! Es muß ja nicht jeder ein aufgeputztes Deutsch schreiben. Nur, wenn er gleich drei, vier ‚dass‘ aufeinanderprallen läßt, muss er es hören. Wenn er aber nicht hört, dann ist er taub für die primitive Musik der Sprache. Dann soll er aber nicht in die Angelegenheiten apodiktisch dreinreden, zu deren Beurtheilung das subtilste Kunstgefühl knapp noch ausreicht. Denn dass einer, der über Kunst schreibt, gewissermaßen auch selbst ein Künstler sei, das verlangen wir nun einmal bei uns in Wien – ‚seltsambezeichnenderweise‘“ (Martin Finder, Arthur Moeller-Bruck: Die Moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen. Band X. Das junge Wien, in: Die Zeit, Bd. 31, Nr. 399, 24.05.1902, S. 127). Gegen Moeller und Franz Servaes gewendet, formulierte der völkische Literaturkritiker: „Die Modernitis ist nicht Dekadenz, eher ihr Gegenteil, die ungesunde Reaktion auf die ungesunde Aktion sozusagen. Man hat ;décadence‘ als das Leiden der Vergangenheit erklärt: die einseitig historische Bildung erdrückt das eigene Schöpfungsvermögen und führt eine Art raffinierten Behagens an Zersetzung und Fäulnis herauf. Im Gegensatz hierzu streift die Modernitis die angebliche ‚Last‘ der historischen Bildung ohne weiters ab und verleiht den Leistungen der Gegenwart oder in Ermanglung solcher den angeblichen Zukunftskeimen einen absoluten Wert, von vornherein jede geschichtliche Vergleichung, ja jedes abwägende Urteil verschmähend. Das Neue ist da, wir haben’s gemacht, also ist es gut“ (Adolf Bartels, Modernitis, in: Kunstwart, 13. Jg., Heft 1, Oktober 1899, S. 7–12, hier 8).
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schriftsteller für das gestresste Individuum in Anspruch zu nehmen. In diesem Sinne hieß es über Richard Dehmel, er sei es, der „uns wieder zeigte, dass die Welt nicht Missklang, sondern Zusammenklang sei und der uns am Symbol seiner selbst lehrte, im Einklang mit ihr zu schwingen. Der uns von der dumpfen, lähmenden Zwangsvorstellung des Fatalismus erlöste und uns im Kreise unserer erkannten Unfreiheit unvermutet neuen Lebensraum gab. Der uns hiess, unsere leidige Tendenz zur Kritik zu ersticken und den Mut erregte, die Anfechtungen ihrer Schwester Skepsis abzuschütteln.“297
2.3. „Das Varieté“ 2.3.1. Ein Zeitdokument Obgleich sich im Wedekind-Aufsatz der Modernen Literatur zeigte298, dass das zeitgenössische Varieté für Moeller lediglich eine ebenso unausgereifte wie profane „Volkshalbkunst“299 war, hat er diesem ein eigenes Buch gewidmet. Dies hatte, wie die Korrespondenz mit Richard Dehmel zeigt300, durchaus handfeste Gründe. Moeller hoffte, die dramaturgische Leitung eines Varietétheaters übernehmen und eine vergleichsweise solide Existenz begründen zu können. Darüber hinaus bestätigt insbe297 298
299 300
Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig 1902, S. 427 f. Moellers Wedekind-Rezeption, insbesondere aber der für Die moderne Literatur geschriebene Aufsatz offenbaren sowohl die Qualitäten als auch die Grenzen des Kritikers. So veröffentlichte Moeller bereits im Juni 1899 ein Beitrag, in dem er Wedekinds literaturgeschichtliche Bedeutung erkennend als einen dezidiert postnaturalistischen Dramatiker würdigte. (Arthur Moeller-Bruck, Frank Wedekind, in: Die Gesellschaft, 15. Jg., Juni 1899, S. 252) Zugleich wird aber deutlich, dass Moeller keinen Sinn für die tragischen Momente in Wedekinds Stükken hatte. Während beispielsweise Otto Julius Bierbaum in einer Besprechung des Erdgeistes Wedekinds „Art, das Tragische mit Groteskem zu behängen“ (Otto Julius Bierbaum, Zwei Dramen, in: Die Zeit, Bd. 6, Nr. 71, 08.02.1896, S. 91-93, hier 92) thematisierte, zeigte sich Moeller absolut unempfindlich für die Nöte der in ihren animalischen Trieben befangenen Protagonisten. Er war vielmehr überzeugt, dass Wedekind „keine der Parteien ernst oder gar tragisch“ nehme. (Arthur Moeller-Bruck, Frank Wedekind, in: Die Gesellschaft, 15. Jg., April 1899, S. 249) Im Gegensatz zu Heroen wie Dehmel und Schlaf, denen Moeller die Sakralisierung des Lebens attestiert hatte, erschien Wedekind in Die moderne Literatur als ein profaner Dichter (S. 754) und Exorzist des bürgerlichen Theaters, der „im Moralischen zunächst einmal Tabula rasa auf der Bühne geschaffen“ habe (S. 752). Weil man in seinen Dramen jedoch vergeblich „nach den ungefundenen doch zu findenden Normen einer vollkommen Menschheitsreligion“ suche, seien Wedekinds Stücke „eben Variete“ (S. 750) ,d.h. als „Zwischenkunst“ (S. 743) bzw. Vorstufe zum „kommenden Drama“ (S. 756) anzusehen. Ebd., S. 744. Vgl. Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel (30.05.1902), in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg, DA: Br.: M. 437.
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sondere Das Varieté (1902), dass Moeller, obwohl ein in seiner Wahrnehmung eingeengter patriotischer Kulturoptimist, auch „ein ausgezeichnetes Medium für alle inneren Vorgänge seiner Zeit“301 war. Äußerte er doch zu einem Zeitpunkt, da das Interesse ambitionierter deutscher Literaten für die Kunst der Spezialitätenbühnen einen ersten Höhepunkt erreichte302, da Ernst Freiherr von Wolzogen in Berlin das Bunte Theater (Überbrettl), das erste literarische Varieté Deutschlands, gründete und in München die Elf Scharfrichter ihre großen Erfolge feierten, den Wunsch, aus der variablen Nummernfolge des Varietés möge sich in absehbarer Zeit eine repräsentative moderne Bühnenkunst, das „grosse Drama“303, entwickeln. So ist Das Varieté wie kein anderes von Moellers Büchern an einen bestimmten Kontext gebunden. Die „Überzeugung, dass“ die Zeit, „wenn sie überhaupt einen Stil hat, zunächst von einem Varietestil sein muss“304, kennzeichnet diese reich illustrierte Monographie305 als ein Zeitdokument, zumal in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Varieté im deutschen Vergnügungsbetrieb eine dominierende Stellung einnahm. Symptomatisch hierfür ist die Geschichte des dem Berliner Central-Hotel (Dorotheen- Ecke Friedrichstraße) angegliederten Wintergartens, eines großen Treibhauses, in dem bis Mitte der achtziger Jahre nur gelegentlich Konzertveranstaltungen vor allem für Hotelgäste stattfanden. Seit der Saison 1888/89 gab es hier einen ständigen Spielbetrieb mit einem Programm, in dem sich Reckturner mit Stimmenimitatoren und Ballettszenen mit den Darbietungen eines Transvestiten ablösten, so dass 301 302
303 304 305
Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 13 f. Vgl. Wolfgang Jansen, Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst, Berlin 1990, S. 155-166. Symptomatisch für dieses Interesse sind die Anthologie Deutsche Chansons (Deutsche Chansons. Brettl-Lieder von Bierbaum, Dehmel, Falke, Finckh, Heymel, Holz, Liliencron, Schröder, Wedekind, Wolzogen, hg. von Otto Julius Bierbaum, Berlin u. Leipzig 1901) und der Roman Stilpe (1897) von Otto Julius Bierbaum: Der Romanheld, Stilpe, ein verkrachter Literat und einstmals gefürchteter Kritiker, gründet mit seinen Freunden das Literatur-VarietéTheater Momus (Momus = Der Gott des Spotts). Begeistert erklärt er in seinem Programm: „Die Renaissance aller Künste und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her! [...] Was ist die Kunst jetzt? Eine bunte, ein bischen glitzernde Spinnwebe im Winkel des Lebens. Wir wollen sie wie ein goldenes Netz über das ganze Volk das ganze Leben werfen. Denn zu uns ins Tingeltangel werden alle kommen, die Theater und Museen ebenso ängstlich fliehen wie die Kirche. [...] bei uns werden sie, die blos ein bischen bunte Unterhaltung suchen, das finden, was Ihnen Allen fehlt: Den heiteren Geist, das Leben zu verklären, die Kunst des Tanzes in Worten, Tönen, Farben, Linien, Bewegungen. Die nackte Lust am Schönen, der Humor, der die Welt am Ohre nimmt, die Phantasie, die mit den Sternen jongliert und auf des Weltgeists Schnurrbartenden Seil tanzt, die Philosophie des harmonischen Lachens, das Jauchzen schmerzlicher Seelenbrunst, [...] Wir werden ins Leben wirken wie die Toubadours! Wir werden eine neue Cultur herbeitanzen! Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären“.(Otto Julius Bierbaum, Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive, 8. Aufl., Berlin 1910, S. 357 ff). Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S, 234. Ebd., S. 36. Die 24 Vollbilder und 104 Textillustrationen drängen sich auf nur 236 Seiten. Die Umschlagzeichnung ist von Louis Morin die Schlussvignette von Fidus.
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auch das bürgerliche Publikum, welches bislang nur mit bildungsbedingtem Schamgefühl die einschlägigen Etablissements aufgesucht hatte, in den Genuss einer nunmehr sanktionierten Unterhaltungskunst kam. Im Jahre 1894 hatte der Wintergarten dann seine erste große Sensation; die Barrison Sisters, fünf aus Pittsburg stammende Töchter eines Schirmmachers, die in Berlin als gefallene „Damen der besten New-Yorker Gesellschaft“306 mit ihren in kindlichfreizügigen Kostümen vorgetragenen anzüglichen Gesangs- und Tanzdarbietungen307 vor allem die Herzen des männlichen Geschlechts und auch das von Arthur MoellerBruck eroberten.308 Moellers Deutung ihrer nicht eben anspruchsvollen Darbietungen sowie abfällige Bemerkungen über die etablierte bürgerliche Bühnenkunst zeigen, dass es ihm in Das Varieté nicht nur um die Vorstellung und Rechtfertigung des Varietés als neuer Erscheinungsform der darstellenden Kunst, sondern auch um eine Abrechnung mit der repräsentativen Kultur des Bürgertums und eine Aufwertung des Varietés ging. Schließlich schrieb er: „Die ersten, die mit entzückenden Blitzen in die schwüle Atmosphäre hineinsprangen und die Luft, in der alte und neue Moral noch gegen einander grollten und sich funkensprühend rieben, zu schmetternden Strömen entladen halfen, waren jene fünf jungen amerikanischen Damen, die unter dem Namen der Five Sisters Barrison Leben nach dem alten Kontinent brachten. [...] Wenn ein paar Girls es wagten, sich über alle Überlieferungen des löblichen Anstands und der Sitte hinwegzusetzen, heidi! Wie that sich da erst dem Manne das Leben in bunter Ungebundenheit leuchtend auf. Im Ernst, die Barrisons haben ein Stück Lebenslust in Europa frei gemacht; nicht das beste schönste würdigste Stück – aber immerhin, selbst das kann oft dankenswerter sein als Lebensunlust.“309
Indem der Bohemien Moeller das in Zirkus und Varieté Gebotene als Kunst bzw. als Ursprung großer zeitgenössischer Kunst propagierte, zielte er zunächst darauf, das Juste-Milieu zu provozieren, das im Varieté vor allem eine niedere Form des Theaters sah. War das bürgerliche Publikum bisher gewohnt, Kunst mit dem Schönen und Er306 307
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Vgl. Wolfgang Jansen, Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst, Berlin 1990, S. 106. In einer zeitgenössischen Monographie heißt es unter anderem: „So tänzeln sie, eine nach der anderen und: eins – zwei – drei – vier – fünf, in läppischen Kinderkleidchen herein: in Latzblousen und schmächtigen Faltenröcken, und auf den langlockigen Kinderkopf stülpen sie die naivste Rüschen-Kappe, und stecken mit ihren Füßchen, an denen sie nächstens knabbern, in spärlichen Wadenstrümpfen und rührenden Knöpfelschuhen. Und wenn sie nun sittsam, verzagt, als hätten sie Nestle’s Nährmehl darin, fünf kreisrunde Karpfenmäulchen öffnen und die obszönsten Locklieder ins Parterre stoßen, Fisteltöne, die sich dürr und kantig, wie mit gebundenen Flügeln aus den Stimmritzen hervorzwängen, – da ist es ihnen, als hätten sie gar nichts gesagt“ (Pierre d’Aubecq (Pseudonym von Anton Lindner), Die Barrisons. Ein Kunstraum, Berlin 1897, S. 81). Unzweideutig heißt es: „Sie waren entzückend mit ihren kindlichen schmiegsamen, schnippisch fahrigen Bewegungen, die in so lustigem eckigem Lingerlongerlootakt aus dem spitzenrauschenden Froufrougewühl hastig herauslugten, mit ihren hellen und oft ein wenig schrilligen Kleinmädchenstimmen, ihren vertraulich wissenden Lächeln und dem goldblonden Haar, das einfach gescheitelt und gewellt um die lieben Gesichter lag“ (ebd., S. 171). Ebd., S. 167 f.
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habenen gleichzusetzen, so behauptete Moeller, das Publikum des Varietés sei „das einzige heute, das sich als solches, aus naivem Kulturinstinkt statt aus traditionellem ‚Literatur‘interesse, in einem Zuschauerraum zusammenfindet, das einzige heute, das wenigstens disponiert erscheint, sich Werte des unmittelbaren Lebens dramatisch vorführen zu lassen“.310 In der wirren und langatmigen Einleitung311 seiner Monographie untersuchte Moeller unter anderem die soziale Zusammensetzung und die Erwartungshaltung, die „innere Gesinnung“312, dieses Publikums. Er beobachtete, dass die Zuschauerschaft des modernen Varietés nach den Erfolgen des Wintergartens und des Überbrettl nicht mehr schwerpunktmäßig aus Studenten und Künstlern bestand. Das Publikum des Varietés, so Moeller, setze sich vielmehr aus „allen Gesellschaftsklassen zusammen“.313 Eine Differenzierung war für ihn dagegen in der Einstellung gegenüber dem Dargebotenen erkennbar. In dieser Beziehung schied Moeller einen besonderen Typus des Menschen, den für den modernen Geist besonders empfänglichen „wahren Lionardomenschen“314, vom widerstrebenden, das Juste-Milieu repräsentierenden „Restmenschen“. Der „Restmensch, der heute lebt, aber noch ganz den Geist und die Macht von gestern hat“315, war demnach ein Besucher des Varietés, dem die „innere Gesinnung“ fehlte, ein Mensch, der das Varieté nur besuchte, um sich in einer ihm fremden Umgebung unterhalten zu lassen. Ideale Zuschauer waren, laut Moeller, hingegen jene, deren „Blick die feurigen Schlangen, die mit rasender Eile auf ihrem gewaltigen Netze alltäglich Stadt und Land und Erdteile verbinden, in einer symbolischen Einheit zu sehen“ vermochten und die „in den Bernsteinaugen der Salome endlich das nervöse Mysterium eines neuen Geschlechts ahnt[en] und in den Klangbrandungen Dehmelscher Verse den ersten Schrei seiner Geburt“, die „vor der hieratischen Ruhe der Toteninsel fühlt[en], wie wir den schlimmsten Feind unserer Art den Tod, das Fatum der endlichen Auflösung, überwinden können“316. Als Massenphänomen waren diese Zuschauer zweifellos eine Wunschvorstellung Moellers. Allenfalls emphatisch gestimmte Geister, Künstler und Literaten im Wesentlichen, haben die Zeit um 1900 so erfahren, wie das im Varieté imaginiert wurde. Aus der Behauptung, sie seien die „moderne Menschheit“, deren Stimmung sich im Varieté „kristallisiert“317, lässt sich mit Moeller zweierlei folgern. Erstens: Das Varieté war für Moel310 311
312 313 314 315 316 317
Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin u. Leipzig 1902, S. 744. Schon Zeitgenossen verzweifelten an Moellers Stil. Franz Blei schrieb in einer Rezension: „Die Schreibweise M.-B’s wird nicht jedem gefallen; sie affektiert so viel Persönlichkeit; ihr Tempo ist einmal überstürzter Galopp, dann wieder pedantischer Schritt. Es ist kein Mass darin, und die Stimme wird oft schreiend laut. Sollten dem Autor seine Einfälle schon so imponieren, dass er der Mühe zu entbehren glaubt, sie ordentlich vorzustellen?“ (Franz Blei, A. Moeller-Bruck, Das Varieté. Berlin. J. Bard. 1902, in: Die Insel, 3. Jg., Nr. 7/8, April–Mai 1902, S. 193 f.) Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 36. Ebd., S. 35. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 31.
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ler die maßgebliche Form der modernen Bühnenkunst. Zweitens: Der „Restmensch“, das Juste-Milieu, gehörte dieser modernen Menschheit nicht an. Hier wird deutlich, dass Moeller sich in Das Varieté nicht mit einer Kritik am bürgerlichen Kulturbetrieb und dem Lob des Künstlermilieus begnügte. Seine Argumentation und sein Sprachgebrauch – „Restmensch“ 318 – gingen weit darüber hinaus. Sie sind Ausdruck einer in symbolische Aggression umschlagenden oppositionellen Haltung.
2.3.2. Eine systematische Abhandlung ? Der zweite und umfangreichste Teil des Buches entsprach mit seiner historischsystematischen Ordnung ganz dem Zeitgeschmack. „In diesem Teile des Buches hat er eine überaus fleißige Arbeit geleistet“319, hieß es in einer wohlwollenden Rezension. Auch der Verleger, Julius Bard, wusste, dass eine solche Abhandlung von einem Publikum erwartetet wurde.320 Die feinsinnige Unterscheidung zwischen „Varieté“ und „Varietémoment“, welche den ganzen zweiten Teil durchzieht, sowie Moellers anthropologische Festlegung des Varietés321 offenbaren das Problem und das Anliegen dieser Schrift. Die vergleichsweise neue322 und vielgestaltige323 Kunstform des Varietés sollte historisch legitimiert und auf einen Begriff gebracht werden. Moeller und sein Verleger wollten zeigen, dass das Varieté als Varietémoment eine greifbare humane Konstante sei, dass es ein Varietémoment schon seit der Menschwerdung bei allen Völkern gab und dass das zeitgenössische Varieté der vorläufige Gipfel einer 318 319 320
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Ebd., S. 17. Willy Ganske, Das Varieté. Von Arthur Moeller-Bruck, in: Das litterarische Echo, 4. Jg., Heft 19, Juli 1902, S. 1366. In dem von ihm mitverantworteten Vorwort heißt es: „Dies Buch hier sucht eine [...] sehr ernste Meinung über das scheinbar sehr lustige Thema [Varieté]. Und es wäre vielleicht zu wünschen [...], dass man auch die überschäumenden Äusserungen der Menschheit einer Betrachtung würdig erachtete. Das Folgende wird unter anderem zeigen, dass bunte Farben zu allen Zeiten bis heute auf oft sehr düsterem und wohl ernst zu nehmendem Fond zu stehen pflegten.“ (J.[ulius] B.[ard] A.[rthur] M[oeller]-B.[ruck]: Vorwort, in: Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 4 f). Moeller definiert: „Variete scheint mir von altersher die Art, wie die Menschheit von sich aus und als Summe ihrer Typen sich mit der Lebenslust abfindet, zu der sie allemal erwacht, wenn sie irgendwie in ein neues Entwicklungsstadium tritt. Variete ist alles, was Dionysos den Menschen antreibt zu thun und das noch nicht Kunst geworden oder überhaupt nicht Kunst zu werden vermag“ (ebd., S. 20 f.) Seriöse Studien datieren die Anfänge des Varieté auf die Mitte des 19 Jahrhunderts (vgl. hierzu: Ernst Günther, Geschichte des Varieté, Berlin 1981, S. 22 ff., Wolfgang Jansen, Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunstform, Berlin 1990, S. 13 f). Der Brockhaus definiert: „Varieté: [...] Form des Unterhaltungstheaters, die aus der losen Aneinanderreihung einzelner Sprech-, Musik- und Tanznummern besteht, vermischt mit Akrobatik, Magie und Dressur, verbunden durch einen Conférencier“ (Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden: 20. überarbeitete und aktualisierte Aufl., Leipzig, Mannheim 1996, Bd. 23. S. 27).
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langen Entwicklung war. Die Differenzierung zwischen Varieté und Varietémoment wurde notwendig, weil Moeller die primitiven und improvisierten Gesangs- und Tanzdarbietungen, in denen er ein Varietémoment, d.h. eine Vorform des modernen Varietés erblickte, ebensowenig als Varieté bezeichnen konnte wie die Dramen der deutschen Klassiker Goethe und Schiller, die für ihn die vorläufige Krönung der Entwicklung des deutschen Varietémoments waren. So bedeutet die Einführung des Begriffs des Varietémoments eine Ausweitung des Begriffs des Varietés, eine Übertragung seines Sinngehaltes auf Einzelelemente wie Tanz, Gesang und Schauspiel, die die Voraussetzung für seine Geschichte war. Dem Anliegen gemäß begann Moeller mit seiner Beobachtung des Varietémoments bei den mythischen Ursprüngen der Menschheit und schritt dann weiter durch das Altertum über China und Indien nach dem antiken Griechenland und dem Römischen Reich: „Das Varietemoment der Chinesen bezeichnete brutale Stagnation, das der Inder letzte philosophische Resignation, das der Hellenen eine heroische Evolution, [...]. Das Varietemoment der Römer ist ausgesprochene Dekadenz.“324 Die Zusammenfassung dieser frühen Entwicklungsphase des Varietémoments lässt erkennen, dass Moeller in diesem Buch nach dem Muster zeitgenössischer Kulturkritik verfuhr. Angenommen wurde eine ideale Entwicklung, die ausgehend von einem universalen natürlichen Zustand, welcher in der „Figur des Barden“325 verkörpert wurde, zu den Höhepunkten der europäischen Kultur führte. Deren erster wird repräsentiert durch das antike Drama. Moellers Theorie seiner Genese entsprach einer trivialen Lesart von Nietzsches Geburt der Tragödie (1872). In seiner idyllischen Version des Dionysoskultes erblickte er den Ursprung des Schauspiels und der Schauspielkunst, die durch den Gott Apollon temperiert und von Thespis, Äschylos und Sophokles zur klassischen Form gebracht worden sei. Moeller sprach in diesem Zusammenhang auch von einer „heroische[n] Evolution“, einer Entwicklung, die „ein Volk [...] nur erreichen kann, wenn ein starker Lebensinstinkt und Schönheits- und Ebenmasssinn gleich mächtig sind“.326 In diesem Sinne war das Nebeneinander von Tragödie, Komödie und Satyrspiel für Moeller der Beweis, dass schon bei den alten Griechen Varieté(momente) und großes Drama einander ergänzten und also gleichwertig seien. Demnach sei „[...] die eigentliche Bestimmung des Satyrspiels [...], den letzten Ulk nach der Tragödie zu geben, das Fatum, das eben starr und heilig vorübergeschritten war, jetzt vom Standpunkte eines Menschen und Volkes zu persiflieren, die bei aller Grösse der Anschauung vom Leben [....] sich nicht zu scheuen brauchen, [...] eine Clownerie der Seele aus all den Erhabenheiten zu machen“.327
324 325 326 327
Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S 69. Ebd., S 42. Ebd., S. 69. Ebd., S 68.
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Dieses Gleichgewicht zwischen hoher tragischer und „Volkshalbkunst“328 wurde von Moeller als vorbildlich für andere Kulturen ausgegeben. Da er vorgab, eine Entwicklung hin zu diesem Idealzustand hiernach nur noch bei den germanischen Völkern vorfinden zu können, und er beispielsweise dem Römischen Reich attestierte, „von seinem langsamen Anfang bis zum Niedergang von Varietemomenten profanster Art beherrscht“329 gewesen zu sein, laufen seine Analysen der darstellenden Kunst der romanischen Völker auf eine Entwertung ihrer Nationalkultur hinaus. Italien war für Moeller vor allem das Land der Commiedia dell’arte; Frankreich die Heimat des linkischen Pierrot330, Spanien war immerhin der Ursprungsort von Tänzen (Morisca, Guarracha, Fandango, Seguidilla, Sarabande), in denen „man sich ausrast bis zur Erschöpfung“; ein Indiz für einen „Volkselan“331, der sich in Rausch und Wut, nicht aber in großer Kunst zu entladen vermocht habe. Das Fazit der Untersuchung romanischer Varietémomente lautete somit: Die romanischen Völker seien unfähig, ihre Lebenslust in eine große Bühnenkunst zu verwandeln. Sie blieben bei ihren Varietémomenten, bei „Stehgreifkomödie“332, Posse und Tanz stehen und seien daher nicht wesentlich über das Niveau der Chinesen, Inder und Römer hinausgekommen. Anschluss an die Griechen im Sinne einer weitergehenden Entwicklung ihrer Varietémomente haben nach Ansicht des national gesinnten Autors nur die Völker germanischer Abstammung, die Engländer und die Deutschen, gefunden. In England sei diese Entwicklung kontinuierlich verlaufen. Sie begann für Moeller bei den „Mystery-plays mit der Darstellung der Passion“333 und endete bei Shakespeare, dessen Werk für Moeller das Ergebnis einer erneuten Vereinigung von Apoll und Dionysos sei.334 In Deutschland jedoch sei die nationalkulturelle Entwicklung durch die konfessionelle Spaltung beeinträchtigt worden. Ohne den Dreißigjährigen Krieg, so Moellers Gedankengang, hätte sich in dem blühenden wirtschaftlichen und kulturellen Leben der freien protestantischen Reichsstädte das große deutsche Drama entwickeln können. Ein Indiz hierfür seien die Fastnachtsspiele von Hans Sachs, die „das Bedürfnis abwechslungsreicher Schau und Lachgelegenheit im Sinne einer aufsteigenden Entwicklungslinie“ befriedigt hätten.335 Ferner zeuge es von einer besonderen Begabung des deutschen Volkes, dass der für den Sprung zum „großen Drama“ unabdingbare „nordisch lutherische Renaissancegeist“336 nach der großen Verheerung und trotz eines zivilisatorischen wie kulturellen Niedergangs in mindestens zwei seiner Vertreter wieder auferstanden sei. Im Dioskurenpaar Goethe und Schiller, so die
328 329 330 331 332 333 334 335 336
Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 744. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 71. Vgl. ebd., S 102. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 94. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 128. Ebd., S. 133 f. Ebd., S. 138. f.
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kühne These Moellers, seien Dionysos und Apollo wieder vereint337, wobei insbesondere der als „erweiterte[s] Fastnachtsspiel[...]“ apostrophierte Faust als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung der deutschen Varietémomente hin zur großen Kunst als „Vereinigung des Kulthaften und Profanen zur reinen Kunst“ anzusehen sei.338 Die kompetenteren unter den Zeitgenossen erkannten, dass Moeller sich in seinem historisch systematischen Teil übernommen hatte. So war Das Varieté für Franz Blei „ein erster und im Historischen mässig gelungener Versuch einer Geschichte des Dionysos durch alle Masken“.339 Viel mehr als das historische Geschehen beleuchtet der zweite Abschnitt dann auch die Intentionen des Autors: Moellers kühne These, die Werke Goethes und Schillers seien der Höhepunkt in der natürlichen Entwicklung der Varietémomente des deutschen Volkes, wie auch jene, dass die Dramen Shakespeares die Krönung des englischen Varietés seien, zielte erstens darauf, die Kunst des modernen Varietés aufzuwerten, sie gegen die Anfeindungen akademischer Kunstkritik in Schutz zu nehmen und deren Vertreter umgekehrt zu provozieren. Entsprechend schrieb auch Dehmel: „Die leitende Idee trifft den Nagel auf den Kopf, auch den Nagel der classischen Kunstgelehrten.“340 Ferner belegen die Äußerungen der Schlussbetrachtung, dass Moellers Systematik sowie die Ergebnisse seiner Einzeluntersuchungen, von der Vorannahme geleitet waren, die Deutschen seien das Volk mit dem potentesten Volksgeist. In diesem Sinne heißt es dann auch: „Je länger ein Volk bei seinen Varietemomenten beharrt – desto geringer die Möglichkeit grosser Kunst, desto grösser die Wahrscheinlichkeit niederer Kunst, Kleinkunst, Possen337
338 339
340
Moeller führte aus: „Schiller, in dem Dionysos Prometheus, der Freund des Diesseits und der Feind der Götter, sich zur Predigt einer edlen Menschlichkeit auf Erden aufschwang, ist das Versprechen – und Goethe, den Apollo diese Predigt zu gestalten lehrte, ist schon der vorweggenommene Beweis einer neuen Generation. Barde, pathosmächtig begeisternd, der erstere. Und der letztere Barde und Spassmacher zugleich, freilich im edelsten Sinne irdischer Volksbeglückung“ (ebd., S. 138). Ebd., S 138. Franz Blei, A. Moeller-Bruck, Das Varieté. Berlin. J. Bard. 1902, in: Die Insel, 3. Jg., Nr. 7/8, April–Mai 1902, S. 193 f. Analog heißt es in einer Sammelbesprechung: „Das Interessanteste und Wertvollste an dem starken Bande[...] sind die Illustrationen, [...] um deren Sammlung und Reproduktion sich der Verleger, Julius Bard, verdient gemacht hat. Dem Texte sieht man es gar zu deutlich an, daß er in einem Augenblick geschrieben wurde, wo man nicht recht weiß, soll man eine prophetische Taufrede oder einen wehmütig verherrlichenden Nekrolog halten. Wohl wird ihm erst, wo er sich – er thut das deshalb nur zu bald – den modernen Überbrettlgrößen zuwenden kann, und es ist bezeichnend, daß sich auch Kunst und Geschmack in der Auswahl und Wiedergabe der Illustrationen erst recht entfaltet, wo die Barrisons aufmarschieren, eine Fouguère, Duvernois, Otero, Saharet und Loie Fuller ihre Reize blinken lassen oder Yvette Guilbert, Bozena Bradsky, d`Estrée und andere auftreten. Hier ist der Hauptreiz des Buches zu suchen“ (Friedrich Düsel, Litterarische Rundschau. Drama und Theater, in: Westermann Illustrierte Deutsche Monatshefte, Bd. 92, Heft 551, August 1902, S. 715). Richard Dehmel an Arthur Moeller-Bruck (23.03.1902), in: Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883–1902, S. 408.
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kunst, antikisierender Epigonenkunst. Je intensiver, je plötzlicher, aufwühlender die Varietemomente in einem Volke einsetzen – desto grösser die Möglichkeit grosser Kunst. Das sind die beiden Lehren, die die Entwicklung des Dramas aller Nationen gegeben hat: Über Hellas kam in einem Menschenalter der gewaltige Rausch, über England kam in einem Jahrhundert eine gewaltige Wiedergeburt – und die Werke waren da. Während die Chinesen, Inder, Römer, Italiener, Franzosen und Spanier ihre Entwicklung hinzettelten, so lange sie als Reiche bestanden oder noch bestehen. Einzig die Deutschen, das tragischste Volk der Welt, haben immer und immer wieder die verzweifelten Versuche gemacht, ihr düsteres Geschick, eine durch Christentum irregeleitete Rasse zu sein, doch noch unter sich zu bekommen; und sie zeitigten wenigstens die bedeutendsten klassifizierenden Dichtungen von allen Völkern: ein Schiller und ein Goethe wiegen alle Racines auf, oder wie sie heissen mögen.“341
So bestätigt sich auch in Das Varieté Moellers nationale Gesinnung, wobei auch hier der Sprachgestus nicht zufällig an Langbehns deutschtümelnde Prosa erinnert: Richard Dehmel gegenüber bekannte Moeller, mit dem Varieté eine „Kulturdramaturgie“ schaffen zu wollen, in der „der Begriff ‚Variete‘ natürlich nicht zu eng gefaßt, sondern nur Grundmotiv – wie etwa analog“ zu „Rembrandt in ‚R. als Erzieher‘“ sei.342 Auf seine Lektüre gestützt, entwickelte Moeller in Das Varieté erstmals Ansätze jener „langweilig[en] [...] Philosophie“343, die später zur Grundlage seiner gesamten Geschichtsphilosophie wurde. Der beständige Kern dieser Philosophie war die keineswegs originelle Vorstellung, dass die Deutschen, als legitime Nachfolger der Griechen das kulturell vorbildliche Volk in Europa seien.344 In Moellers Worten: „[...] in Fragen der Weltanschauung und Lebensauffassung haben wir die Führung.“345
2.3.3. Das moderne Varieté Im dritten Teil der Monographie relativiert sich der Eindruck, dass Das Varieté eine politisch-weltanschauliche Schrift sei. Moeller behandelte hier die herausragenden Künstler des zeitgenössischen Varietés als international bedeutsame Erscheinungen. Im Zusammenhang der einzelnen Kapitel – Tanzstile, Liedstile, Ulk und Ulkstil, Brettlstile – ergibt sich ein anschauliches Bild sowohl des Varietés der Jahrhundertwende als auch der Vorlieben und Sympathien Moellers. Dabei ist es keineswegs so, dass Moeller sich ausschließlich den anspruchsvollen Varianten des Varietés wie dem literarischen Varieté Ernst von Wolzogens widmen würde. Wichtig waren ihm alle 341 342 343 344 345
Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 233 f. Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel (14.06.1901), in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg: DA: Br.: M: 433. Franz Blei,: A. Moeller-Bruck, Das Varieté. Berlin. J. Bard. 1902, in: Die Insel, 3. Jg., Nr. 7/8, April–Mai 1902, S. 193 f. Vgl. Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, S. 49 ff. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 234.
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neuen, nicht etablierten Formen der darstellenden Kunst, vor allem wenn sie ein breites Publikum ansprachen und in offensichtlicher Opposition zur repräsentativen Kultur standen. So sah Moeller einen Ursprung des zeitgenössischen Varietés in den Zirkus- und Wanderschauspielergruppen des neunzehnten Jahrhunderts, die er als ein Reservoir des Abenteuers in einer durch und durch zivilisierten Umwelt betrachtete. „Zu toter verbürgerlichter Zeit fanden sie sich zu Wandertruppen zusammen, alle, in denen, noch persönlicher Freiheitstrieb und Freude an einer ungebundenen Lebensführung wach war. Diese Bankisten, diese Seiltänzer, Kunstreiter und Reiterinnen [...] diese Trapezkünstler, Bildererklärer und Spassmacher der reisenden Zirkusse und einzelnen Jahrmarktsbanden waren diejenigen Amerikaner unter uns, die im Lande blieben und denen jeder praktische Erwerbssinn fehlte, aber dafür ein Stück echten romantischen Künstlerbluts im Leibe steckte.“346
Eine deutlich oppositionelle Haltung zeigt sich auch in der Schilderung des Cancans, den Moeller als die zweite Wurzel des modernen Varietés vorstellte. Von diesem seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den großstädtischen Ballhäusern beheimateten Tanz hieß es: „Kordax und Cancan stehen [...] über dem Geschlecht und bedeuten den chaotischen Lustausbruch der Masse, die von dem jagenden Verlangen gepeitscht wird, dem Gefühl der allgemeinen Zusammengehörigkeit [...]. Im Cancan des Volkes rast sich derselbe Sturm und Drang körperlich aus, in dem geistig seine jungen Dichter ihren Untergang und damit die Erlösung finden. Und wie diese Erlösung eine von Leiden ist, [...] so übertäubt das Volk im Cancan den Schmerz, den ihm das tägliche Leben mit seinen hässlichen Zufällen schlägt und hält den Wirbelwind des gemeinsamen Fatums in rauschenden Linien fest.“347
Solche Äußerungen und die Parallele, die Moeller zwischen dem ursprünglich französisch/spanischen Cancan und dem altgriechischen Kordax zog, illustrieren, wie Moeller die Ergebnisse seiner Lektüre in die Deutung der Erscheinungen des großstädtischen Lebens einfließen ließ, da er, auf Nietzsche gestützt, den Tanzenden ein unmittelbares Verhältnis zur Tiefendimension des modernen Lebens attestierte. Exemplarisch behandelte er in seinem Kapitel Tanzstile die Darbietungen der Barrisons, der Saharet und der Loie Fuller. Auswahl und Wertung dokumentieren Moellers Abneigung gegen vulgäre Posen sowie ein Gespür für die Entwicklung, die der moderne Tanz vom Varieté aus nahm. So steht am Schluss des Tanzkapitels ein bemerkenswertes Porträt der bedeutendsten Repräsentantin des Serpentinentanzes, Loie Fuller. Fuller, deren etwas füllige Gestalt bei ihren von erotischen Elementen bestimmten Tänzen in überdimensionalen Gewändern aus leichter Seide verschwand, war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Berühmtheit. Man hatte ihr auf der Weltausstellung in Paris (1890) ein eigenes Theater errichtet. Moeller dürfte sie im Wintergarten gesehen haben, wo sie seit 1892 regelmäßig auftrat. Für ihn bedeutete ihre Art zu tanzen einen Übergang zur Plastik und mithin zur hohen Kunst:
346 347
Ebd., S. 151 f. Ebd., S. 159.
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„[...] mit der Loie Fuller dürfte die lebende Linie auf der Szene des Varietes da angekommen sein, wo nur noch ihre Umsetzung in das grosse Kunstwerk möglich ist; [...] mag es nun der Skulptur angehören, oder der Malerei, oder dem Drama [...]. Eine Überbietung ist vorläufig wenigstens kaum mehr möglich“.348
Auch das Kapitel über die Liedstile des Varieté suggeriert durch die Abfolge der vorgestellten Künstlerinnen eine steigende künstlerische Qualität. An seinem Ende widmete sich Moeller der Yvette Guilbert, deren „gruselig-groteske Sozialsatiren“ für Samuel Lublinski die weithin einzigen Darbietungen „von literarischem Wert“ waren.349 Diese große Diseuse der Jahrhundertwende gilt heute als die Erfinderin des literarischen Chansons. Ein Zeitgenosse beschrieb die Wirkung ihrer Auftritte wie folgt: „Sie singt, sie mimt die pariserische Korruption, die von den Boulevards aus Montmatre erobert hat. Das ist nicht mehr die alte Ausgelassenheit, der wilde jugendliche Lebenstaumel, der besinnungslose Leichtsinn der alten Bohème. Das ist die Neurose perverser Orgien, das Delirium gepeitschter ohnmächtiger Sinne, das grelle spitze Lachen der im Alkohol sich betäubenden Verzweiflung. Yvette spiegelt die Zuckungen und Windungen zerrütteter Gehirne, die schlotternde Gier der Entnervten, das vergebliche Haschen und Suchen nach letzten Stimulanzen und Sensationen, diesen ganzen Verwesungsprozeß einer ziellosen, hoffnungsbaren [...] Gesellschaft.“350
Im Kontrast hierzu erweist sich Moellers Porträt als ein geradezu gefälliges: „[...] die Hände im Schosse gekreuzt, das Kinn und die Nase ein wenig und schräghin nach oben gestreckt, die Augen halb geschlossen, das Haar rot: [...] singt sie, die Essenz französischer Sentimentalität, mit der das deutsche Schmachten noch eine Brutalität ist.“351 Seine Schilderung ihrer Persönlichkeit lief darauf hinaus, die Guilbert als Prototyp der modernen Künstlerin vorzustellen. Für Moeller war sie, die sowohl die Enttäuschung einer verlassenen Geliebten als auch das harte Leben einer Dirne besang und dabei den bürgerlichen Sittenkodex entzauberte, nicht nur die moderne, sinnliche, starke und unabhängige Frau schlechthin, sondern die Verkörperung des modernen Frankreich.352 Die Bewertung ihrer reduzierten Vortragsweise, sie hatte die Fähigkeit, mit einer einzigen Geste einen Typus entstehen zu lassen353, verweist wiederum auf Moellers Hoffnung, dass vom Varieté aus das Theater revolutioniert werden würde. Schließlich schrieb er: „Wie sie im Formlichen auf jede Improvisation verzichtete und die übliche leicht librettohafte Rezitation der Chansonieren durch eine neue schwere dramatische Deklamation überwand, so hing sie im Inhaltlichen neben die komische Maske [...] die tragische Maske
348 349 350 351 352 353
Ebd., S. 195 f. Vgl. Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, Berlin 1904, S. 135. Erich Klossowski, Die Maler von Montmatre, Berlin 1903, S. 51 f. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 205. Vgl. ebd., S. 212. Vgl. Yvette Guilbert, Die Kunst einen Chanson zu singen (L’Art de chanter une chanson) (hg. von Walter Rössler), Berlin 1981, S. 27 ff.
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auf, die das alte Theater für sich in Anspruch genommen. Und das war eine That [...] die vielleicht allein mit der des Thespis verglichen werden kann.“354
Als Kulturoptimist hatte Moeller eine sehr hohe Meinung von den künstlerischen und kunsterzieherischen Potenzialen des Varietés. So war er beispielsweise davon überzeugt, dass das „Variete [...] auf die Wucht der breiten Wirkung“ dränge.355 Die Annahme einer mehr oder weniger kontinuierlichen Steigerung der künstlerischen Qualität, die Behauptung, aus dem Varieté werde sich unter Einwirkung eines fruchtbaren Volksgeistes in absehbarer Zeit das „grosse Drama“356 entwickeln, mag heute ein wenig optimistisch erscheinen.357 Und tatsächlich übersah Moeller, dass ein wesentlicher Teil der zeitgenössischen Varietékünstler ihre Nummern nicht mit „unterirdischen Kultwerten“358 durchsetzte, sondern diese bewusst so konzipierte, dass sie kulturelle Werte, soziale Normen und künstlerische Formen zum Zwecke der Unterhaltung eines mehr oder minder eingestimmten Publikums demontierten. Entsprechend meinte beispielsweise Oskar Panizza, dass das moderne Varieté aus der Zerstörung der etablierten Kunst hervorgegangen359 und „naives Zerstören [...] das Wesen des Varieté“360 sei. Gleichwohl erweist sich Moeller eben durch seinen Optimismus auch als empfänglich für die Tendenzen der Zeit. Schließlich erhoffte kein Geringerer als Ernst von Wolzogen, dass ganz im Sinne der vom Kunsthandwerk ausgehenden Reformanstrengungen auch das Varieté zu einer „Veredlung des Geschmackes“361 beitragen könne, eine Einschätzung, die recht bald auch durch das Schicksal seines Bunten Theaters widerlegt wurde. Dieses war nach den ersten großen Erfolgen noch im November 1901 in ein größeres Haus (800 Sitzplätze) umgezogen. Zugleich hatte Wolzogen sein Theater in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Als deren Aufsichtsrat eine Anpassung des Programms an den breiten Publikumsgeschmack auf Kosten der künstlerischen Qualität durchsetzen konnte, wurde Wolzogen zunächst beurlaubt,
354 355 356 357
358 359 360 361
Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 212 f. Ebd., S. 225. Ebd., S, 234. Tatsächlich schrieb bereits Richard Dehmel an Moeller. Es sei wohl „ein bischen danebengehauen, wenn Sie meinen, es liege am Volksgeist, ob aus den allerlei Formen unbändigen Lebens (Varieté) sich wirklich die eine große Form der Bändigung (Kunst) entpuppen könne. [...] Das Volk will immer nur ‚panem et circenses‘, es will sich einfach delectiren, zwar möglichst variabel, aber auch immer simpel“ (Richard Dehmel an Arthur Moeller-Bruck (Blankenese, 23.03.1902) in: Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883–1902, S. 408 f.) Arthur Moeller-Bruck, Die Moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S 755. Vgl. Oskar Panizza, Der Klassizismus und das Eindringen des Varieté, in: Die Gesellschaft, 12. Jg., Heft 10, Oktober 1896, S. 1252–1274, hier 1254. Ebd., S. 1266. Ernst von Wolzogen, Das Überbrettl, in: Das litterarische Echo, 3. Jg., Heft 8, 1900/01, S. 542 –548, zitiert nach: Erich Ruprecht und Dieter Bänsch (Hg.), Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910, Stuttgart 1970, S. 122.
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bis er zum Beginn der Spielzeit 1902 ganz aus dem Bunten Theater ausschied.362 So zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel des Bunten Theaters, dass das „große Drama“ auch vom erfolgreichen Varieté nur schwer zu erreichen war.
2.4. Vom Kulturoptimisten zum Kulturdarwinisten Diese offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Gegenstand und seiner Behandlung, die Verpflichtung der vielgestaltigen Kunst des Varieté allein auf das „große Drama“ war, wie oben bereits angedeutet, wesentlich durch die Philosophie und das Selbstverständnis Moellers begründet. Der Bohemien und Kulturoptimist Moeller sah sich, seine früheren Sympathien für die Literatur der Dekadenz hinter sich lassend, als geistiger Führer eines vor allem deutschen „Übergangsgeschlecht[s]“, das noch nicht zu seinem „grossen Stil gekommen“ sei.363 Zwar ließen sich allenthalben fragmentierte Äußerungen eines vitalen Lebens entdecken, doch scheine der letzte Schritt zum repräsentativen Kunstwerk noch nicht getan. So waren Die moderne Literatur und Das Varieté nicht zuletzt von der Annahme bestimmt, dass Künstler und Publikum orientierungslos vor den verwirrenden Erscheinungsformen der von Beschleunigung und Technisierung geprägten Epoche ständen. Das beiden Werken inhärente Bemühen, eine Richtung hin zu einer die Veränderungen bejahenden Kunst zu weisen, kehrte wieder in zwei Aufsätzen, die Moeller zwei Jahre später publiziert hat und die das demiurgische Pathos der Buchpublikationen in bemerkenswerter Weise potenzierten. In diesem Sinne propagierte der sich zu einem „angewandten Darwinismus“364 bekennende Kritiker in einem Zur Entwicklung der Ästhetik betitelten Beitrag eine „Lebensästhetik“, die nicht „nur dem Leben dienen“, sondern auch als „als Deuterin nicht der Kunst mehr, sondern des Lebens, als Lenkerin des Kulturtempos“ fungieren sollte.365 Dass das in diesem Zusammenhang behauptete Ende der „Patientenkunst“366 keine flüchtige Bemerkung, sondern Ausdruck einer dezidiert sozialdarwinistischen Haltung war, bestätigt ein im Kunstwart plazierter Aufsatz, in dem sich Moellers Wandlung zum Volkserzieher ankündigte. In Moderne Literatur, modernes Leben – Ein Gegensatz367 demonstrierte Moeller seine Deutungshoheit über das moderne „Leben“. Er diagnostizierte eine Diskrepanz zwischen einer vitalen Lebenswirklichkeit, wie sie durch „diese ganze Kultur von Stahl und Eisen“368 repräsentiert werde, 362 363 364 365 366 367 368
Rainer Otto, Kabarettgeschichte. Abriß der Geschichte des deutschen Kabaretts, Berlin 1981, S. 39. Ebd., S. 22 f. Arthur Moeller-Bruck, Zur Entwicklung der Ästhetik, in: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Januar 1904, S. 5–7, hier 5. Ebd., S. 8. Ebd. Arthur Moeller-Bruck, Moderne Literatur, modernes Leben – Ein Gegensatz, in: Kunstwart, 17. Jg., Heft 23, September 1904, S. 453–457. Ebd., S. 453.
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und der Darstellung des modernen Menschen in der dekadenten „Bekenntnisliteratur“369, als deren Hauptvertreter er Hermann Conradi, Johannes Schlaf und Stanislaw Przybyszewski erkannte: „[...] keinen Falles gab man uns den Menschen, der wirklich prototypisch für das Ringen und den Kampf der Kulturgeneration stand, die auf die Einigung Deutschlands gefolgt war“.370 Die Pointe des von Max Nordaus Entartung (1882) inspirierten Beitrages war, dass Moeller in Bezug auf das von ihm so überschwenglich gefeierte Leben von „Gesundheitserscheinungen“ sprach, während er anderseits ausführte, dass die in „Wehleidigkeiten“371 befangene „Bekenntnisliteratur“ im Wesentlichen von als „Patiententyp[en]“ bezeichneten Autoren geschaffen würde.372 Mit Nordau stimmte Moeller dabei darin überein, dass nur die „führenden Klassen“ und mithin auch die erwähnten Dichter, nicht aber „die große Mehrheit der mittleren und unteren Klassen“ von einer epochalen Degeneration betroffen seien.373 Diesen Befund bestätigend, stellte Moeller den unter Dekadenzverdacht stehenden Autoren, denen er in Die moderne Literatur lediglich ein „negative[s] Moment“ bescheinigt hatte374, nun den Krankenschein aus. Er konstatierte, dass die „Bekenntnisliteratur“ inhaltlich von „Zuständen der Krankheit, der persönlichen Ohnmacht und blutlosen Verfeinerung“ bestimmt werde, wie sie auf formaler Ebene meist „unrettbar im Versuch und im Bruchstück stecken“ bleibe.375 Der oben angesprochenen sozialdarwinistischen Haltung entsprach, dass Moeller sich nicht mehr zu den Heilungschancen einzelner Patienten äußerte, sondern als Kuturdarwinist den Untergang einer ganzen Dichtergeneration prophezeite. Weil der idealtypische moderne Mensch mit deren schwächlicher „Literatenliteratur“ nichts anzufangen wisse und „eine Stahlplatte für die Kultur wertvoller ist und menschenwürdiger als eine Dichtung voll erlesener Subtilitäten“376, sei anzunehmen, dass alsbald „andere Menschen [...] unter die Schaffenden gehen, als es bisher geschah [...]. Ganz andere Menschen, nicht solche, die nur verunglückte Psychiater oder Philosophen waren, sondern Menschen des Lebens selbst.“377
369 370 371 372 373 374 375 376 377
Ebd., S. 455. Ebd., S. 454. Ebd., S. 455. Ebd., S. 456. Vgl. Max Nordau, Entartung, 2 Bde., Berlin 1892, Bd. 1. S. 11 f. Arthur Moeller-Bruck, Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902, S. 361. Arthur Moeller-Bruck, Moderne Literatur, modernes Leben – Ein Gegensatz, in: Kunstwart, 17. Jg., Heft 23, September 1904, S. 453–457, S. 455. Ebd. Ebd., S. 456.
3. Im Ausland
Die beiden zuletzt zitierten Aufsätze hatte Moeller bereits in Paris verfasst. Obwohl er seiner Frau Die moderne Literatur gewidmet hatte und er ihr auch weiterhin zugetan war, hatte er die hochschwangere Hedda im Herbst 1902 verlassen1 und war über Zürich in die französische Hauptstadt gereist. Was ihn zu diesem Schritt veranlasste, war bisher unklar. Moellers Frau nennt als Grund: „[...] um untragbaren Verhältnissen, in die er schicksalshaft geraten war, zu entgehen“.2 Paul Fechter gibt an, Moeller habe dem Militärdienst entkommen wollen3, eine Sichtweise, der sich auch Fritz Stern anschließt4, und Hans-Joachim Schwierskott spricht von finanziellen Problemen, nennt jedoch die Umstände von Moellers Verschwinden ungewöhnlich und undurchsichtig.5 Licht ins Dunkel bringen die an Dehmel gerichteten Briefe. Demnach lebte das Paar zwar in bedrängten ökonomischen Verhältnissen, doch schien die drohende Kündigung der Wohnung6 dank der Unterstützung Dehmels zunächst abgewendet zu sein. So waren es zwar auch finanzielle Probleme, die Moeller auf den Gedanken brachten, nach Zürich zu reisen. Doch gab er Dehmel zu verstehen, dass sein weiterer Verbleib im Ausland weniger durch die Suche nach einem neuen und solventeren Verleger7 als durch die Angst vor dem Militärdienst motiviert sei. Schließlich schrieb er: „[...] ich bitte Sie so dringend, wie man nur bitten kann, ohne dabei in’s Flennen zu geraten: wenn es ihr Verhältnis zu Schuster [Verleger] eben gestattet, so schreiben Sie ihm, nein, telegraphieren Sie ihm, er solle seinen Entschluß ändern, er müsse ihn ändern, die 1 2 3 4 5 6
7
Am 26.12 1902 wurde ihm ein Sohn geboren, der 1924 an einer Lungenentzündung starb. Hedda Eulenberg, Im Doppelglück von Kunst und Leben, Düsseldorf 1952, S. 17. Vgl. Paul Fechter, Menschen und Zeiten. Begegnungen aus fünf Jahrzehnten, Gütersloh 1948, S. 304. Vgl. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963, S. 230. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 17. Entsprechend: „Lieber Herr Dehmel ich wende mich in einer drängenden Lage an Sie. [...] Die Situation, wie sie sich jetzt zugespitzt hat, ist kurz folgende: während ich sitze und an sie schreibe, erwarte ich jeden Augenblick den Gerichtsvollzieher, der im Auftrage des Hauswirtes wegen fälliger Miethen die Wohnung räumt und uns mit einem Vermögen von –0 auf die Tegler Hauptstraße setzt. Möglich, hoffentlich, daß noch ein, zwei Tage vergehen. Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß der Hauswirt ein vollstreckbares Urteil in den Händen hat und der Auftrag abgegangen ist. Vorstellungen, Vertröstungen usw. nutzten nichts: Der Mann will bares Geld sehen. Und das habe ich nicht.“ (Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel, (06.05.1902), in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg, DA: Br.: M: 436). So heißt es gegenüber Dehmel „Ich ging übrigens nach Zürich, weil [Albert] Langen, für den ich Aufträge habe [...] mit seinem Verlag hierher übersiedeln wird. Aber als ich ankam, war er wieder weg. Jetzt ‚reist‘ er – niemand weiß, wo?“ (Arthur Moeller-Bruck an Richard Dehmel, (15.10.1902) in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg: DA: Br.: M 438).
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reine Not fordere es, er müsse umgehend die elenden vierzig Mark schicken. Eventuell auf Ihr Konto. [...] Nur irgendwie, irgendwie! Denn es geht wahrhaftig nicht mehr. Ich habe diese vierzehn Tage von Äpfeln und Birnen gelebt, die ich mir nachts aus den Gärten holte. Sie sehen – der Hunger. Aber ich halt’s nicht mehr durch. Das Schlimmste ist, daß ich infolge der ploetzlichen Alkoholentziehung unheimliche Herzaffektichen bekam, Erscheinungen, die ich nie hatte. Ich fürchte oft irgend eine Krise. Und das Allerschlimmste, was droht: meine Wirtsleute wollen meinen ‚Fall‘ bei der lieben Polizei anhängen. Und dann ist Ausweisung nach Deutschland die Folge, ein halb Jahr Gefängnis und dreijähriger Dienst. [...] Die Seite geht zu Ende. – Ich glaube, Sie haben ein Bild, wie’s mit mir steht. Vorgebeugt muß vor allem der Auslieferungsmöglichkeit werden.“8
Moeller wurde nicht an die deutschen Behörden ausgeliefert. Da er aber auch den gesuchten Albert Langen in Zürich nicht antraf, ging er alsbald nach Paris, wo er, obwohl er zwischenzeitlich auch nach Amerika auswandern wollte, fast vier Jahre in ärmlichen Verhältnissen lebte. Hier traf er wieder auf seinen alten Freund Franz Evers, mit dem er nun zwei Jahre in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (Walter Benjamin) verbrachte.9 Hier lernte er auch die in Pernau (Livland/Estland) geborenen, aus einer deutschbaltischen Familie stammenden Schwestern Lucie und Less Kaerrick kennen. Die Begegnung mit ihnen leitete einen neuen Abschnitt in Moellers Leben ein. Sie machten ihn mit Dimitrij Mereschkowskij bekannt, mit dem gemeinsam er dann die erste deutsche Gesamtausgabe der seit 1906 im Piper-Verlag in München erschienenen Werke Dostojewskijs besorgte. Lucie Kaerrick, der die Anfang 1906 erschienenen Zeitgenossen gewidmet sind, wurde später Moellers zweite Ehefrau und Less Kaerrick besorgte unter dem Pseudonym E. K. Rashin die Übersetzung Dostojewskijs. In Paris begann sich Moeller auch der Politik zuzuwenden. In der politisch regsamen Stadt hatte er die bewegten Tage der russischen Revolution von 1905 und der Marokkokrise erlebt. Durch diese Ereignisse war sein Interesse für Politik geweckt worden. Dabei wird er erkannt haben, dass die französische Politik seit der Aufkündigung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages von 1887 auf die Erlangung einer Deutschland umschließenden russisch-franzöischen Entente hinauslief. Zudem konnte er beobachten, wie unter der Führung von Maurice Barrès und Charles Maurrass der antideutsche integrale Nationalismus an Einfluss gewann. In Reaktion hierauf radikalisierte sich auch Moellers Nationalgefühl, wobei insbesondere der Wunsch nach einem deutschen Einheitsstil sich am französischen Vorbild orientierte. Zuletzt war es aber auch die Erfahrung, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in einer als fremd und prinzipiell feindlich empfundenen Umgebung zu leben, die bei Moeller zu einer Wandlung seines Selbstverständnisses führte.
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Ebd. Laut Fechter verweilten Moeller und Evers monatelang in der Gegend des Panthéon zusammen „mit der ganzen internationalen Gesellschaft der Maler und Dichter im Café Lias am Großen Boulevard; zu seinem Kreise gehörten Dauthendey und Munch, Diriks und die ganze junge Gesellschaft des jungen Frankreich“ (vgl. Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 24).
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3.1. „Das Théâtre Français“ Erstes Zeichen von Moellers politischer Radikalisierung war die Änderung seines Autorennamens. Nannte er sich im September 1904 noch Arthur Moeller-Bruck10, so lernten ihn seine Leser seit August 1905 als Moeller van den Bruck kennen.11 Der national gesinnte Kulturoptimist Moeller verleugnete seinen ungeliebten, weil an den Pessimisten Arthur Schopenhauer erinnernden Vornamen und machte12, da er den vollen Namen der Mutter in seine Doppelnamenkonstruktion aufnahm, seine holländisch-niederdeutsche Abkunft kenntlich. Hans Schwarz meinte diesbezüglich, dass „der Niederdeutsche [...] in Paris den Westen überwunden“13 habe. Moeller, der als Anhänger Julius Langbehns die Niederlande nicht als eigene Nation sah, sondern die Holländer als Niederdeutsche, deutlicher noch als idealtypische Deutsche betrachtete, suchte sich also mit der Behauptung eines „van den“ als ein der Heimat verbundener Autor zu präsentieren. Darüber hinaus ist diese Aufwertung der Herkunft als Versuch einer Selbstbewusstwerdung und -behauptung zu verstehen: Denn Moeller mangelte es in Paris an Anerkennung. Erhielt er in Berlin für seine brotlose publizistische Tätigkeit noch den vereinzelten Beifall einiger Gleichgesinnter, so versagte man ihm in seiner neuen Umgebung auch den symbolischen Lohn. Dass das hierdurch begründete emotionale Defizit zum Katalysator körperlicher und symbolischer Aggression wurde14, zeigt eine Passage aus dem Aufsatz Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland. Darin empörte sich Moeller unter anderem darüber, dass die Franzosen „von den deutschen Dichtern der Gegenwart höchstens Hauptmann ken10 11 12
13 14
Arthur Moeller-Bruck, Moderne Literatur, modernes Leben – Ein Gegensatz, in: Kunstwart, 17. Jg., Heft 23, 01.09.1904, S. 453–457. Moeller van den Bruck, Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22, August 1905, S. 501–508. „Pessimismus“ wird von Moeller in der Nietzsche-Erzählung der Deutschen als eine dezidiert „undeutsche“ Erscheinung bezeichnet. An gleicher Stelle heißt es über Schopenhauer: „Aber gleichzeitig steckte doch gerade in Schopenhauer viel zu viel Undeutsches, er war nicht nur mit dem Wort, sondern tief im Innersten christlich, pessimistisch, während das Deutsche immer optimistisch, und wenn nicht heidnisch, so doch naturalistisch-menschlich ist.“ (Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 230 f.). Hans Schwarz, Moeller van den Bruck, in: Die Mannen. Beilage zum „Gewissen“, 2. Jg., Nr. 1, Juni 1923. Paul Fechter referiert, dass Moeller in der „Gesellschaft des literarischen Frankreich [...] mit einer seltsamen Hartnäckigkeit jenseits der Literatur das Volk zu suchen“ begann. „Bei Diskussionen im Café [Lias] zwischen dem Tisch der Deutschen und der Skandinavier [Maximilian Dauthendey, Franz Evers und Edvard Munch] und dem der Franzosen konnte er gelegentlich schon einen Wutanfall bekommen, wenn drüben eine bissige Anmerkung über die Deutschen fiel. Einmal trug ihm das sogar eine überraschende Niederlage ein: er hatte, als er aufsprang und am Nebentisch einen packte, von dem er glaubte, er sei der Sprecher gewesen, aus Versehen den schweigsamen Athleten der französischen Runde gefaßt, der ihn, ohne überhaupt aufzustehen, mit einem Griff nach rückwärts lang auf den Boden streckte, woraus sich dann naturgemäß eine allgemeine Heiterkeit und eine ebenso allgemeine Verbrüderung ergab.“ (Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 24 f).
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nen!“15 Dabei macht das vorher Geschriebene deutlich, dass er das Nichtwissen der Franzosen als Nichtwissenwollen, als bewussten Vorbehalt und Ressentiment interpretierte: „Ueberhaupt haben die Franzosen einen viel feineren Sinn für das, was ihnen das Ausland bieten kann als wir. Sie sperren sich eher gegen das Ausland ab, als daß sie Werte des Auslandes in Ueberzahl aufnähmen. Das hat ihnen dann allerdings den Vorwurf von der „chinesischen Mauer“ eingebracht, die um Frankreich und besonders um Paris gezogen sei. Mit Recht.“16 Diese für ihn offenkundige Ablehnung regte ihn nun seinerseits zu Ressentiments an, bis zuletzt die symbolische in politische Aggression umschlug und den national gesinnten Autor zum Agitator eines integralen Nationalismus werden ließ. Sein erster Biograph, Paul Fechter, kommentiert diese Wandlung wie folgt: „Er mußte aus Deutschland gehen, um Deutschland zu finden. Er mußte jahrelang in der Fremde leben, um zu erfahren, was das Eingebundensein in ein Volk, eine Nation bedeutet, und daß es kein Sichherauslösen aus der Schicksalsgemeinschaft gibt, in die man hineingeboren wird.“17 Noch fünfzehn Jahre später konnte Moeller dieses Erlebnis mühelos nachvollziehen. Heißt es doch in einem dem Auslandsdeutschtum gewidmeten Aufsatz über das „Auslandserlebnis“ Joseph Görres’: „[...] er brauchte nur nach Paris zu kommen, um hier den Tag seiner Umkehr zu erleben, die eine symbolische Tat gewesen und eines der wichtigsten Ereignisse unserer neuen Innengeschichte geworden ist. Seine französische Reise lehrte ihn den Unterschied zweier benachbarter Völker kennen, zwischen deren nationaler, moralischer, politischer Anschauung es eine Versöhnung nicht geben kann. So faßte Görres den Mut zu seiner Absage an dieses Westlertum, für das er bis dahin aus der Ferne geschwärmt, das er aber jetzt in der Nähe kennengelernt hatte. Und der heftige Revolutionär, als der er gegangen war, kehrte als der durchdrungene Patriot zurück, der wider Frankreich, der jetzt wider die Republik, der hernach wider Bonaparte aufrief. Er hatte das Auslandserlebnis gehabt, auf das es ankam, auf das es immer ankommen wird. Und das nun einmal nötig zu sein scheint, um dem Deutschen zur Besinnung zu bringen, daß er deutsch ist.“18
Einen deutlichen Niederschlag fand Moellers Auslandserlebnis in Das Théâtre Français. Diese schmale Monographie (81 Seiten) erschien 1905 ohne Angabe der Jahreszahl als 14. Band der von Carl Hagemann herausgegebenen Reihe Das Theater.19 Die Broschüre schien vordergründig eine wissenschaftlich unbedeutende Ein15 16 17 18 19
Moeller van den Bruck, Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22., August 1905, S. 501–508, hier 507 f. Ebd., S. 507. Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S.22. Moeller van den Bruck, Der Auslandsdeutsche, in: Grenzboten, 79. Jg., Nr. 16 u. 17, 28.04.1920, S. 81–89, hier 83. Der spätere Intendant des Mannheimer Hof- und Nationaltheaters und Direktor des Hamburger Schauspielhauses Carl Hagemann (1871–1945) galt zu diesem Zeitpunkt als ein Reformator des Theaters. Seine Vorstellungen von einem modernen Regietheater hatte der damalige Feuilletonredakteur der Rheinisch-Westfälischen Zeitung in dem Lehrbuch Regie. Die Kunst der szenischen Darstellung (1902) zusammengefasst. Die heutige Forschung würdigt ihn als Wegbereiter einer neuen Bühnenkunst. Als Intendant ermöglichte er in Mannheim die
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führungsschrift in die Geschichte des französischen Theaters seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zu sein. Der Verfasser stellte Theatergruppen, Spielformen, Autoren des französischen Theaters in der klassischen Abfolge der kunstgeschichtlichen Epochen – Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko – vor und ließ sich nicht auf die Darstellung von Details ein. Seine Zeitgenossen meinten dann auch: „Wer rasch einen Blick in das französische Theater gewinnen will, und für den ist das Büchlein in erster Linie bestimmt, der greife danach.“20 Sie kritisierten nicht, dass Moeller in der Broschüre nichts wesentlich Neues darlegt, sondern dass seine Ausführungen im letzten Kapitel nur bis Beaumarchais reichten und das nachrevolutionäre Frankreich auf einer Seite abgehandelt wurde: „Moeller van den Bruck legt uns ebenda einen kurzen Abriß der Geschichte des ‚Théâtre Français‘ vor, der freilich hinter Beaumarchais zu plötzlich ‚abreißt‘. Wir hätten gerne von der Art des Spieles ein weniges gehört.“21 Dabei übersah der Rezensent nicht nur den augenscheinlichen „Chauvinismus in der Kunst“22, ihm entging auch, dass Moeller bewusst auf eine Darstellung des modernen französischen Theater verzichtete. Angestachelt von der „rücksichtslos, unreflektierte, unbekümmert[en]“ Sicherheit23 der Franzosen suchte Moeller in seiner Broschüre den Nachweis zu führen, dass das Théâtre Français eine herausragende Fehlleistung eines im Grunde nicht entwicklungsfähigen, auf Äußerlichkeiten und Sensationen bedachten und seit dem Grand Siècle kulturell „erschöpften“ Volkes sei. Tatsächlich schilderte Moeller Aufführungen früher französischer Mysterienspiele nur, um ihre luxuriöse Ausstattung zu beschreiben, um festzustellen, dass man „diesem Zug des Pompes [...] im gesamten Théâtre français wieder“ begegne, und um die Affekte einer patriotischen Leserschaft zu bedienen, die mit Ferdinand Avenarius ein Ende des „Französelns“ herbeisehnte.24 Entsprechend schloss seine Betrachtung der
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erste Inszenierung eines expressionistischen Theaterstücks. Am 1. Januar 1918 feierte man am dortigen Nationaltheater die viel beachtete Premiere von Hasenclevers Der Sohn (vgl. Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Stuttgart 2003, Bd. 4, S. 330 ff.). 20 Jahre früher propagierte er unter Rückgriff auf Richard Wagners Gesamtkunstwerk ein modernes deutsches Theater, in dem „deutsche Schauspieler für deutsche Zuschauer deutsche dramatische Dichtungen – neben den besten des Auslandes – darzustellen haben: das heißt mit den Mitteln und Eigenschaften, die unserem Stamme eigen sind“ (Carl Hagemann, Aufgaben des modernen Theaters 2, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22, August 1905, S. 508–515, hier 514). Hagemann war jedoch kein Nationalist und weit davon entfernt, die Einzigartigkeit und den unbedingten Vorrang der deutschen Kultur zu behaupten:„Heute gibt es nicht nur ein auserwähltes Kulturvolk [...]. Heute verteilt sich die Vorherrschaft in den einzelnen Kunstzweigen auf die einzelnen Völker.“ (Carl Hagemann, Aufgaben des modernen Theaters 1, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 21, August 1905, S. 451–457, hier 456). August Andrae, Moeller van den Bruck, Das Theater Francais, in: Neue Philologische Rundschau, Nr. 21, Bd. 25, 14.10.1905, S. 494. Ferdinand Gregori, „Theaterbücher“, in: Kunstwart, 19. Jg., Heft 1, Oktober 1905, S. 38 f, hier 39. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 35 f. Vgl. Oskar A. H. Schmitz, Französische Gesellschaftsprobleme, Berlin 1907, S. 24. Ferdinand Avenarius, Deutsch und französisch, in: Kunstwart, 14. Jg., Heft 1, Oktober 1900, S. 1–7, hier 6.
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Ausstattung der Mysterienspiele mit den Worten: „[...] wenn schon damals gemeldet wird, daß die Leute sehr bald nur in die Aufführungen gegangen seien, um die Kostüme zu sehen, so gilt das bekanntlich noch heute, und heute erst recht.“25 Ein höherer, über Unterhaltung und Erbauung hinausgehender Sinn wurde den Aufführungen abgesprochen. In ähnlichen Unterstellungen und Stereotypen verblieb die Darstellung der gesamten Entwicklung des französischen Theaters – beginnend bei den Aufführungen der Confrères de la Passion im Pariser Dreieinigkeits-Hospital (1411) und endend bei den verschiedenen Theatern der Revolutionszeit (Théâtre de la Nation (1789), Théâtre de la Republique (1791), bis zuletzt auch die Beaumarchais` Komödien für Moeller als Zeugnisse revolutionärer Agitation, nicht aber als Kunstwerke von bleibendem Wert gewürdigt wurden.26 Der Schwerpunkt der Schilderung lag aber auf der Darstellung der Blütezeit des klassischen französischen Theaters, die vor allem die Blüte der von Ludwig XIV. (1638–1715) subventionierten Bühnen (Hôtel de Bourgone, Théâtre du Marais), des Hoftheaters im weiteren Sinne war. Dabei war die höfische Gesellschaft, mit der sich der Sonnenkönig umgab, für Moeller das Sinnbild für eine unsittliche, verschwenderische und künstliche Welt, deren deutlichster Ausdruck wiederum die Perücke und die Dramen Racines waren: „Racine trug bereits die Perücke und war gepflegt und gepudert: Darin lag auch geistig der ganze Unterschied: denn die Kunst des Racine trug ebenfalls Perücke, war gepflegt und gepudert.“27 Dies und seine Definition des Théâtre Français28 zeigen, dass das aggressiv nationalistische Moment dieser Schrift wesentlich durch die Behauptung einer substantiellen Identität von oberflächlicher höfischer, minderwertiger religiöser und stagnierender bürgerlicher Kultur sowie die Abneigung gegen jede von Hof und Kirche initiierte und instrumentalisierte Kunst begründet wurde. So war denn auch „der Stil, den das französische Drama unleugbar besitzt“, für Moeller „im Tragischen nicht der Stil der Tragik, sondern bloß der Pathetik, und er ist im Komischen nur einmal bei Molière, der Stil wirklichen Humors, sonst meist nur der des Esprit, der Satire, Sottise, Pointe, aber – es immer ein Stil“.29 Die Behauptung einer solchen in einem spezifischen Stil sichtbaren Identität findet sich gleich am Anfang der Broschüre.30 Sie zieht sich durch den gesamten Band, so 25 26 27 28
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Moeller van den Bruck, Das Théâtre Français, Berlin und Leipzig 1905, S. 14. Vgl. ebd., S. 73 ff. Ebd., S. 46. Moeller definiert: „[...] was man mit Recht unter Théâtre français versteht, das ist die ganze offizielle und repräsentative Entwicklung des klassisch-franzöischen Dramas, nebst der zugehörigen Darstellungsart“ (ebd., S. 11). Ebd., S. 10 f. In diesem Sinne schrieb Moeller: „Die Entwicklung des französischen Theaters ist die enge Begleiterscheinung der Entwicklung des französischen Volkes: ganz von selbst hat sich sein Stil zusammen mit dem geschichtlichen Verlauf herausgebildet. Dieselben Kräfte wirken hier wie dort, zuerst im Mittelalter religiös-nationaler, dann in der Renaissance dynastischrepräsentativer, und endlich in der Neuzeit sozial-revolutionärer Art. Oft hat das französische Theater Frankreichs Politik und allgemeine Zivilisation nur nachträglich ergänzt, oft hat es sie ganz unmittelbar widergespiegelt, oft hat es aber auch selbsttätig in sie eingegriffen: kurz, in
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dass ein Autor wie Molière, der deutlich über den durch die Definition bezeichneten Rahmen hinausragte, als Ausnahmeerscheinung behandelt werden musste.31 Ein nationalistisches Pamphlet ist Das Théâtre Français jedoch nicht allein aufgrund der These, dass das als oberflächlich denunzierte Théâtre Français „dieses Volkes eigner Versuch“ sei, „zu einer Bändigung seiner Nationaleigentümlichkeit in einem bestimmten Ebenmaß zu gelangen“32, sondern auch weil Moeller anders als beispielsweise Oskar A. H. Schmitz33 die Existenz einer nationalen Theaterkultur für das nachrevolutionäre Frankreich leugnete. Die Reduzierung des französischen Theaters auf das Hoftheater sowie die Feststellung, dass dieses Théâtre Français einerseits ein Produkt der höfischen Gesellschaft war34, anderseits aber auch „eine enge Begleiterscheinung der Entwicklung des französischen Volkes“ sei35, bedeuten erstens, dass das französische Theater „von einer bedeutenden literarischen Entwicklung [...] seither nicht mehr begleitet gewesen“36 sei, und zweitens, dass es im zeitgenössischen Frankreich kein lebendiges Theater geben würde. Obgleich die Existenz einer bürgerlichen bzw. volkstümlichen Theatertradition nicht geleugnet wurde, baute Moeller die von ihm konstatierte geringe Bedeutung des nicht vom Hof beeinflussten Theaters in Frankreich zur nationalen Antithese aus: „[...] was fehlte, war nur der Boden, aus dem die Werke entstanden, die Erdkraft, die sie gewaltig aus ihm hervortrieb, der in gleicher Weise national und kulturell bewegte Hintergrund, der sie als mächtige Lebenseinheiten, statt als schwächliche Kunsteinheiten, rauschend umfing“.37 Da es nun in Deutschland eine „Mystik“, in Frankreich dagegen „Kanzelredner“ gegeben habe38, da die vielfältige Entwicklung des englischen Theaters im Gegensatz zur strengen Form des klassischen französischen Dramas darauf hinweise, dass „die Renaissance in England [...] eben Sache des Volkes“ war, „während die Renaissance in Frankreich nur die Sache von mehr oder weniger höfischen Kreisen war“39, sah Moeller die in Frankreich offensichtlich fehlende „Erdkraft“ in England und Deutschland als vorhanden an. Dies brachte ihn zuletzt dazu, das französische
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irgend einer Weise miteinander verbunden sind sie immer gewesen – die französische Geschichte war selbst nichts anderes als ein großes Théâtre français“ (ebd., S. 5). Vgl. ebd., S. 49 f. Ebd., S. 81. Schmitz, von Frankreich tief beeindruckt, wollte „vorwiegend von den Tugenden der französischen Kultur“ (S. 5) berichten. Vom französischen Theater schreib er: „In Frankreich dürften jährlich nicht mehr bedeutende Dramen geschrieben werden, als in Deutschland, aber in Frankreich entstehen jährlich eine Anzahl von Theaterstücken, die, ohne besonders tief gekühlt und grossgestaltet zu sein, auch ernsthafte Köpfe einen Abend fesseln und das Verständnis für die Zeit schärfen können“ (Oskar A. H. Schmitz, Französische Gesellschaftsprobleme, Berlin 1907, S. 89). Moeller van den Bruck, Das Théâtre Français, Berlin und Leipzig 1905, S. 75. Ebd., S. 5. Ebd., S. 77. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 35.
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Volk als kulturell „erschöpft“40 zu apostrophieren und die Frage nach der weiteren Existenzberechtigung der französischen Nation zu stellen: „Den Franzosen gegenüber muß man jedoch gerecht sein und zugestehen, daß ihre ganze Dramaturgie zwar als solche ein Unsinn ist, daß ihre ganze Dramatik aber mit ihr tatsächlich stehen und fallen würde. Deshalb ist es denn auch weniger Einsichtslosigkeit, als Selbsterhaltungstrieb, der den Franzosen nicht gestattet, die Ästhetik des Germanentums anzunehmen.“41
So wie sich Arthur Moeller-Bruck früher eine zukünftige deutsche Kultur nur ohne den „instinktarmen Restmenschen“42 vorstellen konnte, ist für Moeller van den Bruck eine zukünftige europäische Kultur offenbar auch ohne die „erschöpften“ Franzosen denkbar.
3.2. „Die Zeitgenossen“ 3.2.1. Selektionsoptimismus Die in Das Théâtre Français festgestellte quasi „organische“ Einheit des ästhetischen Regelsystems mit der von Hof und Kirche bestimmten historischen Entwicklung des französischen Volkes ließ sich aber in Anlehnung an die Auffassung Nietzsches, dass „Kultur [...] vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“43 sei, und in Ablehnung der in der wilheminische Epoche dominierenden eklektizistischen Kunst jedoch auch positiv, als identitätsstiftendener Kraftquell betrachten. Diese im Théâtre Français angelegte ambivalente Haltung, die Bewunderung einer identitätsstiftenden Kultur einerseits, das Denunzieren ihres Stils als vordergründig und minderwertig anderseits, ist auch in dem schon oben zitierten Kunstwartaufsatz Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland nachweisbar.44 Zwar leugnete Moeller, dass die Franzosen ihre als formal kritisierte Kunst aus innerem Antrieb heraus geschaffen hätten, doch gestand er ihnen einen sicheren Geschmack bei der Auswahl der „Werte des Auslands“45 und durch eine lange Liste französischer Maler – darunter Jean-François Millet, Éduard Manet, Claude Monet, 40 41 42 43
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Ebd., S. 10. Ebd., S. 9 f. Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 17. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873), in: Ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (hg. Goirgio Colli und Mazzino Montinari), München 1999, Bd. 1, S. 163. Vgl. auch Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring“-Kreises 1918–1933, S. 12. Moeller van den Bruck, Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22, August 1905, S. 501–508, hier 507.
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Alfred Sisley, Camille Pissarro, Jean-François Raffaelli, Maurice Denis etc. – eine nach wie vor innovative Kunstproduktion zu. Dabei macht die Feststellung, dass die von Moeller gefühlte „Mauer für die Franzosen nicht bloß Nachteile hatte“46, den grundsätzlichen Gedankengang Moellers sichtbar. Die sich darin andeutende Sympathie für den integralen Nationalismus sowie eine autochthone Kultur wurden von dem Kulturdarwinisten Moeller in Die Zeitgenossen. Die Geister – Die Menschen (1906, 336 S.) zu einer neuen Weltanschauung, einer Art nationalistischem Selektionsoptimismus verdichtet, deren Grundlagen er entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten in einem geistesgeschichtlichen Exkurs – Die Geister – offengelegte. Die Überschrift des ersten Teiles der Zeitgenossen sollte signalisieren, dass der Charakter der Epoche nicht von einem einheitlichen, sondern von mehreren zum Teil wesensverschiedenen Prinzipien, den Geistern, bestimmt sei. Dabei suggerieren Kapitelabfolge47 und Argumentation die Möglichkeit der Ausbildung einer „Stil“ genannten höheren Einheit. „Es ist die Einheit, die sie [die Zeit] in ihren Vielheiten von sich aus schon haben muß und zu der sie nun immer klarer herauswächst. Es ist der Stil, in dem sie sich schließlich finden und binden und an dem sie die Erinnerung der Menschheit dann noch erkennen wird, wenn längst wieder andere Zeiten, längst wieder andere Stile auf sie gefolgt sind. Uns selbst aber ist damit der Sinn unseres Lebens offenbart, und indem wir das Dasein in sein Gleichgewicht rücken, können wir uns selbst in das unsere bringen.“48
Doch wurde diese Einheit als nicht für alle Menschen im gleichen Maße erreichbar vorgestellt: Gemäß seiner Vorstellung von der Geschichte als Abfolge von Kulturen nahm Moeller die beschleunigte sozialökonomische Transformation der 1890er Jahre zum Anlass, um die Menschheit in alte, junge und jüngste Völker, in „Vergangenheitsvölker, Gegenwartsvölker und Zukunftsvölker“49 zu teilen. Von den „alten“ romanischen Völkern gingen demnach keine wesentlichen Impulse für die Moderne aus. Sie hätten „ihren Erdberuf in einer Zivilisation oder Kultur bereits erfüllt“50 und mit der Entwicklung der „modernen Zivilisation“ und der „modernen Kultur“ nichts mehr zu tun. Diesen „alten Völkern“, den Franzosen, Italienern und Spaniern, „stehen als junge Völker alle die gegenüber, welche, seitdem sie in die Weltgeschichte ein46 47
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Ebd., S. 507. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der Erste Teil Die Geister enthält die Kapitel: Die Zeit; Kultur und Zivilisation; Von moderner Zivilisation; Zur modernen Kultur; Weltanschauung; Kunst; Probleme; Energien; Nationalismus, Sozialismus, Imperialismus, Alte Völker; Junge Völker; Jüngste Völker; Der Stil. Im Zweiten Teil Die Menschen – Deutschland setzt sich Moeller mit Houston Stewart Chamberlain, Max Klinger, Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind auseinander. Die Kapitel des Dritten Teils Die Menschen – Umland sind Edvard Munch, August Strindberg, Oscar Wilde, Maurice Maeterlinck, Auguste Rodin, Ignacio Zuloaga, Gabriele d’Annunzio, Maxim Gorki und Theodore Roosevelt gewidmet. Moeller van den Bruck; Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 5. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59.
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traten, das Problem ihrer nationalen Existenz in einer Zivilisation oder Kultur noch nicht, oder noch nicht endgültig gelöst haben und nun nach wie vor teilhaben wollen am Werden der Menschheit und ihrer Beherrschung der Erde“51, das waren nach Ansicht Moellers, alle germanischen Völker, die Engländer und Deutschen vor allem. An diese reihten sich nun wieder die jüngsten Völker, „die ausgesprochenen Pioniervölker, [...] Rußland, das Land der ungeheuren mystischen, und Amerika, das Land der ungeheuren zivilisatorischen Möglichkeiten“.52 Diese für sein weiteres Denken konstitutive Dichotomie von jungen und alten Völkern – vgl. Das Recht der jungen Völker (1919) – erlaubte es Moeller, die in Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland als höchst gefährlich angemahnte deutsche Formlosigkeit gegenüber der französischen Form als Gegensatz von Werden und Erstarrung ins Verheißungsvolle zu wenden: So schrieb er in einem Fazit über die Epoche des Barock: „[...] wir haben kaum einen einzigen Namen, während in Frankreich Pilon und Puget, Poussin, Corneille und Racine nur die glänzendsten von zahllosen glänzenden sind. Aber dafür wurde auch bei uns nicht so viel Kraft unwiederbringlich verpufft, Geschmack unheilbar verschändet, Blick unrettbar verdorben: unsere Unkultur war besser als jene Mißkultur und Überkultur, denn so erhielten wir uns wenigstens [...] die Möglichkeiten für einen Reichtum der Zukunft.“53
Im Klartext: Alt und jung waren für Moeller keine historischen Kategorien. Jung war für Moeller ein Volk, das „frisch und kräftig in der Gegenwart“54 angekommen sei. Alt seien die Romanen demnach nicht allein als die Erben des Römischen Reiches, sondern auch, weil es ihnen als Rasse an Vitalität gebreche. Während Moeller beispielsweise eine für germanische Völker fest stellbare hohe Geburtenrate als ursächlich für das Überleben der deutschen Kulturnation auch in Zeiten der politischen Zersplitterung ansah55, bedrohte nach seiner Ansicht eine stagnierende französische Bevölkerung56 den Bestand Frankreichs: „[...] die Rasse hat sich nicht erhalten, die Zeugungskraft ist erschöpft.“57 Da sich ferner auch in der Kunstproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts eine für ein „Degenerationsstadium“ symptomatische „Neigung, zur Glättung, Ebenung, Verflachung zur Form“ zeige, bestehe Frankreichs Hoffnung nunmehr einzig und allein in einer „Bewegung, welche auf die grundsätzliche Durcheinanderwürfelung der Nationalelemente hinzielt: nur sie, zumal wenn durch Ein-
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Ebd. Ebd., S. 60. Ebd., S. 271 f. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 72 f. Während die jährliche Steigerung um 1900 in Deutschland bei 1,1% lag, im Vereinigten Königreich noch 0,9% und in Italien noch 0,7% erreicht wurden, kann Frankreich lediglich ein Bevölkerungswachstum von 0,13% verzeichnen (vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte Frankreichs, Stuttgart 2000, S. 247). Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 62.
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wanderung Kreuzung hinzutritt, kann einem alten Volke auf die Dauer wieder Physiognomie, wieder Rasse geben.“58 Kennzeichnend sowohl für die Zeitgenossen als auch das Gesamtwerk ist jedoch, dass Moeller trotzt seiner tendenziell biologistischen Metaphorik nur bedingt ein Anhänger der Rassengeschichte in der Nachfolge Gobineaus und Chamberlains ist. Denn im Unterschied zu diesen waren für Moeller Völker und nicht die Rassen die wahren Akteure und Träger der Geschichte. In diesem Sinne bewertete er es zwar als positiv, dass der Verfasser der Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) den Beitrag der Rassen zur Strukturierung der Weltgeschichte hervorgehoben habe: „Kriege auf der einen und Kant, Goethe, Darwin auf der andern Seite haben die Ordnung im Völkerleben gewirkt, die nichts ist als der Ausdruck einer großen Rassengerechtigkeit. Von ihr handelt Chamberlain.“59 Aber diese Auffassung schien ihm nur in Bezug auf die Grundlagen der Geschichte produktiv. Um den Verlauf gerade der neueren Geschichte zu schildern, konnte sie seiner Meinung nach nicht helfen. Was den Verfasser der Zeitgenossen war der Überzeugung, dass eine Konzeption, die Geschichte als Rassengeschichte interpretierte, die konkreten Umstände des Werdens der Menschheit aus dem Blick verlor. Um diesem Werden gerecht zu werden, müsse man einsehen, dass eine Geschichte ohne Rassen zwar nicht denkbar sei, diese Geschichte aber eigentlich erst nach der Konstituierung der Rassen Gestalt gewonnen habe. Nicht Rassen, sondern „junge“ und „alte“ Völker würden hier in Gegensatz treten, und dies sei mit der Folge verbunden, dass „Geschichtsschreibung gar nicht mehr anders“ könne, „als, der Geschichte folgend, das Maß der Rasse fallen [zu] lassen und durch die Nation [zu] ersetzen“.60 Der Begriff der Rasse ist darüber hinaus bei Moeller schon deshalb weniger relevant, weil, wie Denis Goedel bereits gezeigt hat61, Moeller keineswegs zu den Theoretikern der Rasse gehörte. Im Unterschied zu diesen zeigte er wenig Interesse für äußere Merkmale der Rassezugehörigkeit. Als Rassist oder Antisemit trat Moeller auch nicht eindeutig auf, obwohl in Das dritte Reich (1923), insbesondere wenn von Marx die Rede ist, Stellen vorkommen, die manche Aussagen der Nazis über die Marxisten vorwegnehmen.62 So sind Moellers Werke weitgehend frei von antisemitischen Äußerungen, und mit dem Dichter Alfred Mombert war, ob nun von Moeller bemerkt oder nicht, auch ein Jude im dritten Band von Die Deutschen (Verschwärmte Deutsche, 1906) mit einem eigenen Porträt vertreten. Seine Auffassung von der Bedeutung der Rasse hatte Moeller 1908 in dem Aufsatz Rasseanschauung63 ausführlich dargelegt. Dort vertrat er im Gegensatz zu den bereits damals populären Vorstellungen von Reinrassigkeit64 die zum Teil auf Chamberlain zurückgehende „Grunderkenntnis [...], daß nämlich nicht die Rassereinheit, sondern 58 59 60 61 62 63 64
Ebd., S. 66. Ebd., S. 103. Ebd., S. 109. Vgl. Denis Goedel, Moeller van den Bruck (1876–1925). Un nationaliste contre la révolution, Bern 1984, S. 466 ff. Vgl. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 28 f. Moeller van den Bruck, Rasseanschauung, in: Der Tag, 09.07.1908. Vgl. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland, Darmstadt 2008, S. 112 f.
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die Rassemischung die menschlichen Werte hervorbringt“. Jedoch weigerte er sich, Rasse als ausschließlich biologische Kategorie zu verstehen. „Rasse ist ein beinahe metaphysischer Begriff, doch auf physiologischer Grundlage.“ Er war auch der Auffassung, dass Rassen sich wandeln und den „Mutterschoß“65 der Völker bilden: „Will man aber ins einzelne gehen, so kann man weit eher sagen, daß innerhalb einer gegebenen Rasse die einzelnen Nationalbildungen ihre besonderen Rassehaftigkeiten und Stammeseigentümlichkeiten haben. [...] Rasse ist eben innerhalb der Menschheit eine lebendige Monade, nicht ein totes Atom.“66 Daher kann man behaupten, dass Moeller zwar an der Rassenlehre interessiert war, er diese aber nur insofern adaptierte67, wie sie seine Vorstellungen von einer Rangordnung der Nationen stützte. Ganz in diesem Sinne heißt es Dehmel gegenüber: „Ich selber gehe sogar soweit über die ‚Rasse‘ hinaus, daß ich sage, Rasse ist unter Umständen noch gar nichts, die Nation ist alles: dieselbe Rasse kann [...] wertvolle und wertlose Völker hervorbringen [...]. Trotzdem aber [...] bleibt der Begriff ‚Rasse‘, ‚Rassemischung‘ usw. unsere aller wichtigste Erkenntnisbasis.“68
Wer wie Moeller die Völker nach einer Hierarchie klassifiziert, sucht notwendig nach Kriterien, die diese Abstufung rechtfertigen können. Weil Moeller eine Unterteilung der Völker nach Rassen nicht ausreichte, nahm er eine weitere, sekundäre Differenzierung vor, durch die er „materialistische und idealistische, zivilisatorisch begabte und kulturhaft veranlagte Völker“ voneinander scheiden wollte.69 So nutzte Moeller die typisch deutsche und nach Ansicht von Norbert Elias ursprüngliche soziale Antithese von Kultur und Zivilisation70 für eine Binnendifferenzierung der „alten“ und „jungen“ Völker. Moeller hatte damit Teil an der Entwicklung einer nationalen Antithese, die als Beitrag zur geistigen Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg spätestens mit Thomas Manns Essays Gedanken im Kriege (November 1914)71 zu einer proble65
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Moeller van den Bruck, Die Größe eines Volkes, in: Der Tag, 19.01.1910. In diesem Sinne heißt es unter anderem in Die Deutschen: „es hat wirklich keinen Zweck und keine Berechtigung, außer in anthropologischer und künstlerisch-linearer Beziehung, von uns noch als von Germanen zu reden. Wir sind heute Deutsche in Deutschland, neue Deutsche, nach Geschichte und Bestimmung, nach Blut und Gesinnung eine neue Nation auf der Erde.“ (Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1907, S. 309). Moeller van den Bruck, Rasseanschauung, in: Der Tag, den 09.07.1908. Zur Problematik der Adaption der Rassenlehre durch radikale Nationalisten vgl. auch: Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 10. Moeller van den Bruck an Richard Dehmel (26.12.1905), in: NL Richard Dehmel, SUB Hamburg, DA: Br.: M. 441. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 109. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogentetische und psychogenetische Untersuchungen (1936), Frankfurt am Main 1997, Bd. 1, S. 95 f. Mann führte aus: „Zivilisation und Kultur sind nicht nur ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspiels von Geist und Natur. [...] Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendwie gewisse geistige Organisation der Welt, [...] Zivilisation aber ist
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matischen Berühmtheit gelangte. Dabei spiegelt sich in Manns Konstruktion der Antithese, der Entkopplung von Kultur und Zivilisation und der Analogie von Kunst und Krieg72 das patriotisch aufgeladene Selbstwertgefühl eines von den Losungen der französischen und englischen Propaganda sich stigmatisiert fühlenden „unpolitischen“ deutschen Schriftstellers wider: „Die Deutschen sind bei weitem nicht so verliebt in das Wort ‚Zivilisation‘ wie die westlichen Nachbarnationen. [...] Sie haben ‚Kultur‘ als Wort und Begriff immer vorgezogen – warum doch? Weil dieses Wort rein menschlichen Inhaltes ist, während wir beim anderen einen politischen Einschlag und Anklang spüren, der uns ernüchtert.“73 Die Gestaltung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation in die Zeitgenossen hingegen verweist mit der angestrebten Identität von moderner Kunst und Kultur74 vor allem auf das avantgardistische Selbstverständnis ihres Autors. Ihm schien „Zivilisation [...] nun einmal die Magenfrage der Menschheit und damit vergänglich. Kultur aber ist die Seelenfrage der Menschheit und damit unsterblich.“75 Die unter dem Begriff der modernen Zivilisation zusammengefasste technische und gesellschaftliche Modernisierung der Zeit vor und nach der Jahrhundertwende wurde von Moeller somit zwar als zweitrangig dargestellt. Letztlich schien sie als lebensweltlicher Hintergrund und Thema für Moeller aber die unbedingte Voraussetzung einer modernen Kunst und Kultur zu sein: „Die letzte Einsicht wird hier freilich immer nur die sein können, daß noch im Eklektizismus befangen alle diejenigen Erscheinungen sind, die nicht durch die moderne Zivilisation hindurchgegangen, und daß umgekehrt der neuen Identität alle diejenigen zuwachsen, die aus ihr kommen.“76 Innerhalb der qualitativen Unterscheidung der schöpferischen Potentiale einzelner Völker kam dem mit Kultur assoziierten „ideellen
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Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittung, Skeptierung, Auflösung, – Geist.“ (Thomas Mann, Gedanken im Kriege, Erstdruck: Die neue Rundschau 25 (November 1914), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1: Essays II 1914–1926, (hg. von Hermann Kurzke), Frankfurt am Main 2002, S. 27). So schrieb Mann: „Und die Kunst also? Ist sie eine Angelegenheit der Zivilisation oder der Kultur? [...] Die Kunst ist fern davon, an Fortschritt und Aufklärung, an der Behaglichkeit des Gesellschaftsvertrages, kurz, an der Zivilisierung der Menschheit innerlich interessiert zu sein.“ Und. „Sind es nicht völlig gleichnishafte Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden? [...] Jenes siegende kriegerische Prinzip von heute: Organisation – es ist ja das erste Prinzip der Kunst.“ (ebd., S. 29). Ebd., S. 37. „In wirklichen Hochkulturen [...], in der attischen Antike, in der germanischen Gotik und in der italienischen, deutschen und englischen Renaissance war die Kunst regelmäßig – die Kultur selber. Eine ungeheure Aussicht tat sich damit vor der modernen Kunst auf: die moderne Kultur selber zu sein! Alle Glaubens-, Gedanken- und Sittlichkeitskräfte, die in dem modernen Leben latent lagen, sollte sie in sich vereinigen, jeden einzelnen Menschen sollte sie künstlerisch durchdringen und so die ganze Menschheit als eine Einheit in sich befestigen, verbinden, ausformen“ (Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 28 f). Moeller führte diesen Gegensatz von Kultur und Zivilisation über mehrere Seiten aus. (Vgl. ebd., S. 6–18). Ebd., S. 29.
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Elan“77 somit der Rang eines dem eigentlichen „Alter“ nachgeordneten Kriteriums zu. So schrieb Moeller in dem Kapitel über die alten Völker, „daß das italienische und selbst das spanische Volk aus der Renaissance mit der Tradition einer wirklich großen Kultur hervorgegangen ist und das Bewußtsein davon heute noch nachwirkt. Ein Volk, das einmal die Kraft besaß, einen Dante und drei Jahrhunderte allergrößter Weltanschauung, mächtigen Lebens, mächtiger Kunst, einen Michelangelo, einen Leonardo und selbst im Barock noch einen Tintoretto hervorzubringen [...] ein solches Volk will geistig von vornherein ganz anders gewertet werden [...] als eines, dessen Renaissance nur eine Imitation war. Und nicht minder ein Volk, das Lope, Calderon und Cervantes, das Velasquez und Ribera erstehen sah.“78
Das französischen Volk hingegen hatte nach Ansicht Moellers schon seit dem Mittelalter keine „volkliche Kulturveranlagung“ mehr: „Alles [...], was später kam, und gerade der Kultus, den Ludwig der Vierzehnte trieb [...] war“ – Einzelerscheinungen wie Molière ausgenommen – „nur raffiniert gesteigerte Zivilisation“79. Dem italienischen und spanischen Volk traute Moeller hingegen auch weiterhin bescheidene Leistungen zu. Zum entscheidenden, d.h. ausschließenden Kriterium wurde die Antithese von Kultur und Zivilisation erst bei den jungen Völkern. Das englische Volk hatte nach Meinung Moellers zwar eine große Zivilisation80, nach dem Ableben Shakespeares aber keine große Kunst und keine Kultur mehr hervorgebracht: „So steht das englische Volk an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert da: auf seinen Reichtum und seinen Fleiß gestützt, aber in der Seele arm und bloß – ein ins Materialistische entartetes Germanentum.“81 Da England somit „seine Bedeutung nur“ noch „rein zivilisatorisch“ hätte82, sei das englische Volk „längst schon ein altes Volk“.83 Diesem gegenüber zeichne sich das deutsche Volk schon seit über dreihundert Jahren durch eine kulturelle Virtuosität aus: Der von Deutschland ausgehende Protestantismus habe eine einzigartige kulturelle Erneuerung mit sich gebracht, sei aus „dem protestantischen Schlachtengesang [...] deutsche Musik“ und „aus der protestantischen Gesinnung die deutsche Philosophie geboren“ worden.84 Da nach der Gründung des Bismarckreiches und dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1890er Jahre aus dem deutschen Volk endlich auch eine zivilisatorische Macht wurde und die kulturelle Erneuerung seitdem ungebrochen anhalte, sei das deutsche Volk das einzige wirklich „junge“ Volk, das Anfang des 20. Jahrhunderts einen repräsentativen Stil hervorbringen könne: „Ein moderner Stil entsteht: aber während die Romanen sich grundsätzlich unfähig zu ihm erweisen und ihn noch mit den Unnaturformen von Barock und Rokoko durchsetzen, wäh77 78 79 80 81 82 83 84
Ebd., S. 7. Ebd., S. 66 f. Ebd., S. 62 f. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 69. Ebd., 72. Ebd., S. 73 f.
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rend die Engländer ihn versentimentalen, die Amerikaner ihn verpraktischen, sind die Deutschen die einzigen, die ihn voll aufnehmen und zu dem zu machen suchen, was er sein muß, zu einer Materialisation ihres spirituellen und nationalen Daseinsinhaltes auch im täglichen und öffentlichen Leben.“85
Am Schluss seines Kapitels über die „jüngsten“ Völker formulierte Moeller die Vision, dass „Pangermanismus, Panslavismus, Panamerikanismus [...] die bewegenden Kräfte unserer Entwicklung“ seien.86 Einige Details seiner Ausführungen wie die Feststellung, „daß das russische Volk zu neun Zehntel ein Chaos von Kindern und Unmündigen ist“87, sowie das Schlusswort der Zeitgenossen88 verdeutlichen jedoch, dass Amerikaner und Russen für ihn allenfalls Juniorpartner bei der Aufteilung der Welt waren. Sie wurden im Gegensatz zum deutschen Gegenwartsvolk als Zukunftsvölker89 betrachtet. Bei ihrer Differenzierung verwendete Moeller die Antithese von Kultur und Zivilisation ohne normative Absicht zur Beschreibung ihrer inneren Verfassung, um zu illustrieren, dass sie sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten der von ihm angenommenen Bestimmung näherten, so dass für Moeller „Rußland das Land der ungeheueren mystischen und Amerika das Land der ungeheueren zivilisatorischen Möglichkeiten“90 ist. Dabei steht der Hinweis auf die religiöse Begabung des russischen Volkes91 für dessen kulturellen Potenziale. Die „zu den innerlichen Völkern“92 gehörenden Russen benötigten nach Moeller nur einen zivilsatorischen Schub, um diese Potentiale entfalten zu können. Entsprechend formulierte er: „Priesterlich-asketische Züge hat das russische Volk schon von sich aus genug: was ihm fehlt, sind die heroisch-vitalen, die es allein vorwärts bringen können. Sie hat Dostojewski als erster gegeben, hat als erster energetische Furchen in die problematische Physiognomie der Slaven gegraben: [...] auf Dostojewski, den echt russischen, den sakrosankten, den epileptischen Menschen, in dem sich unter Zuckungen die slavische Mystik zum ersten Male der modernen Zivilisation vermählte, berufen sich alle, die [...] die russische Hoffnung tei-
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Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 89. Ebd., S. 82. Hier heißt es: „Geschlossen sind heute die Kreise jeder alten Kultur, erfüllt sind Hellentum und Romanentum, [...] zu einer neuen Kultur öffnen sich die Glieder der Menschheit. Auch diese Kultur wird wieder nicht einem einzelnen Volke angehören, sondern über die ganze Welt sich verbreiten [...]. Nur ausgehen müssen wird diese Kultur wieder von einem einzelnen Volke und in ihm den Mittelpunkt ihrer großartigen Ausdehnung haben. Dazu wäre Rußland und dazu wäre Amerika, in der Einseitigkeit, die ihre Stärke aber auch ihre Schwäche ausmacht, von sich aus nicht fähig. Dazu gehört ein Volk, das fest im Allseitigen der Erscheinungen steht und dessen ganze Vergangenheit immer schon darauf hingearbeitet hat, dereinst in der Erfüllung eines Kulturideals zu münden.“ (ebd., S. 335 f.). Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 84 f.
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len und von der russischen Bestimmung glauben, daß sie dem seelischen Leben der ganzen Menschheit die tiefen Erneuerungen geben wird.“93
Unzweifelhaft wurde in den Zeitgenossen das Bild vom schlafenden russischen Bären evoziert, der von Dostojewskij, dessen Werke Moeller seit 1905 herausgab, geweckt worden sei. Zugleich kündigt sich aber auch die Geringschätzung der Russen an, die charakteristisch für Moellers kulturimperialistische Vorstellungen ist und seine Einführungen in die Werke Dostojewskijs und das Bild des großen Russen in der deutschen Öffentlichkeit nachhaltig geprägt hat. Russland wurde in diesem Sinne als noch ganz unzivilisierte Kultur betrachtet, Amerika hingegen war vor allem Zivilisation, doch habe es „die Wendung zu einer Kultur [...] schon getan.“94 Sichtbar werde diese Wendung in der amerikanischen Literatur und hier wiederum in der „Erscheinung“ Walt Whitmans. Dieser, so Moeller, sei „Amerikas ungeheuerstes Versprechen“: Mit einem Schlage ward klar, [...] daß es möglich war, [...] mit derselben unheimlichen Energie, mit der man in Amerika eine vollständig neue Zivilisation der Erde entstampft hatte, ihr auch ästhetische Kräfte zu entreißen.“95 Jenseits solcher Ausblicke lässt sich zusammenfassend Folgendes festhalten: Nachdem Moeller die Unterteilung der Menschen nach Rassen als nützlich, aber unzureichend erkannt hatte, nutzte er die Antithese von Kultur und Zivilisation bzw. die Aufwertung der Kultur gegenüber der Zivilisation zu einer Beurteilung des zukünftigen politischen Gewichts der Völker. Man verfälscht die Hauptlinien von Moellers Denken sicherlich nicht, wenn man folgendes Modell anwendet: Wie das Überleben der Organismen und der Arten in der Evolution durch den Mechanismus der Selektion entschieden wird, so ergeht es aus dem Schicksal der Nationalkulturen insgesamt. Der Niedergang ganzer Völker entspricht den Gesetzen einer natürlichen Auslese: Das heißt, da Moeller gleich anderen Autoren der Kunstwartssphäre96 künstlerische Qualität und rassische Eigenart in Beziehung gesetzt hatte, plädierte er mit dem Argument der Gesundung auch für das Survival of the fittest, durch das sich die Deutsch nicht allein als das „erste[...] Kunstvolk der Zukunft“ (Avenrarius)97 erweisen würden. Bezeichnend für seine diesbezügliche Indienstnahme der Antithese von Kultur und Zivilisation ist, dass nur Engländer und Franzosen mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, ihre Völker seien seit der Renaissance kulturell verkümmert, hätten also keine Möglichkeit mehr, sich zu revitalisieren. England und Frankreich, das waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Deutschlands wichtigste Konkurrenten. Die Bezeichnung des französischen Volkes als alt und kulturell verbraucht, des englischen als jung und kulturell verbraucht und des deutschen als jung und kulturell fruchtbar entsprach der Sicht eines gebildeten deutschen Nationalisten auf das Gewicht und die 93 94 95 96 97
Ebd., S. 83 f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Vgl. Gerhard Kartzsch, Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus, Göttingen 1969, S. 171. Vgl. Ferdinand Avenraius, Deutsch und französisch, in: Kunstwart, 14. Jg, Heft 1, Oktober 1900, S. 1–7, hier 1.
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Zukunft dieser europäischen Mächte in der Epoche des Imperialismus: Frankreich war schon einmal besiegt worden und man würde es jederzeit wieder besiegen können. England würde mit Hilfe der im Bau befindlichen Schlachtflotte demnächst besiegt werden können. Deutschland könnte daher demnächst die allein dominierende Macht in Europa werden. Und eine Koalition zwischen Frankreich und England, die dieses zu verhindern suche, sei widernatürlich und illegitim. Schließlich würden sich dann hier ein junges und ein altes Volk gegen ein junges verbünden, um dessen Ansprüche auf die kulturell legitimierte Vorherrschaft gewaltsam zu bestreiten. Insofern hatte der in den Zeitgenossen begründete Selektionsoptimismus einen durchaus realpolitischen Hintergrund.
3.2.2. Zeugen der Desintegration. Wilde und Rodin Während Moeller die neuzeitliche Kunst aller anderen Völker überaus wohlwollend besprach, wurden die für ihn typischen französischen und englischen Künstler Auguste Rodin und Oscar Wilde mit der Absicht kritisiert, die Kunst und die Künstler dieser Völker und schließlich auch das Volk selbst als „erschöpft“ erscheinen zu lassen. Moeller folgte bei der Vorstellung ihrer Bedeutung auch seinem eigenen Diktum, wonach „wenn ein Volk endgültig alt geworden ist [...] sein Tun und Lassen, und meist eben sein Lassen, nicht mehr sich selber als einer zusammenhängenden Rasse, sondern den einzelnen und sich immer mehr isolierenden Exemplaren dieser Rasse“ überlassen sei.98 Mit anderen Worten: Er war der Ansicht, dass der für ihn so wichtige organische Zusammenhang zwischen Künstler und Bevölkerung bei den alten westeuropäischen Völkern unterbrochen sei. In diesem Zusammenhang stellt sich dann heraus, dass der Verfall der Sitten, sprich Dekadenz, für Moeller eine notwendige Folge der als Auflösung interpretierten Individualisierung ihrer Gesellschaften war: „Im allgemeinen ist das, was wir Dekadenz eines Volkes nennen, die Auflösung seines Organismus, der Zerfall der Gesamtenergie in Einzelenergien: das Individuum wird selbständig, als religiöses trennt es sich vom All, als nationales von der Rasse, als soziales vom Staat, als privates von der Familie, als philosophisches stellt es sich abseits von der allgemeinen Weltanschauung, als ethisches von der herrschenden Lebensauffassung, als sexuelles glaubt es sich von der Natur in einer Sondernatur entfernen, als künstlerisches auf das Leben in einer Sonderkunst verzichten zu können.“99
Beispielhaft für die irreparablen Folgen der Individualisierung war für Moeller das Leben und Werk Oscar Wildes. Der aus Irland stammende Schriftsteller hatte nach Auffassung Moellers jeden Kontakt zum englischen Volk verloren. Weil Letzteres seit dem Ableben Shakespeares „seine Bedeutung nur“ noch „rein zivilisatorisch“ habe100, der „Engländer“ ein kulturell desinteressierter „Geschäftsmann“101 sei, 98 99 100
Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 333. Ebd., S. 248. Ebd., S. 69.
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schien der Verlust des Zusammenhangs zugleich die Folge einer gegenseitigen Entfremdung und Zeichen des Niedergangs zu sein: „[..] nur aus dem prärafaelitisch gewordenen Fin de siècle-London können wir ihn [Wilde] uns gekommen denken, aus Milieus halb langweiliger, halb verrotteter Verweichlichung.“102 Sowohl Wildes ästhetizistische Kunst als auch seine homoerotischen Neigungen bezeugten für Moeller die Dekadenz, die Unfruchtbarkeit und Schwäche des unwiderruflich alternden englischen Volkes. „England“, so Moeller, „ist nun einmal dazu verurteilt, durch Inzucht zu sterben.“103 Zeugnisse einer individualisierungs- bzw. diffrenzierungskritischen Haltung lassen sich auch im Rodin-Aufsatz nachweisen. Schließlich hatte Moeller nicht allein die Entwicklung der Plastik im Blick, als er bezüglich der Plastiken Rodins unterschied zwischen einer „Skulptur, die aus der Architektur“ und „damit zugleich auch aus der Weltanschauung des Volkes“ herauswachse, und einer „Skulptur [...], die im Atelier entsteht“, die im „besten Falle [...] aus der geklärten Dinganschauung deren ein Volk fähig“ sei, komme.104 Vielmehr sollte durch die Kontrastierung von Architektur und Freiplastik darauf hingewiesen werden, dass ein Übermaß an Freiplastiken symptomatisch für im Zerfall begriffene Gemeinschaften sei. Über solche Überlegungen hinaus war Frankreich für Moeller „das Musterbeispiel eines Landes, in dem Klassizismus alles verdorben, was in den jungen Tagen des Volkes einmal von der lebendigen zur künstlerischen Entwicklung hingedrängt hat“.105 Folgerichtig waren auch die Plastiken Rodins, obgleich Moeller sie zweifellos bewunderte106, Zeugnisse der Oberflächlichkeit französischer Kunst. Mit anderen Worten: Rodins Kunst dokumentierte mit ihrem Mangel an weltanschaulicher „Tiefe“ für Moeller die nach seiner Ansicht verheerenden Auswirkungen des französischen Klassizismus und der französischen Aufklärung für die Entwicklung der französischen Kunst: „[...] die Aufklärung“ wurde „gegen die Offenbarung, die Strebsamkeit gegen die Begeisterung, die Arbeit gegen die Inbrunst vertauscht: Kritik trat an die Stelle der Kontemplation, Technik an die der Inspiration.“ In diesem Sinne sei auch Rodin selbst „in erster Linie wieder aufgeklärter, strebsamer, arbeitsamer Mensch, auch er verdankt wieder alles der Selbstkritik und der Technik“.107 Sowohl die Auswahl der Repräsentanten als auch seine auf deutsch-patriotische Stereotypen zurückgreifenden Formulierungen weisen daraufhin, dass Moeller von dem Gebot der Objektivität nicht viel hielt. Schließlich neigte kaum einer der maßgeblichen Zeitgenossen dazu, die Plastiken Rodins als oberflächlich zu verunglimpfen.108 101 102 103 104 105 106 107 108
Ebd., S. 244. Ebd., S. 246. Ebd., S. 252. Ebd., S. 273. Ebd., S. 269. Vgl. ebd., S. 280. Ebd., S. 274. Zur Rodin-Rezeption in Deutschland vgl.: Keisch, Claude: Rodin in Deutschland. Fragmente zu einer Chronologie, in: Auguste Rodin. Plastik, Zeichnungen, Graphik, Berlin 1979.
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Ebenso zweifelhaft war die Wahl des Iren Oscar Wilde zum Repräsentanten des zeitgenössischen englischen Volkes. War doch dieser idealtypische Dandy der einzige bereits Verstorbene, dem Moeller in Die Zeitgenossen ein Porträt widmete. Nach einer ähnlich konzipierten Studie zu dem noch lebenden Algernon Charles Swinburne hätte man nicht so leicht den Schluss ziehen können, das englische Volk sei durch und durch dekadent und ob seiner Degeneration zum Sterben verurteilt. Schon deshalb trifft der bereits von einem zeitgenössischen Rezensenten erhobene Vorwurf der Willkür.109 Gleichwohl lassen Moellers Ausfälle gegen Wilde und Rodin eine gewisse Systematik erkennen. Ist es doch so, dass Moeller, der wie weiland Ferdinand Tönnies das Volk als einen Ausdruck der „Idee der Gemeinschaft“110 auffasste, das in Werken von Rodin und Wilde nachgewiesene Streben nach künstlerischer Autonomie als Schwächung der Zeichen des Zerfalls der nationalen Gemeinschaft missbilligte und als Niedergangserscheinung interpretierte. So bezeugt vor allem das WildePorträt, dass Moeller, obwohl er seinem Selbstverständnis nach ein moderner Literat war, wesentlichen Aspekten der gesellschaftlichen Modernisierung wie Rationalisierung (Weber), Differenzierung (Durkheim) und Individualisierung (Simmel) ablehnend gegenüberstand, er also im Grunde ein gegen die gemeinschaftliche Desintegration anschreibender Zivilisationsskeptiker (vgl. 1.) war. Dementsprechend heißt es in dem Essay über den aktuellen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt: „Alle Entwicklung endet nun einmal in Differenzierungen: und diese Differenzierungen werden immer feiner, zwiespältiger, vielblütiger – bis am Ende nur die äußersten Nervenspitzen der ursprünglichen Werte in einem tollen und unübersehbaren Gewirr übrig bleiben, das man alte Kultur nennt.“111
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In diesem Sinne heißt es in einer im Literarischen Zentralblatt für Deutschland abgedruckten Besprechung der Zeitgenossen: „Der unbedingt auf Nietzsche eingeschworene Verf. glaubt, daß nur die in jugendlich kräftigem Mannesalter stehenden Deutschen, die in erster Jugend vorwärts stürmenden Amerikaner und die kindlich träumenden Russen eine Zukunft hätten. Vielleicht vermöchten auch die Italiener sich zu einem nochmaligen Rinascimento aufzuraffen. Von dieser Ueberzeugung aus beurteilt er im ersten Teile seines Buches, ‚Die Geister‘, alle Erscheinungen des modernen Völkerlebens. Im zweiten Teile führt er als representative men Deutschlands vor: Chamberlain, Klinger, Liliencron, Dehmel, Hauptmann, Wedekind; als typische Menschen des ‚Umlands‘: Munch, Strindberg, Wilde, Maeterlinck, Rodin, Zuloaga, Gabriele d’Annunzio, Gorki, Roosevelt. Es finden sich nun in diesen Betrachtungen und Charakteristiken, die stets von einem hohen, universellen Standpunkte aus alles Einzelne, Zufällige zur Seite lassen und den Kern der Erscheinungen fassen möchten, viele geistvolle, anregende Ansichten des Verf. Aber das Willkürliche, ungerecht Einseitige und Unreife der Urteile überwiegt denn doch bei weitem in diesen Nietzscheschen Rhapsodien.“ (vgl. M.K, Moeller van den Bruck: Die Zeitgenossen. Die Geister – die Menschen, Minden 1906, in: Literarisches Zentralblatt für Deutschland, 57. Jg. Nr. 23, 02.06.1906, S. 783). Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, § 10, S. 25 ff. Moeller van den Bruck: Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 330.
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3.2.3. Die Deutschen auf dem Weg zum Stil Zwar befürchtete Moeller nicht, dass das deutsche Volk durch Individualisierung und Differenzierung geschwächt werden könnte, doch schien auch er, der in Das Varieté alle diejenigen, die vom künstlerischen Wert dieser neuen Variante der darstellenden Kunst nicht zu überzeugen waren, noch als „Restmenschen“ diffamierte, nun um den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft besorgt. Konstatierte doch der Verfasser der Zeitgenossen ihre Aufspaltung „in zwei Lager, und zwar solche, die grundsätzlich unversöhnbar erscheinen: in das eigentlich kulturelle und neben ihm her das offizielle“. In der Art der Unterscheidung zwischen dem „offiziellen“ Deutschland, das „die Aufgaben der Zeit nur nach ihrer zivilisatorischen Seite begreifen“112 wolle, und dem „eigentlich kulturelle[n]“ zeigt sich sowohl das avantgardistische Selbstverständnis als auch die optimistische und vereinfachende Sicht Moellers auf die deutsche Gesellschaft der wilhelminischen Epoche. Schließlich zerfiel diese, tief gespalten und verunsichert wie sie nach Sozialistenverfolgung und Kulturkampf in einer Zeit der beschleunigten Ausdifferenzierung der Klassengesellschaft war, in mehr als nur zwei Gruppen.113 In der Hoffnung, es könne einen ihnen gemeinsamen Nenner und damit auch eine „große innere Kulturpartei“114 geben, die die Interessengruppen und Klassen versöhnen, alle Widersprüche aufheben und das Ziel eines modernen deutschen Stils beispielsweise durch die Förderung einer modernen nationalen Architektur auch einlösen würde, wurde nunmehr auch der sich an die Positionen des Dürer-Bundes annähernde Patriot Moeller van den Bruck sichtbar. Signifikant für dessen oppositionelle Haltung ist, dass er eine ebenso machtlose wie periphere „Kulturpartei“ zur Avantgarde der nationalen Integration erklärte, wobei sich der kulturreformerische Anspruch nicht zuletzt dadurch verrät, dass Auswahl, Abfolge und Beurteilung der einzelnen Kulturträger eine kontinuierliche Entwicklung hin zu einer vitalen modernen autochthonen Kultur suggerieren. Der Wahldeutsche Houston Stewart Chamberlain stand dabei als „ein Mensch von gestern“115 am Anfang dieser Reihe, nicht allein deshalb, weil Moeller sich von dessen Rassengeschichtsschreibung distanzieren wollte, sondern auch, weil ihm als Nietzscheaner die positive Darstellung der „Erscheinung Christi“116 in Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts missfiel. Moeller, der das Christentum als Fremdkörper in
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Ebd., S. 78. Zur Ausdifferenzierung der reichsdeutschen Klassengesellschaft vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd.: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995 S. 702 ff. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79. Ebd., S. 119. Vgl. Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 3. Aufl., München 1901, S. 189–251.
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der deutschen Kultur ansah117, betonte, dass er Chamberlains Versuch, zwischen der „Erscheinung Christi“ und den Lehren der christlichen Kirche zu unterscheiden, für unsinnig hielt: „Für wen ist Christus da, für die schwachen oder für die starken Menschen, für die schwachen oder die starken Stunden der Menschheit? Die Antwort auf diese Gewissensfrage kann nur sein: für die allerschwächsten Stunden und Menschen – und schon allein unser Stolz sollte verhindern, daß wir immer wieder nach Christus rufen.“118
Unsere kraftvolle Zeit, so Moeller, brauche „wieder Helden [...] von anderer Art!“119 Problematisch schien Moeller auch Chamberlains Urteil über Nietzsche, laut Moeller der „Mann, der am schwersten um eine neue Menschwerdung gerungen, [...] dessen Ringen menschlich so furchtbar zum Prometheusschicksal sich aufbäumte, daß daneben Wagners Streben [...] zum bloßen Ästhetentum ward“.120 Dass Chamberlain in Nietzsches Abfall von Wagner ein Zeichen beginnenden „Wahnsinns“121 sah, zeige, „daß man der große Deuter unserer Vergangenheit sein kann, ohne den größten Künder unserer Zukunft, und damit diese selbst, auch nur im Geiste zu grüßen“.122 Auch dem mit ihm persönlich bekannten Maler und Bildhauer Max Klinger123 attestierte Moeller, noch nicht im Heute angekommen zu sein. In dem ihm gewidmeten Teil zeigt sich, dass Moeller, obwohl er Klingers Kunst als vorbildliche „Kunst grossen Stils“ bezeichnete124, dem stilistisch uneinheitlichen Gesamtwerk Klingers, seiner polychromen Plastik, seiner symbolistischen Malerei, distanziert gegenüberstand. Für ihn war Klingers programmatische Verbindung von Naturalismus, Symbolismus und Jugendstil, „der letzte große Zusammenschluß aller Vergangenheitswerte [...], das erste große Unvermögen zur Verbindung von ausschließlichen Zukunftswerten“125. In dem an Hauptwerken sichtbaren Unvermögen, neue Themen in neue Formen zu gießen, liege die besondere Tragik Klingers ein „Epigone“126 zu sein. In diesem Sinne heißt es über das Bild Christus im Olymp (1890–1897): „[...] daß das Werk mißglückte, daß ein künstliches Bild, kein natürliches Bild daraus wurde, war [...] eine gewisse Notwendigkeit: es zeigt wenigstens dieselbe innere Haltlosigkeit, die sein Stoff in den Köpfen unser neo-gräko-christlichen Ideologen hat [...]. Es mußte sich rächen, auch künstlerisch, daß man in gewissen Kreisen das Heil der Menschheit rückwärts 117
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So formuliert Moeller: „Schwer hat nun einmal das Christentum in uns eingegriffen, unsere natürliche Entwicklung gekreuzt, geschädigt, wenn nicht geschändet. [...] Wir mußten uns mit ihm abfinden“ (Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 198). Ebd., S. 118 f. Vgl. ebd., S. 22. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 120 f. Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 3. Aufl., München 1901, S. XXV. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 120 f. Vgl. Hedda Eulenberg, Frauen um Moeller van den Bruck, in: Berliner Tageblatt, 04.10.1934. Vgl. Moeller-Bruck, Arthur, Das Varieté, Berlin 1902, S. 26. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 138. Vgl. ebd., S. 126.
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suchte, in allen unmöglichen Synthesen, nicht vorwärts und auf der Erde der Wirklichkeit.“127
Die Positionierung Klingers als Epigone ist in Die Zeitgenossen Anlass für eine Stellungnahme zugunsten eines „visionären“, auf eine „veränderte Weltanschauung“ zurückgehenden Stils,128 wie er nicht zuletzt in den Werken des „der germanischen Urheimat näher“129 gebliebenen Norwegers Edvard Munch sichtbar werde. Munchs Verdienst sei es, dass er in einem gesteigerten Ausdruck „die Grundwahrheiten wieder aufgenommen [habe], in ihrer ganzen Einfalt, aber auch in ihrer ganzen Stärke: Geburt und Tod, Liebe, Haß, Reue, Wut Verzweiflung – und er hat sie losgelöst von ihrem Zufälligen, herausgearbeitet zu ihrem Unabänderlichem und zusammengeschweißt zu dieser ganz mächtigen Lebensmythologie, die sein Werk ist“.130 Klingers Kunst hingegen sei wesentlich eklektischen Stils131 und damit relativ zur Kunst „visionären“ Stils von minderer Bedeutung, weil sie anders als diejenige Munchs nicht Bezug nehme auf „die Wunder der modernen Zivilisation“132, weil Klinger die Menschen in seinen Radierungen in zeitlose Kostüme steckte und „wolkige[...] Allegorien“ erfand133 und er das „starke[...] Leben einer starken Zeit“134 nicht als mögliches Thema seiner Malerei ansah. Ein Verdienst habe Klinger allenfalls als deutscher Plastiker. Beispielhaft hierfür ist die Bewertung des Beethoven (1902). Moeller kritisierte zwar die künstlerische Ausführung dieses Denkmals135 – „der Beethoven wird uns leicht zu reich, zu bunt“ –, doch versöhnte ihn die Idee eines monumentalen Künstlerdenkmals, für Moeller „ein Zeichen der deutschen Kultur, die einsetzt“.136 Es sind also wesentlich patriotische Argumente, die Moeller zum Einlenken gegenüber Klinger veranlassten. Klinger war für ihn „der Erste, der den Beruf der Plastik“, lebensechte Abbilder für das identitätsstiftende Erinnern an nationale Helden zu schaffen, „wieder begriffen und auch bereits [...] in ein paar wichtigsten Aufgaben zu lösen versucht hat“.137 In diesem Sinne schloss er seine Betrachtungen zu Klingers Plastik mit einem Ausblick auf die von ihm gewünschte Entwicklung der deutschen Bildhauerkunst. Moeller hoffte, dass „eine deutsche Plastik der Zukunft sich von aller Tradition, ganz gleich ob der antiken oder der renaissancischen geradeso befreien müsse [...], wenn sie ganz das sein will, was sie zu sein hat – nämlich deutsch“.138 127 128 129 130 131 132 133 134 135
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Ebd., S. 132. Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 213. Ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 124. Ebd., S. 123. Ebd., S. 138. Ebd., S. 123. Die Plastik zeigt den Meister in inneres Schauen versunken, mit nacktem Oberkörper (weißer Marmor), über den Schoß einen Mantel aus Alabaster gebreitet, auf einen Bronzethron sitzend. Zu seinen Füßen befindet sich ein schwarzer Adler aus Pyrenäenmarmor. Ebd., S. 136 f. Ebd., S. 137. Ebd.
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Die vier verbleibenden Aufsätze lassen sich darüber in zwei Gruppen scheiden. Während die Texte über Detlev von Liliencron und Gerhart Hauptmann von einer uneingeschränkten Zustimmung zu Lebensführung und Werk bestimmt sind, finden sich in denen über Richard Dehmel und Frank Wedekind immer wieder Formulierungen, mit denen sich Moeller nun von Aspekten ihres Werkes distanzierte. In diesem Sinne war er beispielsweise der Auffassung, dass das „künstlerisch [...] Wesentliche“ an Wedekind, sein entzaubernder Humor, „etwas Blutig-Deutsch-amerikanisches“ hätte.139 Das heißt, weil von seinen Stücken keinerlei Impulse für die Stiftung einer neuen deutschen Identität ausgingen, „seine Lebensanschauung [...] gewiß noch ein Bankrott“140 sei, wurde das Werk des als Schöpfer eines „Vorbereitungsstil[s]“141 geachteten Dramatikers mit dem Attribut der Fremdheit belegt. Ferner war nun auch Richard Dehmel von dem Verdacht betroffen, ein Mann des Übergangs und kein hundertprozentig deutscher Dichter zu sein. Sein Roman in Romanzen, Zwei Menschen (1903), in Die moderne Literatur noch als gemäßigt-harmonischer Abschluss der bisherigen künstlerischen Entwicklung Dehmels gewürdigt142, war nun für Moeller, da das „Übergewicht“ des Werkes auf der „Emanzipation des Fleisches“ liege, das „undeutscheste[...] von allen bedeutenden Büchern“.143 Dehmel, so der Vorwurf Moellers, sei „kosmopolitisch aus Indifferenz“.144 Das heißt, schon der Verzicht auf signifikant deutsche Stoffe und die Hinwendung zur national indifferenten Erotik wurde als Abweichen vom Königsweg der nationalen Dichtung kritisiert. Der fehlende „deutsche Ton“145, bedeutete für Moeller zudem auch eine mentale und ästhetische Beeinträchtigung, die das baldige Ende von Dehmels künstlerischer Entwicklung erwarten ließe. In national ästhetischer Hinsicht sei Dehmel „ein erster Abschluß.“146 Dehmel hat auf diese Prognose, wie auf den Vorwurf der nationalen „Indifferenz“147 mit einem Brief reagiert. Darin heißt es unter anderem: „Wie kommen Sie dazu, von meinem ‚Werk‘ so summarisch zu reden, als ob ich allbereits ‚fertig‘ wäre [...]?! Ich bin es noch nicht mal mit meiner Vergangenheit; vielleicht wird Ihnen das die Gesamtausgabe meiner bisherigen Schriften beweisen [...].Was wissen Sie von meiner ‚nationalen Indifferenz‘? Ich halte chauvinistisches Pathos freilich für das allerwohlfeilste Maulheldentum, aber mein ehrliches deutsches Gefühl, meinen stillen furor teutonicus [...] könnte ich Ihnen mit Dutzenden Citaten belegen.“148
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Ebd., S. 206. Ebd., S. 203. Ebd., S. 208. Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Die Moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 416 f. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 178. Ebd., S. 165. Ebd., S. 165. Ebd., S. 163. Ebd., S. 165. Richard Dehmel an Moeller v. d. Bruck (11.02.1905), in: Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe 1902–1920, Berlin 1923, S. 85 f. Der Kommentar der Ausgabe gibt an, dass Dehmel sich hier auf den Teilband Dehmel aus Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellun-
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Dehmels weitere Ausführungen zeigen, dass ein betroffener Autor nur mit einer umfangreichen Polemik auf Moellers in den Argumenten beliebige Kritik antworten konnte. Dabei übersah Dehmel, warum ihn sein „Freund“149 Moeller als „fertig“ behandelte. Dem Verfasser der Zeitgenossen ging es nicht um Dehmels künstlerische Entwicklung, sondern um die Richtung, die die moderne deutsche Dichtung künftig zu nehmen habe. Dehmel war für Moeller hierin insofern ein Abschluss, als er die junge Generation durch seine „neue Denkart in ihr Geistesgleichgewicht gebracht“ habe.150 Die Selbstbewusstwerdung der Jugend, so Moeller weiter, sei aber inzwischen abgeschlossen. Es komme nunmehr darauf an, einen Schritt weiter zu gehen: „Auf das Selbstbewußtsein kommt es nicht mehr an, sondern auf das Zielbewußsein!“151 Dieses Ziel sei die Besinnung auf Rasse und Tradition und daraus folgend eine autochthone deutsche Kultur einschließlich eines identitätsstiftenden modernen Nationalstils. In diesem Sinne formulierte er am Schluss seines Aufsatzes: „[...] wenn wir [...] einmal zurückschauen, [...] dann kann es nur dorthin sein, wo wir im Mittelalter das nationale Ideal unserer eigenen Kultur verließen, und wo Meister Eckart, Martin Luther und Ulrich von Hutten noch immer die Toten sind, die im deutschen Volke nicht sterben können.“152 Vorbildlich waren für Moeller van den Bruck die Werke Detlev von Liliencrons und Gerhart Hauptmanns. Liliencron wurde vor allem als Teilnehmer und Dichter der Vereinigungskriege gewürdigt.153 Hauptmann war schlicht der deutsche „Nationaldramatiker“.154 Dabei nutzte Moeller seinen Hauptmann-Aufsatz, um analog zu seinen Ausführungen in Das Théâtre Français die Entwicklung des deutschen Dramas in einen Zusammenhang mit der Geschichte des Volkes zu bringen: „Die Entwicklung des deutschen Dramas ist selbst ein Drama gewesen: [...] sie wäre selbst zu einer Tragödie geworden [...]. Denn die Szene, auf der sich dies Schauspiel dramatischen Schaffens abrollte, war die Geschichte des deutschen Volkes selbst.“155 Da Moeller die Christianisierung und den Klassizismus als hinderlich für die Herausbildung einer deutschen Kultur betrachtete156, wird klar, dass er die Möglichkeit eines
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gen beziehe. Dehmels Anspielungen und Zitate zeigen aber, da Dehmel sich hier zu Die Zeitgenossen äußert. Moeller hat ihm, wie aus dem Text hervorgeht, ein Vorabexemplar mit einem Anschreiben geschickt. Vgl. Richard Dehmel, Autobiographie. Eine Traumdeutung, in Gesammelte Werke von Richard Dehmel, 8. Bd., Berlin 1909, S. 15. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 164. Ebd., S. 176. Ebd., S. 179 f. Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 185. Ebd., S. 181. Moeller formuliert: „Dem Christentum war es vorbehalten, die organische Entwicklung des Germanentums zum ersten Male zu unterbrechen. Und das Christentum war es denn auch, das das Drama im Germanentum zum ersten Male auslöste: so ungermanisch wie nur möglich – in der Passion. Lange blieben wir bei dieser liturgischen Kunst nicht stehen, die so wenig unserem vitalen Wesen entsprach. [...] als die Renaissance, diese zweite große Unterbrecherin unserer Entwicklung, die Welt der Antike vor uns auftat, wurde unser Drama schließlich dahin
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fruchtbaren Kulturimports leugnete, sie als wesentliches Hemmnis in der organischen Entwicklung bzw. als Zeichen der Epigonalität, d er Schwäche des Niedergangs der übernehmenden Kultur interpretierte. Umgekehrt wurde die Ausbildung eines homogenen und autarken Regelsystems als Zeichen von Fruchtbarkeit und Stärke gedeutet. Das Werk Hauptmanns schien in diesem Zusammenhang repräsentativ für die Möglichkeit der Durchsetzung eines solchen Regelsystems im „jungen“ Deutschen Reich: „Und heute endlich [...] sind selbst die letzten Reminiszenzen an alte oder fremde Stile abgefallen und hat sich die ganze Bewegung zu einer Synthese auch des Wortdramas endgültig zusammengeschlossen: durch Gerhart Hauptmann. Mit ihm [...] ist das deutsche Drama endlich deutscher Stil geworden.“157
Motiviert war die herausragende Positionierung Hauptmanns durch dessen Rückgriff auf signifikant deutsche Stoffe. Waren die ersten Dramen Hauptmanns für den Autor der Zeitgenossen noch „ohne Fleisch und Blut“158, so war der Florian Geyer (1895) für Moeller „unser größtes Nationaldrama. [...] keines steht so fest im Stil – und keines, [...] steht auch so fest im Volk.“159 Die weitere Argumentation suggeriert, dass dieser so feste Stil des Florian Geyer auf eine Identität zwischen dem Dargestellten und der Weltanschauung des deutschen Volkes zurückgehe, dass also das Schicksal seiner historischen und mythischen Helden der ideale Stoff für die Werke seiner zeitgenössischen Dichter sei. Insgesamt erweist sich somit auch der HauptmannAufsatz der Zeitgenossen als ein Plädoyer für eine moderne autochthone Nationalkultur. Hauptmann „steht da als der Dichter, der dem Drama der Völker das Drama der Deutschen angereiht hat, ihm vor allem nach der Seite der Form [...] szenische Allgemeingültigkeit gab, nationale Struktur, nationales Metrum, nationalen Stil“.160 Sein die glorreiche Vergangenheit beschwörendes Werk stand nunmehr für die „junge[...] Gesundheit“161 des deutschen Volkes und mithin für dessen Anspruch auf ein deutsches „Kulturimperium“.162
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abgedrängt, wo auch nicht mehr ein Atom nationalen Gehaltes in ihm war und es von nichts mehr lebte als von den Kopien der Klassik und den Imitatoren des Auslandes.“ (ebd., S. 183 f). Ebd., S. 184 f. Ebd., S. 188 f. Ebd., S. 194 f. Ebd., S. 197. Ebd., S. 200. Ebd., S. 336.
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3.2.4. Ästhetische und weltanschauliche Positionierung Die reduzierte Auswahl deutscher Schriftsteller – Detelev von Liliencron, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind –, die besondere Hochschätzung eines beim Publikum durchgefallenen historischen Dramas – Florian Geyer – sowie die Pathologisierung der inzwischen namenlosen Masse deutscher Dichter als Menschen mit einem „Knacks“163 signalisieren, dass Moellers Selektionsoptimismus auf einer quantitativ und qualitativ schwachen Basis stand. Zwar konnte Moeller die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie immer wieder hervorheben, doch eignete sich der wichtigste zeitgenössische deutsche Roman, Thomas Manns Die Buddenbrooks (1900), nicht für den Beweis der Behauptung, die Deutschen seien ein junges, den Engländern und Franzosen an Vitalität überlegenes Volk. Der dem integralen Nationalismus zugewandte Kritiker hatte sich, da er die moderne Kunst auf eine dieser These entsprechende nationale Ästhetik verpflichten wollte, ins ästhetische Abseits manövriert. Moeller selbst meinte zwar immer noch, den Puls der Moderne zu fühlen, doch verströmten Traditionsbildung, Beispiele und Sprachgestus bei allem ostentativen Optimismus bereits den Odem der Regression. So wurde beispielsweise der anfänglich als vorbildlich herausgestellte Verzicht auf „all die retrospektiven und all die utopischen Ideale“164 aufgegeben, sobald es galt, die eigene Nation als Quell besonderer schöpferischer Qualitäten zu würdigen. Dann waren „Meister Eckart, Martin Luther und Ulrich von Hutten noch immer die Toten [...], die im deutschen Volke nicht sterben können“.165 Ferner wird die Abwesenheit von solchen Idealen in den Dramen Wedekinds von Moeller als „blutiger Materialismus“166 gegeißelt. Auch zeigte sich Moeller unaufgeschlossen ästhetischen und ideengeschichtlichen Innovationen gegenüber. Die Differenzierung des geistig-künstlerischen Spektrums der Jahrhundertwende wurde von ihm, der ein einheitliches Regelsystem für vorbildlich hielt und das moderne Leben, die moderne Kultur und den modernen Stil nur als Singular kannte, als Zeichen der Desintegration der nationalen Gemeinschaft bzw. als Indiz für das Unvermögen der um Orientierung bemühten Künstler gedeutet. Von Max Nordau inspiriert, pathologisierte Moeller die nicht seinem Stilideal folgenden Künstler, zählte Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Melchior Lechter zu den „wahrhaft Degenerierten der Epoche“167, behauptete, dass „Artung, nicht Entartung [...] der Sinn dieser Erde“168 sei, und lobte das Volk für seine Vitaliät. Weil der Verfasser der Zeitgenossen aber den modernen Suchbewegungen voreingenommen gegenüberstand und sich seine Vorstellungen von den Zielsetzungen der modernen Kunst als allzu eng erwiesen, hatte er, der die Möglichkeiten der individuellen Diffe163 164 165 166 167 168
Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 4. Ebd., S. 180. Ebd., S. 204. Ebd., S. 202. Ebd., S. 4.
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renzierung künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten geringschätzte und die Autonomiebestrebungen der Kunst missbilligte, nach und nach den Sinn für wesentliche Entwicklungstendenzen der modernen Literatur verloren. Gleichwohl war sein avantgardistisches Selbstverständnis ungebrochen. Signifikant hierfür ist unter anderem seine Einschätzung der Bedeutung und der Integrationsleistung der modernen Kunst. Ihr traute er zu, „die moderne Kultur selber zu sein! Alle Glaubens-, Gedanken- und Sittlichkeitskräfte, die in dem modernen Leben latent lagen, sollte sie in sich vereinigen, jeden einzelnen Menschen sollte sie künstlerisch durchdringen und so die ganze Menschheit als eine Einheit in sich befestigen, verbinden, ausformen.“169 Die Argumentationskette des Dehmel-Aufsatzes macht indes deutlich, dass die ästhetischen Präferenzen nunmehr eindeutig dem nationalpädagogischen unterordnet sind. Wurde dieser Paradigmenwechsel zunächst durch eine Änderung des Autorennamens sichtbar, so schlug er sich nun auch in den zentralen Begriffsbildungen und Metaphern nieder. War Stil beispielsweise für den Autor von Die moderne Literatur „nichts anderes als der Form gewordene Rhythmus der Zeiten“170, so findet sich in dem StilKapitel der Zeitgenossen eine Mischung aus modernistischen, integralnationalistischen und biologistischen Denkfiguren. Darin wird zunächst die Herausbildung eines modernen Stils ganz allgemein gewürdigt, letztlich aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es mit dem „Geist des Nordens“171 nationale Voraussetzungen waren, die seine Ausbreitung und Durchsetzung in Deutschland ermöglichte. Kunst, so die Kernaussage des Stil-Kapitels der Zeitgenossen, sollte, da die Maßstäbe von Schönheit und Wahrheit obsolet geworden waren und sich andere Ansätze des Zugriffs (soziologisch, psychologisch) als unbefriedigend erwiesen hätten, schwerpunktmäßig im Kontext der nationalen Entwicklung beurteilt werden. Nicht nur, dass ein Angehöriger eines alten Volkes nur schwer ein herausragender Künstler sein konnte, auch die Künstler junger Völker würden an schöpferischer Kraft verlieren, sobald sie sich von der Anschauungswelt ihres Volkes ablösten. Insgesamt zeigt sich, dass alle wesentlichen Äußerungen des menschlichen Zusammenlebens, dass Religion, Philosophie, Moral und Kunst von Moeller nur als Äußerung eines Volkes, einer Nation verstanden wurden, sich ihre Gültigkeit für ihn nur im Kampf zwischen den Völkern erwies. Schließlich glaubte der Verfasser der Zeitgenossen nur an ein „evlutionistisches Heil“172 und daran, dass die Deutschen in einer Epoche des überstürzten sozialökonomischen Wandels von diesem begünstigt werden würden. So fügt sich der von Moeller propagierte Selektionsoptimismus als biologistisch-teleologische Weltanschauung ein in eine lange Reihe von Stabilität und Sinn versprechenden Weltbildern, wie sie unter anderem in den Schriften von Paul de Lagarde (Deutsche Schriften, 1878/81), Houston Stewart Chamberlain (Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 1899) und Julius Langbehn (Rembrandt als Erzieher, 1890) vorgestellt wurden. Positiv unterscheidet Moeller sich von diesen Vordenkern der völkischen Bewegung 169 170 171 172
Ebd., S. 28 f. Arthur Moeller-Bruck, Die Moderne Literatur, Leipzig und Berlin 1902, S. 13. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 93. Ebd., S. 26.
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nur durch die Abwesenheit antisemitischen Gedankengutes sowie durch sein positives Verhältnis zur technischen Modernisierung. Mit den oben genannten Autoren gemeinsam hat Moeller, dass er weitgehend ohne philosophische Legitimation auskam. Zwar betonte er immer wieder, dass „eine Weltanschauung den Zweck hat, uns Menschen der Erde einen Halt in der Welt zu geben“173, doch hatte er, der selbst mit dem Relativismus ringt, außer beschwörenden Formeln und Schlagworten wenig zu bieten. Er selbst berief sich zwar gern und häufig auf Friedrich Nietzsche und Charles Darwin, einen substanziellen Bezug sucht man allerdings vergebens. Der Name Nietzsches steht in Die Zeitgenossen lediglich für eine heroische Haltung, der Name Darwins für die von diesem entdeckte natürliche Zuchtwahl und den Sieg vitalsten Nation im Kampf der Kulturen. Darüber hinaus bestimmte Moeller die nationale Gemeinschaft als die zentrale Einheit des menschlichen Lebens wie der Geschichte. Innerhalb der „nationale Kameradschaft“ 174 schien es keine existentiellen Konflikte zu geben, während die Geschichte, „diese urher sich hinziehende Ablösung morscher Zivilisations- und Kulturkreise [...] als ein einziger Kampf junger Völker, die im vollen, rauschenden, überschwenglichen Besitz ihrer Kräfte standen, gegen alte, die diese Daseinstüchtigkeit schon wieder verloren“ hatten, verstanden werden könne.175 In diesem Sinne dokumentieren die Zeitgenossen, dass sich avantgardistisches und integral-nationalistisches Selbstverständnis in einem nationalistischen Selektionsoptimismus zu einer Synthese bringen ließen..
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Ebd., S. 21. Ebd., S. 52. Ebd., S. 56.
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Ist die Konzeption des Selektionsoptimismus in biographischer Hinsicht letztlich als eine Reaktion Moellers auf die in Paris erfahrenen Demütigungen zu verstehen, so muss man festhalten, dass auch die optimistische Sicht auf das Geschehen ihm den Aufenthalt in der französischen Hauptstadt auf lange Sicht nicht angenehm werden ließ. Theodor Däubler, der die Zeitgenossen „mit sehr viel Aufmerksamkeit und Interesse gelesen“1 hatte, war es vermutlich, der Moeller Ende 1905 von dem Vorhaben abbrachte, nach Deutschland zurückzukehren. In einem ersten in einer Kopie erhaltenen Brief heißt es: „Was Sie über Ihre Rückkehr nach Deutschland schreiben, will ich nicht ganz unerörtert lassen. Ich glaube Sie wiegen sich in starken Illusionen, vor dem Corporalstab gibt es keine Auslese, man bricht denselben über jeden Intellektuellen, genau so, wie über einen Analphabeten. [...] Bedenken Sie die Sache zehnmal, man hilft seinem Lande besser durch Arbeit, als durch Prinzipienreiterei, bei der man nicht von sich selber, sondern von äußeren Vorurteilen abhängt.“2
Augenscheinlich genügte ein schlichter Hinweis auf die ihm drohende Militärstrafe, um den glühenden Patrioten Moeller zu überzeugen, vorerst lieber für ein Jahr mit Däubler durch Italien zu reisen, als die Auseinandersetzung mit den deutschen Behörden zu suchen; nicht zuletzt deshalb, weil vermutlich Däubler selbst bei Moeller eine ebenso auffällige wie vorübergehende Begeisterung für das Land entfacht hatte. Für den Verfasser der Zeitgenossen war Italien „das einzige Land, in dem das klassische Ideal noch heute seine Berechtigung hat“3. Ganz in diesem Sinne stand auch das Romanwerk Gabriele d’Annunzios für die Möglichkeit einer fruchtbaren „Vermählung [...] zwischen der eingewurzelten Liebe zum Alten und der erwachenden Liebe zum Neuen“4 und somit für die Chance einer zweiten Renaissance: „Schon, daß das Volk in dem einzigen Dichter, den es heute hat, einen Mann hervorbrachte, der sich durch alle Degenerationen hindurch zum festen Willen zur Regeneration frei kämpfte, ist ein Zeichen erhaltener Kraft. [...] vielleicht wird also, in einem letzten Kreis-
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Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (28.12.1905), in: NL Theodor Däubler, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 2716, 1(1). Bei den hier zitierten Briefen Däublers handelt es sich um maschinenschriftliche, an einigen Stellen handschriftlich korrigierte Kopien eines unbekannten Abschreibers. Die Authentizität der Schreiben ist nicht gesichert, Stil und Inhalt sprechen aber deutlich für eine Autorenschaft Däublers. Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (28.12.1905), in: Ebd., Mscr. Dresd. App. 2716, 1(5). Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 296 f. Ebd., S. 305.
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laufe der Wiederkehr, die Renaissance dem Geist noch einmal dahin zurückkehren, von wo sie einst ausging.“5
Moeller selbst hat in diesen Monaten wenigstens Rom und Florenz besucht. Das Gesehene verschärfte nicht allein seine Ablehnung des Barock, sondern begründete auch die Ansicht, dass von Rom, als dem „Mittelpunkt der Hochrenaissance, das ganze Elend ausgegangen ist, daß uns nun eben seit dreihundert Jahren zu keiner selbstgeschaffenen Kultur mehr kommen läßt, weil es unseren Künstlern für alles und jedes ein bereits fertiges, aber dabei gar nicht zu uns passendes Klischee an die Hand gibt.“6
Er sei damals „von Rom nach Florenz zurückgegangen und habe dort, in reinerer Umgebung, den Band Goethe“, eine Abrechnung, niedergeschrieben, weil er „in Goethe denjenigen erkannte, der uns in mittleren Jahren dieses Hochrenaissanceideal am eindringlichsten gepredigt, und uns dadurch, es ist noch heute meine feste Überzeugung, am tiefsten geschädigt hat“.7 Neben dem für die Ausformung von Moellers nationalistischer Ästhetik wegweisenden Goethe (1906) entstanden in dem fraglichen Zeitraum mit Führende Deutsche (1906), Verschwärmte Deutsche (1906), Entscheidende Deutsche (1907) und Gestaltende Deutsche (1907) insgesamt fünf Bände von Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte, dem mit acht Bänden umfangreichsten Werk Moellers.8 Ursächlich für diese hohe Produktivität war das in Frankreich gewonnene neue nationale Selbst- und Sendungsbewusstsein des Verfassers. Moeller wollte Die Deutschen ausdrücklich als ein nationales „Erziehungsbuch“ verstanden wissen: „Als ein Buch, das die Nation zur Selbstbehauptung erziehen sollte. Als ein Buch, das aus der Geschichte eine Sendung folgerte.“9 Zugleich nahm er an, dass eine nachweislich patriotische Haltung die zuständigen Militärbehörden beschwichtigen könnte. Von Italien aus bat Moeller, unter Hinweis auf sein Werk Die Deutschen, welches für seine patriotische Gesinnung zeugen möge, ihm zu gestatten, die Dienstpflicht nachträglich abzuleisten. Dieser Bitte wurde stattgegeben, und so konnte er im Herbst 1907 wieder nach Deutschland zurückkehren. Dass man Moeller bei diesem Vorgehen kein vordergründiges taktisches Kalkül unterstellen kann, Werk und Leben auch in diesem kritischen Augenblick eine kaum aufzulösende Einheit bilden, zeigt ein letzter, die Freundschaft aufkündigender Brief an Richard Dehmel: „Nein, l. [lies ‚lieber‘], H. [lies ‚Herr‘], D [lies ‚Dehmel‘], nicht nur um meine Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen, suche ich bestimmte Ideen in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern weil sie kräftigst erlebt sind. Nur zu gut weiß ich, daß ich mir mit all dem, 5 6 7 8 9
Ebd., S. 309 f. Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (07.04.1908), in: Deutschlands Erneuerung, 8. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 326. Ebd., S. 326. Moeller van den Bruck, Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte, 8 Bde., Minden 1904–1910. Moeller van den Bruck an Friedrich Schweiß vom 16.02. 1920, zitiert nach: Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 31 f.
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was ich thue und schreibe, am allerwenigsten den Kreis zum Freunde mache, der in meinem Buche sehr unmißverständlich das offizielle Deutschland genannt ist. Keine Pfründe erwarten mich deshalb in Deutschland, wohl aber die zweijährige Gelegenheit, einen der undankbarsten Karakterkämpfe [sic] durchzuhalten, die in unserer Zeit möglich sind. Aber ich gehe zurück, weil ich niemand sehe, der in gewissen Dingen den Mund aufthut. Ich gehe zurück, weil ich fühle, wie ich in das führende Land der Gegenwart auch räumlich gehöre und ich ihm nur an Ort und Stelle wirklich dienstbar sein kann. Ich gehe zurück, weil ich [...] nicht will, daß Mensch und Idee sich nicht bei mir decken.“10
Mensch und Idee waren jedoch auch von Moeller nicht in hundertprozentige Dekkung zu bringen. Denn es ist fürwahr nicht ohne Ironie, dass eine labile Gesundheit Moeller van den Bruck daran hinderte, seine Dienstzeit vollständig abzuleisten. Die Briefe an den Gobineau- und Paul de Lagarde-Biographen Ludwig Schemann11 bezeugen ferner, dass sich Moeller im heimatlichen Umfeld als ein für völkische Positionen offener Weltanschauungsliterat neu zu positionieren suchte. In einem ersten erhaltenen Brief teilt er mit: „Ich hatte meinen Verleger angewiesen, Ihnen die neuen Bände der ‚Deutschen‘ zugehen zu lassen, weil ich mir sagte, daß ich wohl am ehesten noch bei Ihnen und in Ihrem Kreise Zustimmung finden würde. [...] Wenn Sie in Ihrem Kreise gelegentlich auf die ‚Deutschen‘ aufmerksam machen wollen, so danke ich Ihnen dafür bestens.“12
Entsprechend seiner Absicht beschrieb sich Moeller in den Briefen als ein Mahner und Volksführer sowie als Erzieher der deutschen Jugend13, dessen Stimme jedoch von niemanden gehört würde. Solange er sich nur mit Kunstproblemen beschäftigt habe, sei er gelesen worden, seine neueren Bücher jedoch, in denen er eine zunehmend nationalere und, wie er meinte, verantwortungsbewusstere Stellung eingenom10 11 12 13
Moeller van den Bruck an Richard Dehmel (02.01.1906), in: NL Richard Dehmel, SUB, DA: Br.: M 442. Briefe Moeller van den Brucks an Ludwig Schemann, in: Deutschlands Erneuerung. 18. Jg., Heft 6 u. 7., Juni und Juli 1934, S. 321–327 und 396–402. Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (05.7.1907), in: Deutschlands Erneuerung, 18. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 322. Dementsprechend: „[...] freilich sollte es gerade die Aufgabe eines deutschen Nationalismus sein: dafür zu sorgen, daß unser Volk solchen Stunden der Gefahr, wie wir sie hinter uns haben, überhaupt nicht mehr ausgesetzt wird. Das ist aber nur dann möglich, wenn der deutsche Nationalismus alle, die mit Bewußtsein Deutsche sind, beizeiten wirklich zusammenhält. Statt dessen jedoch scheint er mir schon eher im Begriff, den wichtigsten Bestandteil des Deutschtums geradezu auszuschließen: die Jugend, die junge Generation, alle, welche Anteil nehmen wollen an einer neuen und heute erst zukünftigen deutschen Kultur. Und da kommt mir denn ganz von selbst die Frage, ob der Nationalismus, wie wir ihn heute in Deutschland haben, nicht bloß ein Übergangsnationalismus ist, der überrannt, ersetzt, abgelöst werden muß von einer verjüngten, tieferen, geistigeren Nationalbewegung, die nicht bloß politisch sondern wirklich aus der seelischen Not unserer Zeit und unseres Volkes geboren!? Ob ich bei einem solchen Nationalismus ein Wort mitzusprechen haben würde, würde ich selbst nicht entscheiden. Jedenfalls bin ich, solange wir eine derartige Bewegung nicht haben, die nach meinem Sinn wäre, durchaus gerüstet, meinen Weg, soweit es sein muß, auch allein zu gehen“. (Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (31.01.1908), in: Ebd., S. 324 f.).
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men habe, würden „totgeschwiegen“.14 Trotzdem lasse sein „Lebenstempo“ keinen Pessimismus zu.15 Moeller zeigte sich davon überzeugt, dass er in Zukunft eine breite Leserschaft finden werde, da in seinen Büchern ein Halt gegen den als gefährlich empfundenen zeitgenössischen „Relativismus“ gegeben sei.16 Um Moeller einem größeren national gesinnten Publikum zu empfehlen, besprach Schemann Die Deutschen daraufhin im Hammer17, dem von Theodor Fritsch18 herausgegebenen Leitmedium der völkischen Bewegung. Überzeugt davon, dass „kein patriotischer und denkender Deutscher [...] sich der zwingenden Kraft“ des Werkes „entziehen können“19 würde, schloss Schemann seine überaus wohlwollende Rezension mit der Bemerkung, Die Deutschen sollten „in keiner Bibliothek derjenigen Vereine fehlen, die im deutschen Namen, das heißt in dem Sinne zusammengetreten sind, die höheren Anliegen und Aufgaben des Deutschtums zu pflegen“.20 Weil solche Würdigung eben kein Einzelfall war21, sind die Die Deutschen ein exponiertes Zeugnis für die von Stefan Breuer festgestellten Interferenzen zwischen Kulturreformbewegung und den Völkischen,22 nicht zuletzt deshalb, weil Moeller als Gründungsmitglied des völkisch-kulturrevoultionären Werdandi-Bundes23 nicht allein deren Erwartungshaltung zu bedienen trachtete.
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Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (22.01.1908), in: Ebd., S. 323. Vgl. Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (07.04.1908), in: Ebd., S. 327. Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (22.01.1908), in: Ebd., S. 323. Vgl. Michael Bönisch, Die „Hammer“-Bewegung, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, (hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht), München 1999, S. 341–365. Fritsch (1852–1933) gilt heute als „Galionsfigur des rassisch begründeten und argumentativen Antisemitismus wie des völkischen Antisemitismus.“ (vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 57 ff.). Seinen zweifelhaften Ruhm begründete er durch die 1887 zunächst als AntisemitenCatechismus verbreitete, von der 27. Auflage (1910) an Handbuch der Judenfrage betitelte Hetzschrift, deren 49. und letzte Auflage 1944 erschien. Zum bekannten völkischen Propheten avancierte Fritsch mit der zur Jahreswende von 1901 auf 1902 in Leben gerufenen Zeitschrift Hammer, die zunächst monatlich, seit 1903 halbmonatlich erschien. Ludwig Schemann, Ein neuer deutscher Herold, in: Hammer. Blätter für deutschen Sinn, 7. Jg., Nr. 140, 15.04.1908, S. 225–232, hier 227. Ebd., S. 232. Auch die Redakteure der Alldeutsche[n] Blätter stellten erfreut fest, dass der Verfasser der Deutschen „bei einer so deutschen Weltanschauung geendet ist, wie sie nur irgendeiner geprägt haben könnte, der unserem engsten Kreise angehört“ (P. S., Die Deutschen, in: Alldeutsche Blätter (hg. vom Alldeutschen Verbande), 21. Jg., Nr. 23, 10.06.1911, S. 197). Vgl. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 98 f. Vgl. Volker Weiß, Dostojewskijs Dämonen. Thomas Mann, Dimitri Mereschkowski und Arthur Moeller van den Bruck im Kampf gegen „den Westen“, in: Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie (hg. von Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul), Münster 2005, S. 90–122, hier 92.
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4.1. „Die Deutschen“ 4.1.1. Zur Einführung Dass Geist und Geschichte eines Volkes am deutlichsten in der Geschichte seiner großen Männer zum Ausdruck kommen und umgekehrt der Geist eines Volkes seine großen Männer prägte, war damals eine weitverbreitete Ansicht, und so war Moellers Versuch, die Geschichte Deutschlands in 60 biographischen Essays über führende Staatsmänner, Denker und Künstler nachzuzeichnen, eigentlich nichts Außergewöhnliches.24 Ungewöhnlich war es jedoch, diese Aufsätze nicht chronologisch, sondern auch nach psychologischen und nationalhistorischen Gesichtspunkten und damit wertend zu ordnen. Moeller teilte die großen Deutschen in sieben charakteristische Typen ein, denen er je einen Band widmete. So enthielt der erste Band mit dem Titel Verirrte Deutsche (1904) die Kurzbiographien von acht „verirrten“ Deutschen, von Johann Christian Günther, dem Dichter des frühen 18. Jahrhunderts, bis zu dem jüngst verstorbenen Dichter Peter Hille.25 Die weiteren Bände tragen die Titel Führende Deutsche (1906)26, Verschwärmte Deutsche (1906)27, Entscheidende Deutsche (1907)28, Gestaltende Deutsche (1907)29, Goethe (1907), Scheiternde Deutsche (1909)30 und Lachende Deutsche (1910)31. Goethe war ein gesonderter Band gewid24
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Als eine Art Nachbetrachtung kann der Aufsatz Die großen Völker und die großen Männer gelten. Darin formulierte Moeller unter anderem: „Eine Nation ist immer genauso genial, wie ihre Genies genial sind. Nur wüßten wir ohne die Genies nichts von der Genialität der Nation, doch umgekehrt hat auch das Genie die geniale Nation nötig, wenn es nicht ohne Boden und Ausgang sein soll, und es muß sich von ihr getragen und unterstützt fühlen, wenn es wirken will“ (Moeller van den Bruck, Die großen Völker und die großen Männer, in: Der Tag, 28.06.1910). Dazwischen finden sich die Porträts von Reinhold Lenz, Maximilian Klinger, Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner und Hermann Conradi. Das sind Ulrich von Hutten, Martin Luther, der Große Kurfürst, Friedrich Schiller, Otto von Bismarck und Friedrich Nietzsche. Das sind Meister Eckhart, Theophrastus Paracelsus, Jakob Böhme, Angelus Silesius, Friedrich Hölderlin, Novalis, Gustav Theodor Fechner und Alfred Mombert. Das sind Friedrich der Große, Johann Joachim Winckelmann, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant, Friedrich Gottlieb Fichte und Helmuth Graf von Moltke. Das sind Karl der Große, Friedrich der Zweite, Heinrich der Löwe, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Meister Wilhelm, Albrecht Dürer, Hans Holbein d. J., Lucas Cranach d. Ä., Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Sebastian Bach, Friedrich Gottlieb Klopstock, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Theodor Däubler. Das sind Armin, Alarich, Friedrich der Erste (Barbarossa), Maximilian der Erste und der Freiherr vom Stein. Das sind Matthias Grünewald, Rembrandt, Johann Jakob von Grimmelshausen, Hans Sachs, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Arnold Böcklin und Detlev von Liliencron.
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met, weil sich in ihm die deutschen Wesenszüge harmonisch vereint hätten. In diesem Sinne heißen die einzelnen Kapitel der Verirrte, der Führende, der Verschwärmte, der Entscheidende und der Gestaltende. Die Serie ist geprägt von einer Heldenverehrung, für die unter anderem Carlyles On Heroes, Hero-Worship and the Heroes in History (dt. Über Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte, seit 1853) und in Emersons On Representative Men (dt. Repräsentanten des Menschengeschlechts, seit 1895) vorbildlich waren. Ferner spielt Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher für die Konzeption von Die Deutschen eine nicht zu unterschätzende Rolle.32 In diesem sonst gänzlich unsystematisch gehaltenen Werk war Moellers Projekt überraschend präzise zusammengefasst. Hier heißt es: „Wenn man eine vergleichende Uebersicht sämmtlicher unveränderlicher Eigenschaften eines Volkes als einen Querschnitt seines Charakters bezeichnen kann, so darf der zusammenfassende Ueberblick über die Schaar Männer, welche diese genannten Eigenschaften im Laufe der Geschichte hervorragend entwickelt und veranschaulicht haben, als ein Längsschnitt eben dieser Volksindividualität angesehen werden. Jener Querschnitt ist von abstrakter, dieser Längsschnitt von praktischer Art; er stellt bildlich gesprochen, den Ahnensaal des betreffenden Volksgeistes dar; jede Eigenschaft des letzteren findet hier einen Hauptvertreter oder deren mehrere; die Tugenden wie Fehler eines Volks werden im Laufe der Geschichte zu Menschen. So auch bei den Deutschen.“33
Die Summe der so versammelten Charakterzüge ergebe letztlich „die geistige Volksphysiognomie“, welche man befragen müsse, „wenn man über die Aufgaben und vorbestimmten Schicksale eines Volks genaue Auskunft haben will“.34 So gesehen, vollzog Moeller in jedem Band der Deutschen einen Längsschnitt und in der Summe der Bände einen Querschnitt durch das deutsche Volk und seine Geschichte. Ziel seiner Bemühungen war eine vermeintlich repräsentative Volksbiographie. Weiterhin lässt sich sagen, dass sich Moeller weniger für die konkreten historischen Ereignissen als für deren Sinnhaftigkeit interessierte. Da er die Hermannschlacht, die Reformation, den Aufstieg Preußens und die Kriege um die Reichseinigung so miteinander verknüpfte, dass sich auch Aussagen über die Zukunft tätigen ließen35, erweisen sich Die Deutschen als Versuch einer mythologisierenden natio32
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In die Zeitgenossen beschrieb Moeller Langbehns den „Einfluß des Blutes“ berücksichtigende Deutung der historischen Vergangenheit als vorbildlich, stellte ihn in eine Reihe mit den als „Pfadsucher und Wegbahner“ einer neuen Geschichtsschreibung bezeichneten Herder, Gobineau, und Chamberlain (Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 103 ff). Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 16. Aufl., Leipzig 1890, S. 5. Ebd., S. 6. So schrieb Moeller beispielsweise: „Unsere Vergangenheit besitzt keine zeitliche und räumliche, sie besitzt bereits eine geistige und übersinnliche Bedeutung für uns und gehört der Welt des Ewigen, Unverlierbaren, Unsterblichen an. Sie bestimmt unser Geschick von innen, und je vertrauter wir uns mit ihr machen, desto vertrauter werden wir auch mit uns selbst werden. [...] Sie enthält das Wesen des Deutschen. Sie ist unser eigner Inbegriff, der nun Geltung hat für alle Zeiten. Und in ihre Möglichkeiten schließt sie bereits jenen Neuen Deutschen ein, der ganz das zu sein sucht, was wir heute von Deutschland aus sein können: Menschen der Macht, Begeisterung, Unsterblichkeit“ (Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 298).
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nalen Geistesgeschichtsschreibung.36 Die Funktion der Namen erschöpft sich in Die Deutschen nicht darin, Geschichten angehen zu lassen. Das Werk ist verlegen um das, was man Integration nennen könnte; Moeller scheute das Vakuum, und umfangreiche Namenkataloge tragen seit Homer und Hesiod das Stigma der Unfehlbarkeit. Nach Blumenberg schafft „[...] solcher Aufwand [...] das Zutrauen, daß die Welt wie die Mächte dem Autor bekannt sind. [...] Daß die Welt bewältigt werden könne, bringt sich zum Ausruck in der Anstrengung, die Lücke im Ganzen der Namen zu vermeiden, was nur heißen konnte: durch Übermaß als vermieden auszugeben.“37
Gleich den antiken Genealogien sind Moellers biographische Erzählungen zudem vor allem im Raum und in der Zugehörigkeit zum Volk und seinen Traditionen lokalisiert. Denn Moeller erzählte, wenn er von einem „weltgeschichtliche[n] Beruf“ 38 der Deutschen sprach, nicht einfach die eine oder andere Geschichte. Diese folgen zwar aufeinander, doch entsteht der Bezug erst durch die Titel der einzelnen Bände und die durch sie signalisierten politischen und kulturellen Vorstellungen, die die Antriebskräfte der Erzählungen ausmachen.39 Werke eines Volkes, so Moeller, „[...] sind wie die Jahres- und Jahrhundertringe, die das Volk in mächtigem Wachstum ansetzt. Wenn man sie einzeln betrachtet, so mag man wohl glauben, daß sie ganz verschieden voneinander sind, daß ein Herrscher hier, ein Dichter dort, und hier wieder ein Denker 36
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Das durch das „Entlastungsbedürfnis“ (vgl. Ernst Topitsch, Mythos Philosophie Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969, S. 17) begründete Bemühen, den Sinn eines Ereignisses durch eine Erzählung zu bestimmen, wird heute von allen maßgeblichen Autoren als konstituierendes Merkmal des Mythos anerkannt. Hans Blumenberg schreibt vom „Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten [...]. Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht. [...] Alles Weltvertrauen fängt an mit dem Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen“ (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 40 f). In Hinblick auf diese „Sinn“-Kategorie bestimmt Herfried Münkler die Differenz zwischen historischem Bericht und politischem Mythos wie folgt: „Der politische Mythos unterscheidet sich vom historischen Bericht auch wenn beide nicht sauber zu trennen sind [....] – darin, daß es ihm weniger um das Ereignis als solches, sondern mehr um die Sinnhaftigkeit des Vorgangs geht. In politischen Mythen überlieferte Anfänge sind mehr als bloße Anfänge in der Zeit; sie enthalten Sinnversprechen, durch welche die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden wird, und zwar so, daß die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft verweist. So wird der politische Mythos, der ein vergangenes Ereignis beschwört, zum Garanten der Zukunft. [...] Indem sie [die Mythen] Vergangenheit und Zukunft verbinden, erheben sie die Gegenwart über sich selbst. Sie stiften Sinn, und sie schaffen so Identität im Sinne von Zugehörigkeitsempfinden zu einem politischen Verband“ (Herfried Münkler, Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen. In: Wolfgang Frindte (Hg.), Mythen der Deutschen, Opladen 1994, S. 21). Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 47. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 296. Vgl. Jean Pouillion, Die mythische Funktion. In: Mythos ohne Illusion. Mit Beiträgen von Jean-Pierre Verant, Marcel Detienne, Pierre Smith, Jean Pouillion, André Green und Claude Lévi-Strauss, Frankfurt a. M. 1984, S. 68–82, hier 69.
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und dort ein Bildner, nur wenig oder nichts miteinander gemeinsam haben. Aber wenn man sie dann in ihrer Gesamtheit überschaut, so erkennt man, daß sie alle doch nur Äußerungen desselben Wachsens sind, und daß ein Volk, so, wie es nur eine Geschichte hat, auch trotz aller Wandlungen nur einen Stil und nur eine Weltanschauung besitzt und auch immer nur eine Art von Menschen hervorbringt.“40
Ferner kennzeichnet das nationalpädagogische Bemühen der Versuch, den einzelnen Personen feste Eigenschaften zuzuweisen. Verirrte Deutsche, Führende Deutsche, Verschwärmte Deutsche, Entscheidende Deutsche, Gestaltende Deutsche, Scheiternde Deutsche und Lachende Deutsche sollten das Wesen des Deutschen umschreiben, das begrifflich so schwer zu fassende Deutsche dingfest machen, wie es nach Moeller in der Person Goethes geschehen war. „Goethe ist Deutschland“41, schrieb Moeller und gab damit seinen deutschen Lesern zu verstehen, dass sie als „das Volk der Zukunft“42 über eine außeralltägliche Befähigung, eine besondere nordisch-deutsche Geistigkeit, ein nationales Charisma verfügten.43 Der charismatischen Verklärung der Nation wurde dabei nicht zuletzt dadurch Vorschub geleistet, dass Moeller eine Vielzahl großer Deutscher als Exponenten von Kräften völkischer Art porträtierte. So nannte er beispielsweise Meister Eckhart den „großen Philosophen eines germanischen Jesustums“44, was nur heißen konnte, dass dessen religiöse Virtuosität ebenso außerordentlich wie typisch deutsch sei. Diese Eigenschaft wie andere in den Feldern von Wissenschaft, bildender Kunst, Literatur und Politik deutliche Qualitäten der Deutschen schienen Moeller jedoch nicht allein Gnadengabe einzelner „Großer“, der sie durch Abstammung automatisch teilhaftig wurden. Die außerordentlichen Fähigkeiten waren für ihn durch Erziehung für alle Deutschen erwerbbar, so dass sich mit Max Weber Die Deutschen auch als Beitrag zur charismatischen Erziehung der Deutschen qualifizieren lassen.45
40
Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 9. Moeller van den Bruck, Goethe, Minden 1907, S. 10. 42 Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 163. 43 Daß in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg „völkische Sektierer und Propheten, Demagogen und Literaten, verkrachte Künstler und Professoren mit Welterlösungsambitionen“ aus der deutschen Nation eine „charismatische Instanz“ (S. 132) zu machen trachteten, die Nation darüber hinaus prinzipiell zum Gegenstand der „charismatischen Verklärung“ (S. 110) werden kann, bestätigt Stefan Breuer (vgl. Stefan Breuer, Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 110 ff). 44 Moeller van den Bruck, Verschwärmte Deutsche, Minden 1906, S. 13. 45 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, in: Max Weber Gesamtausgabe (hg. von Horst Baier, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann) Bd. I/22-4, Tübingen 2005, S. 530 f. 41
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4.1.2. „Verirrte Deutsche“ Liest man die Titel der einzelnen Bände, so scheint es bis zum Band über Goethe eine Systematik zu geben, nach der dieser die Zusammenfassung des Ganzen bildet, während die beiden letzten Bände nur hinten angeschlossen sind. Liest man hingegen den Titel des Ganzen, so fallen einem sofort Namen ein, die man im Inhaltsverzeichnis der Deutschen vermisst: Wieland, Kleist, Hegel, Schopenhauer, die Brüder Grimm etc. Anderseits findet man einige, die man darin überhaupt nicht erwartet hätte: Conradi, Hille, Fechner, Mombert, Däubler. Das Unternehmen wäre, nimmt man den Titel als Anspruch, nicht befriedigend ausgeführt. So hat es auch der Autor empfunden, der in einem Brief an Ludwig Schemann schrieb: „Der Band der ‚Gestaltenden‘, der jetzt von Karl dem Großen bis Dehmel geht, hat dadurch etwas Groteskes bekommen. In einer späteren Gesamtausgabe werde ich ihn mit Wagner schließen lassen. Das Nietzschekapitel dagegen will ich von Bismarck weg und an den Schluß des ganzen Werkes rücken: hier soll ‚Nietzsche‘ dann Band VII. und VIII. (‚Scheiternde‘ und ‚Lachende‘) gerade so zusammenfassen, wie ‚Goethe‘ I. bis V. zusammenfaßte.“46
Gleichwohl ist in dem Werk der Wille zur Ordnung des gewaltigen Stoffes zu erkennen, zumal jedem Band eine Einleitung vorangestellt ist, durch welche die jeweiligen Deutschen typisiert und auf einen Begriff gebracht werden sollten.47 Moeller selbst hat seine Gliederung kaum kommentiert. Nur im siebenten Band findet sich ein Hinweis, der zumindest im Hinblick auf den Aspekt der nationalen Geschichtsschreibung einige Klarheit bringt. Nach diesem seien die Führenden Deutschen – Ulrich von Hutten, Martin Luther, der Große Kurfürst, Friedrich Schiller, Otto von Bismarck, Friedrich Nietzsche – von den Entscheidenden – Friedrich der Große, Winckelmann, Lessing, Herder, Kant, Fichte, Moltke – durch ihr Temperament geschieden. Führende Deutsche wären die, welche „in stürmischem Auftreten dem Volke die Bahn brachen und es unmittelbar heranführten an die Ziele, die sie selber gesteckt hatten“, während die Entscheidenden dieses „nicht aus überströmender Fülle und brausenden Blutes, sondern aus kalter mehr als heißer Leidenschaft“ getan hätten.48 Unnötig zu sagen, dass Moellers Sympathien eindeutig bei den Führenden Deutschen lagen. Den politisch Gestaltenden Deutschen, also Karl dem Großen, Friedrich II. und Heinrich dem Löwen, wäre hingegen gemeinsam, „daß sie in 46
Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (05.03.1910), in: Briefe Moeller van den Brucks an Ludwig Scheman, in: Deutschlands Erneuerung, 18. Jg. Heft 7, Juli 1934, S. 396–398, hier 397 f.
47
Die Titel der Einleitungskapitel lauten: Vom Deutschen und Problematischen (Verirrte Deutsche), Vom Dogmatischen (Führende Deutsche), Vom Mystischen (Verschwärmte Deutsche), Vom Kritischen (Entscheidende Deutsche), Vom Monumentalen (Gestaltende Deutsche), Vom Universalen (Goethe), Vom Tragischen (Scheiternde Deutsche) und Vom Humoristisch-Herorischen (Lachende Deutsche).
48
Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 245 f.
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ihrem Werk [...] bereits ein Ganzes voll und rund gestaltet in die Geschichte hineingaben“. Dieses „Ganze“ wiederum verband sie für Moeller mit Bismarck, während die Scheiternden – Armin, Alarich, Friedrich der Erste, Maximilian der Erste, Freiherr vom Stein – durch das „Bruchstückartige“ ihres Tuns scharf von diesem „Ganzen“ geschieden schienen.49 So bemühte sich Moeller um eine die Gliederung kommentierende Systematik, nach der die Scheiternden Deutschen „immer den Zusammenbruch und Abschluß einer geschichtlichen Entwicklung“ und die „Führenden und Entscheidenden [...] immer den Wendepunkt zu einer neuen Entwicklung“ bedeuteten, wogegen „die Gestaltenden [...] erst recht eine neue Entwicklung“ an ihrem „siegreichen Anfang oder auf der gewonnenen Höhe“ zeigten.50 Diese Systematik hatte jedoch nur den Zweck, aus Bismarck die zentrale Gestalt und die Reichseinigung zum wichtigsten Ereignis in der politischen Geschichte Deutschlands zu machen: „Bismarck aber ist Führender und Gestaltender zusammen gewesen, weil sein Werk Wendepunkt und Anfang zugleich war.“51 Über die Männer des Geistes und die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft sagt sie nichts. Nur in Bezug auf Hutten, Luther und Schiller wurde die These gewagt, sie hätten mit Bismarck das Temperament geteilt. Es war dem Autor offenbar nicht möglich, die Prinzipien seiner Systematik zu erklären. Gliederung und Typisierung der Deutschen waren augenscheinlich der Tatsache geschuldet, dass die deutsche Geschichte kein einheitliches Ganzes ist und sich die Biographie des Volkes nicht in einem Strang erzählen ließ. Einige vom Verfasser geschätzte Deutsche, deren biographische Erzählungen nicht in den durch die kleindeutsche Reichseinigung beschlossenen Hauptstrang integriert werden konnten, wurden daher als Verirrte, Verschwärmte und Lachende Deutsche mit willkürlich gewählten Attributen belegt und in diesen auf den ersten Blick abseitigen Bänden gewürdigt. Dabei ist es kein Zufall, dass Moeller seine Serie mit einem solchen abseitigen Band begann. Fühlte er sich doch zu den in den Verirrten Deutschen vorgestellten „Problematiker[n]“52 besonders hingezogen53. Darüber hinaus bot diese Zusammenstellung die Möglichkeit, die Notwendigkeit der „Erziehung zur Nation“54 an ausgesuchten Beispielen zu demonstrieren. Verirrte Deutsche seien demnach ausschließlich Schriftsteller, die
49 50 51 52 53
54
Ebd., S. 246. Ebd. Ebd., S. 246 f. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 9 ff. wie seine Publizistik zeigt, Vgl. Arthur Moeller-Bruck, Grabbe und was von ihm bleibt, in: Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst, 2. Jg., Heft 3, Dezember 1901, S. 14–20; Georg Büchner, in: Die Rheinlande, 4. Jg., Heft 3, Dezember 1902; J. M. R. Lenz, in: Die Kultur, 1. Jg., Köln, Heft 23, Juni 1903, S. 1468–1476. Titel einer 1911 erschienenen Broschüre Moellers: Moeller van den Bruck, Erziehung zur Nation. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 13, Berlin 1911.
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„das Neue ihrer Zeit und den Sinn ihres Volkes suchten, ohne mehr als im besten Falle seine Zukunftszüge zu finden. [...] sie sahen um sich die Einheit nicht, in der sie selbst zu einer persönlichen Einheit auswachsen konnten, und so zerfielen sie in Zweiheit und Vielheit [...] und gingen zugrunde darüber.“55
Die fehlende staatliche Einheit wie auch die Abwesenheit des von ihm angestrebten genuin deutschen Regelsystems war somit mitverantwortlich dafür, dass die hier vorgestellten Schriftsteller zu „Lebensproblematikern“56 geworden seien. Das Schicksal, ihre dichterische Begabung mangels national-ästhetischen Rahmens nicht entfalten, ihr Leben nicht mit einem großen Werk krönen zu können, haben laut Moeller Johann Christian Günther, Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Maximilian Klinger miteinander geteilt. In diesem Sinne deutete er Klingers Lebenslauf57: „Er ist nicht zerschellt auf seiner abenteuerlichen Fahrt durch das Leben, aber die Sonne, zu der er kam [...], war eine Hofsonne und keine Menschheitssonne. Doch männlich, heldisch [...] hat er sein Schicksal getragen und auch sonst noch, als Mensch, das Beispiel eines echten Deutschen gegeben.“58
Wurde das Verirrte und Problematische im Falle von Günther, Lenz und Klinger noch als Folge vor allem äußerer Störungen gedeutet, so waren die „problematischen“ Dichter des neunzehnten Jahrhunderts für Moeller bereits auch aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Schon bei Christian Dietrich Grabbe59, stärker noch bei Georg Büchner, habe die nationalästhetische Obdachlosigkeit Auswirkungen bis hinein in die Persönlichkeitsstruktur und Lebensführung. So hob Moeller hervor, dass Büchner „sehr früh schon schwere krankhafte Züge“60 bekam. Da mit ihm „das Neurasthenische, das Problematische in unserem heutigen und mehr pathologischen Sinne des Wortes in den Problematiker kommt“61, markiert Büchners Leben und Werk für Moeller den Punkt, an dem die formale Schwäche der als Problematiker klassifizierten Dichter, ihre Unfähigkeit, eine repräsentative und identitätsstiftende Kunst hervorzubringen, Teil des nationalen Habitus zu werden droht. Zwar sei die Erzählung Lenz (1839) ein richtungsweisendes Werk62, „doch mischte sich, seltsam und unheimlich zugleich, auch in diesem nervösen Lyrismus des Naturforschers [...] etwas 55 56 57
58 59 60 61 62
Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 12 f. Ebd., S. 9. Vom Leben als Theaterdichter enttäuscht trat Klinger 1780 in russische Dienste ein. Hier war er zunächst Vorleser, dann Ordonanzoffizier und Leutnant im Marinebataillon beim russischen Thronfolger Großfürst Paul. Nicht zuletzt durch familiäre Unterstützung wurde er zum Generalmajor befördert und diente zeitweise im Ministerium für Volksbildung. Ab 1803 war er Kurator des Schulbezirks Dropat (heute Tartu) in Estland, bis er 1816 im Zuge der beginnenden Restauration seines Amtes enthoben wurde. In der Folge zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Klinger starb 79-jährig am 25.02.1831 in Dorpat. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 92. Vgl. ebd., S. 112 f. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 129.
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vom Pathos des Revolutionärs, der prometheisch in sie hineinzürnte“.63 Diesem revolutionären Pathos wie auch dem politischen Engagement Büchners stand Moeller jedoch distanziert gegenüber. Da er die Revolution von 1848 nur als „Scharmützel und Zwischenspiel“ sah64, war ihm auch die als „agitatorisch[...]“65 abqualifizierte Kunst Büchners durchaus entbehrlich: „Der Dichter Büchner [...] kann uns den Zeitgeist von damals zeigen [...]. Aber Entwicklungen unmittelbar veranlaßt [...] hat der Dichter Büchner nicht. Wir können uns die Entwicklungen der deutschen Dichtung eben ohne ihn vorstellen und mit ihm – das wäre gleichgültig.“66 Ferner weist auch Moellers Zusammenfassung der Geschichte der Verirrten Deutschen darauf hin, dass er das nach seiner Ansicht so typisch deutsche Wesensmerkmal des Problematischen für historisch bedingt, sein Auftreten nach der Gründung des Bismarckreiches als nicht mehr zeitgemäß betrachtete. „Die Problematik“ sei „wie eine Kraft gewesen, die aus dem Deutschtum brach, als es von sich selbst aus seine Ausbreitung in die Welt noch nicht finden konnte. Jetzt nahm diese Kraft in demselben Maße ab, in dem das Deutschtum wieder erstarkte.“ Kraftvoll und kämpferisch seien noch Günther und Klinger gewesen. „Lenz, obwohl schwächlich als Mensch, griff doch wenigstens als Künstler kräftig ins Leben“ und Grabbe „ließ sich als Mann von inneren Verwüstungen brechen“67. Büchner hingegen sei schon „mehr Grübler als Kämpfer“ und Conradi, obwohl wieder ein „Kämpfer, [...] versagte vor dem eigentlichen Leben“. Peter Hille schlussendlich „schlich nach eigener und freier Wahl nur noch wie ein Schatten des Prometheus dahin. So endete die Problematik [...] im völligen Verzicht auf das Leben.“68 Jedoch entdeckte Moeller, da er Hermann Conradi zugestand, einen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Dichtung geleistet zu haben, einen für ihn bemerkenswerten Unterschied. Als „Übergangsmenschen“69 wurde ihm eine „Wendung zum Nationalen“ bescheinigt, ein „Schritt, den Conradi aus seiner Generation heraus in die Zukunft tat“.70 Für Moeller ist Conradi daher gemessen an seinem tragischen Schicksal (vgl. 2.2.2.) zwar ein verirrter Deutscher, als „Persönlichkeit“ jedoch sei er „mehr ein führender Charakter, [...] den der Drang niemals ins Blinde zog“.71 Solch Urteil lässt erkennen, dass die Verirrten Deutschen der zweifellos persönlichste Band der Serie sind. Ein Werk des Übergangs ist das 1904 entstandene Buch vor allem deshalb, weil der einmalig als „Arthur Moeller van den Bruck“ zeichnende Autor mit der eindeutigen „Wendung zum Nationalen“ auch die eigene Problematik aufgehoben sah. Gegenüber Ludwig Schemann bekannte er:
63 64 65 66 67 68 69 70 71
Ebd., S. 131. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 124. Ebd., S. 132. Ebd., S. 167. Ebd., S. 167 f. Vgl. ebd., S. 162. Ebd., S. 160. Ebd., S. 147.
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„Unsere Zeit ist ratlos. Vieles verkümmert, vieles verkommt. Unverarbeitete geistige und wirtschaftliche Gewalten schieben die Massen, ohne daß die Einzelnen da wüßten: warum? Und wohin? Und hier suche ich mit meinen Büchern [„Die Deutschen“] wenigstens den Deutschen da einen festen Anschluß zu geben, wo ich ihn selbst gefunden habe: im unverlierbaren und bis heute wenigstens immer noch siegreichen Wesen unserer Volklichkeit, in dem einen und gewissen Geiste, mit dem wir auch die neuen Konflikte und Dilemmen wohl wieder herbeizwingen werden. [...] Auch ich habe, und gerade als moderner Mensch, schwankend gestanden, dort wo heute unsere Jugend steht und vor lauter Relativismus keinen Halt mehr sieht. Sollten die Menschen nicht da ihren Halt wieder finden können, wo ich ihn gefunden? Das ist die Frage, die mich noch bei jedem Bande geleitet hat.“72
Bezogen auf die gesamte Serie stellt „Arthur Moeller van den Bruck“ in den Verirrten Deutschen also die Diagnose, dass die Dilemmata zeitgenössischer Schriftsteller lediglich aus der Abwesenheit nationalen Geistes resultierten. Die von dem Selektionsoptimisten „Moeller van den Bruck“ verfassten Bände der Deutschen können somit in Anlehnung an die von Ferdinand Avenarius entworfene Programmatik (vgl. 1.) auch als eine Therapie für Das Zeitalter der Nervosität (Radkau) und den diesem verloren gegangenen historischen Blick gelesen werden.
4.1.3. Geschichtsbewusstsein und Gründungsmythos Konstituierend für die Zusammenstellung der biographischen Erzählungen in Die Deutschen ist ein Geschichtsbewusstsein, nach dem Moeller im „jungen“ deutschen Volk den legitimem Erben Roms, d.h. in einem homogenen deutschen Nationalstaat auch den „berufen[en]“73 Nachfolger des Römischen Reiches sah. Darauf bezogen markiert die biographische Erzählung mit dem historisch ältesten Gegenstand, markiert das Porträt Armins (Moeller verwendet weder die lat. Form Arminius noch die verdeutschte Variante Hermann) mehr als einen bloßen Anfang in der Zeit, der umstellt ist von der Kontingenz des Geschehens: Das von Armin herbeigeführte Ereignis, der Sieg der mit den Nachbarstämmen vereinigten Cherusker über ein römisches Heer in der Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.), schien dem Verfasser der Beginn einer sinnhaften Entwicklung, in welche die Gemeinschaft der Deutschen bis in die Gegenwart des Wilhelminischen Reiches und darüber hinaus eingebettet blieb. Bemerkenswert dabei ist nicht die Positionierung des Cheruskerfürsten als erster Held in der Geschichte des deutschen Volkes74, sondern die Art und Weise wie Moeller diesen Gründungsmythos der Deutschen erzählte und wie er auf die nachfolgenden Erzählungen bezogen wurde. Konstituierend für Moellers Armin ist, dass der Protagonist als Scheiternder Deutscher (Titel des siebenten Bandes der Serie) behandelt 72 73 74
Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann, Berlin, den 22.01.1908, in: Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk, 8. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 323. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 1. Zur Geschichte der literarischen Bearbeitung des Arminiusstoffes von Ulrich von Hutten (Arminus, 1529) bis Paul Albrecht (Arminus Sigurfried, 1935) Vgl. Elisabeth Frenze, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 8. Aufl., Stuttgart 1992, S. 61–64.
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wurde, da seiner Befreiungstat nur ein temporärer Erfolg beschieden gewesen sei. Zwar endete der römische Herrschaftsraum hiernach am linken Rheinufer, doch sei es Armin versagt geblieben, eine Nation zu begründen: „Auf Armins Bahn lag die militärische, politische und in dem Grade, in dem das schon möglich war, auch die kulturelle Erziehung der Nation zu einer Rom ebenbürtigen Macht.“75 Im Detail zeigt sich dann, dass sowohl der militärische Sieg als auch das als vorläufig deklarierte Scheitern für Moeller durch die Lebensweise und den dieser zugrundeliegenden Volkscharakter der Germanen begründet waren. Die „angeborene[...] Kampffreudigkeit“76 habe das unstete Leben der Germanen ebenso bestimmt wie ihre „Sonderbündelei und Eigenwilligkeit“.77 Insbesondere Letzteres wirkte sich nach Moeller nachteilig auf die Geschicke des seiner Ansicht nach „individuellste[n] Volk[es] der Welt“78 aus, indem es ursächlich für seine „Uneinigkeit“79 war. In Moellers Armin-Erzählung hatte ein junger, „barbarisch schöne[r] [...], von einer großen Begeisterung entzündet[er] Führer“80 diese Uneinigkeit in einem entscheidenden historischen Augenblick überwinden und einem scheinbar überlegenen Gegner eine folgenreiche militärische Niederlage beibringen können. Dass die im Kampf vereinten germanischen Stämme zu „einer Rom ebenbürtigen Macht“81 wurden, regte Moeller zu der Aussage an, dass „die geschichtliche Entwicklung [...] später gezeigt [hat], daß wir mit diesem Kämpfertum weiter kommen und uns länger in Nationen und Kulturen erhalten sollten, wie die anderen arischen Stämme“.82 Mit anderen Worten, seit Armin war es im Grunde gewiss, dass die staatliche Uneinigkeit Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert nicht durch eine Revolution und nicht durch die Konstitution einer bürgerlichen Republik, sondern nur durch einen charismatischen Führer und durch einen erneuten Krieg erfolgreich überwunden werden konnte. In diesem Sinne kennzeichnet Moellers ArminErzählung, wie alle mythischen Ursprungserzählungen, ein Wegerzählen des Schrekkens der Kontingenz, der Furcht vor Scheitern und Misslingen, der Drohung der Vergeblichkeit und des schließlichen Untergangs des germanischen Rasse und des deutschen Volkes. Diese Erzählung versichert, dass die historischen Ereignisse nicht zufällig, sondern notwendig vonstatten gingen und dass sie mehr waren als bloße Ereignisse, dass ihnen eine heilsgeschichtliche Dimension eigen ist, dass Rom besiegt werden musste. Armin, so Moeller, „[...] bewahrte sie [die Germanen] davor, noch weiter [...] in Stämme und Stämmchen zu zerplittern. Er bereitete vielmehr jene größeren Bindungen zu festen Völkerganzen vor, in denen die Germanen hernach in den Völkerwanderungen hervortraten, um dann mit besserem Glück den ersten großen weltgeschichtlichen Beruf auf sich zu nehmen, der ihrer 75 76 77 78 79 80 81 82
Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 57. Ebd., S. 17. Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. Ebd., S. 55. Ebd., S. 21. Ebd., S. 57. Ebd., S. 19.
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harrte: aus der volklichen Überkraft ihres Mutterlandes heraus einem neuen Europa seine neuen Nationen zu geben. Ja, Armin suchte [...] fast schon eine spätere Entwicklung, eine, zu der wir heute erst den ersten Schritt getan haben, vorwegzunehmen: die zum Einvolk und zur Rassenation, die sich nicht wahllos an alle Länder verschwendet [...], sondern die von der festen Mitte eines Heimatlandes aus sich selbst beherrscht, und von sich aus schließlich die Welt.“83
Dabei evoziert die Armin-Erzählung das auf Tacitus zurückgehende Bild eines jugendlich vitalen Germanen, der, anders als sein Bruder Flavus84, nicht den Annehmlichkeiten und Verführungen der sich bereits im Stadium des „Verfalls“85 befindlichen römischen Zivilisation erlag, sondern sich instinktiv gegen diese auflehnte. Durch die Erfahrung der Minderwertigkeit der römischen Zivilisation und den Stolz auf die eigene prachtvolle Barbarenkultur motiviert, habe der zum Feind der Römer gewordene Cheruskerfürst mit der Vorbereitung des gerechten Aufstands begonnen. Erfolgreich sei dieser gewesen, weil der begabte und durch römische Offiziere militärisch geschulte Führer um die Stärken sowohl der Römer als auch der Germanen gewusst habe, die als Schwäche erkannte „blinde[...] Heldenwütigkeit“ der Germanen dämpfte und disziplinierte und somit die germanische Art zu kämpfen der römischen Taktik soweit angepasst hätte, dass ihre „natürliche Kampfesart [...] die geschickte Ausnutzung der heimischen Landschaft [...] denkbar steigerte“.86 In diesem Sinne bestehe „seine Bedeutung [....] ersichtlich darin, daß er [...] sich wieder abwandte von Rom und ganz ein Germane sein wollte. [...] was er wollte, war seinen Germanen eine Freiheit im eigenen Lande zu erkämpfen.“87 Die mit der Armin-Erzählung formulierte Erkenntnis, dass die Germanen, sofern sie einig und gut geführt mit den ihnen eigenen Mitteln und auf ihnen eigenem und bekanntem Terrain kämpften, den Römern, der größten und bestorganisierten Militärmacht, nicht nur ebenbürtig, sondern im entscheidenden Augenblick auch überlegen waren wie auch Moellers Deutung Völkerwanderung als ebenso „unwiderstehlich[en]“ wie „zu früh!“ erfolgten Eintritt der „Germanen in die Weltgeschichte“88 machen die Triebkräfte der Erzählung sichtbar, geben erste Hinweise auf Moellers Geschichtsbewusstsein. Demnach wollte Moeller zeigen, dass die Germanen/Deutschen den anderen europäischen Völkern zwar prinzipiell überlegen seien, dass sie diese Überlegenheit zu der ihnen gemäßen Vormachtstellung nur führen würde, wenn sie eine Nation seien, mit der sich möglichst alle ihr Angehörigen möglichst uneingeschränkt identifizierten. Unverzichtbar für eine deutsche Nation waren nach seiner Ansicht ein Nationalstaat, eine „autochthone“ deutsche Kultur und eine ebenso „autochthone Weltanschauung.“89 83 84 85 86 87 88 89
Ebd., S. 25 f. Vgl. bes. Tacitus: Annalen, 2. Buch, 9. Kapitel. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 33. Ebd., S. 39 f. Ebd., S. 25. Vgl. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 6 f. Vgl. ebd., S. 6 f.
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4.1.4. Christentum, Reformation und Gotik Zum Christentum hatte der Nietzscheaner Moeller bekanntermaßen ein ganz eigenes Verhältnis.90 Für den Nationalpädagogen Moeller war jedoch die Bestimmung als lebensfeindliche Religion91 nur einer von zwei Aspekten. Mindestens ebenso wichtig war ihm seine Verortung als ein national fremdes Element. So wurden in der ArminErzählung Christentum, Cäsarentum und Germanentum als die drei Mächte vorgestellt, „die schon sehr bald, und dann für Jahrtausende, um den Besitz der Welt und der Wahrheit kämpfen sollten“. In ihrem Gegensatz sollte nach Moeller „der Sinn der ganzen kommenden Geschichte liegen“.92 Zudem sei der Antagonismus zwischen dem Germanentum und dem Christentum durch die Institutionalisierung des Christentums und seine Ausformung zu einer auch weltlichen Macht in Gestalt der römisch-katholischen Kirche verstärkt. Mit der freiwilligen Unterwerfung des Nordens unter diese die nationalstaatliche Einigung hintertreibende Institution seien Moeller zufolge alle schöpferischen und politischen Potentiale, die die Germanen besessen haben, erst einmal unterdrückt worden: „Von dem Augenblicke an war den Germanen endgültig verwehrt, gleich anfänglich das zu werden, was wir heute etwa als Deutsche sind, sondern bestimmt, zunächst einmal etwas anderes, etwas National-Gleichgültiges zu sein: Christen nämlich. Von dem Augenblicke an war eine Macht auf der Erde am Werke, die mit ihrer Synthese alles, was in uns zur eigenen Synthese drängte, von außen zu erdrosseln verstand.“93
Diese Sichtweise ist ursächlich dafür, dass der Nationalpädagoge Moeller der Geschichte des Kampfes gegen Rom, der Befreiung von „lateinischer Entartung“94 mit der Hutten- und der Luther-Erzählung gleich zwei Kapitel der Führenden Deutschen widmet. Die herausragende nationalhistorische Bedeutung wird durch zwei schlichte Sätze gleich eingangs der Hutten-Erzählung illustriert: „Hinter uns lag das Germanische. Vor uns lag das Deutsche.“95 Mit anderen Worten: Für Moeller ist die deutsche Geschichte von einem nachträglichen Erwehren gegen das wesensfremde christliche Element geprägt.96 Das durch David Friedrich Strauß’ erfolgreiche Biographie97 beeinflusste Porträt Huttens war dabei unzweifelhaft von der Absicht bestimmt, den Reichsritter und (später) deutsch schreibenden Humanisten, den kaiserlich gekrönten Dichter und wortgewaltigen Verfasser deutscher politisch-reformatorischer Pamphlete, den Be-
90 91 92 93 94 95 96 97
Vgl. Stefan Breuer, Religion und Mystik bei Moeller van den Bruck, in: Revue d’Allemange et des pays de langue allemande, 32. Jg., Heft 2, April–Juni 2000, S. 289–298. Vgl. Moeller van den Bruck, Verschwärmte Deutsche, Minden 1906, S. 15. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 18. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 10. Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 6. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 6. Vgl. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 167–170. David Friedrich Strauß, Ulrich von Hutten, 2 Bde., Leipzig 1858.
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gründer des Arminius-Kultes98 und Hauptautor des zweiten Teiles der Dunkelmännerbriefe (im lateinischen Original: Epistoale obscurom virorum, 1517) als ersten neuzeitlichen Kämpfer für einen deutschen Nationalstaat und eine identitätsstiftende deutsche Nationalkultur zu würdigen. Mit ihm, so Moeller, „ging das deutsche Volk zum erstenmal seit langer Zeit wieder entschlossen den Weg zu einer deutschen Kultur – und gerade diesmal den zu einer wirklichen Gesamtkultur“.99 Ausgangspunkt der Erzählung ist eine Zeitdiagnose, nach der das deutsche Volk zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts kurz vor der finalen Katastrophe, seiner nationalen Auslöschung, gestanden habe: „Aus tausend Fehden blutete Deutschland, Not zog hindurch und Seuchen schleppten sich ein, Unheil lag in der Luft und in Angst und Grauen war die Zukunft verhüllt: schon erhoben sich allenthalben Prophetenstimmen und weissagten [....] das große Sterben. So schlimm wie jetzt hatte Deutschland noch niemals darniedergelegen.“100
Sinnbilder der existentiellen Krise waren demnach der Niedergang der kaiserlichen Zentralgewalt, der Aufstieg der römisch-katholischen Kirche zu einer dem Kaiser ebenbürtigen weltlichen Macht, vor allem aber ein im Zustand der Auflösung befindliches nationales Bewusstsein: „Deutschland [...] und mit ihm die germanische Welt beugte sich in dumpfer Ergebenheit vor solcher Allmacht, ließ es still geschehen, daß man ihm die Ablaßschergen ins Land schickte [...]. Nichts Kläglicheres, Unselbständigeres, Zurückgesetzteres, nichts in der Welt Verspotteteres und Verhöhnteres gab es in dieser Zeit, als ein Deutscher zu sein und zu dem einstmals stolzesten, freiesten, persönlichsten Volk der Welt zu gehören. [...] es war eine Schmach zu leben!“101
Huttens dauerndes Verdienst sei es, mit seinen politisch agitatorischen Schriften diesen Auflösungsprozess gestoppt und das deutsche Nationalbewusstsein begründet zu haben: „Er hatte sich zum ersten das Bewußtsein errungen ein Deutscher zu sein.“102 Seine besondere historische Leistung sei, den Kampf gegen die römisch-katholische Kirche nicht nur publizistisch initiiert, sondern als Ritter auch tatkräftig geführt zu haben. In diesem Sinne war Ulrich von Hutten zweifellos eine Ausnahmeerscheinung unter den Humanisten. Entsprechend seinen nationalpädagogischen Intentionen suchte Moeller diese Differenz zu den anderen, angeblich „national indifferent[en]“103 und „greisenhaft[en]“104 Humanisten – vermutlich Johann Reuchlin, Conrad Celtis, Conrad Mutianius Rufus, Erasmus von Rotterdam – durch die schon bekannte Dichotomie von „jung“ und „alt“ zu veranschaulichen und Hutten als Verkör98 99 100 101 102 103 104
Huttens-Arminius Dialog ist 1529 postum publiziert worden. Moeller erwähnt ihn nur kurz. (vgl. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 60). Ebd., S. 20. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26.
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perung des Zeitgeistes und beschleunigende Kraft der deutschen Geschichte vorzustellen, wobei er dessen Wirkung und politisch-strategische Leistungsfähigkeit überschätzte. Weder „sammelte sich die Jugend Deutschlands“105 um ihn, noch war es wahrscheinlich, dass er, der Ritter, mit seiner Vermahnunge an die freien vund reich stet deutscher nation (1522) ein Bündnis zwischen „gemeinen deutschen adel[...]“106 (sprich Ritterschaft) und dem städtischen Bürgertum zustande hätte bringen können. Zwar leuchtet das Kalkül Huttens ein, den Aufstand des niederen Adels gegen den Klerus durch die Gelder der Städte finanzieren zu lassen, doch war die von Moeller als möglicherweise tragfähig, vor allem aber als wünschenswert geschilderte Allianz von niederem Adel und Städten aufgrund divergierender ökonomischer Interessen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Namentlich Huttens Verbündeter und Schutzherr, Franz von Sickingen, lebte als gefeierter Soldritter seiner Zeit von Kriegen und Fehden, die den einträglichen friedlichen Handel des städtischen Bürgertums mehr belasteten als die von der Kirche erhobenen Abgaben.107 Wünschenswert aus Moellers Sicht war diese Allianz, weil Adel und Städte ihre partikularen Interessen hinter dem höheren der Nation zurückgestellt und durch einen erfolgreichen Aufstand gegen den Klerus einen ersten Beitrag zur Begründung eines deutschen Nationalstaates geleistet hätten. In diesem Zusammenhang wurden auch der schon vor Trier gescheiterte Aufstand108 und schließlich auch Huttens Werk als Teil einer sinnhaften Entwicklung vorgestellt, deren vorläufiges Ende die Errichtung eines Nationalstaates, die Gründung des Bismarckreiches sei: „Der Geist Huttens hat Recht behalten in Deutschland: [...] wir wissen es heute, nachdem endlich Wirklichkeit geworden, was von ihm aus nur ein Traum war.“109 Mit kaum einer Gestalt der deutschen Geschichte konnte sich der Autor der Deutschen so uneingeschränkt identifizieren wie mit Ulrich von Hutten. So sind Moellers große Sympathien für diesen „Deutscheste[n] aller Deutschen“110 nicht zuletzt durch dessen – der seinen ähnlichen – Biographie begründet. Moeller und Hutten sind nicht den ihnen von ihren Familien zugedachten Lebensweg gegangen. Beide haben als Journalisten und politische Schriftsteller Karriere gemacht. Beide lebten in zumeist unsicheren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. In diesem Sinne schrieb der Schulabbrecher, Literat und Nationalpädagoge Moeller über den fahrenden Ritter: „[...] modern war an Hutten alles. Modern war vor allem gleich sein erster Eintritt in die Welt: seine Flucht aus dem Kloster Fulda, in das ihn seine Eltern gesteckt hatten. [...] denn es war zugleich die Flucht des Humanismus vor der Scholastik, die Abkehr der neuen Weltanschauung von der alten, die Abwendung germanisch-athenienschen Geistes, [...]
105 106 107 108 109 110
Ebd., S. 28. Vgl. Ulrich von Hutten, Vermahnunge an die freien vund reich stet deutscher nation, in: Ulrichs von Hutten Schriften (hg. von Eduard Böcking), 3. Bd., Leipzig 1862, S. 529. Vgl. Karl Brandi, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, München 1969, S. 135 f. Vgl. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 54. Ebd., S. 32. Ebd., S. 17.
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kurz, es war die Flucht der Neuzeit von dem Mittelalter weg, der gehenden Zeit vor der zurückbleibenden, der Zukunft vor der Vergangenheit.“111
An dem später als „Kampfdenker“ bezeichneten Hutten112 schätzte Moeller vor allem seinen tragisch ausgehenden Kampf, das Pathos seiner Schriften und die zuweilen bis zur Selbstaufopferung gehende Begeisterung, mit der er sich auch für die Befreiung Deutschlands von „Rom“ einsetzte: „Ein übermenschlicher Eifer ist in dem blassen, schlanken Ritter mit dem brennenden Blick und den flackernden Händen. Dazu ein fruchtbarer Ernst: alles, was er tut, ist wie von einem Menschen im Augenblick der äußersten Entscheidung getan [...]. In diesem Sinne handelt es sich für Hutten um Deutschland oder Nicht-Deutschland.“113
In der zweiten, dem Kampf gegen Rom gewidmeten Erzählung wird dann aber betont, dass „Hutten mit der Begeisterung nur den größten, selbstlosesten, waghalsigsten Zug des Deutschtums besaß“, sein Zeitgenosse Martin Luther hingegen „unsere drei glücklichsten Züge“ nämlich „Schicksalsvertrauen, Heldenmut und Siegesheiterkeit in sich vereinigte“114. Aus solcher Bekundung folgt aber nicht, dass Moeller allen Aspekten des lutherschen Wirkens uneingeschränkt positiv gegenübergestanden hätte. Signifikant für sein ambivalentes Verhältnis zum Protestantismus ist, dass Moeller gegen die „anthropomorphisch[e] [....] Gottvorstellung“ Luthers einwandte, dass sie „nicht bis in das Zeitalter der Naturwissenschaften“ reiche würde.115 Moellers LutherErzählung ist von dem Problem bestimmt, den großen Reformator zwar als „Nationalhelden“116, als Inkarnation des Deutschtums vorstellen, positive Äußerungen zum Christentum aber vermeiden zu wollen.117 Dies führt dazu, dass der Protestantismus in Die Deutschen ausschließlich als kulturhistorisches Phänomen und Teil der deutschen Geschichte gewürdigt wird. Dementsprechend heißt es schon in der Einleitung zum Band: „Aus dem Protestantismus ist denn auch alles gekommen, was inzwischen in Deutschland geschah. Sein Geist war nicht nur der persönliche Luthers, sondern [...] wurde hernach der Lessings, Herders und Schillers und nicht minder der Nietzsches und nicht minder der Bismarcks.“118 111 112 113 114 115 116 117
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Ebd., S. 33 f. Vgl. Moeller van den Bruck, Beethoven-Halle und Bach-Chor, in: Der Tag, 25.02.1909. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 52 f. Ebd., S. 86. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Geprägt durch seine Nietzsche-Lektüre bestritt Moeller beispielsweise, dass vom Protestantismus Impulse für das zeitgenössische Leben ausgehen würden: „Der Protestantismus [...] sollte nur zeigen, was der Katholizismus auch schon gezeigt: daß es nun einmal unmöglich ist, eine Individualität innerhalb des Christentums zu sein, daß Individualismus sich vielmehr immer nur dann einstellt, wenn man sich als Mensch und Denker, als Wollender und Schaffender mit dem Christentum und seiner nivellierenden Tendenz nicht mehr deckt, sondern von ihm irgendwie abweicht und von außen eine vielleicht sogar eine feindliche Stellung zu ihm nimmt“ (ebd., S. 107 f.). Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden, 1904, S. 8.
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Moeller, der sich dem Katholizismus gegenüber immer wieder zu Tönen steigerte, wie sie in Deutschland zuletzt während des Kulturkampfes zu vernehmen waren119, suchte die Reformation als notwendigen Schritt und den Protestantismus als Etappe auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat zu deuten: „Ja, gerade die deutsche Einigung, in die schließlich die deutsche Geschichte wie eine Antwort auf eine zweitausendjährige Frage mündete, wäre niemals mehr möglich gewesen ohne den Protestantismus.“120 Dies war nicht mehr die Position Nietzsches, sondern diejenige des nationalliberalen deutschen Bürgertums und der borussischen Geschichtsschreibung.121 Nietzsche selbst sprach ja schließlich von einer „gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man Reformation nennt“, aus der die „Wiederherstellung der Kirche“122 und die Unterdrückung einer neuen Kultur, der Renaissance, folgte. Dem widersprach Moeller: „Man kann noch heute hin und wieder die Meinung hören, Luthers Auftreten habe die Entwicklung einer großen Renaissancekultur unterbrochen, die gerade damals im Wachsen und Werden gewesen sei, er habe einen rauschenden, blühenden Geist der Kunst durch die Gedankenkälte seines Protestantismus erfrieren gemacht. In Wirklichkeit hat gerade erst Luther wieder [...] die Möglichkeit einer neuen und echten deutschen Kultur in künftigen Jahrhunderten geschaffen“.123
So bedeutete die Reformation für Moeller in erster Linie eine Befreiung von „lateinischer Entartung“.124 Das heißt, Moeller wollte zwar nicht bestreiten, dass die Tat Luthers auch eine religiöse Tat gewesen sei, „aber eine religiöse Tat mit politischer Wirkung“, denn „dadurch, daß Luther die Kirche zerstörte, schuf er Platz für den Staat“125, und schließlich formulierte er sogar, dass Luthers „beste, dauerndste Wirkung ja überhaupt nicht die religiöse, sondern die nationale gewesen“126 sei. National vor allem, weil der durch Luther begründete Protestantismus zu einer eigenständigen Kultur hinführte, weil er die deutsche Sprache, Literatur und Philosophie entwickelte127 und so die Identität der Nation neu begründete. Daher bewertet Moeller den 119
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Für Moeller stand fest: „Der Katholizismus, der bloß den finsteren Sündenpfuhl kennt, aus dem einzig die Magie übernatürlicher Gnadenmittel zu erretten vermag, schließt jedes Denken, das auf einem freien und persönlichen Verhältnis zur Welt beruht, grundsätzlich aus“ (Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 177); er sei „religiös betrachtet nichts als eine rohe Stimulierung“; seine geistige Haltung wäre „immer eine unaufrichtige“ (Verschwärmte Deutsche, Minden 1904, S. 107) und schlußendlich habe er die Menschen immer bloß „animalisch befriedigt“ und sie geistig unentwickelt gelassen (Führende Deutsche, Minden 1905, S. 127). Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden, 1904, S. 8. Vgl. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Erster Theil. Bis zum Pariser Frieden, 4. Aufl., Leipzig 1886, S. 3 f. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe (hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari), 15 Bde., München 1999, Bd. 5, S. 287. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 101 f. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 6. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 109. Ebd., S. 84. Vgl. auch: Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 73 f.
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Protestantismus, obgleich er ihn als Erscheinungsform des von ihm als lebensfeindlich und artfremd abgelehnten Christentums nicht eben begrüßte, beinahe durchweg positiv. Er attestierte ihm, die einzige große geistige Erneuerung zu sein, „die die Menschheit seit dem Christentum gesehen“ hat.128 Durch ihn sei die schöpferische nordisch-deutsche Geisteskultur begründet worden, die auf einem freien und persönlichen Verhältnis zur Welt beruhe, durch ihn der für diese Kultur typische Idealismus und Heroismus, der die Fortbildung der germanischen Anlage sei. Person und Werk Luthers bezeugten für Moeller diese Kontinuität. So wie er in der Armin-Erzählung die Germanen als das „individuellste Volk der Welt“129 vorgestellt hatte, so erschien der Reformator als „stärkste Persönlichkeit der Zeit“130 und mithin als „natürlicher Gegner“131 Roms. In seiner Person zeigten sich Züge – „echte deutsche Schicksalsauffassung“132, „Trutzigkeit“, „Bärbeißigkeit“ und „Heiterkeit“133 –, die auch bei dem Großen Kurfürsten und Bismarck134 vorkämen und eine Entsprechung auch im „deutschen Nationalcharakter[...]“135 hätten. Ausweis außergewöhnlicher deutscher Schaffenskraft war dabei nicht zuletzt Luthers künstlerische Produktion: Er sei der Schöpfer des deutschen Briefes, der deutschen Rede und der deutschen Musik: „Den Stil der deutschen Musik gab er an, – und aus dem Geiste des lutherischen Kirchenliedes konnte hernach Oratorium und Symphonie erklingen.“136 Zur künstlerischen Produktion gehörte für Moeller auch Luthers Bibelübersetzung, die er unter Hinweis auf die dem gesprochenen Deutsch angemessene Sprachbehandlung als „wesentlich künstlerische[s] Werk“137 bezeichnete, so dass es als ein Fazit gelten kann, dass für den an theologischen Fragen nicht interessierten Moeller Luther vor allem Urheber einer wesentlich deutschen „Kultur des Protestantismus“138 war. Neben dieser Kultur des Protestantismus und der in den Verschwärmten Deutschen behandelten deutschen Mystik139 stellte Moeller in Gestaltende Deutsche 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139
Ebd., S. 274 f. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 56. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 84. Ebd., S. 80. Ebd., S. 83. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 86. Ebd., S. 104. Ebd., S. 101. Vgl. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 170. Mit der Eckhart- und der Böhme-Erzählung sind Erzählungen des Bandes Verschwärmte Deutsche deutschen Mystikern gewidmet. Moeller suchte darin ein besonderes, ein unmittelbares, „individuell[es]“ (S. 14) Verhältnis zu Gott als gegenidentfikatorisch zur vermittelnden und formalisierten römisch-katholischen Kirche und in Abgrenzung zu anderen Nationen (Vgl. S. 21 f.) als typisch deutsch herauszustellen. In diesem Sinne heißt es: „Meister Eckehart drang so dicht an Gott heran, wie vor ihm noch kein Mensch. [...] Seine Gottschau ist die großartigste Abkehr von allem körperlichen Glauben, die die Geschichte der Religionen gesehen hat“ (S. 30) und: „Nach Meister Eckehart sind in Deutschland noch viele gekommen und haben Gott gesucht, jeder auf seine Weise. Doch alle haben sie es in dem Sinne Meister Ecke-
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(1907) noch eine weitere kulturelle Symbiose des germanisch-nordischen Geistes mit dem Christentum vor. Seiner Ansicht nach zeugten auch die gotischen Kathedralen und Dome von einem freien und persönlichen Verhältnis des deutsch/germanischen Volkes zur Welt wie auch zum Christentum: „Christliche Germanen wurden wir, nicht germanische Christen“140 heißt es in dem Kapitel über die Gotik. Diese „Verschmelzung“141 von Christentum und Germanentum zeichne sich dadurch aus, dass ihr Resultat nicht mehr grundsätzlich lebensfeindlich sei: „Lebensfeindlich kam“ das Christentum „zu uns, [...] lebensfreundlich aber und infolgedessen schöpferisch wurde es erst durch uns“.142 Zudem habe das Christentum vom schöpferischen Potenzial des germanischen Geistes profitiert: „Fruchtbar wurde die Gotik erst [...], als große Könige und Kaiser in den germanischen Landen aus ihren Völkern starke und glückliche Nationen machten.“143 So war die Gotik für Moeller „ein mächtiges Rassewerk“.144 Eine Verschmelzung von Germanentum und Christentum hielt er nur unter der Voraussetzung denkbar, dass die germanischen Anlagen nicht in ihrem Bestand bedroht wurden und der heroische und lebensbejahende Idealismus des Germanentums das Primat behielt. Zugestanden wurde ein fruchtbarer Dualismus, dessen sichtbarer Ausdruck eben der gotische Stil war:„Gotik mußte überall da entstehen, wo der germanische Rassegeist in Verbindung mit dem Christentum künstlerisch mächtig wurde.“145 Durch den Verweis auf die Völkerwanderung und den durch diese verbreiteten germanischen Geist war dann in Auseinandersetzung mit dem spätestens seit Carl Schnaases Geschichte der bildenden Künste (1843–1867) anerkannten französischen Ursprung der Gotik146 auch „erklärt“147, warum sich das Gros der repräsentativen Bauten dieses Stils im westlichen Nachbarland befand. Aus der Auffassung, dass die Gotik der deutsche Stil sei, folgte ferner, dass Moeller in ihr einen möglichen Anknüpfungspunkt für die Architektur der Moderne sah: „[...] staunend wird man dereinst erkennen, [...] daß nur die Gotik fähig war, dem Maschinenzeitalter künstlerischen Grundriß zu geben und seine Mittel, Stahl und Eisen, in sich überzuleiten: daß
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harts getan, [...] haben es getan in dem Glauben, daß die Grenze des Stoffs nicht der Stoff, sondern der Geist und damit die Grenzenlosigkeit ist“ (Moeller van den Bruck, Verschwärmte Deutsche, Minden 1906, S. 44). Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 59. Ebd., S. 57. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 61 f. Ebd., S. 62. Ebd., S. 64 f. Der betreffende fünfte Band erschien 1856; vgl. Carl Schnaase, Geschichte der bildenden Künste im Mittelalter, Düsseldorf 1856, S. 42–159. Über den damaligen Stand der Forschung informiert ein Beitrag in der Zeitschrift für Wortforschung: G. Lüdtke, „Gothisch“ im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Wortforschung (hg. von Friedrich Kluge), 4. Bd., 1903, S. 133–152. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 64.
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die modernen Formen, die wir schaffen, wieder nur umgegossene Formen sind.“148 Allerdings mochte Moeller nicht so verstanden werden, dass er die einzelnen Formen kopiert sehen wollte. Er, der immer wieder betonte, „daß eine Epoche auch formal kein anderes Schaffensziel hat, als das, welches mit ihr selber entstanden ist“149, war ganz sicher kein Befürworter der Neugotik. Ihm ging es mehr um die Behauptung einer Kontinuität sowie eine Übernahme gotischer Prinzipien, eine Idee, für die vermutlich Alfred Messels durch seine vertikale Fassadengliederung bestechendes Kaufhaus Wertheim (1896/97) vorbildlich war. Entwickelt werden sollte letztlich ein „alles Deutsche ein- und abschließende[r] End- und Gesamtstil“, für den die Gotik vorbildlich war, weil sie ein „germanischer und deutscher Stil“150 sei. Moellers durch den österreichischen Kunsthistoriker Hermann Riegel151 und den Redakteur der Kunstzeitschrift Die Rheinlande Carl Limprecht152 beeinflusste, keineswegs überzeu-
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Ebd., S. 64. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 58. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 309. Riegel hatte in einem 1877 publizieren Vortrag – Ueber den französischen Kunstgeist – dargelegt, dass es eine signifikante Differenz gäbe zwischen der künstlerischen Qualität der 3000 Statuen am Dom in Reims und „dem Zustand der französischen Kunst im 12. Jahrhundert“ (S. 44), den er selbst mehrfach als „barbarisch“ (S. 45, 47) bezeichnete. Er fragte: „wo waren die Künstler, welche die 3000 Statuen für Rheimes in würdiger Weise liefern konnten?“ (S. 44) Ein Blick auf die seiner Ansicht zeitgleiche Blüte der „sächsischen Bildhauerschule“ (S. 45) und Dokumente, die den Einsatz fremder Bildhauer an französischen Dombauten belegten, brachte ihn zu der als Frage formulierten These, „dass deutsche Meister und Gesellen in den Bildhauerwerkstätten der französischen Dome des 13. Jahrhunderts gearbeitet hätten?“ (Hermann Riegel, Kunstgeschichtliche Vorträge und Aufsätze, Braunschweig 1877). Limprecht – „kein Mann der strengen Wissenschaft“ (S. 5) – berief sich in einem für Die Rheinlande verfassten Beitrag auf Riegel. Er hob hervor, „daß in der fraglichen Entstehungszeit die bildenden Künste in Deutschland in hoher Blüte standen, während in Frankreich der Aufschwung der Künste erst wenig später seinen Anfang nahm. Deutsche Künstler fanden vielfach auch im Auslande Verwendung und standen in hohem Ansehen. Dann ist noch auffallend, daß gotische Bauwerke in der fraglichen Zeitepoche nur im nordöstlichen Frankreich entstanden sind. Dieser Teil Frankreichs war aber seinerzeit von Deutschen bewohnt [...]. In der damaligen Bevölkerung des nordöstlichen Frankreichs muß also noch ein starkes deutsches Element vorhanden gewesen sein, welches wohl zugleich, wie man Verhältnissen und der Lokalität zufolge schließen könnte, den gewerbetreibenden, industriellen Teil der Bewohner ausmachte. Die hier in Betracht kommenden Bauten sind ausschließlich Kirchen, also Volksbauten. Wir sind daher berechtigt, einen stark deutschen Einfluß anzunehmen. [...] Wie nun Hermann Riegel in seiner oben angeführten Abhandlung dargethan hat, können die künstlerischen Skulpturwerke an den gotischen Bauten nur von deutschen Steinmetzen geschaffen worden sein. Daraufhin könnte man einen Schritt weitergehen und annehmen, daß in jener Zeitepoche einer erhöhten Bautätigkeit an den Bauten, die den Spitzbogen aufweisen, hauptsächlich deutsche Bauleute, oder doch solche, die dem deutscheren Element angehörten, gearbeitet haben“. (S. 15 ff.) So verschärfte Limprecht die These Riegels dahingehend, dass ausschließlich Deutsche die gotischen Bauten in Frankreich errichtet hätten. Daher und weil die „Gotik ihre höchste Ausbildung und Vollendung nur in rein deutscher Bevölkerung erlangen“ konnte, sei die Gotik „ein echt deutscher Stil und ausschließlich deutsches Kultureigen-
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gende Darstellung der Gotik als genuin deutsch/germanischer Stil verband durch den Hinweis auf ihre andauernde Vorbildhaftigkeit zwei Aspekte seiner Nationalpädagogik. Erstens zielte sie auf eine deutsche Kunst, die sich dem geistigen „Volksgrund“153 annäherte und sich von antiken Vorbildern möglichst vollständig emanzipierte. Zweitens beschwor Moeller hier die hervorragenden schöpferischen Potentiale seiner Zeit- und Volksgenossen.
4.1.5. Wider den Klassizismus In der Zeitschrift des dem völkischen Spektrum zuzurechnenden Werdandi-Bundes154 vertrat Moeller die These, dass ein Volk, das nur nachahmen könne bzw. den Austausch mit anderen privilegiere, zum Untergang verurteilt sei. Umgekehrt sei „[...] dasjenige Volk, dem es gelingt, die Völker in dieser Weise durch die übermächtige Größe und den hinwegreißenden Einfluß der von ihm selbst geschaffenen Kultur zur Aufgabe der ihrigen zu veranlassen, das siegreiche und gebietende ist und die Weltkultur für eine lange Zeit imperialistisch schaffen wird“.155
Diese kulturimperialistische Sichtweise hat ihren Niederschlag auch in Die Deutschen gefunden. Gemäß der auch in Die Zeitgenossen vertretenen Auffassung, dass die „Kopien der Klassik“ die nationalästhetische Entwicklung beeinträchtigt hätten156
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tum“. (Carl Limprecht, Die Gotik als deutsche Kunst, in: Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst, 1. Jg., Heft 5, Februar 1901, S. 5–25 hier 18). Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 64. Der von dem Professor Friedrich Seeßelberg geführte Werdandi-Bund (Verdhandi ist die germanische Norne der Gegenwart), zu dessen Gründungsmitgliedern neben Moeller auch Houston Stewart Chamberlain, der völkische Literaturhistoriker Adolf Bartels und eben Ludwig Schemann gehörten, hatte sich der nationalen Pädagogik verschrieben. Sein Anliegen der Ausformung einer zwischen Modernität und imaginiertem Deutschtum vermittelnden zeitgemäßen deutschen Nationalkultur deckte sich mit Moellers persönlichen Ambitionen und der von ihm formulierten Problemstellung. (Zur Gründung und Zielsetzung des Werdandi-Bundes vgl. Rolf Parr, Der „Werdandi-Bund“, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918 (hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht), München 1999, S. 316– 327.) Seeßelberg selbst sah beispielsweise das nationale Manko im unausgeprägten „typischen“ Deutschen und bestimmte das Anliegen des Bundes als nationalkulturellen Wettstreit mit den darin fortgeschrittenen Westmächten. Die erstrebte Nationalkultur war dabei eindeutig als Voraussetzung des imperialen Machtanspruchs konzipiert: „Der Engländer ist als Engländer, als der in seinem wohlgepflegten Volksbewußtsein wurzelnde Engländer groß geworden, und weltbeherrschend; auch der Franzose hat seine einstige Machtstellung lediglich aus seiner Kultur heraus gewonnen. Der wirtschaftlich, militärisch und wissenschaftlich geachtete Deutsche ist aber als Kulturmensch noch gänzlich unklar umrissen; er ist ganz unspezifisch“ (Friedrich Seeßelberg, Zum zweiten Werdandijahre: in Werdandi, 2. Jg., Heft 1, Januar 1909, S. 3). Vgl. Moeller van den Bruck, Weltliteratur, Nationalliteratur und das Verhältnis der Völker, in: Werdandi, 1. Jg., Heft 4, April Mai 1908, S. 38–45, hier 45. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 183.
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und wertvolle Kunst in Deutschland nur entstände, wenn sich berufene Künstler nationalen Stoffen und Formen zuwandten, heißt es hier weit weniger drastisch, „daß Bestand immer bloß diejenige kulturelle Hochentwicklung haben kann, die sich organisch aus einer nationalen entwickelt hat“.157 Weil also allzu umfängliche Anleihen bei anderen Völkern einen Identitätsverlust und mithin eine Schwächung der eigenen Nation nach sich ziehen würden, war die Auseinandersetzung mit dem Kosmopolitismus der deutschen Klassik in Die Deutschen unausweichlich. Die Winckelmann-158 und wesentliche Teile der Goethe-Erzählung sind ihr gewidmet. Exemplarisch sei dabei auf Moellers Kritik von Goethes Begriff der Weltliteratur159 eingegangen, den der Verfasser von Die Deutschen „nicht so ohne weiteres annehmen und gelten lassen“ wollte.160 Goethes Begriff schien ihm vor allem deshalb verfehlt, weil „wir eine Weltliteratur immer nur in Nationalliteraturen denken können“, wogegen „die Weltliteratur [...] nichts wie eben eine Idee“ sei.161 Da dem Nationalpädagogen Moeller jeglicher Kosmopolitismus verhasst war162, verwundert es auch nicht, dass seine Kritik bei jenem bekannten Zitat aus einem Eckermann-Gespräch einsetzte: „NationalLiteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“ (Goethe zu Eckermann am 31. Januar 1827)163, äußerte der Dichter gegenüber seinem Adlatus. Und Moeller antwortete darauf: „Hätte Goethe die Eisenbahn erlebt, so würde er gesehen haben, wie gerade in einer äußerlich und zivilisatorisch ganz internationalen Epoche sich die Völker innerlich und künstlerisch und damit überhaupt kulturell scharf gegeneinander abschlossen [...], um sich selbst nicht zu verlieren in dem allgemeinen Getriebe.“164
Für Moeller bedeutete Goethes Weltliteratur-Begriff jedoch nicht allein die Aufgabe der nationalen Identität, sondern seinem avantgardistischen Selbstverständnis nach auch Epigonalität. Das führt dazu, dass er in diesem Zusammenhang von einer „‚Weltliteratur‘ sklavisch abhängigen Sinnes“ schreiben konnte, die er in der „hirnlosen“ Nachahmung des französischen Klassizismus ebenso erblickte wie in Goethes „antikisierende[m] Standpunkte“.165 Demgegenüber betonte er immer wieder, dass sich die „jungen“ Völker besser „auf sich selbst, auf ihr Bestes, Eigenstes, Unverlierbares zurückzogen“, um so eine „ausgesprochene Nationalkunst“166 hervorzubringen 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166
Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 40. Vgl. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1906, S. 48–83. Vgl. Moeller van den Bruck, Goethe, Minden 1907, S. 169–174. Ebd., S.169. Ebd., S. 170. Exemplarisch: „International und kosmopolitisch ist unter den Künstlern nur das Gesindel der großen und kleinen Ausnutzer gewesen, die sich überall wohl fühlen“ (ebd., S. 174). Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe (hg. von Karl Richter), München 1986, Bd. 19, S. 207. Moeller van den Bruck, Goethe, Minden 1907, S. 172. Ebd., S. 173. Ebd., S. 172.
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zu können.Goethe selbst habe sein „Großartigstes [...] überhaupt nicht in den entlehnten Formen anderer Völker, sondern gotisch in der Form und in dem Stil des eignen Volkes“167 geschaffen. Für eine Weltliteratur war in den Gedankengängen der Deutschen kein Platz. Sie laufen darauf hinaus, dass Kulturen per definitionem nationalen Charakters sein müssten, um überhaupt als Kulturen angesehen werden zu können; oder mit anderen Worten: Um bestehen zu können, müsse sich eine Kultur von den anderen grundlegend unterscheiden. Indem Moeller diese These verteidigt, zieht er die Schlussfolgerung aus einer Auffassung, die für ihn einem Postulat gleichkommt: Die Kulturen der verschiedenen Völker sind – auch wenn sie der gleichen Rasse entstammen – einander grundsätzlich fremd. „Im allgemeinen versteht ein Volk von einem anderen nur wenig und fast immer nur das Äußere, gerade besonders Sichtbare und Auffällige, während das Innere, und damit notwendig auch die Kunst, seinem Verständnis entzogen bleibt. [...] So kommt es, daß die Völker fremd aneinander vorübergehen und das eine meist für Barbarei hält, was dem anderen höchste Kultur ist.“168
Von dieser Regel könne es die Ausnahme geben, dass es auch zwischen „verwandte[n] Epochen und Völker[n] gleicher Rasse“169 zur Verständigung komme, womit feststeht, dass Moeller einerseits zwar über genug Wirklichkeitssinn verfügte, um nicht die kulturelle Autarkie zum Ideal zu erheben, andererseits aber jeglichem kulturellen Austausch voreingenommen gegenüberstand. Fruchtbar schien ihm die Übernahme fremder Formen und Stoffe überhaupt nur so lange, wie ein aufnehmendes „junges“ Volk noch nicht zum Bewusstsein seiner selbst gekommen sei. Dies bestätigen auch die Ausführungen der Winckelmann-Erzählung. Gegen den Klassizismus als „axiomatische[s] Dogma“170 wie gegen den dogmatisch verstandenen Nachahmungsbegriff Winckelmanns171 gewandt, postulierte Moeller hier ein 167 168 169 170 171
Ebd., S. 173. Ebd., S. 7. Ebd. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 83. Wie viele einer nationalistischen Ästhetik verpflichtete Zeitgenossen belegte Moeller seine dogmatische Auffassung mit dem Ausspruch, dass der „einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, [...] die Nachahmung der Alten“ sei (S. 61, bei Johann Joachim Winckelmann in: Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, in: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walter Rehm, Berlin 1968, S. 151, dazu auch Esther Sophia Sünderhauf, Griechensehnsucht und Kulturkritik, Berlin 2004, S. 99 ff. ). Dabei hatte Winckelmann nicht eine Kopie der griechischen Kunst angestrebt. Vielmehr wollte er die Künstler des Rokoko – eines aus seiner Sicht naturfremden Stils – über die in dieser Hinsicht vorbildliche Antike auf den „Weg [...] zur Nachahmung der Natur“ zurückführen. Wickelmann wuste sehr wohl zwischen dem bloßen „Nachmachen“ und der schöpferischen „Nachahmung“ zu unterscheiden: „Unter jenem verstehe ich die knechtische Folge, in dieser aber kann das Nachgeahmte gleichsam eine andere Natur annehmen und etwas eigenes werden“ (Johann Joachim Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, in: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walter Rehm, Berlin 1968, S. 151).
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„Gesetz von der Reinhaltung der Stile“172, welches besage, dass ein historischer Stil nicht im Ganzen kopiert werden dürfe, sondern nur in Teilen durch organische Anverwandlung, d.h. durch Modifizierung in das zeitgenössische nationale Formenrepertoir aufgenommen werden könne. Das künstlerische Schaffen, so Moellers Überzeugung, habe inhaltlich wie formal grundsätzlich in Übereinstimmung zu stehen mit den „geographischen, ethnologischen und soziologischen Bedingungen“, zu denen „Klima, Rasse, Zivilisation“ zählten und „dem inneren Milieu der individuellen Völker und persönlichen Menschenentwicklung, der Weltanschauung und des Seelenlebens“.173 Zugleich suchte er durch seine Wertungen zu bestätigen, dass bei im Niedergang befindlichen „alten“ Völkern die Resultate stilistischer Bezugnahmen immer „unlebendig und unpersönlich, petrifiziert und stereotyp“174 erschienen. Galt dem Autor schon die römische Antike nur als eine „unwertige Kopie der griechischen“175, so deutete er den römischen Barock gar als die „große Vergewaltigung der Antike“176. Und auch der französische Barock, eine „Karikatur der antiken Tragödie und des augustäischen Zeitalters“177, habe den Volkscharakter der Franzosen zerstört. Aus dem „alten, barbarischen Galliertum“ wäre ein „verlogenes Franco-Latinertum“ geworden.178 Zwar zeigte sich Moeller überzeugt, dass die Deutschen als ein Volk, das einen Winckelmann hervorgebracht habe, die Antike niemals als ein solches „Zerrbild“ rezipieren könnten wie die Franzosen, sondern nur jenes „ideale Urbild“179, das schon die italienische Renaissance gehabt hätte, doch sah er die Bestimmung der Deutschen nicht in der passiven Unterwerfung unter einen fremden Stil, sondern forderte, sie müssten umgekehrt den fremden Stil unterwerfen. Für Winckelmann, den Moeller als einen „echte[n] Deutsche[n] und ehrliche[n] Protestante[n]“180 charakterisierte, hätte es „der große Triumpf [sic] des Deutschtums“ sein können, „sich auch dem Griechentum gegenüber [...] als Deutscher zu behaupten“181. Die deutsche „gesamtnationale Wiedergeburt“ hätte bereits im 18. Jahrhundert durch Aufnahme von griechischen „Werten“ vorangetrieben werden können: „Winkelmann [...], der Vermittler beider Welten, würde der berufene Führer sein zu der sich ergebenden dritten, aus Hellenischem und Germanischem gemischten neuen deutschen Kultur! Er wäre es auch gewesen, in dem Grad, bis zu dem das Griechentum tatsächlich für uns in einen Betracht kommt“.182
172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 58. Ebd. Ebd., S. 61. Ebd., S. 56. Ebd., S. 65. Ebd., S. 56. Ebd., S. 66. Ebd., S. 69. Ebd., S. 72. Ebd., S. 61. Ebd., S. 58.
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Dass diese neue deutsche Kultur damals noch nicht entstehen konnte, führte Moeller auf Winckelmanns falsches Nachahmungsverständnis zurück: Nicht der Verweis auf die Antike sei Winckelmanns Fehler gewesen, sondern dass er „auf das Muster wie auf ein Gesetz hinwies“183. Auf diese Weise habe er den Deutschen zwar eine Vorstellung von der Schönheit der griechischen Kunst vermittelt, nicht aber von ihrer „eigenen Bestimmung“ ihrer eigenen „Natur“ und ihren eigenen Schönheitsvorstellungen.184 Durch solchen Ausblick war nun auch die Sichtweise auf den als „verschwärmt“185 apostrophierten Italienreisenden Goethe bestimmt, dessen „Mission“ es hätte sein können, „[...] das Werk Winkelmanns fortzusetzen, und zwischen den Stilen, und zwar denen der Antike nicht nur, sondern auch denen der Renaissance, zu scheiden, Primitives und Eklektisches, Original und Kopie zu sondern und jedem einzelnen Werk und Namen seinen Platz und Wert anzuweisen. [...] Aber gerade diese Arbeit, die Goethe sich hier klar und deutlich vorzeichnete, hat er dann nicht geleistet, weder während seines italienischen Aufenthaltes noch nachher.“186
Die sich hier abzeichnende Kritik hat ihre Entsprechung auch in der Systematik des Goethe-Buches gefunden. Dem jugendlich „verirrten“ Schöpfer der Leiden des jungen Werthers (1774)187 (1. Kap.) und dem „verschwärmten“ mittleren Goethe (3. Kap.) wurde der „führende“ Autor des Götz von Berlichingen (1773) wie des Aufsatzes Von deutscher Baukunst (1772) (2. Kap.) gegenübergestellt. Letzterem attestierte Moeller, mit der Entdeckung der Schönheit der ihm als deutsch geltenden Gotik im Baukunst-Aufsatz das kulturelle Bewusstsein des deutschen Volkes nachhaltig gestärkt zu haben: „Wirklich voran schritt Goethe seiner jungen Generation [...] vor allem durch die nationale Wendung, die seine Ästhetik alsbald nahm, als er sich zentral in die Entwicklung des deutschen Schaffens stellte und den Seinen die Gotik offenbarte.“188 Dem „verschwärmten“ Italienreisenden Goethe warf Moeller hingegen nationalästhetische Selbstverleugnung und Verrat an der gerade wiederentdecken deut183 184 185 186 187
188
Ebd., S. 55. Ebd., S. 79. „Der Verschwärmte“ (vgl. Moeller van den Bruck, Goethe, Minden 1907, S. 61–103). Ebd., S. 76 f. „Problematisch“ für den Verfasser der Deutschen war vor allem der außerordentliche Erfolg der Leiden des jungen Werthers. Ist dieser doch ein Indikator für die Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation junger Deutscher: „[...] nimmt man als tragenden Untergrund dann noch die verhängnisvolle Stellung der deutschen Jugend, einem Volk anzugehören, das keine Nation war, und in einer Zeit geboren zu sein, die keine Kultur besaß – nimmt man die Enttäuschung durch Aufklärung, den Ekel vor dem Rationalismus, der durch das ganze Jahrhundert ging, das Verlangen nach neuen größeren, lebendigeren Formen des Daseins, [...] so hat man die Grundbestandteile zusammen, die die Wertherstimmung und das ganz und gar Maßlose des Werthererfolges geradeso erklären, wie den Werthertod, der bald als der typische dieses schwach-starken Geschlechts erschien“ (ebd., S. 35 f). Ebd., S. 46.
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schen Kunst vor: „Eine neue Ästhetik eröffnete sich vor ihm, von Undank geboren, von Untreue gezeugt.“189 Im Falle von Goethes Plädoyer für die Vorbildlichkeit der klassischen Antike schien ihm der Schaden nun besonders groß, nicht nur weil Goethe in Italien „den Anschluß nicht finden konnte an sein bestes Selbst“190, sondern weil darüber hinaus seine Italienische Reise (1816) „die künstlerische Mißerziehung des deutschen Volkes während eines vollen Jahrhunderts zur Folge gehabt“ hätte.191 Goethe, so der Vorwurf, habe nicht den „Sinn“192 besessen, um zwischen primitiver und eklektischer Kunst, zwischen griechischem Original und römischer Kopie, zwischen der schöpferischer Früh- und „unwahre[r]“193 Hochrenaissance unterscheiden zu können. Daher bedeute sein römischer „Aufenthalt den vollständigen Zusammenbruch des goetheschen und damit des deutschen Urteils vor der Antike und vor der Renaissance“.194 Um dieses deutsche Urteil zu schärfen, hätte Goethe, nach Ansicht Moellers, statt nach Neapel und Sizilien zu reisen, Florenz und Griechenland besuchen sollen. Indem er auf das einzig akzeptable Vorbild der archaischen Antike verwies, hätte er einen wertvollen Beitrag zur künstlerischen Ausbildung seines Volkes leisten können: „man stelle sich vor, wenn wir vor hundert Jahren von Goethe zu früher, reiner und großer griechischer Kunst geführt“ worden wären. So aber habe der Dichter vor allem „römische Fabrikware für Protzengeschmack“ gesehen und dazwischen „das verhältnismäßig Wenige [...], das einst römische Feldherren in Griechenland selbst geraubt und von dort nach Italien hinübergeschleppt hatten“.195 Dass Goethes erste Italienreise als für die Entwicklung des deutschen Klassizismus wegweisendes Ereignis nicht nur die Herausbildung einer nationalen Ästhetik beeinträchtigte, sondern auch Goethes eigenes Schaffen negativ beeinflusste, fand Moeller vor allem in den Werken des mittleren Goethe bestätigt. Nachdem Goethe mit dem Götz bereits „unsere erste nationale Epopöe“196 gelungen war, hatte er nach dem Dafürhalten Moellers im Gegensatz zu Winckelmann „kein Recht“197, die Nachahmung der Alten zu empfehlen, noch weniger sie zu praktizieren. Konnte doch dabei nur vergleichsweise Minderwertiges entstehen. Zusammenfassend heißt es über die Werke des mittleren Goethe: „Wo Goethe jenseits der Antike schuf, da erhoben sich Monumente. Wo Goethe sich dagegen in den Umkreis der Antike stellte, da gab er nur, je nachdem wie edel das Vorbild war, edle Kopien.“198 Entsprechend abschätzig äußerte sich Moeller über die Iphigenie auf Tauris (1787): „[...] an ‚Elektra‘, die gewaltige Sühnetragödie des Sophokles und noch nicht einmal an ‚Iphigenie auf Aulis‘, das bereits leise sentimentale und apotheotische Gefühlsstück des Euripides, diesen 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198
Ebd., S. 74 f. Ebd., S. 101. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd., S. 59. Ebd., S. 75. Ebd., 166.
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beiden einzigen, denen Goethe sich gleichsetzten sollte, darf man bei seiner ‚Iphigenie auf Tauris‘ nicht denken.“199 Dem Tasso (1790) sprach er ab, ein Drama zu sein200, und in den Römischen Elegien (1795) vermisste er die Innigkeit des jungen Goethe: „[...] es liegt etwas Kaltes, Glattes, Gleißendes, etwas Klassizistisches, Akademisches, Eklektisches über allem, was er im Anschluß an seine [Italien-]Reise dichtete. Das gilt sogar, und gilt in erster Linie, von den ‚Römischen Elegien‘.“201 Unproblematisch und interessant für den Nationalpädagogen Moeller war hingegen der Verfasser der naturwissenschaftlichen Schriften und des Faust (1808/1832), der Entscheidende (4. Kap.) und der Gestaltende (5. Kap.) Goethe. Der als typisch germanisch-deutscher Antipode der westlichen rationalen Wissenschaft202 vorgestellte „Naturforscher“203 Goethe hatte sich nach Ansicht Moellers, zwar nicht von seiner klassizistischen Ästhetik, wohl aber vorübergehend von der Rezeption antiker Kunst frei gemacht204 und sich mit der Natur dem neben der nationalen Geschichte einzigen Quell echter künstlerischer Offenbarung zugewandt: „Sobald er die Welt naturwissenschaftlich, nicht klassizistisch ansah, stand er auf vollständigem Neuland.“205 Für den Verfasser des Faust, so Moeller, war die Antike hingegen „nur ein Mittel [...], um zu Deutschem zu gelangen.“206 Die nationalpädagogische Pointe von Moellers Deutung vor allem des zweiten Teils des Faust besteht darin, dass der Klassizismus zwar als der deutschen Kunst- und Literaturgeschichte zugehörig akzeptiert, letztlich aber auch historisch marginalisiert wurde: „ [...] hier, ein beinahe einziges Mal in Goethes Werk, war die Antike, nicht nur persönlich von Goethe aus, sondern auch inhaltlich vom Stoffe aus, tatsächlich an ihrem Platz. […] so, wie wir künstlerisch nicht nur auf romanischem Grunde stehen, sondern wie wir hinterher im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance noch einmal auf die Antike zurückgegriffen [...], so mußten sich diese Spuren, wenn es wirklich ein Ausdruck unseres Ganzen sein sollte, auch wiederfinden im ‚Faust‘.“207
In dieser Integrationsleistung unterscheidet sich Moellers Stellungnahme zu Goethe signifikant von anderen nationalistischen Deutungen, deren Exponenten Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) (vgl. 1) und Carl Weitbrechts Diesseits von
199 200 201 202
203 204 205 206 207
Ebd., S. 97. Vgl. ebd. Ebd., S. 99 f. Moeller unterschied zwischen einem „logizistischen und sehr bald skeptischen“ romanischen und einem germanischen Geist, der „überall die Beziehung zu Leben, Diesseits, Wirklichkeit suchte“ und in einer weiteren Stufe zwischen einem empirischen und typischen englischen „Denken“ und der deutschen „Naturgeist“-Lehre, deren führende Vertreter Luther, Paracelsus, Böhme, Leibniz, Kant, Fechner und eben Goethe seien (vgl. ebd., S. 114 f. ). Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Ebd., S. 190. Ebd., S. 189 f.
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Weimar (1895)208 sind. Der Verfasser der Deutschen spielte nicht allein den jungen und deutschen Goethe gegen den Klassizisten aus, sondern suchte Letzteren, entsprechend seinem nationalpädagogischen Anliegen, als temporäre Abweichung von der erwünschten und Teil der tatsächlichen Entwicklung des deutschen Volkes in seine Version der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte zu integrieren. In diesem Sinne lieferte auch Goethe für Moeller den Beweis, dass an ihrem Ende eine ebenso zeitgemäße wie autochthone Kunst stehen werde. Schließlich verbinde ihn mit dem deutschen Volk, „daß er, wie dieses seit dreihundert Jahren, den Anschluß nicht finden konnte an sein bestes Selbst und das, wenigstens während einer bestimmten Zeit, draußen suchte, was immer nur innen zu finden war.“209
4.1.6. Der lange Weg zum Nationalstaat Wiederholt machte der Verfasser der Deutschen darauf aufmerksam, dass Europa bereits mit dem Verfall des römischen Reiches „germanisch zu werden begann, als wir siegreich an den Küsten der Briten und im Lande der Gallier, als wir in Italien und Spanien erschienen“210, und führte die die Germanen/Deutschen auszeichnenden Qualitäten zur Legitimation des germanischen Eroberungsdranges ins Feld: „[...] wir waren belebt von der Macht einer großen, dingverbindenden Mystik, wir waren geführt von der Kraft einer großen, vorbildhaft wirkenden Heroik, wir hatten den ganzen Mut des Eroberers, aber auch schon die ganze Freude des Besiedelers.“211 Völkerwanderung und die Italienzüge der deutschen Kaiser erschienen als Umsetzung eines kulturell begründeten Anspruches, seien aber verhängnisvoll gewesen, weil sie nur eine „Extensitätspolitik“ bedeuteten, „der keine Intensitätspolitik entsprach“.212 Dieser Ausspruch ist der denkbar knappste Ausdruck für die Ansicht, dass ein souveräner Nationalstaat und ein gefestigtes Nationalbewusstsein unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Expansionspolitik seien. Die Italienpolitik namentlich der Staufer – für Moeller lediglich eine „Politik um Titel“213 – und die Völkerwanderung – für Moeller eine „maßlose[...] Verschwendung der Volkskräfte“214 – waren demnach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nach Moellers Deutung setzte der 208
209 210 211 212 213 214
Analog zu Langbehn suchte Weitbrecht in seinem Gang durch das goethesche Werk zu zeigen, dass „Klassicismus [...] Goethes“ unverfälschten „Genius aus dem Gleise gebracht“ hatte. In der Einleitung stellte der Verfasser fest: „Goethes angeborene Natur war zu deutsch, als daß er sich in einen Griechen hätte verwandeln können, wie er gern getan hätte; sein Klassicismus blieb ihm doch äußerlich und er hat ihn später, soweit es dem Alternden überhaupt noch möglich war, unter anderen Einflüssen zum Teil wieder abgestreift“ (Carl Weitbrecht, Diesseits von Weimar. Auch ein Buch über Goethe, Stuttgart 1895, S. 35). Moeller van den Bruck, Goethe, Minden 1907, S. 101. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S, 1. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 13. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 244.
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Zug der germanischen Stämme nach Süden und Westen zu früh ein. Zu früh, weil die germanischen Stämme in sich kulturell noch nicht gefestigt waren, sie noch nicht über eine „autochthone[...] germanische[...] Kultur“ und eine „autochthone[...] germanische[...] Weltanschauung“ verfügten215 und auch keine feste nationalstaatliche Basis gehabt hätten. Die Folgen dieses unzeitgemäßen Auftretens wurden von Moeller in einer an Felix Dahns Roman Ein Kampf um Rom (1876) erinnernden und daher durchaus zeitgemäßen Manier geschildert. „Wohl ist die Geschichte Europas die Geschichte seiner germanischen Durchsetzung geworden, nur geschah sie auf Kosten des Germanentums selber. Entweder war das Romanentum doch noch zu mächtig, und wir mußten es geschehen lassen, daß wir, wie im Frankenreiche, zu vollkommenen Romanen wurden; oder aber wir sonderten uns ab und erlangten, wie im Angelnlande, zwar eine ausgesprochen germanische Kultur, gingen aber darüber des engen Zusammenhalts mit dem Mutterstamme und darüber wieder des besten Teils germanischer Art verlustig; während wir in Italien und Spanien überhaupt keinen festen Fuß fassen konnten und uns in fruchtlosen Kämpfen nur aufrieben.“216
Weil die germanischen Stämme kein einheitliches und beständiges Reich begründeten, betrachtete Moeller die Völkerwanderung als das – nach der nur temporären Einigung der germanischen Stämme durch Armin – zweite tragische Ereignis in der deutschen Nationalgeschichte. Ein „Held voll echt tragischer Züge“217 und ein „scheiternder Deutscher“ sei aber auch Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) gewesen. Friedrich habe zwar das darniederliegende Reich konsolidiert, die Hausmacht der Staufer und das deutsche Königtum gestärkt und den Herrschaftsbereich seines Geschlechts bis nach Süditalien ausdehnt, doch habe er nicht alle kaiserlichen Ansprüche gegenüber dem Papst Alexander III. und den oberitalienischen Städten durchsetzen können. Gescheitert sei er letztlich, weil er „nicht zu bauen vermocht“218 habe. Kaiser Friedrich II. als Gestaltender Deutscher hingegen habe zwar die Künste mächtig gefördert, doch was immer er auch geschaffen habe, „es konnte nicht bestehen, weil er sich dabei nicht auf eine Nation [...], sondern immer nur auf sein Ich und seine Idee stütze.“219 Der Fehler der Staufer liege somit darin, „daß sie sich nicht von der Mitte, sondern von den Rändern des Vaterlandes zu entwickeln versucht hatten“220 und sie der „Wahnidee“ nachjagten, „daß im Süden unsere Bestimmung lag“.221 Die gegenidentifikatorische Gestalt zu den Staufern, war (nicht nur für) Moeller Heinrich der Löwe. Er war der „wahrhaft Gestaltende, nicht Friedrich der Erste“.222 Der Welfe, so Moeller, habe, als er sich weigerte, Friedrich I. bei dessen fünftem Italienzug (1176) militärische Hilfe zu leisten – womit er dessen Niederlage gegen den Lombar215 216 217 218 219 220 221 222
Vgl. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1906, S. 6 f. Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 2 f. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 96. Ebd., S. 96. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 54. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 133. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1908, S. 46. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 110.
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dischen Bund in der Schlacht bei Legnano verschuldete –, zwar einen „Treuebruch“223 dem Kaiser gegenüber begangen, doch habe „die Geschichte [...] dem Welfen Recht gegeben“.224 Schließlich habe Heinrich erkannt, „daß endlich ein Ende gemacht werden mußte mit dieser verderblichen Italienpolitik“225, dass die Bestimmung deutscher Politik nicht in Italien, sondern nördlich der Alpen, in Deutschland selbst bzw. östlich davon, in der Eroberung und Kolonialisierung slawischer Gebiete liege. Mit ihm und nicht mit den Kaisern des Mittelalters kündigte sich nach Moeller die eigentliche Geschichte des deutschen Volkes, kündigte sich der kleindeutsche Nationalstaat an. Diese von Heinrich von Sybel geprägte Position226 hat Moeller in einer für den politischen Mythos bezeichnenden Weise abgewandelt. Im Schlussabsatz der Heinrich-Erzählung wird aus dem Welfenherzog ein erster Vorbote der Politik Brandenburg-Preußens, einer Politik, die für Moeller zur Gründung des deutschen Nationalstaates geführt hat: „Hinter ihm stand, wirkte und kündigte sich an die wahre Zukunft des deutschen Volkes. Aus ihm sprach der ewige Grund, in dem die Deutschen ruhten, sprach der Wille und das dereinstige Werk jetzt noch ungeborener Geschlechter. [...] aus dem Erbe, das er hinterließ, kamen schon bei seinen Lebzeiten die Kernlande der Nordmark an das Haus der Askanier. Darin lag ein Zeichen, das die Geschichte verstand und aufnahm. Was die Welfen begonnen hatten, das vollendeten später die Brandenburger. Von der Stelle, die niemand mehr als Heinrich der Löwe vorgeschoben hatte, ging hernach die Entwicklung zu Deutschlands Ganzheit aus.“227
Überzeugt von der Sinnhaftigkeit der historischen Entwicklung setzte Moeller seine Erzählung der deutschen Geschichte erst nach dem „notwendige[n]“228 Niedergang des Reiches, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, dem dritten tragischen Ereignis in der Nationalgeschichte, fort. Das heißt, in Anlehnung an die borussische Geschichtsschreibung (Droysen, Sybel, Treitschke) erschien im Kapitelzusammenhang der Füh223 224 225 226
227 228
Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 43. Ebd., S. 47. Ebd., S. 44. Sybel hatte in seiner am 28.11.1859 vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Rede Über die neueren Darstellungen der Kaiserzeit die zu diesem Zeitpunkt provokante These vertreten, „daß die Nation den Geboten ihrer Herrscher zu den mörderischen Romfahrten“ nur „widerwillig folgte“. Dem entgegen standen Fürsten wie Heinrich der Löwe und die Wittelsbacher, die sich „verwahrten [...] gegen den Ehrgeiz, welcher die Kräfte der Nation zum Schaden ihrer selbst und der Nachbarn in der Fremde zersplittert“. Diese Fürsten „suchen die Blüte der Zukunft in der Ausbildung einer lebensfähigen inneren Politik“ (vgl. Heinrich von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, in: Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches (hg. von Friedrich Schneider), 2. Aufl., München 1943, S. 3–18, hier 15 ff.). Mit seinen Bemerkungen löste Sybel jene historisch-politische Kontroverse mit Julius Ficker aus, die, bis in die Nachkriegszeit national- und geschichtspädagogisch exemplarischen Charakter behielt (vgl. Gottfried Koch, Die mittelalterliche Kaiserpolitik im Spiegel der bürgerlichen Histographie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichte, Bd. 10, 1962, S. 1837–1870). Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 47. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1906, S. 111.
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renden Deutschen Brandenburg-Preußen als eine für die künftige nationalpolitische Entwicklung heilsame Gestaltwerdung der nordisch protestantischen Geisteskutur. Obwohl ein armes, mit Ressourcen nicht gesegnetes Land, habe Preußen doch eine Bevölkerung besessen, die, „aus edelstem Germanenblut und tapferstem Slawenblut hart und kriegerisch gemischt“, die Grundlage bot, um Norddeutschland nach der religiösen Führung der Nation auch die politische zu verschaffen.229 Unter einer Dynastie, die seit dem Großen Kurfürsten eine „Mischung von Modernität und Konservatismus“230 sei, wurde Preußen zum Musterstaat, zum Sparta des Nordens, das sich im 19. Jahrhundert trotz der Erschütterungen durch die Napoleonischen Kriege als stark genug erweisen sollte, „ein neues Deutschland zu tragen“231. Preußen besaß seit Friedrich Wilhelm also so etwas wie einen „deutschen Beruf“. Folglich suchte Moeller den Lesern der Führenden Deutschen auch plausibel zu machen, dass die bismarcksche Reichseinigung das ebenso glückliche wie vorläufige Ende einer vielfach tragisch verlaufenden Geschichte war.232 Schließlich sei es ja kein Zufall gewesen, dass sich die „seelische Einheit der deutschen Nation“233 über die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, die nachfolgenden drei schweren Jahrhunderte einschließlich der napoleonischen Besetzung, dem vierten tragischen Ereignis in der Nationalgeschichte, hinweg erhalten hatte. Der Nationalpädagoge Moeller, der in den um die Reichseinigung geführten Kriegen „die Antwort auf unsere ganze geschichtliche Vergangenheit“234 sah und die Reichseinigung heilsgeschichtlich deutete, war folglich bestrebt, Bismarck sowohl als nationalen Helden wie auch als Ausnahmeerscheinung, als eine den gemeinschaftlichen Geist repräsentierende Gestalt und in diesem Sinne seine Karriere als notwendig und folgerichtig vorzustellen: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, hatte auch ihn wachsen lassen.“235 Der Geist der Gemeinschaft erschien dabei in zweifacher Gestalt, einmal im zur „Weltanschauung“236 erhobenen
229 230 231 232
233 234 235 236
Ebd., S. 115. Ebd., S. 123. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1908, S. 17. Entsprechend: „Die Situation, die Bismarck vorfand, war [...] im Grunde die weltgeschichtlich längst gegebene, die, welche wir in Deutschland immer gehabt [...] hatten – beinahe seit dem Interregnum schon, seit jener verhängnisvollen Zeit, in der wir beide, die Herrschaft über die Welt und die Herrschaft über uns selber, verloren. Damals war es zum ersten Male klar geworden, welch einen fundamentalen schon beinahe rassetragischen Fehler wir gemacht, als wir unser Imperium als eine Fortsetzung des Römerreiches begriffen, statt zunächst einmal ein nationales Imperium zu entwickeln. Damals waren wir zum ersten Male im eigenen Lande zusammengebrochen über dieser Schuld, hatten wir plötzlich feindlich alle gegen alle gestanden, Kirche, Papst, Königtum, Kaiserkrone, Fürstenehrgeiz, Bischofshochmut, Adelsvorrecht, Städtefleiß [...] – ein einziges wildes und blutiges Durcheinander. Und diese chaotischen Zustände waren dann im wesentlichen geblieben durch das ganze Mittelalter hindurch, [...] bis jetzt“ (Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 188). Ebd., S. 189. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 275. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1906, S. 211. Ebd., S. 190.
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nationalen Bewusstsein und zum zweiten, Gestalt geworden, im Habitus des preußischen Adels. Diesbezüglich konstatierte Moeller: „Der Vortyp war Bismarck geradezu jenes harten kriegerischen Adels, [...] der mit seiner Lebensauffassung bedingungsloser Pflichterfüllung Preußen lange Zeit seine einzige, seine moralische Kultur gegeben, der die Lebensstimmung vorbereitet, in der dann Kant später seinen kategorischen Imperativ, vom Preußentum längst schon gelebt, denken konnte, und der überhaupt, soweit er auf militärischem und administrativem Wege dazu beitragen vermochte, den Untergrund in Gebundenheit und Tüchtigkeit gelegt, auf dem Deutschland schließlich zu dem wurde, was es heute wieder in der Welt bedeutet. [...] Der unbewußte Stil eines derartigen Preußentums, der Zug und Schneid, der es kennzeichnete, die Einheit und Ganzheit, zu der es sich ausgebildet, war auch ganz wieder Bismarcks Stil.“237
Zum Helden sei Bismarck jedoch erst durch seine „persönliche Bedeutung“ geworden.238 Bismarck, der ein Mann der Tat und kein politischer Visionär gewesen sei – Moeller betont ausdrücklich, dass Bismarck nicht „früh schon das ganze Deutschland vor sich liegen sah“239 –, habe, als er 1864, 1866 und 1870/71 „Volk und Krone“ zur gemeinsamen Tat auf das „Schlachtfeld“ führte240, durch persönlichen Instinkt und standesgemäße „Willenskraft“241 geleitet, schlicht zum richtigen Zeitpunkt das Richtige getan und also eine „naturalistische Politik“ betrieben.242 „Ohne Bismarck“, so Moeller, „hätten möglicherweise noch Generationen dazu gehört, ehe [...] das natürliche Übergewicht des Preußentums in Deutschland endgültig geklärt, und so die deutsche Frage allein durch die Zeit ihre Lösung gefunden hätte.“243 Dieses Lob des Eisernen Kanzlers impliziert jedoch auch, dass die Reichseinigung ohne seine Taten zustande gekommen wäre. Mit seiner Schilderung Bismarcks beabsichtigte Moeller also nicht, den unabhängigen Willen eines genialen Individuums hervorzuheben. Die Ausdrücke, die er wählte, um Bismarcks Wirken darzustellen, lassen diesen zwar als echten Tatmenschen hervortreten, sie bedeuten aber zugleich, dass auch Bismarck nur ein Geschäftsführer des Volks- bzw. Weltwillens war: „Das Schicksal selbst schien in dieser Tat und in Bismarck zu sein. Daher denn auch die ungeheure und wie selbstverständliche Ruhe, mit der sie geschah, [...] Im Willen Bismarcks wirkte Weltwille sich aus, wirkte sich aus mit der Logik des Elementarischen und wirkte Gerechtigkeit auf die Erde.“244 Solche Ansichten stehen nicht im Widerspruch zur Hochachtung, die Moeller für die Leistungen großer Männer empfand. Sie zeigen aber, dass der große Einzelne ihn nicht als selbständiges Individuum interessierte, sondern nur, insoweit er als Exponent von Kräften überindividueller völkischer Art auftrat. Das Wirken großer Männer wie Hutten, Heinrich der Löwe, 237 238 239 240 241 242 243 244
Ebd., S. 199 f. Ebd., S. 200. Ebd. Ebd., S. 196 f. Ebd., S. 196 Ebd., S. 207. Ebd., S. 202. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1907, S. 253.
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Friedrich Wilhelm, Bismarck oder auch Luther war für den Nationalpädagogen Moeller der Beweis, dass eine individuelle Leistung nur von Bedeutung und auch erwähnenswert sei, sofern die Anlagen, „die Werte und Werke, die sein Leben erfüllen und seinen Ruhm durch die Welt tragen, [...] ursprünglich in der Nation und in der Rasse verborgen“ lägen, „der er angehört“.245 So scheint Moellers Geschichte der Deutschen eine dramatisierte nationale Heilsgeschichte zu sein. Ihr erster Bezugspunkt ist die durch Bismarck im Sinne einer „Intensitätspolitik“246 realisierte (protestantische, norddeutsche, preußische) kleindeutsche Reichseinigung, die „Tat Bismarcks“247. Ihr Ausgangspunkt ist die mythisch verwischte, historisch nicht greifbare Jugend der germanischen Rasse. Dazwischen liegt das Schicksal der politischen Zersplitterung des seit der Armin-Erzählung „individuellste[n] Volk[es] der Welt“248 und der immer wieder drohende „Untergang“ des deutschen Volkes. Dazwischen liegen auch jene Taten, die das Volk seinem Willen und seiner Bestimmung gemäß auf diese Einheit hinführten. Diese Taten folgen keinem bestimmten Interesse: sie lösen Probleme und Aufgaben. Die Lösung der von der Geschichte aufgeworfenen Probleme konnte einzelnen großen Männer gelingen oder misslingen. Hiernach entschied sich letztlich, ob sie von Moeller als Führende, Entscheidende, Gestaltende oder Scheiternde Deutsche klassifiziert wurden. Darüber hinaus war Moellers am sinnhaften persönlichen Tun und völkischen Schicksal orientierte Geschichtsschreibung auch von der Angst vor der Vergeblichkeit der Taten und dem Stillstand der als notwendig deklarierten historischen Entwicklung geprägt. Beispielhaft hierfür sind seine Rechtfertigung des Dreißigjährigen Krieges in der Grimmelshausen-Erzählung der Lachenden Deutschen (1910) und die Bezeichnung der Restaurationszeit als im Vergleich zur napoleonischen Besetzung „größeres, schwereres, inneres Elend“249 in der Bismarck-Erzählung der Führenden Deutschen. So wurden die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges von Moeller als hoher, aber nicht unverhältnismäßiger Preis im Kampf gegen die römischkatholische Kirche angesehen. Schließlich hätten hier die nationale Identität und die Existenz der protestantisch-deutschen Geisteskultur auf dem Spiel gestanden. Wäh245 246 247
248 249
Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 280. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 2. Entsprechend deutet Moeller die deutsche Geschichte: „Die Tat Bismarcks war die Zusammenfassung der Taten Armins, Barbarossas, Steins in eine einzig einmalige große. In dem Jahrhundert, in dem Bismarck lebte, handelte es sich [...] wohl darum, ob wir ferner als lebensfähiges und selbständiges volkliches Gebilde auf der Erde würden bestehen können oder nicht. Aber da machte Bismarck wahr und wirklich, in dem Augenblick unserer letzten nationalen Möglichkeiten, was der verwegene Romkämpfer, was der großartige Papstgegner, was der unerbittliche Napoleonfeind nur gewollt hatten; und es gelang ihm, im Kampf gegen die Umwelt, gegen fremde Rasse, aufgedrängte Kultur und einen ungermanischen Staatsgedanken dem Germanentum im Deutschtum endlich einen staatlichen Mittelpunkt zu schaffen“ (Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 243). Ebd., S. 56 Ebd., S. 180.
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rend die Zeit zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg für Moeller eine vor allem degenerierte Epoche war, in der in den Protestanten „etwas Bequemes und Gichtisches steckte“250, und die Gegenreformation ihr Haupt erhob, schien ihm der Krieg ein rettendes und vitalisierendes Ereignis: „Der Geist der Zeit war verderblich. Es erkrankte, wen er anblies: Länder wie Menschen. Und hier war es, wo der Dreißigjährige Krieg sich wie ein Aufruhr dazwischenwarf.“251 Dieser Krieg hätte die Deutschen vor der „Fremdkultur“252 des Barock, „vor der Entnationalisierung [...], vor der Romanisierung vielleicht unserer Sprache, sicher unserer Gesinnung, Gesittung und Lebensart“253 und mithin vor der historischen Vergeblichkeit bewahrt: „Hätte sie [die Gegenreformation] nach ganz Deutschland übergegriffen, [...] dann wäre nicht nur die beste Tat des Deutschtums in seiner letzten Geschichte, die protestantische, vergeblich, dann wäre auch das Deutschtum selbst verloren gewesen.“254 Analog zum sechzehnten Jahrhundert und entsprechend der Ansicht, dass Frieden gleichbedeutend mit historischem Stillstand und krankhaftem Müßiggang sei255, wurde auch die Restaurationszeit als degenerativer Geschichtsabschnitt, als eine Epoche der „leeren Versunkenheit“256 gedeutet, die zu beenden ein Verdienst Bismarcks gewesen sei.
4.1.7. Propheten des neuen Deutschland Dieser Furcht vor dem Stillstand entspricht, dass die deutsche Geschichte für Moeller mit der Reichsgründung keineswegs abgeschlossen war. Wie beispielsweise die dem Dürer-Bund angehörenden Autoren ließ Moeller keine Gelegenheit aus, seine Landsleute an ihre defizitäre Nationalkultur zu erinnern. Er beklagte, dass man in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts „die Geschlossenheit [...], die das Leben bis dahin gehabt hatte“, auflöst habe: „Die alten Städte durchbrachen ihre Mauern, und draußen, vor Wall und Tor, dort, wo bis dahin die Kornfelder wogend herangereicht hatten, entstanden trübe Proletarierquartiere oder, noch schlimmer, übertriebene Kapitalisten- und Rentiersviertel.“ So war das 19. Jahrhundert für Moeller eine Zeit ohne eigene Form: „Alles war kleinlich und niedrig, kümmerlich und unschön, war völlig unmonumental.“257 Aber – und hier setzte die Kritik an der Kultur der Gründerzeit ein – „das Unheil kam eigentlich erst, als man [nach 1871] daranging, die Reste unserer alten Kultur, soweit man sie nicht überhaupt zerstörte, durch einen neuen Siegesstil, der in Wirklichkeit unserer schwerste Niederlage war, künst250 251 252 253 254 255 256 257
Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 120. Ebd., S. 132. Ebd., S. 136. Ebd., S. 132. Ebd., S. 134. Vgl. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 256. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 289. Ebd., S. 222.
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lich zu überflittern und aufzudonnern“.258 In diesem Sinne bestätigen auch Die Deutschen, dass Moeller als ästhetischer Oppositioneller die bürgerliche Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts verabscheute und jeden Anlass nutzte, um seiner Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Das Fazit seiner Ausführungen war immer, dass die Gründerzeit keine „Siegeskultur“, sondern lediglich einen „Siegeskultus“259 hervorgebracht habe und die Wilhelminer noch zu keiner angemessenen Form gefunden hätten. Deren Versäumnisse haben ihre Entsprechungen in den gewaltigen Aufgaben, vor die Moeller sich und seine Landsleute gestellt sah. So war Moeller als Kulturund Selektionsoptimist der Ansicht, dass am Ende der deutschen (Kultur-)Geschichte notwendig die Verwirklichung einer deutschen National- und Weltkultur stehe. Hatten bisher militärische Katastrophen und politische Irrwege sowie fatale äußere Einflüsse die kulturelle Entfaltung des außerordentlich begabten Volkes behindern können, so gab es mit Moeller nach der bismarckschen Reichseinigung keinen Grund mehr, an der Möglichkeit der zeitnahen Realisierung der kulturellen und politischen Vorherrschaft zu zweifeln: „[...] eine echte Nationalkultur, […] eine Weltkultur womöglich, die imperialistisch gestützt auf einen mächtigen Staatsgedanken das eigene Land zum Mittelpunkt des Völkerlebens und den einzelnen Volksgenossen zum führenden Typ des ganzen Zeitalters machte – eine solche deutsche Kultur war jetzt erst möglich, nachdem es ihre Voraussetzung, eine deutsche Nation gab.“260
Aber Moeller schrieb auch, dass „die Geschichte eines Volkes [...] immer die Geschichte seiner Weltanschauung“ sei und dass „die Kultur, die das Volk schafft und hinterläßt, [...] erst die Weltanschauung“ rechtfertige.261 Mit anderen Worten: Der Verfasser der Deutschen war wie Max Weber und Oskar A. H. Schmitz der Meinung, dass das bestehende Reich nur ein unvollkommenes Deutschland sei und es unbedingt gelte, auf die Erringung der „staatliche[n] Macht“ etwas anderes, Höheres, folgen zu lassen. Es gelte „zu der äußeren Macht“ nun auch „die innere zu fügen, die wir früher hatten, und so zu einem Weltvolk zu werden, das die Menschen mit dem Schwert wie mit der Idee beherrscht“.262 Symptomatisch für diese auf einen Generationswechsel hoffende Erwartungshaltung ist, dass Moeller Hermann Conradi und Friedrich Nietzsche als „Übergangsmenschen“263 bzw. als „Zwischenerscheinung“264 apostrophierte. Wie vorher schon Bismarck erschien nun auch Nietzsche als Exponent der außeralltäglichen Kräfte eines im Aufbruch befindlichen Volkes: „Vor Fragen gestellt, die geistig darüber entscheiden sollten, ob es im Wesen noch immer ein werdendes sei, ob es noch neue Zukunft vor sich habe, ob es im Wesen bereits der Ver258 259 260 261 262 263 264
Ebd., S. 230. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 138. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 213. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 294 f. Ebd., S. 296. Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 162. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 218.
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gangenheit angehöre und nun bald untergehen würde, brach das deutsche Volk gleichsam selber mit seiner ganzen schweren Unterkraft in Nietzsche durch.“265
Entsprechend seiner Intention, Nietzsche als einen Exorzisten des Zeitgeistes zu würdigen, war Moellers Nietzsche-Porträt zuvorderst eine Kritik der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie mit einer klaren Stoßrichtung gegen die materialistische Philosophie: „Deutscher Materialismus: das gab es ja gar nicht, das gab es noch nicht einmal in der bloßen Denkarbeit.“266 Nietzsche ist in demnach der Philosoph, der als Erster nach dem Durchbruch des Darwinismus dem Menschen den notwendig gewordenen metaphysischen „Ersatz“267 angeboten und ihm wieder Vertrauen in sich selbst geschenkt habe. Moeller schilderte Nietzsche in Führende Deutsche mit der mühelos erkennbaren Absicht, ihn der deutschen Jugend als Vorbild zu empfehlen. Der Philosoph erschien als der Erste, der den Weg beschritten hat, auf dem nach Darwin das Denken noch gerettet werden konnte. Indem er Nietzsche gleichsam zum Erfinder der „Metaphysik der unmittelbaren Entwicklung“268 stilisierte, d.h. zu demjenigen, dem man die moderne Form der Metaphysik verdanke, interpretierte Moeller diesen zwar in einer Art und Weise, die seinen eigentlichen Intentionen keineswegs gerecht wurde, jedoch zeigt sich, wie der Nationalpädagoge Moeller sich den Zarathustra und die darin propagierte Übermensch-Vorstellung im Sinne seiner Zwecke nutzbar machen und sie gegen manche Tendenzen seiner Zeit instrumentalisieren konnte. Den Zarathustra interpretierte Moeller recht einseitig, wenn er aus diesem Werk die Schlussfolgerung zog, dank dieser Schrift habe der „Mensch an der Stelle der bloßen biologischen Stellung, die er seit Darwin auf der Erde nur noch hatte, [...] wieder einen vollen teleologischen Halt“269, wie er Nietzsche auch instrumentalisierte, wenn er ihn zum Erfinder einer „Metaphysik des Werdens“ machte.270 Mit seinen in der Einführung einer teleologischen Dimension gipfelnden Ausführungen verfolgte Moeller jedoch ein leicht erkennbares Ziel: Er benutzte den Topos Übermensch, weil er ihm nützlich war, um seinen Lesern im Sinne seiner Programmatik beizubringen, dass die Errettung der Menschheit – und natürlich in erster Linie der Deutschen – von der Welle des modernen Pessimismus, der seiner Ansicht nach Darwin sie ausgesetzt habe271, nur von einem Deutschen als Bürger eines zukunftsbezogenen Volkes kommen könne. Daher auch sein ständiges Bemühen, den Verfasser des Zarathustra als Vertreter des „nietzscheanisch-germanisch-naturalistische[n] Willen[s] zum Leben“272 zu präsentieren, der das deutsche Volk zu einer Ausnahmeerscheinung unter 265 266 267 268 269 270 271 272
Ebd., S. 222 f. Ebd., S. 230. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239 f. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 236; vgl. hierzu auch: Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, Bd. 1, S. 26 ff. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1905, S. 246.
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den Völkern mache. Mit der Auffassung, die Deutschen seien ein zukunftsbezogenes und die Welt und das Leben bejahendes Volk, korrespondiert auch Moellers – durchaus nietzscheanische – Ablehnung des Pessimismus als einer Philosophie, die mit echter Metaphysik nichts gemein habe.273 Die daraus resultierende Kritik an Schopenhauer erklärt, warum gerade diesem Nationalphilosophen in Die Deutschen kein eigenes Kapitel eingeräumt wurde, Schopenhauer höchstens als „Karikatur“ des deutschen Wesens274 und antithetische Gestalt zu Nietzsche und Wagner in Erscheinung trat. Diese Ablehnung der Philosophie Schopenhauers und die Art und Weise, wie Moeller das Werk Nietzsches interpretierte, machen deutlich, dass Moeller, auch wenn er Leibniz, Kant und Fichte mit eigenen Kapiteln würdigte, nicht an einer systematischen philosophischen Erziehung der Deutschen interessiert war. Da er in Die Deutschen für die Metaphysik Lanzen brach, instrumentalisierte er seine Wahrnehmung der Entwicklung des Denkens und der Philosophie in Deutschland, um zur Wiederbelebung der Traditionen beizutragen, die seiner Ansicht nach allein das Deutsche Reich seiner weltgeschichtlichen Berufung würdig machen konnten. Gleiches gilt für seine Ausführungen zur zeitgenössischen Dichtung und zur bildenden Kunst. So ist beispielsweise der zum Dichter der Einigungskriege stilisierte Detlev von Liliencron der jüngste in einer mit Grünewald und Rembrandt beginnenden Reihe von Lachende[n] Deutschen, denen eine „Verbindung von Humor und Heldentum“275 wesentlich sei. Als „Held und Dichter“276 sei er zugleich Antipode des materialistisch orientierten Wilhelminers und mithin vorbildlich im Sinne einer modernen optimistischen Lebensführung. „Lebensglauben, Heldenglauben und Schöpfungsglauben – Fröhlichkeit, Tapferkeit und Allempfinden. Liliencron hat sie alle drei besessen“ und „alle drei brauchen wir heute“.277 Alfred Mombert hingegen erschien als zukunftsweisender Verschwärmte[r] Deutsche[r] mit Paracelsus, Böhme, Novalis und Fechner verwandt, weil er es gewagt hätte, „von Gott rein natürlich zu sprechen“.278 In seiner Lyrik sei „die Andeutung der Weltanschauung der Zukunft im prophetischen Gesicht eines Menschen von heute“ enthalten.279 Gewissheit, dass am Ende der langen deut-
273
274 275 276 277 278 279
So heißt es im Leibniz-Kapitel: „Praktisch ist Pessimismus Zeitverschwendung, theoretisch ist er Gedankenverschwendung. Pessimismus kann persönlich, kann menschlich, kann ästhetisch zu rechtfertigen sein, wenn der einzelne Mensch zusammenbricht und diesem selbst die Welt zusammenzubrechen scheint. Doch ethisch ist Pessimismus nicht zu rechtfertigen und metaphysisch ist er es erst recht nicht. Denn die Welt bricht nicht zusammen, nicht an einem Menschen, nicht an sich selbst. Ein Denken, das der Welt metaphysisch gewachsen sein will, kann es nur sein, wenn es genau so positiv und optimistisch ist, wie es die Welt ist“ (Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 185). Ebd., S. 252. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 11. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 278. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 276. Moeller van den Bruck, Verschwärmte Deutsche, Minden 1906, S 233. Ebd., S. 237.
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schen Kulturgeschichte auch identitätsstiftender „Nationalstil“280 stehen werde, sei jedoch vor allem durch das Werk Gerhart Hauptmanns gegeben, dass Moeller in dem die Gestaltende[n] Deutsche[n] abschließenden Kapitel (Neue Zeit, Deutsche Zeit) zusammen mit Richard Dehmel und Theodor Däubler würdigte. „Um Deutsches auszudrücken“, habe Hauptmann „zum ersten Male völlig auf die Hilfsmittel anderer Stile“ verzichtet.281 Der Dramatiker sei „die große Zusammenfassung einer großen Entwicklungsreihe“282, der laut Moeller Gryphius, Lessing und Lenz, nicht aber Schiller und Wagner (und unausgesprochen auch Goethe nicht) angehörten: „Hauptmann hat uns das deutsche Drama geschaffen. Wir besaßen es bis dahin noch nicht. Wir besaßen nur das Renaissancespiel, das sich hinzog [...] bis zum erhabenen Theater Schillers und dem feierlichen Weihspiel Wagners. Wohl hat die Tragödie Schillers in den Tagen nationaler Bedrängnis eine große nationale Aufgabe erfüllt. Wohl hat das Gesamtkunstwerk Wagners eine kommende Nationalkultur tief aus der Rasse heraus ersetzt und vorweggenommen. Aber die Form des Dramas war in beiden noch nicht die eigene, selbstgewonnene, erdgeborene, sondern eine übertragene und entlehnte: war eine Kunstform, eine Theaterform, eine Kostüm- und Pathosform, und nicht die schlichte, gerade einfachstarke Naturform.“283
In dieser Positionierung Hauptmanns ist zugleich die nationalistisch-optimistische Grundaussage auch der Deutschen bestätigt. Zeigte die bisherige deutsche Kulturgeschichte, dass der „Nationalstil [...], als Rundes, Ganzes, Ausentwickeltes, [...] nicht wohl eher geschaffen und durchgesetzt werden [konnte], bis wir auch wirklich eine Nation waren“284, so war Hauptmann für Moeller der Beweis, dass auf die deutsche Reichseinigung auch ein deutscher Reichsstil folgen werde. Dass ferner mit der nationalstaatlichen Einigung auch das Zeitalter der „Lebensproblematiker[...]“285 beendet sei, suchte Moeller in den Richard Dehmel gewidmeten Passagen zu belegen. Seine Ausführungen aus den Zeitgenossen revidierend, zeichnete Moeller nun das Bild vom Kämpfer wider den zeitgenössischen Relativismus: „Dehmel zuerst bewies der jungen Generation, bewies es am eigenen Leibe und durch das Schaffen, daß es möglich war, nicht an den Gegensätzen der Zeit zugrunde zu gehen, sondern sie zu überwinden.“286 Demnach sei es Dehmels besonderes Verdienst, als Mensch und Dichter – Moeller zitiert wieder aus Eine Lebensmesse – vor allem den jungen Deutschen ein neues, von bürgerlichen Konventionen befreites Persönlichkeitsideal vorgestellt und sie zu „neuen Menschen“ erzogen zu haben. Inzwischen selber ein „monumentale[r] Mensch“287 zeige der Dichter dabei durch seine „Selbsterziehung vom Jüngling zum Mann [...] dieselbe Entwicklung, in der das deutsche Volk heute 280 281 282 283 284 285 286 287
Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 286. Ebd., S. 286. Ebd., S. 284. Ebd., S. 283. Ebd., S. 286. Arthur Moeller van den Bruck, Verirrte Deutsche, Minden 1904, S. 9. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 292. Ebd., S. 291.
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steht“.288 War durch den Gebrauch der Entwicklungsmetaphorik also verdeutlicht, dass die deutsche Weltkultur unmittelbar bevorsteht, schien zuletzt mit Theodor Däublers Nordlicht (1910) ein noch nicht erschienenes „Dokument der Sprache des führenden Volkes, deutscher Sprache und deutscher Kultur“ als jüngster Hinweis auf den seit Armin ebenso absehbaren wie endgültigen Triumph der „jungen“ nordischdeutschen Kultur: „Es [Das Nordlicht] macht Halt vor derjenigen Epoche, deren elektrische Kultur eine einzige gewaltige dynamisch-optimitische Umsetzung aller Lichtideen ist. Es greift über die Gegenwart hinaus in die Zukunft und Unwirklichkeit hinein.“289
4.1.8. Wilhelm II. als Repräsentant der „scheiternden Gegenwart“ „Wir stehen am Anfang“290, betonte Moeller gegen Ende seines monumentalen Werkes und bestätigt so die allgemeine Logik des nationalen Mythos, dass die einzelnen Erzählungen ein Versprechen abgeben für Kommendes. In diesem Sinne ist seine Vision vom „neuen Typus des Deutschen“291 als die mit dem Heilsversprechen korrespondierende nationalpädagogische Zielvorstellung zu verstehen, wie er sie im Schlusskapitel von Lachende Deutsche zu konkretisieren versuchte: „Wir sehen diesen neuen Typus des Deutschen heute noch nicht. [...] Aber vielleicht können wir sagen, daß es in unserer Art wäre, wenn es gelänge, dem modernen Skeptiker [...] den modernen Enthusiasten entgegenzusetzen. Vielleicht können wir sagen, daß es gilt, [...] nun diese selbe Begeisterung an den Dingen zu entzünden, die heute in der Welt sind, und wieder zu werden, wer wir früher waren, die begeisterten Menschen einer neuen Zeit, die wir stets am tiefsten unter den Völkern begriffen. Vorläufig haben wir nur die neue Zeit und nicht den modernen Menschen.“292
Unzweifelhaft war auch Wilhelm II. dieser „neue Deutsche“ noch nicht. Der Person des Kaisers ist kein eigenes Kapitel in Die Deutschen eingeräumt, doch wurde er in dem Scheiternde Gegenwart293 betitelten Abschnitt ausführlich gewürdigt. In dem hier gezeichneten Porträt hat Moellers Zeitbewusstsein, seine ambivalente Haltung gegenüber dem „offiziellen Deutschland“294, seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck gefunden. Zwei Sichtweisen auf den Kaiser lassen sich dabei unterscheiden. In der einen sieht er den Kaiser als Politiker. In der anderen als Mäzen. Dabei zeigt sich insbesondere in den Passagen, die sich mit dem nationalpädagogisch motivierten Mä-
288 289 290 291 292 293 294
Ebd., S. 294. Ebd., S. 302 f. Ebd., S. 304. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 297. Ebd., S. 297. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 243–319. Vgl. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 78.
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zenatentum, der Kunstpolitik Wilhelms II.295 auseinandersetzen, auf welche Weise sich modernistische Kulturkritik und völkisches Gedankengut bei Moeller inzwischen ergänzten. Prinzipiell war der Verfasser der Deutschen davon überzeugt, dass die hervorragenden schöpferischen Potentiale im Volk verborgen seien und dass man nur diese Kräfte unterstützen müsse, um zu einer zeitgemäßen nationalen Kultur zu gelangen. Nach der Auffassung Moellers hat Wilhelm II. gerade in diesem alles entscheidenden Punkt versagt. Moeller war der Überzeugung, dass die vom Historismus geprägte Ästhetik Wilhelms II., da sie „untrügliche Zeichen aller Verfallszeiten und aller Niedergangskunst an sich“ trage296, leicht eine Schädigung der zeitgenössischen Kultur hätte bewirken können, „wenn nicht der eine Unterschied zwischen unserer Zeit und jenen Zeiten bestünde, daß bei uns die kaiserliche Kunst nicht die einzige ist, die in Deutschland noch möglich erscheint, daß ihr gegenüber vielmehr eine andere, unmittelbar aus dem Volke und aus der Natur herausgeborene entstand“.297
In dieser Opposition zwischen Kaiser und Volk bewegt sich die gesamte Passage. Auf der einen Seite steht Wilhelm II., dessen Kunstpolitik für Moeller der ideale Gegenstand seiner Kulturkritik war, auf der anderen Seite das charismatisch verklärte Volk, welches als Träger der modernen Nationalkultur erscheint. Dem Kaiser warf Moeller vor, dass er im großen Stil die falschen Künstler mit Staatsaufträgen gefördert und also zur offiziellen Sanktionierung einer falschen Kunstauffassung beigetragen habe. Als konkrete Beispiele für Wilhelms verfehlte Ästhetik führte Moeller den Berliner Dom (1894–1905) und die Siegesallee (1895–1901) im Tiergarten an298: zwei viel kritisierte Bauprojekte299, die dem Kaiser besonders am Herzen gelegen haben. Doch 295
296 297 298
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Zu dem, was die Kunst bewirken soll, hat sich der Kaiser in seiner als Rinnsteinrede in die Geschichte eingegangenen Ansprache geäußert: „Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich nach den Idealen wieder aufzurichten. Uns, dem deutschen Volke, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger verloren gegangen sind. Es bleibt nur noch das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese großen Ideen zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehört, daß wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuarbeiten“ (Wilhelm II., Die wahre Kunst (18. Dezember 1901), in: Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche, hg. von Ernst Johann, München 1971, S. 102). Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 293. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 295 f. Zur Siegesallee vgl. Uta Lehnert, Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame Royale, Berlin 1998. Es waren vor allem bürgerliche Kunstkritiker wie Ferdinand Avenarius und Maximilian Harden, die sich kritisch zur Siegesallee und anderen von Wilhelm II. in Auftrag gegebenen Bauten äußerten. Sie weigerten sich, den Kunstwert der Siegesallee überhaupt zu diskutieren: „Man frage alle zum Urtheil Berufenen auf ihr Gewissen, Avenarius oder Wallot, Helferich oder Tschudi, Muther oder Lichtwark, Bode, Gurlitt, Woermann, Meier-Graefe, Treu, Seidlitz, van de Velde: Keiner wird sich auch nur hergeben, den Kunstwerth der Thiergartenlei-
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verweilte Moeller hier nur kurz. Seine Kritik war allgemeiner Natur. Sie berührte im wesentlichen zwei Punkte. Erstens die Akademisierung der Kunst: Moeller war der Meinung, dass Wilhelm keine Künstler, sondern nur Männer beschäftigt habe, die „nach Titel und akademischer Bildung Künstler“300 bzw. „wohlfeile Fabrikanten“301 waren, womit er konkret auf den Bildhauer Reinhold Begas und die Berliner Bildhauerschule, den Architekten Julius Raschdorff sowie auf den Maler Anton von Werner und dessen herausragende Position im kaiserlichen Kunstbetrieb anspielte; zweitens das „Bedürfnis“ des Kaisers, „die Formen der Vergangenheit hinüberzuleiten in die Gegenwart“302, das die von Wilhelm beauftragten Künstler nur allzu gern bedienten. Symptomatisch für dieses Bedürfnis schien eine eklektizistische Baukunst, für die Moeller nur das Wort „geschmacklos“ übrighatte.303 So meinte Moeller nicht zuletzt den von Raschdorff entworfenen neubarocken Berliner Dom, wenn er betonte, dass die „Ästhetik Wilhelms des Zweiten [...] Deutschland gewiß schwer geschadet“ habe: „Sie hat in dem Augenblick, in dem wir uns daran machten, den Stil des Barock und des falschen Klassizismus endlich zu überwinden, der unsere künstlerische Entwicklung mit allen möglichen Fremdformen jahrhundertelang aufgehalten hat, noch einmal neue Beispiele eben dieses selben Stils aufgestellt und damit die Gefahr einer abermaligen künstlerischen Mißerziehung des Volkes heraufbeschworen.“304
Potenziert wird die Ablehnung dabei dadurch, dass Barock für Moeller synonym mit katholisch und unnatürlich war. Da Moeller Deutschland als evangelischen Staat, das deutsche Volk als ein Volk des Geistes und der Natur ansah, war das Barock für ihn der undeutscheste aller Stile.305 So blieb Moeller nur zu konstatieren, dass Wilhelm II. „kein schöpferisches Verhältnis zur Kunst“306 habe, dass er immer nur das Charakterlose befördert habe und mit seiner Kunstpolitik eher einen Ab- denn einen Auf-
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306
stung umständlich zu diskutiren“ (Maximilian Harden, Die deutsche Muse, in: Die Zukunft, hg. von Maximilian Harden, 10. Jg., Nr. 13, 21.12.1901, S. 483–490, hier 487). Für Avenarius war sie dann auch „Scheinkunst zu einem politischen Zweck, zur Verherrlichung der Dynastie, und zwar ohne Auswahl unter ihren Gliedern, ohne Rücksicht darauf, ob der Einzelne einer Verherrlichung oder der Vergessenheit im Volke wert war“ (Ferdinand Avenarius, Hofkunst und andere Kunst, in: Kunstwart, 15. Jg., Heft 3, November 1901, S. 87). Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 296. Ebd., S. 295. Ebd., S. 289. Vgl. ebd., S. 298. Ebd., S. 299. Im Stein-Kapitel der Deutschen schilderte Moeller das Barock wie folgt: „[...] damals [im 17. Jahrhundert] kroch scheußlich, widernatürlich, weil sie etwas verherrlichte, was nicht mehr war und doch noch aufrechterhalten werden sollte, die Kultur des Barock gegen unser Vaterland an: die Kultur zu Leben bemalter Leichen, die Kultur zu falscher Ansehnlichkeit aufgeblähter Leiber, die Kunst dionysisch gewordener Jesuitenpater. Vorüber war es mit der Heiligkeit deutscher Kirchen. Vorüber mit der frischen Kraft deutscher Städte. Gips und Tünche feierten ihre Triumphe. Mit Gewalt sollte Deutschland Rom werden“ (ebd., S. 191). Ebd., S. 291.
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bau der künstlerischen Potentiale des Volkes bewirkt habe. Schuld schienen Moeller vor allem die Folgen des Königsmechanismus, d.i. die Möglichkeit eines fürstlichen Mäzens, durch große Aufträge, Auszeichnungen und Titelvergabe Einfluss im Kampf der Kunstrichtungen auszuüben. Moeller zufolge litten „unsere jungen Künstler an nichts mehr als daran, daß man sie nicht zu den öffentlichen Aufträgen der Zeit zuläßt, daß ihre Entwicklung sich vielmehr an privaten vollziehen muß“.307 Besonders betroffen schien dabei die Architektur als die am stärksten von öffentlichen Aufträgen abhängige Kunst: „Heute ist das Stadtbild Berlins, und gerade in der Gegend der kaiserlichen und staatlichen Bauten, völlig zerstört.“308 Moeller war also nicht allein ein Kritiker der kaiserlichen Ästhetik, sondern vor allem ein Kritiker der Prinzipien der kaiserlichen Auftragsvergabe und der massiven, durch keine besondere Kenntnis legitimierten Eingriffe des Kaisers in den Kunstbetrieb.309 Dass sich trotz dessen Interventionen eine moderne Kunst in Deutschland entwickelt hatte, wurde von Moeller hingegen als ein Zeichen der ästhetischen Vitalität des deutschen Volkes interpretiert: „Unmittelbar aus dem Volke“ heraus sei eine Kunst entstanden, „[...] die nicht gesonnen war, gerade noch die allerletzte [...] Aufgabe aller Kunst zu erfüllen, nämlich Dekoration zu sein, sondern die wiederum das erste, ursprünglichste, heiligste Wesen der Kunst erneuern wollte: wirkliche Schöpfung zu sein und Geschaffenes zu offenbaren. Als Erscheinung ist es unerhört in der Geschichte. Wann wäre es denkbar gewesen, daß neben dem erwählten Eklektizismus der offiziellen Kultur sich jung und frisch eine Primitivität erhoben hätte, der es gelungen wäre, an der offiziellen vorbei die Nation durch eine nur aus ihr und der Zeit geschöpfte neue [...] Kultur zu repräsentieren!“310
Dies war zweifellos eine etwas vereinfachende, für den Selektionsoptimisten Moeller sehr fruchtbare Sichtweise; weil durch das Entstehen moderner Kunst bewiesen war, dass die Deutschen ein „junges“ Volk seien und „die nationale und politische Entwicklung, die mit 1871 eingesetzt hat, eine wirkliche Neuentwicklung ist“.311 In diesem Sinne lag für Moeller das Scheitern des Kaisers eben darin, dass er an dieser Entwicklung nicht teilzunehmen vermochte.312 Darüber hinaus gehörte es für Moeller zur „geschichtlichen Tragik des Kaisers“313 und der ganzen, von ihm repräsentierten Generation, im Schatten Bismarcks und aller anderen Sieger von 1871 zu stehen. Und daher war es ohne Ironie, wenn er die Entlassung Bismarcks als Wilhelms „stärkste“ politische „Tat“ bezeichnete.314 Es wäre 307 308
309 310 311 312 313 314
Ebd., S. 297. Ebd., S. 298; Dem Problem des kaiserlichen Einflusses auf die Architektur hat sich Moeller in einem Aufsatz gewidmet (Moeller van den Bruck, Der Kaiser und die architektonische Tradition, in: Die Tat. Sozial-religiöse Monatsschrift für deutsche Kultur, 5. Jg., Heft 6, September 1913, S. 595–601). Vgl. hierzu John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888– 1900, München 2001, S. 984–1026; Martin Stahter, Die Kunstpolitik Wilhelms II., Konstanz 1994. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 292. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 289. Ebd., S. 307. Ebd., S. 302 f.
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jedoch verfehlt, von Moeller ein Verständnis für diese Tragik zu erwarten. Zwar war ihm durchaus klar, was es bedeutete, ein politischer Epigone zu sein, denn er reflektierte auch, dass die „Zeit zu [weiteren] Taten für uns in Deutschland noch gar nicht gekommen ist“315, doch war Moeller weit davon entfernt, von Wilhelm II. eine Rückkehr zum politischen Normalmaß zu erwarten. Stattdessen wünschte er sich, dass der Kaiser „bei mancher späteren Gelegenheit wieder so entscheidend herausgetreten wäre, wie“ bei der Entlassung Bismarcks, „als er durch seine erste geschichtliche Handlungsweise die Aufmerksamkeit Europas erregte“.316 Moeller forderte also noch mehr Schneid und vor allem eine aggressivere Außenpolitik, so wie sie ja auch in den von ihm zitierten Reden als Gedankenspiel schon einmal stattgefunden hatte. Die „bedauerlichen Folgen, die der politische Freimut Wilhelms des Zweiten“317 mit seinen öffentlichen Ansprachen gelegentlich anrichtete, war ihm vor allem Anlass, um seinen Kaiser zur Tat zu rufen: „[...] viel schwerer als ein unbedachtes Wort, das dann künstlich zu ganz unbeabsichtigter Wirkung gebracht wurde, wiegt in all dem, daß Wilhelm der Zweite überhaupt eine Politik der Worte getrieben hat, und daß er nicht grundsätzlich zu Taten übergegangen ist.“318 Die Politik des Säbelrasselns wurde von Moeller somit durchaus begrüßt. In diesem Sinne äußerte er sich auch positiv zum Schlachtflottenbau: „Er [Wilhelm II.] kann nichts als höchstens die Mittel schaffen und bereitstellen, die wir brauchen, wenn wir den unweigerlich kommenden Auseinandersetzungen gewachsen sein wollen. Die Schaffung einer deutschen Flotte gehört hier hin.“319 Dabei macht Moellers Wort von „den unweigerlich kommenden Auseinandersetzungen“ deutlich, dass er mit seinem politischen und militärischen Tatendrang, tatsächlich schon einen Schritt weiter als sein Kaiser war. Diesem war seine Schlachtflotte noch eher ein Mittel zu Parade und Manöver, jenem bereits die Vorbereitung zu einem Krieg. Die Rhetorik von der „Warte“- und „Übergangszeit“, in der zu stehen die „geschichtliche Tragik“320 des Kaisers sei, fand hierin ihre konsequente Fortsetzung. Sie ist ein Ausdruck jener Sehnsucht nach dem „Platz an der Sonne“321, welche die ganze Epoche geprägt hat, und in diesem Sinne durchaus repräsentativ. Insgesamt bestätigt jedoch Moellers Auseinandersetzung mit dem Kaiser, dass er, der sich vor der Tagespolitik ekelte322, sich für die sachlichen Grundlagen von Politik, für 315 316 317 318 319 320 321
322
Ebd., S. 307. Ebd., S. 303. Ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Ebd.. Ebd. Das Wort vom „Platz an der Sonne“ geht letztlich auf eine Rede des Reichskanzlers von Bülow zurück. In seiner Antrittsrede im Reichstag (gehalten am 6.12.1897) sagte dieser: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber ...Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ (Bernhard Fürst von Bülow, Fürst von Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik, hg. von Johannes Plenzer und Otto Hötzsch, Bd. 1, Berlin 1907, S. 70). Vgl. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 265.
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die jeweiligen Interessen und konkreten Machtverhältnisse überhaupt nicht interessierte. Er urteilte vom Standpunkt eines patriotischen Ästheten, für den dauernder Friede ein Aufgeben des „weltgeschichtlichen Berufs“ und daher unerträglich war. Dementsprechend war Moeller auch wieder froh, dass er mit Wilhelm II. einen Kaiser hatte, der „teils mit teils gegen seinen Willen, wieder Bewegung in einen bereits faul und untätig gewordenen Teil der Nation brachte [...], der uns von neuem Tätigkeit vorlebte und wenigstens versuchte, das zu treiben, was er an dem Großen Kurfürsten […] so rühmte: ‚Politik im großen Stil‘“.323
4.2. Moellers nationalpädagogische Zielvorstellungen Im Kapitel Scheiternde Gegenwart zeigt sich, dass Moeller zu Wilhelm II. ein überaus gespaltenes Verhältnis hatte. Einerseits evozierte er das Bild des „scheiternden“ Kunstpolitikers, der die Ausbildung einer wahrhaft nationalen Architektur zumindest kurzfristig behinderte. Anderseits attestierte er dem Kaiser, er habe wenigstens den Willen zu einer die nationale Gemeinschaft stärkenden „Politik im großen Stil“ erkennen lassen. In diesem Sinne rechnete er es Wilhelm II. hoch an, mit der Aufhebung des Verbots der Sozialdemokratie einen innenpolitischen Konflikt beendet324 und deutsche Weltpolitik zumindest verbal betrieben zu haben.325 Interessant ist dabei vor allem die These, dass die in ihrer weltpolitischen Dimension neue Außenpolitik Wilhelms II. letztlich als Vorbereitung einer „Rassenpolitik“ zu verstehen sei.326 Durch solche Deutung suchte Moeller die jüngere deutsche Geschichte und zeitgenössische deutsche Politik innerhalb des von ihm gezeichneten weltgeschichtlichen Panoramas sinnvoll zu positionieren. An seinem Anfang stehen die germanische Völkerwanderung sowie das Reich Karls des Großen, an seinem Ende die künftigen weltpolitischen Konflikte. Im Zentrum befindet sich die über sich selbst erhobene Gegenwart zwischen bismarckscher Reichsgründung und kommendem Weltkrieg. Bismarck, so Moeller, sei „so etwas wie eine Antwort auf die ungeheure Völkerwanderungsfrage“.327 Für die Zukunft hingegen prognostizierte er, dass, nachdem das sich „germanischer als jeder andere Germanenstamm erhalten[e]“328 Deutschtum mit dem Bismarckreich sein „Mittelpunktreich“329 gefunden habe, eine beträchtliche Vergrößerung des Reiches hin zu einem „germanische[n] Weltreich“ mit einer der griechischen ebenbürtigen „Rassekultur“330 in Aussicht stehe, wobei ihm die Vision zum verpflichtenden und in seinen Dimensionen maßlosen Ziel wurde: 323 324 325 326 327 328 329 330
Ebd., S. 308. Vgl. ebd., S. 304. Vgl. ebd., S. 305 f. Ebd., S. 304. Ebd., S. 244. Ebd., S. 315. Ebd., S. 243. Ebd., S. 244.
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„[...] als ein neuer Grundsatz auf Erden, in einem Volke zu einem einheitlichen Nationalcharakter verkörpert, muß das Deutschtum sich seinen politischen Anteil an der Erdherrschaft erobern, wie es sich seinen zivilisatorischen, von Hamburg bis Saloniki, von Antwerpen bis Wladiwostok, heute schon und täglich mehr und mehr erobert!“331
Im Sinne dieser Zielvorstellung begründete Moeller die Notwendigkeit einer Nationalerziehung nun nicht allein negativ mit einer geistig-politischen Schwäche der Deutschen, sondern auch positiv mit der Möglichkeit eines Kraftzuwachses. Dabei suchte er das nationale Selbstwertgefühl mit den Deutschen sowohl durch Bewusstmachung der deutschen Geschichte als auch durch seinen Einsatz für eine zeitgemäße und identitätsstiftende Nationalkunst zu heben. So läuft seine Interpretation des historischen Geschehens zunächst darauf hinaus, die Deutschen als ein wesentlich nordisches Volk zu verorten. Armin siegte auf heimischem Territorium, und Heinrich der Löwe begründete jene Ostkolonisation, aus der letztlich der preußische Staat hervorgegangen sei, dem man nun nach beinahe zweitausendjähriger Uneinigkeit die Reichseinigung verdanke. Die Italienpolitik der Staufer hingegen hätte zu keinem greifbaren Ergebnis geführt, wie auch die deutsche Sehnsucht nach südlichen Kulturimporten als verderblich für die nationale Entwicklung geschildert wurde. Insbesondere die römisch-katholische Kirche, aber auch der Klassizismus hätten demnach geistespolitische Fehlentwicklungen befördert und die Ausbildung einer autochthonen deutschen Nationalkultur lange Zeit behindert. Nachdem mit der Gründung des Bismarckreiches die politischen Rahmenbedingungen für die Ausbildung eines deutschen Nationalstil geschaffen worden sei, honoriere die Kunstpolitik des Kaisers zwar die fortlaufende Adaption von unzeitgemäßen Fremdformen, doch dürfe diese Kunstpolitik die unmittelbar bevorstehende Ausgestaltung der nationalen Stileinheit nicht verhindern. Entsprechend betonte Moeller in einer (von zweien) im „Vaterländischen Schriftenverband“ des Generalmajors a. D. August Keim vertriebenen Broschüre332: „Das Deutsche Reich ist nicht gegründet worden, damit wir gute Geschäfte in ihm machen, und nichts weiter. Das Deutsche Reich ist vielmehr gegründet worden, damit wir in ihm eine bestimmte Nationalidee auf Erden verwirklichen.“333 Diese Auffas331 332
333
Ebd., S. 316. August Keim, Veteran des Deutsch-Französischen Krieges, war hervorragend in der Kunst der völkischen Propaganda geschult – nicht zuletzt durch seine Tätigkeit zunächst als Wortführer der Heeresvorlage (1893) unter der Regierung Caprivi und später als führender Funktionär im Flottenverein, Deutschen Jugendverband und Alldeutschen Verband. (Zu Keims Tätigkeiten siehe im Einzelnen: Marilyn Shevin-Coetzee, The German Army League. Popular Nationalism in Wilhelmine Germany, New York 1990, bes. S. 19–29.) Der Vaterländische Schriftenverband, dessen geschäftsführender Vorsitzender und Gründer er war, wurde 1912 in den von Keim mitbegründeten Deutschen Wehrverein integriert und kann also dem Kernbestand der völkischen Bewegung zugerechnet werden (vgl. Marilyn Shevin-Coetzee, Der „Deutsche Wehrverein“, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918 (hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht), München 1999, S. 366–375, hier 369 sowie, Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001, S. 385). Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 13.
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sung vom Umfang des nationalästhetisch-kulturimperialistischen Auftrags zeigt nochmals die neuerliche Spannweite von Moellers Stil-Idee und bestätigt die Wiederkehr der beim apolitischen Bohemien Moeller nachweisbaren ästhetisch oppositionellen Haltung im radikalen Nationalismus. Waren es doch nach Auffassung Moellers nicht zuletzt die Vertreter des „offiziellen“ Deutschlands, die, da sie die Ausbildung einer neuen deutschen Nationalkunst beeinträchtigten, eine „kulturelle Unzufriedenheit“ initiierten, „die jetzt höchstens erst einzelne“ erfasse, „wohl aber mit Empörung die Allgemeinheit stürmisch ergreifen sollte“.334 Weil „Staat und Fürst heute in Deutschland nicht wissen, was Kunst“335 sei, könne eine Nationalkunst im wilhelminischen Reich vorerst nur dann entstehen, wenn die „Künstler selbst zum Mäzen der Nation“336 würden. Als Nationalpädagoge beließ Moeller es jedoch nicht mehr bei dieser Art der den Künstler erhöhenden Feindbestimmung. Indem er einerseits immer wieder konstatierte, dass den in „äußerlicher, oberflächlicher, materialistischer Daseinsführung“337 verharrenden Wilhelminern das Bewusstsein für die wahre und einzigartige deutsche Kultur verlorengegangen sei, und er andererseits behauptet, dass die „weltgeschichtliche Beachtung“ wesentlich von der Ausgestaltung der nationalen Form abhänge und somit die Nation unbedingt „eine Form finden muß, die nur ihr angehört und in der sie alles in ihr Enthaltene und mit ihr Verbundene unverkennbar ausdrücken kann“338, erklärte er die Entwicklung einer identitätsstiftenden Nationalkunst zur gesamtnationalen Aufgabe. Denn, so Moeller in Nationalkunst für Deutschland (1909): „[...] zu dieser Kunst und unter diese Form gehört alles, was aus der originalen Anschauung des Volkes, von seinen überdurchschnittlichen Begabungen in bestimmter Weise gebildet und geprägt, unmittelbar hervorgeht und uns sein lebendiges Wesen durch Alle, die an seiner Entwicklung mitarbeiteten, schöpferisch verkündet.“339
Dieses national-ästhetische Formkonzept wurde dann universalistisch folgerichtig auch auf die Bereiche der individuellen Lebensführung ausgedehnt: „Ferner gehören Leben und Lebensführung hierhin, alles was wir unter dem Charakter eines Volkes verstehen, soweit er nicht nur innerlich wirkbar, sondern auch äußerlich sichtbar ist, Tracht und Mode endlich, samt Bräuchen und Einrichtungen und der ganzen Art zu reden und aufzutreten, wie sie schließlich auf Statur und Miene des Menschen selber herüber wirkt und ihn rassenhaft und nationaleigentümlich durchbildet. Kurzum, der Stil gehört hierhin, auf den wir ein Volk zu bringen pflegen.“340
334 335 336 337 338 339 340
Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 262. Moeller van den Bruck, Das Mäzenat der Nation, in: Werdandi, 2. Jg., Heft 2, Februar 1909, S. 9. Ebd., S. 8. Moeller van den Bruck, Theodor Däubler: „Das Nordlicht“, in: Der Tag, 24.03.1909. Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 3. Ebd., S. 3 f.
Ebd., S. 4.
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Emphatisch brachte er sein Ziel auf die Formel: „So gilt es den Stil des Reiches zu schaffen. Es gilt das Deutschtum zu schaffen, an dem man uns in der Welt und unter der Völkern erkennt.“341 Darüber hinaus hat das nationalpädagogische Konzept, das Kunst zu einer wesentlich nationalen Angelegenheit machte, das die Möglichkeit echter Kultursymbiosen prinzipiell bezweifelte und dem schließlich Moellers Ruf nach einer „Nationalkirche“342 als einheitsstiftendem Fundament unbedingt an die Seite zu stellen ist, auch eine direkt politische Pointe: Moeller, der im Parlamentarismus einen Ausdruck der Uneinigkeit und Schwäche, die Fortsetzung der „Kleinstaaterei“343 mit anderen Mitteln sah und der im Liberalismus eine „Phrase des Kosmopolitismus“ erkannte344, erhoffte sich von Deutschlands „innerer Kulturpartei“345 eine Überwindung der politischen Parteien und Richtungen, insbesondere des Liberalismus. Gegenüber Ludwig Schemann bekannte Moeller: „Man weiß offenbar gar nicht, was ich mit dem Werk [Die Deutschen] eigentlich will [...], daß hier eine Todfeindschaft gegen all das sich ankündigt, was man wohl kurz zusammenfassend am besten Liberalismus nennt.“346
4.3. Beim „Tag“ Dass sich nicht nur ein dezidiert national gesinntes Publikum für die Positionen Moellers erwärmen konnte, verdeutlicht die Tatsache, dass er einen Großteil seiner nationalpädagogisch intendierten Pamphlete im Tag, einer nominell überparteilichen Berliner Tageszeitung, veröffentlichen konnte. Grund genug, das Publikationsorgan kurz vorzustellen, lässt doch Moellers regelmäßige Mitarbeiterschaft beim Prestigeblatt des Scherl-Verlages auf eine steigende Reputation des Volkserziehers auch bei einem bürgerlichen Publikum schließen. Denn das Ziel des mit dem überaus erfolgreichen Berliner Lokal-Anzeiger zu einem der drei großen Berliner Zeitungsverleger aufgestiegenen August Hugo Scherl (daneben Leopold Ullstein (Berliner Zeitung) und Rudolf Mosse (Berliner Tageblatt)), mit dem Ende 1900 gegründeten Tag auch das gebildete und wohlhabende Publikum erreichen zu wollen, schlug sich nicht zuletzt in dessen Kulturteil nieder. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts war er der anspruchsvollste von allen Berliner Zeitungen. Sein Theaterkritiker war Alfred Kerr. Einzelne Beiträge von Hugo von Hofmannsthal347 und Thomas Mann348 lassen 341 342 343 344 345 346 347
Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 14. Moeller van den Bruck, Erziehung zur Nation, Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 13, Berlin 1911, S. 5. Ebd., S. 4. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1906, S. 33. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79. Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (22.01.1908), in: Deutschlands Erneuerung, 8. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 323. Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: Der Tag, 18.10. u. 19.10.1902.
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sich nachweisen, während Georg Simmel, Paul Ernst, Franz Servaes, Friedrich Lienhard, Julius Hart und Moeller van den Bruck zu den vergleichsweise stetigen Mitarbeitern gehörten. Der Leitspruch des Tages lautete „Keiner Partei dienstbar. Freies Wort jeder Partei“. Das Blatt erschien in einer Auflage von 50- bis 100.000 Exemplaren zweimal täglich in einer Morgen- und einer Abendausgabe, hatte auch eine moderne illustrierte Beilage und wies eine technische Neuerung auf: Erstmals wurde das herkömmliche Schwarz des Zeitungsdrucks durch dicke rote Unterstreichungen und durch rote Überschriften belebt. Dass sich hierdurch das schwarz-weiß-rote Farbenspiel der Reichsflagge ergab, war gewiss kein Zufall. Es entsprach August Scherls Neigung und Absicht, sich als deutscher Patriot zu präsentieren. Der bürgerlichen Leserschaft des Tages wollte Moeller vor allem beibringen, dass die Deutschen beste Chancen hätten, zum führenden Volk der kommenden Jahrzehnte zu werden, wenn sie die in ihnen ruhenden Anlagen zur Entfaltung brächten.349 Konstituierend auch für die hier publizierten Aufsätze ist die Vorstellung, am Ende einer kurzen, für die zukünftige nationale Entwicklung aber womöglich kritischen „Übergangsepoche“ zu leben.350 Während er seinerseits immer wieder die existentielle Bedeutung des nationalen Bewusstseins betonte, sah Moeller breite Bevölkerungsschichten von einem bisher nicht gekannten Orientierungsverlust bedroht. Als symptomatisch galten ihm Erscheinungen wie die „Subjektivierung der Gesellschaft“ und die „Spezialisierung der Gebiete“351. Bezeichnender Ausdruck seines von der Idealvorstellung eines identitätsstiftenden „Stil[s] des Reiches“352 bestimmten Krisenbewusstseins ist, dass nach seiner Ansicht sowohl die als Sekte apostrophierte sozialistische Bewegung als auch das „prophetische Ich einsamer Denker wie Nietzsche“ infolge der „moderne[n] Spezialisierung ewiger Ideen“ entstanden seien. Kritisierte Moeller Nietzsche und Nietzscheaner sowie Sozialisten in diesem Zusammenhang doch nun vor allem deshalb, weil sie keine der nationalen Identität förderliche Idee, sondern „nur Teilgedanken“ hervorgebracht hätten.353 Dem entsprechen die Vorwür348 349
350 351 352 353
Thomas Mann, Gabriele Reuter, in: Der Tag, 14.02. und 17.02.1904, Notizen, in: Der Tag, 24.12. und 25.12.1905. Dass Moeller in Ausführungen zur geistigen Befindlichkeit der Nation den Schwerpunkt seines publizistischen Schaffens sah, dokumentiert die Zusammenstellung des nachgelassenen Manuskripts Meinungen über deutsche Dinge. Diese zur Buchpublikation vorgesehene Aufsatzsammlung enthält vor allem eine Vielzahl von im Tag erschienenen Beiträgen, die sich mit politischen bzw. kulturpolitischen Fragen beschäftigen. (Vgl. die unter 9.1.2. mit MüdD gekennzeichneten Beiträge sowie Moeller van den Bruck, Rasse und Nation; Meinungen über deutsche Dinge; Der Untergang des Abendlandes. Drei Texte zur Geschichtsphilosophie (hg. von Michel Grunewald), Bern u. a. 2001, S. 151–295; das Manuskript befindet sich im Nachlass von Hans Schwarz (im Privatbesitz der Familie Buhbe in Schöppenstedt). Moeller van den Bruck, Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1914. Moeller van den Bruck, Symptome der Zeit, in: Der Tag, 13.03.1913. Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 14. Moeller van den Bruck, Die Ethik des Imperialismus, in: Der Tag, 03.07.1913.
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fe, die Moeller gegen politische Parteien354 und Kirchen355 wie auch gegen die philosophischen Präferenzen seiner Zeitgenossen erhob. Gegen den als „flach“ und „langweilig“ bezeichneten Materialismus356 wandte Moeller beispielsweise ein, dass er den denkenden Menschen nicht über sich selbst erhoben und seinem Leben einen Sinn gegeben hätte.357 Dem „Relativismus“ bescheinigte er, dass unter seinem „Einfluß Denken, Urteilen und Handeln der Menschen von heute zersplittert“ wäre.358 Und schließlich diente ihm der offizielle Kunstbetrieb als Ausweis für das schöpferische Unvermögen weniger des Volkes als der ihm entfremdeten, spezialisierten Kunstproduzenten: „Hier haben wir ganze Kasten und Berufe, haben wir die Neigung einer weiten und eingewurzelten Gesellschaft zu überwinden, die durch ihr Verhalten offen eingesteht, daß sie nur das Zweitrangige als das Gefälligere und leichter Zugänglichere will.“359 Jedoch lag es Moeller fern, von einem kontinuierlichen Niedergang bzw. einem absehbaren und unausweichlichen Ende zu sprechen. Denn zur Übergangsepoche wurde die von Unsicherheit und Nervosität geprägte Gegenwart für ihn nicht zuletzt dadurch, dass auch gegenstrebige Tendenzen erkennbar waren. Beispielhaft für die Überzeugung, Zeitzeuge von „Vorbereitungsjahre[n]“360 zu sein und also einem in einer Übergangsepoche tatsächlich aufstrebenden „jungen“ Volk anzugehören, sind Beiträge wie die Froschperspektive (Der Tag, 16.4.1910) und Das Problem des Niedergangs (Der Tag, 04.04.1912), in denen Moeller im technischen Fortschritt, im Bau von Hochöfen und Eisenbahnen sowie in der Luftschiffahrt ein „Versprechen“ und den „Anstoß der Weiterentwicklung“361 erkannte, während die hohe Bevölkerungszahl für ihn „der starke Beweis unserer Jugendlichkeit als Volk“362 war. Da er zudem in Der Mangel an großen Männern (Der Tag, 24.02.1911) überall im praktischen Leben „Männer der Vorbereitung“, das sind „Männer des tätigen Lebens, Unternehmer, Großkaufleute und Handelsherren, Pioniere und Weltfahrer, Erfinder und Ent-
354
355
356 357 358 359 360 361 362
Entsprechend:„[...] die Partei [...] dilettiert mit allen Ideen, die eine Zeit nur aufwirft, und verbanalisiert sie um so notwendiger, als daß sie doch nur diejenigen Zeitideen wirklich aufnehmen kann, die sich mit der vorgefaßten Parteiidee vertragen, so daß für die übrigen bloß der farblose Gemeinplatz übrigbleibt“ (Moeller van den Bruck, Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1913). Entsprechend: „Beide, Katholizismus und Protestantismus, sehen wir heute in ihrem schlimmsten Verfall. Der Katholizismus wurde einst groß durch seine Formen, der Protestantismus groß durch seine Idee. Aber von der Gegenreformation an ist keine Mystik mehr um diese Form [...] und auf die Ideen der Reformatoren ist schließlich auch nur die Ideenlosigkeit von neuen Scholastikern gefolgt“ (Moeller van den Bruck, Die deutsche Nationalkirche, in: Der Tag, 14.03.1911). Moeller van den Bruck, Die Froschperspektive, in: Der Tag, 16.4.1910. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Mut zur neuen Weltanschauung, in: Der Tag, 10.12.1909. Ebd. Moeller van den Bruck, Feuer an Alexandria, in: Der Tag, 22.06.1909. Moeller van den Bruck, Die Froschperspektive, in: Der Tag, 16.4.1910. Ebd. Moeller van den Bruck, Das Problem des Niedergangs, in: Der Tag, 04.04.1912.
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decker“, am Werk sah363, machte er seine überwiegend gebildete Leserschaft darauf aufmerksam, dass es ausschließlich der Mangel an adäquater Geistigkeit sei, der das in einer Übergangsepoche verharrende deutsche Volk daran hindere, seiner imperialen Sendung zu folgen. Kein Zweifel, dass der sendungsbewusste Autor den Lesern des Tages solchen Geist nahebringen wollte, suchte er sie doch unentwegt zu einem „modernen Nationalismus“ zu bekehren.364
4.4. Entdeckung des Konservatismus In der Annahme, dass die „Übergangsepoche“ nur dann zu Ende gehen würde, wenn seine Landsleute allen verderblichen Ideen entsagten, zog Moeller gegen unterschiedliche Gegner zu Felde. Zeugt es noch von einem ungebrochen avantgardistischen Selbstverständnis, wenn Moeller, sich gegen „Rückwärtsler“365 und Kulturpessimisten wendend, von seinen Zeitgenossen einen „äußerste[n] Enthusiasmus“366 der Moderne gegenüber einforderte, so zeigen seine Polemiken gegen Die Vortäuschungen des Fortschritts367, den „demokratischen Wahn“368 sowie die „zerfetzenden Irrtümer, deren sich der Liberalismus auf der ganzen Linie schuldig gemacht hat“369, dass er als Zivilisationsskeptiker den gesellschaftspolitischen Folgeerscheinungen der Modernisierung nach wie vor ablehnend gegenüberstand. In dem Bewusstsein, selbst einer geistigen Elite anzugehören, erblickte Moeller in der breite Bevölkerungsschichten erfassenden „Demokratisierungsneigung“ sowohl den Abbau „wirklicher Staatlichkeit, die immer nur auf Macht, Unumschränktheit, Bewegungsfreiheit gegründet sein kann“370 als auch die Tendenz zur „Nivellierung nach unten“ und also ein Zeichen kommenden Niedergangs.371 Deutlich wird dies in dem Beitrag Das Recht der Menge und die Macht des Einzelnen (Der Tag, 28.01.1911), in dem Moeller behauptete, dass „ein Genie noch nie Demokrat gewesen“ sei. Überzeugt, dass politisches Genie und eine von einer bürgerlichen Massengesellschaft getragene „demokratische Bewegung“ sich prinzipiell antagonistisch gegenüberständen, plädierte Moeller für eine „aristokratische[...] Schichtung, zu der jeder gehört, der das tut, was die Masse eben nicht tut: der sich auszeichnet.“372
363 364 365 366 367 368 369 370 371 372
Moeller van den Bruck, Der Mangel an großen Männern, in: Der Tag, 24.02.1911. Moeller van den Bruck, Der nationale Mensch moderner Zeit, in: Der Tag, 31.12.1909. Moeller van den Bruck, Der Mut zur neuen Weltanschauung, in: Der Tag, 10.12. 1909. Moeller van den Bruck, Die Froschperspektive, in: Der Tag, 16.4.1910. Moeller van den Bruck, Die Vortäuschungen des Fortschritts, in: Der Tag, 02.07.1914. Moeller van den Bruck, Der Mangel an großen Männern, in: Der Tag, 24.02.1911. Moeller van den Bruck; Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1913. Moeller van den Bruck, Die Vortäuschungen des Fortschritts, in: Der Tag, 02.07.1914. Moeller van den Bruck, Das Recht der Menge und die Macht des Einzelnen, in: Der Tag, 28.01.1911. Ebd.
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Typisch für einen kulturkritischen Autor dieser Zeit ist, dass Moellers proaristokratische Agitation nicht in ein Bekenntnis zu dem im preußischen Herrenhaus versammelten Adel, sondern in einem Votum für die „Aristokratisierungsmöglichkeit“ moderner Menschen mündete.373 Schließlich verlangte Moeller von einem echten Aristokraten nicht zuletzt auch, „daß er die Probleme der Zeit kennt und sich nicht feindlich und rückwärts gewandt gegen sie stellt“.374 Die Aristokratie als aus dem Feudaladel hervorgegangene politische Elite war für den ästhetisch opponierenden Autor also nur im Hinblick auf ihre Vorbildlichkeit für einen individualaristokratischer Gegenentwurf zur Massengesellschaft interessant. Ähnliches zeigt sich auch in dem Beitrag Der Stolz der Stände (Der Tag, 23.08.1913). Darin entwickelte Moeller eine Idee von der Renaissance der Berufsstände, weil er hoffte, dass durch sein erwachendes „Standesbewußtsein“ der Arbeiter nicht mehr „helotisch-ökonomische, sondern industriell-repräsentierende Arbeit“ leiste.375 Da Moeller in diesem Zusammenhang von einer „überlegenen Stellung“ des Arbeiterstandes gegenüber einer zwar wohlhabenden, in seinen Augen jedoch unproduktiven Bourgeoisie schrieb376, wird deutlich, dass sein Eintreten für eine Erneuerung der Stände durch Vorbehalte gegenüber den Prinzipien des freien Marktes motiviert war. Seine Furcht galt dem identitätslosen Oszillieren „ohne Standesstil“377, das mit Assoziationen von Auflösung, Desintegration und Fragmentierung besetzt war. Sie entsprach der Sorge, der selbstregulierte Markt würde nur das potenzieren, was Moeller vermutlich in Anlehnung an Paul de Lagarde378 gern „kurz und zusammenfassend [...] Liberalismus“ nannte379: den Pluralismus, den Kosmopolitismus, Nivellierung und Anarchie. Daher ist es nicht 373 374 375 376 377 378
379
Vgl. Corona Hepp, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987, S. 69 ff. Moeller van den Bruck, Das Recht der Menge und die Macht des Einzelnen, in: Der Tag, 28.01.1911. Moeller van den Bruck, Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1913. Ebd. Ebd. Der Moeller wohlbekannte Lagarde ist der deutschsprachige Autor, für den Liberalismus gleichbedeutend mit Nivellierung war. Er schriebt unter anderem: „Der Liberalismus [...] ist die Weltanschauung derer, welche überallher geistige Güter zusammenschleppen, und dies in dem guten Glauben thun, jene seien darum ihr Eigentum, weil sie in ihren Truhen und Schreinen liegen, sowie er es benutzen will [...]. Alle diese Besitzer machen auf Gesunde den Eindruck Geisteskranker, welche Goldpapier als Geld aufzählen: wo derartige Leute im Leben der Völker zur Geltung kommen, wirken sie im höheren Sinne des Wortes entsittlichend, weil sie die Arbeit in Mißkredit bringen, weil sie wie einen Lotteriegewinn Schätze denen hinschütten, welche mit diesen Schätzen nichts anzufangen wissen: sie wirken aber auch im gewöhnlichen Sinne des Wortes entsittlichend, weil auch sie selbst nicht wirklich besitzen, was sie zu besitzen meinen, und darum bei ihnen Theorie und Praxis einander stets widersprechen. Diese Liberalen sind die umgekehrten Schlemihle: sie haben den Schatten des Körpers, aber den Körper nicht“ (vgl. Paul de Lagarde, Die graue Internationale (1881), in: Deutsche Schriften (1878–81), zitiert nach: Ders., Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand, Berlin, Göttingen 1886, S. 400 f.). Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann, Berlin, den 22.01.1908, in: Deutschlands Erneuerung, 8. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 323.
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ohne Hintersinn, wenn Moeller in seinem Beitrag die (liberalen) Parteien als illegitime Stellvertreter der Stände vorzustellen suchte: „Das neunzehnte Jahrhundert glaubte den Stand durch die Partei ersetzten zu können. Es war einer jener zerfetzenden Irrtümer, deren sich der Liberalismus auf der ganzen Linie schuldig gemacht hat, indem er eine theoretische Richtigkeit, aber praktische Unhaltbarkeit zur Doktrin erhob. Der Gedanke hatte etwas Bestechend-Plausibles, die Menschen nicht mehr nach ihren Beschäftigungen, [...] sondern nach ihren Anschauungen, ja Überzeugungen in Gruppen zu sammeln. Nur war es ein literarischer Gedanke, und es zeigte sich [...], daß [...] der geniale oder auch nur der talentierte Mensch in der Partei nicht zu der Geltung kommen kann, zu der er vor dem im Stande kam. Der Stand vertrat womöglich nur eine einzige Grundidee, aber diese Idee entwickelte er meisterhaft [...]. Die Partei dagegen dilettiert mit allen Ideen, die eine Zeit nur aufwirft“.380
Die oben referierten Ausführungen lassen erahnen, dass es weniger Übereinstimmungen im Positiven als die Furcht vor der „Nivellierung nach unten“ war, die Moeller den Konservatismus als Bestandteil seines nationalpädagogischen Programms entdecken ließ. Moeller war gewiss kein Sympathisant der zur Interessenvertretung der Agrarlobby herabgesunkenen Deutsch-Konservativen Partei. Auch eine Bezugnahme auf die Theoretiker des Konservatismus lässt sich in dieser Periode seines Schaffens nicht nachweisen. Was Moeller in seinen Aufsätzen interessierte, waren weniger politische Ideen als eine der Subjektivierung, Desintegration und Nivellierung widerstehende Haltung, eine „konservative Kraft“ oder „Gesinnung“.381 Hatte er noch Ende 1909 ganz allgemein in einer „neuen Weltanschauung“ ein Regulativ zum „zersetzenden“ Relativismus gesehen382, heißt es ein halbes Jahr später in dem programmatischen Aufsatz Konservative Kraft und moderne Idee (Der Tag, 15.06.1910.): „Wir werden aus dieser Zwischenstellung nicht herauskommen, ehe wir nicht über die moderne Weltanschauung völlig umlernen und sie, die bis jetzt nur eine evolutionäre und revolutionäre Kraft hat, wie sie uns vorübergehend not tat, wieder in einer konservativen verwurzeln, welche über allen Schwankungen steht.“383
Demnach war es vor allem die Einsicht in die aus beschleunigtem gesellschaftlichem Wandel erwachsene eigene Orientierungslosigkeit, die Moellers Lob der „konservative[n] Kraft“ zu Grunde lag. Scheint ihm doch nun „[...] ohne weiters klar, daß die Stärke der Weltanschauung, die sich im letzten Jahrhundert unter uns herausgebildet hat, wesentlich in ihrem Zeitwert besteht [...]. Und ebenso klar ist, daß die Schwäche dieser Weltanschauung in einem Mangel an Zusammenhang mit dem Ewigen beruht, in einem Mangel an Verwurzelung, an Tradition, eben an konservativer Kraft.“384
380 381 382 383 384
Moeller van den Bruck, Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1913. Vgl. Moeller van den Bruck, Konservative Kraft und moderne Idee, in: Der Tag, 15.06.1910. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Mut zur neuen Weltanschauung, in: Der Tag, 10.12.1909. Moeller van den Bruck, Konservative Kraft und moderne Idee, in: Der Tag, 15.06.1910. Ebd.
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In diesem Sinne propagierte Moeller einerseits, dass „konservative Kraft“, genauer gesagt, ein ausgeprägter Sinn für die Bedeutung überhistorischer „ewiger“ Werte, seine Zeitgenossen befähigen würde, „über allen Schwankungen“385 zu stehen: „[...] wir müssen [...] wieder den Anschluß an das Überzeitliche und Überräumliche suchen, der allein der an das Ewige ist. Sonst werden wir unweigerlich in dieser engen Abhängigkeit vom Stoffe bleiben, in der wir uns heute befinden, und die uns heute verurteilt, daß das, was einer unter uns denkt, immer nur ihm selbst gilt, aber nicht für seinen Nächsten, und ebenso, daß es nur heute gilt, aber vielleicht morgen schon nicht mehr.“386
Weil er aber anderseits ein wenn auch selektives Bekenntnis zur Moderne, zu moderner Technik und Kunst, auch weiterhin für unerlässlich hielt, sah er sich alsbald gezwungen, eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen einer „Konservative[n] Gesinnung, die sich mit sich selbst zufrieden gibt“, und einer, die „auch in einer Gegenwart wieder Werte zu schaffen sucht, die von neuem konservierungswürdig sind, weil sie dem Besitz der Nation ein neues Gut hinzufügen“.387 So hatte Moeller den „schöpferischen“ Konservatismus schon lange vor Das dritte Reich (1923) für sich entdeckt. Doch war er weder sein Erfinder388 noch sein einziger Propagandist. Denn als „Konservativ, nicht reaktionär!“ wollte zum Beispiel auch der völkische Literaturhistoriker Adolf Bartels gelten, den mit Moeller die Erkenntnis verband, dass es zum einen „ewige Formen gibt, an denen aller Rationalismus, aller Radikalismus vergeblich rüttelt“, darüber hinaus jedoch „der alte Geist stets neu werden muß“, um widerstehen zu können.389 Es liegt auf der Hand, dass solch „schöpferischer“ Konservatismus weder an die alteuropäische societas civilis noch an irgendeinen anderen historischen Bezugsrahmen gebunden ist.390 Zielte er doch auf eine die „Übergangsepo-
385 386 387 388
389 390
Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Geistige Politik, in: Der Tag, 17.07.1911. Schon Paul de Lagarde hatte geleugnet, daß der Konservatismus wesentlich beharrend sei: „Von einem Erhalten alles Bestehenden ist bei den Konservativen keine Rede: sie wenden ihre Fürsorge nicht dem Arbeitsergebnisse irgendwelcher Kräfte, sondern nur den Kräften zu, also Dingen, welche sich selbst erhalten, woferne man ihnen die Bedingungen des Weiterlebens nicht entzieht: daß letzteres nicht geschehe, dafür sorgt die konservative Partei“ (Paul de Lagarde, Programm für die konservative Partei Preußens (1884), zitiert nach: Ders., Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand, Berlin, Göttingen 1886, S. 425). Er konstatierte: „Die konservative Partei wenn ich einmal von Partei reden muß wird an dem Tage entstehen, [...] an welchem als unwiderrufliches Grundgesetz unseres Lebens verkündet worden ist, daß nur persönliche, verantwortliche Arbeit Werte schafft, daß alles was der einzelne nicht selbst erwirbt, ihm und seiner Umgebung nicht zum Unsegen gereicht, daß aber auch für Geist und Seele niemand mehr bedarf, als was er selbst erarbeitet, weil niemals das Ergebnis und der Arbeitsstoff des Lebens, sondern immer nur das Leben ist, worauf es ankommt“ (Paul de Lagarde, Die graue Internationale (1881), zitiert nach: Ebd., S. 404). Vgl. Adolf Bartles, Konservativ, nicht reaktionär! Eine Art Glaubensbekenntnis, Berlin 1900, S. 7. Stefan Breuer, Verfasser der maßgeblichen Arbeit über die Konservative Revolution (Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995), entdeckte hierin ein Defizit: Anlass für
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che“ beendende zukünftige Errichtung einer neuen nationalen Gemeinschaftsform, die als wesentlich konservativ vorgestellt wurde, weil es in ihr keine mit dem Liberalismus identifizierten Auflösungsprozesse und also auch keine Orientierungsdefizite mehr geben würde.
4.5. Deutsche „Kulturwirkung“. Moeller als Kulturimperialist Deutlich radikalere Töne als noch in seinen Tag-Aufsätzen schlug Moeller in den Beiträgen an, die er in der von dem völkischen Aktivisten Paul Samassa391 herausgegebenen (kurzlebigen) Wochenschrift Deutsch-Österreich392 publizierte. Hier warf er beispielsweise die Frage auf, auf welche dem Reich bzw. der Donaumonarchie nicht zugehörigen Gebiete seine Landleute ein „inneres Besitzrecht“393 hätten, und präsentierte sich als nach den „Formen von Groß-Deutschland“394 suchender Kulturimperialist. Schließlich glaubte er, die „Kulturwirkung“ einer Nation vor allem „an den Rändern ihres Staatsgebietes“ erkennen zu können, und zwar „an der Tiefe und
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392
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ihn, der Konservativen Revolution und insbesondere Moeller van den Bruck das Attribut des Konservativen abzusprechen (vgl. Breuer 1995, S. 10 f). Der habilitierte Zoologe und politische Schriftsteller Paul Samassa (1868–1941) war zuvor Redakteur der Alldeutschen Blätter (1900–1908), Organ des Alldeutschen Verbandes, in welchem er zeitweise eine Art Chefideologenrolle übernahm. Als Publizist war er sowohl in Österreich als auch im Deutschen Reich und in auslandsdeutschen Zeitungen vertreten- Im Auftrag des Alldeutschen Verbandes bemühte er sich zunächst von Berlin (ab 1911 von Wien) aus um die Koordinierung der deutsch-österreichischen, bes. der deutschnationalen Parteien und Schutzvereine. Seine vielfältigen Beziehungen zur Militärkanzlei des ErzherzogThronfolgers Franz Ferdinand und zur Deutschen Volkspartei, zum Verein Südmark, zum Deutschen Volksrat für Böhmen und zum Deutschen Klub ließen ihn vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Schlüsselfigur der deutschnationalen-alldeutschen Politik in der Habsburgermonarchie und im Deutschen Reich werden. Mit Deutsch-Österreich war Paul Samassa angetreten, die privilegierte Stellung der Deutschen in der Donaumonarchie zu verteidigen. In einer ersten programmatischen Stellungnahme heißt es: „Unsere Zeitschrift soll ein Sprechsaal sein [...] der Anspruch auf Führerschaft, den wir aufgrund der Geschichte, wirtschaftlicher und kultureller Leistungen erheben, will täglich neu begründet sein. Die Tätigkeit auf dem Gebiete der Sozialpolitik und der Volkswohlfahrtspflege, des wirtschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Lebens legt die Grundlage für die politischen Ansprüche kommender Geschlechter. So wird die Behandlung dieser Fragen in dieser Zeitschrift zu einer einheitlich erfaßten Aufgabe“ (Paul Samassa, Weg und Ziel, in: Deutsch-Österreich. Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur, hg. von Paul Samassa, 1. Jg., Heft 1, 21.12.1912, S. 1–2, hier 2). Vgl. Moeller van den Bruck, Probleme im Baltikum, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg. Heft 14, 29.03.1913, S. 417–423, hier 419. Moeller van den Bruck, Die Auseinandersetzungen der Nationen, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg. Heft 6, 01.02.1913, S. 161–164, hier 161.
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Dichtigkeit, mit der sie in jüngere Kulturen, gar in Unkulturen eindringt“.395 Schwerpunktmäßig interessierte Moeller dabei das Baltikum, das er im Zuge einer Reise, die ihn 1912 nach Russland und Finnland führte, besuchte.396 Denn obgleich es der Publikationsort gebot, die außerordentliche Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes vor allem im Reich der Habsburger zu demonstrieren, nahm diese Thematik in Moellers Aufsätzen einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Lediglich einige allgemeine Ausführungen zum kulturellen Gefälle in Südost- und Osteuropa lassen sich nachweisen: „Das slavische Problem wächst noch, dehnt sich ins Undimensionale, wird zu einem allgemein-europäischen Dilemma an unserer dritten Grenze: der östlichen. Hier ist der Slave auf der ganzen Linie und seit Jahrtausenden der Träger der Kulturlosigkeit.“ Und: „Während wir den Beitrag, den Deutsche und Italiener zum Aufbau der europäischen Welt geleistet haben, in tausend Namen von weltgeschichtlichen Klange ausdrücken können, den der Franzosen und Engländer in hundert Namen, den der Spanier und Portugiesen wenigstens in zehn, der Russen immerhin in einigen seltenen, können wir bei den Tschechen kaum Jan Hus, und mit dem Zusatze, daß sie aus deutscher Bildung kamen, Kopernikus397 und Comenius nennen.“398
Im Baltikum hingegen beobachtete Moeller ein Nachlassen der deutschen „Kulturwirkung“, ein Problem, dem er immerhin zwei von fünf Beiträgen gewidmet hat. Diesbezüglich war es beispielsweise das Entstehen einer von deutschen Einflüssen unabhängigen modernen baltischen Architektur, die Moeller Sorgen bereitete. Er zeigte sich überzeugt, dass diese ein Zeugnis wachsenden nationalen Selbstbewusstseins bei Letten und Esten sei, und meinte, „daß mit dem Finnland benachbarten baltischen Ostseebezirk bedeutsam zu rechnen sein“ werde.399 Gleichwohl stand das „innere[...] Besitzrecht“400 an den russischen Ostseeprovinzen für ihn nicht zur Disposition. Moeller mahnte zwar an, dass die deutschbaltischen Eliten ihrer privilegierten Stellung nur gerecht würden, wenn sie die in den großen Backsteinkirchen „überkommenen Formen wirklich weiterentwickeln“401, gab aber zugleich zu verste-
395 396 397
398 399 400 401
Moeller van den Bruck, Kulturpolitik, in: Deutsch-Österreich, 1., Jg., Heft 10, 01.03.1913, S. 300–306, hier 302. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 19. Bezeichnend für die für die Ignoranz des deutschen Nationalisten Moeller ist, dass er es nicht für nötig hält, den in Thorn geborenen Kopernikus explizit als Polen bzw. Deutsch-Polen vorzustellen. Moeller van den Bruck, Kulturpolitik, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 10, 01.03.1913, S. 300–306, hier 304. Moeller van den Bruck, Die baltische Zukunft, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 18, 26.04.1913, S. 550–556, hier 555. Vgl. Moeller van den Bruck, Probleme im Baltikum, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg. Heft 14, 29.03.1913, S. 417–423, hier 419. Moeller van den Bruck, Die baltische Zukunft, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 18, 26.04.1913, S. 550–556, hier 554.
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hen, dass Lettland und Estland zu klein seien, um als unabhängige Staaten auch eine eigene Nationalkultur hervorbringen zu können: „Eine besondere esthnische Architektur wird immer nur eine Nebenerscheinung einer übergeordneten finnischen in Finnland sein, während die Ansätze zu einer besonderen lettischen Architektur, wie der Aspekt des modernen Riga deutlich zeigt, schon heute mehr nach Berlin als nach Helsingfors neigen.“402
Und: „Schon sprachlich werden die Esthen und Letten ohne das Deutsche nicht auskommen können, weil es nun einmal die Ostseesprache ist [...], deren Bedeutung heute, mit der steigenden Weltstellung und wachsenden Seegeltung des Deutschtums, auch im Ostseebecken eher wieder zunimmt, ganz sicher nicht abnimmt.“403
Daraus folgt, dass Moeller sich mit seinen der Vergegenwärtigung einer deutschbaltischen Kulturblüte gewidmeten Beiträgen nicht allein gegen die Unabhängigkeitsbewegungen der Letten und Esten, sondern auch und vor allem gegen die einer deutschen Expansion nach Osten im Wege stehende russische Hegemonialmacht wandte. Nicht umsonst bezeichnete Moeller den als „lethargisch und faul“ geschilderten „Russen“ als „Eindringling im Baltikum“404, war doch ein unter deutscher Führung stehender baltischer Staat das Ziel seiner aggressiven Kulturpolitik. In den Worten Moellers: „Wenn es gelingt, mit den modernen Experimenten, die heute im Willen von Esthen und Letten liegen, in einem neuen baltischen Stil die Tradition zu verbinden, die nur die Deutsch-Balten aus ihrer Vergangenheit mitbringen, dann wird auch ihnen das Land neu gehören: und zusammen mit Esthen und Letten werden sie [...] aus den drei Ostseeprovinzen ein modernes Land machen, das Rußland so überlegen ist, wie schon heute das Finnentum auf seiner schwedischen Grundlage sich dem Russentum selbstschöpferisch überlegen zeigt.“405
402 403 404 405
Ebd., S. 555. Ebd., S. 552. Moeller van den Bruck, Probleme im Baltikum, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg. Heft 14, 29.03.1913, S. 417–423, hier 419. Moeller van den Bruck, Die baltische Zukunft, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 18, 26.04.1913, S. 550–556, hier 555 f.
5. Die „Werte der Völker“
5.1. Arbeit an Dostojewskij In den im Vorhergehenden zitierten abfälligen Bemerkungen über das „Russentum“ deutet sich an, dass Moellers Sympathien für das „jüngste“ russische Volk keineswegs grundsätzlicher Art waren und es gewiss kein Anflug von Russophilie war, der ihn bewegte, sich auf Anregung seiner späterer Frau Lucie sowie deren Schwester Elisabeth „Less“ Kaerrick1 als Wegbereiter Dostojewskijs zu betätigen. Die Motive, die Herausgeberschaft Sämtlicher Werke Dostojewskis zu übernehmen, waren vielmehr zunächst ganz eigennütziger Natur: Erstens hatte Moeller schon Erfahrungen in diesem Metier. Zweitens erhoffte er sich neben dem Ruhm, den großen Russen für ein breites deutsches Publikum entdeckt zu haben, eine beständige Einnahmequelle. Drittens glaubte er, in Dostojewskij einen Mitstreiter im Kampf gegen den als dekadent empfundenen Westen gefunden zu haben. Um 1904 entwickelte sich bei Moeller bekanntlich die Überzeugung, dass die deutsche Kultur in Kürze die Weltkultur bestimmen werde. In dem Bewusstsein, dass das Defizit an identitätsstiftendem Stil, das die deutsche Kultur noch habe, aus dem Eindringen fremder Einflüsse resultierte, wendete er sich Russland zu. Er meinte, dass das russische Volk seine mystische Religiosität und damit auch seine nationale Identität zu bewahren vermocht habe. Dabei galt ihm Dostojewskij später als die Verkörperung dieser Religiosität schlechthin. Moellers Rezension zu Mereschkowskijs Tolstoi und Dostojewski als Menschen und Künstler (1903)2 zeigt jedoch, dass sich diese Überzeugung eher langsam herauskristallisierte. In seiner Besprechung lobte Moeller Mereschkowskijs Buch als „das Beste, Tiefste, was über Tolstoi und Dostojewski je geschrieben worden ist“, und das, obwohl – oder gerade weil – er in dieser Untersuchung die beiden russischen Dichter „so ganz und gar von der Seite ihrer religiösen Elemente nimmt“.3 Diese Seite sei nämlich bei beiden die wichtigste. Tolstois Religiosität stehe, und hier rekapitulierte er den Gedankengang Mereschkowskijs, ganz auf der Basis einer reinen, ursprünglichen Natur, sie predige ein Ethos und ziele auf sittliche Lebensführung des Menschen im Alltag. Dostojewskij hingegen sei be1
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Letztere hat unter dem nach ihrem Tod (1966) gelüfteten Pseudonym „E. K. Rashin“ die 1960 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung preisgekrönte Übersetzungen der Texte besorgt (vgl. Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919, Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 61). Arthur Moeller-Bruck, Tolstoi, Dostojewski und Mereschkowskij, in: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Juni 1904, S. 305–308. Ebd., S. 305.
Die Werte der Völker
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kannt für seine psychologische, unerbittliche Darstellung des modernen Menschen. Rücksichtslos decke er die Schwächen der Moderne auf. Seine Religiosität bestehe darin, dass er im Schauer vor den Abgründen dieser modernen Welt neue mystische Offenbarungen erahne und nach den „sinnlich-übersinnlichen Mysterien des Weltzusammenhanges“4 forsche. Dostojewskij sei deshalb der wahre Vertreter einer aus dem Geist des Moderne geborenen Religiosität, die keine sittlichen Schranken aufbaue, sondern den Geist vertiefe. Mit dem russischen Kritiker teilte Moeller die Auffassung, dass erst aus diesen beiden Formen von Religiosität die neue, dritte Form, „in der sich dann das ganze Leben, das natürliche und das kulthaft gesteigerte, zusammenfinden vermag“5, entstehen könne. Im Folgenden wich Moeller jedoch signifikant von seiner Vorlage ab. Mereschkowskij habe verständlicherweise aus russischer Position heraus geschrieben und eine zukünftige russische „Allerweltskultur“6 propagiert. Diese werde vielleicht entstehen, aber erst in ferner Zukunft: „Wir im unheiligen, aber wirklichkeitsstarken Westen wissen natürlich, daß in einem derartigen Patriotismus eine Wahrheit steckt, die auch wir wohl noch einmal zu spüren haben werden. Nur dürfte die Zeit dazu noch lange nicht gekommen sein. Gewiß verschiebt sich der Schwerpunkt des europäischen Gleichgewichts auch in geistiger Beziehung immer mehr von dem Westen nach dem Osten und wird sich einmal nach Rußland verschoben haben, so daß unter diesem Gesichtswinkel das Land auch unserer Erwartung [...] tatsächlich Rußland ist. Nur dürfte die Erfüllung dieser Erwartung, und namentlich in allgemein kultureller Beziehung, durch den germanischen Keil, der fest und stark im eigentlichen Europa sitzt, noch für eine sehr geraume Zeit hinausgeschoben sein. Vorläufig hat erst noch das Germanentum seine weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen und die germanische Hochkultur zu schaffen, die ihm das jetzt langsam zurücksinkende Romanentum zwei Jahrtausende lang verwehrt hat.“7
Und wenn dieses Buch aus deutscher Sicht geschrieben wäre, so Moeller, hätte die Position einer naturnahen sittlichen Religiosität, wie sie der russische Geist exemplarisch vertritt, durch Tolstoi beibehalten werden können. An die Stelle Dostojewskijs wäre jedoch Nietzsche getreten, als Repräsentant eines europäischen Geistes und der Kultur. Kultur bedeutete für Moeller an dieser Stelle die entwickelte Lebensform eines Volkes, das sich eine in Jahrhunderten durch rege Geistesarbeit, aber auch durch wirtschaftliche Leistungen geprägte Identität gegeben hat. Religion hingegen sei ursprungsnah, charakteristisch für diejenigen „jüngsten“ Völker der Geschichte, die die Stufe der Kulturvölker (noch) nicht erreicht hätten. Mereschkowskijs Ansatz, aus zwei Antipoden eine Synthese schaffen zu wollen, wurde von Moeller, der ja ebenfalls antithetisch zu denken pflegte, gutgeheißen. Ja, er erkannte sogar in dem russi-
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Ebd., S. 306. Ebd. Ebd. Ebd., S. 307.
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schen Kritiker den angekündigten „Dritten“8, die Synthese aus Fleischlichkeit und Geistigkeit, was bedeute, dass Russland mit Mereschkowskij in den Kreis der Kulturnationen eingetreten wäre. Das heißt, in seiner Auffassung von der Geschichte als Abfolge von Entstehen, Gipfelpunkt und Niedergang von Hochkulturen sah Moeller Deutschland vor dem Gipfelpunkt, Russland hingen stand nach seiner Auffassung erst am Beginn seiner Entwicklung zur Kulturnation. Somit stellt sich Folgendes heraus: Konstituierend für Moellers Interpretation der Werke Dostojewskijs war seine in den Pariser Jahren entwickelte Erwartungshaltung, nach der die Deutschen demnächst das kulturell führende Volk Europas würden, die Russen seien hingegen das Volk einer noch allzu fernen, allerdings hoffnungsvollen Zukunft: Russland, so Moeller einige Jahre später, sei das „einzige[...] Land [...] Europas, zu dem niemals die Entartungsformen unserer Kultur gekommen sind“.9
5.1.1. „Werte“ der Russen Aus dem, was Moeller in seinem ersten Aufsatz über Dostojewskij sagte, wird deutlich, dass er zu diesem Zeitpunkt (Anfang 1904) den russischen Dichter noch nicht gut kannte. Sein Urteil über ihn entsprach der naturalistischen Auffassung von Dostojewskij als Psychologen10 und wurde nur durch Mereschkowskijs Gedanken in mystische Bahnen gelenkt. Dies lässt unter anderem den Schluss zu, dass Moeller in der Einsicht, (noch) nicht über die nötige Sachkenntnis zu verfügen, dem seit März 1906 in Paris ansässigen Mereschkowskij die Mitarbeiterschaft angetragen hatte, so dass die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs seit 1906 unter folgendem Titel im Verlag „R. Piper & Co“ erschien11: F. M. Dostojewski: Sämtliche
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Ebd., S. 308. Moeller van den Bruck, Barlach, in: Der Tag, 13.09.1912. Stadien und Varianten der Dostsojewskij-Rezeption in Deutschland sind durch Theoderich Kampmann dokumentiert (Theoderich Kampmann, Dostojewskij in Deutschland, Münster 1931, zu Dostojewskij als Psychologe vgl. S. 13 f. ). Den Vorschlag, eine Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs herauszubringen, hatte Moeller 1905 zunächst dem Georg Müller Verlag München unterbreitet, doch leitete Müller den Plan an seinen früheren Mitarbeiter Reinhard Piper weiter, der mit ihm als Teilhaber einen neuen Verlag „R. Piper & Co“ gegründet hatte. Piper erwähnt in seinen Erinnerungen, dass Moeller sich an ihn gewandt habe, weil „der Verlag jung war und er sich also von ihm eine lange Lebensdauer versprach.“ Ein Argument, das nicht unbedingt stichhaltig ist, hätte doch der Verlag ebenso jung wie kurzlebig sein können. Der damals noch unbekannte Verleger bedauerte später, „daß mir nicht selber die Idee dieser Dostojewski-Ausgabe gekommen war“ (Reinhard Piper, Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers, München 1947, S. 406 f.). Über den geschäftlichen Erfolg des Unternehmens urteilte der voller Stolz zurückblickende Verleger:„Die Ausgabe war, um auch von dieser praktischen Seite zu sprechen, durchaus kein ‚Geschäft‘. Ich mußte mir immer wieder überlegen, wie ich Dostojewski dem Publikum nahebringen könnte. [Der Aufschwung] setze erst mit dem Weltkrieg ein, als eine geistige Auseinandersetzung mit den Russen unvermeidlich geworden war. [...] Von 1916 an wurden nach und nach
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Werke. Unter Mitarbeiterschaft von Dimitri Mereschkowski, Dimitri Philosophoff u. a. hrsg. von Moeller van den Bruck.12 Zudem scheint der damals völlig unbekannte Literat auf die Zugkraft des Namens des damals meistgelesenen russischen Autors spekuliert zu haben. Entscheidend für die Beurteilung gerade seiner herausgeberischen Leistung ist jedoch, dass sich Moellers mangelnde Sachkenntnis auch in seinen Texten niederschlug. Mangelndes Wissen suchte er durch verallgemeinernde Zusammenfassungen und Schlagworte, ohne nähere Erläuterungen zu vertuschen. Er trat als allwissender Autor auf, der über seine Detailkenntnis hinaus nicht den großen Zusammenhang aus den Augen verlor. Besonders seine mystisch-historischen Darstellungen sind dafür bezeichnend. Moeller begann seine Erörterungen der russischen Geschichte meist bei deren Uranfängen, um bei Dostojewskij zu enden. In dieser Weise ist auch die in die gesamte Ausgabe einführende Einleitung des Ersten Bandes – Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne) –, Voraussetzungen Dostojewskis, konzipiert. Sie ist beispielhaft für Moellers Adaption der zeitgenössischen Rassengeschichtsschreibung, genauer für das Unternehmen, „über Gobineau hinaus und von ihm ausgehend“ zu einer die „Werte der Völker“13 berücksichtigenden Geschichtsschreibung zu gelangen. So hatte Moeller bereits im Chamberlain-Aufsatz der Zeitgenossen zwar dargelegt, dass Völker und nicht Rassen die eigentlichen Träger der Geschichte seien. Gleichwohl schien ihm Chamberlains Methode fruchtbar, insbesondere dann, wenn es ihm wie bei der Einführung in die Ausgabe um die Vorstellung der Grundlagen und Vorbedingungen der Geschichte eines Volkes ging. Entsprechend konzipierte er seine Geschichte des Russentums als Rassengeschichte. Dabei zeigt die Argumentationskette, dass Moellers Annahme, die von jeher im geographischen Zentrum der indogermanischen Stämme ansässigen Slawen seien so etwas wie der indogermanische „Rassenkern“, vielleicht sogar das „arische Urvolk“14, nicht von ungefähr kam. Schließt sich doch an sie die Behauptung an, die in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet verbliebenen und also lethargischen Slawen wären anders als andere aktivere Völker und Rassen niemals zu großen Eroberungszügen oder andern kollektiven Unternehmungen aufgebrochen. Sie seien, das zeige die Ge-
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Neuauflagen nötig. Im Jahre 1920 erschienen zusammen 135 000 Bände. 1921 waren es 84 000, 1922 stieg die Zahl auf 179 000“ (ebd., S. 411). Die Ausgabe gliedert sich in zwei Abteilungen. Die erste enthält die fünf großen Romane Rodion Raskolnikoff, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling und Die Brüder Karamasoff jeweils in zwei Bänden, die zweite umfasst Dostojewskijs Erzählungen, kleinere Romane, die autobiographischen, publizistischen und literarischen Schriften. Geplant waren mindestens 25 Bände, wie man aus der Einleitung zum letzten veröffentlichten Band der Ausgabe, Autobiographische Schriften, entnehmen kann. Dort heißt es im Titel: „Dostojewski als Publizist. Zur Einführung in die Bände 11, 12, 13 sowie 23, 24, 25 der Ausgabe“ (Zweite Abteilung: Elfter Band, München 1919). Die Bände 23, 23 und 24 sind jedoch nicht erschienen (vgl. auch: Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919, Frankfurt am Main u. a., 1998, S. 62 f.). Moeller van den Bruck an Ludwig Schemann (05.12.1907), in: Deutschlands Erneuerung, 18. Jg., Nr. 6, Juni 1934, S. 322. Ebd., S. V.
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schichte, eine ausgesprochen passive Rasse.15 Moeller baute seine These des passiven Russentums weiter aus, indem er alle Formen von Staatlichkeit, die sich im Laufe der Geschichte in Russland entwickelt hätten, auf byzantinische, germanische oder auch tatarische Einflüsse zurückführte. Zudem sei das Russentum geprägt von einer byzantinischen Staats- und Kirchenform und von einem orientalischen Wesen. Folgerichtig kam Moeller zu dem Schluss, dass die Geschichte der slawischen Rasse wie des russischen Volkes eine „Abhängigkeitsgeschichte“ sei.16 Gemäß seinem Vorhaben, die Rassengeschichte zu vertiefen, wurde die Frage „Was ist überhaupt Slaventum?“17 von Moeller jedoch nicht allein unter Bezugnahme auf anthropologische Aspekte beantwortet. Die den Slawen eigentümliche verstärkte Lethargie war seiner Ansicht nach auch auf geographische Faktoren wie die Monotonie der Landschaft in den weiten Ebenen, Wäldern und Steppen zurückzuführen. Von Interesse seien zudem die „geistigen Merkmale“ der Rassenzugehörigkeit: „Die Slaven“, so schreibt er, „waren ersichtlich ein Volk der Menge, ein Volk mit massivem, nicht individualistischem Denken, in dem am allerschwächsten die seelische Tätigkeit des Willens, der Initiative, der Energie ausgebildet wurde. Es trifft das genau mit ihrer Entstehungsgeschichte und deren Zusammenhang mit der allgemein-arischen zusammen, wonach von der arischen Urrasse ein selbstbewußter und unternehmungslustiger Rassenbestandteil nach dem anderen sich loslöste und absonderte und schließlich nur die unbewußteren, unbewegteren, gleichgültigeren, rein duldenden Zellen zurückblieben [....]. Während die Germanen sich in ihrer größten Leistung, der Völkerwanderung, über fast alle Länder der bekannten Erde ergossen, blieben die Slaven, die ungerührten, in ihrer Urheimat ruhig zurück [...] .“18
Nachdem die das russische Volk kennzeichnende Passivität auf so vielfältige Weise begründet und die entscheidende Differenz zu den politisch aktiveren Germanen/Deutschen festgestellt war, kam Moeller auf die Vorzüge und „Werte“ des russischen Volkes, zu der aus der Not heraus geborenen russischen Innerlichkeit und zu der Fähigkeit zum Dulden und Leiden zu sprechen. Sie sei es, die die „Slaven“ letztlich zum „religiöseste[n] Volk Europas“19 werden ließ. Diese besondere religiöse und mystische Virtuosität habe das Slawentum nicht nur vor dem Untergang in seiner „Leidensgeschichte“ bewahrt, sie sei auch bestimmend für seine „geistige Zukunft“.20 So sei es letztlich das Verdienst der einer „latenten Religiosität“ entspringenden russischen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts, dass sie die negativen Folgen des durch die Petrinischen Reformen und die Napoleonischen Kriege beförderten Imports westlicher Staatlichkeit und Kultur benannt und schließlich dem Slawentum eine geistige Identität gegeben habe. Überdies bestätigten gerade die Werke Dostojewskijs, der als „zentrales Genie“21 der russischen Dichtung apostrophiert wurde, dass diese 15 16 17 18 19 20 21
Ebd., S. VII f. Ebd., S. XIV. Ebd., S. XII. Ebd., S. XII f. Ebd., S. XIV. Ebd., S. XVII. Ebd., S. XIX f.
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Dichtung befähigt sei, Lösungswege für die auch den Westen betreffenden Probleme aufzuzeigen. In den Worten Moellers: „Manches Problem, das in Europa nur dunkel, unklar und unerkannt vorhanden war, wurde in Rußland überhaupt erst gestellt und in der Fragestellung genau, oft grausam, aber immer unerbittlich folgerichtig umrissen. So kam es, daß die russische Dichtung die patriarchalischste und zugleich die modernste Dichtung wurde, diejenige, welche am tiefsten verwurzelt war in den Ur- und Naturzuständen des Menschentums, und zugleich diejenige, welche am weitesten hinausweist in die Zeitenkreise, die heute vor uns liegen.“22
Alle weiteren von Moeller verfassten Einleitungen in die Vorkriegsauflagen der Werke Dostojewskijs schließen an die Einführung in die Ausgabe an. Grundlegend für ihre Konzeption ist eine Moellers Kulturimperialismus legitimierende Dichotomie zwischen dem aktiven und schöpferischen germanisch-deutschen und dem passiven und begrenzt entwicklungsfähigen slawisch-russischen Geist. Da Moeller in einer noch jugendlich lebendigen Mystik den eigentlichen „Wert“ der Russen sah und sich in der Einführung zu Der Idiot eingehender mit ihr befasste, beabsichtigte er nicht allein, die russische Seele begrifflich festzulegen: „Die russische Mystik ist ein Od, das den russischen Menschen umgibt. Die russische Mystik ist der Atem, der dem Leib und Leben des russischen Volkes entströmt. Die russische Mystik ist die Stimmung, die der russischen Erde entsteigt, dämmernd und dampfend, mit jeder Scholle, die umgeworfen wird, und die an der russischen Landschaft hängt wie Tau und Nebel, zwischen langen, langen Flußufern und weiten, weiten Flächen. Diese Sinnlichkeit kennzeichnet sie. Es ist spürbar die Mystik eines jungen, noch schwer sich bewegenden, noch tief in sich befangenen Volkes. Mit Mystik setzt die Geistesentwicklung eines jeden innerlichen Volkstums ein. Mystik ist immer und überall der früheste Versuch des Menschen, sich an das Wesen der Dinge heranzutasten.“23
Die wortreiche Umschreibung dessen, was russische Mystik sei, nennt zwar all jene Eigenschaften, die vom westeuropäischen Publikum bis heute als spezifisch russisch angesehen und in Begriffen wie „Seele“ oder „Innerlichkeit“ zusammengefasst werden24, letztlich lief sie aber auf die Aussage hinaus, die Russen hätten anders als beispielsweise die Deutschen noch keine eigene Weltanschauung hervorgebracht und kein philosophisches System begründet. Ihre Leistungen seien, gemessen am Beitrag der deutschen Mystiker zur allgemeinen Philosophiegeschichte, dürftig.25 22 23
24 25
Ebd., S. XVIII f. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über russische Mystik, in: F. M. Dostojewski. Der Idiot, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dritter Band, München 1909, S. V. Ebd., S. IX. Entsprechend: „Bei den Germanen [...] verkündete später Meister Eckehart: ‚So hat die erkennende Vernunft immer noch etwas über sich, was sie nicht zu ergründen vermag; aber immerhin erkennt sie doch, daß da noch etwas Übergeordnetes ist.‘ Und er verkündete damit im Grunde schon Kant und die Erkenntniskritik. Es war Mystik – aber es war Mystik als reinste Metaphysik. Von einer solchen erstaunlichen Frühreife weiß natürlich die russische Mystik in ihrer Erd- und Sinnengebundenheit nichts“ (ebd.).
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Die in solchen Formulierungen nachweisbare Tendenz, die Russen als ein prinzipiell rückständiges Volk vorzustellen, bestätigte sich ferner in der Einführung zu Die Dämonen (1906), da Moeller behauptete, dass es erst Dostojewskij gewesen sei, der den Russen eine eigenständige Mythologie geben habe: „Dostojewskis eigentliche Tat ist es, daß er Rußland eine Mythologie gegeben – dem modernen Rußland eine moderne, eine naturalistische, eine psychologische Mythologie, herausgeholt nicht aus den Nebeln der Vorwelt, sondern aus denen der Seele.“26 Die angebliche vormalige Abwesenheit einer nationalen Mythologie wurde von Moeller in diesem Zusammenhang sowohl als Manko wie auch als Chance betrachtet. Als Manko, weil ein Volk ohne Mythologie, d.h. ohne Geschichten, die als „Verkörperung seines Urwesens in Urfiguren“27 gelten können, ein Volk ohne Wurzeln, ein im Grunde haltloses Volk sei. Als Chance, weil im Augenblick des Auftretens einer großen schöpferischen Persönlichkeit ein radikaler Neubeginn möglich schien. Im Zusammenhang mit der Bezeichnung der Russen als „jüngstes“ Volk verwundert es nicht, dass dieser letzte Aspekt vom Herausgeber der Schriften Dostojewskijs im Folgenden besonders hervorgehoben wurde. Moeller betonte, dass Dostojewskij eine realistische, zeitgemäße und identitätsstiftende „Wirklichkeitsmythologie [...] geschaffen“ habe und also der eigentliche Schöpfer des modernen Russland sei: „Für ihn gab es keine Tradition mehr: nicht die ‚schöne‘ Tradition der Antike, noch die ‚wilde‘ irgendeiner Romantik. Die einzige Basis, auf der sein Werk ruht, ist seine Zeit. [...] gerade so wie Rußland überhaupt in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit weist, so hat er [...] mit sicherem Instinkt unmittelbar in seine Gegenwart hineingeschaffen und die Seele seines Volkes bloßgelegt, indem er die Seele dieser Gegenwart bloßlegte.“ 28
Hinter dieser Würdigung stand nicht zuletzt die Absicht Moellers, als Interpret des Schöpfers auftreten zu können. So endete seine Einführung in Die Dämonen mit der These, dass Dostojewskij in diesem Roman die „innere Dämonie“29 des modernen Russlands aufgedeckt habe, die revolutionäre Sprengkraft, die in den Herausforderungen der westlichen Moderne an das altrussische System läge: Weil das westlichmodernistische Weltbild die „Minderwertigkeit und Unwürdigkeit“ des russischen Staates aufgedeckt habe, sei die Jugend zur Politik getrieben worden. Der russische Mensch besäße die einzige Sehnsucht „gut zu sein und Gutes zu tun, schuldlos zu sein und alle Menschen zu lieben“, woran ihn jedoch der gegenwärtige Staat hindere. Deshalb sei der Kampf um den vollkommenen Zukunftsstaat ausgebrochen, in dem diese Ideale verwirklicht werden können. Das „Revolutionsepos“30 Die Dämonen schildere den Kampf um diesen Staat. Es sei „stofflich sein russischstes Buch“.31 26
27 28 29 30 31
Vgl. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski, in: F. M. Dostojewski, Die Dämonen, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band, München 1906, S. IX. Ebd., S. IX. Vgl. ebd., S. XIII. Vgl. ebd., S. XIV. Vgl. ebd., S. XV. Ebd., S. XVI.
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Besonders pikant in diesem Zusammenhang ist, dass Moeller auch die russische Literatur als eine typische Kulturleistung eines passiven Volkes schilderte. So gab er in der Einführung zu Die Dämonen zwar vor, etwas über die Entwicklung der russischen Dichtung sagen zu wollen, doch erwähnte er Puschkin, Lermontow und Tolstoi nur am Rande und kennzeichnete Gogol als Vorläufer Dostojewskijs, dessen Werk er als den eigentlichen Anfang einer russischen Nationalliteratur würdigte: „Jetzt holte Dostojewski [...] all das jahrhundertelang Versäumte nach, stellte breit und mächtig eine russische Typologie auf und gab so, indem er das russische Leben in seinem naturalistischen Nationalcharakter ergriff und gleichzeitig bis auf seinen mystischen Untergrund aufdeckte, auch der russischen Dichtung ein für alle Mal und endgültig ihren Nationalcharakter.“32
Ursächlich für das bisherige Fehlen eines mit der Ilias oder dem Nibelungenlied vergleichbaren russischen Nationalepos sei demnach vor allem der „russische[...] Nationalcharakter [...]. Der Russe träumt, aber handelt nicht, sein Weltbild ist monistisch, nicht dualistisch, das Sein ist für ihn Fatum, Verhängnis, nicht Wille und Gegenwille, ist Gefühl, nicht Tat.“33 Noch deutlicher wird die Dichotomie zwischen dem aktiven und schöpferischen germanisch-deutschen und dem passiven slawisch-russischen Geist in einem Vorwort, mit dem Moeller den Leser in Die Brüder Karamasoff (1908) einführte. Darin verglich er die Entstehung dieses „Epos des russischen Suchens“34 mit der Genese von Goethes Faust und entnahm hieraus die seine Vorannahmen bestätigenden Beweise: Im Detail, da „Goethe schließlich doch noch, hart vor seinem Tode, allen Anfällen von Krankheit oder auch Selbstzweifel zum Trotz, seinen ‚Faust‘ zur Vollendung brachte“, Dostojewskij jedoch die von ihm angekündigte Fortsetzung (Brief an N. A. Ljubiímov, 10. Mai 1897) von Die Brüder Karamassoff niemals schrieb, behauptete Moeller, dass die Möglichkeiten für die „Vollendung eines derartig vollendeten deutschen Nationalausdruckes“ bereits „in Goethes Volk selbst lagen [...], daß es das deutsche Volk selbst gewesen ist, das in Goethe dem Schicksal den fertigen ‚Faust‘ doch noch abgerungen hat“.35 Die Brüder Karamasoff hingegen seien unvollendet geblieben, weil „das russische Volk noch gar nicht reif und bereit zu einem russischen Nationalausdruck durch die Dichtung“36 gewesen sei. Mit anderen Worten: So wie die Vollendung des Faust von der schöpferischen Kraft des deutschen Volkes zeuge, so beweise die Nichtfortsetzung und damit Nichtvollendung der Brüder Karamasoff, dass die Russen ein durch und durch rückständiges Volk seien: „Das russische Volk mußte seinen Ausdruck vielmehr erst einmal selbst in seinem Leben in seiner Geschichte finden, ehe es ihn dann auch in seiner
32 33 34 35 36
Ebd., S. X f. Ebd., S. XI. Moeller van den Bruck, Vorwort, in F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Neunter Band, München 1908, S. XIII. Ebd., S. XIV. Ebd.
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Dichtung bekommen konnte.“37 Schließlich weise die Gleichwertigkeit der Hauptfiguren Iwan und Aljoscha Karamasoff darauf hin, dass dieses russische Epos allein deshalb nicht vollendet worden sei, weil der größte russische Schriftsteller in seinem Volk keine Heldengestalt vorgeformt fand, die für sich in Anspruch nehmen konnte, der „zentrale[...] Ausdruck allen Russentums der Gegenwart wie der Zukunft“ zu sein38, es mit Ausnahme Dostojewskijs selbst keine „erlösenden“ russischen Helden gebe: „Seither sind alle Russen Helden: entweder problematischer Art, wie Dostojewski selbst sie in zahllosen Typen geschaffen hat, oder aber stummer, stumpfer, leidender Art, wie sie das russische Leben zeigt.“39 Moellers Glaube an das nationale Charisma der Deutschen bestimmte somit auch seine Lesart der Schriften Dostojewskijs. Der große Russe wurde auf die Plätze verwiesen, sobald es galt, die Leistungen nationaler Heroen zu beurteilen. Dostojewskijs exponierte Stellung resultierte allein daraus, dass sich seine Schriften als wesentlich russischer Beitrag zum Kampf gegen Relativismus und Verwestlichung vermarkten ließen. Entsprechend würdigte Moeller ihn in der Einführung zu Aus dem Dunkel der Großstadt (1907)40 im Gegensatz zu Tolstoi als Dichter der Großstadt und mithin als Pionier einer heroischen Moderne. Beide Dichter hätten auf ihrem Gebiet Monumentales geleistet: „Der eine [Tolstoi], indem er die ganze robuste Volks- und Urkraft in sich aufspeicherte, die im flachen Lande, im Leben des russischen Bauern und des russischen Landadels liegt [...]. Und der andere, indem er all das Fieber aufnahm, das von der Stadt Peters des Großen aufstieg, und all das Grauen und den Wahnsinn, all den Schmerz und das Elend versammelte, die das Leben ihrer Menschen erfüllen.“41
Im Hinblick auf die Zukunft Russlands, die unweigerlich eine Ausdehnung der Großstädte und damit einhergehend eine dauernde Konfrontation des Russentums mit der westeuropäischen Kultur mit sich bringen werde, sei jedoch Dostojewskij als der maßgebliche Autor zu betrachten. Schließlich entscheide sich in der als „Kampfplatz des modernen Lebens“ bezeichneten Großstadt das Schicksal der Nationalkultur. In Petersburg jedoch sah Moeller die „Tragödie Rußlands“, die den aus der gewaltsamen Modernisierung resultierenden Identitätsverlust symbolisiert: „Man kann nicht sagen, daß Petersburg einen bestimmten Charakter habe, und erst recht hat es, [...] keinen bestimmten Stil. [...] Wenn man seinen Charakter suchen wollte, so wür37 38 39 40
41
Ebd., S. XIV f. Ebd., S. XV. Ebd., S. XV f. Der Band enthält Aus dem Dunkel der Großstadt :Das Dunkel, Bei Schnee, Herr Prochartschin, Polkunkoff, Der ehrliche Dieb, Eine dumme Geschichte, Die Kleine (später auch Die Scheue, bevor dann endgültig ab 1922 Die Sanfte), Bobock, sowie Traum eines lächerlichen Menschen. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski als Dichter der Großstadt, in: F. M. Dostojewski, Aus dem Dunkel der Großstadt, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Zwanzigster Band, München 1907, S. IX.
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de man ihn finden in einer ewigen Unfertigkeit, und seinen Stil in einer rein äußerlich bleibenden Einbeziehung so ziemlich sämtlicher Stile.“
Dass Dostojewskij diese für die „Verwestlichung“ Russlands stehende Stadt als von „Uebergangsmenschen bewohnt[e]“ „Uebergangsstadt“42 charakterisiere, war für Moeller der Beweis, dass der Dichter in die Zukunft dachte und erkannte, dass die Auseinandersetzung mit der Moderne zwar notwendig sei, dies jedoch nicht bedeute, dass man westliche Werte übernehmen und seine ursprüngliche Identität aufgeben müsse, es im Gegenteil vielmehr darauf ankomme, dass in der russischen Großstadt eine autochthone moderne Kultur entstehe. So schildere Dostojewskij zwar „verzweifelte, aussichtslose“ Großstadtmenschen, doch scheine er zu wissen, „woher [...] die Erlösung für all diese Menschen kommen“ werde. 43 Denn „[...] im Grunde handelt sein ganzes mächtiges Werk von nichts als den Erlösungsmöglichkeiten der Menschheit. Er hat verschiedene Antworten gegeben [...]. Aber schließlich weiß er doch immer wieder zu sagen, [...] daß gerade aus der Großstadt, aus all ihrem Leid und Wirrsal, durch das wir nun einmal hindurch müssen, nachdem wir es uns selbst geschaffen, die Erlösung zu uns kommen wird, daß gerade aus diesen blassen und eilenden Menschen, die grau in grau durch die feuchten asphaltierten Straßen ziehen, sich eines Tages [...], die Gestalt eines neuen Heilandes für uns ablösen wird.“44
Moeller sorgte sich jedoch nicht allein um die kulturelle Identität der Russen, sondern stellte in seinen Einführungen auch Betrachtungen über die politische Zukunft Russlands an. Schon in der Einführung in die Ausgabe schien ihm diese Zukunft „ziemlich klar“: Es könne „auf slavischem Boden [also westlich des Urals] nur der Zerfall Rußlands in seine Nationalitäten sein“. Hiernach hielt es Moeller für denkbar, dass ein zu sich selbst gekommenes „Slaventum [...] in der Richtung nach Konstantinopel oder Indien“ expandiere.45 Die Pointe dieser politischen Vision besteht in der Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen entfremdender Verwestlichung und territorialer Ausdehnung. Moeller behauptete, dass ein sich als europäische Großmacht verstehendes Russland sich „nicht bloß politisch, sondern auch kulturell von sich selbst entfernte und mit westeuropäischen Mißwerten durchsetzte“.46 Zudem kritisierte er an anderer Stelle, dass man das an der Ostsee gelegene und damit europäische Petersburg zur Hauptstadt gemacht hatte.47 Da er dies auch als ursächlich für die russische 42 43 44 45
46 47
Ebd, S. XVII. Ebd. Ebd., S. XVIII. Moeller van den Bruck, Die Voraussetzungen Dostojewskis. Zur Einführung in die Ausgabe, in: F. M. Dostojewski, Rodin Raskolnikoff (Schuld und Sühne), Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Erster Band, München 1908, S. XVI f. Ebd. So schrieb Moeller: „[...] verhängnisvoll wurde die Stellung Petersburgs erst, als im neunzehnten Jahrhundert Rußland immer entschiedener in die Reihe der europäischen Großmächte hineindrängte, als Petersburg jäh aufschoß, in eine für Rußland zunächst unnatürliche moderne Entwicklung hineingezogen wurde und gleichfalls seinen Platz unter den europäischen Großmächten beanspruchte. Von da an war an Petersburg alles Dunkel und ungewiß. Ungewiß war jetzt nicht mehr bloß der schwankende Wassergrund, auf dem es ruht und in den es
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Identitätskrise benannte, gab er seinen Lesern zu verstehen, dass eine Verlegung seines politischen Schwerpunkts nach Osten im ureigensten Interesse Russlands sei. Moeller hielt es somit für geboten, Russland im Osten und zwar idealerweise östlich des Urals neu zu erfinden. Diesem Unternehmen war die Einführung zu Aus einem Totenhaus (1908) gewidmet. Darin bezeichnete er Sibirien als „Land einer großen slavischen Zukunft“.48 In Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten nahm Moeller den Erfahrungsbericht Dostojewskijs49 zunächst zum Anlass, sich Gedanken über die Zusammensetzung der sibirischen Bevölkerung zu machen. Wobei es ihm offensichtlich darauf ankam, die sibirische Bevölkerung als vergleichsweise tatkräftig, risikofreudig und somit von den eigentlich passiven Russen verschieden zu charakterisieren: „Nach Sibirien entledigte man sich der Hunderttausende von Opfern, die Rußlands dunkle und verzweiflungsvoll suchende Geschichte forderte. Russen, Polen, Finnen, Esthen, Letten, Deutsche, Schweden, ferner Angehörige der Donau-, Wolga- und Kaukasusvölker sammelten sich in den sibirischen Kolonialstädten. [...] Hinzu kamen Bauern, welche in der Heimat darbten und nun sich aufrafften und freiwillig gingen, ferner Abenteurer, Kaufleute, Händler. Alles in allem kamen nach Sibirien die roheren, aber auch tätigeren und entschlosseneren Elemente, während die gefügigeren und feineren, aber auch die untätigeren und minder entschlußkräftigen in Rußland zurückblieben. [...] das Geschlecht der Verschickten, der Befreiten und ihrer Kinder und Kindeskinder, das bildet und zeugt dann die sibirische Bevölkerung, und gibt ihr eine Muskulatur und vor allem eine Sinnesart, die nur der asiatische, nicht der europäische Russe besitzt.“50Diese Bevölkerung habe Dosto-
jewskij in seiner Verbannung kennengelernt und im Totenhaus treffend geschildert. Moeller gab jedoch zu bedenken, dass Dostojewskij „noch nicht den sibirischen Standpunkt“ hatte. Somit seien die Aufzeichnungen auch „kein sibirisches Programmbuch [...], sondern nur ein erstes anthropologisches und psychologisches Dokument für Sibirien.“51 Dieser Einwand weist darauf hin, dass sich hinter den ein anderes, „Germanisch-Sibirisches“ Russentum52 beschwörenden und scheinbar abstru-
48
49 50
51 52
jeden Augenblick versinken kann. Ungewiß war seine ganze Zukunft, seine kulturelle, seine politische. Jetzt zeigte sich, wie das russische Volk an Petersburg litt“ (Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski als Dichter der Großstadt, in: F. M. Dostojewski, Aus dem Dunkel der Großstadt, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Zwanzigster Band, München 1907, S. XV). Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten, in: F. M. Dostojewski, Aus einem Totenhaus, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Achtzehnter Band, München 1908, S. XIV. Das in der ersten Person und vom Blickpunkt eines nichtpolitischen Gefangen geschriebene Buch schildert verschiedene Erscheinungen des Lebens in einer sibirischen Strafkolonie. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten, in: F. M. Dostojewski, Aus einem Totenhaus, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Achtzehnter Band, München 1908, S. X f. Ebd., S. XIII f. Vgl. Moeller van den Bruck, Zur Einführung. Bemerkungen über russische Mystik, in, F. M. Dostojewski, Der Idiot, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dritter Band, München 1909, S. XIV.
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sen Ausführungen Moellers eine ganz konkrete politische Absicht verbarg. Indem Sibirien als das Land der „slawischen Zukunft“ bezeichnete und prognostizierte, dass Russland in absehbarer Zeit in seine Nationen zerfallen werde, gab er der Hoffnung Ausdruck, dass sich diesseits des Urals ein Betätigungsfeld für die deutsche Ordnungsmacht öffnen werde. Mit dieser Zukunftsvision enden die von Moeller in der Vorkriegszeit verfassten Einführungen. Eine Hinführung zu Dostojewskijs Werk geben sie nicht. Als „Vorarbeiten für den Band ‚Die russische Seele‘“53 sind sie eigenständige Texte, deren Bedeutung sich erst im Zusammenhang mit dem Projekt Die Werte der Völker erschließt, das Moeller im siebenten Band von den noch bei J.C.C. Bruns (Minden) erschienenen Deutschen angekündigt hatte.54 Diesbezüglich ist festzuhalten, dass Moeller Russland nicht für das gelobte Land hielt und sein Russenbild ausgesprochen ambivalent war. Als positiven „Wert“ dieses Volkes machte er zwar die russische Seele, eine nur schwer zu umreißende Qualität ursprünglicher Innerlichkeit und eine besondere religiöse Virtuosität, aus, die er bei den Deutschen offenbar vermisste. Doch hieß dies noch nicht, dass er das russische Volk für vorbildlich hielt. Offensichtlich war Moeller ganz im Gegenteil von der Überlegenheit des aktiven und schöpferischen germanisch-deutschen Geistes überzeugt und glaubte, dass die kindlich-ursprünglichen Russen den reifen und erfahrenen Deutschen in der unmittelbaren Auseinandersetzung im Baltikum unterlegen seien. Lediglich der wiederholte Hinweis auf die Urspünglichkeit des russischen Volkes lässt den Schluss zu, dass Moeller im russischen Volk einen würdigen Partner im Kampf gegen den dekadenten Westen sah.
53 54
Reinhard Piper, Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers, München 1947, S. 415. In einer Verlagsanzeige hieß es: „Von demselben Verfasser:/Die/Werte der Völker/(ein größeres Werk in sieben Büchern: zwei Bänden/und einem Vorband)/Rasse und Nation/Vorband (erscheint im Laufe des Jahres 1909) In demselben Verlage/Von demselben Verfasser:/Die/Werte der Völker/Erster Band: Die alten Völker/1. Die italienische Schönheit./2. Der französische Zweifel./ 3. Der englische Menschenverstand./Zweiter Band: Die jungen Völker/1. Die deutsche Weltanschauung./2. Der amerikanische Wille./3. Die russische Seele /In Vorbereitung“ (Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909). Keiner der hier aufgelisteten Titel wurde je bei J.C.C. Bruns verlegt. Das Projekt war damals, zunächst an buchhändlerischen Bedenken – schon Die Deutschen waren keine Verkaufserfolg – und dann an der Neuausrichtung des Verlagsprogramms gescheitert. Max Bruns, der 1909 die Leitung des Verlages übernommen hatte, wollte seinem Haus eine vorwiegend literarische Ausrichtung geben und verzichtete fortan auf die Veröffentlichung nationalen Schrifttums. Dies bedeutete das Aus nicht nur für die Werte der Völker, sondern auch für zwei weitere Publikationen: eine dreibändige Anthologie des deutschen „Staatsdenkens“ seit dem 18. Jahrhundert sowie die Politischen Schriften Friedrichs II. Moeller soll dieses Manuskript am 1. November 1908 abgeliefert und dafür ein Honorar von 500 Mark erhalten haben (vgl. Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, 2. Bd., S. 5 ).
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5.1.2. Wirkung der Ausgabe Mit seinen Einführungen hat Moeller die Dostojewskij-Rezeption in Deutschland nachhaltig beeinflusst. Leo Löwenthal beispielsweise kam in dem bemerkenswerten Aufsatz Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland (1934) zu dem Schluss, dass Moeller für die Inanspruchnahme Dostojewskijs als Interpret der russischen Volksseele und damit für die Verbreitung eines neuen „nationale[n] oder völkische[n] Mythos“ verantwortlich zu machen sei.55 Analog heißt es in Theoderich Kampmanns Dissertation (1930): „‚Dostojewski der Russe‘ ist das Leitmotiv aller Einführungsessays, die Moeller van den Bruck für die Piper-Ausgabe schrieb. [...] Russische Mystik und russische Sektiererei, russische Rassen- und Religionspolitik und russische Slawophilie, russische Empfindsamkeit und russischen Humor, russischen Nihilismus und russisches Großstadtwesen findet er im Schrifttum Dostojewskis. Es blieb nicht aus, daß die von der Piper-Ausgabe stark abhängige deutsche Kritik sich diesen Aspekt zu eigen machte.“56
In der Tat zeigten sich viele Rezensenten anfällig für den Tenor der Einführungen Moellers. Sie glaubten, in den Schriften Dostojewskijs den Schlüssel für das Verständnis Russlands gefunden zu haben. So meinte beispielsweise Maximilian Harden: „Wer Dostojewskij kennt (seine Dichtung, nicht seine Schriften über Politik, die manchmal thöricht, manchmal kindhaft genialisch, immer ‚interessant‘ sind), Der kennt Rußland, Menschheit und Land, gründlicher als Einer, der mit dem Auge kühler Vernunft diesen Erdteil, diesen kalten Orient durchreist.“57
Markanter Ausdruck sowohl der verklärenden Stilisierung von Leben und Werk Dostojewskijs als auch der Stigmatisierung des barbarischen, chaotischen, eben asiatischen Russlands ist ein Artikel Stefan Zweigs. In der Zeitschrift Der Merker schrieb dieser 1914: „Immer ist bei Dostojewski Grauen der erste Eindruck und der zweite erst Größe.“58 Zweig bewertete Dostojewskij abschließend wie folgt: „[...] ewig blieb er der byzantinische Barbar, der Bilderstürmer“.59 Und auch in einigen von Hermann Hesse verfassten Beiträgen lässt sich der Einfluss Moellers nachweisen. Ebenso wie Moeller glaubte Hesse, das russische Wesen als passiv, christlich, duldend und selbstlos charakterisieren zu können. Zwar habe Russland vom Westen noch viel zu
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Leo Löwenthal, Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg., Heft 3, 1934, S. 343–382, hier 355 f. Theoderich Kampmann, Dostojewski in Deutschland, Münster 1931, S. 61. Maximilian Harden, Worte zu diesem Hefte, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 5. Jg., Nr. 43/44, 23.10.1915, S. 530. Stefan Zweig, Dostojewski: Die Tragödie seines Lebens, in: Der Merker, 5. Jg, 1914, S. 97– 106, hier 97. Ebd., S. 104.
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lernen, jedoch dürfe auch der Westen sich den Blick ins Chaos60 nicht versagen. Die russischen Eigenschaften könnten den ordnungsliebenden europäischen Charakter ergänzen, was Hesse in seiner Besprechung von Der Jüngling fast in den gleichen Worten wie Moeller ausdrückte: „In allem, was die passiven, die asiatischen, die augenblicklich in der Welt wenig geschätzten Tugenden betrifft, werden aber die Russen wieder unsere Lehrer sein, selbst bis in die praktische Politik hinein. Denn auch der andere Pol wird wieder einmal näher rükken, auch jene seelische Kultur, die das Handeln verschmäht, um dafür das Dulden zu üben, wird wieder zur Geltung kommen. In dieser Kunst, in der die Europäer stets Kinder geblieben sind, werden die Russen noch lange die Vermittler zwischen uns und der Urmutter Asien bleiben.“61
Da beide Autoren ihre Aufsätze auch in Buchform veröffentlichten62, sind die Beiträge Hesses und Zweigs als richtungsweisend für die von Moeller beeinflusste Dostojewskij-Rezeption in Deutschland anzusehen. Horst-Jürgen Gerigk bestätigt in seinem Buch über die Wirkungsgeschichte des „vertrackten Russen“, „daß es die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag, München, gewesen ist, die die Grundlage für eine kontinuierliche Aneignung seiner Werke für mehrere Generationen von Lesern bis auf den heutigen Tag garantiert hat“.63
5.1.3. Was sind „Werte“? In den Dostojewskij-Einführungen der Vorkriegszeit war es vor allem der Vergleich mit dem vorgeblich aktivistischen, schöpferischen germanisch-deutschen Geist, später derjenige mit dem materialistisch-dekadenten Westen, der Moellers Vorstellung von den Qualitäten der russischen Seele als „Wert“ des russischen Volkes bestimmte. Der Autor von Die Werte der Völker wollte sich jedoch nicht mit einem bloßen Vergleich begnügen, sondern gedachte in dem als Manuskript erhalten gebliebenen Vorband zu diesem Werk, seinen Ausführungen eine philosophische Basis zu geben. Dem entspricht, dass Moeller in den letzten beiden Kapiteln von Rasse und Nation64 60
61 62 63 64
Titel einer Textsammlung Hesses. Enthalten sind: Die Brüder Karamasoff oder der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskis, Gedanken zu Dostojewskis ‚Idiot‘ und Gespräch über die Neutöner (Hermann Hesse, Blick ins Chaos, Bern 1921). Hermann Hesse, Ein Roman von Dostojewski, in: Der Bund/Sonntagsblatt 43, 1915, S. 679– 682, hier 682. Vgl. Stefan Zweig, Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski, Leipzig 1920. Horst-Jürgen Gerigk, Dostojewskij der „vertrackte“ Russe. Die Geschichte seiner Wirkung im deutschen Sprachraum vom Fin de siècle bis heute, Tübingen 2000, S. 14. Michel Grunewald, der dieses Manuskript in einer textkritischen Ausgabe herausgegeben hat, weist nach, dass es zwischen November 1908 und März 1909 entstanden ist (vgl. Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, 2. Bd.: Rasse und Nation; Meinungen über deutsche Dinge; Der Untergang des Abendlandes. Drei Texte zur Geschichtsphilosophie, hg. von Michel Grunewald, Bern u. a. 2001, S. 8). Das Manuskript befindet sich im Nachlass von Hans Schwarz (im Privatbesitz der Familie Buhbe in Schöppenstedt).
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eine mit Herder endende Geschichte der Geschichtsphilosophie präsentierte, deren folgerichtige Fortsetzung Die Werte der Völker seien. So wurde dem Autor der Ideen zur Philosophie der Menschheit (1784–91) beispielsweise bestätigt, die Geschichte der Menschheit vom „Standpunkt des Werdens“65 geschrieben zu haben. In dem von Moeller abgesteckten Rahmen kam damit Herder das letztlich zweifelhafte Verdienst zu, ein Wegbereiter der „Entwicklungslehre des neunzehnten Jahrhunderts“66 und Vordenker der Rassengeschichtsschreibung zu sein. Während andere neuzeitliche Geschichtsschreiber, der Franzose Voltaire sowie die Engländer Hume und Smith Moeller zufolge nicht zuletzt daran gescheitert seien, dass ihren historischen Schriften keine fruchtbare „Idee“67 zugrunde gelegen hätte, habe der deutsche Idealist Herder erkannt, dass die Welt durch das organische Werden strukturiert sei: „Nur organisch, aus der Natur heraus, konnten ihre Erscheinungen von jetzt ab noch erklärt werden. Und sie selbst [die Welt] als Erscheinungsganzes war nur noch als sich fortgesetzt entwickelnde Natur zu begreifen. Diese Anschauung übertrug Herder auf die Welt der Geschichte.“68 Zum Gewährsmann von eigenen Überzeugungen wurde Herder in diesem Zusammenhang dadurch, dass Moeller ihm zuerkannte, „die ganze Rassenfrage [...] angeregt, vorbereitet, eingeleitet“ zu haben.69 Damit war aber zugleich eine Grenze zu den kulturemanzipatorischen Denkfiguren Herders gezogen. Schließlich betonte Moeller auch, dass „der Begriff der Rasse in unserem Sinne [...] Herder noch nicht zur Verfügung“ stand70, ihm als Geschichtsphilosophen also das „oberste Prinzip“ gefehlt habe, „aus dem sich die Erscheinungen erklären ließen“.71 Dieses geistesgeschichtliche Panorama bestätigt die philosophischen Ambitionen Moellers, wie sie insbesondere in den beiden ersten Kapiteln von Rasse und Nation deutlich erkennbar sind. Darin zeigte sich Moeller um Anschluss an die neukantianische Wertphilosophie und den deutschen Idealismus bemüht: „Von den Dingen auf Gesetze zu schließen, das Empirische in ein Metaphysisches umzusetzen, ist uns seit Kant erkenntniskritisch ein für allemal verboten. Es ist also nur möglich, umgekehrt vom Metaphysischen auszugehen und ihm ein zugehöriges Empirisches zu suchen, das heißt die Dinge vorgefaßt unter Gesetzen zu sehen, die, weil sie als Ideen in uns selbst sind, auch als Realitäten in der Welt sein müssen.“72
65
Moeller van den Bruck, Rasse und Nation, Ebd., S. 122. Ebd., S. 58. 67 Vgl., ebd., S. 91 ff. 68 Ebd., S. 123. 69 Moeller van den Bruck, Rasse und Nation, zitiert nach: Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, 2. Bd.: Rasse und Nation; Meinungen über deutsche Dinge; Der Untergang des Abendlandes. Drei Texte zur Geschichtsphilosophie, hg. von Michel Grunewald, Bern u. a. 2001, S. 125. 70 Ebd., S. 126. 71 Ebd., S. 129. 72 Ebd., S. 26. 66
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Nachdem er in Der Standpunkt73 darlegt hatte, dass die Wirklichkeit nur metaphysisch zu interpretieren sei, widmete sich Moeller in dem Die Welt der Werte74 betitelten zweiten Kapitel dem „Wert“ als dem „Qualitätsbegriff für das Wesen der Welt“.75 Werte machten demnach den eigentlichen Inhalt des geschichtsphilosophischen Denkens aus. Sie seien die „Ursachen“, die hinter dem „Erscheinungsganzen“ stünden.76 Ihr Vorhandensein bedeute, dass die Geschichte sich nicht aus dem Zusammenwirken materieller Faktoren erklären lasse, sondern auf „ideale Wirkungen von Kräften“ zurückzuführen sei, „die aus einer uns sonst entzogenen Innenwelt herausströmen.“77 Aufschlussreich sind dabei nachstehende Ausführungen: „Es verhält sich mit den Werten, wie mit den Ideen, die wir auch das eine Mal in der Welt wirklich leibhaftig annehmen, die wir als geschichtliche Ideen in der Form von Tendenzen wie Glaube Liebe Hoffnung oder Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit unter Umständen sogar verpersönlicht vor uns agitieren sehen können, und die wir das andere Mal dann doch erst wieder selbst den Dingen zusprechen müssen, indem wir aus ihren Vielheitserscheinungen bestimmte Erscheinungsgruppen auswählen und sie von uns aus unter Einheitsnamen zusammenfassen. Ähnlich verhält es sich mit den Werten. Wie wir in den Ideen die Erscheinungen geistig bestimmen, so thun wir es in den Werten wertlich. Und nur das eine hat der Wert vor der Idee, man möchte sagen praktisch voraus, daß die Idee ein transzendentaler, ein idealer Begriff ist, während dem Werte zugleich empirische, reale Bedeutung zukommt. Es ist der Grund, warum die Werte vor allem Maße für geschichtliche Vorgänge sind, in jenem kosmisch erweiterten Sinne, der das Schöpfungsgeschichtliche mit dem Menschgeschichtlichen, und damit ganz von selbst auch Ideengeschichtlichen und überhaupt Geistigen verbindet und der dem alten pragmatischen Namen einer Weltgeschichte eigentlich erst Sinn und Bedeutung giebt.“78
Diese die Vorbildlichkeit der Wertphilosophie bestätigende Definition des Begriffes „Wert“ verdeutlicht, dass Moeller dem Wertbegriff eine doppelte Bedeutung zu geben suchte: Einerseits verstand Moeller die Werte als überhistorische „Kulturwerte“ wie Heinrich Rickert79, anderseits betrachtete er sie auch als „soziale Werte“, d.h. als „Wertsetzungen der Menschen“ und somit als historische Erscheinungen.80 Werte stellten für Moeller folglich das Bindeglied zwischen dem überhistorischen und dem historischen Bereich dar. Er war der Meinung, dass die Werte zwar eine Verwandtschaft mit den Ideen aufwiesen, aber sich auch von diesen unterschieden, weil sie einen „empirisch nachweisbaren“, der „Erfahrung entnommen[en]“ Sinn hätten.81 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Vgl. ebd., S. 21–40. Vgl. ebd., S. 41–56. Ebd., S. 50. Ebd., S. 47. Ebd., S. 56. Ebd., S. 49 f. Vgl. Heinrich Rickert, Vom System der Werte (1913), in: Ders., Philosophische Aufsätze (hg. von Rainer A. Bast), Tübingen 1999, S. 73 ff. Vgl. Thomas Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, Darmstadt 1999, S. 75. Moeller van den Bruck, Rasse und Nation, zitiert nach: Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, 2. Bd.: Rasse und Nation; Meinungen über deutsche Dinge; Der Untergang des
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Daher sei man voll berechtigt, in ihnen die eigentlichen Grunderscheinungen der Welt zu sehen. Laut Definition gehörten sie zwar zur Erscheinungswelt, d.h. zur konkreten Wirklichkeit, sie seien aber wegen ihrer Verwandtschaft mit den Ideen zugleich das Element, das es den Menschen ermöglicht, Zugang zur Dingansichwelt zu haben: „Der Begriff des Wertes [...] ist ein bedingter Grundbegriff, der zu den beiden unbedingten Zeit und Raum tritt. Er ist der eigentliche Qualitätsbegriff für das Wesen der Welt, soweit wir diese wahrnehmen.“82 Zudem liege der Konzeption des Wertbegriffs „[...] die Erkenntnis zugrunde, daß nicht alle Erscheinungen in der Erscheinungswelt gleichwertig sind, daß die einen fast im Bedeutungslosen dahinleben, während andere dem weltgeschichtlichen Verlauf vorübergehend aus eigener Kraft fast die einzige Bedeutung [...] zu geben vermögen, die er in dem betreffenden Zeitalter [...] jeweilig und jedweilig besitzt“.83
Was Moeller hier meinte, war nichts Abstraktes. Er hatte vielmehr ganz konkrete Erscheinungen im Sinn, wenn er „Seele“ als den Wert der Russen und „Schönheit“ als den Wert der Italiener postuliert, denn zu den „Werten“ gehörte seiner Meinung nach „[...] im Grunde jedes zusammenfassende geistige wie politische Ereignis [...], jede Wendepunkterscheinung, jede Erfindung und Entdeckung, die Geburt eines großen Mannes, das Auftreten jeder Rasse und jedes Rassencharakters, die Bildung jeder Nation und jedes Nationalgenie, die Entstehung jeder Religion und jedes Kunststils“.84
Diese Konzeption des Wert-Begriffs verdeutlicht, worauf Moeller hinauswollte, wenn er sich auf Begriffe stützte, die zeitgenössische Wertphilosophen herausgearbeitet hatten. Während Werte, als überhistorische Kulturwerte betrachtet, den nationalistischen Selektionsoptimismus geschichtsphilosophisch absicherten, bestätigten Werte, als historische „Wendepunkterscheinung“ gedeutet, die Notwendigkeit der fortgesetzten nationalen Erziehung. Dass Moeller über diese Funktionalisierung hinaus keineswegs beabsichtigte, die Bedeutung des neukantianischen „Wert-Begriffes“ zu vertiefen, sondern „Wert“ bei Moeller vielmehr eine mit „Geist“ und „Idee“ synonyme Kategorie seiner geschichtsphilosophischen Ausführungen war, zeigt ein Blick in seine publizistische Produktion. So betrachtete er die Werte der Völker auf einer Weltausstellung und entdeckte in den 1910 in Brüssel ausgestellten Exponaten, „unterhalb der bei allen modernen Völkern scheinbar gleichen oder doch ähnlichen Produktionsphänomenologie“ die Werte der Völker: „Da sehen wir die einen bei der übelsten Entstellung ihrer Vergangenheitsformen verharren, in einem Stilgemenge, als dessen Bestandteile wir die Entartungsformen von Spätrenaissance und Barock erkennen, die Stile sämtlicher Ludwige, vernüchtert durch den Klas-
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Abendlandes. Drei Texte zur Geschichtsphilosophie, hg. von Michel Grunewald, Bern u. a. 2001, S. 56. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd., S. 53.
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sizismus vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, und dann wieder aufgepostert durch die Stilmogeleien von seinem Ende. Es ist gleichgültig, ob wir diesen Unstil der sich schließlich ergeben mußte, in der französischen Abteilung aufsuchen, oder in der englischen, oder in der von Uruguay oder Monaco. Auch Belgien ist ihm zum Opfer gefallen [...]. Und diesem ganzen Schwindel gegenüber steht nun die deutsche Abteilung. Wir brauchen sie nicht zu rühmen. Wir brauchen keinen Namen zu nennen. Wir brauchen nur zu sagen, daß sie anders ist. So mag eine Stadt der Zukunft aussehen. So mag es in einer deutschen Stadt der Zukunft aussehen. Klar, einfach und eisengrau, doch mit der Wärme, die nur die Wohlabgewogenheit geben kann, hat man sie aus ihrem Stoffe entwickelt. Und was sie im Inneren anfüllt, sind Dinge der Kraft und Gediegenheit, Dinge einer neuen Schönheit. Das Gesetz dieser Dinge ist die Einfachheit. Als einziges Volk in Europa gehen wir ihren Weg. Und vielleicht ist dieses die Lehre von Brüssel: daß unseren Formen, [...] wenn wir so einfach bleiben, wie wir es nun wieder geworden sind und wie es unserer Art wahrlich besser entspricht, der Weltmarkt, der Zukunftsbereich, die künftige Kulturform Europas gehören wird.“85
Werte waren demnach identisch mit jenen signifikanten „Unterschiede[n]“ zwischen den Völkern, von deren „Vorhandensein oder Nichtvorhandensein [...] der Ausgang der größten weltgeschichtlichen Ereignisse, der Weltpolitik und ihrer Weltkriege“ abhänge.86 Analog hieß es vom Geist: „Man spricht heute so viel von den Möglichkeiten künftiger Kriege, man rechnet peinlich die Aussichten heraus, zählt die Armeekorps, vergleicht die Flottenbestände. [....] Aber um was es sich durch diese ganze Entwicklung hindurch handelt, und was auch in kriegerischen Entwicklungen ausgelöst wird, das ist doch etwas ganz anderes: das ist der Geist des betreffenden Volkes. Und dieser Geist wird im Ernstfalle alle papierenen Berechnungen aus eigner Machtvollkommenheit einfach durchstreichen!“87
Und von der Idee eines Volkes: „Jedes Volk verkörpert eine besondere Idee, die ein unteilbares Ganzes ist und so ihm angehört, wie es ein unteilbares Ganzes ist und sich angehört. Mit dieser Idee ist es geboren worden, mit dieser Idee hat es sich einst als Horde, Stamm, Nation von dem Mutterschoß der Rasse und der Erde losgelöst und in die Geschichte geworfen. Diese Idee, diesen Logos, diesen Stil hat es materiell in dem Milieu, Klima, Himmelsstrich, unter den besonderen landschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, in die es trat, entwickelt und durchgebildet. Diese Idee hat es geistig in der Kultur verwirklicht, zu der sich seine schöpferischen Begabungen, Fähigkeiten, Möglichkeiten während seines geschichtlichen Lebens am Ende zusammenschlossen. Diese Idee ist seine Größe als Volk, ist das, was es von anderen Völkern und deren Größe unterscheidet, ist die Äußerung einer ganz bestimmten Absicht, die der Weltgang mit den Völkern vorhatte – nach dem Maße, daß sich mit dem größten Volke auch die größte Idee verbinden sollte und mit der größten Idee auch das größte Volk.“88
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Moeller van den Bruck, Die Werte der Völker auf einer Weltausstellung, in: Der Tag, 26.07.1910. Ebd. Moeller van den Bruck, Die Größe eines Volkes, in: Der Tag, 19.01.1910. Ebd.
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All diese Äußerungen belegen, dass der auf eine baldige militärische Auseinandersetzung spekulierende Autor nicht an der Wertphilosophie, sondern an der Erziehung seiner Landsleute im Geiste der „große[n] innere[n] Kulturpartei“89 interessiert war. Das heißt Moellers „Wertkonzeption“ hatte vor allem den Zweck, allein den Deutschen ein nationales Charisma, einen für einen schöpferischen Geist signifikanten Sinn für die Erfordernisse der Zeit zuzuschreiben. So fügten sich auch Die Werte der Völker insofern in den von Dürer- und Deutschem Werkbund entfalteten Diskurs, als Moeller bei aller Kritik an der offizösen Kunst in der funktional-geschlossenen Form ein Privileg der Deutschen erkannte.
5.2. Abstraktion und nationale Integration In Sinne des Ideals einer funktional-geschlossenen Form suchte Moeller seine Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass sich in der jüngeren deutschen Kunst und Architektur ein Ende der eklektischen „Übergangsepoche“90 abzeichnete und somit die das 19. Jahrhundert prägende kulturelle Krise im Grunde bereits der Vergangenheit angehöre. Beispielhaft ist ein in der Straßburger Post publizierter Aufsatz (06.10.1912), in dem Moeller die Überwindung der Gründerjahre und das Ende allen ästhetischen „Schwindel[s]“ verkündete.91 Schon in Die Deutschen suchte Moeller deutlich zu machen, dass der Ausformung eines „Stil des Reiches“92 allein die führenden Vertreter des „offiziellen“ Deutschlands im Wege stünden, während anderseits die von Moeller porträtierten zeitgenössischen Künstler Wegbereiter einer neuem quasi „organischen“ Einheit seien. So wurde beispielsweise in Gestaltende Deutsche (1907) auch Theodor Däubler, dem Dichter des noch nicht erschienenen Nordlichts (1910), attestiert, mit seinem lyrischen Epos den hegelianischen Ich-WeltGegensatz in einer „saturnischen Vision“ überwunden zu haben: „Das Nordlicht ist der geheimnisvolle Berührungspunkt von Welt und Erde, Ding-an-sichWelt und Erscheinungswelt. Woran Meister Eckehart in der hohen Spannung seines Geistes heranreichte, wo Leibnitz verlebendigte durch seine beseelte Welt, Fechner später beseelte durch seine lebendige Welt, wohin Fichte zu dringen suchte vom Ich, Hegel von der Logik, Schopenhauer vom Willen, die deutschen Musiker vom Ton aus: dort schafft jetzt Däubler den Eingang durch seine saturnische Vision.“93
Da Moeller Das Nordlicht zugleich als das „Dokument der Sprache des führenden Volkes, deutscher Sprache und deutscher Kultur“ bezeichnete94 und Däubler in die89 90 91 92 93 94
Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79. Moeller van den Bruck, Der Stolz der Stände, in: Der Tag, 23.08.1914. Moeller van den Bruck, Die Überwindung der Gründerjahre, in: Straßburger Post, 06.10.1912. Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 14. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 301. Ebd., S. 303.
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sem Zusammenhang als lebender Repräsentant des germanischen Kulturerbes und in der Nachfolge Klopstocks als „bardischer Dichter“ der „musikalisch-kosmisch[en] Epik des modernen Zeitalters“ erschien95, wird zudem deutlich, dass Das Nordlicht von Moeller als „Gleichnis“96 für die Gestaltwerdung des nordisch-deutschen Geistes aufgefasst wurde: „Der Sinn des Nordlichtes, [...] kann auf Erden immer nur die Nordlichtkultur, die reine Geisteskultur sein, verwirklicht von den Nordlichtvölkern und Nordlichtmenschen, Geistesvölkern und Geistesmenschen.“97 Das Nordlicht, für den polyglotten Däubler äußere Erscheinungsform des alles durchdringenden, lebendigen Geistes98, bezeichnete in der Lesart Moellers den absehbaren Triumph der „jungen“ nordisch-deutschen Kultur: „Was Theodor Däubler verkündet, das ist die platonische Idee, das christliche Liebesgebot, die eckehartische Predigt, der lutherische Schlachtruf, die leibnitzsche Weltbejahung, der kantische Imperativ, das ist der deutsche Geist schlechtweg in einem neuen Karma, in der Offenbarung und Wortwerdung unserer Zeit.“99 Somit war es nicht allein freundschaftliche Verbundenheit, die Moeller bewegte, Theodor Däubler bei der Vollendung seiner 30.000 Verse umfassenden Dichtung behilflich zu sein. Es ist vielmehr vor allem Moellers nationalpädagogisch motiviertem Engagement zu verdanken, dass das Werk als solches überhaupt erscheinen konnte und Däubler Moeller mit Recht „des Nordlichts Retter“ nannte.100 Noch Anfang 1909 schrieb Moeller an Däubler: „[...] jede grosse Sache erfordert Kampf. Wird einer Sache der Kampf erspart, so kannst Du sicher sein, dass es keine grosse Sache ist. Soll Deine Sache halten, was sie mir versprochen hat, so muss ich von Dir erwarten dürfen, dass Du den Kampf mit auf Dich nimmst und Dich ihm nicht entziehst.“ Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das „Wort über Deutschland“, mit dem Moeller den sich von der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands verkannt wähnenden Dichter zurechtwies:
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Ebd., S. 304. Ebd., S. 302. Ebd., S. 303. In einem Brief an Moeller hat Däubler das Verhältnis von Weltgeist und Nordlicht wie folgt bestimmt: „Ich nennen dies alles den Triumph des Nordlichts, es ist die Liebe, die Religion der Seele selbst [...]. Die ganzen Zeiten seit Christus sind Emanationen dieses Geistes, der feste Ankergrund aller Kultur. Wie viel grösser ist aber das lebendige Christentum, als der tote Buddhismus. Hier ist alles Optimismus, im Osten Schopenhauerianismus. Diese lebendige Kraft aber ist der Geist. [...]. Der Geist ist, wie es ausdrücklich heisst, die wirkende Kraft in den einzelnen Individuen, wie Kraft, die sich selbst verneinend, doch das Gleich anstrebt, weil sie dem gleichen lebendigen Feuer entstammt. [...] Das was heute glüht in uns selber, ist der Geist, die uns äusserlich und innerlich verbindenden magnetischen und elektrischen Kräfte, die Mystik der Mutter Erde, das Nordlicht“ (Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (28.12.1905), in: NL Theodor Däubler, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 2716, 1(2) f. auch in: Theodor Däubler, Kritische Ausgabe, Bd. 6.3. (hg. von Stefan Nienhaus und Dieter Werner), Dresden 2004, S. 100). Moeller van den Bruck, Theodor Däubler: „Das Nordlicht“, in: Der Tag, 24.03.1909. Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (Franz-Josefs Geburtstagsfest [18.08.]1911), in: NL Theodor Däubler, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 2716, 98 (1).
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„Es muss in meinem Verhältnis von mir zu Dir ein Mal, ein einziges Mal und damit ein für alle Mal ausgesprochen werden. Deine Ausfälle gegen das deutsche Volk treffen das deutsche Volk gar nicht. Das deutsche Volk, gegen das Du sie wirfst, giebt es in Wirklichkeit überhaupt nicht, sondern nur in Deiner Vorstellung. Wie kann das deutsche Volk Dich misshandelt haben? Es kennt Dich gar nicht. Der einzige Deutsche, der Dich kennt und der selbst mit Bewusstsein ein Deutscher ist, bin vorläufig ich. Dir gegenüber vertrete ich Deutschland. Und ich glaube denn doch nicht, dass ich Dich misshandelt habe.“101
In der Folge handelte Moeller im Auftrag des in praktischen Dingen scheinbar unbedarften Dichters102 mit dem Münchner Verleger Georg Müller einen Vertrag aus, dann las er während eines weiteren Aufenthalts in Florenz auch noch die Korrekturabzüge und schließlich überzeugte er Däubler, die Arbeit an seinem ausufernden Werk zu beenden. Ernst Barlach erinnerte sich, wie Däubler Moeller immer wieder neue „Verskatarakte und Sternstürze aus Weltkernen als unerläßliche Ergänzungen“103 vorlegte, bis Däubler dann im Mai 1910 vermelden konnte, dass Das Nordlicht „gottlob [...] erschienen ist“104. Doch war Moellers Einflussnahme auf das Œuvre des Freundes damit noch nicht beendet. Den Verfasser einer seiner Ansicht nach unzutreffenden Besprechung105 maßregelte er in der Innsbrucker Literaturzeitschrift 101 102
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Moeller van den Bruck an Theodor Däubler (06.03.1909), in: Ebd., Mscr. Dresd. App. 2716, 176. Tatsächlich zeugt Däublers Verhalten Moeller gegenüber auch von einer gewissen Lebensklugheit. Immerhin hatte er nun jemanden gefunden, der ihm die ihm unmögliche Organisationsarbeit abnahm. Darüber hinaus suchte der mittellose Däubler, den gelegentlich weniger mittellosen, aber gewiss nicht wohlhabenden Moeller zuweilen auch zu seinem Wohltäter zu machen. Das Ansinnen einer gemeinsamen Italienreise (Moeller mit Ehefrau Lucy) beantwortet Däubler nicht ganz im Ernst wie folgt: „Ich würde mich zwar gar nicht freuen Euch wieder zu sehen, ein Zusammensein mit Euch könnte mir aber aus praktischen Gründen Vorteil bringen. [...] wenn Ihr hingeht wo ich es will, wenn Ihr mir das schönere Zimmer und 2/3 von dem was für 3 gekocht wird abtretet und ich nur 1/3 zahle, so käme ich vielleicht dorthin, wo Ihr hinziehen solltet. [...] Überdies müsst Ihr mir versprechen, weder jemals in meiner Anwesenheit Fleisch zu essen, noch davon zu reden, um mich nicht eifersüchtig zu machen. Ebenso dürft Ihr nur mit Spiritus und nicht mit Alkohol kochen und auch von Wein und Bier dürft Ihr nicht reden, auch nicht von Caffé [...]. Überhaupt müsst Ihr mich beobachten und interessant finden“ (Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (19.05.1910), in: Ebd., Mscr. Dresd. App. 2716, 59 (1) f.). Wie Däubler wurde auch Moeller von der Familie Bienert finanziell unterstützt. Carl Schmitt erwähnt in seinen Tagebüchern, dass Moeller Frau Bienert „schon viele tausend Mark“ bekommen habe (vgl. Carl Schmitt, Tagebücher Oktober 1912– Februar 1915 (hg. von Ernst Hüsmert), Berlin 2003, S. 278). Ernst Barlach, Ein selbsterzähltes Leben, Berlin 1960, S. 75. Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (29.05.1910), in: NL Theodor Däubler, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 2716, 61 (1). Hugo Neugebauer hatte in seiner Besprechung eine Art Inhaltszusammenfassung „der großen Dichtung“ (S. 348) versucht, die das Werk als Produkt einer chaotischen Gigantomanie erschienen ließ. Im Übrigen suchte der Rezensent, die dichterische Kraft des Werkes in verschiedenen Metaphern zu loben, wobei eine gewisse Distanz nicht zu verkennen ist: „Wohl macht er sich reichlich in Einbildungskraftausbrüchen Luft, aber nicht alles, was er in sich hat, erblickt das Licht der geistigen Klarheit, vieles bleibt noch triebhaft in ihm stecken und bewegt sich dort als dunkles Etwas wie ein Ungeborenes, von dem man nicht sagen kann, ob
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Der Brenner mit den Worten: „Mit Däublers Werk muß man vielleicht Jahre gelebt haben. Die wenigen Monate, die es in seines Besprechers Händen gewesen ist, genügen nicht. So kam es, daß die Besprechung noch nicht bis zum letzten Bande vordrang und hier summarisch wurde, ohne tief zu bleiben, wie sie den ersten Bänden gegenüber war.“106 Däubler hatte Ersnst Barlach im Mai 1909 während eines gemeinsamen Italienaufenthaltes mit Moeller bekannt gemacht. In Florenz muss Barlach, der zu diesem Zeitpunkt Stipendiand der Villa Romana war, dann auch die Korrektur der Fahnen des Nordlichts beobachtet haben. Zwar hat Barlach die Briefe Moellers vernichtet (der von den Nationalsozialisten verfemte Künstler, rechnete mit Hausdurchsuchungen durch die Geheime Staatspolizei und wollte Freunden eventuelle Unannehmlichkeiten ersparen), doch künden auch die Seinigen von einer jahrelangen Freundschaft. Barlach teilte mit Moeller die Affinität zu Russland, nahm Anteil an Moellers Arbeiten, schickte ihm seinerseits Mappen, lieh ihm ab und an Geld und hielt ihn bezüglich seines künstlerischen Schaffens auf dem Laufenden. Auch privat war man einander verbunden: „Lieber Herr Moeller-Bruck, [...] In nächsten Tagen erhalten Sie mein Paket mit 17 Drukken, Rest- resp. Probedrucken und dem Manuskript. [...] Ich danke auch Ihrer Frau für ihren guten Zuspruch. Das ist ein Gegenstand, der sie anrührt, über den man herfallen kann! Ihre Schwägerin kennenzulernen (sie spricht von drei Köpfen), würde ich ja natürlich sehr neugierig sein. [...] Däubler liegt in Holz vor und hat gestern Patina bekommen. Er ist so gut wie ich ihn vermochte. Aber ich werde ihn nicht ‚Däubler‘ nennen, dazu ist er doch zu sehr Landstreicher.“107
Und: „[...] es tut mir schrecklich leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten haben, inzwischen werden Sie wohl meine Sendung erhalten haben, die ich heute morgen telefonisch bestellte. Glücklicherweise hatte ich das Geld in der Tasche und brauche es in der nächsten Zeit nicht zurück, richten Sie sich also in Ihrer neuen Wohnung ein, wo ich Sie hoffentlich gegen Ende des Monats besuchen kann.“108
Und an Weihnachten 1913:
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es eine Wohlgeburt werden wird oder ein Mondkalb. Ja der ganze Däubler, wie er sich in seinem Buche gibt, scheint mir fast eine jener Ungeburten zu sein, die der alte Uranos in den Leib der Gaia zurückgestoßen hat“ (S. 356). Die wenigen von Neugebauer angeführten Zitate beziehen sich daher auf Ausnahmeverse, in denen er eine „urdeutsche Gemütswärme“ (S. 356) verspürte. Ansonsten sei das Werk voll von „Wortungeheuern, Wortstümmeln und Spachfehlern“, die allerdings durch die ungehemmte „Kraftnatur“ Däublers, des „SaharaVandalen“ (S. 358), und seines herrischen Umgangs mit der Sprache begründet seien (Hugo Neugebauer, Ein sibyllinisches Buch, in: Der Brenner, 1. Jg., Heft 13, Dezember 1910, S. 345–359). Moeller van den Bruck, Zu Däublers „Nordlicht“, in: Der Brenner, 1. Jg., Heft 20, März 1911, S. 595. Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (26.01.1911), in: Ernst Barlach. Die Briefe I 1888– 1914 (hg. von Friedrich Dross), München 1968, S. 362 f. Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (10.10.1911), in: Ebd., S. 384.
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„[...] der Klaus bedankt sich allerbestens. Es ist bei Kindern das Lachen und die Freude, womit sie sich aussprechen, bei den Hunden das Schwanzwedeln, die Eltern schreiben Briefe, wenn Sie klug sind; sind sie dumm, so müssen die Kinder mit Dankaufsätzen gequält werden, womit man ihnen natürlich den Spaß versalzt. Der Flieger hat natürlich die heiße Gunst errungen, solch ein Propeller ist ein erhebender Anblick [...]. Freilich der Klabautermann an der Stange ist ein Original! Nun ist das Kinderglück garantiert und für die Feiertage festgegründet.“109
Auch für einen ihm gewidmeten Tag-Artikel hat sich Barlach bedankt: „[...] ich danke Ihnen für die Zeitung vom 13. Spt. mit dem Aufsatz ‚Barlach‘. Ich kannte ihn schon, er war mir an einem vorher ziemlich tristen Abend in die Hände geworfen. Fast würde ich Ihnen lieber nicht davon schreiben, aber am Ende bedankt man sich nicht für jemands gute Meinung, sondern dafür, daß er diese Meinung ausspricht – und wenn man sich zeitweilig mit seinem Vorhaben in etwas abenteuerlicher Situation vorkommt, ist es merkwürdig beruhigend zu bemerken, daß ein anderer von weitem zuschaut und offenbar denkt, daß man gerade auf der rechten Stelle steht.“110
Der Aufsatz erschien im September 1912 als zweites von drei noch vor dem Krieg verfassten Künstlerporträts (Hodler (01.06.1912), Barlach (13.09.1912), Franz Metzner (18.10.1913), die zeigen, dass die Idee von der Ausgestaltung der nationalen Stileinheit nun im Zeichen von Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (Diss.-Druck 1907, erste Buchveröffentlichung 1908) stand.111 Zwar zielten auch diese Beiträge darauf ab, eine autochthone Kunst als vorbildlich hervorzuheben, zwar gipfelte die Würdigung sowohl der Skulpturen Ernst Barlachs als auch derjenigen Franz Metzners (Metzner ist der Schöpfer der Statuen des Völkerschlachtdenkmals) in der These, dass hier nach Jahrhunderten der griechisch antiken Beeinflussung die Rückkehr zu den sachlich monumentalen Ursprüngen deutscher Bildhauerkunst vollzogen sei112, doch ist eine Akzentverschiebung festzustellen: Während Moeller beispielsweise in dem in Die Zeitgenossen (1906) erschienenen Munch-Aufsatz noch allein auf die aus der germanischen Abstammung resultierende Stärke des Ausdrucks abhob, waren seine nunmehrigen Schilderungen moderner deutscher Kunst auch immer von einer Art Ordnungssehnsucht bestimmt. Da Moeller den von ihm gewürdigten Künstlern ein erhöhtes Abstraktionsvermögen zuzuschreiben suchte, er in Ferdinand Hodler den Schöpfer eines „reliefartigen, 109 110 111
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Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (25.12.1913), in: Ebd., S. 417. Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (30.09.1912), in: Ebd., S. 405. Moellers Kenntnis der 3. Auflage dieser Schrift ist durch ein der Staatsbibliothek zu Berlin gehörendes Exemplar bestätigt. Das Buch mit der Signatur Nu 715³/42 trägt den Stempel: „MOELLER V. D. BRUCK SAMMLUNG“. So waren Barlachs Plastiken für Moeller „Bestätigung und Wiedergeburt unserer nationalsten Kunst, der Holzbildhauerei, die einst von allen Germanenstämmen gepflegt und von den Langobarden aus Norddeutschland bis nach Oberitalien getragen wurde, die sich in holzarmen, aber dafür steinreichen Gegenden bis tief in das Romanische hinein fortsetzte und nun in dieser romanischen Formenverwandtschaft, als der einzigen, die man für ihn gelten lassen kann, in Barlach von ungefähr wiederkehrt.“ (Moeller van den Bruck, Barlach, in: Der Tag, 13.09.1912).
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konturhaften, schattenlosen Stil[s]“ erkannte113 und er, die „Geschlossenheit“ der Figuren hervorhebend, Franz Metzner zu einem auf der „architektonische[n] Stufe der Bildhauerei“114 stehenden Künstler erklärte, wird deutlich, dass auch Moeller im Abstraktionsdrang die Vorbedingung für einen enträumlichenden und damit ordnungsstiftenden Stil sah. Bezeichnend für den Verfasser des Preußischen Stils (1916) ist, dass er in Hodlers Auszug der Jeneser Studenten (1907/08) zugleich einen typischen Ausdruck zusammenfassender preußischer Geistigkeit erblickte: „Auf diesem Bilde wandte Hodler sein kompositorisches Prinzip auf den Marsch an: auf den Marsch schlichter Landwehrmänner, [...] der Stil ist nordisch. Groß, schwarz und dunkel ragen die Gestalten in den fahlen Himmel. Es ist der Stil des Eisernen Kreuzes in dem Bilde, oder Schinkelscher Architekturen, oder Schadowscher Bronzen. Den Stil Preußens hat das Bild, samt allem, was im Norden in die Zukunft weist.“115
Ganz in diesem Sinne wurde auch dem als Plastiker der Fläche vorgestellten Barlach ein „Zusammensehen der Dinge“ attestiert, das „allein zu jener Formeneinheit führt, die alles Uneinheitliche [...] für das Kunstwerk ohne weiteres“ streiche und somit „Stil“116 bedinge. Zum Synonym für eine Ordnungsutopie wurde dessen flächiger Stil nicht zuletzt dadurch, dass der Naturalismus nach Moeller die „Zersplitterung, die Auflösung der Plastik in Nuancierung“117 bewirkte. Dass die einer solchen Auflösung entgegenstehenden Werke Barlachs, Metzners und auch des Schweizers Hodler vorbildlich für die Ausgestaltung der deutschen Stileinheit seien, suchte Moeller durch einen Ausblick auf die zeitgenössische französische Malerei plausibel zu machen. In ihrer Fixierung auf Einzelheiten schien ihm diese ein Sinnbild der Desintegration eines „alten“ Volkes zu sein. „Es war das Tüchtige der französischen Malerei, daß sie von einem jedem Kunstwerk forderte, es solle in allen seinen Teilen so durgebildet sein, wie man dies in besonderem Maße vom Stilleben zu verlangen sich gewöhnt hat. Aber es war die Grenze dieser selben französischen Malerei, daß sie nun auch stofflich nicht viel mehr bot als ein Stilleben. Sogar das Porträt mit allen seinen Zufälligkeiten, wenn nicht Stumpfsinnigkeiten des Modells wurde als Morceau de peinture behandelt.“118
So hat Moeller den von Worringer diagnostizierten stilpsychologischen Wirkungszusammenhang in einer seinen nationalpädagogischen Intentionen gerecht werdenden Weise uminterpretiert. Der nach Worringer ursprünglich aus der menschlichen Urangst vor der unendlichen und bedrohlichen Außenwelt resultierende „Abstraktionsdrang“ ist bei Moeller Voraussetzung für einen puristischen Nationalstil, der als identitätsstiftendes Merkmal den Zusammenhalt der künstlerisch begabten nationalen 113 114 115 116 117 118
Moeller van den Bruck, Hodler, in: Der Tag, 01.06.1912. Moeller van den Bruck, Franz Metzner, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 43, 18.10.1913, S. 991–998, hier, S. 995 f. Moeller van den Bruck, Hodler, in: Der Tag, 01.06.1912. Moeller van den Bruck, Barlach, in: Der Tag, 13.09.1912. Ebd. Moeller van den Bruck, Hodler, in: Der Tag, 01.06.1912.
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Gemeinschaft garantiert. In diesem Sinne wird auch dem Holzplastiker Barlach zugeschrieben, eine lebendige Ordnung gestaltet und mithin vorbildliche nordischgermanische Kunst geschaffen zu haben: „Die Fläche Barlachs schwingt nach innen. Wohl ordnen sich alle Einzelheiten in diese Fläche ein, wie der Körper sich bei ihm in die Gewandung und die Gewandung um den Körper schmiegt. Aber dann beleben sie doch wieder das Holz und geben ihm den Ausdruck, den nur der Mensch einer nordischen, vielleicht einmal ins Leben stürmenden, aber vorwiegend mit sich beschäftigten Rasse ihm geben konnte.“119
Moellers Wortwahl ist in diesem Zusammenhang von Barlach nicht moniert worden. Gleichwohl schienen ihm Moellers radikaler Nationalismus wie auch seine Rückgriffe auf die Rassentheorie in zunehmendem Maße unangenehm gewesen zu sein.120 In diesem Sinne hieß es schon in Bezug auf Die italienische Schönheit (1913), „[...] offengestanden, weiß ich Ihnen nach der Beendigung der Lektüre Ihres Riesenwerkes nichts Besseres zu sagen, als was ich neulich auf der Karte schrieb: Es liest sich wie ein Drama, höchstens könnte ich es ändern und sagen, es ist ein Drama, in dem man göttlichirdische Mächte miteinander ringen, durch einander leiden und stürzen oder siegen sieht. [...] Ich finde mehr Religion als Philosophie darin.“121
Zudem ist es ein mindestens zweifelhaftes Kompliment, wenn der zum Kriegsdienst verpflichtete Antimilitarist Barlach Moellers Buch über den Preußischen Stil (1916) als „eine gute Anrede an einen angehenden Soldaten!“122 bezeichnet. Vollends befremdet ist Barlach dann nach dem Kriege. Zu Moellers im Gewissen erschienenen Aufsätzen ist zu lesen: „Was Sie schreiben, klingt verheißend, zeigt einen Weg, gibt Winke der Möglichkeiten, man wäre ja gottlos, wollte man den Glauben an das Kommen des Reichs verloren geben. Aber – ich bin wohl gottlos, ich glaube an einen Marterweg, nicht wie ein Dogma, sondern ahnend, schauernd, hoffend wie jener in Gethsemane.“123
Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss die Freundschaft erkaltet sein. In einem nach Moellers Tod an den gemeinsamen Verleger gerichteten Brief schrieb Barlach: „Auch ich weiß nichts Genaueres über Moeller v. d. Brucks Tod. Nehmen Sie mir es nicht übel, wenn ich keine Anstalten mache, Ihnen ein Längeres oder Kürzeres für den Piper-
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Moeller van den Bruck, Barlach, in: Der Tag, 13.09.1912. Barlach hat das Werk mindestens zur Kenntnis genommen. In seiner Bibliothek sind noch heute vorhanden: Die Zeitgenossen (1906), Gestaltende Deutsche (1907), Scheiternde Deutsche (1909), Lachende Deutsche (1910). Eine alte Bibliotheksliste, angefertigt nach Barlachs Tod (Ernst Barlach Stiftung Güstrow Inv.-Nr. AG 7), verzeichnet darüber hinaus: Führende Deutsche (1906), Entscheidende Deutsche (1907), Die italienische Schönheit (1913), Das Recht der jungen Völker (1919). Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (24.08.1913), in: Ernst Barlach. Die Briefe 1888– 1938 (hg. von Friedrich Dross), München 1968, Bd. 1, S. 413. Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (02.01.1916), in: Ebd., Bd. 1, S. 462. Ernst Barlach an Moeller van den Bruck (28.03.1920), in: Ebd., Bd. 1, S. 574.
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Boten zu schreiben! Es ist eine besondere Sache, dieses befreundet, bekannt, leise entfremdet und über sein Wollen und Wagen der letzten Jahre unklar geworden zu sein.“124
Ähnlich wie Barlach muss es auch Däubler ergangen sein. Als Menschen hatte er ihn geschätzt, der radikale Nationalismus Moellers hingegen ist ihm, der ausdrücklich „keine nationale Gesinnung“125 hatte, zeitlebens suspekt geblieben. Dem Freund schrieb er: „[...] auf deutsch-nationalem Wege ist von mir nichts zu hoffen, solange es gilt andere Völker durch ‚Parlamentsbeschluss‘ von ihrer Scholle loszureissen. Ist es möglich, ein Deutschland nicht nur durch Kanonen, sondern auch ethisch und geistig die Welt beherrschen zu lassen, so werde ich glauben, dass die Hauptträger des Nordlichtgedankens die Deutschen sind. Vorläufig glaube ich nicht dran und sehe nirgends darauf einen Anlauf, halte jedoch die Überschätzung der Deutschen ihren Leistungen vis-a-vis für masslos.“126
Und in mahnendem Tonfall: „Mein Lieber, ich sehe oft mit wirklicher Furcht zu, wie Du Deine Kraft, Deinen Charakter ins gegnerische Lager trägst. [...], was ich an Dir, an Deinem Wesen, an Deinem Willen und Ideen unweigerlich hochstelle, weisst Du: nur in nationalen und vielen Gegenwartsfragen klafft viel zwischen uns, vielleicht zu viel. Ich fürchte wirklich oft, Du liebst Deutschland mehr, als seinen Beruf, Du machst aus Rassenfragen Selbstzwecke.“127
Auch das von Däubler lang ersehnte Ergebnis von Moellers Italienreisen – 1910 verbringt er fünf Monate auf Sizilien, im Oktober 1910 ist er in Siena, hiernach nochmals Rom und Florenz –, das von Däubler inspirierte und diesem gewidmete Buch über Die italienische Schönheit (1913) wurde von dem Dichter nicht eben überschwenglich begrüßt. Über das in der Tradition von Ludwig Woltmanns Die Germanen und die Renaissance in Italien (1905) stehende Werk war in der Beilage des Berliner Börsen-Courier unter anderem zu lesen: „Moeller van den Bruck hat vor anderen Rassetheoretikern, wie Chamberlain, Woltmann, das eine voraus: wirkliches Verständnis für die bildende Kunst, für italienische Schönheit überhaupt! [...] Leider zieht er aber nicht radikal die Folgerungen seines Erlebnisses ‚Italien‘.“ Moeller, so der vordergründige Gedankengang der Besprechung Däublers, war sich sehr wohl bewusst, dass das Italien des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts „die Vorstufe zum künftigen Europa“ sei, doch habe Moeller, ob des von ihm verachteten Barock bereits in der Hochrenaissance eine Verfallserscheinung gesehen und sich deshalb „voll Liebe und Bewunderung“ dem „nicht überzeugt geistig bauenden mittelalterlichen Italien“ zugewandt: „Die eigentliche Höhe im sechzehnten sieht er bereits als Verfall an [...]. Es gibt aber auch noch ein Italien, das später kommt, das liebt und 124 125 126 127
Ernst Barlach an Reinhard Piper, in: Ebd., Bd. 2, S. 28. Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (01.02.1908), in: NL Theodor Däubler, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. App. 2716, 19 (1). Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (01.02.1908), in: Ebd., Mscr. Dresd. App. 2716, 19 (1). Theodor Däubler an Moeller van den Bruck (zu Franz-Josef’s Geburtstagsfest [18.08.] 1911), in: Ebd., Mscr. Dresd. App. 2716, 98(2).
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schätzt Moeller van den Bruck nicht.“128 Unausgesprochen blieb hier, dass der von der Germanenideologie Ludwig Woltmanns beeinflusste Moeller (vgl. 5.4.2.) einen Zusammenhang herstellte zwischen dem von ihm diagnostizierten Verfall und dem Rückgang des Einflusses der germanischen Rasse in Italien, Moellers radikaler Nationalismus also die von Däubler monierte negative Beurteilung der nach Däubler „übernationalen“129 Hochrenaissance motivierte.
5.3. Moellers Futurismusrezeption Dass Moeller, obwohl die Italiener für ihn ein „altes“ Volk waren, ein im Grunde positives Verhältnis insbesondere zum zeitgenössischen Italien hatte, ist dreifach begründet. Erstens war für ihn immer noch denkbar, dass das mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündete, gegenüber Frankreich allerdings im Geheimen bereits neutrale Italien darauf verzichtete, die von italienischen Nationalisten formulierten Ansprüche auf Triest und Istrien auch außenpolitisch geltend zu machen. Stattdessen sollten sich die Italiener in einem möglichen Krieg gegen die südfranzösische Küste wenden: „Der moderne Italiener weiß, daß von den zwei Forderungen: Primat Italiens im Mittelmeer! und Panitalienismus auf dem Festland! sich aus weltpolitischen Gründen und außeritalienischen Zusammenhängen, die den nationalgeographischen Wünschen übergeordnet sind, nur die eine oder die andere verwirklichen lassen wird, und daß die Frage gar nicht: Österreich oder Italien? lautet, sondern: Marseille oder Genua?“130
Zweitens schienen ihm sowohl das durch den erfolgreichen Italienisch-Türkischen Krieg von 1911/12 anwachsende italienische Nationalbewusstsein als auch die Eroberung der libyschen Gegenküste durch Italien selbst vorbildlich für die künftige Entwicklung Deutschlands zu sein. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung in Deutschland, die, wie auch sonst in Europa, in allgemeiner Entrüstung über die Brutalität des Vorgehens bestand131, erklärte Moeller den Aggressor zum Vorbild: „Heute zeigt uns Italien, wie ein modernes Volk moderne Politik machen muß. Mehr noch es zeigt uns vorbildlich, wie eine Nation beschaffen ist, aus der heraus mit ihrem eigenen Willen und den von ihr freiwillig dargebotenen Kräften moderne Politik gemacht werden kann.“132 Drittens hatte der unter der Blockade durch das „offizielle Deutschland“ 128 129 130
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Theodor Däubler, Moeller van den Bruck: Die italienische Schönheit, in: Beilage des Berliner Börsen-Courier, 49. Jg., Nr. 290, 24. Juni 1917. Ebd. Moeller van den Bruck, Die radikale Ideologie des jungen Italien, in: Deutsch-Österreich. Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur, 1. Jg., Heft 52, 20.12.1913, S. 1269–1272, hier 1272. Vgl. Jens Petersen, Italien, Deutschland und der türkische Krieg 1911/1912 im Urteil Rudolf Borchardts, in: Ernst Osterkamp (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen Berlin/New York 1997, S. 334–354. Moeller van den Bruck, Italia docet, in: Der Tag, 18.11.1911.
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leidende Moeller große Sympathien für die kulturrevolutionären Positionen der italienischen Futuristen. Letzteres wie auch die Gleichzeitigkeit des Auftretens von Krieg und kompromisslos moderner Kunst ließen Moeller davon absehen, dass es gerade der von ihm geschätzte Marinetti war, der in seinen Triestiner Kundgebungen (1910) Triest aus einer Attitüde der unversöhnlichen Irredenta heraus als „rossa polveria d’Italia“133 (rote Pulverkammer Italiens) bezeichnet hatte. Schließlich zielte seine Interpretation des politischen wie ästhetischen Geschehens ausschließlich darauf ab, seinen Lesern am Beispiel des zeitgenössischen Italiens den Nutzen der der allgemeine Verunsicherung entgegenwirkenden Ausgestaltung der nationalen Stileinheit zu demonstrieren. Wurde in dem Beitrag Der italienische Nationalismus (Straßburger Post, 05.12.1911) noch allein der Zusammenhang zwischen nationaler Integration und erfolgreicher machtpolitischer Expansion beschworen134, so findet sich in Italia docet [Italien lehrt] (Der Tag, 18.11.1911), neben einer Huldigung der radikalen Nationalisten Italiens, die Erkenntnis formuliert, dass die Türken schon deshalb unterliegen würden, weil in „einem orientalischen Fatalismus“ verharren, während „die Idee des Futurismus, der konsequenten Modernität, der radikalen Unromantik“ wie auch „die Namen Galvanis, Voltas, Marconis [...] allein schon die sogar führende Anteilnahme Italiens an den schöpferischen Kräften unseres Zeitalters“ bewiesen.135 Im Anschluss hieran wurde Moeller, der – vermutlich durch Däubler sensibilisiert – schon vor der ersten Berliner Ausstellung (12.04.–31.05.1912 in der Sturm-Galerie) auf die Futuristen aufmerksam geworden war, zu einem der wenigen Verteidiger, die der Futurismus in der deutschen Öffentlichkeit fand. Während die bürgerliche Tagespresse wie auch die etablierten Kulturzeitschriften – Deutsche Rundschau, Die Grenzboten und zum Teil auch Der Kunstwart – den Futurismus als Ausdruck eines völligen Verfalls der Werte attackierten136, hatte sich die literarische und künstlerische Avantgarde, allen voran Herwarth Walden, entschieden auf die Seite des Futurismus gestellt, allerdings mit einen Enthusiasmus, der sich gänzlich auf die ästhetischen Aspekte beschränkte: Moeller war, wie Peter Demetz hervorhebt, der einzige, der in seiner Argumentation die politische und gesellschaftliche Programmatik des 133
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Zitiert nach: Filippo Tommaso Marinetti, Teoria e invenzione futurista, Milano 1983, S. 235– 253, hier 245; vgl. auch Peter Demetz, Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934, München 1990, S. 39. Entsprechend: „Italien folgt heute nur seiner eigenen volklichen Überlieferung. Die Vorgänge, die wir seit Beginn der tripolitanischen Expedition sich vollziehen sehen, sind vor allem innere Vorgänge, die wir als Äußerungen eines tiefverwurzelten Gemeinschaftsgefühls verstehen müssen. Wir sehen den Sozialisten mit einemmal die Ideen des Imperialisten vollauf begreifen und ihn oft fast ekstatisch die Tendenzen des Nationalismus vertreten. Wir sehen den Klerikalen sich mit dem Liberalen versöhnen und einen Papst den Segen Gottes für dieselben piemontesischen Waffen herabflehen, die ihn einst aus seinem patrimonialen Besitztum vertrieben haben. Es ist die Einheit des Nationalismus, der sich in bewegten und begeisterten Zeiten immer als das starke Band der Menschen erweist“ (Moeller van den Bruck: Der italienische Nationalismus, in: Straßburger Post, 05.12.1911). Ebd. Vgl. Birgit Kulhoff, Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kunstpolitik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871–1914), Bochum 1990.
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Futurismus zur Kenntnis nahm.137 Ihm erschien der Futurismus als „Fortsetzung der modernen Bewegung vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts“ und Vollender der Ideen Nietzsches, Whitmans und Dostojewskijs. Er sei folgerichtig, bis zur Rücksichtslosigkeit, allein der Wahrheit verpflichtet und dabei „doch nur sachlich“. Was man von ihm lernen könne, sei vor allem der „Mut der Voraussetzungslosigkeit“, die Bereitschaft, sich ganz dem modernen Leben anzuvertrauen und aus ihm seine Kunst zu schöpfen: „Der Futurist wird immer dort zu finden sein, wo Werte geschaffen werden, und Werte, weiß er, entstehen nur auf jener Linie voll Unruhe, Versuch und Gefahr, die als der eigentliche Ausdruck des modernen Lebens diesem vorgelagert ist. Hochöfen und Fabriken, das Treiben in den Häfen und an den Bahnhöfen, das Leben am Hangar, die Kurve, die ein Torpedoboot schneidet, die Majestät, mit der ein Luftschiff zieht, sind seine Entzückungen. Die Monumentalität der Menge reißt ihn hin, und in der Katharsis des anarchistischen Terrors noch erkennt er eine Form des sozialen Heroismus und eine moderne Tragödie.“138
Moeller fand verständnisvolle Worte für den futuristischen Angriff auf die Museen und Galerien, die er, vor allem im Hinblick auf die Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts, als wahre „Schreckenskammern“ bezeichnete, wie er auch das bewusste Experimentelle dieser Kunst als „notwendige Überschreitung“ akzeptierte, „die aus völlig sterilen Kunstzuständen herausführen soll“.139 Darüber hinaus begrüßte er die Radikalität, mit der die herkömmlichen Politikformen verabschiedet wurden. Der Futurismus erschien ihm als eine Bewegung von „modernen, eher proaktionären Menschen“, die sich nicht scheuten, „mitten in der Zeit des blühenden und verblühenden Parlamentarismus ein souveränes und absolutes Italien zu fordern“, die sich von der „physischen Verweichlichung, intellektuellen Untiefe, moralischen Schlappheit, die im Gefolge des Liberalismus herziehen“140, befreit und dem Feminismus wie dem Pazifismus eine Absage erteilt hätten. In dieser Radikalität unterscheide er sich wohltuend von den bisherigen Erscheinungsformen der Rechten, insbesondere vom Konservatismus. Dessen Mangel bestand in Moellers Augen darin, dass die Mehrzahl der Konservativen in Wahrheit nicht die Gegenwart bewahren, sondern in die Vergangenheit zurückkehren wollte und sich eine Zukunft nur in dem Maße vorstellen konnte, wie sie dieser idealisierten Vergangenheit entspreche: „An dieser Macht eines angeborenen und übererbten Gefühles werden alle Modernisierungsversuche des Konservatismus am Ende sich brechen.“141 Der diesen Konservativen als Lehrstück vorgehaltene Futurismus dagegen verbinde den Willen zur Zukunft mit einer Gegenstellung sowohl gegen den Liberalismus wie gegen den Gleichheitsgedanken und übernehme so 137 138 139
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Vgl. Peter Demetz, Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934, München 1990, S. 32–41, bes. 32 u. 40. Moeller van den Bruck, Die Probleme des Futurismus, in: Der Tag, 18.07.1912. Moeller van den Bruck, Die radikale Ideologie des jungen Italien, in: Deutsch-Österreich. Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur, 1. Jg., Heft 52, 20.12.1913, S. 1269–1272, hier 1269. Ebd., S. 1271. Moeller van den Bruck, Die Probleme des Futurismus, in: Der Tag, 18.07.1912
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gleichsam die Essenz des Konservatismus, ohne dessen Mangel zu teilen. Allerdings, um für Deutschland fruchtbar gemacht zu werden, müsse der Futurismus seine überwiegend destruktiven Züge abstreifen und konstruktiv werden: „Der Futurismus ist eine kulturelle Bewegung. Er will vor allem auf die Kunst hinüberwirken und uns hier [...] von dem Verhängnis befreien, daß auf Kunst regelmäßig Kitsch folgt. Die Methode, die er dazu empfiehlt, ist die der Zerstörung. Es ist die Stelle, an der wir uns entsinnen, daß der Futurismus aus dem Süden zu uns kommt. Und es zugleich die Stelle, an der wir uns entschließen müssen, wenn wir den Futurismus als Element, wie jedes bewegende der Zeit, in uns aufzunehmen, seine anarchistische Ethik, durch eine kategorische des Nordens zu ersetzen. Junge Völker haben nicht niederzureißen. Junge Völker haben aufzubauen.“142
Das ist deutlich. Der Futurismus erscheint akzeptabel, soweit er als „Exorzismus“ funktioniert, als Austreibung des herrschenden Geistes in der Kunst, der in Akademismus und Alexandrinertum erstarrt ist. „Exorzismus“ aber wiederum bedeutet strenggenommen die Austreibung eines bösen Geistes durch einen guten Geist, und dieser wird hier klar definiert als als Geist eines „jungen“ Volkes mit seiner Relativismus und Desintegration widerstehenden „kategorischen Ethik“. Futurismus wird damit zu einem Mittel, das die technische und ästhetische Modernisierung der Nation stimulieren soll und das diese Aufgabe doch nur bei solchen Völkern wahrnehmen kann, die dafür prädestiniert sind, den „jungen“ Völkern des Nordens, allen voran Deutschland. Moellers Futurismusrezeption, nahezu singulär in ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber dessen kulturrevolutionären Zügen143, steht deshalb von Anfang an unter einem nationalen Vorbehalt, der – wie so oft in seinem Werk – eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand blockiert. Bereits ein Jahr später, in dem Werk über Die italienische Schönheit (1913), ist die Begeisterung von 1912 dann auch schon deutlich abgeklungen, wird Italien doch dort jegliche moderne Kunst abgesprochen: „[...] wofern wir die Versuche von Mailand, auch in einer Umwälzung der Kunstformen die unerwartete industrielle Entwicklung des Landes mitzumachen, die nicht folgenlos die Heimat Voltas und Galvanis gewesen ist und in dem Einen Severini wenigstens Einen bedeutenden Künstler von sehr linearem, wieder sehr toskanischem Geschmack bekommen hat, vorläufig unangerechnet lassen wollen.“144
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Ebd. Vgl. auch Johanna Eltz, Der italienische Futurismus in Deutschland 1912–1922, Bamberg 1986, bes. S. 78–110. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 743.
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5.4. „Die italienische Schönheit“ 5.4.1. Einführung Die Die italienische Schönheit (745 Seiten) abschließende Beurteilung der italienischen Gegenwartskunst (siehe oben) ist vor allem dadurch begründet, dass für die Werte der Völker galt, die Italiener als ein „altes“ Volk zu bestimmen. Die Überlegungen der Zeitgenossen, dass ein Volk der Kraftquell einer Stilschöpfung sei, fortsetzend, heißt es programmatisch: „Schönheit hat viele Namen auf Erden, fast so viele wie es Länder auf Erden gibt. Die Völker unterscheiden sich geradezu wie sich Schönheit von Schönheit unterscheidet.“145 Moeller war jedoch weit davon entfernt, diesen unterschiedlichen Schönheitsvorstellungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie schon bei den Einführungen in das Werk Dostojewskijs folgte er bei seiner Wesensbestimmung der „italienischen Schönheit“ vor allem der Logik des Großprojekts. Damit beraubte er sich der Möglichkeit, eine ernstzunehmende Geschichte der bildenden Kunst Italiens zu schreiben. Zwar gab Moeller in diesem ausufernden Werk146 einen umfassenden Überblick über die Entwicklung von der etruskischen Zeit bis zum Barock, doch war das, was Moeller in einem zuweilen flüssigen, zuweilen gesuchten Stile schrieb147, im Wesentlichen völkisch-modernistisches Räsonnement über die Kunst eines vorgeblich der Desintegration verfallenden „alten“ Volkes. Das heißt, Moellers Sicht auf die Kunst Italiens war geprägt durch einen ebenso außergewöhnlichen wie problematischen Standpunkt. Dies wird auch in den wenigen Arbeiten, die sich mit dem Band beschäftigen, hervorgehoben. Helmut Rödel beispielsweise betonte in seiner in die Bibliographie des Nationalsozialismus aufge-
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Ebd., S. 6. Über die Erfahrungen, die Autor und Verleger im Zuge der Gestaltwerdung des buchhändlerisch wenig erfolgreichen Werkes machten, berichtet Reinhard Piper: „Der Verleger soll ein Buch, trotz aller Ungeduld des Autors, nicht anfangen zu drucken, solange nicht das ganze Manuskript vorliegt. Für diese Weisheit habe ich Lehrgeld bezahlt. Die ‚Italienische Schönheit‘ wurde wegen ihrer Bilder auf Kunstdruckpapier begonnen. Das Manuskript aber wuchs dem Autor unter den Händen, es schwoll zu 750 Seiten an, und der Band, den doch Reisende auch im Koffer mit nach Italien nehmen sollten, bekam durch das schwere Papier das Gewicht eines Ziegelsteins. Man hätte die 600 Seiten Text auf leichtes Papier drucken und die Bilder als Tafeln einschalten sollen. Nun machte das Gewicht dem Buch einen schweren Weg noch schwerer“ (Reinhard Piper, Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers, München 1947, S. 414). Bezeichnend für eine gewisse stilistische Unsicherheit sind die nicht immer glücklich gewählten Kapitelüberschriften. Vollständig: Schönheit; Das etruskische Erbe; Das Rom der Caesaren; Der Kampf um Italien; Die ersten Christen; Das byzantinische Zwischenreich; Die ersten Germanen; Das maurische Märchen; Der Sieg von Pisa; Der fränkische Einbruch; Das Licht aus Assisi; Der Kult von Siena; Die Ballade von Verona; Die italienische Erneuerung; Feste in Vesten; Umbrische Erde; Toskanischer Geist; Der Hof von Ferrara; Die Kultur von Florenz; Das Rom der Päpste; Der Rausch von Venedig; Die italienische Diaspora.
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nommenen Dissertation148, dass der „Begriff des Raumes“ der „Kern seiner Weltauffassung“ in Die italienische Schönheit sei.149 Ludwig Schemann hingegen meinte, dass „die italienische Kunstgeschichte hier zum ersten Male im Zusammenhang als eine Spiegelung und Teilerscheinung der italienischen Rassengeschichte betrachtet“150 werde. Moeller selbst schien schließlich der Auffassung, dass, wiewohl „Schönheit“ prinzipiell national eigentümlich sei, es mit der Unterscheidung von „Stil“ und „Naturalismus“ ein begriffliches Tableau gebe, mit dem sich die Kunst eines Volkes bewerten ließe : „Ganz allgemein mag dem Schöpferischen der Stil, dem Bildenden der Naturalismus entsprechen. Doch ist das Prinzip des Stils das ältere. Am Anfang der Kunst entsteht immer der Wille, sich von der Natur zu entfernen, während gegen ihr Ende zum Guten wie zum Bösen der Wunsch durchdringt, sich ihr wieder zu nähern. [...] Ebenso setzte [...] mit dem geometrischen Stile der Bronzezeit die arische Welt der Antike ein, die sich groß hielt, solange man die Kunst der Natur entgegenstellte, und die unterging, als der Hellenismus die Kunst dem Natürlichen anglich. Und ebenso hat sich jede Entwicklung vollzogen, die immer ein Aufstieg zum Stil und ein Abstieg zum Naturalismus war.“151
Unausgesprochen blieb dabei, dass eine der Inspirationsquellen der Italienischen Schönheit Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung (1908) war.152 Nicht zuletzt aber war es auch die eigene Position, die den Standpunkt Moellers bestimmte. So war es unter anderem der Wunsch nach Provokation der etablierten Kunstgeschichtsschreibung, der Moeller veranlasste, die Malerei des bis dato weitgehend unentdeckten Piero della Francesca als „die Mittagshöhe der neuen italienischen Kunst“153 zu bezeichnen. Implizierte dies doch, dass alles, was nach Piero kam, dass Leonardo, Michelangelo, Raffael, Tizian u.a. bereits Verfall seien. Entsprechend waren abfällige Urteile über die Heroen der Kunstgeschichtsschreibung sowie die einleitende Bemerkung, dass es „eine Höhe der Kunst, die welche wir so gemeinhin Höhe nennen [...] überhaupt nicht“ gebe und die „höchsten Leistungen [...] vielmehr auf der Höhe eines Aufstieges“154 lägen, auch Teil der Positionierung des Autors. Dass dieser Standpunkt Moellers eine breitere Rezeption des Buches verhindert hat, bestätigt eine von dem damals 23-jährigen Kunsthistoriker Roberto Longhi verfasste Besprechung155, die im Januar 1914 in der Zeitschrift La Voce (zwischen 1908 und 1916 eine der wichtigsten Zeitschriften der italienischen Intelligenz) erschien. 148
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Vgl. Nationalsozialistische Bibliographie. Monatshefte der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums, hg. von Philipp Bouhler (Reichsleiter), 4. Jg., Heft 9, September 1939, S. 15. Vgl. Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939, S. 58 ff. Ludwig Schemann, Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, in: PolitischAnthropologische Revue, 13. Jg., Heft 3, Juni 1914, S. 165–168, hier 165. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 3 f. Zu Moellers Worringer-Rezeption vgl. 5.2. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 479. Ebd., S. 4. Roberto Longhi, Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, in: La Voce, 5. Jg., Nr. 2, 28.01.1914, S. 45–52.
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Longhi hob darin darauf ab, dass Moeller zwar über ein außergewöhnliches Wissen verfüge, letztlich aber seine Adaption der Rassenlehre ihm böse Streiche („brutti scherzi“)156 spiele, wie auch die Grundtendenz des Buches, die italienische Kunst auf die etruskische zurückführen zu wollen, Moeller manchen singulären Glückstreffer eines viertklassigen Künstlers höher bewerten lasse als das Werk eines Michelangelo. Bei aller Kritik bestätigte Longhi Moeller, durchaus auch Qualitäten zu haben. So zeige er insbesondere in einigen Diskussionen über Stil, über die Unterscheidung von Kunst und Natur sowie in Einzelanalysen von Kunstwerken nicht nur Geschmack („gusto“), sondern auch Sinn für Kritik („critica“)157. Darüber hinaus attestierte er ihm, der Erste gewesen zu sein, der einer intimen Parallelität der drei visuellen Künste gefolgt sei („per primo ha saputo seguire l’intimo parallelismo tra le tre arti visuali“)158. In seinem Fazit schlug Longhi daher vor, das Buch dieses durchaus nicht gewöhnlichen Genius („ingegno senza dubbio non comune“)159 in seinem Umfang von 800 auf 200 Seiten zu reduzieren. Wünschenswert schien ihm ferner eine Neufassung, in der aus der „Ballade von Verona“, dem „Kult von Siena“ etc. (Longhi zählte einige ausgewählte Buchkapitel auf) einfach Betrachtungen über die Geschichte der veronesischen, sienesischen etc. Kunst würden.
5.4.2. Vom Germanischen Geist Ludwig Schemann mag ein problematischer Gewährsmann für die Verortung eines Werkes sein, doch zeigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Italienischen Schönheit, dass gerade dieser Ideologe der völkischen Bewegung Wesentliches benannte. Schon 1911 waren in der Politisch-Anthropologischen Revue im Zeitraum von einem Jahr zwei Artikel Moeller van den Brucks (Die Kultur der Etrusker160 und Die Kultur der Langobarden161) erschienen, die durch Fußnoten als „Kapitel aus dem neuen ‚Die Werte der Völker‘ betitelten Werke des geschätzten Autors“162 gekennzeichnet waren. Auf diese Beiträge folgte im Juni 1914 Schemanns oben zitierte Besprechung von Die italienische Schönheit, in der er „das neue bedeutende Buch des dem Leserkreise der Politisch-Anthropologischen Revue wohl längst genügend bekannten Verfassers“ vorstellte. Dabei sollte eine Auslese von leitmotivischen Zita-
156 157 158 159 160 161 162
Ebd., S. 46. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd., S. 52. Moeller van den Bruck, Die Kultur der Etrusker, in: Politisch-Anthropologische Revue, 10. Jg., Heft 4, Juli 1911, S. 205–217. Moeller van den Bruck, Die Kultur der Langobarden, in: Politisch-Anthropologische Revue, 11. Jg, Heft 5, August 1912, S. 239–251. Moeller van den Bruck, Die Kultur der Etrusker, in: Politisch-Anthropologische Revue, 10. Jg., Heft 4, Juli 1911, S. 205–217, hier 205.
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ten163 dem Leser zeigen, „daß er es hier mit einer Neubehandlung der Probleme [Ludwig] Woltmanns [...] zu tun hat.“164. Diese Positionierung des Werkes wie auch der Erscheinungsort von Schemanns lobender Rezension und der Vorabdruck zweier Kapitel bestimmten den weltanschaulichen Ort der Italienischen Schönheit. Schließlich war der Arzt und Philosoph Ludwig Woltmann der Begründer der PolitischAnthropologischen Revue und ein maßgeblicher Theoretiker des völkischen Lagers. Woltmann, bis 1902 aktives Mitglied der Sozialdemokratie, begann sich um die Jahrhundertwende herum zunehmend mit der Rassentheorie auseinanderzusetzen. 1899 erschien die Studie Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus, vier Jahre später mit der Politischen Anthropologie sein Hauptwerk. Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch, das ihm in völkischen Kreisen den Ruhm des „bedeutendsten, durchaus selbständigen Fortsetzers des Lebenswerkes Gobineaus“ einbrachte165, knüpfte Woltmann erste persönliche Beziehungen zu Otto Ammon. Dieser war eifriger Mitarbeiter der Politisch-Anthropologischen Revue, nachdem diese von Woltmann gemeinsam mit dem Schriftsteller Hans K. E. Buhmann ins Leben gerufen worden war. Unter Woltmanns Ägide hatte die Politisch-Anthropologische Revue sich zum Ziel gesetzt, „[...] die biologischen und anthropologischen Grundlagen in der Entwicklung der Völker zur Darstellung [zu bringen] und von diesem Gesichtspunkte aus die ganze Kulturgeschichte des Menschengeschlechts zu beurteilen [zu versuchen]. Sie will, kurz gesagt, die Prinzipien der natürlichen Entwicklungslehre in kritischer und folgerichtiger Weise auf die soziale, politische und geistige Entfaltung der Rassen und Staaten zur Anwendung bringen.“166
Was damit im Einzelnen gemeint war, erläuterten Woltmann und Buhmann ausführlich in einem an die Mitarbeiter der interdisziplinär angelegten Zeitschrift adressierten Prospekt, der in der Forderung gipfelte: „Die Staaten als kulturelle Werkzeuge in der biologischen Entwicklung der Gattung aufzufassen und sie immer in den Dienst 163
164 165 166
Schemann zitiert: „;Neue Form kommt immer von neuem Geiste. Neuer Geist kommt immer von neuem Blute‘ (S. 22) [...] ‚Durch die Jahrhunderte und Jahrtausende erhalten sich die Eigentümlichkeiten der Völker, und es ist vielleicht das wichtigste aller menschlichen Entwicklungsgesetze, daß eine einmal in Rasse ausgebildete Begabung die Rasse nicht mehr verläßt, solange sie sich überhaupt schöpferisch erhält, sondern immer in verwandten Gebilden aus ihr hervorbricht, selbst dann, wenn ihre Menschen längst den Aufenthaltsort und Himmelsstrich geändert, unter dem ihre ersten Bildungen entstanden.‘ (S. 130) [...] ‚So lange die Germanen sich unvermischt im Lande erhielten, schufen sie auf romanischer Erde nordische Rassenkunst. Sobald die Germanen zu Italienern geworden waren, konnte das Rinascimento beginnen. Und als diese Italiener im Barock sogar zu Römern wurden, folgte der neue Verfall‘“ (Ludwig Schemann, Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, in: PolitischAnthropologische Revue, 13. Jg., Heft 3, 1914, S. 165–168, hier 166). Ebd., S. 166. Adolf Bartels, Die Wissenschaft von der Rasse, in: Körperkultur. 9. Jg., April/Mai 1914, S. 98–104, hier 99. Ludwig Woltmann und Hans K. E. Buhmann, An unsere Mitarbeiter, in: PolitischAnthropologische Revue, 1. Jg., Heft 1, 1902, S. 78–80, hier 78.
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der Züchtung und Erziehung der Rasse zu stellen, ist die dringende Aufgabe der Gegenwart und der nächsten Zukunft.“167 Dies war auch der beherrschende Grundgedanke der Politischen Anthropologie. Von den Autoren der völkischen Bewegung wurde Woltmann jedoch nicht nur wegen seiner „allgemeinen“ Rassentheorie rezipiert, sondern vornehmlich aufgrund des Dogmas vom „Einfluß der germanischen Rasse auf die Kultur aller Völker“.168 Woltmann vertrat die These vom nordischen Schöpfungsherd und von der rassischen Prädestination der Germanen, die er jedoch um zwei für die völkische Germanenideologie entscheidende Lehrsätze erweiterte; dass die europäische Zivilisation von den Germanen und vom Norden ausginge und dass durch die Rassemischung der Germanen mit anderen Völkern Letztere erst zu erhöhter Kulturtätigkeit befähigt worden seien. Seine Prämisse von der „rassengeschichtlichen Bedingtheit“ jeder Zivilisation wandte Woltmann nicht nur auf frühund vorgeschichtliche Epochen, sondern auch auf das Mittelalter und die Neuzeit an und dehnte sie bis in die Gegenwart aus. Denn Woltmann ging es darum, vor allem mit Hilfe der Schädeltheorie die europäische Zivilisationsgeschichte zu germanisieren: „Die Franken, Normannen und Burgunden in Frankreich, die Westgoten in Spanien, die Ostgoten, Langobarden und Bajuvaren in Italien haben die anthropologischen Keime zu der mittelalterlichen und neueren Kultur dieser Staaten gelegt. Das Papsttum, die Renaissance, die französische Revolution und die napoleonische Weltherrschaft sind Großtaten des germanischen Geistes gewesen.“169
Dies im Detail nachzuweisen, machte sich Woltmann ab der Jahrhundertwende zur Lebensaufgabe. In seinen letzten beiden Büchern Die Germanen und die Renaissance in Italien (1905) und Die Germanen in Frankreich (1907), die zum völkischen Gemeingut gehörten, deklarierte Woltmann die italienische und die französische Geschichte als originäre Leistungen des germanischen Rassenbestandteils beider Nationen, indem er schlichtweg deren herausragende Köpfe zu blonden, langschädeligen Germanen erklärte. So reihte Woltmann etwa die Dichter Dante und Petrarca, die Maler Tizian und Raffael, selbst Leonardo da Vinci, Galilei und Columbus, ferner die Naturwissenschaftler Galvani und Volta, aber auch die führenden Politiker des Risorgimento Cavour, Garibaldi, Alfieri und Gioberti oder die Komponisten von Bellini über Rossini und Donizetti bis zu Verdi und viele andere mehr in seine blonde Internationale ein. Abschließend formulierte er folgende „Ergebnisse“: „1. Die nachrömische Kulturgeschichte Italiens ist keine Renaissance des Altertums [...]. Sie ist vielmehr im wesentlichen eine eigenartige Leistung der eingewanderten germanischen Rasse, die in einheitlichem Zusammenhang mit der germanischen Kultur in ganz Europa steht. [...] 2. Die Germanen haben in Italien die meisten und größten Genies hervorge167 168 169
Ebd. S. 80. Hugo Göring, Ludwig Woltmann, ein Prophet des Germanentums, in: Rechtshort, 5. Jg., Nr. 5/6, März 1909, S. 69–77, hier S. 69. Ludwig Woltmann, Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker, Eisenach und Leipzig 1903, S. 293 f.
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bracht, abgesehen von einer geringen Zahl von Mischlingen, die teils mehr der nordischgermanischen, teils mehr den brünetten Rassen sich nähern. 3. Diese Leistung der Germanen ist nicht die Folge günstiger wirtschaftlicher Bedingungen oder einer zahlenmäßigen Überlegenheit, sondern Ausfluß ihrer höheren natürlichen Begabung. 4. Die Kulturentwicklung Italiens vollzieht sich auf Kosten der blonden Rasse, die von Jahrhundert zu Jahrhundert an Zahl abnimmt. Das Schicksal Roms wiederholt sich.“170
Unzweifelhaft war Moeller vom Werk des bereits 1907 bei einem Badeunfall an der italienischen Riviera ums Leben gekommenen Woltmann angeregt worden. Er teilte mit ihm die Überzeugung, dass „auch die geistige Geschichte [...] von Variation und Anpassung, Auslese und Vererbung, Vervollkommnung und Entartung in derselben Weise beherrscht“ sei „wie die organische Geschichte der Menschengattung“171, und bekannte sich als von Woltmann beeinflusst.172 Wie aber schon in Die Zeitgenossen (Chamberlain) grenzte er sich auch in Die italienische Schönheit gegen die reine Lehre ab. Die Rassenanschauung Woltmanns war nach Ansicht Moellers weder umfassend noch präzise genug, um die kulturhistorische Entwicklung Italiens zu deuten. Mit seinem Buch wollte er „die anthropologische Anschauung durch eine terrestrische, durch eine dynamische, durch eine selbst künstlerische und eher schon metaphysische ersetzen“.173 Gleichwohl bediente er sich der Rassenanthropologie, um den seiner Ansicht nach zyklischen Verlauf der italienischen Kunstgeschichte auf einer ersten Differenzierungsebene zu erklären: Aufschwung und Blüte, so die Überlegung, seien immer Resultat einer germanischen Auffrischung. Stillstand und Verfall zeugten hingegen vom Überhandnehmen römischer Einflüsse. Dieses Schema wurde von Moeller mit zuweilen unerträglicher Konsequenz durchgehalten. Beispielsweise stellte er die mit der Völkerwanderung einhergehenden Verheerungen als Befreiung von der als „Unkultur von Gründerjahren“174 apostrophierten Kultur des späten römischen Kaiserreiches dar: „Die Germanen haben Italien von seiner Vergangenheit befreit und ihm wieder eine Zukunft gegeben. Sie haben die Zerstörung, die den mürben und brüchigen Marmorbau seines äußeren Lebens seit langem von Innen unterwühlte, gründlich zu Ende geführt. Sie haben die Trümmer von ihm, die schwer wie eine Last in dem Lande lagen, vollends in Stücke gehauen und mit der Kraft ihrer gewaltigen Glieder an manchen Stellen jede Spur von ihnen beiseite geräumt.“175
Und weiter hinten: „Für Italiens Zukunft ist diese Zerstörung allerdings heilvoller und fruchtbarer gewesen, als es eine peinliche und sorgsame Erhaltung je hätte werden können. [...] Statt ihrer haben die Germanen in Italien Werke geschaffen, die das Einmalige, das Erstmalige, jenes Selbster170 171 172 173 174 175
Ludwig Woltmann, Die Germanen und die Renaissance in Italien, Leipzig 1905, S. 150. Ludwig Woltmann und Hans K. E. Buhmann, An unsere Mitarbeiter, in: PolitischAnthropologische Revue, 1. Jg., Heft 1, 1902, S. 78–80, hier 80. Vgl. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 132 f. Ebd., S. 133. Ebd., S. 36. Ebd., S. 75.
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rungene wieder hatten, das allein über den schöpferischen Wert oder Unwert der Dinge entscheidet.“176
Weniger drastisch äußerte sich Moeller in Bezug auf den germanischen Beitrag zur Renaissance. Zwar nahm er an, dass die betreffenden Künstler „dem eigenen Schöpfertum nach zu einem starken Teile Germanen“177 waren, doch ging er nicht so weit wie Woltmann, der behauptete, die Germanen hätten sich bis in die frühe Neuzeit hinein als eine von der übrigen italienischen Bevölkerung biologisch verschiedene Bevölkerungsgruppe erhalten. Moeller war der Auffassung, dass sich „auf die Dauer freilich [...] die Rassenscheidung nicht aufrecht erhalten“178 ließ und sich in einer durchmischten Bevölkerung namentlich in der Toskana und in Umbrien, aber auch in anderen Teilen Italiens lediglich der germanisch-nordische Geist erhalten habe. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer „Rasse des Geistes“179 und suchte sich ausdrücklich von Woltmann abzusetzen: „Wir müssen uns also entschließen, von derselben Grenzscheide an, die wir mit dem Übergange vom zwölften in das dreizehnte Jahrhundert ungefähr festhalten können und von dem ab Woltmann das vorherrschende Germanische in allen bedeutenden Italienern der Folgezeit nachgewiesen hat, gerade umgekehrt, zwar nicht einseitig dem Blut nach und auch nicht einseitig dem Geist nach, doch dem Volke nach, in dem sich die beiden Elemente verbinden, von einem wiedergeborenen Italischen zu sprechen.“180
Germanisch-nordischen Geist sah Moeller überall dort am Werk, wo in der Renaissance eigenständige Kunstformen entstanden: „Im Altertum hatte der kunstfrohe und überaus kunstfähige Etrusker sich schließlich mit dem so ganz kunstfremden Römer und dessen kunstverderbtem Hellenismus auseinandersetzen müssen: die Entartung der von der von den Etruskern geschaffenen nationalen Kultur Italiens war die unvermeidbare Folge gewesen. Im Rinascimento verband sich jetzt der bildende Etrusker, den es im Lande immer noch gab, anstatt mit dem eklektischen Römer, der in seinem Unverhältnis zur Kunst zu allen Zeiten derselbe war, mit dem beinahe überschöpferischen Germanen, der im Lande herrschte: und eine neue nationale Kultur war die Folge, in der die alten Formen erneuert wurden.“181
Vorbildlich schien ihm in diesem Zusammenhang die von Brunelleschi geschaffene Kuppel des Florentiner Domes (1418–1466). In ihr, so Moeller, würden (die nach Moeller ursprünglich) germanische Gotik und der nach Moeller auf etruskische Hügelgräber zurückgehende Kuppelbau zur idealtypischen Form italienischer Renaissancearchitektur verschmelzen:182 Es
176 177 178 179 180 181 182
Ebd., S. 78. Ebd., S. 306. Ebd., S. 461 f. Ebd.. S. 120. Ebd., S. 132. Ebd., S. 334. Vgl. ebd., S. 356.
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„offenbart sich eine Stileinheit, die eine Zusammenfassung von allem zu sein scheint, was je in Toskana geschaffen worden ist, und wir erkennen vor keinem Bau so wie vor diesem, daß an einem Werk, das nicht aus einer einzigen Zeit sondern aus mehreren Zeiten hervorwächst, über jeder Stilreinheit die Stileinheit ist“.183
Wichtig für den Argumentationszusammenhang der ersten Differenzierungsebene ist die Annahme, der mit den Attributen der Männlichkeit bedachte germanische Geist sei mitverantwortlich für die kulturelle Blüte der Frührenaissance. Diese Idee brachte Moeller dahin, auch bei dem von ihm hochgeschätzten Piero della Francesca eine germanische Abstammung nachweisen zu wollen: „Pieros eigener Kopf und der Kopf des Montefeltre teilen alle Rassemerkmale dieser Landschaft. [...] Von ihren Vätern bekamen sie beide die germanische Geistigkeit, während sie der Mutter in einem Strome sinnlicher Glut, der unmittelbar aus der Erde in sie überzutreten schien, das Schöpferische verdankten.“184
Zugleich enthielt diese Behauptung bereits das Argument für den zu diagnostizierenden kulturellen Niedergang. Waren die Germanen als abgrenzbare Volksgruppe nach Moeller beim „Übergang vom zwölften in das dreizehnte Jahrhundert“ im „Italischen“185 aufgegangen, so verlor sich nach seiner Ansicht im Verlauf des Quattrocento auch der germanische Geist. Die Niedergangsgeschichte der italienischen Kunst wäre demnach die Geschichte ihrer Entgermaniserung bzw. die der Verdrängung germanischer Einflüsse durch römische. In diesem Sinne heißt es bei Moeller: „Solange die Germanen sich unvermischt im Lande erhielten, schufen sie auf romanischer Erde nordische Rassenkunst. Sobald die Germanen zu Italienern geworden waren, konnte das Rinascimento beginnen. Und als diese Italiener im Barock sogar zu Römern wurden, folgte der Verfall.“186
5.4.3. Von italienischer Erde Moellers Vorschlag „die anthropologische Anschauung durch eine terrestrische, [...] [zu] ersetzen“187, weist jedoch darauf hin, dass er die italienische Kunstgeschichte nicht auf rassische Aspekte reduzieren wollte. Ihm zufolge war es „die Macht des Ortsgeistes“188, „eine nach wie vor in gleichem und einheitlichen Sinne gestaltende Urseele des Landes“189, das „Terrestrische“, das den „Grundstil“190 der italienischen Kunst und also die „allgemeine[...] Schönheit Italiens“191 maßgeblich geprägt hat. So 183 184 185 186 187 188 189 190 191
Ebd. Ebd., S. 463. Ebd., S. 132. Ebd., S. 743. Ebd., S. 133. Ebd., S. 373. Ebd., S. 7. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7.
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war sein Lob der etruskischen Kunst nicht in erster Linie als Lob der Kunst der Etrusker, sondern als Würdigung des Grundstils eines eigentlichen Italiens, zu dem Rom so wenig gehört wie Ligurien oder Kampanien.192 Wenn also Moeller den Etruskern bescheinigte, sie seien „das erste schöpferische Volk des Landes“193 und somit die Begründer der „nationalen Kultur Italiens“194, dann bezeichnete er damit nicht allein den Zeitpunkt des Beginns der Kunstgeschichte Italiens. Er setzte vielmehr den für seine weiteren Ausführungen unentbehrlichen Schwerpunkt. Er suchte das Italienbild seiner Leser dahingehnend zurechtzurücken, dass nicht das von ihm verachtete Rom195, sondern die als „Herzland Italiens“196 apostrophierte Toskana das wahrhafte und ursprüngliche Italien sei. Denn auf die hier ansässigen Etrusker ging Moeller zufolge der kulturelle Urstil des Landes zurück, der immer wieder durchschlage. Wohl seien die nach Auffassung Moellers ursprünglich aus Asien eingewanderten Etrusker197 nach und nach von den sie umgebenden italienischen Stämmen aufgesogen worden, aber die etruskische Kunst wirke unabhängig davon als selbständige Überlieferung weiter, in ihrem Stil lebe der Geist des Landes fort. Moeller betonte, dass von den Etruskern jene „bestimmte Grundbildungen geschaffen worden“ seien, „die sich so eng an das Land anschlossen, daß sie von den Völkern, die das Schicksal hernach mit dem Italiens zusammenbrachte, nach Blut und Geist derselben zwar verändert, aber jedenfalls wieder aufgenommen wurden“.198 Nach Moeller führte eine gerade Entwicklungslinie vom etruskischen Metallschmuck zum Luxushandwerk der spätrömischen Kaiserzeit. Des Weiteren hätten die Etrusker „mit der besonderen Art ihrer Tempelanlage [...], mit ihrem Kuppelbau und mit ihrer Freskomalerei [...] diejenigen drei Werte in die Entwicklung des Landes gegeben, aus denen hernach der eigentliche Kunstruhm Italiens erwachsen sollte“.199 Der etruskische Tempelbau sei demnach vorbildlich für den toskanischen Kirchenbau bis zum Ausgang des Mittelalters, dessen „wunderbarster Ausdruck“ Santa Croce (1295) in Florenz sei. Die „Rundlinie des Rinascimento“ einschließlich der Domkuppel von Florenz wie auch schon das Pantheon in Rom gingen hingegen „auf die kleinen, doch so ungemein 192
193 194 195 196 197
198 199
Entsprechend: „Das süße Italien, das man uns vormachte, gibt es überhaupt nicht. Kaum daß man hier und dort an der Riviera, wenn sie im Frühling allzu magnolienduftig wird, oder im Golf von Neapel, dessen weichere Linien man vielleicht nicht allzu häufig sehen darf, wenigstens erkennt, worauf die falsche Vorstellung zurückgeht und wo sie ihren trügerischen Ursprung nahm“ (ebd., S. 8). Ebd., S. 10. Ebd., S. 334. Zum „Rom-Komplex“ Moellers vgl. auch: Stefan Breuer, Moeller van den Bruck und Italien, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 84, 2002, S. 413–437, hier 414 f. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 10. Gemäß einer zur damaligen Zeit verbreiteten, obschon nie umstrittenen Sichtweise (vgl. Massimo Pallottino, Die Etrusker, Frankfurt 1965, S. 48 ff), lässt Moeller die Etrusker auf „jahrtausendlangen Wanderungen“ vom „äußersten Orient ihrer mongolischen Urheimat“ zunächst nach Elam und Mesopotamien gelangen (S. 332), von wo sie auf dem Seeweg um das Jahr 1000 v. Chr. nach Italien gekommen seien (S. 12 f.). Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 22. Ebd.
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klug und folgerichtig ausgedachten Halbkugelgräber Etruriens“ und das italienische Fresko auf die etruskische Wandmalerei, wie sie „an diesen Wölbungen und in ihren Nischen geübt wurde“, zurück.200 Beispielhaft für das Fortwirken der „Grundbildungen“ ist dem Argumentationsgang der Italienischen Schönheit zufolge der Bau des Domes in Pisa im 11. und 12. Jahrhundert. Die Entwicklung der dazwischenliegenden Jahrhunderte wurde dabei von Moeller wie folgt wiedergegeben: Nachdem die „gute etruskische Überlieferung“ nicht der von den Römern importierten „schlechte[n] Antike“201 widerstanden habe, sei das Rom der Kaiserzeit im Kampf mit den Germanen zugrunde gegangen. Es folgte das „byzantinische Zwischenreich“ (Kapitelüberschrift)202, in Moellers Augen im Grunde unschöpferische Jahrhunderte, in denen einzig die Bauten der Goten von der schöpferischen Kraft des germanischen Geistes zeugten.203 Schließlich setzten sich vor allem in der Architektur Norditaliens germanische Elemente durch: „Wir begegnen dem langobardischen Ornament überall in Italien [...], in den beiden Kirchen von Toscanella, S. Pietro und S. Maria [...] finden wir Kapitäle von höchster Mannigfaltigkeit, in denen die germanische Phantasie sich zu einer wahren Klassizität erhob.“204 Und schließlich wurde seit dem elften Jahrhundert in Pisa diese „germanische Phantastik“205 von einer Kunst verdrängt, „die vor allem wieder still kühl und vornehm war, die mit Anmut zu wirken suchte und sich eine Schönheit vorgenommen hatte, deren feierliche Ruhe auf gesetzmäßiger Bildung beruhte“.206 So nahm Moeller in dem Der Sieg von Pisa betitelten Kapitel insbesondere die Fassadengestaltung des Pisaner Domes207 zum Anlass, um die Auswirkung terrestrischer Einflüsse sowohl auf die Kunst als auch auf die eingewanderte germanische Bevölkerung zu thematisieren: „Die Erde machte ihr Recht geltend und bildete so, wie sie einst aus Etruskern Italiker geformt hatte, aus Germanen Italiener.“208 Als auf der Differenzierung der völkischen Rasseanschauung bestehender Nationalist suchte Moeller seine Leser davon zu überzeugen (vgl. 3.2.1), dass die regelmäßig strukturierte Westfassade des Domes nur von einem von der „Urseele“ des Landes inspirierten neuen Volk errichtet werden konnte. Während die germanische Architektur bis dato „voll wilder Wunder“209 gewesen sei, wird den zu Italienern gewandelten Baumeistern bescheinigt, sie hätten hier „eine unbedingt notwendige, eine einfach-edle
200 201 202 203 204 205 206 207 208 209
Ebd., S. 23. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 63–74. Vgl. ebd., S. 72 ff. Ebd., S. 90 u. 100. Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 130. Ebd., S. 139.
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Kunst“210 hervorgebracht, „die auf das Ungebundene Erfinderische und Abwechslungsvolle, mit dem die germanische Phantasie ihre Bauten belebte, freiwillig verzichtete und nur den einen Vorrang des unbedingt Folgerichtigen beanspruchte“.211 Dabei war es insbesondere das Attribut der Folgerichtigkeit, durch das der Pisaner Dom als Fortsetzung der von den Etruskern begründeten landestypischen Architektur erschien, wie für Moeller auch „dieses neue Geschlecht [...] nun willens und fähig war, das Erbe Etruriens anzutreten“.212 So hegte Moeller zwar keinen Zweifel, dass der germanische Geist nach wie vor das eigentlich schöpferische, das auffrischende Element war, dass sich „bis tief in das Mittelalter hinein in einer freien und selbständigen Kraft erhalten hat“213, zugleich suchte er aber den positiven Einfluss des „Ortsgeistes“ auf die für ihn idealtypische italienische Kunst zu bestimmen. Dieser „Ortsgeist“ setzte sich nach seinem Erachten ein zweites Mal am Ende des dreizehnten Jahrhunderts im „Licht von Assisi“ (Kapitelüberschrift Moeller) durch:214 „Wie sich in Pisa der Anschluß an die plastische Überlieferung des Landes vollzogen hatte, so vollzog sich in Assisi derjenige an die malerische Überlieferung. Das Altertum stellte sich auch hier wieder her, als der Geist, der die scheinbar so ganz gotisch sich gebenden Formen dieser neuen und doch nur erhaltenen Freskomalerei von Innen in dem Gesetz und nach den Maßen der Erde zusammenhielt.“215
So waren die von Cimabue ausgeführten Fresken in Apsis und Querschiff der Oberkirche von San Francesco in Assisi (1279–83) nach Ansicht Moellers Zeugnis eines auf die Etrusker zurückgehenden „Sinn[es] für Fläche und Weiträumigkeit“216, während bei den Fresken Giottos die Farbgebung als Materialisierung der „Urseele des Landes“ gedeutet wurde: „Als Substanz erschien sie unmittelbar der toskanischen Erde entnommen, wie wir denn das Saftrot und Tiefgelb, das er auf seinen Fresken so gerne anbrachte, schon von den etruskischen und übrigens auch von den frühmittelalterlichen Malereien her kennen, in denen sich die uralte Maltradition und Farbkultur fortsetzte.“217 Einen letzten großen Triumph habe der „Ortsgeist“ dann ein weiteres Jahrhundert später in Florenz, für Moeller nach wie vor eine im Grunde „etruskische Stadt“218, gefeiert. Moeller räumte zwar ein, dass die schöpferische Synthese der florentinischen Frührenaissance auch hellenistische, byzantinische und maurische Elemente beinhaltete, betonte aber den Vorrang des germanisch-etruskischen Erbes. Vor allem Brunelleschi und Botticelli wurde bescheinigt, im Quattrocento noch einmal Anschluss an diese Überlieferung des Landes gefunden zu haben. Die Bauten 210 211 212 213 214 215 216 217 218
Ebd., S. 146. Ebd., S. 140. Ebd., S. 146. Ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 183–231. Ebd., S. 229. Ebd., S. 198 ff. Ebd., S. 230. Ebd., S. 336.
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Brunelleschis seien demnach beispielhaft für fortgesetzte Vorbildlichkeit der etruskisch-germanischen Formen. So heißt es in Bezug auf die Fassadengestaltung des Palazzo Pitti (ab 1455): „Ja eher noch, als daß Brunelleschi die Fläche in ihren Fenstern gliederte [...], ordnete er die Blöcke seiner Rustika zu Fenstern und Portalen, ließ dieselben gewaltigen Keilschnitte, die einst die ersten Gewölbebogen der Etrusker getragen [...], in mächtigen Strahlungen die Quaderschichtung unterbrechen und in den Formen, die sie bildeten, eben durch die Größe der verwendeten Blöcke, weithin sichtbar werden.“219
In diesem Zusammenhang wurde auch die Konstruktion der Domkuppel nicht allein als Krönung der toskanischen Architekturgeschichte seit den etruskischen Hügelgräbern, sondern der Dom insgesamt als abschließende Gestaltwerdung der Stileinheit des Landes gewürdigt: „Die Architektur kehrte in diesem Werk, das die toskanische Erde in ihrem mächtigsten Aufschwung gegen den unveränderten Himmel warf, zu ihren eigenen Anfängen zurück: aber sie kehrte zurück in den Formen, um die sich die Baukunst inzwischen bereichert hatte. Ja wenn man die Kuppel als Ganzes nimmt, wenn man dieser ungeheuren Ineinanderwirkung sich hingibt, in der der Gesamtbau aufsteigt, in einer pisanisch-mauresken Inkrustierung, zu deren kühlem Schwarzweiß in den gotischen Teilen noch das brennende Rotgelb bunterer Marmoreinlagen tritt, um mit der Trommel wieder in einfach-antikische Inkrustierung überzugehen und in der Laterne mit einem weißen schimmernden Krönungsbau abzuschließen: dann offenbart sich die Stileinheit, die eine Zusammenfassung von allem zu sein scheint, was je in Toskana geschaffen worden ist.“220
Nach einer ebenfalls die nachhaltige Wirkung des etruskischen Erbes beschwörenden Würdigung der Malerei Botticellis221 schrieb Moeller jedoch: „Botticelli fortzusetzen war unmöglich: mit ihm starb das Karma von Etrurien.“222 Moeller behauptete, dass die integrative Kraft der „Urseele des Landes“ seit dem ausgehenden Quattrocento abgenommen habe, weshalb Kunst und Volk von dort an der Auflösung preisgegeben seien. Dass der behauptete Niedergang italienischer Kunst für Moeller nicht nur anthropologisch, sondern auch durch eine Emanzipation von terrestrischen Einflüssen begrün219 220 221
222
Ebd., S. 342. Ebd., S. 356. Exemplarisch: „[...] eine Kunst der Bewegung, die sich einst schon bei Giotto ungelenk angedeutet fand, die aber [...] bis in die etruskischen Grabkammern hinabreichte, wo sie die Bacchanale zum Totenmahl verherrlicht hatte. Jetzt kehrte sie in Botticelli wieder und machte ihn, als er die Göttin des Herbstes und der Weinlese mit ihren trunkenen Jungen in schwebendem Schritte heraneilen ließ, als er den Reigen der Primavera schlang und Aphrodite an Land blies, zu dem am meisten toskanischen und am tiefsten florentinischen Künstler, [...]. So besaß Botticellis Anschauung ihre Wurzeln tief im italischen Boden, weit tiefer als sie in der lateinischen Grundlage möglich war, [...] ein asiatisches Rassenkarma schlug hier durch und holte italienische Urformen wieder herauf“ (ebd., S. 580 f.). Ebd., S. 584.
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det war, zeigt sich insbesondere in seinen Urteilen über die maßgeblichen Architekten der Renaissance. Während sich in Brunelleschis Architektur für ihn die „Urseele des Landes“ materialisiert und Bramante „als Lombarde [...], der die einzige autochthone Bautradition des christlichen Italien in sich aufgenommen hatte“223, mit der Cancelleria (um 1517 vollendet, Urheberschaft Bramantes ist nicht zweifelsfrei erwiesen) den nach Moeller „großartigsten Palast Roms“ gebaut habe224, wurde beispielsweise Leon Battista Alberti attestiert, dass „das besondere toskanische Karma nicht in ihm lebendig war“ und seine florentinischen Bauten wesentlich „römisch“225 seien. Das war und ist unstrittig, da sich Alberti sowohl in seiner Architekturtheorie als auch in der Praxis wesentlich an Vitruv orientierte. Entscheidend ist jedoch, dass die Entdeckung römisch-hellenistischer Bautraditionen durch Alberti für Moeller mit einem Verlust an ursprünglich toskanischer Gesetzmäßigkeit verbunden war, den der Verfasser in seinen Beschreibungen der Fassaden Albertis demonstrierte: „Jetzt überschritt Alberti die Grenze des Gefüges. Wenn er an der Fassade des Palazzo Rucellai die Stockwerke durch ein Doppelgesims trennte, das er nicht nur in kantiger Plastik scharf und schwer hervortreten ließ, sondern auch noch durch einen ornamierten Fries, den er dazwischen legte, besonders auffällig machte, dann lag darin [...] die ungerechtfertigte Betonung eines doch nur beiläufigen Baugliedes. Und wenn er dann zwischen die einzelnen Fenster derselben Fassade Pilaster schob und die Stockwerkfläche so abteilte, als ob sie aus lauter einfenstrigen Räumen bestünde, dann war das eine offenbare Irreführung.“226
„Römisch“ war demnach für Moeller die aus Willkür resultierende Abwesenheit von ästhetischer Wahrhaftigkeit, das Zurücktreten des Bauzweckes hinter der Gestaltung, die Auflösung des Gesamtbaus in einzelne Elemente. In diesem Sinne diagnostizierte Moeller, dass „die enge Angeschlossenheit von Zweck und Form, auf der bei Brunelleschi und dann wieder bei Bramante die Klassizität beruht hatte, [...] mit Michelangelo endgültig verloren“ ging.227 Durch das Bemühen, in der Architektur des „Römers“ Michelanglo eine zunehmend defizitäre ästhetische Wahrhaftigkeit nachzuweisen228, suchte Moeller seine These zu plausibilisieren, dass Rom eine Stadt ohne einen mit dem toskanischen vergleichbaren Ortsgeist, ohne Identität sei: „Nun fragte sich: was eigentlich römisch sei? Die Römer selbst wußten es nicht. Man sah 223 224 225 226 227 228
Ebd., S. 636. Ebd., S. 643. Ebd., S. 364. Ebd., S. 369. Ebd., S. 690. Exemplarisch führte Moeller aus: „Schon die Medicea [...] bringt zum ersten Male Motive an, die nur noch einen zufällig vorhandenen Raum ausfüllen sollen. Auf die kleinen Türen wurden große Nischen in blinder Fensterform gestülpt, die keine Notwendigkeit rechtfertigt und nur von dieser einen Möglichkeit erklärt wird, die als Willkür allerdings immer besteht: an jedem Ort ein plastisches Ornament anzubringen. In der Laurenziana aber brachte er dann wirklich blinde Fenster an oder stellte gekoppelte Säulen flach an die Wand, wieder mit keiner anderen Rechtfertigung als immer nur dieser einen: daß eine Fläche nicht mehr Fläche, eine Wand nicht mehr Wand zu sein braucht, weil sich vor jede Fläche etwas stellen, an jede Wand etwas hängen läßt“ (ebd., S. 691 f.).
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sie als Großstädter, die sie auch im Niedergang geblieben, in jener Frömmelei oder Verlodderung entartet, wegen derer sie im Mittelalter berüchtigt waren. Ein römisches Bewußtsein dagegen gab es unter ihnen weder menschlich noch künstlerisch.“229
5.4.4. Verlust an Religiosität und Stil Der Terminus „Frömmelei“ ist nur ein Zeichen dafür, dass auch die Abwesenheit religiöser Virtuosität und daran anschließend die Unfähigkeit zu wahrhaft religiöser Kunst für Moeller spezifisch römisch war. So ist die Behauptung, dass die ersten Christen Roms im Wesentlichen „asketische oder fanatisierte Naturen“230 gewesen seien, der Auftakt für die abfällige Beurteilung der frühen Sakralbauten, die sich laut Moeller durch „eine rein dekorative Schönheit“ auszeichneten.231 „Der eigentliche Schöpfer des Christentums“232 bzw. einer von der Religion inspirierten Kunst sei das Germanentum gewesen, d.h. da „das Christentum im Wesen und mit Bewußtsein kunstfeindlich“ war, bedurfte es laut Moeller unbedingt des schöpferischen germanischen Menschen, um echte christliche Kunst entstehen zu lassen: „[...] zu einer wirklich italischen Kunst [...] gelangte man erst mit den neuen Menschen selbst, die im Gegensatze zu der römisch-griechisch-semitischen Bevölkerung vom Anfang des ersten Jahrtausends die italisch-germanische vom Anfang des zweiten Jahrtausend bildeten, gelangte man in dem Grade, in dem diese Menschen zunächst in ihrem Glaubensdrange [...] mehr und mehr auch in ihrem Bildtriebe durch das Christentum von innen erregt wurden.“233
Gleichwohl wurde auf einer die anthropologische wie terrestrische ergänzenden Argumentationsebene auch dem Christentum selbst ein positiver Einfluss auf die Entwicklung der italienischen Kunst zugeschrieben. Schließlich zeigte sich Moeller überzeugt, dass „das Christentum [...] Italien einen Mythos gegeben“ habe.234 Da Moeller dem Katholizismus ablehnend gegenüberstand, waren es nicht die Dogmen der römisch-katholischen Kirche, sondern ausschließlich das Erlebnis authentischen Glaubens, dem er eine identitätsstiftende und die Kunst befruchtende Wirkung bescheinigte. Vorbildlich und typisch italienisch sei demzufolge eine Kunst, die den mittels Religion über sich selbst erhobenen Menschen zeige, wie sie ihm auch die Mysterien des Glaubens sinnlich zugänglich mache, eine Kunst, die „sich des Christentums als eines Mittels, als eines geistigen Inhalts, als einer künstlerischen Erregung bediente, eine Schönheit über das italische Land und das italische Leben warf,
229 230 231 232 233 234
Ebd., S. 630. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd., S. 183.
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vor der selbst die Griechengötter [...] erblassen mußten“.235 In dieser Würdigung des Christentums als Quell der „Schönheit“ Italiens deutet sich an, dass die die Renaissance kennzeichnende Emanzipation des Künstlers aus bisherigen mittelalterlichfeudalen, zünftischen und vor allem religiösen Bindungen als „Wandlung zur Weltlichkeit“ bei Moeller zum Aspekt gemeinschaftlicher Auflösung wurde: „Eine Zeit des Hedonismus brach an, und schließlich des Epikuräertums. Die Sinne der Menschen blühten. Wärme und Weichheit kamen in ihr Empfinden. Jeder Einzelne war ein Ich, das Dasein im Allsein zu genießen suchte.“236 In direkter Opposition zu Jacob Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) beschrieb Moeller das „Mittelalter“ als das „klassische Zeitalter des nationalen Italien“237 – eine Epoche, die über jedweden Säkularisierungs- und Individualisierungsverdacht erhaben schien. „Stil“ und „Schönheit“ entdeckte Moeller folglich nicht zuletzt in der Sieneser Malerei des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen – „der Stil der sienesischen Malerei ist der Stil [...der] Liebe, auf dem Hintergrunde des Sakralen“238 – und im Werk Simone Martinis im Besonderen.239 Zudem bemerkte er beispielsweise in den Fresken Cimabues eine die Epoche auszeichnende, innere Gesetzmäßigkeit240, sichtbares Zeichen einer vom Geist des Christentums bereicherten „klassisch“ italienischen Kultur: „Sie wurde in Italien erreicht, als eine mittelalterliche Kultur, auf etruskischem Grunde, bereichert durch christlichen Geist und germanisches Blut“.241 Diese die idealtypische italienische „Schönheit“ verkörpernde Epoche war für Moeller mit dem Beginn der Renaissance zu Ende. In diesem Sinne konstatierte er: „Nur eines fehlte dieser florentiner Kultur, die wir so unbedenklich mit der italienischen gleichsetzen können. [...] Es fehlte der Stil [...] Es fehlte das Italienische.“242 Jedoch folgte aus diesem Defizit an identitätsstiftendem Geist für Moeller noch keine gesamtitalienische Identitäts- und Schaffenskrise. Er war vielmehr der Auffassung, dass die florentinische Frührenaissance „das Göttliche [...] nicht entthront“, sondern ihm nur „sein Gegenbild und Widerspiel im Menschlichen gegeben“243 habe. So schrieb Moeller im Zusammenhang mit der toskanischen Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts von einem „monumentalen Individualismus“244, dessen führende Repräsentanten Donatello und Masaccio seien. Monumentale Individuen sah Moeller im Rei-
235 236 237 238 239 240
241 242 243 244
Ebd., S. 189 f. Ebd., S. 312. Ebd., S. 295. Ebd., S. 246. Vgl. ebd., S. 251 f. Entsprechend: „Er [Cimabue] formte seine Fresken aus Freiheit, indem er jede einzelne Gestalt in ihrem inneren Gesetz erfaßte und die Gestalten untereinander nach einem gleichen Gesetz zueinander im Raum in Beziehung stellte“ (ebd., S. 208). Ebd., S. 295. Ebd., S. 303. Ebd., S. 649 f. Ebd., S. 392.
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terstandbild des Erasmo da Narni genannt Gattamelata (Padua, 1444–1453)245 sowie in den Fresken der Brancacci-Kapelle (Florenz 1424/25) dargestellt: „Auf der Zöllnerfreske in der Brancaccikapelle ging er [Masaccio] auf die Neigung der Zeit zur Drastik ein und gab in der Zöllnergestalt eine Volksfigur [...]. In den nackten Körpern der Vertreibung und der Taufe aber schuf er dann die ersten Akte des Rinascimento, die [...] voll von bewegt-muskulativem, rieselnd-nervischem Leben durchgeführt wurden.“246
Gleichwohl war der die Renaissance kennzeichnende Verlust an Sakralität für Moeller nicht ohne negative Folgen. Sei doch bereits Andrea Mantegna „eine Erscheinung mit einer vielleicht humanistischen, aber ohne jede metaphysische Bedeutung“ und deshalb allenfalls ein „schmückendes Talent“.247 Signifikantes Zeugnis für den entweihenden Realismus der florentinischen Renaissance sind den Schilderungen Moellers zufolge vor allem die Madonnendarstellungen Filippino Lippis: „Wie dieses Zeitalter wieder Basiliken baute, obwohl man heidnisch empfand, so malte man auch noch Madonnen, ohne doch kindlich-fromm zu sein. Man malte sie um ihrer Schönheit willen: und Filippo malte die ersten. An die Stelle der himmlischen Anbetung [...] trat jetzt die irdische Freude, die dem Rinascimento entsprach. Maria wurde in ihre Häuslichkeit eingeführt. Aus der Verkündigung Anbetung und Krönung setzte sich die lyrische Trilogie zusammen, die Filippo um sie dichtete. Schöne Wesen umgaben jetzt die Königin, und kein Unterschied besteht zwischen diesen entzückenden Engel-, kleinen Mädchen- und jungen Madonnengesichtern, die er schuf.“248
Moellers Beschreibung der Madonnen Filippino Lippis sind ein Hinweis darauf, dass die zu diagnostizierende Abwesenheit eines verbindlichen Stils für ihn aus einer Vermenschlichung des bis dato Göttlichen resultierte. Filippino Lippis Madonnen waren für ihn ein Indiz für ein Defizit an authentischer Religiosität, von dem die einem „alten“ Volk wesentliche Desintegration der nationalen Gemeinschaft ausginge. Symptomatisch, dass Moeller es Savonarola als Verdienst anrechnete, diesen Prozess für einen Augenblick des letzten „Besinnen[s]“249 gestoppt zu haben. Leonardo da Vinci hingegen attestierte er, die Auflösung um wesentliche Aspekte bereichert und beschleunigt zu haben. So sei die Mona Lisa (1503–06) ein Beispiel dafür, dass für die Gestaltung eines Kunstwerks nun „nicht mehr Kirche und Gesetz und Heiligkeit“, sondern „Wissen und Überlegenheit“ maßgebend waren.250 Ferner habe Leonardo in Das letzte Abendmahl (1496/97) die Apostel entzaubert. Sie erschinen darin „als dramatis personae und schließlich als Figuranten “251. Hinzu komme, dass Leonardo in diesem Bilde Christus sein eigenes Antlitz gegeben habe. Nicht ohne Hintersinn war in diesem Zusammenhang die Bemerkung, dies sei „der letzte Christuskopf, der 245 246 247 248 249 250 251
Vgl. ebd. Ebd., S. 409. Ebd., S. 530. Ebd., S. 415 f. Vgl. ebd., S. 592. Ebd., S. 624. Ebd., S. 622.
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in Italien als geistiges Bekenntnis gemalt worden ist“252: Moeller deutete damit an, dass die existentielle Krise der italienischen Kunst erst im Rom des sechzehnten Jahrhunderts, wo „die Menschen immer untragischer und unheroischer, dafür aber liberaler und epikureischer, unterhaltsamer und oberflächlicher wurden“253, begann. Nach Moeller „glaubte die rein weltliche Gesellschaft, die sich am Hofe der weltlichen Päpste zusammenfand, der Hauptstadt der Christenheit schuldig zu sein, wenigstens künstlerisch ein neues Verhältnis zur Gottheit zu schaffen, zu der man doch im Innern kein Verhältnis mehr besaß“.254 „Das Rom der Päpste“ (Kapitelüberschrift)255 war für den sich mit dem Protestantismus identifizierenden deutschen Patrioten Moeller somit wesentlich areligiös, weshalb er das von Papst Julius II. initiierte außerordentliche Kunstschaffen als sinnentleert denunzierte. Moeller selbst sprach von der „Vortäuschung von Religiosität“.256 Deutlich ist darüber hinaus das Bestreben Moellers, den im Machtzentrum der zur weltlichen Institution transformierten römisch-katholischen Kirche beobachteten Verlust an authentischer Religiosität auch in den Werken der tonangebenden Künstler nachweisen und mangelnde Sakralität als Auflösungserscheinung deuten zu wollen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch seine abfällige Beurteilung der Disputa Raffaels, in der Moeller unter anderem den „hieratische[n] Aufbau“257 mittelalterlicher Fresken vermisste: „Schon in der Disputa hält der große Eindruck [...] die nähere Prüfung nicht aus. Schöne Gruppen, schöne Figuren in weicher malerischer Auffassung müssen sich in diesen Eindruck mit Realismen Banalitäten Affektiertheiten teilen. Es ist nichts Religiöses mehr in dieser Monumentalität.“258 Hier, wie auch in einem Urteil über Michelangelo259, zeigt sich, dass Moeller nicht allein den Siegeszug des entweihenden Realismus, sondern auch das Ende einer verbindlichen Ästhetik beklagte. So fand er in den Stanzen Raffaels seine These bestätigt, dass im Bildaufbau des Cinquecento der noch im Trecento die religiöse Ordnung repräsentierende Stil durch eine willkürliche und daher in jeglicher Beziehung unzulängliche Kompositionstechnik ersetzt worden sei: „daß schon bei ihm [Raffael] die Komposition, in der sich schließlich der Gegensatz zu allem Stil zusammenfassen läßt, in einer vollendeten Dekomposition wieder auseinander fiel.“260 Raffaels Fresken zeichneten sich demnach durch mangelnde Sakralität, ihre szenische Darstellungsweise, eine illusionistische Darstellung des Raums sowie eine „Unverbundenheit und Unverbindbarkeit der Teile“261 aus, weshalb Moeller im Parnaß (1508– 1511) auch den Vorläufer von Illustrationen aus der „Gartenlaube“262 zu erkennen 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261
Ebd., S. 623. Ebd., S. 650. Ebd. Ebd., S. 626–713. Ebd., S. 650. Ebd., S. 656. Ebd., S. 657. Vgl. ebd., S. 681. Ebd., S. 655. Ebd., S. 657.
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221
) auch den Vorläufer von Illustrationen aus der „Gartenlaube“262 zu erkennen glaubte. Entscheidend dabei ist jedoch, dass Moeller Raffael stellvertretend für alle von religiösen Bindungen emanzipierten Künstler attestierte, die „Komposition an sich zum Selbstzweck der Darstellung“263 erhoben und den Niedergang der italienischen Kunst durch einen womöglich bodenlosen Subjektivismus mindestens beschleunigt zu haben.
5.4.5. Vom Stil zum Naturalismus Die Erosion des befruchtenden germanisch-nordischen Geistes, das Hinsterben der Urseele des Landes und der Verlust an identitätsstiftender Religiosität sollten jedoch nicht allein den Verlauf der Kunstgeschichte Italiens erklären. Der Logik der Werte der Völker entsprach, dass der durch diese Faktoren begründete Verlust des identitätsstiftenden Stils nur als ein Symptom der nationalen Desintegration eines „alten“ Volkes erschien. So sollen die in Die italienische Schönheit aufgezeigten Niedergangserscheinungen zwar auch ein Indiz für das Verebben des germanischen Geistes sein, letztlich suchte Moeller jedoch Woltmanns Rasseanschauung dahingehend zu spezifizieren, dass er die Auflösung der künstlerisch begabten nationalen Gemeinschaft thematisierte. Da Moeller den unter Subjektivismusverdacht stehenden „Römern“ Raffael und Michelangelo unterstellte, kein intimes Verhältnis zu den Urformen des Landes wie zu der identitätsstiftenden Religion zu haben, wird deutlich, dass er in einem defizitären nationalen Bewusstsein die Hauptursache für den Niedergang der italienischen Kunst sah. Bezeichnend für Moellers nationalistisch-modernistischen Standpunkt ist, dass er den mit einem defizitären nationalen Bewusstsein in Verbindung gebrachten Verlust an gesetzmäßiger Form mit dem Instrumentarium von Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung beschrieb. Ausgangspunkt war die Stil-NaturalismusDifferenzierung Worringers, nach der „all diese Momente nun, [...] die alle Ergebnisse des Abstraktionsbedürfnisses sind, [...] unter dem Begriff ‚Stil‘“ zusammenzufassen seien „und als solche dem aus dem Einfühlungsbedürfnisse resultierenden Naturalismus“ gegenüberstünden.264 Moeller übernahm dieses Schema, um in der italienischen Kunst einen „Abstieg zum Naturalismus“265 zu diagnostizieren, der als Zeichen nachlassenden Abstraktionsdrangs zum Sinnbild des Niedergangs eines sich der Relativität der Außenerscheinungen hingebenden „alten“ Volkes wurde. So besteht die Pointe der moellerschen Adaption der Stil-Naturalismus-Differenzierung letztlich darin, dass er das Aufkommen naturalistischer Kunst als Auflösungserscheinung, als
262 263 264 265
Ebd., S. 658 f. Ebd., S. 653. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, 3. Aufl., München 1911, S. 50. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 4.
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Zeichen sinkender schöpferischer Potentiale und schließlich als Ausdruck einer „künstlerischen Verwahrlosung“ interpretierte: „Wenn [...] der Punkt erreicht ist, in dem das Schöpferische und das Bildende sich zu dekken scheinen, tatsächlich freilich nur der Naturalismus den Stil zerstört, dann ist damit sofort, in einer jähen und gefährlichen Unabwendbarkeit, auch derjenige erreicht, von dem ab sie auseinandergleiten und die Kunst selbst auseinanderfällt.“266
Zur Szenerie des Niedergangs gehört dabei, dass Moeller schöpferischen Abstraktionsdrang in den fruchtbaren Anfängen, d. h. vor allem bei den Etruskern entdeckte. In deren „Zeichnung“ zeige sich eine „ungeheure Sicherheit, mit der sie die Gestalt durch eine einfache Linie festzuhalten verstanden“.267 Dem damit einsetzenden Plädoyer für eine enträumlichte bzw. entkörperlichte Darstellungsweise entsprach, dass in den körperhaften Reliefs Niccolò Pisanos, da sie die Technik des römischen Hochreliefs wieder aufnahmen, für Moeller (er bezog sich hier vor allem auf die 1260 fertiggestellte Kanzel des Baptisteriums in Pisa) ein „Mißverständnis des Reliefs“ beobachtbar war: „Das Relief ist nun einmal, wie dies jede große Reliefkunst bestätigt [...], in seinem Wesen eng an die Fläche gebunden. [...] seine Einheit empfängt es von dem unverrückbaren Umriß, der sich aus dem Verhältnis von Linien, nicht von Figuren ergibt.“268 Dem etruskischen „Sinn für Fläche und Weiträumigkeit“269 entgegen stand somit die von der klassisch griechischen Kunst inspirierte Darstellung des Raumes, mit der der Niedergang der italienischen Kunst nicht nur im Relief, sondern auch in der Malerei beginne. In diesem Sinne favorisierte Moeller die die Tiefenrelation unterdrückende Sieneser Malerei des späten Mittelalters – „Vielleicht gibt es keine Malerei, die auf der Fläche so sorgsam und liebevoll durchgebildet ist, [...] wie diese sienesische“270 –, von der ab er den Verfall datierte. Vorbildlich für eine Vereinbarkeit von Tiefenreduktion und perspektivischem Können war für Moeller Simone Martinis Fresko des Guidoriccio da Fogliano (1330, Siena, Palazzo Pubblico. Das Bildnis war für Moeller der „erste[...] heroische[...] Ausdruck des Condottieretums, das eben damals begann, sich als eine nationale Eigentümlichkeit des italienischen Rittertums [...] aus der wilden Entstehungsgeschichte des italienischen Rinascimento heraus zu heben“. In diesem Werk wiederhole „sich etwas von der Monumentalität der Wüste, der großen Fläche, der kahlen Hochebene“, es rückten „die Karstberge rechts und links auseinander“, so dass die „Figur des Reiters beinahe überragend, jedenfalls beherrschend und doch wieder [...] eingefaßt in die Mitte gestellt wird“.271 Im Hinblick auf diesen Höhepunkt beklagte Moeller, „daß späte Künstler im Gegensatz zu diesen frühen Erscheinungen sich allerdings mit der Zweidimensionalität nicht mehr begnügen, daß sie vielmehr die Gestalten dreidimensional, ringseitig, illusionistisch zu erfassen suchen, aber gerade dadurch die monumentale Wirkung völlig 266 267 268 269 270 271
Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 24. Ebd., S. 156. Ebd., S. 198 ff. Ebd., S. 245. Ebd., S. 259.
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verfehlten“.272 So war die illusionistische Einbeziehung des Raums in die Malerei für Moeller ursächlich für Unruhe, Unübersichtlichkeit, Auflösung und Willkür nicht nur in den Bildwerken ungenannter später Künstler, sondern auch und vor allem in denen der „Florentiner, die man anderthalb Jahrhunderte später zur Ausschmückung der sixtinischen Kapelle nach Rom berief“.273 Auf diese Weise wurde der im Quattrocento einsetzende Abstieg zum Naturalismus von Moeller verschiedentlich durchexerziert. So sei es beispielsweise Masaccio gewesen, der mit den Fresken in der Brancacci-Kapelle, den „vollkommen hautlich erfaßten Körper, [...] hinaus in das Leben“ trug und so den Siegeszug der „plastischen Malerei“ eingeläutet habe.274 Moeller vermied es jedoch auch in diesem Zusammenhang, von einem Niedergang schon in der Frührenaissance zu sprechen. Ein solcher vollzog sich seiner Ansicht nach erst seit der Mitte des Jahrhunderts, nachdem ihm der Einfluss der germanischen Rasse, des christlichen Geistes und das „Karma von Etrurien“275 als versiegt galten. Leonardo da Vinci wurde diesbezüglich als eine Übergangsgestalt positioniert. Einerseits erkannte Moeller, „wie sehr toskanisch seine [Leonardos] Erscheinung doch ist“276, andererseits zeigten sich seiner Auffassung nach in Leonardos malerischem Werk bereits die das Cinquecento kennzeichnenden Auflösungserscheinungen. Während seine abstrahierende Zeichnung der „Überlieferung von Toskana“277 zugerechnet wurde, sah Moeller in Leonardos malerischem Werk einen weiteren Abstieg zum Naturalismus. Fortschreitender Niedergang dokumentiere sich demnach bei dem unvollendeten Hieronymus (1479–81), dem Abendmahl (1496/97) sowie der Mona Lisa (1503–06) beispielsweise in der aus den „plastisch modellierenden Kunstabsichten“278 resultierenden Aufgabe der Lokalfarben zugunsten einer Licht-Schatten-Plastizität und der Kontur zugunsten des Sfumato, weshalb Moeller in Bezug auf Leonardos Malerei auch vom „auflösende[n] Kolorismus“279 sprach. Daneben beobachtete Moeller insbesondere beim als am „ehesten römische[n] Werk“ apostrophierten Abendmahl das Auftreten von im Raum verteilten „Charakterköpfen“280, sicheres Indiz für den Siegeszug des Subjektivismus und den damit einhergehenden Verlust an Abstraktion und Stil. „Endgültig geopfert“281 worden sei der Stil dann in der römischen Hochrenaissance, wobei auch auf dieser Argumentationsebene vor allem Raffael und Michelangelo von den Verdikten Moellers betroffen waren. Hatte er noch Raffael beschuldigt, dem „einzelnen Körper [...] eine freie, aber auch ausgedachte Stellung im Raum“282 gege272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282
Ebd. Ebd., S. 260. Ebd., S. 404. Ebd., S. 584. Ebd., S. 604. Ebd., S. 607. Ebd., S. 609. Ebd., S. 608. Vgl. ebd., S. 622. Ebd., S. 651. Ebd., S. 654.
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ben zu haben, so verstörte Moeller an Michelangelo nicht zuletzt das „Übernaturalistische“283 seiner Figuren in Malerei und Plastik, jene Manier, die die natürliche Anatomie des Menschen idealtypisch zu übersteigern suchte. Moeller erkannte darin ein unter Subjektivismusverdacht stehendes „Spiel mit Formen“284, weshalb er bei der Beurteilung des plastischen Werks einen abfälligen Tonfall nicht zu unterdrücken vermochte. Der David (1501–04) war ihm „ein Kind als Mann, das seine Unförmigkeit davon empfängt, daß es sich florentinisch gibt und doch römisch ist“285, die „Stilwirkung“ des zum Julius-Grabmal gehörenden Moses (um 1540) bezeichnete Moeller als „theatralisch“, die „Muskelmasse“ der auf den Sarkophagen der Medicigräber liegenden Figuren, „deren Stellungen oft ganz sinnlos erscheinen“, schien ihm „Fettmasse zu sein“286. Moeller meinte somit Niedergang, wenn er in den Skulpturen Michelangelos eine „barocke[...] Stilisierung“287 und in den Fresken der Sixtinischen Kapelle einen „Willen zum Skulpturalen“288 entdeckte. Denn auch von dem malerischen Werk Michelangelos war der Verfasser der Italienischen Schönheit nicht wirklich eingenommen. Insbesondere Fresken waren für Moeller Zeugnis eines mangelnden Sinns für die Fläche und somit Indiz für die Abwesenheit des für ihre Gestaltung unabdingbaren Abstraktionsvermögens, so dass Moeller an dieser Stelle auch von einem „Naturalismus als Dekoration“289 schrieb. Konkret beklagte er die „architektonische[...] Einteilung der sixtinischen Decke“, mit der Michelangelo „die ihm zu groß scheinende Fläche zerstörte, um Anhaltspunkte für seine zu malenden plastischen Gedanken zu haben“.290 Für Moeller war die Sixtinische Decke ein Stückwerk, dessen „Schönheit [...] durchweg in den Teilen, nicht in dem zerstückelten Ganzen“291 liege. Vorbehalte hegte Moeller auch gegenüber dem Jüngsten Gericht (1535–41): „Alle körperlichen Unterschiede von Menschen und Göttern, Seligen und Unseligen sind aufgehoben. Sogar die Engel haben ihre Flügel verloren. Alles ist nur Leib. Nun ragen diese riesigen Körper zu uns hinüber, voll gespenstischer Fruchtbarkeit, mit der Richtigkeit von Gedanken hingesetzt, hängend, sich wälzend. Es ist keine Fläche mehr in dem Bilde, und kein Stil, nur Knäuel und Krampf und ein Raum, der sich polyphemhaft und sisyphosartig selbst auszufüllen sucht. Aber als Bändigung von Massen ist die sixtinische Wand das letzte Dokument des vorschreitenden Rinascimento, das nur durch die Wucht, mit der es alle Bedingungen des Monumentalen aus den Axen wirft, noch monumental wirkt, ist das größte barocke Werk, wie die sixtinische Decke das größte klassizistische gewesen war.“292
283 284 285 286 287 288 289 290 291 292
Ebd., S. 680. Ebd. Ebd., S. 673. Ebd., S. 677. Ebd. Ebd., S. 684. Ebd. Ebd. Ebd., S. 685. Ebd., S. 686 f.
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Bemerkenswert ist dabei, dass Moeller ausgerechnet im Angesicht des Jüngsten Gerichts einen Zusammenhang zwischen dem „Abstieg zum Naturalismus“ und dem Verlust an Religiosität herzustellen suchte. Moeller schien die Auflösung der religiösen Bindungen eine unabdingbare Voraussetzung für die Einführung und Übersteigerung organischer Formen zu sein, während ursprüngliche Religiosität nicht nur das Göttliche vor seiner Nivellierung bewahre, sondern auch eine hierarchische Ordnung nachvollziehende und daher vorbildlich abstrakte Darstellungsweise und also Stil garantiere.
5.4.6. Die Würdigung des Piero della Francesca Fand eine Verknüpfung der avantgardistischen Stil-Naturalismus-Differenzierung mit dem wertkonservativen Religiositätsdiskurs vor allem in Hinblick auf die tonangebenden Künstler der römischen Hochrenaissance statt293, so zeigt sich in der Würdigung Pieros, dass neben dem „Boden“ auch der „Rasse“ Einflüsse auf das Abstraktionsvermögen zugeschrieben wurden. Moeller sprach im Zusammenhang mit der elementaren Kunst Pieros sowohl von einer „metaphysische[n] Rassenoffenbarung“294 als auch davon, dass Pieros „Geistigkeit [...] toskanisch“ und seine „Sinnlichkeit [...] umbrisch“295 gewesen sei. Und schließlich legte er großen Wert darauf, dem von ihm favorisierten Künstler auch eine „germanische Geistigkeit“296 zu bescheinigen. In diesem Sinne verstärkte nicht zuletzt die Schilderung des Bildnisses der Battista Sforza (Teil des Uffizien-Diptychons um 1460) den Eindruck, dass es unbedingt des Einflusses der germanischen Rasse bedurft habe, um eine vorbildliche Gegenströmung zu dem bis auf Masaccio zurückgehenden, entweihenden Realismus begründen zu können: „So sah er [Piero], als er das Bildnis der Battista Sforza schuf, nicht so sehr die Herrin und Dame in der urbinatischen Herzogin, [...] sondern einen herben Menschen, eine junge und doch unjugendliche Junkerin, eine deutsche und beinahe norddeutsche Frau von männlichem Verstande, starkem Charakter und einem sehr persönlichen völlig rätselhaften Innenleben.“297
Und anschließend: „Aber auch der überpersönliche Ausdruck seiner Menschen, die Haltung der Madonnen, diese Ungrazie und doch Hoheit, dieser Wuchs, diese Eckigkeit, diese Starkknochigkeit und diese unendliche Vornehmheit zugleich [...] ist germanisch“.298 So erklärte Moeller mit den anthropologischen Vorannahmen der Werte
293 294 295 296 297 298
Vgl. ebd., S.651 f. Ebd., S. 463. Ebd., S. 460. Ebd., S. 463. Ebd., S. 464. Ebd.
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der Völker, warum sich in dem malerischen Werk des bis dato verkannten Piero299 elementar realistische Darstellungsweise und sakrale Wirkung in einem einzigartigen Gleichgewicht befänden. Ausdrücklich wies er darauf hin, dass es gerade die Malerei Pieros gewesen sei, die „einen festen Halt in festen Formen besaß“300, was implizierte, dass sich in seinen Werken ein letztes Mal die Stileinheit Italiens offenbart habe. Weniger problematisch als solche rasseanthropologischen Deutungsversuche scheint, dass Moeller ausdrücklich das Abstraktionsvermögen Pieros, seinen Sinn für blockartig geschlossene Formen, für Fläche, Eigenfarben und reduzierte Figurationen erwähnte und sich also als ein origineller avantgardistischer Interpret der italienischen Kunstgeschichte erwies. Schließlich war er der Erste, der in den Bildwerken Pieros ein auf Abstraktion gerichtetes Kunstwollen nachzuweisen suchte. Beispielhaft hierfür ist sein Urteil über die landschaftlichen Hintergründe: „Piero übertrug den exakten Raum, den er in geometrisch-tektonischem Aufbau herstellte [...], auch auf die Landschaft und vergeistigte den Raum so, daß er auch als Landschaft noch abstrakt blieb. Es ist der Grund, warum sich bei ihm Himmel und Erde immer deutlich scheiden, nicht ineinander rinnen. Klarheit ist durchweg über seiner Landschaft. Doch gab er in dieser Klarheit die Dinge durchaus dinglich, in ihrem wurzelnden Sein, in ihrem
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Crowe beispielsweise meint, dass Piero den „Sinn für feinere Formensprache“ (S. 298) vermissen lasse, ein Befund, der sich insbesondere anlässlich der Auferstehung Christi (Palazzo Comunale, Borgo San Sepolcro, 1462–64) bestätigt: „Christus, dem das Laken über die linke Schulter gezogen ist, so dass Oberkörper und rechter Arm bloss sind, macht zugleich einen realistischen und colossalen Eindruck und imponirt in der Art, wie die archaistischen byzantinisch-sienesischen Werke, die noch aus der Antike erwachsen waren. Die einzelnen Theile sind mit grosser anatomischer Wahrhaftigkeit durchgebildet; aber das Gesicht hat negerhaftes Gepräge, volle Lippen, gerade breite Nase von Walzenform und hohle Augen, während die Gliedmassen plump und unschön sind“ (J. A. Crowe u. Cavalcaselle: Geschichte der italienischen Malerei, übersetzt von Max Jordan, Dritter Band, Leipzig 1870, S. 308). Bei Woltmann/Woermann kann man lesen: „Piero schafft aus der Reflexion heraus. Er construiert seine Compositionen auf Grund seines theoretischen Wissens; die Figuren sind plastische Körper, die an eine bestimmte Stelle gesetzt, zur räumlichen Umgebung in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden, staunenswerth richtig in Linien- und Luftperspective und wirkungsvoll im Relief. Das Nackte, wie auf dem Adam-Bilde, bekundet ein ungewöhnliches anatomisches Verständnis, das gründliche Studium des Körpers bei Alt und Jung, Mann und Weib und die Fähigkeit, der mannigfaltigen Stellungen und Verkürzungen Herr zu werden. Dabei ist allerdings die Formensprache keine gewählte, vielmehr oft schwerfällig und derb in den Gliedmaßen bei sichtlicher Abhängigkeit vom zufälligen Modell. [...] Bei aller frappanten Naturwahrheit haftet den Gestalten eines an: sie sind in der ihnen angewiesenen Haltung erstarrt [...]. Auch die Köpfe sind nüchtern, ohne freieres Leben, und mögen auch viele männliche Charaktere trotz aller Kälte bedeutend sein, so erscheinen dafür die Frauenköpfe auf schlankem Halse und mit hoher Stirn, breiten Backenknochen und fast geschlossenen Augen schablonenhaft und im Ausdruck stumpf. [...] Bei seinem rein verstandesgemäßen Schaffen geht dem Künstler die Wärme und Tiefe der Empfindung, das Unwillkürliche und Beseelte der Motive, sogar die Flüssigkeit in der Composition ab“(Geschichte der Malerei (hg. von Alfred Woltmann und Karl Woermann), 2. Bd.: Die Malerei der Renaissance, Leipzig 1882, S. 218 f.). Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 494.
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naturhaften Wachstum, gab sie weder atmosphärisch aufgelockert wie später Leonardo, noch intim verdichtet wie Giorgione.“301
Da Pieros Landschaftsdarstellungen für Moeller „fest und nicht verschwimmend“302 waren, er zudem darauf hinwies, dass ihre Klarheit sie positiv von den Landschaften Leonardos unterschied, gab der Autor seinen Lesern zu verstehen, dass das Werk Pieros sowohl einen Höhepunkt als auch einen Moment des Innehaltens, einen Augenblick der Klarheit in der Niedergangsgeschichte der italienischen Kunst bezeichnete. Von grundsätzlichem Interesse seien hierbei die Beherrschung des Raums, das Streben nach mathematisch theoretischer Gesetzmäßigkeit, eine konzentrierte Bildkomposition und die Vermeidung jeglicher Illusion. Ausdrücklich betonte Moeller, dass „Licht und Schatten, die als Zerstörer der Linie wesentlich Elemente des Barock waren“, den umbrischen Maler „nur beiläufig an[gingen]“.303 Piero, von Moeller als Meister der Perspektive gewürdigt, wurde in diesem Sinne attestiert, „Raum als Fläche“304 gegeben und somit noch einmal zurück zum Stil gefunden zu haben: „In dem Kampf zwischen Stil und Naturalismus [...] gelangte auch die Kunst Pieros an einen Punkt, in dem sie zum Naturalismus wurde und doch [...] das Recht wahrte, gleichzeitig Stil zu sein.“305 Hinzu trat die Feststellung, dass Piero auch in der Figuration sich auf Wesentliches beschränkte. Pieros Bildkompositionen warn für Moeller Ausdruck des „kosmische[n] Gleichgewicht[s]“306: Dies galt namentlich vom Fresko des Sigismondo Malatesta vor seinem Schutzpatron (1450, Rimini, Tempino Maltestiano). Moeller lobte dieses Fresko, weil Piero hier den heiligen Sigismondo, den ihn Anbetenden sowie dessen Hunde „in der Fläche geschichtet statt im Raum gruppiert“ und so die Versinnbildlichung einer metaphysischen Ordnung erreicht habe: „So entstand dieser wunderbare Aufstieg der Anbetung, der die edle Silhouette des Malatesta in Verehrung zeigte und dabei die edelste Stufung fand, um Sigismondo selbst zu verehren. Vom treuen Tiere zum stolzen Menschen und vom stolzen Menschen zur vertrauten Gottheit führte die Komposition hinan und stellte doch mit einer Kultur der Linie [...] den stolzen Menschen in die Mitte, wie es die Lebensanschauung des Rinascimento forderte.“307
Dabei verstärkte sich der Eindruck dargestellter gesetzmäßiger Ordnung für Moeller dadurch, dass Pieros monumental feierliche Figuren „Persönlichkeit und [...] Typus zugleich“ 308 zu sein schienen, so dass – in Moellers Koordinaten – das allgemein Göttliche nicht hinter dem individuell menschlichen zurücktrat. Beispielhaft ist seine Bildbeschreibung der herben, auf ihren gewölbten Leib weisenden Madonna del Prato (um 1460), ein Fresko, das sich in einer Friedhofskapelle im Bergstädtchen 301 302 303 304 305 306 307 308
Ebd., S. 477. Ebd., S. 476. Ebd., S. 478. Ebd., S. 471. Ebd., S. 470. Ebd. Ebd., S. 474. Ebd., S. 473.
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Monterchi findet: „Zwischen Gräbern und unter Toten wird hier ein Kind erwartet, das die Welt erlösen soll. In mächtiger Einfachheit steht Sie da, die es gebären wird, wie eine Saisgestalt des tragenden Bodens.“309 Schließlich war Moeller der Auffassung, dass die Erhabenheit dieser Madonna unter anderem aus einem „bäuerischen Zug“310 resultiere, den der Verfasser der Italienischen Schönheit als landestypische Darstellung des Göttlichen deutete. Solche monumental erhabene Typisierung hat Moeller auch in Pieros Hauptwerk, dem Die Legende vom Heiligen Kreuz darstellenden Fresko (Arezzo, San Francesco, 1452–1466) bemerkt und goutiert. Über den nicht enden wollenden Zug weihevoller Gestalten schrieb er: „Vollendete Akte kommen vor – ein Jüngling, der sich auf seinen Stab stützt, und ein anderer, der heftig ausschreitet [....], während ein blondes Bauernmädchen – mit großem runden dunklem Auge auch die Frau Pieros vorbereitet, die wie diejenige keines anderen Malers und Zeitgenossen eine Vorstellung von dem Weibwesen des Rinascimento gibt [...]. Im Kreuzfund, in der Kreuzprobe, und in der Begegnung der Königin von Saba mit König Salomo sehen wir diese Frauen zu einem Zuge edler Gestalten geschlossen, von denen jede einzelne wie eine Königin aus einem Bauernstaat ist.“311
Hervorzuheben an Pieros Umsetzung der Geschichte des Heiligen Kreuzes sei demnach auch, dass, „sie zur Staffage den Menschen hat“.312 Unverkennbar ist darüber hinaus das Bemühen Moellers, in der Komposition dieses archaischen Reigens ein modernes Kunstwollen entdecken zu wollen: „Die Anordnung der Gruppen, die nicht zentral und doch statisch durch eine bestimmte asymmetrische Wechselbeziehung der einzelnen Gestalten nach Fußpunkt und Gestikulation gewonnen ist, scheint den ganzen Marées zu enthalten.“313 Dass hier nicht seriöse Kunstgeschichte geschrieben wurde, liegt auf der Hand. Tatsache ist aber auch, dass Moeller, da er Piero mit den Augen eines Modernen sah, auch einen Sinn für dessen Bildgestaltung entwickelte, wie er den im Historischen befangenen Betrachtern wie Felix Witting (auf dessen Dissertation314 Moeller zurückgegriffen hat)315 nicht gegeben war. So wurde zwar Pieros „Farbe“ als Ausdruck umbrischer „Erdkraft“316 auch mit dem Attribut des Ursprünglichen versehen, doch hinderte dies Moeller nicht, Farbe als ein eigenständiges ästhetisches Mittel zu würdigen. Dass Moeller sich dabei, zumindest was die Beschreibung der Bildwerke Pieros betraf, den Positionen Theodor Däublers annähert317, er gleich diesem wichtigen Kunstkritiker des Expressionismus bestrebt war,
309 310 311 312 313 314 315 316 317
Ebd., S. 483. Ebd. Ebd., S. 480. Ebd., S. 479. Ebd., S. 480. Felix Witting, Piero dei Franceschi. Eine kunsthistorische Studie, Leipzig 1898. Vgl. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 467. Ebd., S. 460. Vgl. Ernst Osterkamp, Däubler oder die Farbe – Einstein oder die Form. Bildbeschreibung zwischen Expressionismus und Kubismus, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ek-
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die Farbe von ihrem Ausdrucksträger losgelöst zu betrachten, zeigt sich nicht zuletzt in seiner Schilderung der Taufe Christi (1458–60), die für Moeller von der „Wiederkehr der Farbe beherrscht“ wurde: „Das Lila-Weiß kehrt wieder in den Gesichtern der Engel, im Gewande des mittleren, im Glanz des Baumstammes und auf dem Körper des abgewendeten Mannes, der sich im Hintergrunde, nach der Taufe, die auch er empfangen hat, wieder ankleidet. Nur die Taube, die über dem Haupte Christi schwebt und aus der wie aus einer Farbquelle das ganze Bild entwickelt wurde, ist noch weißer, härter weiß, kälter weiß. Die Taube selbst, als Farbe und beinahe als Form, kehrt in den Wolken wieder, von deren atmosphärischer Gestaltung sie ihre organische empfangen zu haben scheint. Wie gebadet in Licht steht das Bild dieser Taufe im Geist. Johannes, der leicht gebräunte, in seiner dunklen Hemdkutte, gehört wohl noch der Erde an, aber Christus, der nackte, dessen Körper glasthaft ist und von dem man glauben könnte, daß er durchsichtig gebildet wäre, wenn nicht das unverschönte tierhaft ernst-tiefe Antlitz ihn menschlich ergänzte, ragt bereits in das Geistige hinüber. Geist ist die Urfarbe des Seins. Licht, Heller, Weißglut, die aus sich selbst leuchtet, ist ihr Abbild. Aus ihr ist diese Taufe geformt.“318
Ferner bestätigt sich in dieser Unterordnung des Gegenständlichen unter die Farbe, dass für Moeller insbesondere die Farben Repräsentanten eines vom Boden geprägten Geistes waren. Weiß war in seiner Darstellung nicht nur die Farbe des durch die Taube symbolisierten Heiligen Geistes, sondern auch der sie umgebenden toskanischen Landschaft, deren „ganze[r] Perlmuttgehalt“ in der Taufe „gesammelt erscheint.“319 Darüber hinaus war solche vom Gegenstand absehende Schilderung zweifellos darauf angelegt, Piero als der modernen Kunst unmittelbar verwandt zu positionieren. „Genau so wie seine Linien sich in einer Weise zur Gestalt konturhaft zusammensetzen [...] ist in seiner Farbe ein Weißgehalt, durch den er auch koloristisch nicht nur Hodler, sondern auch van Gogh am nächsten kommt, der nach ihm als Erster das Weiß als Farbe von neuem entdeckte.“320 Dabei muss das Unternehmen, Piero zu entdecken und ihn als „Modernen“ zu sehen, auch insofern als geglückt gelten, als in nahezu allen zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen der Abschnitt über Piero della Francesca positiv herausgehoben war. So schrieb der Verleger über Die italienische Schönheit: „Im Zentrum stand das Kapitel über Piero della Francesca und seine Fresken in Arezzo. Die Kraft des Autors, zugleich beschreiben und zu deuten, stieg hier zu ihrer stärksten Wirkung.“321 Und ein Rezensent betont: „Der Wert des Buches für ein weiteres Publikum liegt vorzugsweise in den Abschnitten, die von der mittelalterlichen Kunst Italiens handeln, und in der Hervorhebung solcher Kunstzentren, die wie in Ferrara, Rimini [...] abseits von der Straße der meisten Italienfah-
318 319 320 321
phrasis von der Antike bis zur Gegenwart (hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer), München 1995, S. 543–567, bes. 548 ff. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 486. Ebd. Ebd., S. 478. Reinhard Piper; Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers, München 1947, S. 414.
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rer liegen dürften. [...] Ganz besonders möchte ich den Abschnitt über Piero della Francesca hierzu rechnen, den einem größeren Publikum näher zu bringen ein Verdienst ist.“322
Schlussendlich haben Moellers Ausführungen auch in Roberto Longhis 1927 erschienenem, noch immer maßgeblichen Werk über Piero eine immerhin differenzierte Würdigung erfahren. Bemerkenswert schien Longhi dabei vor allem Moellers Hervorhebung, dass Piero es verstehe, „den Raum als Oberfläche“ zu geben, wie er andere ziemlich scharfsinnige Passagen auch dort entdeckt, wo Moeller zu beweisen suche, dass Pieros Komposition nicht notwendigerweise zentral, sondern frei sei. Unverzeihlich sei jedoch, dass Moeller sich der erhaltenen Impressionen mit Hilfe der unsicheren Kriterien von Rasse und Erde versichern wollte.323
5.4.7. Ein Bohemien auf dem Weg nach „Norden“ Sicher ist seine Würdigung Pieros verdienstvoll, doch zweifellos gedachte Moeller mit ihr auch zu provozieren. Wenn Piero für Moeller die „Mittagshöhe der neuen italienischen Kunst“324 war, so implizierte dies, dass hiernach vor allem Minderwertiges entstand, dass beispielsweise Leonardo, Raffael, Michelangelo und Tizian in erster Linie etablierte und daher notwendig überschätzte Künstler seien. Unverkennbar in diesem Zusammenhang ist, dass der Wunsch nach einer Neubewertung und Umstrukturierung zu den wichtigsten Triebkräften der Erzählung der Italienischen Schönheit gehörte. Schlägt sich dieser Wunsch im Piero-Kapitel in der Entdeckung der Qualitäten eines weithin unterschätzten Künstlers und also in einem positiven Sinne nieder, so lassen Moellers Beurteilungen etablierter Künstler die umgekehrte Tendenz erkennen. Höhepunkt ist eine Polemik gegen Tizian, der für Karl Woermann im „Brennpunkte der venezianischen Kunst“325 stand. Moeller hingegen sah Tizian und Tintoretto am Ende der venezianischen Kunst. Beispielhaft ist sein abschätziges Urteil über die Assunta (Maria Himmelfahrt, 1516–18, Venedig, Santa Maria dei Frari). Die hier abgebildete Madonna wollte Moeller „mit gelösten Gliedern als Venus hingelagert, aber nur ja nicht als Gottesmutter mit aufgeklappten Augen gen Himmel fahren sehn“.326 Das Bild scheint ihm symptomatisch für die zuvor diagnostizierte Abwesenheit religiöser wie technischer Virtuosität zu sein. Da Moeller eingangs jedoch bemerkte, dass „die höchsten Leistungen [...] auf der Höhe eines Aufstieges“327 lägen, drängt sich die Vermutung auf, dass Moeller auch im Falle Tizians vor allem 322 323 324 325 326 327
Theodor von Karg-Bebenburg, Bücher über Italien, in: Die Hilfe, 19. Jg. Nr. 49, 04.12.1913, S. 780–782, hier 781. Vgl. Roberto Longhi, Piero della Francesca (1927), in: Ders.: Edizione delle Opere Complete di Roberto Longhi, Volume III, Firenze 1962, S. 146. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 479. Geschichte der Malerei, hg. von Alfred Woltmann und Karl Woermann, Bd. 2: Die Malerei der Renaissance, Leipzig 1882, S. 741. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 735f. Ebd., S. 4 f.
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einen von seinen Zeitgenossen hochgeschätzten Meister zur Strecke bringen wollte. Ein Blick auf seine Bewertung von Michelangelos Sixtinischer Decke, die Moeller mit Masaccios Freskenzyklus in der Brancacci-Kapelle (Santa Maria del Carmine, 1425–1428, Florenz) verglich, lässt dies zur Gewissheit werden: „Die kleine Carmine stellt sich neben die große Sixtina. [....] Doch ist Masaccio unüberholt. Sein Sündenfall hat die größere Dynamik, hat das ewigere Drama. Michelangelos Sündenfall wird, sobald man daneben an Masaccio denkt, sofort komplizierter, einmal klassisch, einmal barock belastet.“328 Moeller stellte hier ein frühes und weniger bekanntes über ein unbestritten kanonisches Werk. Motiviert war dieses Urteil zunächst durch Moellers eigene Position. Als Bohemien sympathisiert er natürlich mit dem früh verstorbenen Genie Masaccio, während er den arrivierten Michelangelo in die Nähe der geschmähten Akademie rückte. In diesem Sinne heißt es beispielsweise: „Es lag in der Art eines Revolutionärs wie Masaccio, daß er, der selbst ein Problematiker war, alle Probleme, die damals um ihn her erörtert wurden, mit besonderem Fanatismus aufgriff. Sie waren modern: und für alles Moderne fühlte er sich wie vorgeboren.“329 Bezüglich der Kunst Michelangelos heißt es dagegen: „Michelangelo selbst teilt bereits mit der Akademie, daß auch er mit einem AuswendigWissen von Formen arbeitete, nur daß er diese Formen noch selbst geschaffen hatte, während die Akademie sie hernach gedankenlos und sehr bald mißverständlich zu übernehmen pflegte. Aber sind nicht auch bei Michelangelo die Funktionen des Körpers, die er so genau kannte, Schemata geworden, nur daß er sie noch mit seinen Händen zuckend und leibhaft selbst bildete, wie Träume der Götter, während die Knechte, die nach ihm kamen, ihm seine Formen noch nicht einmal zu stehlen verstanden!“330
Da Moeller in Die italienische Schönheit auch die Sammelpolitik der „Museumsleiter in Berlin“331 sowie die Kunstauffassung der beiden vergangenen Jahrhunderte kritisierte332, ließe sich solch Urteil auch als Provokation des bürgerlichen Kunst- und Kulturbetriebes deuten. Damit aber nicht genug. Für den Autor der Werte der Völker kam es auch auf dieser Argumentationsebene darauf an, die Italiener als ein „altes“ Volk erscheinen zu lassen. Daher war es nur folgerichtig, wenn er in Michelangelo den Vorboten akademischer Epigonalität erblickte, um abschließend der italienischen Kunst den Totenschein auszustellen: „Schon das Rokoko machte Italien kaum noch mit. Am Empire blieb es vollkommen unbeteiligt. Und eine moderne italienische Kunst gibt es nicht.“333 Zudem erschienen die Germanen auch in Die Italienische Schönheit als eine von den Kräften der „Erde“ privilegierte und daher schöpferisch begabte Rasse: „Das Germanentum war Erde, und diese schwere Erdhaftigkeit hat es bis heute schöpferisch erhalten.“334 So bestätigt letztlich auch dieses Buch den durch 328 329 330 331 332 333 334
Ebd., S. 686. Ebd., S. 408. Ebd., S. 681. Ebd., S. 584. Vgl. ebd., S. 744. Ebd., S. 743. Moeller van den Bruck: Die italienische Schönheit, München 1913, S. 170.
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die Zeitgenossen vorgegebenen Bezugsrahmen. Theodor Däubler gewidmet griff es jene diesem eigentümliche, kosmologische und geophysikalische Spekulationen verbindende Idee auf, der zufolge die Erde ein sich ständig umgebärdendes, verjüngendes Wesen sei, das der Wiedervereinigung mit der Sonne entgegenstrebe. Als „Gleichnis“335 interpretiert, entstand dabei aus Däublers Konstruktion die Vorstellung von Wanderung des Geistes nach „Norden“: „Wir sehen den Gang der Welt, von der kosmischen Seite her, als einen Aufstieg, der kein anderer ist als der zum Weltnordlicht. [...] Wir sehen der Menschheit Zug, vom Dunkel zur Helle, von der tropischen Nacht zum ewigen Tag, [...] im Kulturellen von Sinneskulturen zu Geisteskultur.“336
An solche geokulturellen Spekulationen anschließend, bestätigte zuletzt der als Teil der Deutschen Weltanschauung konzipierte Preußische Stil (1916)337 die seit den Zeitgenossen bestimmende These, dass allein die Deutschen begabt seien, einen ebenso repräsentativen wie identitätsstiftenden „Stil“ zu schaffen.
5.5. Apotheose des Preußentums 5.5.1. Moellers Aufsätze zur deutschen Architektur Während seiner Ansicht nach also eine italienische Stileinheit zuletzt an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert bestand, hatte Moeller in den Architekten Alfred Messel, Hans Poelzig und Peter Behrens bereits maßgebliche Protagonisten der Ausgestaltung der modernen deutschen Stileinheit erkannt. Messels Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz (Berlin 1896/97, erw. 1901 und 1904), Poelzigs funktionaler Opernentwurf (1912) und Behrens’ Turbinenhalle der AEG (Berlin 1909) sowie dessen deutsche Botschaft in St. Petersburg (1911/12) schienen ihm eine Art Heilsversprechen zu sein. Moeller hoffte, dass die immer wieder monierte gründerzeitliche „Stilverwirrung“338 nun auch in der repräsentativsten aller Künste zu Ende ginge. Der Sohn eines preußischen Baurats wies mehrfach auf die „Notwendigkeit einer modernen Architektur für Deutschland“339 hin, auch weil man eine für ihre Bausünden berühmte „Parvenüstadt“340 zur Hauptstadt des Reiches gemacht hatte. Moeller zweifelte jedoch nicht daran, dass Berlin alsbald „die Vorherrschaft über die übrigen Hauptstädte“341 übernehmen und sich zum Sinnbild der deutschen Stileinheit entwik335 336 337 338 339 340 341
Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 302. Ebd., S. 301. Vgl. Reinhard Piper, Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers, München 1947, S. 415. Vgl. u.a. Moeller van den Bruck, Notwendigkeit einer modernen Architektur in Deutschland, in: Badische Landeszeitung, 22.07.1910. Ebd. Moeller van den Bruck, Berliner Möglichkeiten, in: Der Tag, 13.01.1909. Ebd.
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keln werde. Mit Blick auf die Defizite der zeitgenössischen Bautätigkeit formulierte Moeller: „Berlin muß selbst erst überhaupt Berlin werden, muß seinen Stil, seinen Ausdruck, seinen Stadtcharakter bekommen, der nur ihm gehört und den es mit keiner anderen Stadt teilt. Es ist nur architektonisch möglich: durch die Zusammenfassung von Berlins Weltstadtstimmung zu einem einheitlichen Stadtgebilde.“342
Dabei zeigt die Zielvorstellung eines einheitlichen Stadtgebildes, dass Moellers Auseinandersetzung mit der als Architektur der „öffentliche[n] nationale[n] Schande“343 apostrophierten gründerzeitlich-wihelminischen Baukunst vor allem von der Furcht vor der Fragmentierung der nationalen Gemeinschaft bestimmt war. Nicht einverstanden zeigte sich Moeller daher vor allem mit der Art und Weise, wie die maßgeblichen Bauherren (Wirtschaftsbürgertum und Kaiser = das „offizielle Deutschland“) ihr Repräsentationsbedürfnis zu befriedigen suchten. Das grundlegende Konzept des mit dem neunzehnten Jahrhundert zu Ende gehenden Historismus, dem einzelnen Bauwerk durch Rückgriff auf die vergangenen „hohen Stile“ eine über seinen Zweck hinausgehende „höhere“ Idee, Legitimität und Bedeutung zu geben, lehnte er ab. Mindestens drei Konfliktlinien lassen sich hier ausmachen. Erstens kollidierte der Rückgriff auf vergangene und fremde Formen mit seinem avantgardistischnationalistischen Selbstverständnis. Zweitens kritisierte Moeller, dass die historisch gewachsene Stileinheit der Städte aufgelöst wurde. Unerträglich war ihm, dass sich die konkurrierenden Bauherren und Architekten nicht auf einen zeitgenössischen Baustil einigen konnte und somit Neoromanik, Neogotik, deutsche Renaissance, Neubarock und Klassizismus „unsere Großstädte zu jenem Stilmischmasch“ werden ließen, „der uns heute wieder aus ihnen heraustreibt, kaum, daß wir sie betreten haben“.344 Drittens monierte er das Auseinanderfallen von Form und Funktion in der zeitgenössischen Architektur. Das Repräsentationsbedürfnis und der nicht durchgebildete Geschmack insbesondere des neureichen Berliner Bürgertums bewirkten, dass man mit billigem Dekor Reichtum vortäuschte und dabei den Zweck außer Acht ließ. Beispielhaft für Moellers Aversionen gegen den „Gründerstil“ sind seine Ausführungen zur zeitgenössische Konzerthausarchitektur: „Gebaut ist ja worden: ein Konzertsaal, ein Musikhaus nach dem anderen entstand, und gerade in den Jahren nach 1871 schien Gelde wie Wille dazu in Überfluß vorhanden zu sein. Aber wenn man sie heute ansieht, dann ist es als ob wir nach 1871 ein Volk von Tapezieren geworden wären! Stukkateure und Anstreicher taten sich zum fürchterlichen Werk zusammen. Riesenräume wurden errichtet, in denen die Plüsch- und Portierenkultur der Zeit ihre schauervollen Triumphe, wahre Marktorgien, feierte. Marmor wurde behandelt, als ob er Gips wäre – und war freilich meist auch nur Gips. Bronze wurde so verwendet, daß sie aussah wie Blech – und war freilich meist auch nur Blech. Zum Schmuck wurden dann Skulpturen hingestellt oder angeklebt, Skulpturen von der verhängnisvollsten akademi342 343 344
Ebd. Moeller van den Bruck, Beethoven-Halle und Bach-Chor, in: Der Tag, 25.02.1909. Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 283.
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schen Herkunft, irgendwelche sentimental-pathetische Göttinnen in idiotisch-allegorischen Posen. Und die Decken wurden bemalt, wie es in der schlimmsten Zeit des Jesuitenstils und der Kuppelausmalung nicht schlimmer getrieben worden war, mit total verzeichneten Akten meist sinnlos in der Luft tanzender und dazu Leier schlagender oder Flöte blasender Genien. Die Fassaden aber wurden aus Vorlagebüchern zusammengestohlen und in ihnen die Ornamente und Motive eines Modestils, meist der Hochrenaissance, zu wahren Bauungeheuern an Ungeschmack und Verlogenheit zusammengebacken.“345
Signifikant für Moellers Bemühen, Architektur wesentlich auf den Bauzweck zu verpflichten, ist ferner die Würdigung Hans Poelzigs, der als dem Deutschen Werkbund angehörender Industriearchitekt zu den konsequenten Protagonisten des Funktionalismus gehörte.346 Über dessen nicht realisierten Entwurf für die neue Berliner Oper347 schrieb Moeller: „Wenn man den Entwurf von Poelzig mit dem aller anderen vergleicht, dann man meint man, es sei wahrhaftig nur er auf den Gedanken gekommen und habe nach ihm gehandelt, daß hier ja eine Oper geschaffen werden solle, daß es nicht galt, Tempel oder Basilika einem modernen Bauzweck zuzuführen, sondern daß ein moderner Bauzweck selbst unmittelbar in eine Bauform umzusetzen sei. So entstand dieser Entwurf [...] in den Formen knapp, sicher und gediegen.“348
Somit entsprach Moellers vehementer Kritik an der gründerzeitlichen Architektur ein ebenso engagiertes Eintreten für die moderne deutsche Baukunst, wobei Moeller mit den Vordenkern des Werkbundes verband, dass er in der einfachen funktionalen Form ein Privileg des jüngeren Deutschland erkannte. Das zeigt sich in dem 1913 in der Tat publizierten Aufsatz Der Kaiser und die architektonische Tradition (1913).349 In diesem stellte Moeller früheren Stellungnahmen widersprechend350 die preußische 345
Moeller van den Bruck, Beethoven-Halle und Bach-Chor, in: Der Tag, 25.02.1909. Vgl. Sebastian Müller, Kunst und Industrie. Ideologie und Organisation des Funktionalismus in der Architektur, München 1974, S. 55 ff. 347 Eine Abbildung des Entwurfs findet sich in der zweiten Auflage von Der preußische Stil (Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, 2. Aufl., München 1922, Bildtafel S. 222 f.). 348 Moeller van den Bruck, Die Aussichten des Berliner Opernhauses, in: Der Tag, 15.01.1913. 349 In dem betreffenden Heft wird das 25jährige Thronjubiläum Wilhelms II. kritisch bilanziert. Adolf Behne beispielsweise kam in einem der Kunstpolitik des Kaisers gewidmeten Aufsatz zu dem Ergebnis, dass Wilhelm II. zwar die „Wichtigkeit der Kunst für die Kultur theoretisch“ erkannt, zur Kunst aber kein „inneres Verhältnis“ habe. Daher bleibe seine Tätigkeit, „in der Kunst durchaus unfruchtbar“ (Adolf Behne, Der Kaiser und die Kunst, in: Die Tat, 5. Jg., Heft 6, September 1913, S. 576–587). 350 Bis hierhin hatte Moeller den Beitrag Preußens zur deutschen Kultur als bestenfalls zweitrangig bestimmt. So wurde in einem Preußentum und Ungenialität (1910) betitelten Beitrag das Preußische als eine Phantasie und künstlerische Weltauffassung entbehrende „Größe des Willens und der Energie“ gewürdigt. Eine preußische Philosophie, ein preußischer Dichter, ein preußischer Künstler, dies seien Vorstellungen, die fast überhaupt nicht fassbar, jedenfalls nicht ohne inneren Widerspruch denkbar seien. „Preußentum ist nun einmal ein Massivbegriff, kein Individualbegriff. Persönlichkeit gilt ihm wohl als alles, aber nur als Mittel zum Zweck, nicht als Selbstzweck. Deshalb ist Ordnung, nicht Freiheit, sein Staatsideal, ist Befehlen, aber auch Gehorchen eine große Kunst und das Geheimnis seiner geschichtlichen Er346
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Architekturtradition als vorbildlich und möglicherweise repräsentativ für das gesamte Reich dar: „[...] wie Preußen in Deutschland politisch vorangegangen ist, so muß es auch kulturell in ihm vorangehen. [...] In Preußen allein, auf kolonialem Boden, hatte die absolute Monarchie, gestützt auf einen Adel, der sich mit der vornehmen Strenge des kleinsten Kavalierhauses begnügte, einen Monumentalstil hervorgebracht, an dessen großartiger Abstraktheit sich Denken und Leben in Deutschland auf sich selber besinnen konnte und kann.“351
Die allzu bekannte „zivilisatorische“ Leistung mit der bis dato verkannten „kulturellen“ assoziierend suchte Moeller, die preußische Architektur der Zeit um 1800 als sachlich schlichten, historisch verbürgten und authentischen Gegenentwurf zur Architektur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erscheinen zu lassen. Denn „eine Porträtbüste von Schadow ist monumentaler als eine Komposition von Begas, Schinkels kleine Wache monumentaler als die Klitterung Raschdorffs, die schlichte Universität monumentaler als die standbildbestückte Bibliothek nebenan.“352 Dem Kaiser, dessen Verhältnis zur preußischen Architektur Moeller in diesem Aufsatz schwerpunktmäßig untersucht, wurde als maßgeblichem Bauherrn und Mäzen der genannten Architekten und Bildhauer353 attestiert, die Vorbildlichkeit der preußischen Baukunst nicht erkannt und somit die Entwicklung einer modernen Ar-
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folge gewesen. Was sich dabei am Ende und in der Summe ergab, war Administration, vielleicht Zivilisation, aber nicht eigentlich Kultur. Eine preußische Kultur gibt es nicht. Nur eine deutsche Kultur könnte es geben, wie es früher einmal eine gegeben hat.“ Entsprechend diagnostizierte Moeller einen spezifisch preußischen Mangel an deutscher Geistigkeit, dessen sichtbarstes Zeichen die Architektur der Reichshauptstadt sei: „Berlin ist heute die repräsentative, vielleicht auch die intellektuellste, aber ganz gewiß nicht die nationalseelische Hauptstadt [...]. Seine zusammengeramschte Architektur, seine fade Flachdachlinie, sein grauer Ölfarbton verraten überall die kommandierte, die künstliche, die ungeschöpfte Entstehung“ (Moeller van den Bruck, Preußentum und Ungenialität, in: Der Tag, 03.03.1910). Moeller van den Bruck, Der Kaiser und die architektonische Tradition, in: Die Tat, 5. Jg., Heft 6, September 1913, S. 595–601, hier 597 f. Ebd., S. 600. Reinhold Begas war der wohl einflussreichste Bildhauer der wilhelminischen Epoche. Erhalten und bekannt sind sein Neptunbrunnen (1891) vor dem Roten Rathaus (Berlin) sowie das Sitzmonument Alexander von Humboldts (1883) vor der Berliner Humboldt-Universität. Berühmt bei seinen Zeitgenossen war er vor allem aufgrund seiner nicht erhaltenen Monumentalplastiken. Das waren in erster Linie das in der Spitze 20 Meter hohe Nationaldenkmal Kaiser Wilhelms I. (1892–97) auf der alten Schlossfreiheit in Berlin sowie das kleinere BismarckDenkmal (1901) vor dem Reichstag. Julius Raschdorffs Hauptwerk war der von Moeller viel kritisierte Dom zu Berlin (1894–1904), die Hauskirche Wilhelms II. Der Architekt der hier bemängelten Staatsbibliothek (1908–1913) und des Kaiser-FriedrichMuseums (1898–1903, heute Bode-Museum) ist Ernst Eberhard von Ihne. Über ihn schrieb Moeller weiter unten: „Ein Klüngler wie Ihne, der wohl der kulturloseste von allen gewesen ist und am verhängnisvollsten gewirkt hat, kann nicht einen Stein künstlerisch behandeln, kann keine Säule ins Gefüge, kein Fenster in die Wand setzen und hat jedes Verständnis der Fläche, jedes Gefühl für Verhältnisse, jeden Blick für Abmessungen verloren – ganz abgesehen davon, daß er den Zweckgedanken regelmäßig mißverstand und Bauten lieferte, die sich hinterher als verfehlt bis zur Unbrauchbarkeit auswiesen“(ebd., S. 600).
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chitektur behindert zu haben. Zwar gestand Moeller zu, dass Wilhelm II., „als er sich entschloß [...] einigen von diesen Künstlern, die in der Zwischenzeit durch bürgerlichen Auftrag, durch Bau von Warenhäusern und Turbinenhallen für Deutschland bedeutend geworden sind, große Aufträge des Reiches anzuvertrauen“, auch die moderne Architektur in einem bescheidenen Maße gefördert habe. Entscheidend jedoch war die Suggestion, dass der Kaiser, der den „große[n] Stil des Preußentums, von dem Deutschland künstlerisch genauso herkam, wie philosophisch und ethisch und militärisch, [...] vollständig“354 überging, auch die Ausgestaltung der nationalen Stileinheit beeinträchtigte. Dagegen nahm Moeller für sich in Anspruch, mit dem Preußischen Stil (1916) wieder den Anschluss an ursprüngliche, zukunftsfähige und identitätsstiftende Traditionen gefunden und kommenden Architektengenerationen den einzig richtigen Weg zu einer naturhaft wahren Baukunst gewiesen zu haben. Bezeichnend hierfür sind die ersten Absätze des Schlusswortes: „Der preußische Stil ist der letzte deutsche Stil, den wir gehabt haben: und der einzige Stil, bei dem wir wieder anknüpfen können: der einzige zugleich, der von Preußen nach Deutschland hinüber wirken kann. Er ist es, weil er nicht an seine Formen gebunden ist, sondern an das Gesetz, auf dem alle Formung beruht. Er ist es, weil er nicht ein Stil von Motiven ist, die sich von Reißbrett zu Reißbrett abzeichnen lassen, sondern die steinerne Sichtbarkeit eines der Architektur eingeborenen Geistes, die sich aus der Natur der Länder und ihrer Menschen überall anders und doch sich selbst gleich ergibt. Er ist es, weil er ganz sachlich ist; weil die Überlieferung, die sich in ihm fortsetzt, Grundlage und Grundsatz aller Baukunst enthält, die alle angehen, welche ihrer bedürfen; und weil er voraussetzungslos genug erscheint, um sich [...] mit einem Modernen verbinden zu lassen, das nur auf dem Leben beruht.“355
354 355
Ebd., S. 599. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 184.
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5.5.2. Preußisch versus Deutsch Auch in Der preußische Stil (198 S.)356 erscheint die moderne Baukunst als Wiederaufnahme der im neunzehnten Jahrhundert abgerissenen preußischen Architekturtradition. In dem von der Schriftstellerin Ina Seidel als „heroisches Dokument deutschpreußischer Selbsterkenntnis“357 gefeierten, schriftstellerisch jedoch nur mäßig gelungenen Werk358 suchte Moeller seine Leser zu überzeugen, dass das Aufkommen des nicht mit der preußischen Architektur in Einklang stehenden Historismus als Ausdruck des zwischenzeitlichen Überhandnehmens romantischen deutschen Geistes zu verstehen sei. Erstes sichtbares Zeichen dieser Entwicklung schien die von Karl Friedrich Schinkel im neugotischen Stil errichtete Friedrich-Werdersche Kirche (1824–31). Was zunächst ein „Zugeständnis an die Romantik“359 gewesen sei, wirkte dabei insofern verheerend, als der von Schinkel praktizierte Pluralismus der Stile für Moeller den Verfall der als vorbildlich empfundenen preußischen Stileinheit einleitete. Nicht nur, dass mit dem „Gotische[n] [...] das versunkene und abgetane Deutsche“ wiederbelebt worden sei.360 Der Rückgriff auf gotische Stilelemente schien nunmehr als ein erstes Zeichen des aus Beliebigkeit resultierenden schöpferischen Niedergangs auch die eklektische Architektur der Gründerzeit vorwegzunehmen. 356
357 358
359 360
Die insgesamt 13 Kapitel des Buches tragen oft den Namen einer Stadt als Überschrift – Vineta; Brandenburg; Königsberg; Potsdam; Berlin; zweimal führen sie auch den Namen einer Person – Schlüter; Gilly. Die übrigen heißen schlicht: Genesis; Zopf; Stil; Monumentalität; Idylle; Deutschland. In der zweiten, ausdrücklich als „Neue Fassung“ angekündigten Auflage ist Das preußische Schicksal als vierzehntes Kapitel hinten angefügt. Ina Seidel, Über Moeller van den Brucks ‚Preußischen Stil‘ (1924), in: Dies.: Dichter, Volkstum und Sprache, Stuttgart 1934, S. 138–140, hier 130. In nahezu allen Besprechungen des Buches werden dessen schriftstellerische Mängel thematisiert. Hier zwei Beispiele „Ein höchst interessantes Thema. [...] Leider aber enttäuscht der Inhalt. Der Verfasser hat sich seine Aufgabe zu leicht gemacht. So viel treffendes auch schlagend gesagt ist, so erstickt doch das Feuerwerk der Phrasen das Gute. Die Schreibweise des Verfassers blendet und packt wohl eine Zeit lang, aber die Blender und Leuchtkugeln in unendlichen Sätzen ermüden. Das Buch vom preußischen Stil konnte unpreußischer nicht geschrieben sein“ (Anonym, Moeller van den Bruck. Der preußische Stil, in: Dekorative Kunst, 20. Jg., Nr. 8, Mai 1917, Beilage S. IV). Ebenso: „Es steht sehr viel Feines in diesem Buch, besonders das Kapitel über Gilly ist zu rühmen, aber es fehlt ein Rückgrat klarer Begriffe und Prinzipien. Gute Beobachtungen mischen sich mit überflüssigen Reflexionen. Das eigentlich Peinliche an diesem Buche aber ist sein virtuoser, unendlich preziöser, romantisch farbiger Stil, dessen Widerspruch zum Thema sich auf jeder Seite hätte aufdrängen müssen. Ein Buch über den preußischen Stil, das in einem antipreußischen Stil geschrieben ist, kann man nur mit Überwindung lesen. [...] Die Grundgedanken Moeller van den Brucks sind gut und wahr. Wir hätten gewünscht, daß sie strenger und klarer, mit einem Wort preußischer, herausgestellt wären“ (Alfred Albin Baeumler, Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 11. Bd., 1916, S. 344). Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 171. Ebd., S. 172.
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Schließlich sah Moeller hier den Beginn einer in „Entartung“ endenden „Entwicklung, die innerlich längst im Schinkelstil vorbereitet war, der bereits schwankend vor seinen Bauaufgaben gestanden und die Möglichkeit antiker oder je nachdem gotischer Stil- und Motivlösungen zugelassen hatte“.361 Unterstützung erfuhr das Argument des aus dem Siegeszug romantischen deutschen Geistes resultierenden baukünstlerischen Niedergangs auf politischer Ebene unter anderem dadurch, dass auch die bismarcksche Reichseinigung als Aufgehen Preußens im Reich darstellbar war: „Preußen wollte mehr sein als Preußen: sein Wille wurde sein Verhängnis. Es war der große geschichtliche Beruf des Preußentums, daß es uns wieder nach Deutschland führte [...]. Von diesem Berufe ist hier nicht zu reden: [...] nur von dem kulturellen Verlust, von der geistigen und künstlerischen Selbstzersetzung, von der Zerstörung seiner soeben geschaffenen Stileinheit in den Gründerjahren.“362
Für Moeller stand somit fest: „Romantik griff [...] auch künstlerisch von Deutschland nach Preußen über und zerstörte hier den Stil.“363 Konstituierend für den preußischen Stil ist ferner die Identifizierung des Deutschen mit der Italienpolitik der Staufer sowie die daraus folgende Annahme, dass auf seiner „romantische[n] Grundlage [...] sich das deutsche Volk in ghibellinisch-mystischer Selbsttäuschung als der Vertreter eines inzwischen fruchtlos und unzeitgemäß gewordenen Weltherrschaftsgedankens seit dem frühen Mittelalter aufgerieben hatte“.364 Hieraus entwickelte Moeller die These, dass es unbedingt einer Hinwendung zu welfischen Positionen bedurfte, um Deutschland vor Desintegration, Degeneration und machtpolitischem Bedeutungsverlust zu bewahren. Schließlich bestätigte die von Moeller idealisierte nationalhistorische Entwicklung (vgl. 4.1.6.), dass die Bestimmung des deutschen Volkes nicht im südlichen Italien, sondern im Norden und in der Ostkolonisation lag. Hier entstand der preußische Staat, in dem sich im Laufe der Zeit ein vom „verschwendenden“365 deutschen verschiedener, streng sachlicher und systematischer Geist entwickelte, der letztlich in Gestalt von Bismarck und Moltke den Weg zur Gründung des deutschen Nationalstaats ebnete.366 Moellers Erörterung des Verhältnisses von Preußentum und Deutschtum, die insofern an Die Deutschen anknüpft, als das Preußentum als Fortsetzung des Welfentums verstanden wurde, das den Askaniern die „kolonisatorische Sendung“367 übermacht habe, lief nunmehr darauf hinaus, das Preußentum als Antithese des Deutschtums zu präsentieren. Aus den Eigenschaften, die Letzterem zugeschrieben wurden (Neigung zu Sehnsucht und Versonnenheit, Verschwendung und Träumerei)368, sei jene „Entschwärmung des Deutschtums“ hervorgegangen, die sich im Ghibellinentum manifestiert habe wie die Disposition des Deutschtums auch „jene 361 362 363 364 365 366 367 368
Ebd., S. 179. Ebd., S. 170. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 170. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 12 f.
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Romantik“ entstehen ließ, „die dem Preußischen so entgegengesetzt ist, wenn sie auch seine geheime Sehnsucht bleibt – wie nach Gefilden, die der Preuße nicht betreten darf, wofern er Preuße bleiben will“.369 Die nationalpädagogische Pointe dieser den Rahmen einer architektonischen Stammesgeschichte sprengenden Ausführungen war, dass nach Moeller die „romantische Grundlage“370 des Deutschtums nicht allein die preußische Stileinheit, sondern implizit auch den Bestand des Gemeinwesens bedrohte: So wie die politische Gestaltwerdung des „preußischen Stils“ die Einheit des Reiches nach sich zog, drohen nun auf die Zerstörung der Stileinheit deren Zerfall und also Zustände wie im ausgehenden Mittelalter zu folgen. Dieser Szenerie entsprach, dass die streng sachliche Form zum vorbildlichen Gegenentwurf des romantischen Deutschtums avancierte. Schon die prätentiöse Widmung – „Dem preußischen Offizier Major Rudolf Moeller meinem lieben Onkel und treuen Freunde als ein Bekenntnis zu Hegel und Clausewitz“ – signalisiert: Diese Form wird in Moellers Apotheose des Preußentums in allen bedeutenden und unbedeutenden Äußerungen des preußischen Geistes aufgezeigt und daher als ursprünglich und spezifisch preußisch deklariert: „Preußentum ist ein Prinzip in der Welt.“371 In diesem Sinne schrieb Moeller unter anderem: „Das Preußentum war der Geist, der [...] die Schwärmerei durch den Willen, den Schein durch die Sache und Sachlichkeit ablöste und unter uns wieder die Sendung zur Tat übernahm. Dieses Preußentum [...] erhob zum ersten Male den Dualismus zum System und zur Praxis in Einem und lehrte uns denken und handeln zugleich. Dieses Preußentum schied die Erscheinungen und sonderte die Begriffe, wie es den Staat auf das Recht, die Gesetzlichkeit auf Sittlichkeit stellte. Dieses Preußentum steigerte seinen Kritizismus zu einer Organisationskraft, die zu der Systematik von Kant wie zu derjenigen von Clausewitz führte und aus der sich alles große Preußische erklärt, der Bau der Phänomenologie des Geistes wie der Wurf des geschlossenen Handelsstaates oder die Tat des Krümpersystems. Und dieses selbe Preußen, dieses vermeintlich so kunstferne, wenn nicht kunstfeindliche Land, dessen Reichtum in seiner Sparsamkeit, dessen Überfluß in seiner Maßhaltung, dessen Aufwand in seiner Einschränkung lag, hat dann auch die alte Völkererfahrung bestätigt, nach der den politischen Aufstieg einer jeden überhaupt schöpferischen Nation stets eine kulturelle Entwicklung begleitet, in deren sichtbaren Formen das betreffende Volkstum erst in das weltgeschichtliche Bewußtsein übergeht.“372
Von dem ausdrücklichen und wiederholten Hinweis auf die als Gestaltwerdung eines auserwählten Geistes beschworene preußische Stileinheit bis zur Deutung der preußisch-deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist es in Der preußische Stil nicht weit. Schon die als „preußisch“ apostrophierte Konzentration auf die „Sache“ versprach, dass Preußen zu jenem „Rückgrat“ wurde, „das dem Deutschtum in den Verschwendungen seiner überschwenglichen, aber unfesten Geschichte immer wieder gefehlt hatte“.373 Schlussendlich aber schien Moeller die auf das erste Drittel 369 370 371 372 373
Ebd., S. 33. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 69.
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des neunzehnten Jahrhunderts datierte Blütezeit der preußischen Kultur auch ein Versprechen für Kommendes zu enthalten. Er hoffte, dass die damals realisierte „geistige Einheit“374 auch in dem neuen Reich geschaffen werden könne. Die „zusammenfassende[...] Staatlichkeit“375 garantierenden Eigenschaften des Preußentums seien jedoch nicht aus dem Nichts entstanden. Wie schon in Die italienische Schönheit suchte Moeller das sich im „preußischen Stil“ ausdrückende „Sonderbewußtsein des Deutschen“376 auf anthropologische und terrestrische Faktoren zurückzuführen. Der oben dargelegten Kontrastierung entsprach dabei, dass Moeller die Geschichte des Preußentums nicht mehr wie in Die Deutschen als Teil derjenigen des Deutschtums dachte. Er betrachtete Preußentum und Deutschtum vielmehr als Kreise, die sich nur partiell überschnitten. „Das Deutsche ragte in das Preußische immer nur hinein: doch selbst beruhte das Preußentum auf anderen und eigenen Voraussetzungen, die es sich erst geschaffen hat.“377 Und so ist die Quintessenz von Moellers wirrer und zum Teil mythischer, zum Teil rassischer Vorgeschichte Preußens, dass das preußische Sonderbewusstsein seine Ursache sowohl in der Beschaffenheit der Landschaft als auch in der Zusammensetzung der Bevölkerung hatte. Die „niederdeutsche Tiefebene“ war für Moeller „das offene Brachfeld für Krieg wie für Arbeit, eine Heimat der Zukunft, die wir uns erst erobern mußten“.378 Und über die in der kargen und unerschlossenen Landschaft der Mark Brandenburg ursprünglich ansässigen Wenden schrieb er, dass sie „genügsam und anspruchslos, doch auch zäh und geschickt, geschäftig und auf ihre stille Weise unternehmend“ seien. So hätten die Wenden zwar „keinen Willen zur Geschichte, brachte[n] aber manche Begabung zur Ordnung mit, die fruchtbar werden konnte, sobald Leitung und Entschlußkraft, die nicht ursprünglich in ihr lagen, von außen hinzutraten“.379 Diese „Urrasse“380 sei vom Slawentum, später vom Germanentum „überschichtet“381 worden. Daraus sei ein Mischvolk entstanden, das im Mittelalter mit den Deutschen eine Verbindung eingegangen war, aus der eine weitere Spezies hervorging: der „Märker“ oder „Preuße“. Von ihm heißt es in der Erstfassung, er stehe den „Liven oder Letten oder Esthen“ näher als den West- und Süddeutschen382 – eine Behauptung, die in der Zweitfassung fehlt, wohl weil sie in der Konsequenz darauf hinausläuft, wie ein nationalsozialistischer Kritiker empört bemerkte, „daß die ‚Preußen‘ überhaupt nur noch sehr bedingt zu den Deutschen zu zählen sind!“383 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383
Ebd. S. 133. Ebd., S. 11. Ebd., S. 48. Ebd., S. 18. Ebd., S. 13. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd., S. 28. Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939, S. 107.
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Letztlich jedoch machte Moeller auch selbst darauf aufmerksam, dass sich unter den Bedingungen einer notwendig sparsamen und maßvollen Lebensführung bei den deutschen Kolonisatoren ein vom deutschen verschiedenes männlich aktivistisches Bewusstsein entwickelte.384 Die das preußische „Sonderbewusstsein“ auszeichnende strenge Sachlichkeit ging somit allein darauf zurück, dass der fruchtbare deutsche Geist östlich der Elbe härteren Sachzwängen unterworfen und zur Tat herausgefordert war. Für die Ausbildung eines sachlichen, streng hierarchisch geordneten und daher erfolgreichen Gemeinwesens habe es jedoch auch des „Wendischen“ als des dienenden Elementes bedurft. Die Reste der abschätzig als geschichts-, antriebs- und anspruchslos bezeichneten wendischen Urbevölkerung waren demnach durch den deutschen Geist angeregt und somit über sich selbst erhoben worden.385 Der „verschwendende“ deutsche Geist hingegen habe in Preußen durch Kampf und Arbeit seine Bändigung erfahren und somit eine angemessene und spezifische Form gefunden.
5.5.3. Der „Zopf“ des Soldatenkönigs Eine Schlüsselrolle bei der Untersuchung dessen, was Moeller den „preußischen Stil“ nennt, spielt der einer hugenottischen Familie entstammende Architekt Friedrich Gilly (1772–1800). In dem ihm gewidmeten Kapitel heißt es: „Gilly hat den Zopf durch den Stil überwunden: den märkischen Zopf, in dem sich das alte Preußentum mit so viel verhaltener Kraft und zurückhaltendem Geschmack ausgedrückt hatte, durch den preußischen Stil, in dem sich die geistigen und staatlichen Machtansprüche, die von der friderizianischen Schöpfung hinterlassen waren, ebenso einfach wie großartig ausdrücken ließen.“386
Demnach gehörte alles, was bis zu Friedrich Gillys ersten Versuchen entworfen und gebaut worden war, für Moeller zu einem Ersten Teil387, der Vorgeschichte des 384 385
386 387
Vgl. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 34. Beispielhaft für Moellers Vorstellung von der befruchtenden Wirkung des deutschen Geistes ist seine Schilderung des von Friedrich Wilhelm I. begründeten Beamtentums. In diesem Zusammenhang schreibt er: „[...] so wenig wie der preußischen Armee ihr Jena erspart blieb, vermochte sich die preußische Beamtenschaft in ihrem Urwesen zu behaupten, und als NurBureaukratie ist sie zusammen mit der Nur-Akademie zuzeiten ganz unschöpferisch gewesen. Das Nur-Wendische brach in dieser Mischung wieder durch und verhärtete sich zugleich: jenes Völkerelement, das im Slaventum nur stumpf zu gehorchen oder grausam zu befehlen versteht – und das auch im Preußischen, ohne das Deutsche, und sich selbst überlassen, wirklich nur zu dienen versteht. Aber damals war der Beamtenstaat, den Friedrich Wilhelm über dem Militärstaat aufführte, eine lebendige Kraft, durch die er [...] in Verbindung mit dem Schulzwang, den er einführte, die Verschmelzung dieser ganzen preußischen Nation, die aus wendischen und deutschen Bestandteilen sich eben damals bildete, nicht nur in den meisten Teilen sprachlich, sondern in allen Teilen auch geistig durchsetzte“(ebd., S. 74 f.). Ebd., S. 110. In der ersten Auflage sind die beiden Teile noch nicht getrennt. Eine Gliederung in Erster und Zweiter Teil erfolgt erst ab der zweiten Auflage (1922). Zum ersten Teil gehören demnach:
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„preußischen Stils“ wie der modernen deutschen Architektur. Das heißt nicht, dass es nicht von Bedeutung sei. Moeller unterschied auch hier. Richtschnur der normativen Differenzierung ist eine im Anfangskapitel Genesis [!] versuchte wortreiche Bestimmung des allem Preußischen innewohnenden sachlichen Geistes, der seinen repräsentativen Ausdruck auch in der in Preußen entstandenen Kunst gefunden habe: „Auch Preußen, dieser karge und harte Staat, in dem die Menschen zu Disziplin gefroren erschienen, ist den Problemen der künstlerischen Formung nachgegangen, hat in der Lösung auch sie, die draußen in der Welt seit langem nur Schein und Vortäuschung waren, wieder zu Sache und Sachlichkeit zurückgeführt und eine letzte künstlerische Wahrheit über sein staatliches sittliches geistiges Ich hervorgebracht, an der man nunmehr in Einfachheit, aber auch in Großartigkeit die Äußerungen alles Preußischen erkennt: die deutliche Einheit eines preußischen Formenbaus: einen preußischen Stil.“388
Preußische Kunst, preußische Architektur vor allem, zeichnete sich für Moeller durch ihre Sachlichkeit, genauer durch die Einheit von Bauform und Funktion und eine schlichte, solide Ausführung aus. Dies führte beispielsweise dazu, dass Andreas Schlüter, bei allem Respekt der ihm als „Persönlichkeit“389 entgegengebracht wurde, dem ungeliebten Barock nicht entrissen wird, worin er „ganz Deutscher“390, also nicht Preuße sei. Ebenso erhielten das friderizianische Potsdam und Sanssouci den Stempel: „alexandrinische Kultur [...], gräzistisch, französisch und friderizianisch in Einem“.391 Zwar behauptet Moeller, dass hier ein durch den deutschen Geist gebändigtes antikisches Rokoko entstanden sei. Aber Rokoko war es allemal und das war, trotz lobender Worte für den Baumeister Knobelsdorff, in Moellers Koordinatensystem ein zweifelhaftes Kompliment: Nach seiner Auffassung ist das friderizianische Rokoko allenfalls ein deutsches „Zwischenspiel“392 in der eigentlichen preußischen Architektur- und Kunstgeschichte. Dieser „perückte[n] Kultur“393 entgegen setzte Moeller nun die seiner Ansicht nach idealtypische preußische Architektur, wie er sie unter anderem in dem von Friedrich Wilhelm I. angeordneten Potsdamer Stadtausbau erkennt. Der als Soldatenkönig in die Geschichte eingegangene Monarch machte in seiner Regierungszeit (1713–1740) aus der Stadt bekanntlich eine große Kaserne, in der die Einwohner das Quartier für seine Garde zu stellen und die Bedürfnisse des Militärs zu befriedigen hatten. Dies schlug sich auch im Stadtbild nieder. Das für die Dimensionen der Stadt großzügige und regelmäßige Straßensystem sowie die Typenhäuser im Bereich zwischen Innen-
388 389 390 391 392 393
Genesis, Vineta, Brandenburg, Königsberg, Schlüter, Zopf, Potsdam. Der zweite Teil beginnt mit einem Stil betitelten Abschnitt. Ihm folgen die Kapitel Gilly, Monumentalität, Berlin, Idylle, Deutschland und Das preußische Schicksal. Ebd., S. 19. Ebd., S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 90. Ebd., S. 95 Ebd., S. 72.
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stadt und heutiger Hegelallee sind bis heute erhalten geblieben. Die ausschließlich durch die Garnisonsvergrößerung motivierte und also rein zweckmäßige Stadterweiterung wird von Moeller wie folgt kommentiert: „Von den klassischen Regeln der Baukunst verstand der Mann [Friedrich Wilhelm I.], der so ganz seinen praktischen Prinzipien zugewendet war, [...] nicht das geringste: aber den praktischen Elementen der Baukunst kam er eben deshalb um so näher. [...] Ein Haus, meinte Friedrich Wilhelm, mußte vor allem ein Körper sein, ein Windschutz und Wohnplatz und Arbeitsgebäude für eine möglichst vielköpfige Familie, und, versteht sich, für den Grenadier dazu, den eine jede in der Dachkammer bei sich einzuquartieren hatte: deshalb ließ er die Häuser für die gleichen Bedürfnisse auch alle in gleicher Form aufmauern, nach der Art, die sich, wenn man alle Ansprüche eines mittleren altpreußischen Haushaltes, dazu diejenigen des Heereswesens, der Ortspolizei und der Feuerwehr in Betracht zog, als die billigste und doch dauerhafteste herausgestellt hatte und die das eingeschossige Typenhaus mit dem aufgesetzten Dacherker entstehen ließ. Und eine Straße, meinte Friedrich Wilhelm, mußte vor allem eine Klarheit sein, ein Wegweiser im Stadtbilde [...]: deshalb nahm er sie alle in breitem Zuschnitt, die eine immer rechtwinklig auf die andere hinlaufend, und in einer Reihung, die diese niederen Häuserchen mit Firsthöhe an Firsthöhe paßte und genau so, wie zwei von ihnen immer die gleiche Mittelwand teilten, auch die Schauseiten des einen in derjenigen des anderen wiederholte und fortsetzte.“394
Derart ausgezeichnet wurde der als „Soldatenkönig, [...] Beamtenkönig, [...] Nurpreuße, [...] Urpreuße[...]“395 apostrophierte „Nichtkünstler“396 Friedrich Wilhelm I. zum Schöpfer eines dem Ideal der Einfachheit verpflichteten Zopfstiles erklärt, für den die „Einheit von Stimmung und Strenge“397 wesentlich gewesen sei. Um diese Einheit wiederum als eine spezifisch preußische erscheinen zu lassen, gab Moeller dem seit Carl Zetsches wegweisender Publikation Zopf und Empire (1906) populären Begriff „Zopf“ eine neue Bedeutung. Nicht mehr die „gut bürgerlichen Schöpfungen“ eines vom „verweichlichten“ Rokoko verschiedenen und vom französischen Empire unterscheidbaren einfachen und „vorbildlichen Zopfstils“398, sondern auch die Modernisierung der Verwaltung und alle weiteren prominenten Ergebnisse der Regierung Friedrich Wilhelms wurden in dem gleichnamigen Kapitel Ausdruck des preußischen Zopfes dargestellt. Weil aber der Stilwillen des Soldatenkönigs wesentlich im preußischen Heereswesen wurzelte, hatte Moellers Konzeption des Zopfstils, auch wenn er die Baukunst mit dem unprätentiösen Lebensstil des Monarchen assoziierte, eine deutlich militärischere Konnotation als diejenige Zetsches. Denn auch das Heer war bei Moeller „Zopf“: „[...] es verschwand die Schwedentracht, [...] der aufgeklappte Reiterhut und der blaugelbe flatternde Reitermantel, samt Lederkoller und Stulpenstiefel: es verschwand aber auch das 394 395 396 397 398
Ebd., S. 86 f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 78. Ebd., S. 68. Zopf und Empire war 1906 zunächst in einer dreibändigen Ausgabe erschienen. Im Folgenden wird die mir zugängliche zweite zweibändige Auflage von 1909 zitiert: Carl Zetsche, Zopf und Empire in Mittel- und Norddeutschland, 2 Bde., Leipzig 1909, 1. Bd. S. 6.
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elegante Kostüm und der kokette Dreispitz, in dem sich Offiziere wie Mannschaften des ersten Preußenkönigs gefallen hatten: und an die Stelle trat, eng zugeknöpft und knapp aufgestulpt, Gamasche und Grenadiermütze, trat Zopf, Preußenblau und Einform auch hier, trat der ‚Rock des Königs‘, den der Herrscher selbst mit Vorliebe trug.“399
Für den Textzusammenhang entscheidend ist darüber hinaus, dass Moeller bei aller Bewunderung die Grenzen des Kunstverständnisses von Friedrich Wilhelm I. aufzeigte. An entscheidender Stelle wurde bemerkt, dass der zum Subjekt des preußischen Stilwillens erklärte Monarch „mit seinen Lebensmaßen von Nützlichkeit und Brauchbarkeit im Dinglichen [...] das Wesen des Schöpferischen völlig verkannte“.400 Zwar habe der König mit seinem einfachen Geschmack die Entwicklung der Kunst in Preußen befördert, letztlich seien die in seinem Auftrag errichteten Bauten aber von keiner höheren Idee beseelt, sie repräsentierten keinen selbstbewusst preußischen Geist und verwiesen somit nicht auf eine über ihren Zweck hinausgehende preußische Bestimmung.
5.5.4. Vom preußischen Stil zur modernen Baukunst Im März 1933 erschien in der Beilage zur Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) ein Beitrag des Berliner Architekten Wassili Luckhardt (1889–1972), in der sich Luckhardt gegen das Unverständnis derjenigen wandte, die den Namen Moeller van den Bruck und dessen Buch Der preußische Stil mit dem Neuen Bauen nicht in Verbindung gebracht wissen wollten.401 Luckhardt hingegen suchte Moeller als Vordenker einer Architekturtendenz zu würdigen, deren herausragende Vertreter Ludwig Mies van der Rohe, Max Taut und Walter Gropius waren. „Betrachten wir als heutige [...] die Aussprüche von Moeller van den Bruck im Hinblick auf die Situation, in der wir uns befinden. Die neue Baubewegung ist dort, wo sie echt in Erscheinung tritt, primitiv und ursprünglich in ihrer Formgebung. Da sie ganz von neuem aufzubauen sucht, da sie sich freigemacht hat von der Formenwelt historischer Stile, ist diese Primitivität zwangsläufig und gesund. Die neue Baubewegung will nicht nur zu einer Formensprache aus den neuen Konstruktionen heraus gelangen, sie ist auch Sinnbild einer neuen Geistigkeit, die unser Dasein freimacht von Enge, Schwere und Geschlossenheit, die zu Klarheit, Helle und Leichtigkeit hinführt. Unbewußt sucht die neue Baubewegung den Zusammenhang mit der Landschaft in gleicher Weise, wie Gilly die Bauelemente in die umgebende Natur fügte. Wenn die Formensprache, der sich die Entwicklung zu diesem Ziele bedient, hart, vielleicht streng, sachlich, nüchtern und primitiv ist, so kommt sie damit im Hinblick auf das Vorhergesagte dem sachlichen und strengen preußischen Geist unserer engen Heimat entgegen. Wäre Moeller van den Bruck nicht frühzeitig verstorben, so wäre 399 400 401
Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 74. Ebd., S. 78. Vgl. Wassili Luckhardt, Vom Preußischen Stil zur Neuen Baukunst, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 26. März 1933, zitiert nach: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 21, Berlin 1990, S. 125–128, hier 125.
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vielleicht in ihm ein Wegbereiter der neuen Baubewegung erstanden, die gerade in Deutschland eine Fülle junger schöpferischer Kräfte freigemacht hat und die weiter zu entwickeln eine junge Architektengeneration sehnsüchtig mit heißem Herzen erstrebt.“402
Dieser sowie ein gleichnamiger, im Schlussteil veränderter Beitrag403 verdeutlichen zweierlei. Erstens: Zeitnah zur Machtergreifung der Nationalsozialisten schien es einem namhaften Architekten geboten, ausgewählte Stellen aus einem Werk Moeller van den Brucks zu zitieren. Die Motive hierfür liegen auf der Hand. Durch die Gedankengänge des inzwischen als Verfasser von Das dritte Reich berühmt gewordenen Autors sollte das eigene Schaffen vor allem im Hinblick auf die Ideologie der neuen Machthaber legitimiert werden.404 Zweitens aber, und das ist in diesem Zusammenhang wichtig, zeigt sich, dass Der preußische Stil gerade in seinem zweiten Teil sowohl für die Zeitgenossen als auch für die Interessierten unter den jüngst Nachgeborenen als Plädoyer für die moderne Architektur lesbar war. Schließlich war Wassili Luckhardt zu diesem Zeitpunkt bereits einer der bedeutendsten deutschen Architekten. Gemeinsam mit seinem Bruder Hans und Alfons Anker gründete er ein Architekturbüro, das maßgeblichen Anteil am Baugeschehen im Berlin der 1920er Jahre hatte. Erste bedeutende Bauten in streng rechteckigen Formen sind das im Krieg zerstörte Haus Telchow in der Potsdamer Straße 1 (1926) und die Häuser am Rupenhorn (1926) sowie seit 1927 die Stahlgerippebauten der Versuchssiedlung Schorlemmer Allee. Von 1929 datiert ein Projekt, das eine Neugestaltung des Alexanderplatzes in graziös geschwungenen Formen zeigt.405
402 403
404
405
Ebd., S. 127 f. Wassili Luckhardt, Vom preußischen Stil zur neuen Baukunst, in: Die Kunst, September 1934, Nr. 70, zitiert nach: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 21, Berlin 1990, S. 128ff. In diesem Sinne schrieb und zitierte Luckhardt: „Die neue Baubewegung hat das formale Fundament unserer Baukunst geschaffen [...]: was ihr fehlt, das [...] sind die nicht entwickelten, metaphysischen Zusammenhänge, jene Sehnsucht nach dem Mystischen, die im deutschen Wesen liegt und deren Gestaltung heute nach Ausdruck ringt. Ein Hinweis auf das im tieferen Sinne Heroische von Gillys Kunst erscheint hierbei wichtig, da wir heute wieder im Abwehrkampf gegen hohles Pathos stehen. [...] Wir sind uns bewußt, heute an einem Anfang zu stehen, an einem neuen Beginn mit all seiner Primitivität und seiner Ursprünglichkeit der Form; denn es bestehen ‚ewige Zusammenhänge zwischen Primitivität und Form, die Stil immer nur in der Morgenfrühe einer künstlerischen Entwicklung entstehen lassen.‘ Auf jedem Bauplatz stellen sich wieder ein jene ‚urzeitlichen Unterschichtungen, überall, wo nur eine Mauer im rechten Winkel gegen die Erde gesetzt oder eine Wölbung im halben Kreise über Räume gespannt wird. Daher wird immer diejenige Architektonik die fruchtbarste sein, die bis zu den Elementen hinabsteigt, in denen Raum und Zeit sich scheinbar decken, obwohl auch sie zum mindesten nach Klima und Rasse, wenn nicht nach der Persönlichkeit verschieden sind.‘ [Moeller van den Bruck: Der preußische Stil, München 1916, S. 139 f.]“ (ebd., S. 130). Vgl. Werkverzeichnis in: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 21, Berlin 1990, S. 179–310, hier die Nummern 40, 52, 59 und 61 ff.
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Besonders angetan zeigte sich Wassili Luckhardt von Moellers Entdeckung, dass Friedrich Gilly „der erste moderne Architekt“ sei406: „Tatsache ist, daß dieser Architekt, den Moeller van den Bruck als den ‚ersten modernen Architekten‘ bezeichnet, in den Grundlagen seines Wesens weit genialer, ursprünglicher und endgültiger war als sein großer Nachfolger Schinkel. Gilly wollte zum Anfang des Bauens zurück, er suchte die Urelemente der Form. Der einfache Kubus, der Halbkreis, der Zylinder, das sind seine Bauelemente. Diese Urelemente des Bauens wollte Gilly vertiefen, indem er sie auf eine geistige Grundlage zu bringen suchte. Er strebt zur Formung des Baukörpers in seiner Beziehung zur Landschaft, d.h. er sucht das Verhältnis zwischen mathematischer oder besser gesagt kristallinischer Form zur naturgewachsenen Form [...] zu gestalten.“407
Durch seine Würdigung Friedrich Gillys erwies sich Moeller in der Tat als Kenner und origineller Interpret der Berliner Architekturgeschichte. Gilly war im Verlauf des 19. Jahrhunderts völlig im Schatten Karl Friedrich Schinkels verschwunden. Popularität erlangte der Name Gillys erst durch die Wiederentdeckung der „Kunst um 1800“, nachdem ihn bereits 1881 der Architekt Friedrich Adler in einem Festvortrag als Schinkels Lehrer408 vorgestellt hatte. Schon zwei Jahre vor der vielbeachteten Publikation von Paul Mebes Um 1800 (1908)409 hatte Carl Zetsche 1906 seine oben erwähnte dreiteilige Sammelmappe Zopf und Empire vorgelegt, deren zweite zweibändige Auflage unter dem Titel Zopf und Empire in Norddeutschland 1909 erschien.410 Insgesamt vier Kupferstiche von Friedrich Gillys Entwürfen, die der Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten, die Baukunst betreffend (1799) entnommen waren, schmückten als Titel- und Textvignetten die Einführungen zu den beiden Bänden. Der Faden der Gilly-Forschung wurde jedoch erst nach der Jahrhundertwende von Hermann Schmitz, dem Direktor der Berliner Kunstbibliothek, mit drei Aufsätzen411 und einer Buchpublikation wiederaufgenommen. Berliner Baumeister vom Ausgang
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Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 139. Wassili Luckhardt, Vom Preußischen Stil zur Neuen Baukunst, in: Deutsche Allgemeine Zeitung,, 26. März 1933, zitiert nach: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 21, Berlin 1990, S. 125–128, hier 126. Friedrich Adler, Friedrich Gilly – Schinkels Lehrer (Festvortrag zum hundertsten Geburtstag Schinkels, gehalten am 28. März 1881 im Berliner Verein der Architekten), in: Ders., Zur Kunstgeschichte. Vorträge, Abhandlungen und Festreden, Berlin 1906, S. 141–157. Paul Mebes (Hg.), Um 1800. Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung, 2 Bde., München 1908. Carl Zetsche, Zopf und Empire in Mittel- und Norddeutschland, 2 Bde., Leipzig 1909. Hermann Schmitz, Friedrich Gilly, in: Kunst und Künstler, 7. Jg., Heft 5, Februar 1909, S. 201–206; Die Entwürfe für das Denkmal Friedrichs des Großen und die Berliner Architektur um das Jahr 1800, in: Zeitschrift für bildende Kunst, 20. Jg, Heft 9, 1909, S. 206–214; Die Baumeister David und Friedrich Gilly in ihren Beziehungen zu Pommern, in: Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertümer, 23 Jg., Nr. 6, Juni 1909, S. 81– 87 und 108–111.
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des 18. Jahrhunderts (1914)412 war das Ergebnis einer im Winter 1908 am Kunstgewerbemuseum gehaltenen Vortragsserie. In dieser weitverbreiteten Publikation, die 1925 ihre zweite Auflage erlebte, wurde Gilly dem Leser sogleich auf dem Vorsatzblatt programmatisch präsentiert, in der Gestalt der 1801 von Schadow geschaffenen Büste. Allerdings scheint Schmitz’ anfängliche Begeisterung413 für den frühverstorbenen Architekten zu diesem Zeitpunkt schon merklich abgekühlt. So schrieb er : „So wertvoll und von so schönen architektonischen Ideen erfüllt die hinterlassenen Blätter Gillys erscheinen, so müssen wir doch anerkennen, daß sie eine allerdings höchst geschmackvolle und originelle Verarbeitung der zeitgenössischen, besonders in Paris kultivierten klassischen Formen sind, aber eine geniale Neuschöpfung eines architektonischen Organismus nicht darin enthalten ist. Das leidenschaftliche Studium der Alten, oft bis in die Nacht hinein,[...] die Verwendung gotischer Formen (Paretz, Rohrhaus, Kirche, Meierei Bellevue), das vereinzelte Nachahmen der Pariser Antiken-Theatralik wie in den Entwürfen für Inneneinrichtungen im Märkischen Museum, eine gewisse panoramaartige Auffassung der Landschaft deuten neben vielen romantischen Zügen im Wesen des reichbegabten Künstlers darauf hin, daß er, trotz der Hoffnungen, die die Zeitgenossen auf ihn setzten, am Ende der schöpferischen Architekturentwicklung des 18. Jahrhunderts steht.“414
Moellers Originalität zeigt sich somit nicht zuletzt darin, dass das schmale Œuvre des schon im Alter von 28 Jahren verstorbenen Architekten415 für ihn den Beginn einer eigenständigen preußischen Baukunst markierte. Problematisch an seinen Ausführungen ist allerdings, dass Moeller, um die Leistung des jungen Architekten zu erhöhen, sein Werk aus dem kunstgeschichtlichen Zusammenhang riss. Die sich durch schlichte monumentale Formen auszeichnende französische Revolutionsarchitektur, von der Gilly, wie Hermann Schmitz in seinen Aufsätzen immer wieder betonte416, 412 413
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Hermann Schmitz, Berliner Baumeister vom Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, 1. Aufl., Berlin 1914. In einem im Februar 1909 erschienenen Aufsatz stellte Schmitz Gilly noch analog zu Adler als überlegenen Lehrer Schinkels vor und positionierte diesen in der Kunstgeschichte wie folgt: „Unter den deutschen Architekten aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist Friedrich Gilly vielleicht die herrlichste Erscheinung. In ihm gewinnt die klassizistische Bewegung am Anfang des 18. Jahrhunderts die höchste Klarheit. Er wurzelt mit ganzer Kraft, als einer der Letzten in der künstlerischen Überlieferung des 18. Jahrhunderts, aber er ist zugleich, als Lehrmeister Karl Friedrich Schinkels und Leo von Klenzes, für die Entwicklung der neuklassischen Architektur nach 1815 von fundamentaler Bedeutung“ (Hermann Schmitz, Friedrich Gilly, in: Kunst und Künstler, 7. Jg., Heft 5, Februar 1909, S. 201–206, hier 201). Hermann Schmitz, Berliner Baumeister vom Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, 1. Aufl., Berlin 1914, S. 40. Werkverzeichnis in: Alste Horn-Oncken, Friedrich Gilly 1772–1800, korrigierter, im wesentlichen aber unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. (1935), Berlin 1981, S. 115–137. So schrieb Schmitz in Bezug auf Gillys Pläne zum Denkmal Friedrichs des Großen: „Die Anregungen zu seiner Denkmalsidee empfing Gilly [...] in erster Linie aus Paris. Wohl hat Gilly die antike Kunst in den Publikationen des Palladio und Leroi studiert – aber die Grundidee wurzelt in der Pariser Architektur. Die Franzosen hatten im Verlauf des 18. Jahrhunderts, als die Erben der italienischen Barockarchitekten, die monumentale Ausgestaltung von Platzanlagen zu einer hohen Kunst entwickelt. [...] Der Zug zum Ungeheuren, Römischen erreicht nach dem Ausbruch der Revolution die Höhe. [...]. Es ist nicht nur der gleiche Grundgedanke, wie
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wesentlich beeinflusst war, wurde von Moeller bei der Analyse des von Gilly initiierten klassisch-preußischen Baustils nach Möglichkeit ignoriert. Eine Reise, die den angehenden Architekten 1793 nach Paris führte, war für Moeller nur von marginaler Bedeutung. Er behauptet: Die „bewegten Eindrücke einer Reise nach dem Frankreich der Revolution und des Empire und seine erhabenen Formvorstellungen von Hellas und Mittelmeer in preußische Kunst“ seien von Gilly „in nordische Kunst, in moderne Kunst“417 umgedeutet worden. Gillys die Urelemente des Bauens betonende Zeichnungen zeugen nach Moeller demnach davon, dass der Architekt die von dem „berufene[n] Preuße[n]“ Lessing, dem „geborene[n] Märker“418 Winckelmann und von Kant ausgehende geistesgeschichtliche Entwicklung in angemessener Weise fortgesetzt habe. Typisch preußisch seien demnach, neben der Beschränkung auf das Wesentliche, das gründliche Studium der Natur und der Antike sowie die Suche nach grundlegenden Prinzipien und Gesetzen. All dies entdeckte Moeller auch in den Zeichnungen und Entwürfen Gillys. Entsprechend wird er gegen den der „pompejanischen Form“ verpflichten Erdmannsdorff wie folgt positioniert: „Jetzt setzte Gilly auch hier in den Elementen ein. Er tat es mit einer Folgerichtigkeit, die sein Preußentum von der Sache forderte [...]. Er tat es, indem er das Tragende vom Beiläufigen, die Aufgabe von der Zutat, das Werk vom Behang säuberte und jene künstlerische Notwendigkeit wiederherstellte, die [...] Trägerin des Architektonischen ist. Es war dieselbe antike Notwendigkeit und klassische Einheit, an die Winckelmann dachte, wenn er sagte, daß Schönheit entsteht, sobald eine Sache ist, was sie sein soll; oder Lessing, wenn er in der Vorrede zum Laokoon aussprach, es sei das Vorrecht der Alten, keiner Sache zu viel noch zu wenig zu tun. Das gleiche erkannte Gilly, daß es sich nicht um Regeln handelte [...], sondern um Gesetze, die ihrerseits von Zeit und Raum und Fläche, Last und Gewicht, Maßen und Verhältnissen abhingen. In dieser Gesinnung hat Gilly dann in der Architektur stille Größe und Einfalt verwirklicht.“419
Die Tatsache, dass F. Gilly sich in seinen Entwürfen von der Formenwelt historischer Stile freimachen konnte und so zu den Urformen der Baukunst vordrang, war demzufolge nicht das Ergebnis einer breiteren kunstgeschichtlichen Entwicklung, sondern resultierte allein aus der Genese des strengen und sachlichen preußischen Geistes. Dieser habe, nachdem er zuvor durch karge Landschaft, Volkscharakter und bescheidene systematische Lebensführung geprägt worden sei, um 1800 die Stufe seiner Selbstbewusstwerdung und also eine neue Qualität erreicht, die in einem über den
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wir sehen, sondern auch die Formen sind die gleichen, die Gilly seinem Denkmalsplan zugrunde legt: hohe Stufenbauten, gewaltige Bogenkonstruktionen, darauf getürmte Mauermassen, ohne alle Fenster, nur von oben erleuchtet; Opferaltäre, Obelisken, Sphinxe auf die Stufen verteilt! Gilly hat mehrere Skizzen nach solchen französischen Stichen hinterlassen (Abb. 8. u. 9.). Als er im Sommer 1797 nach Paris ging, vertiefte er sich voll Feuer in die Bauten und Pläne der Pariser Meister, einigen von ihnen trat er nahe“(Hermann Schmitz, Die Entwürfe für das Denkmal Friedrichs des Großen und die Berliner Architekten um das Jahr 1800, in: Zeitschrift für bildende Kunst, 20. Jg., Heft 9, 1909, S. 206– 214, hier 211). Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 110. Ebd., S. 109. Ebd., S. 117.
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„Zopf“ hinausgehenden und die architektonische Moderne vorwegnehmenden „preußischen Stil“ sichtbar wurde. In diesem Sinne folgerte Moeller: „Die Arbeit, auf die es damals für die Baukunst ankam [...], vom Motive zu befreien und auf die Funktion zurückzuführen – sie war nur von Preußen aus zu leisten. Wie die Bedürfnislosigkeit seiner Menschen, in denen Westen und Osten, Germanentum und Slaventum sich band, staatlich doppelt fruchtbar wurde, [...] so führte auch die künstlerische Voraussetzungslosigkeit, in der man lebte und trotz aller Fremdformen, die man aufnahm, sich [...] seine künstlerische Unverdorbenheit erhalten hatte.“420
Hier wird deutlich: Moellers Vorstellungen von der Entwicklung der modernen Architektur waren hellsichtig visionär und problematisch zugleich. Problematisch ist Moellers völkisch-nationalistische Begründung von schlichter preußischer Klassizität und moderner Sachlichkeit. Schon die ersten Rezensenten empfanden diese oftmals als ignorant.421 Wassili Luckhardt wählte die Formulierung „Moeller macht den interessanten, aber in seiner letzten Auswirkung vielleicht nicht voll überzeugenden Versuch, eine große Kunst resp. Bauidee in ein gleichsam allzu kleines Gefäß zu fassen.“422 Respekt hingegen verdient der Sinn für das Revolutionäre an Gillys Architektur. Moeller konstatiert: „Gilly [...] tat den Schritt von der Nützlichkeit zur Schönheit.“423 Die von Gilly entworfenen kleineren Bauten verkörpern nach Moeller das Ideal bewusst schlichter „zweckvolle[r] Schönheit“424. Der Entwurf zum Denkmal Friedrich des Großen (1797)425 auf dem Leipziger Platz in Berlin wird darüber hinaus als neu, zeitlos und ursprünglich gewürdigt: „Die Formen waren durchweg auf ihre Urform gebracht, von Schaft und Platte, von Wölbung und Dachung, waren aus den mathematisch ewigen Gesetzen von Quadrat und Kreis als den geometrisch-einfachen Grundlagen jeglicher Proportionen wie Ornamentik gefolgert und abgeleitet. An diesen Formen war nichts mehr Antike obwohl alles antikisch schien: an ihnen war vielmehr alles Raum und Fläche in Beziehung und Überschneidung.
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Ebd., S. 112. Entsprechend hieß es in einer Rezension: „In der strengen, nüchternen, männlichen Sachlichkeit erblickt Moeller van den Bruck das eigentlich Preußische. Sachlichkeit bedeutet in der Baukunst, die das Buch behandelt, die Betonung der Funktion gegenüber dem schmückenden Behang. Gilly führt von Barock und Rokoko zur künstlerischen Notwendigkeit zurück. Diese Tat ist eminent preußisch, sie ist aber auch unpreußisch. Der Stil Gillys und Schinkels ist ein klassischer Sachstil.“ (Alfred Albin Baeumler, Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 11. Bd., 1916, S. 344.) Wassili Luckhardt, Vom Preußischen Stil zur Neuen Baukunst, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 26. März 1933, zitiert nach: Brüder Luckhardt und Alfons Anker. Berliner Architekten der Moderne, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 21, Berlin 1990, S. 125–128, hier 125. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 114. Vgl. ebd., S. 124. Entwurf zum Denkmal Friedrichs des Großen inklusive Vorstudien in: Alste Horn-Oncken, Friedrich Gilly 1772–1800, korrigierter, im wesentlichen aber unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. (1935), Berlin 1981, Bildteil, S. 24–31.
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Diese Formen waren neu, weil sie zeitlos waren, ursprünglich und selbständig, und hier nur dem Lande, das sie hervorbrachte, als eigen und eigentümlich angefaßt wurden.“426
Bemerkenswert und noch aus heutiger Sicht provokant an Moellers Würdigung eines Architekten, der kaum gebaut hatte und von dem sich nicht ein einziges eigenständiges Bauwerk bis in die Gegenwart erhalten hat, war zudem, dass er ihn als ersten modernen Architekten über Karl Friedrich Schinkel stellte: „Gilly hatte in Elementen eingesetzt: deshalb reichte er hinterher weit und geistig in ganz neuen und ganz ewigen Entwicklungsmöglichkeiten der Baukunst noch über Schinkel hinaus – als der erste moderne Architekt.“427 Dem bedeutendsten Architekten der preußischen Hauptstadt stand Moeller nicht uneingeschränkt positiv gegenüber. Zwar sei Schinkel der Schöpfer der fraglos schönsten Bauwerke Berlins – der Neuen Wache (1816–18), des Schauspielhauses (1818–21) und des Alten Museums (1822 geplant, 1824–1830 ausgeführt) – und mithin der herausragende Architekt des Berliner Klassizismus428, doch hatte Moeller zu Schinkels künstlerischer Vielseitigkeit ein zwiespältiges Verhältnis: Einerseits erkannte er in ihr ein Zeichen künstlerischer Größe, anderseits suggerierte seine Schilderung, dass eben diese Vielseitigkeit als Vorbedingung ästhetischer Beliebigkeit den Niedergang der preußischen Stileinheit einleitete. Moeller war bei seiner differenzierenden Betrachtung von Architekt und Werk sichtlich bemüht, Schinkel als einen „Baumeister von Großheit“429 zu würdigen, letztlich wollte er aber auch zeigen, dass Schinkel in architekturgeschichtlicher Hinsicht eine problematische Erscheinung sei. Schließlich gebühre ihm, da er in dem für Moeller inzwischen anachronistischen gotischen Stil baute, das unrühmliche Verdienst, die Baukunst „als Motivkunst [...] hinterlassen“430 und folglich als Türöffner für den Historismus fungiert zu haben. Trotz solcher Bedenken war Schinkel für Moeller die zweite Lichtgestalt der preußischen Bautradition. Nachdem Gilly den „Baugedanken von jeder Zutat [ge]säubert[...]“ hatte431, sei Schinkel derjenige, der den auf „feierlicher Ausgleichung von Zweck und Form“ sich gründenden „Schinkelstil“ geschaffen habe.432 Entscheidend für den Argumentationszusammenhang sowie für die Positionierung Schinkels ist dabei, dass er als Architekt des Leuchtturms von Kap Arkona (1825–27) und Impulsgeber für die weitere Entwicklung der von Friedrich Gilly begründeten eigenständigen Industriearchitektur identifiziert wurde: „Fabriken ihre eigene künstlerische Form zu finden, war seit Gilly in Preußen ebenso üblich wie selbstverständlich; jetzt führte Schinkel scheinbar als reinen Nutzbau und ohne jedes andere Ornament, als etwa eine Leiste aus kantig eingemauerten und vorgezogenen Backsteinen, den Leuchtturm von Arkona auf, der in der Behandlung namentlich des Mate426 427 428 429 430 431 432
Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 119. Ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 150 f. Ebd., S. 139. Ebd., S. 174. Ebd., S. 124. Ebd., S. 150.
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rials unmittelbar zu den Lösungen hinüberweist, die heute in Berlin für Fabrikanlagen gefunden werden.“433
Von Schinkels Leuchtturm und Gillys Entwurf für Hochöfen (1804)434 spannte Moeller schließlich, über den Abgrund von sechzig Jahren hinweg, eine Brücke hin zu Alfred Messel, Peter Behrens und Hans Poelzig, den herausragenden Architekten der zeitgenössischen Berliner Zweck- und Industriearchitektur. Auch bei ihrer Positionierung erweist sich Moeller als ein radikal modernistischer Interpret des zeitgenössischen Baugeschehens. Während er nunmehr im Warenhaus Wertheim des ästhetisch eher konservativen Messel nur noch einen „experimentell-eklektische[n] Kompromißbau“ zu sehen vermochte, der als „Übergangsbau“435 zwar von Bedeutung, gegenwärtig aber schon überholt sei, erschienen ihm Poelzigs Opernentwurf, „dieses musische und zugleich repräsentative Haus“436, und Behrens’ monumentale Bauten und Entwürfe (Turbinenhalle der AEG, 1909; deutsche Botschaft in St. Petersburg, 1911/12; Entwurf für das Kaiser-Wilhelm-Volkshaus in Lübeck437) als Gipfel gegenwärtiger Baukunst und folgerichtige Fortsetzung der preußischen Bautradition: „Als Peter Behrens aus Backstein für Fabrikzwecke große Hallenbauten auszuführen hatte, wuchs aus lilabraunen Pfeilern ein monumentales Gefüge, das wir nun wirklich als eine neue brandenburgisch-moderne, geistig-technische Gotik empfinden dürfen; während er dort, wo er Antike aufnahm, nicht in der ornamentalen Zutat, sondern in der elementaren Grundform, in Landhäusern, Volkshäusern, Botschaften, die letzten kühnen folgerichtigen Ideen des preußischen Stils durchzuführen scheint, der sich einst schon im werdenden Berlin vermaß, ein neues Zeitalter in seinen technischen, sozialen und repräsentativen Bedürfnissen auszudrücken.“438
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Ebd., S. 149. Auf einer Bildtafel vor der Seite 113 ist Friedrich Gillys der „Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten die Baukunst“ betreffend (Titelblatt 5. Jg., zweiter Band, Berlin 1804) entnommener Entwurf für Hochöfen abgebildet. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 182. Ebd., S. 183. Vgl. auch Moeller van den Bruck, Lübeck wider Lübeck, in: Der Tag, 22. 01.1914. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 183.
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5.5.5. Ein Beitrag zur geistigen Mobilmachung Der preußische Stil ist zweifelsohne auch ein lesenswertes Plädoyer für eine sachlich rationale und damit moderne Baukunst. Zu einem aus heutiger Sicht problematischen Werk wird das Buch jedoch durch seine nationalistische Grundaussage, von der nicht abgesehen werden kann. Beide Aspekte sind nicht zuletzt durch das Wort von der Voraussetzungslosigkeit439 Preußens miteinander verbunden. Sowohl Preußen als auch Friedrich Gillys sich an elementaren Formen orientierende Entwürfe waren nach Moeller von allen historischen Stilen befreit und also voraussetzungslos. Dabei ist es nicht zuletzt das Erscheinungsdatum der Schrift, das die Konvergenz von ästhetischem Purifizierungsprojekt und geistiger Mobilmachung augenfällig werden lässt. Während der idealtypisch preußischen Architektur allein ob der Abwesenheit von künstlerischen Anleihen ihre „Voraussetzungslosigkeit“ attestiert werden konnte, war das von Moeller imaginierte Preußen voraussetzungslos in einem dreifachen Sinne: Es war frei von natürlichen Ressourcen, alter Kultur und nicht zuletzt der Last der Geschichte. Im Freiraum einer kargen, unwirtlichen Landschaft wurden aus tatkräftigen deutschen Einwanderern und abfällig geschilderter slawischer Urbevölkerung zupackende preußische Junker und dienstbare Bauern, Beamte und Soldaten. Diese Bevölkerung wiederum galt als Träger eines klaren, systematischen preußischen Geistes, der schlussendlich einen effizienten Staat und eine voraussetzungslose und daher moderne Stileinheit formte, zu der nicht zuletzt auch das preußische Heer gehörte, dessen aus seiner Funktionalität erwachsene stilbildende Kraft von Moeller mehr als einmal gewürdigt wurde. Da Moeller ferner den „preußischen Stil“ unter ausdrücklichem Bezug auf Preußens „soldatisches Wesen“ als einen „Stil an sich“440 apostrophierte, wurde Preußen zum Träger seiner in einem erweiterten Stil-Begriff441 eingeschlossenen Erlösungs- und Herrschaftsphantasien, in denen die Handlungsfelder des Politikers, Feldherrn und Künstlers sich zu einem modernen Gesamtkunstwerk formten. Entsprechend hieß es bereits in einem Herrschaft durch Stil (1913) betitelten Beitrag: „Völker herrschen durch Stil.“442 Die These dieses Artikels war: Nur eine 439 440 441
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Ebd., S. 112. Ebd., S. 108. Im Deutschen Wörterbuch ist Der preußische Stil ausdrücklich als Beitrag zur Wortgeschichte gewürdigt. Der Stil-Artikel stellt in einer materialreichen Untersuchung fest, dass das Wort Stil seit dem frühen 18. Jahrhundert zur Kennzeichnung der Verhältnisse des menschlichen Lebens verwendet wird. Ließe sich dieser Gebrauch anfangs nur spärlich bzw. „auf schmaler grundlage“ nachweisen, so fände sich im 19. und 20. Jahrhundert „eine kaum noch begrenzbare fülle von möglichkeiten“: darunter auch die der Beschreibung von Haltungen in Dingen des menschlichen Lebens insbesondere „auf gemeinschaften angewandt, von geformtem geist, der eine haltung ausprägt: der preuszische stil (1916) Möller v. d. Bruck titel“ (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 10., 2. Abteilung, 2. Teil, bearbeitet von der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches und von Victor Dollmayr; Friedrich Krüger, Heinrich Meyer, Walter Paetzel, Leipzig 1941, S. 2928 f). Moeller van den Bruck, Herrschaft durch Stil, in: Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt, 1. Jg., Nr. 28, 12.04.1913, S. 348–350, hier 348.
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moderne deutsche Kunst ist geeignet, den machtpolitischen Anspruch der Nation zu repräsentieren. Dabei zeigt insbesondere die Feststellung, dass sich in Peter Behrens’ Petersburger Botschaftsgebäude ein „imperialer [...] Gedanke“ verkörpere443, dass die in Der preußische Stil entwickelten Ideen von Moellers kulturimperialistischem Programm nicht zu lösen waren. Ferner bestätigt ein unter dem Titel Unser Stil ist die Haltung (1915) publizierter Artikel, dass der „preußische Stil“ ein Jahr nach Kriegsbeginn als „Haltung“ für Moeller nunmehr zu einem gesamtnationalen Charakteristikum geworden war. In der die Nachwirkung und Transformation dandyistischen Denkens bestätigende Entfaltung der aristokratischen Komponenten der Haltung und deren Projektion auf das kämpfende Kollektiv wurde dieses über sich selbst erhoben und als vornehm und unerschütterlich, distanziert und aufrichtig vorgestellt: „Haltung ist der Überblick, den wir in der allgemeinen Aufregung bewahren: unser Vertrauen, daß in der Welt schließlich nicht das Geschrei durchdringen wird, sondern die Sprache, nicht das Getue, sondern die Sache, nicht das Gerase, sondern der Schritt: unser ganz selbstverständlicher Verzicht auf all die feinen und zynischen oder auch ganz groben und brutalen Mittel der politischen Kriegführung, unter denen die Lüge als das allgemeinste und das Verbrechen als das äußerste Mittel bei unseren Gegnern seither bekannt geworden ist. Haltung liegt vor in der Offenherzigkeit, mit der wir selber den Krieg politisch führen, das wirklich Wesentliche niemals verschweigen oder beschönigen und mit preußischer Sachlichkeit, die im kleinen oft kleinlich sein kann, die aber im großen immer großzügig wird, eine deutsche Freiheit verbinden, die man von demokratischen Ländern erwarten sollte, die aber gerade dort unterdrückt wird. Wir lassen die feindliche Presse ruhig in die Hände und vor das Auge der Nation gelangen und ziehen aus dem Wissen, das uns aus diesem Umwege zukommt, noch eine Kraft, die der anders handelnde Gegner entbehren muß.“444
Dass schließlich auch das Werk selbst der patriotischen Erbauung diente und Der preußische Stil in dieser Hinsicht Werner Sombarts Händler und Helden (1915) oder Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) unbedingt an die Seite zu stellen ist, verdeutlichen die in den Kriegsjahren erschienenen Besprechungen. Für den Rezensenten der eine gemäßigte Moderne propagierenden Zeitschrift Dekorative Kunst war Der preußische Stil „ein höchst zeitgemäßes Thema“: „Alle Bewunderer preußischer Tat und Taten werden nach dem Buche greifen, wie nach einem Führer zu staatlichem und nationalem Erfolg.“445 Im Baumeister, einem Fachblatt für das Bauwesen, war zu lesen, dass „der ganze Gedankengang [...] um somehr Beachtung und weiteren Ausbau“ verdiene, „als der Krieg ja die Notwendigkeit solchen Aufsichselbstbesinnens allen vor Augen gerückt hat“.446 Und die Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft nennt „eine Untersuchung über den preußischen Stil – das Wünschenswerteste, was sich ein nachdenkender Mensch heute vorstellen 443 444 445 446
Ebd., S. 349. Moeller van den Bruck, Unser Stil ist die Haltung, in: Der Tag, 03.07.1915. Anonym, Moeller van den Bruck: Der preußische Stil, in: Dekorative Kunst, 20. Jg., Nr. 8, Mai 1917, Beilage S. IV. Anonym, Der Preussische Stil. Von Moeller van den Bruck, in: Der Baumeister. Monatshefte für Architektur und Baupraxis 14. Jg., Heft 10, 1916, (Beilage zum Oktoberheft), B 84.
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kann“.447 So bezeugen nicht zuletzt auch die zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse, dass in Moellers Apotheose des Preußentums auch ein Versprechen auf den Sieg der deutschen Waffen enthalten war. Moeller hatte die den Franzosen in Das Théâtre Français nur widerstrebend zugestandene nationale Stileinheit, da er sie nun auch auf deutschem Boden entdeckt hatte, überhöht, weil sie als Ausdruck eines systematischaktivistischen Geistes auch nach der Reichseinigung politische und militärische Stärke verhieß.
5.6. „Stil“. Ein Zwischenfazit Angesichts der konfliktträchtigen deutschen Außenpolitik („Panthersprung“ nach Agadir, Juli 1911) bedurfte es keiner besonderen Gabe, um einen größeren bewaffneten Konflikt im Zentrum Europas vorherzusehen, zumal wenn man wie Moeller dem radikal nationalistischen völkischen Lager nahestand. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass spätestens seit 1910 Moellers gesamte Publizistik im Erwartungshorizont eines großen europäischen Krieges stand. Als Angehörigen einer „ästhetischen Opposition“ kennzeichnet ihn dabei, dass sich seine Bemühungen zur geistigen Mobilisierung seiner Zeitgenossen nicht allein auf die kulturimperialistische Begründung der deutschen Weltmachtansprüche beschränkten, sondern vielmehr der Wunsch nach der Ausgestaltung der nationalen Stileinheit die Triebkraft seiner publizistischen Tätigkeit war. Gestützt auf ein identitätsstiftendes Fundament sollten die Deutschen für „die Möglichkeiten künftiger Kriege“448 gerüstet sein. Diese in den Formulierungen immer wieder hörbare nationalpädagogische Intention wie auch Moellers zuweilen unerhörte Produktivität haben ihren Niederschlag in der Qualität seiner Schriften gefunden. Moeller van den Bruck war, obwohl die Publikationsorte seiner Aufsätze auf seine wachsende Bedeutung schließen lassen, gewiss kein Großer seines Faches. Höhere Weihen, ökonomischer Erfolg und die Anerkennung durch Gleichgesinnte bleiben ihm versagt. Für Karl Scheffler beispielsweise gehörte Moeller „[...] zu jenen, nicht eben häufigen, Geistesarbeitern, die mit ihren Produkten immer dicht dran sind, etwas Ausgezeichnetes zu leisten, die es aber nie ganz erreichen. Man könnte ihn den Prinzen Beinahe nennen. Er hat uns schon viele schöne Bücher geschenkt, er hat über bildende Kunst, Litteratur, über Sittliches und Politisches geschrieben und immer leuchtet aus seinen Ausführungen ein lebendiger Instinkt hervor, überall zeigt sich ein feiner Sinn für das Richtige. Bei der Ausführung gerät der gross angelegte Bau ins Schwanken, es kommt nicht zur letzten Konzentration, es bleibt die Kristallisation und damit die klare Form aus.“449
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Alfred Albin Baeumler, Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 11. Bd., 1916, S. 344. Moeller van den Bruck, Die Größe eines Volkes, in: Der Tag, 19.01.1910. Karl Scheffler, Der Preussische Stil von Moeller van den Bruck, in: Kunst und Künstler. Monatsschrift für Bildende Kunst und Kunstgewerbe, 15. Jg., Heft 3, Dezember 1916, S. 150.
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In diesem jegliche „Kristallisation“ entbehrenden Werk ist die „Stil“-Metaphorik nun der einzige „rote Faden“. Hatte doch bereits der national gesinnte, im Grunde aber apolitische Kulturoptimist Moeller, als er die Schrift über das Varieté verfasste, darzulegen versucht, dass das beginnende Jahrhundert von einem noch nicht ausgeformten „Varietstil“450 geprägt sei, dass aber in absehbarer Zeit das von den Deutschen zu schaffende moderne „grosse Drama“451 entstehen werde. Hiernach war Moellers Stil-Begriff von seinem „Auslandserlebnis“ geprägt. Moeller glaubte, dass im benachbarten Frankreich das ästhetische Regelsystem und die historische Entwicklung des Volkes in einer identitätsstiftenden quasi „organischen“ Einheit verbunden seien. In Das Théâtre Français (1905) konstatierte er daher: „Die Entwicklung des französischen Theaters ist die enge Begleiterscheinung der Entwicklung des französischen Volkes; ganz von selbst hat sich sein Stil zusammen mit dem geschichtlichen Verlaufe herausgebildet.“452 Im Folgenden wurde dieser durch Frankreich dargestellte „Stil“ jedoch als bloß vordergründig und minderwertig denunziert. Noch im gleichen Jahr publizierte Moeller im Kunstwart einen Aufsatz, in dem er in der Auseinandersetzung mit Frankreich die Grundlinien seines nationalästhetischen Programms aufzeigte. In der deutschen Entwicklung entdeckte er einen Bruch, hervorgerufen durch eine tragisch verlaufende Nationalgeschichte und durch Anlehnung an auswärtige Vorbilder. Die fehlende deutsche Nationalkultur wurde dabei der rein formalistischen Frankreichs gegenübergestellt und die nationale Form zum selbständig erreichbaren Ziel erklärt: „Nun will natürlich auch der deutsche Gehalt [...] Form werden [...]. Nur darf man darüber keinen Augenblick vergessen, daß unsere Form, wenn sie wirklich deutsch war, sich noch immer selbständig aus unserem Gehalt ergeben hat, und es noch immer undeutsch gewesen ist, Form als Selbstzweck anzustreben.“453 Diese für Moellers weiteres Schaffen grundlegenden, im Klima des integralen Nationalismus französischer Prägung entstandenen Überlegungen fanden ihre Fortsetzung in den 1906 erschienenen Zeitgenossen. In diesem Werk schrieb Moeller nunmehr den Deutschen das Privileg zu, den entstehenden neuen, weltweit vorbildlichen „Stil“ zu begründen. Sie seien die Einzigen, die ihn zu dem zu machen suchten, was er sein müsse – „zu einer Materialisation ihres spirituellen und nationalen Daseinsinhaltes auch im täglichen und öffentlichen Leben“.454 Diesbezüglich war es insbesondere die für sein Denken konstitutive Dichotomie von „jungen“ und „alten“ Völkern, die es Moeller erlaubte, die deutsche „Formlosigkeit“ gegenüber der französischen „Form“ als Gegensatz von Werden und Erstarrung ins Verheißungsvolle zu wenden. Darüber wurde der von den Deutschen erst noch zu schaffende neue „Stil“ zum Fluchtpunkt seiner biologistisch-teleologischen Weltanschauung, die in dieser Arbeit Selektionsoptimismus genannt wird: „Stil“ zu erreichen wäre demnach nur den 450 451 452 453 454
Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté, Berlin 1902, S. 36. Ebd., S. 24. Moeller van den Bruck, Das Théâtre Français, Berlin und Leipzig 1905, S. 5. Moeller van den Bruck, Die Überschätzung französischer Kunst in Deutschland, in: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22, August 1905, S. 501–508, hier 504. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 77.
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Völkern noch möglich, die den gesellschaftspolitischen Folgen der beschleunigten sozialökonomischen Transformation wie auch der von Max Nordau diagnostizierten epochalen Degeneration trotzend sich als vitale nationale Gemeinschaft erhalten hätten. Zugleich traf das „offizielle Deutschland“ Moellers schärfste Kritik: Es stünde dem „kulturellen Deutschland“ schroff gegenüber und verhindere die Entfaltung der schöpferischen Kräfte, weil „alles, was das erstere leistet, überhaupt kein Schaffen ist, sondern Karriere, Lieferung, Fabrik, künstlerisch vollständig bedeutungslos und an sich bloß deshalb bedauerlich, weil es mit seinen ohnmächtigen Kopierungen und Zerkomponierungen aller alten Stile der Ausbreitung des neuen Stils den nötigen Raum wegnimmt“.455 An die in Die Zeitgenossen entwickelten Ideen anknüpfend suchte Moeller dann in den Werten der Völker zu zeigen, warum einzig die Deutschen begabt seien, noch einen identitätsstiftenden „Stil“ zu schaffen. Da er in dem Die italienische Schönheit (1913) betitelten Band das „Mittelalter“ als das „klassische Zeitalter des nationalen Italien“456 apostrophiert und bereits der florentinischen Frührenaissance eine Abwesenheit von „Stil“457 attestierte, bestätigt sich, dass Moeller den Verlust an „Stil“ als symptomatisch für die Desintegration der nationalen Gemeinschaft „alter“ Völker zu deuten versuchte. Der von der Germanenideologie Ludwig Woltmanns beeinflusste Nationalist begründete den vorgeblichen Niedergang der bildenden Kunst Italiens dabei auch mit dem schwindenden Einfluss der germanischen Rasse. Letztlich aber suchte Moeller jedoch die „Rasseanschauung“ dahingehend zu spezifizieren, dass er insbesondere den maßgeblichen Künstlern der römischen Hochrenaissance unterstellte, sie wären als von der „Macht des [toskanischen] Ortsgeistes“458 emanzipierte Individuen unempfänglich für die Urformen des Landes. Zudem hätten sie den Sinn für die identitätsstiftende Kraft des Christentums verloren. So wurde beispielsweise schon Leon Battista Alberti attestiert, dass „das besondere toskanische Karma nicht in ihm lebendig war“.459 Der Bildaufbau der Stanzen hingegen bestäige, dass der noch im Trecento die religiöse Ordnung repräsentierende Stil von Raffael durch eine willkürliche und daher in jeglicher Beziehung unzulängliche Kompositionstechnik ersetzt worden sei.460 Demgegenüber seien die Deutschen als „junges“ Volk zwar nunmehr berufen, „Europa im Namen des Germanentums [...] vor den großen Blut- und Geist-, Staatsund Stilgegensätzen der Erde zu vertreten“461, zugleich attestierte Moeller ihnen aber auch eine temporäre geistig-politische Schwäche, die zu beseitigen er als Nationalpädagoge angetreten war. In diesem Sinne wollte Moeller Die Deutschen (1904– 1910) ausdrücklich als ein nationales „Erziehungsbuch“ verstanden wissen: „Als ein Buch, das die Nation zur Selbstbehauptung erziehen sollte. Als ein Buch, das aus der Geschichte eine Sendung folgerte.“462 Moeller suchte darin das nationale 455 456 457 458 459 460 461
Ebd., S. 180. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 295 Ebd., S. 303. Ebd., S. 373. Vgl. ebd., S. 364. Ebd., S. 655. Moeller van den Bruck, Lachende Deutsche, Minden 1910, S. 296.
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schichte eine Sendung folgerte.“462 Moeller suchte darin das nationale Bewusstsein insbesondere der deutschen Jugend durch Vergegenwärtigung der Leistungen „großer“ Deutscher und der Besonderheiten der deutschen Geschichte zu heben. Ihre Protagonisten werden in Die Deutschen als Exponenten von außeralltäglichen Kräften völkischer Art porträtiert. So hieß es beispielsweise über Bismarck, dass er, „altmärkischem Geschlechte entsprossen, in der ernsten Landschaft Brandenburgs aufgewachsen“, auch Träger eines „unbewußte[n] Stil[es]“ gewesen sei.463 Durch solche Charakteristiken „großer“ Deutscher wollte Moeller seinen Lesern zu verstehen geben, dass sie als „Volk der Zukunft“464 über eine außeralltägliche Befähigung, eine besondere nordisch-deutsche Geistigkeit, ein nationales Charisma verfügten. Dieses Charisma war für Moeller jedoch nicht allein Gnadengabe einzelner „Großer“. Es schien ihm durch Erziehung für alle Deutschen erwerbbar, weshalb sich insbesondere Die Deutschen mit Max Weber auch als Beitrag zur charismatischen Erziehung der Deutschen qualifizieren lassen. Zudem wollte Moeller mit den die Bände abschließenden Porträts zeitgenössischer Künstler suggerieren, dass die Reichseinigung in absehbarer Zeit auch durch einen identitätsstiftenden „Nationalstil“465 gekrönt werden würde. Schließlich war er der Auffassung, dass „das Deutsche Reich [...] gegründet worden“ war, um „in ihm eine bestimmte Nationalidee auf Erden [zu] verwirklichen“.466 In der 1909 erschienenen Broschüre Nationalkunst für Deutschland wurde dieser Gedankengang dahingehend präzisiert, dass der Grad der Ausgestaltung der nationalen „Form“ als identisch mit dem weltgeschichtlichen Rang einer Nation dargestellt wurde. Demnach müsse „eine Nation, wenn sie Anspruch auf unvergängliche weltgeschichtliche Beachtung haben will, für sich eine Form finden [...], die nur ihr angehört und in der sie alles in ihr Enthaltene und mit ihr Verbundene durchaus eigenartig und unverkennbar ausdrücken kann“.467 So hatte Moellers nationalpädagogisches Konzept, das Kunst zu einer wesentlich nationalen Angelegenheit machte und dem Moellers Ruf sowohl nach einer einheitsstiftenden „Nationalkirche“468 wie auch sein Lob der „konservative[n] Kraft“469 unbedingt an die Seite zu stellen sind, eine direkte politische Pointe: Moeller, der im Parlamentarismus einen Ausdruck der Uneinigkeit und Schwäche sah, wie er im Liberalismus eine „Phrase des Kosmopolitismus, der Völkerverbrüderung und daher einer ausschließlich defensiven Politik“ er-
462
463 464 465 466 467 468 469
Moeller van den Bruck an Friedrich Schweiß vom 16.02. 1920, zitiert nach: Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 31 f. Moeller van den Bruck, Führende Deutsche, Minden 1906, S. 199 f. Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1907, S. 163. Moeller van den Bruck, Gestaltende Deutsche, Minden 1907, S. 286. Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 12 f. Ebd., S. 3. Moeller van den Bruck, Erziehung zur Nation, Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 13., Berlin 1911, S. 5. Moeller van den Bruck, Konservative Kraft und moderne Idee, in: Der Tag, 15.06.1910.
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kannte470, erhoffte sich von einer „inner[en] Kulturpartei“471 die Überwindung der politischen Parteien und Richtungen, insbesondere des Liberalismus. Dementsprechend erwartete Moeller, dass sich das von einer nationaleigentümlichen Kunst durchdrungene Volk zu einem „Einheitsganzen“472 verbinden würde. In Der preußische Stil (1916) steigerte Moeller dann das in der Stilmetaphorik der „ästhetischen Opposition“ enthaltene Heilsversprechen zuletzt dahingehend, dass er die Bauten Schinkels und Gillys als symptomatischen Ausdruck eines streng sachlichen, systematischen und daher besonders leistungsfähigen preußischen Geistes würdigte. Vor dem Hintergrund des „Augusterlebnisses“ von 1914 wurde Preußen, dem Moeller nachsagte, dass es in seiner Architektur „sein soldatisches Wesen zu einer monumentalen Sichtbarkeit steigerte“ und es „dem Wesen des Stils überhaupt am nächsten“ gekommen sei473, zum Träger von Moellers Erlösungs- und Herrschaftsphantasien. Das heißt, Stil sah er nunmehr überall dort, wo siegreiche Preußen hervortraten: „Stil [...] stand im Stolz vor Napoleon. Er sprach aus Fichte von dem Katheder der Berliner Universität. Er fand die Beziehung zu der sich drängenden Menge in dem Aufruf An mein Volk und in der Stiftung des Eisernen Kreuzes. Er riß hin zu den Lützowern, stürmte vor zu den preußischen Garden, schlug drein in der preußischen Landwehr. [...] Er lag verhalten und schweigend in dem tragischen Bewußtsein des edlen Bauernsohnes Scharnhorst; ja, etwas von ihm lag noch in dem verrückten Deutsch, das Blücher sprach und schrieb.“474
Weil somit in Moellers Konzeption des „preußischen Stils“ die Handlungsfelder des Philosophen, Feldherrn und Künstlers in einem modernen Gesamtkunstwerkes zusammenflossen, wurde Der preußische Stil zum unüberbietbaren Endpunkt der „Stil“Theorie Moellers. Er selbst bekannte zehn Jahre später: „Die ‚Grenzen der Stile‘ sind im Grunde schon in der ‚It. Sch.‘ [lies: Italienischen Schönheit] und im ‚Pr. St.‘ [lies: Preußischen Stil] enthalten, und nun noch ein System daraus zu machen, das erscheint mir heute recht überflüssig.“475 Ursächlich hierfür waren nicht zuletzt jene in der Kunst sich niederschlagenden Partikularisierungstendenzen, denen mit der von Moeller konzipierten Idee einer rasse- und erdgebundenen Stileinheit nicht mehr zu begegnen war.476 Entsprechend und gleichsam entgegengesetzt zum Preußischen Stil 470 471 472 473 474 475 476
Moeller van den Bruck, Entscheidende Deutsche, Minden 1906, S. 33. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79. Moeller van den Bruck, Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909, S. 3 f. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, München 1916, S. 108. Ebd., S. 162. Moeller van den Bruck an Hans Schwarz, 29.04.1925, in: NL Hans Schwarz (Privatbesitz: Familie Buhbe in Schöppenstedt). Die Diskrepanz zwischen den Ausführungen Moellers und dem avantgardistischen Kunstdiskurs verdeutlicht eine im expressionistischen Kunstblatt erschienene Besprechung, in der der Rezensent den Preußischen Stil als „eigenartige[n] Versuch, eine Kunstgeschichte des Preußentums zu konstruieren“ qualifizierte: „Aus dem Zug zur nüchternen, erdschweren Tüchtigkeit wird eine Gesetzlichkeit, ein Stil herauserklärt. Und so sehr ist der Verfasser von dieser Idee erfüllt, daß er ganz unpreußisch einem Begeisterungsrausch verfällt, der auf Momente vergessen läßt, daß dieser schwunglose Kritizismus trotz aller Selbst-Entartungen ins Große,
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heißt es in einem der wichtigsten zeitgenössischen Künstlermanifeste, dem von Wassily Kandinsky und Franz Marc verfassten Blauen Reiter (1912): „Der Kunststil aber, der unveräußerliche Besitz der alten Zeit, brach in der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen. Es gibt keinen Stil mehr; er geht, wie von einer Epidemie erfaßt, auf der ganzen Welt ein. Was es an ernster Kunst seitdem gegeben hat, sind Werke einzelner; mit ‚Stil‘ haben diese gar nichts zu tun, da sie in gar keinem Zusammenhang mit dem Stil und Bedürfnis der Masse stehen und eher ihrer Zeit zum Trotz entstanden sind.“477
So verdeutlichen Marcs Ausführungen, dass der Vormarsch der experimentellen Kunst Moellers Bemühungen um einen identitätsstiftenden Stil zunehmend ins Leere laufen ließ. Von an einer immer größeren Ausdifferenzierung der Ausdrucksmöglichkeiten interessierten Künstlern geprägt, entwickelte die wesentlich großstädtischavantgardistische Kultur der Weimarer Republik jene pluralistisch-subjektivistischen Züge478, die Moeller als der Willkür verdächtige Negation der von ihm favorisierten nationalen Stileinheit stets bekämpft hatte. Beispielhaft für seine nunmehr unzeitgemäße Position ist Moellers bemüht differenziertes Urteil über den Expressionismus aus dem Jahre 1920. Indem Moeller Edvard Munch bescheinigte, noch immer „unser einziger nordischer Seher“ zu sein, „der mit den Zungen einer neuen Bildersprache redete, die er sich geschaffen hatte“ und er Franz Marcs Herkommen „von der bayerischen Glasmalerei“ als Ausweis für eine anderen Künstlern fehlende „innere Grundlage“ herausstellt479, wird deutlich, dass Moeller der Kunst des Expressionismus vor allem als Nationalpädagoge kritisch gegenüberstand. Für ihn „blieb der [der Expressionismus, d. V.] in aktivistischen Gewaltsamkeiten eines nicht mehr vorhandenen gotischen Geistes programmhaft stecken“, weshalb Moeller den des Subjektivismus verdächtigen Malern Pechstein und Kokoschka attestierte, den nationalen Identitätsverlust bezeugende und daher minderwertige Kunst geschaffen zu haben: „Vergeblich trug Pechstein noch einmal rohe Materie in das entstehende Chaos. Es reichte für ihn, aber es reichte nicht weiter. Ein Könnender wie Kokoschka begann gleich mit dem Virtuosen, und er hat nun nichts, womit er zu enden vermöchte.“ Eine sachliche Auseinandersetzung vermeidend sollte ihre Vergegenwärtigung nur die Diagnose bestätigen, dass „das Leben“ nach dem Kriege „seinen goldenen Schnitt verloren“480 und die gemeinschaftliche Desintegration in der Republik ein bedrohliches Ausmaß erreicht habe. Dabei entsprach es seiner optimistischen Grundhaltung, dass Moeller der aussichtslosen Lage mit dem Beschwören der heroischen Haltung einer „Gegenbewegung“ zu begegnen versuchte, „die im Künstlerischen das wiederherstellen will,
477 478 479 480
ins Schlütersche, ins Gillysche doch immer wieder im Akademismus und Eklektizismus enden muß“ (Anonym, Moeller van den Bruck. Der preußische Stil, in: Das Kunstblatt, 2. Jg., Heft 3, 1918, S. 96). Franz Marc,: Zwei Bilder, in: Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hg.): Der Blaue Reiter, Dokumentarische Neuausgabe von Franz Lankheit, München 1965, S. 34. Vgl. hierzu u.a. Jost Hermand, Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978. Moeller van den Bruck, Der Umsturz der Form, in: Der Tag, Berlin 27.01.1920. Ebd.
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was die Revolution abschaffte“.481 Im neuen Schlusskapitel der zwei Jahre später erschienenen 2. Auflage des Preußischen Stils (1922)482 wurde diese „Gegenbewegung“ dann von Moeller mit dem Konservatismus assoziiert. Während er nun die zuvor mit dem Überhandnehmen deutsch-romantischer Einflüsse erklärte Auflösung der preußischen Stileinheit mit dem Siegeszug des Liberalismus in Verbindung brachte483, bescheinigte er den Konservativen, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts „einmal preußische Werte [...] hervorgebracht“ zu haben.484 Erst durch den Rückzug des Konservatismus begünstigt, habe der Liberalismus jene geistige Nivellierung befördern können, die später die Wilhelminer empfänglich für die die nationale Desintegration begünstigenden „Ideen des Westens“ machte: „Der Liberalismus war Kosmopolitismus ohne Verantwortung: er [...] dachte mit der leichtfertigen und oberflächlichen Geistesverfassung, die ihn kennzeichnet, daß Deutschland in alle Zukunft gesichert sei, wenn man es nach dem Muster der Nachbarn parlamentarisch einrichtete, wenn man ein Frankreich-England aus ihm machte und Preußen möglichst verschwinden ließ.“485
So zeigt sich insbesondere in Das preußische Schicksal Moellers Bemühen um eine stärker politischen Ausdeutung seiner unhaltbar gewordenen ästhetischen Position. Vor dem Hintergrund der bis Ende 1923 andauernden politischen Krise entsprach der Diagnose, dass erst der Niedergang des Konservatismus die Erosion preußischer Werte ausgelöst und den Niedergang der preußischen Stileinheit beschleunigt habe, die Hoffnung, dass eine Erneuerung des Konservatismus das „unverlierbar[e]“486 Preußen und damit eine neue staatliche Ordnung herstellen werde: „Preußen wird auch den Zusammenbruch des Weltkrieges verwinden, wie ihn Deutschland verwinden wird. Aber Preußen muß sein, das alte Preußen in moderner Form. [...] Preußentum: das ist der Wille zum Staate, und die Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, in dem wir als politische Menschen handeln müssen.“487
481 482
483
484 485 486 487
Ebd. Diese Neufassung ist an manchen Stellen erweitert. Sie betont wesentlich stärker den Einfluss der Rasse und des Raumes sowie dessen, was Moeller hier nicht „Ortsgeist“, sondern „Himmelstrich“ (S. 29) nennt. Daneben zeigt sich, dass in dieser nochmaligen Apotheose des Preußentums in einem weit stärkeren Maße als vor dem Kriege und ähnlich wie Spenglers in Preußentum und Sozialismus (1919) eine Ordnungsutopie enthalten war. Gegen die politische Dauerkrise gewendet heißt es: „Es bleibt uns nur übrig, uns eine Rechenschaft über das Beispiel zu geben, das Preußen schon einmal gegeben hat: zu erkennen, was war, was heute ist, und was vielleicht einmal sein kann“ (Moeller van den Bruck, Der preußische Stil, 2. Aufl., München 1922, S. 221). Moeller formulierte: „In Preußen kam der Liberalismus einer Großmacht auf, von der die Realpolitik, die Bismarck hinterlassen hatte, als Aufforderung zum Geschäft mißbraucht wurde“ (ebd., S. 225). Ebd. Ebd., S. 226. Ebd. Ebd., S. 229.
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Schlussendlich war es jedoch vor allem Moellers eigene Wandlung zum politischen Schriftsteller und insbesondere seine Verachtung der parlamentarischen Demokratie, die den Konservativen als Schöpfer und Bewahren preußischer Werte an die Stelle der avantgardistischen Architekten treten ließ.
6. Im Kriege
6.1. Moeller und die deutsche Kriegspropaganda Zu Kriegsbeginn war Moeller auf einer Reise, die ihn durch Dänemark und Schweden führte. Das Ereignis selbst dürfte ihm als Erlösung erschienen sein. Nicht nur die gesellschaftliche Desintegration war durch das „Augusterlebnis“ suspendiert worden, auch die Blockade des Wilhelminismus schien im Sommer 1914 überwunden. Gegenüber dem Kaiserreich mit seiner epigonalen Bildung, der Betäubung durch den Genuss, der „Unrast rasend wachsender Großstädte“ und einer „falschen und übertriebenen Kultur“1 einerseits und dem den Gang der Geschichte unterbrechenden Frieden2 anderseits erschien Moeller in den Tagen der Mobilmachung, „da das Volk sich so gewaltig zeigt“, die „Wahrheit über uns selbst“.3 Entsprechend wurde noch ein knappes Jahr später der Krieg von Moeller als ein auf die eigentlichen Triebkräfte der Geschichte verweisendes Ereignis gewürdigt: „Wir erleben heute, wie Geschichte wird. [...] Vor allem erkennen wir, daß wir mit dem Begriff der Entwicklung vor der Geschichte überhaupt nicht auskommen. Entwicklung geht immer nur an der Oberfläche vor sich: Geschichte dagegen ist Wesen, das aus sich heraustritt.“4 Geschichte ist geistig (Der Tag, 13.07.1915) wie auch zwei bereits im Juli 1914 erschienene Wortmeldungen (Die Vortäuschungen des Fortschritts (Der Tag, 02.07.1914) und Das Unvorhergesehene in der Weltgeschichte (Der Tag, 14.07.1914)) markierten dabei insofern einen Einschnitt in Moellers geschichtsphilosophischen Denken, als er angesichts eines als bedrückend empfundenen Alltags den Begriff der „Entwicklung“ mit dem des „Fortschritts“ in Verbindung gebracht und noch vor dem Krieg zugunsten des „Unvorhergesehenen“ verabschiedet hatte. Dies ist ein Zeichen dafür, dass Moellers Glaube an die sein „junges“ Volk begünstigende teleologische Entwicklung vor Kriegsbeginn erschüttert war. Bezeichnend für Moellers oppositionelle Haltung war, dass er in diesem Zusammenhang das, was seine Zeitgenossen für fortschrittlich hielten, als unschöpferisch, epigonal und steril denunzierte.5 Er gab seinen Lesern zu verstehen, dass Wissenschaft und Technik sowie die damit einhergehende Verbesserung der Lebensumstände des Einzelnen die Menschheit nicht wirklich weiterbrächten. Während Fortschritt somit „das Gegenteil von jedem kühnen und ausholenden Vor-
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Moeller van den Bruck, Wir sind ein Volk für den Ernstfall, in: Der Tag, 19.08.1914. Moeller formulierte: „Den Frieden ertrugen wir nie und vertrugen ihn nicht. [...] das Volk litt immer unter dem Frieden, sobald er unserer Geschichte unterbrach, statt sie fortzusetzen: litt unter sich, ging in die Irre mit sich“ (ebd.) Ebd. Moeller van den Bruck, Geschichte ist geistig, in: Der Tag, 13.07.1915. Moeller van den Bruck, Die Vortäuschungen des Fortschritts, in: Der Tag, 02.07.1914.
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läufertum“6 und also gleichbedeutend mit Stagnation sei, waren es nach Moeller nunmehr die „Unvorhergesehenheiten“, aus denen weitreichende Veränderungen folgten, „deren Wesen das Neue, die Überraschung, die Unerschöpflichkeit“7 sei. Michel Grunewald hat an Formulierungen Moellers nachgewiesen, dass diese Sichtweise auf die Geschichte auf eine Rezeption der Schriften des Biologen, Anthropologen, Geographen und Naturphilosophen Karl Ernst von Baer zurückging.8 Grunewald, der die damals in Deutschland herrschende Kriegsstimmung als ursächlich für diesen zwischenzeitlichen Paradigmenwechsel annimmt9, verkennt jedoch, dass die Unzufriedenheit eines zum schöpferischen Konservatismus konvertierten Oppositionellen der maßgebliche Antrieb für Moellers zwischenzeitliche Suspendierung seines biologistisch-teleologischen Geschichtsmodells war. Den baerschen Begriff der „Urzeugung“ adaptierte Moeller, um sich kurz vor dem Kriege gegen „vordergründiges“ „evolutionistisches Denken“ abzugrenzen.10 Der nach Moeller nicht mit der Entwicklungslehre im Einklang stehende Kriegsbeginn wurde hingegen in Geschichte ist geistig nicht unter diesem Aspekt betrachtet. Als wissenschaftliche Deutungen widerlegendes „Element“ der Geschichte11 war der Kriegsausbruch für Moeller vielmehr Gelegenheit, sich selbst als Interpret der tieferen Ursachen des weltweiten Ringens zu positionieren. Dabei belegen die im Sommer 1916 publizierten Beiträge, dass sich Moeller durch die historischen Ereignisse bestätigt fühlte. Seinem Selektionsoptimismus kam die Geschichte insoweit entgegen, als sich nahezu sämtliche „alten“ Völker gegen das „junge“ Deutschland verbündet hatten. Wie in Die Zeitgenossen verabschiedete er daher in Weltkrieg und Rassenlehre (Der Tag, 04.07.1916) zunächst die seiner Ansicht nach „rückwärts gewendete Utopie“12 der Rassenanschauung. Überzeugt, dass der Weltkrieg sich in „Völkergegensätzen“13 vollziehe, deutete er in Die alten und die jungen Völker (Der Tag, 22.07.1916) den Krieg als letzten verzweifelten Abwehrkampf der „alten“ Völker. Diese hätten ihre nationalkulturelle „Bestimmung“ erfüllt, weigerten sich aber, die Nachfolge der „jungen“ Völker anzuerkennen. Vom „Weltplan“14 unzweifelhaft unterstützt, scheine jedoch dem „jungen“ deutschen Volk der Sieg in der von den „alten“ Völkern provozierten Auseinandersetzung sicher, weil die mit einer „europäischen Sendung“ ausgestatteten Deutschen
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Ebd. Moeller van den Bruck, Das Unvorhergesehene in der Weltgeschichte, in: Der Tag, 14.07.1914. Vgl. Michel Grunewald, Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bern u.a. 2001, S. 99. Vgl. ebd., S. 102. Moeller van den Bruck, Das Unvorhergesehene in der Weltgeschichte, in: Der Tag, 14.07.1914. Ebd. Moeller van den Bruck, Weltkrieg und Rassenlehre, in: Der Tag, 04.07.1916. Ebd. Moeller van den Bruck, Die alten und die jungen Völker, in: Der Tag, 22.07.1916.
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die Attribute der „Gesundheit“ der „Klarheit“ und „Verfügungsfähigkeit“ auf sich vereinen würden15, während seine Gegner stagnierten. Solcher Optimismus wich bald einer Ernüchterung. Moeller glaubte zwar fest an den Sieg der deutschen Waffen. Doch meinte er nach dem Stillstand der deutschen Angriffsbewegung im Westen zu erkennen, dass den Deutschen das geistige Rüstzeug für einen längeren Krieg fehle. Er, der noch Mitte 1915 in der vergleichsweise ineffizienten deutschen Propaganda einen bewussten Verzicht und ein Zeichen aristokratischer „Haltung“16 gesehen hatte, bestätigte schon neun Monate darauf ihren Misserfolg: „Im Süden und Westen haben wir in diesem Weltkriege erlebt, daß unsere Werbekraft nicht nur versagte, sondern auch in ihrem Wertgehalt angezweifelt wurde.“17 Und in einem vier Jahre nach Kriegsende verfassten Handbuchartikel hieß es: „Als der Weltkrieg ausbrach, war Deutschland in der Lage eines Volkes, das seine Sache für so gut hielt, daß es deren Austragung ruhig den Waffen überlassen zu können glaubte. Wir waren so gutgläubig, daß wir mit Erstaunen feststellten, wie sehr unsere Gegner auch ihre Sache für eine gute Sache hielten und sich die Verbreitung dieser ihrer Meinung durch die Presse in der öffentlichen und zumal in der neutralen Welt anlegen ließen.“18
Unausgesprochen bei dem Verweis auf den Erfolg der alliierten Propaganda bei den Neutralen blieb, dass dieser von der deutschen Kriegführung begünstigt wurde. Denn Deutschland hatte sich beim Einmarsch ins neutrale Belgien ins Unrecht gesetzt. In Belgien trafen die deutschen Truppen auf Widerstand, der dazu beitrug, dass der rechte Flügel der deutschen Offensivfront nicht so schnell vorrückte, wie es zum Erfolg des kühnen Schlieffen-Plans erforderlich war. Vor allem die Tatsache, dass alle belgischen Wehrfähigen, die nicht in der Armee dienten, als „Bürgerwacht“ mobilisiert und von anderen bewaffneten Zivilisten nicht zu unterscheiden waren, führte zu einer starken Nervosität bei den Deutschen. Einheiten, die sich angegriffen glaubten, reagierten mit zuweilen planloser Härte und „kurzen Prozess“. Kleine Zwischenfälle, die sich später nicht wiederholten, und Kampfschäden an Kulturdenkmälern wurden in der Propaganda der Kriegsparteien (im August 1914 gründete die britische Regierung das War Propaganda Bureau, im Februar 1916 richtete die französische Regierung die Maison de la Presse ein) zu „hunnischer Barbarei gegen Frauen und Kinder“ oder „deutschen Greueltaten“19 bzw. umgekehrt zu „belgischen Greueltaten gegen Verwundete“.20 Propaganda wurde so mit Kriegsbeginn eine Waffe im Kampf um die Neutralen und unerlässlich für die Rechtfertigung der eigenen Sache. Während sich die britische und französische Propaganda als Beschützerin des kleinen bel15
Ebd.
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Moeller van den Bruck, Unser Stil ist die Haltung, in: Der Tag, 03.07.1915.
17
Moeller van den Bruck, Die Völker kämpfen um ihre Werbekraft, in: Der Tag, 16.04.1916. Moeller van den Bruck, Propaganda, in: Politisches Handwörterbuch (hg. von Kurt Jagow und Paul Herre), Bd. II, Leipzig 1923, S. 386. Vgl. Lothar Wieland, Belgien 1914. Die Frage des belgischen „Franktireurkrieges“ und die deutsche öffentliche Meinung von 1914 bis 1936, Frankfurt am Main u.a. 1984, S. 87 f. Vgl. ebd., S. 19 f .
18 19 20
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gischen Volkes gefiel, stellten sich die Deutschen und nicht zuletzt auch Moeller in Belgier und Balten (1915) als Protektor der anverwandten „flämischen Bewegung“21 dar. Diese in der von Ernst Jäckh herausgegebenen Reihe Der deutsche Krieg erschienene Broschüre war für Moeller zugleich Anlass, die Überlegenheit der französischen „Werbekraft“ als Produkt der kulturellen Assimilation einer vorgeblich schmalen Brüsseler „Gesellschaft“ zu denunzieren. Nur ihrem Einfluss sei es zu verdanken, dass die „französische Werbekraft, die im 17. und 18. Jahrhundert noch auf Kultur beruhte, [...] bis heute geblieben“ sei.22 Gleichsam im Anschluss an diese Diagnose sollte sich Moeller der Beeinflussung der Eliten in den neutralen Staaten bald auch dienstlich widmen können. 1916 zunächst als Landsturmmann an die Ostfront einberufen, zeigte er sich den körperlichen Anforderungen seines Dienstes nicht gewachsen. Aufgrund einer Intervention Jäckhs (zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes) beim Chef des Feldheeres Falkenhayn nach kurzer Zeit aus dem Dienst entlassen23, wurde Moeller nach einem Genesungsurlaub im Herbst 1916 durch Empfehlung unter anderem von Franz Evers in die Literarische Stelle der am 01.07.1916 gegründete Militärische Stelle beim Auswärtigen Amt (MAA) berufen.24 Dem von Schwierskott zitierten Brief Evers’ zufolge handelte es „sich um regelmäßige Verarbeitung wichtiger Bücher, Broschüren usw. über die deutschen Leistungen in diesem Kriege zu Aufsätzen für die militärische und sonst in Frage kommende Presse der neutralen Staaten“.25 Die von Oberstleutnant Hans von Haeften geleitete MAA sollte der erfolgreichen alliierten Propaganda insbesondere in den neutralen Staaten entgegenwirken und im Einvernehmen mit Reichskanzler und Auswärtigem Amt die Auslandspropaganda verstärken. Die im Mai 1918 in die Zuständigkeit der Obersten Heeresleitung übergehende MAA (von dort an Auslandsabteilung der Obersten Heeresleitung, OHLA) betrieb ihre Aufklärungstätigkeit mit Hilfe von Schrifttum, Film und Bildmaterial, wobei auch neutrale Journalisten „unmerklich“ beeinflusst wurden, für die Interessen Deutschlands Partei zu ergreifen. Hierdurch sollte gewährleistet werden, dass deren Artikel in die neutrale Presse gelangten und von dort aus die öffentliche Meinung beeinflussten. Zur Gewinnung neutraler Korrespondenten für Deutschland organisierte die MAA Reisen an die Front, in die besetzten Gebiete und innerhalb des Reichsgebietes. Zusätzlich wurden Auskünfte erteilt, Nachrichtenmaterial abgegeben und „Unterredungen mit namhaften Persönlichkeiten“ arrangiert.26 Außerdem unter-
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Moeller van den Bruck, Belgier und Balten, in: Jäckh, Ernst (Hg.): Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, Heft 59, Stuttgart und Berlin 1915, S. 17. Ebd., S. 16. Vgl. Ernst Jäckh, Der Goldene Pflug: Lebensernte eines Weltbürgers, Stuttgart 1954, S. 342. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 74. Franz Evers an Moeller van den Bruck, zitiert nach: ebd., S. 42 f. Vgl. Protokoll der Besprechung zwischen den zentralen militärischen und zivilen Behörden im Kriegspresseamt über Maßnahmen zur Aufrechterhaltung einer zuversichtlichen Volksstimmung (20.11.1916); zitiert nach: Wilhelm Deist, Militär und Innenpolitik im Weltkrieg
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hielt die MAA einen Telegramm- und Funkdienst, der den amtlichen Heeresbericht, Meldungen über „besondere Ereignisse“, Kriegsberichte sowie „neutrale Urteile über die Kriegslage“ weitergab. Ergänzend wurde „besonderes Tatsachenmaterial“, das die „Schwäche“ des Gegners und „die eigene Stärke“ darlegen sollte, verbreitet. All diese Berichte wurden täglich durch Wolffs Telegraphen Bureau in der Schweiz, in Holland und in den skandinavischen Ländern bekannt gemacht, während ein TausendWorte-Dienst die Herausgabe in Spanien und auf dem Balkan übernahm. Des weiteren suchte die MAA durch die Medien Bild und Film Kriegsereignisse sowie „wirtschaftliche und [...] industrielle Einrichtungen, welche die Stärke Deutschlands veranschaulichen“ sollten, darzustellen. Zu diesem Zwecke wurde die Produktion spezieller „Sonderfilme“ ins Auge gefasst und eine eigene „Militärische Film- und Photostelle“ eingerichtet.27 Letztere sollte vor allem neutrale Berichterstatter unterstützen und mit diesen zusammenwirken.28 Zur Beeinflussung der Tagespresse wurden schließlich die Militärattachés im neutralen Ausland, neutrale Pressevertreter, die Berliner Korrespondenzen für die neutrale Auslandspresse herangezogen. Die bei der MAA etablierte Literarische Stelle, zu deren Mitarbeitern neben den in leitender Funktion tätigen Moeller29 die Schriftsteller Waldemar Bonsels, Herbert Eulenberg, Bernhard Kellermann, Börries von Münchhausen, Friedrich Gundolf30 und zuletzt auch Hans Grimm31 gehörten, sammelte ergänzend „die gesamte Kriegsliteratur des Auslands“, um diese zu prüfen und zu Aufsätzen zu verarbeiten, die den Militärattachés zugingen. Diese sollten dann für eine Weiterleitung an „namhafte Militärschriftsteller des Auslands zur Verbreitung in der militärischen Fachpresse oder der nicht militärischen Presse“ Sorge tragen.32 Da Protokolle und Gesprächsnotizen weitgehend verloren gegangen sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob und inwieweit die hier erstmals versammelten „Jungkonservativen“ die konzeptionellen Überlegungen der Militärs beeinflussten, wie auch keine detaillierten Aussagen über Umfang und Inhalt der von Moeller ausgeübten Tätigkeit möglich sind. Gewiss ist aber, dass Moeller durch seine Tätigkeit in der MAA Einblick in die Mechanismen und Wir-
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1914-1918, in: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Zweite Reihe: Militär und Politik, Bde. 1/I und 1/II, hier Bd. 1/I, Düsseldorf 1970, S. 329 f. Vgl. Walter Vogel, Die Organisation der amtlichen Presse- und Propagandapolitik des Deutschen Reiches von den Anfängen unter Bismarck bis zum Beginn des Jahres 1933, in: Zeitungswissenschaft, 16 Jg., Heft 8/9, September 1941, S. 25–34, hier 30. Vgl. Protokoll der Besprechung zwischen den zentralen militärischen und zivilen Behörden im Kriegspresseamt über Maßnahmen zur Aufrechterhaltung einer zuversichtlichen Volksstimmung (20.11.1916); zitiert nach: Wilhelm Deist, Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, in: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Zweite Reihe: Militär und Politik, Bde. 1/I und 1/II, hier Bd. 1/I, Düsseldorf 1970, S. 330 f. Vgl. Anne Schmidt, Belehrung Propaganda – Vertrauensarbeit. Zum Wandel amtlicher Kommunikationspolitik in Deutschland 1914–1918, Essen 2006, S. 157. Vgl. Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1927, S. 81. Vgl. Hans Grimm, Warum – Woher – Aber Wohin?, Lippoldsberg 1954, S. 95. Vgl. Walter Vogel, Die Organisation der amtlichen Presse- und Propagandapolitik des Deutschen Reiches von den Anfängen unter Bismarck bis zum Beginn des Jahres 1933, in: Zeitungswissenschaft, 16. Jg., Heft 8/9, Berlin September 1941, S. 25–34, hier 30.
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kungsweisen von politischer Propaganda erhielt. Die Tätigkeit für die deutsche Kriegspropaganda war somit richtungsweisend für Moellers spätere Karriere als politischer Schriftsteller und Ideengeber der deutschen Rechten.
6.2. Abkehr vom „Westen“, Hinwendung zum „Osten“ Auch wenn er sich im Krieg verstärkt politischen Themen zuwandte, nahm Moeller auch wieder am literarischen Leben der Hauptstadt teil. Paul Fechter berichtete von einem in einer „alten Bodaga“ am Kurfüstendamm tagenden Montagstisch, den Moeller besuchte33 und zu dem sich auch Franz Evers, der Komponist Conrad Ansorge, Max Scheler, Theodor Däubler und später auch Rudolf Pechel, Carl Ludwig Schleich, Hans Grimm, Fechter selbst und zuletzt auch der baltendeutsche Publizist Max Hildebert Boehm einfanden.34 Daneben war Moeller auch weiterhin publizistisch tätig, d.h. er schrieb nicht nur Aufsätze für den offiziösen Informationsdienst Stimmen aus dem Osten [im Untertitel: Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen], die später auch in bedeutenden Tageszeitungen wie der Berliner Börsen-Zeitung, dem Reichsboten oder der Neuen preußischen Kreuzzeitung abgedruckt wurden35, sondern verfasste auch „aktualisierte“ Einführungen zu den Neuauflagen der Dostsojewskij-Ausgabe. Erwähnenswert ist auch ein Beitrag, der in der bis dato renommierten Deutschen Rundschau erschien. Dabei bezeichnet Schicksal ist stärker als Staatskunst (November 1916)36 nicht allein durch seinen Publikationsort einen Höhepunkt der schriftstellerischen Laufbahn Moellers. Der Beitrag ist auch zugleich eine Wegmarke in der Geschichte der Rundschau, die sich unter Herausgeberschaft Bruno Hakes, des Nachfolgers Julius Rodenbergs († 11.07.1914), zunehmend aktueller und nationalistischer zeigte.37 In Reaktion sowohl auf die überlegene englische und französische „Werbekraft“38 als auch in Anbetracht der militärischen Lage entwickelte Moeller in dem Aufsatz die Idee einer „Achsenrichtung“39, auf der sich, einer „Schwerpunktverschiebung“40 folgend, die „Ge-
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Vgl. Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 28 f. Eine ausführliche Schilderung dieses Kreises unternimmt Fechter in seinem Buch: Menschen und Zeiten. Begegnungen aus fünf Jahrzehnten, Gütersloh 1948, S. 325–365. Vgl. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 693. Vgl. 9.1.2. Moeller van den Bruck, Schicksal ist stärker als Staatskunst, in: Deutsche Rundschau, 43. Jg. Heft 2, November 1916, S. 161–167. Vgl. Karl Ulrich Syndram, Kulturpublizistik und nationales Selbstverständnis. Untersuchungen zur Kunst und Kulturpolitik in den Rundschauzeitschriften des Deutschen Kaiserreiches (1871–1914), Berlin 1989, S 53 f. Moeller van den Bruck, Abkehr vom Westen, in: Der Tag, 06.10.1916. Moeller van den Bruck, Schicksal ist stärker als Staatskunst. In: Deutsche Rundschau, 43. Jg. Heft 2, November 1916, S. 161–167, hier 162.
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schichte Europas und des Europäertums“ seit dem 19. Jahrhundert von „Westen nach Osten“ bewege.41 Dabei ist anzumerken, dass Moeller nunmehr in England den Hauptfeind Deutschlands erkannte. Während die Auseinandersetzung mit Frankreich für ihn allenfalls ein „Ärgernis“ war, bezeichnete Moeller den Krieg gegen England als ein „großes politisches Ereignis von interozeanischer Reichweite“.42 Der für Deutschland ungünstige Verlauf der zermürbenden Materialschlachten (Verdun Februar–Dezember 1916; Sommeschlacht Juni–November 1916) im Westen einerseits, der überaus erfolgreiche Rumänienfeldzug (August–Dezember 1916) anderseits bestärkten Moeller zudem in seinem Glauben an eine deutsche „Sendung“43 im Osten. Die in der unmittelbaren Vorkriegspublizistik noch als Korrektiv zum Unvorhergesehenen fungierende Kategorie „Schicksal“44 nahm in diesem Zusammenhang die Gestalt nationaler Prädestination an: „Heute, da wir noch mitten im Kriege stehen und das Schicksal an seinem Werke sehen, haben alle Versuche, den Ausgang des Krieges schon im einzelnen vorauszubestimmen, [...] nur dann eine Aussicht [...], das Wesen des ganzen Krieges zu treffen, wenn es der Politik eines Volkes gelingt, bereits diese Linie einzuhalten, sie mit jener Achsenrichtung einer künftigen europäischen Völkergruppierung vorgreifend in Übereinstimmung zu bringen und seine Forderungen der eigenen Machterweiterung ihrem Verlauf anzupassen. Wir Menschen sind dazu da, um den Weltplan zu verwirklichen, um das Wunder als Plan zu offenbaren, für Vorbestimmung in der Geschichte zu zeugen. Wir müssen uns entschließen, an Sendungen zu glauben, in denen Geschichte sich vollzieht. Jedes Volk erfüllt seine Sendung in der Geschichte, wie jeder Mensch die seine im Leben: als Teil eines Ganzen, der selbst auf seine mehr oder weniger wichtige oder unwichtige Weise ein Ganzes ist.“ 45
Motiviert war dieses Reden sowohl vom „Schicksal“ als auch von einer vom tatsächlichen Geschehen unabhängigen östlichen „Sendung“46 durch Moellers kulturimperialistische Vorstellungen. Seine Bemühungen aus der Vorkriegszeit fortsetzend, veröffentlichte Moeller, noch bevor er die „Achsenrichtung“ der Geschichte bestimmte, zwei Beiträge, in denen er, da er die deutsche „Kulturwirkung“47 in diesen Gebieten
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Moeller van den Bruck, Der Aufbruch nach Osten, in: Der Aufbruch nach Osten, in: Der Tag, 03.04.1918. Moeller van den Bruck, Schicksal ist stärker als Staatskunst. In: Deutsche Rundschau, 43. Jg. Heft 2, November 1916, S. 161–167, hier 162. Moeller van den Bruck, Unser Problem ist der Osten, in: Stimmen aus dem Osten, 1. Jg., Nr. 23, 10.05.1916. Moeller van den Bruck, Schicksal ist stärker als Staatskunst. In: Deutsche Rundschau, 43. Jg. Heft 2, November 1916, S. 161–167, hier 162. Vgl. Moeller van den Bruck, Das Unvorhergesehene in der Weltgeschichte, in: Der Tag, 14.07.1914. Moeller van den Bruck, Schicksal ist stärker als Staatskunst, in: Deutsche Rundschau, 43. Jg, Heft 2, November 1916, S. 161–167, hier 161 f. Ebd. 162. Vgl. Moeller van den Bruck: Kulturpolitik, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 10, 01.03.1913, S. 300–306, hier 302.
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herausstrich, das „innere[...] Besitzrecht“48 der Deutschen an den baltischen Provinzen Russlands untermauerte. So wurden in Vorwürfe gegen die Balten (Der Tag, 28.07.1915) die mit dem Attribut der „Fortschrittlichkeit“ versehenen Deutschbalten als altes „Pioniergeschlecht“ und „erfahrene und eingesessene Praktiker der Kolonisation“ gewürdigt, die sich im Baltikum vor allem als „Deutsche behauptet“ hätten.49 Und schließlich waren es nicht allein architekturgeschichtliche Einsichten, die den mit der Deutsche[n] Baukunst in den baltischen Provinzen50 vertrauten Moeller dahin brachten, „Reval [Tallin] eine unserer deutschesten Städte“ zu nennen.51 Aus den kulturellen wie wirtschaftlichen Leistungen der Deutschen im Baltikum schloss Moeller, dass „der Deutsche, der den Ostseeprovinzen auf dem Landwege oder von der Seeseite nahte, [...] Deutschland“ betrat.52 Analog wurde von Moeller in Belgier und Balten der negative Einfluss Russlands auf die ihm seit dem 18. Jahrhundert zugehörigen Provinzen thematisiert: „[...] der Staat unterdrückte eher die Arbeit der Balten, ihren ständischen und städtischen Ehrgeiz, ihren Wunsch und Willen, aus dem Lande ein rühmliches Etwas zu machen, als daß er sie förderte.“53 Die Russen, denen Moeller „Handelsgeist“ und „Flottengeist“54 absprach, schienen ihm „kaum ein Volk des Spatens, bescheidenster bäuerlicher Arbeit“ zu sein55, weshalb sie auch den Zugang zu der als „See der Unternehmung“56 apostrophierten Ostsee gut entbehren könnten. Darüber hinaus merkte Moeller an, dass die „geistig [...] verdeutscht[e]“ protestantische „lettische und estnische Unterbevölkerung“57 sich als unempfänglich für die von der orthodoxen Kirche geprägte „Werbekraft“ Russland erwies: Er folgerte: „Das Baltikum kann nie russisch werden, weil es protestantisch ist; weil dort wo es sich aus der sarmatischen Ebene gegen die Küste abhebt, die orthodoxe Werbekraft endet.“58 Russische Fremdherrschaft und kulturelle Zugehörigkeit des Baltikums zu Deutschland begründeten nun die Idee einer östlichen Sendung, aus der Moeller, vermutlich in Anlehnung an Friedrich Naumanns Idee von einer mitteleuropäischen
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Vgl. Moeller van den Bruck, Probleme im Baltikum, in: Deutsch-Österreich, 1. Jg., Heft 14, 29.03.1913, S. 417–423, hier 419. Moeller van den Bruck, Vorwürfe gegen die Balten, in: Der Tag, 28.07.1915. Moeller van den Bruck, Die Deutsche Baukunst in den baltischen Provinzen, in: Stimmen aus dem Osten, 1. Jg., Nr. 18, 29.03.1916; abgedruckt in: Neue preußische Kreuzzeitung vom 02.04.1916. Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Belgier und Balten, in: Ernst Jäckh (Hg.): Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, Heft 59, Stuttgart und Berlin 1915, S. 27. Ebd., S. 29. Ebd.; S. 26. Ebd., S. 27. Moeller van den Bruck, Vorwürfe gegen die Balten, in: Der Tag, 28.07.1915. Moeller van den Bruck, Belgier und Balten, in: Jäckh, Ernst (Hg.): Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, Heft 59, Stuttgart und Berlin 1915, S. 29.
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„Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft“59, im Verlaufe des Krieges seine die Utopie eines imperial strukturierten Mitteleuropas entwickelte, als dessen östliche Grenze er vorerst die „Narva-Peipus-Linie“60 bestimmte: „Mittelbar gehören die baltischen Nationalitäten längst schon Mitteleuropa an.“61 In den u. a. von Friedrich List62 und Paul de Lagarde63 inspirierten Vorstellungen Moellers konnte dieses von „deutscher Oberschicht“64 und „baltische[r] Unterbevölkerung“65 bewohnte Mitteleuropa zur neuen Peripherie eines „erweiterte[n] Deutschland“66 werden. Moellers Ostorientierung war jedoch nicht auf den Aspekt der territorialen Expansion beschränkt. Zwar ist die Begründung eines von Deutschland beherrschten Mitteleuropa auch als Reflex auf die Westexpansion Russlands zu sehen, wie Moeller umgekehrt das von ihm entwickelte Mitteleuropakonzept später auch zur Legitimation des Friedens von Brest-Litowsk zu verwenden verstand67, daneben zeigt sich aber, dass die Hinwendung zum „Osten“ auch aus seiner Ablehnung der „Ideen des Westens“68 resultierte. Da er mit dem „Westen“ ihm geläufigen Niedergangserscheinun59
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Naumann zufolge wurde der „Kern von Mitteleuropa“ (S. 2) im Wesentlichen vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn gebildet. Der territorialen Expansion beider Staaten eher eine sekundäre Rolle zuweisend, begrüßte Naumann den Krieg vor allem als identitätsstiftendes Ereignis. Naumann bezeichnete das den Krieg asl „Schöpfer einer mitteleuropäischen Seele“ (S. 4) Er hoffte, dass im gemeinsamen Kampf gegen äußere Feinde eine mitteleuropäischen „Wesensgemeinschaft“ (S. 29) entstehen würde. Letztlich trat Nauman vor allem für die Herausbildung einer mitteleuropäischen „Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft“ (S. 199–229, hier 228) ein (vgl. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915). Moeller van den Bruck, Die mitteleuropäische Zugehörigkeit der baltischen Länder, in: Deutsche Warschauer Zeitung, 3. Jg., Nr. 220, 12.08.1917. Ebd. Vgl. Moeller van den Bruck, Friedrich List und die Politik des Ostens, in: Stimmen aus dem Osten, 3. Jg., Nr. 22, 01.05.1918. Moeller van den Bruck, Die Vorläufer der Ostpolitik, in: Stimmen aus dem Osten, 3. Jg., Nr. 30, 26.06.1918. Moeller van den Bruck,: Die mitteleuropäische Zugehörigkeit der baltischen Länder, in: Deutsche Warschauer Zeitung, 3. Jg., Nr. 220,12.08.1917. Ebd. Moeller van den Bruck, Die Vorläufer der Ostpolitik, in: Stimmen aus dem Osten, 3. Jg., Nr. 30, 26.06.1918. Entsprechend: „[...] so weit wie Rußland sich nach Westen vorzuschieben gedachte, rollt Rußland nach Osten zurück. Alle Völker lösen sich von ihm, die schon durch die Lage ihrer Länder nicht mehr mit ihm, sondern mit uns an demselben Problem beteiligt sind: Völker, die vom Osten aus längst Westen und in Rasse, Sprache, Glaube, Überlieferung, Wirtschaft, Gesittung unterschieden vom Russentume sind: Völker, die vom Russentume nur Unterdrückung erfahren haben, und deren vorübergehende Zugehörigkeit zu Rußland man sehr bald als so erzwungen empfinden wird, wie ihr Anschluß an Europa selbstverständlich ist. In ihrer Begabung zum Europäertum bringen sie bereits die Anwartschaft auf Europäertum mit. Deshalb ist ihre Loslösung von Rußland ein organischer Vorgang, der wie alles Organische bleibend sein wird. Und der Friede von Brest, der nur die Land- und Volk- und Kulturgrenzen nachzeichnete, ist kein unnatürlicher, sondern ein natürlicher Friede“ (Moeller van den Bruck, Der Aufbruch nach Osten, in: Der Tag, 03.04.1918). Moeller van den Bruck, Abkehr vom Westen, in: Der Tag, 06.10.1916.
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gen wie „Erschöpfung“69, „Sattheit“70 und „Abnutzung und Ausleierung der volklichen Gefüge, Zerstörung der Familie, Herrschaft des Ichs – bis zur Lockerung der Individualismus“71 assoziierte und in der „labilen Moral des Liberalismus“72 wie in der typisch westlichen „Demokratie ohne Volklichkeit“73 Beweise für die „alte“ Völker kennzeichnende Desintegration erkannte, glaubte Moller Deutschland von einer Verwestlichung bedroht: „Der zivilisierte Westen bedroht auch uns mit seinen Gefahren, an denen er selbst zu Grunde geht, mit Entvölkerung, Rentenwirtschaft, Kulturüberladung, mit Merkantilismus und Alexandrinertum.“74 Moellers Angriffe auf den „Westen“ waren zweifellos auch nationalpädagogisch intendiert. „Verwestlichung“ scheint dabei ein Synonym für die Desintegration und Degeneration der nationalen Gemeinschaft, während er sich von einer Orientierung nach dem mit „Unverbrauchtheit, Geburtenüberschuß, naiver, elementarer, agraischverwurzelter Rassengesundheit, primitiver Gebundenheit seiner Menschen und Mengen“75 begnadeten „Osten“ sich folglich ihre Revitalisierung versprach. Für Moeller stand fest: „[...] genauso, wie wir uns, je mehr Westen wir in uns aufnehmen, dem Untergangsschicksal aller alten Völker nähern, erhalten wir uns als junges Volkstum, je mehr wir Kräfte aus dem Osten ziehen [...].“76 Darüber hinaus betonte Moeller immer wieder die Identität von „westlich“ und „alt“ wie umgekehrt von „östlich“ und „jung“, um ein glückliches Ende des als Auseinandersetzung von „sein“ und „werden“ interpretierten militärischen Konflikt prophezeien zu können. In diesem Sinne seien „heute [...] Franzosen und Engländer [...] als die Verteidiger des Westens zusammengeführt worden: die letzten, die er fand – und die auch nicht verhindern werden, daß sich das Gesetz des Völkertodes, das Schicksal alles westlichen Volkstums an ihm und an ihnen erfüllt.“77 Umgekehrt schienen „die Politik und Kultur [...], auf die sich im Osten die Ausblicke öffnen, [...] neu, unvorhergesehen und vorläufig allerdings auch unabsehbar: die östliche Hemisphäre beruht auf wirtschaftlichen wie geistigen Voraussetzungen, die es bis jetzt in der deutschen und europäischen Geschichte nicht gegeben hat“.78 Ihre Schranke fand diese Ostorientierung in der den Deutschen vorbehaltenen Zwischenstellung. Denn während er Russland eine „asiatische[...] Bestimmung“79 andichtete, würde es nach Moeller „die europäische Bestim69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Moeller van den Bruck, Der Aufbruch nach Osten, in: Der Tag, 03.04.1918. Moeller van den Bruck, Abkehr vom Westen, in: Der Tag, 06.10.1916. Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Der Aufbruch nach Osten, in: Der Tag, 03.04.1918. Moeller van den Bruck, Unser Problem ist der Osten, in: Stimmen aus dem Osten, 1. Jg., Nr. 23, 10.05.1916. Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Abkehr vom Westen, in: Der Tag, 06.10.1916. Moeller van den Bruck, Unser Problem ist der Osten, in: Stimmen aus dem Osten, 1. Jg., Nr. 23, 10.05.1916. Moeller van den Bruck, Die neuen Ziele der russischen Politik, in: Stimmen aus dem Osten, 1. Jg, Nr. 28, 14.06.1916.
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mung“ der zwischen „Westen und Osten gestellt[en]“ Deutschen sein, „ein Gleichgewicht der Kräfte zu halten und zwischen den Gegensätzen von Arbeit und Verbrauch, Erschöpfung und Unerschöpflichkeit, Westen und Osten zu vermitteln“80 und somit die dominierende Macht im kontinentalen Europa zu werden.
6.3. Dostojewskij als Politiker Moellers kategorische Abwendung vom „Westen“ wie seine Ostorientierung haben ihren Niederschlag auch in den jüngeren Einführungen zur Dostojewskij-Ausgabe gefunden.81 Daher sollen sie, obgleich nicht unmittelbar der Kriegspropaganda zugehörig, an dieser Stelle behandelt werden. Kennzeichnend dafür, dass auch sie von der im Weltkrieg begründeten Ostideologie inspiriert waren, ist die sehr kurze, pointiert formulierte Einführung in die Ausgabe aus dem Jahre 1922. Darin heißt es: „Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind. Nachdem wir so lange zum Westen hinübergesehen haben, bis wir in Abhängigkeit vom ihm gerieten, sehen wir nach dem Osten hinüber – und suchen die Unabhängigkeit. [...] Der Blick nach Osten erweitert unseren Blick um die Hälfte der Welt.“82
Deutschland und Russland, so Moeller abschließend, teilten das gleiche Schicksal. Bei dieser Beurteilung der Lage konnte sich Moeller auf eine Aussage Dostojewskijs aus dessen Tagebuch eines Schriftstellers stützen, die in die Politischen Schriften mit aufgenommen worden ist. Dort schrieb Dostojewskij unter dem Stichwort „Die katholische Verschwörung“ in Bezug auf die Gefahr, die Deutschland aus dem „kriegerischen Rom“ mit seinen Verbündeten erwachse: „In der Tat: wer ist der Hauptverbündete Deutschlands? Selbstverständlich Rußland.“83 In der aktuellen politischmilitärischen Konstellation waren die Rollen jedoch vertauscht: Nicht ein russischer Schriftsteller musste Deutschland an seine wahre Bestimmung erinnern, sondern ein deutscher Schriftsteller musste die in einem falschen Bündnis stehenden Russen zu ihrer wahren Bestimmung zurückführen. In diesem Sinne behauptete Moeller in Das Recht der jungen Völker (1918), Russland sei im Krieg von den alten Mächten ausgenutzt und gegen den natürlichen Partner Deutschland gehetzt worden:
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Moeller van den Bruck, Der Aufbruch nach Osten, in: Der Tag, 03.04.1918. Vgl. Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919, Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 91 ff. Moeller van den Bruck: Einführung in die Ausgabe, in: F. M. Dostojewski, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Erster Band, 2. Aufl., München 1922, S. V. F.M Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers, in: Ders., Sämtliche Werke. Unter Mitarbeiterschaft Dimitri Mereschkowskis, herausgegeben von Moeller van den Bruck, Erste Abteilung: Dreizehnter Band, 2. Aufl., München 1917, S. 122.
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„Wahn verführte die Russen, den Vormarsch nach Europa anzutreten, wo sie nichts zu suchen haben, und wo sie als unfertige Rasse zwischen fertigen Nationalitäten auch gar nichts finden können – statt sich nach Asien zu wenden, wo sie als Älteres Volk und im Verhältnis zum Asiatentum selbst als Europäertum wirken.“84
Schuld an dem nach Moellers Auffassung falschen Bündnis mit den Westmächten sei das „Alte [...] System[...], das die Russen dem Westen entnommen hatten“.85 Russland, so der Gedankengang Moellers, habe nie zu einer eigenen Staatlichkeit finden können, sondern eben nur ein altes, westeuropäisches System eingeführt. Die Revolution von 1917 sei daher nur der „Zusammenbruch“ eines morschen, den Russen fremden Systems gewesen. Im Horizont dieser Diagnose standen alle während und nach dem Weltkrieg verfassten Einführungen zur Dostojewskij-Ausgabe. Moeller ging davon aus, dass der Einfluss des Westens die Entwicklung Russlands und Deutschlands beeinträchtigt, geschädigt und zuletzt unterbrochen habe, es vor dem Hintergrund der unmittelbaren politischen und militärischen Auseinandersetzungen vor allem auf eine Abwehr des „Westlertums“ sowie auf denVerzicht Russlands auf Mitteleuropa ankomme. So entsprach es nicht allein der Verschiebung der persönlichen Interessen Moellers, dass drei der insgesamt sieben neu verfassten Einführungen, nämlich die zu den Politischen Schriften (Bd. 13), Die Dämonen (Bd. 5) und Der Spieler (Bd. 21) einen explizit politischen Charakter haben. In ihnen wie in der zeitgleich entstandenen Publizistik beschäftigte sich Moeller mit der Frage, wohin Russland steuere. Anhand dreier Aspekte – byzantinische Idee, Nihilismus und Westlertum – versuchte er die politische Rolle Russlands für die Zukunft zu bestimmen. Der Eindruck, dass diese Problemstellung Moellers Dostojewskij-Interpretation bestimmte, wird in diesem Zusammenhang dadurch bestärkt, dass für die Neuauflagen die Einführung zu den Politischen Schriften der zentrale einführende Text war. In Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen (1917) suchte Moeller die These von der existentiellen Bedrohung durch den Westen mit einer antithetischen Neukonzeption der russischen Geschichte zu belegen. Als gegenstrebige Denkfigur zum „petrinischen Fehler“86 fungierte dabei eine „byzantinische Grundidee“87, anhand derer Moeller die gesamte russische Geschichte der letzten Jahrhundert skizzierte: Zunächst ging er von der These aus, dass Russland in Byzanz seine geistigen Wurzeln habe. Von Byzanz habe Russland das Zarentum, die Orthodoxie und das besondere Gefüge seines Beamtenstandes übernommen. Mit der Niederschlagung des byzantinischen Reiches durch die Türken hätten diese Einrichtungen in der russischen Vorstellung einen altrussischen Authentizitätscharakter angenommen. In dem Drang zurück nach 84 85 86
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Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, in: Deutsche Rundschau, 45. Jg., Heft 2, November 1918, S. 220–235, hier 230. Ebd., S. 230. Moeller van den Bruck, Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen, in: F. M. Dostojewski, Politische Schriften, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dreizehnter Band, München 1917, S. XIII. Ebd., S. VII.
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Konstantinopel läge die eigentliche Bestimmung des russischen Staates. Peter I. habe diesen Drang nach Nordwesten abgelenkt und sich Europa zugewandt. Darin bestehe der „petrinische[...] Fehler“. Zweihundert Jahre, einschließlich der Chance, die Stadt am Bosporus zu erobern, seien dadurch verloren gegangen und Russlands kulturelle und politische Identität durch westlich orientierte Eliten nachhaltig beschädigt worden. In seinen Ausführungen bezog sich Moeller augenscheinlich auf Früher oder später muß Konstantinopel doch uns gehören (Bd. 13, 1917: 383–399), einen nach Beginn des Russisch-Türkischen Krieges von 1877 entstandenen Text aus dem Tagebuch eines Schriftstellers, in dem Dostojewskij die Eingliederung Konstantinopels ins russische Reich forderte. Entscheidend war jedoch die Wendung ins aktuell Politische. Die Tatsache, dass sich Russland im Weltkrieg und somit im Kampf um Konstantinopel mit England und gegen Deutschland und das Osmanische Reich verbündete, forderte eine Stellungnahme Moellers heraus. Diesbezüglich behauptete er, dass der „byzantinische Gedanke im russischen Geschichtsdenken [...] heute entartet“88 sei. „Entartet“, weil es dem von ökonomischen Erwägungen geleiteten Russland, nunmehr vor allem um die Eroberung der Dardanellen ginge, Konstantinopel und die Frage nach der politisch-kulturellen Identität nur einesekundäre Rolle spiele: „Die Türkenkämpfe, die von dem russischen Staate bis dahin als Ausdehnungskampf betrieben, von dem russischen Volk als Glaubenskampf empfunden worden waren, wurden zum Wirtschaftskrieg. [...] an Stelle einer autokratischen oder theokratischen, immer slavokratischen Geschichtsanschauung griff jener selbe europäische Materialismus, jene westlerische Unheiligkeit, vor der Dostojewski durch seine religiöse Erneuerung des byzantinischen Gedankens das Russentum hatte bewahren wollen, auf Rußland über.“89
Westliche Einflüsse rechtfertigten somit, dass Russland von den mit den Türken verbündeten Deutschen „von Byzanz abgedrängt worden“ sei.90 Ferner gab Moeller zu verstehen, dass eine sich abzeichnende Abwendung vom Westen sowie eine Neubesinnung auf „die politischen Ideen Dostojewskis“91 eine positive Wendung versprachen. So sei „die Gegnerschaft gegen Liberalismus und Westlertum im eigenen Lande [...] da“. Sie lebe „in der Sehsucht der Seelen, die nicht Wirtschaft wollen, sondern Glauben, nicht europäische Ordnung, sondern russisches Chaos und russische Universalität“.92 Hierin wie in der Formulierung der „byzantinische[n] Grundidee“ als fundamentaler Bestimmung russischer Politik lag nicht zuletzt die unausgesprochene Forderung, dass sich Russland künftig aus europäischen Belangen herauszuhalten habe.93 Auch hierbei, wie bei dem Gedanken, dass Deutschland die Mitteleuropa ge88 89 90 91 92 93
Ebd., S. XXIII. Ebd., S. XXIV. Ebd., S. XXVIII. Ebd., S. XXV. Ebd., S. XXVI. In einem Beitrag mit dem Titel Das russische Ich wurde Moeller deutlicher. Demnach sei das Ergebnis des Krieges, „daß nicht Rußland nach Westen, sondern Europa nach Osten sich vorschiebt. Und es befindet sich in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Zuge der Entwick-
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staltenden Macht zu sein habe, konnte sich Moeller auf eine Passage aus Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers (1877) berufen: „Doch was will denn Deutschland mit uns teilen? Die ganze westliche Menschheit ist sein Objekt, die ganze westliche Welt Europas hat es für sich bestimmt: statt der römischen und germanischen Idee soll hier die germanische die Führung übernehmen. Uns aber, Rußland, überläßt es den Osten. Zwei großen Völkern, uns und ihm, ist es bestimmt, das Angesicht der ganzen Welt zu verändern.“94
Darüber hinaus war Moeller der Überzeugung, dass die 200 Jahre seit dem „petrinischen Fehler“95 für Russland verlorene Jahre gewesen seien. Der einzige Gewinn sei „die nachhaltende Einwirkung des europäischen Westens [...], dessen Beispiele es zu seiner Entwicklung brauchte“.96 Jedoch habe Russland den Westen nur gebraucht, um zu einer bewussteren und gefestigten altrussischen Position zurückzukehren, ein Prozess, den Moeller in der Einführung zur dritten Auflage von Der Spieler anhand der Lebensgeschichte des russischen Schriftstellers zu schildern versuchte. Die Konfrontation mit den europäischen Ideen sei demnach notwendig geworden, weil – er zitiert den Publizisten Pjotor Tschaadajew (1794–1856) – Russland „die Lücke in der Geschichte des menschlichen Geistes“ sei, ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.97 Auch Dostojewskij habe die Angst vor der russischen Realität gespürt. Das Gefühl der Unzulänglichkeit und Unfertigkeit des russischen Staats- und Gesellschaftswesens sei in ihm sehr stark gewesen. Er habe jedoch seine sibirische Erfahrung dagegen gesetzt, die Ahnung einer großen Kraft innerhalb des russischen Volkes, die er auf seinen europäischen Reisen in Abgrenzung zu den fremden Völkern konkretisieren konnte. Demnach habe Dostojewskij als ein entwurzelter und damit typischer Exilrusse in Europa von „Müßiggang und Heimweh nach Rußland“ gequält und von den sibirischen Erfahrungen geleitet, „den Mittelpunkt des Russentums [...] in Rußland gefunden“98 und so in der Abgrenzung zu anderen Völkern die große in-
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lung, die schon längst diese Entwicklung enthielt und darin nur von einem Russentum gehemmt wurde, daß selbst den Anspruch erhob, Europäertum zu sein. Dieses Rußland ist nicht mehr. Und die Bahn ist frei für Europa. Das gilt von den ehemaligen russischen Randgebieten, die wie das Baltikum, wie Finnland oder Polen, kulturell schon längst in den mitteleuropäischen Zusammenhängen stehen. Das gilt aber auch von Rußland selbst, das erst jetzt, nachdem es von den Aufgaben entlastet wurde, die es doch nicht zu lösen vermochte, allmählich und ohne [...] große und namentlich wirtschaftliche Entwicklungen zu überspringen, zu einem russischen Ich zu gelangen vermag, das im organischen Anschlusse an die europäische Welt steht.“ (Moeller van den Bruck, Das russische Ich, in: Dresdener Anzeiger, 09.08.1918). F. M Dostojewski, Balkan und Orient: Zur Orientfrage, in: Ders.: Politische Schriften, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dreizehnter Band, München 1917, S.489. Moeller van den Bruck, Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen, in: Ebd., S. XIII. Ebd., S. XXVI. Moeller van den Bruck, Dostojewski und das Westlertum, in: F. M. Dostojewski, Der Spieler – Der ewige Gatte. Zwei Romane, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Zwanzigster Band, München 1920, S. V. Ebd., S. IX.
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nere Kraft des russischen Volkes erkannt: „[...] nur aus dem europäischen Abstande zu den russischen Dingen“ konnte Dostojewskij „das Bild des großen, des ewigen, des künftige Rußland formen [...], das aus messianischer Vision aus ihm aufstieg“.99 Von dem Grundgedanken, dass der wesensfremde Westen gleichsam als ein Katalysator der russischen Entwicklung gewirkt habe, war auch die Einführung in die dritte Auflage der Dämonen geprägt. In Der Nihilismus und die Revolution (1919) ging Moeller der Frage nach dem Entstehen des „Verschwörertums“, das er mit dem Begriff des „Nihilismus“ gleichsetzt, nach. Moeller sah dieses Verschwörertum bereits im altrussischen Raskol, der Kirchenspaltung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, angelegt. Durch Peters Reformen, die die Kirche unter die Aufsicht des Staates stellten, habe das Verschwörertum ein politisches Gepräge erhalten, das sich dann im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Klassentheorie von Karl Marx zum sozialistischen Radikalismus entwickelte. So war der Nihilismus des 19. und 20. Jahrhunderts, nach Ansicht Moellers, der extreme „russische[...] Ausdruck des europäischen Positivismus“: „der Nihilismus“ war „zunächst durchaus aufklärerisch. Er war zu atheistisch, um religiös zu sein. Er war rein verneinend. [...] Eine Idee aber bekam er erst dann, als die Revolution die Klassentheorie für sich in Anspruch nahm und Marx der Diktator der russischen Ideologen wurde.“100 Die Revolution, die der Nihilismus verlange und die nun in Russland ausgebrochen sei, werde jedoch keinen endgültigen Zustand errichten, sondern nur der erste Schritt sein auf dem Weg zur Verwirklichung der Idee des „Gottesträgervolk[s]“.101 Entsprechend wurde Dostojewskij gegen die Bolschewiki abgesetzt und als der wahre russische Revolutionär gepriesen: „Dostojewskij war Revolutionär nicht aus Doktrin, sondern beinahe aus Pathologie, die es zu einer Erlösung für den Russen macht, die Krankheit seines Mitmenschen zu teilen, sie aus Wissen mitzuleiden und aus Mitleid sich zu empören.“102 Er habe in der sibirischen Verbannung nicht nur die Not und politische Unreife, sondern auch das Wesen des „autochthonen russischen Volke[s]“ kennengelernt. Dies Erfahrung sowie ihre Verbindung „mit einem monarchisch-autokratischen Denken“103 hätten Dostojewskij zu einem der „Revolutionäre aus Konservatismus“, d.h. zu einem „Kämpfer für das urrussische, spezifisch-russische Wesen“ werden lassen.104 Da Dostojewskij für Moeller nunmehr in erster Linie ein politischer Schriftsteller war, der die Gedanken über sein Volk in poetische Visionen gekleidet habe, waren die auch vorher nur sporadischen Bezüge auf Romane und Novellen in den späten Einführungen noch seltener geworden. Gemäß seinem neuen Selbstverständnis als 99 100 101 102 103 104
Ebd., S. XI f. Moeller van den Bruck, Der Nihilismus und die Revolution, in: F. M. Dostojewski, Die Dämonen, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band, München 1919, S. XIV. Ebd., S. XVI. Ebd., S. X f. Ebd., S. XI. Ebd., S. XV.
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politischer Schriftsteller sah der Herausgeber es vielmehr als seine Pflicht an, die antiwestliche Botschaft des großen Russen zu verbreiten, d.h. er trat als Interpret des „Politikers“ Dostojewskij auf. In diesem Sinne erteilte er beispielsweise den Rat, das russische Volk solle seine eigene Bestimmung in Abgrenzung zum Westen neu finden. Byzanz sei nicht nur das Ziel russischer Außenpolitik, sondern auch ein geistiges Ziel, da es schon für Dostojewskij „mehr als ein Symbol“, nämlich das identifikatorische Zentrum Russlands gewesen sei: „Durch Byzanz konnte das Zarentum vertieft und vergeistigt, durch Verchristlichung gerechtfertigt, durch Mystifizierung erhoben werden. Ebenso sehnte sich der Panslavismus, den Dostojewski vertrat, nach Größe Reinheit und Überschwenglichkeit, die in den russischen Volksgedanken kommen sollten. [...] In Byzanz sah er das Urchristentum erhalten [...]. Dostojewski wollte die russische Nationalkirche zur Allerweltskirche erheben, von der noch einmal die Erlösung ausgehen sollte, die er persönlich [...] für möglich und kommend hielt. [...] In dieser Verbindung von Staat und Macht, Volk und Kirche, Religion und Politik ist der Dichter Dostojewski mit dem Politiker Dostojewski verbunden.“105
Zudem fungierte der große Russe als Gewährsmann für eigene politische Überzeugungen. Moellers bemerkenswerte Einschätzung, Dostojewskij propagiere eine westlichen Ideologien entsagende „russische Revolution“106 und seine Bezeichnung als „Revolutionär aus Konservatismus“107 sind erste Belege dafür. Inzwischen selbst ein „konservativer Revolutionär“ hatte Moeller bereits 1920 eine Weiterführung der Novemberrevolution im „konservativen“ Sinne gefordert.108 Im Sozialismus marxistischer Prägung hingegen sah er einen rationalistischen Irrweg, also eine Herausforderung des Westens, der unter Berufung auf „politische Denker“109 wie Dostojewskij unbedingt zu begegnen sei. In diesem Sinne suchte er beispielsweise im Gewissen, Dostojewskij gegen Marx in Stellung zu bringen, um schließlich als sein Interpret die Deutungshoheit auch über aktuelle Ereignisse zu beanspruchen: „Marx ist durchschaut. [...] Von den Theorien des Marxismus wird Recht vielleicht nur die Verelendungstheorie behalten: aber nicht als Folge des Kapitalismus, wie der Marxismus ursprünglich annahm, sondern als Folge der Revolution, die der Sozialismus herbeiführte.“110 An Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1922) sowie Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) lässt sich nachweisen, dass auch Moellers 105
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Moeller van den Bruck, Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen, in: F. M. Dostojewski, Politische Schriften, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dreizehnter Band, München 1917, S. XXI f. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Nihilismus und die Revolution, in: F. M. Dostojewski, Die Dämonen, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band, 3. Aufl., München 1919, S. XI f. Vgl. ebd., S. XV. Vgl. Moeller van den Bruck, Wir wollen die Revolution gewinnen, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 12, 31.03.1920. Moeller van den Bruck, Dostojewski als Politiker, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 44, 31.10.1921. Ebd.
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Entdeckung des Politikers Dostojewskij wirkungsmächtig war111 und das Bild vom die mystischen Tiefendimensionen erkennenden Visionär gefestigt hat. So zeugt es beispielsweise von einer intensiven politischen Lektüre, wenn der „unpolitische“ Mann, da er den Ersten Weltkrieg als „einen neuen Ausbruch [...] des uralten [...] Kampfes der römischen Welt gegen das eigensinnige Deutschland“ zu deuten versuchte112, sich ausdrücklich auf Dostojewskij berief, wobei ihm vor allem der Essay Deutschland, das protestierende Reich von brennender Aktualität zu sein schien: „Denn es ist ein kriegerischer Gedanke, von kriegerischer Wahrheit, und in Kriegszeiten erglüht dieser Gedanke vom ‚protestierenden Reich‘ in seiner stärksten Wahrheitskraft, einleuchtend für jedermann.“113 Nicht weniger politisch war es Dostojewskij gegen Tolstoi, den Politiker, und den zivilisierten Westen auszuspielen: „Ich sage: Dostojewski, obgleich ihm die Macht und politische Aufgabe Rußlands teuer war und obgleich – oder vielmehr: weil er die revolutionären Umtriebe geißelte, war kein Politiker. Tolstoi, dem die Macht und politische Aufgabe Rußlands durchaus nicht am Herzen lag, der ein Anti-Nationalist und Pazifist war [...], war einer. Warum? Weil das Christentum sich bei ihm durchaus sozialisiert, weil das soziale Leben bei ihm zur Religion erhoben ist. [...] Das will heißen: sie [die Religion] diente der Förderung der sozialen Wohlfahrt, ihr ideales Ergebnis war das ‚Glück‘. Aber damit ist Tolstoi Demokrat, ist er Politiker. Tolstoi ist Aufklärung, das heißt: Glücksmoralist, Wohlfahrtsphilosoph. Tolstoi ist – man verzeihe mir das Wort, es gibt heute kein bezeichnenderes, er ist Entente, er ist, ohne eben ‚Westler‘ zu sein, der Repräsentant der russischen Demokratie, das west-östliche Bündnis von heute rechtfertigt sich geistig in ihm, – in Dostojewski rechtfertigt es sich nicht.“114
Ähnlich im Untergang des Abendlandes: Auch hier wurde Tolstoi mit dem Westen und letztlich auch mit dem bolschewistischen Umsturz115, Dostojewskij hingegen mit dem wahren, tief innerlichen und religiösen Russland identifiziert. So dass sich der Einfluss Moellers nicht zuletzt auch bei Spengler bemerkbar machte. Schließlich schrieb dieser unter anderem: 111
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Vgl. auch Harald Bluhm, Dostojewski und Tolstoi-Rezeption auf dem „semantischen Sonderweg“. Kultur und Zivilisation in deutschen Rezeptionsmustern Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Politische Vierteljahresschrift, 40. Jg. (1999), Heft 2, S. 305–327. Zur Kenntnisnahme der Einführungen vlg. auch: Herbert Lehnert u. Eva Wessel, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns „Wandlung“ und sein Essay Goethe und Tolstoi, Frankfurt am Main 1991, S. 61–73. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, zitiert nach: Ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt am Main 1960, Bd. 12, S. 48. Ebd., S. 47. Ebd., S. 533. Entsprechend: „Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. [...] Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand, ‚aufgeklärt‘ und ‚sozial gesinnt‘. [...] Sein Haß gegen den Besitz ist nationalökonomischer, sein Haß gegen die Gesellschaft sozialethischer Natur; sein Haß gegen den Staat ist eine politische Theorie. Daher seine gewaltige Wirkung auf den Westen. [...] Tolstoi ist nur ein Revolutionär. Von ihm allein, dem echten Nachfolger Peters, geht der Bolschewismus aus“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 12. Aufl., München 1995, S. 792 f).
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„Tostoi ist das vergangene, Dostojweski das kommende Rußland. [...] Seine ‚Dämonen‘ waren in der russischen Intelligenz als konservativ verschrien. Aber Dostojewski sieht diese Konflikte gar nicht. Für ihn ist zwischen konservativ und revolutionär überhaupt kein Unterschied: beides ist westlich. Eine solche Seele sieht über alles Soziale hinweg. Die Dinge dieser Welt erscheinen ihr so unbedeutend, daß sie auf ihre Verbesserung keinen Wert legt. Keine echte Religion will die Welt der Tatsachen verbessern. Dostojewski wie jeder Urrusse bemerkt sie gar nicht; sie leben in einer zweiten, metaphysischen, die jenseits der ersten liegt. Was hat die Qual einer Seele mit dem Kommunismus zu tun? Eine Religion, die bei Sozialproblemen angelangt ist, hat aufgehört, Religion zu sein. [...] Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskis [...]. Er ist selbst ein Stück Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen, einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, sie würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben.“116
6.4. „Das Recht der jungen Völker“ Von den militärischen Erfolgen im Osten beeindruckt, schien Moeller bis zuletzt an einen deutschen Sieg auch im Westen geglaubt zu haben. Erst zu Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen (Oktober 1918) war dieser Optimismus der Einschätzung gewichen, dass nunmehr nur noch ein moderater Verständigungsfrieden zu erreichen sei. Erstes Zeugnis der neuen Einsichten ist ein Beitrag mit dem Titel Das Recht der jungen Völker, der im November 1918 in der Deutschen Rundschau erschien. Dieser wurde von Moeller unter Berücksichtigung der von v. Haeften ausgegebenen Richtlinien für eine „politische Offensive“117 zu einer Broschüre von 117 Seiten erweitert, die im Frühjahr 1919 im Piper-Verlag herauskam.118 Bevor Moeller jedoch diese Schrift abschließen konnte, traten zwei Ereignisse ein, die die ursprüngliche Absicht der Arbeit, den „feindlichen Kriegswillen [zu] schwächen“119 und den argumentativen Rahmen für einen für Deutschland möglichst vorteilhaften Friedensschluss zu schaffen, hinfällig machten. Zum einen waren die Westmächte Deutschland zuvorgekommen, indem sie Wilsons 14-Punkte-Programm zur Richtlinie der Friedensverhandlungen erklärten. Zum anderen zeichnete sich noch vor der endgültigen Fertigstellung der Schrift ab, dass Frankreich und England Teile des Wilson-Programms missachten und einen „Vergeltungsfrieden“ durchsetzen würden. In diesem Sinne war es nun auch für Moeller vorteilhaft, den amerikanischen Präsidenten an sein Versprechen eines gerechten Friedens zu erinnern. Moeller zi116 117
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Ebd., S. 792 ff. Vgl. Vorschlag des Obersten v. Haeften vom 3. Juni 1918 für eine deutsche politische Offensive, in: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918. Vierte Reihe im Werk des Untersuchungsausschusses, 2. Bd., Berlin 1925, S. 339–344, hier 339. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919. Vgl. Vorschlag des Obersten v. Haeften vom 3. Juni 1918 für eine deutsche politische Offensive, in: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918. Vierte Reihe im Werk des Untersuchungsausschusses, 2. Bd., Berlin 1925, S. 339–344, hier 339.
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tierte Woodrow Wilson mit den Worten: „Mein Programm enthält nichts, was die Größe Deutschlands beeinträchtigt“120, wiewohl ihm die Diskrepanz zwischen dem was er, Moeller, bzw. der amerikanische Präsident darunter verstand, nicht entgangen sein kann. Besonders deutlich ist der Gegensatz im Punkt VIII des 14-Punkte-Programms, in dem Wilson Elsass-Lothringen als ein französisches Gebiet definiert, das zu befreien und wiederherzustellen sei, eine Forderung, die dem von Moeller propagierten Recht der jungen Völker und dem darin formulierten „Anspruch auf Leben“121 diametral widersprach. Denn das von Moeller beschworene „Rechtsbewußtsein“122 beruhte auf der Annahme, dass die Deutschen ein in jeglicher Beziehung wachsendes Volk seien, sie somit 1914 im Grunde einen Anspruch auf ein größeres Territorium gehabt hätten: „Wir selbst sind, als Deutsche, ein junges Volk. Wir sind es, weil wir das Volk einer starken Vermehrung blieben und das Volk einer gesteigerten Lebensfähigkeit wurden. Hier liegt, mit allen Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben, das einzige Recht, das wir je geltend gemacht haben und das wir künftig geltend machen werden.“123
Tatsächlich war in Deutschland zwischen 1880 und 1914 das Bevölkerungswachstum ungleich höher als beispielsweise in England oder Frankreich (50,4% gegenüber 27,5 bzw. 6,4%)124, wie auch die Industrieproduktion Deutschlands diejenige der europäischen Konkurrenten in dem fraglichen Zeitraum weit hinter sich gelassen hatte.125 Entsprechend populär wurde in diesem Zeitraum die Forderung des Reichskanzlers von Bülow nach einem deutschen „Platz an der Sonne“ (vgl. 4.1.8.) Man glaubte, damit lediglich einen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck zu bringen: Je leistungsfähiger die Wirtschaft eines Landes, je größer seine Bevölkerung, desto größer sollte auch sein internationaler Rang als Nationalstaat sein. Während allerdings der Reichskanzler gut zwanzig Jahre zuvor „niemand[en] in den Schatten stellen“126 wollte, suchte Moeller nun seinen Lesern plausibel zu machen, dass am Vorabend des Ersten Weltkrieges sich „junge“ und „alte“ Völker in einer Konkurrenzsituation unversöhnlich gegenübergestanden hätten. Diese sei dadurch gekennzeichnet gewesen, dass insbesondere das „junge“, fruchtbare und arbeitsame Deutschland von den inzwischen weniger leistungsfähigen „alten“ und arrivierten Engländern und Franzosen in seiner „natürlichen“ Entwicklung wie in seinem „Ausbreitungsbedürfnis“127 behindert worden sei. Da sie Deutschland beispielsweise keine Kolonien und 120 121 122 123 124 125 126 127
Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 7. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 7. Vgl. Eric J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt am Main, New York 1989, S. 427. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, 1. Bd. Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1992, 1. Bd. S. 287 f. Bernhard Fürst von Bülow, Fürst von Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik, hg. von Johannes Plenzer und Otto Hötzsch, Bd. 1, Berlin 1907, S. 70. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 20.
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Märkte überlassen hätten, seien es letztlich die „alten“ Völker gewesen, die den Weltkrieg provozierten: „Aus Arbeit wurde Krieg. Aus dem Neide der alten Völker gegen die jungen Völker der Weltkrieg.“128 Seinen Niederschlag hat der das deutsche „Rechtsempfinden“ begründende Selektionsoptimismus Moellers ferner in der Beurteilung des Kriegsverlaufes gefunden. Demnach hätten die „jungen“ Völker – Deutschland wie die mit ihm verbündeten „kleinen Nationen“ (Bulgarien und Finnland, die Moeller durchweg als „werdende Völkerpersönlichkeiten“129 schildert) – nur von einer im Grunde widernatürlichen Koalition um den „gerechten“ Sieg gebracht werden können, wie es umgekehrt auch „wider alle Natur“ wäre, wenn „die große geistige Auseinandersetzung der alten und jungen Völker“ langfristig nicht zugunsten der jungen Völker entschieden werden würde.130 Schließlich diagnostizierte Moeller, dass schon „[...] während des Krieges, [...] in unseren [westeuropäischen] Gegnern unterirdische Dinge, Erscheinungen, Zersetzungssysteme für uns mitkämpften, die aus Brüchen und Rissen ihrer Weltauffassung kamen, die sich selbst wieder in den Brüchen und Rissen ihrer Lebenskraft fortsetzten: in der Bedrohung durch schwindendes Volkstum, in der Furcht schwindender Weltstellung“.131
Während also die seiner Ansicht nach typisch westliche gesellschaftliche Desintegration von ihm als Ankündigung sinkender Verteidigungsbereitschaft gedeutet wurde, sah Moeller sich und sein „Prinzip der jungen Völker“132 durch das Kriegsgeschehen insofern bestätigt, als der „alte“ Westen nur durch die Unterstützung „junger“ Völker vor dem sicheren Untergang bewahrt werden konnte: „[...] nicht der Westen rettete den Westen. Die Hilfe kam den alten Völkern von den jungen Völkern selbst.“133 Überzeugt davon, dass Deutschland, so wie es Russland inzwischen geschlagen hatte, auch Frankreich und England hätte besiegen können, wurde der Kriegseintritt der USA bzw. die erfolgreiche französische und britische Propaganda von Moeller zum kriegsentscheidenden Moment erklärt.134 Sie habe es beispielsweise vermocht, bei 128 129 130 131 132 133 134
Ebd., S. 21. Ebd., S. 24. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, in: Deutsche Rundschau 45. Jg., Heft 2, November 1918, S. 220–235, hier S. 220. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 43. Nach dem Kriege würdigte Moeller insbesondere die Arbeit des von Lord Northcliffe geleiteten Amtes für Feindpropaganda [Department of Enemy Propaganda] als innovativ und vorbildlich. Demnach hatte die „Erfolgskraft“ der britischen Feindpropaganda in den durch Sir Campell Stuarts Secrets of Crewe House (1920) überlieferten funktionalen Grundsätzen Northcliffs gelegen: „Aufgabe der P. [lies Propaganda] sei, so heißt es, eine Sache so darzustellen, daß andere durch diese Darstellung in ihrem Urteile beeinflußt werden. Als Vorbedingung dieser Wirkung wird genannt: die Schaffung einer günstigen Atmosphäre, die durch die Beharrlichkeit, mit der immer wieder die gleichen Gesichtspunkte vorgebracht werden, schließlich erreicht wird. Diese Vorbedingung der P. hat selbst wieder zur Voraussetzung eine
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dem eigentlich „jungen“ amerikanischen Volk ein „angelsächsisch[es] Gemeinschaftsempfinden“ zu begründen, welches zunächst den „Engländern ihren Blokkadewillen durchliess“, während es „den Deutschen ihre Seekriegführung verwehrte“135, bis die Amerikaner zuletzt an der Seite der Entente in den Krieg eintraten. Interessanterweise verzichtete Moeller in Das Recht der jungen Völker darauf, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg als notwendige und adäquate Reaktion auf die in ihrer Wirkung auf die deutsche Zivilbevölkerung zweifellos auch unmenschliche englische Blockade zu rechtfertigen. Moeller verlegte sich stattdessen darauf, der alliierten Propaganda ihre normative Kraft zu nehmen. Daher warf er den Alliierten beispielsweise eine Instrumentalisierung der Idee der Menschenrechte vor. Aus der „zweifelhafte[n] Forderung von Menschenrechten“, so Moeller, habe „die politische Kriegführung des Westens [...] einen Werberuf für die Parteiinteressen“ gemacht, „dessen sich die Parteigruppe der Westmächte für ihre Zwecke bediente“.136 Mit dieser Argumentationsweise ist zugleich die Blaupause für Moellers nunmehrigen Kampf gegen die „Ideen des Westens“ gegeben. Einerseits suggerierte er, dass Deutschland im Grunde nichts unternommen habe, um die öffentliche Meinung im Ausland zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Anderseits behauptete Moeller, dass die um universale Geltung bemühte alliierte Propaganda, da sie sich allzu häufig und allzu eigennützig der Ideen der Aufklärung bediente, „die Entartung der Ideen“137 vorangetrieben und also ihre Entwertung beschleunigt habe: „Die Idee wurde zur Reklame.“138 „Freiheit Gleichheit und Brüderlichkeit“ sind demnach inzwischen „lauter bunte phrygische Mützen, die man sich ohne weiteres aufsetzen kann, Papiermützen zwar, die wenig kosten, aber auffallend genug, um sich auf der Straße zu fühlen.“139 Zugleich machte Moeller darauf aufmerksam, dass es vor allem die „alten“ und in-
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Politik, die genau festgelegt ist und weiß, was sie will, die sich auf genaue Kenntnis aller Gebiete, des militärischen, politischen und wirtschaftlichen stützt und vor allem mit der Psychologie des Feindes vertraut ist. Einigermaßen befremdlich klingt die Forderung, die als die erste aller Forderungen für die P. genannt wird: daß immer nur mit der Wahrheit geworben werden darf, immer nur wahrheitsgetreue Grundlagen benutzt werden dürfen. [...] In der Tat hat die P. nur dann die Aussicht, die von ihr beabsichtigte Wirkung zu erreichen, wenn sie zum mindesten mit Glaubwürdigkeiten arbeitet. Es besteht keine Aussicht, einen Menschen oder ein Volk von irgendwelchen Gesichtspunkten zu überzeugen, wenn dieser Mensch oder dieses Volk den Augenschein des Gegenteils vor sich hat. [...] Aber es ist möglich, aus solchen Dingen in unserer Vorstellung eine Wirklichkeit zu machen, die selbst einen Schein von Möglichkeit hat. Man kann ein Pünktchen Wahrheit dehnen und breittreten und auswachsen machen, bis der andere außer ihm nichts mehr sieht. Diese Kunst, die mit der ‚Wahrhaftigkeit‘ nicht das geringste zu tun hat und doch wiederum der Wahrheit nicht ganz widerspricht, ist von den Northcliffeleuten mit dem bekannten Erfolge geübt worden.“(Moeller van den Bruck, Propaganda, in: Politisches Handwörterbuch. Unter redaktioneller Mitwirkung von Kurt Jagow hg. von Paul Herre, Bd. II, Leipzig 1923, S. 387). Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 74. Ebd., S. 53. Ebd. Ebd., S. 56. Ebd., S. 50.
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zwischen entwerteten „Zeitideen des neunzehnten und achtzehnten Jahrhunderts“140 waren, auf die sich die alliierte Propaganda bezogen habe. Als bereits „fertige“ Ideen seien diese zwar einerseits „fertige Form und sehr bald überfertige Formel, mit der [erfolgreich] geworben werden kann“.141 Anderseits zeige sich jedoch in dem fortgesetzten und inflationären Gebrauch der „längst bloßgestellten Schlagworte der politischen Bourgeoisie“142 auch die mangelnde Bereitschaft der „alten“ Völker des „Westens“, sich der Herausforderung durch das „junge“ Deutschland zu stellen. War die Intensität, mit der sich Moeller der „verwüstende[n] Propaganda“143 der Alliierten widmete, vor allem der Annahme geschuldet, dass Deutschland den Krieg „eigentlich“ hätte gewinnen müssen, so wird sein Anspruch, in der Stunde der Entscheidung über die Bedingungen des Friedens für sein „junges“ und aufstrebendes Volk zu sprechen, vor allem in der Rhetorik der Broschüre deutlich. In Erwartung vor allem französischer Gebiets- und Entschädigungsansprüche befürchtete Moeller, die Wortführer der „alten“ Völker könnten „durch dieselbe Verkrustung der westlichen Moralbegriffe, die den Krieg vier Jahre lang begleitete, auch noch den Frieden zu rechtfertigen“ suchen, „mit dem man uns vergewaltigen will“.144 Dem entgegen begann Moeller, da er das Bild von den „jungen“ „Völkern ohne Raum“ evozierte145, den Inhalt des 14-Punkte-Programms zu kritisieren. Gegen Wilsons Forderung, das „Frankreich von Preußen im Jahre 1871 hinsichtlich Elsaß-Lothringen angetane Unrecht“ solle „wieder gutgemacht“ werden (Punkt VIII der Vierzehn Punkte vom 08.01.1918)146, wandte Moeller ein, dass dieses von Wilson benannte „‚Unrecht‘ selbst ein älteres Unrecht wieder gut machte, das einst Deutschland zugefügt worden war“, nun „Recht wider Unrecht, Unrecht wider Recht“ stehe und niemand zu sagen wisse, was in dieser Sache noch Recht ist.147 Um einen deutschen Anspruch auf das Elsaß untermauern zu können, behauptete er dessen „innere Zugehörigkeit“ zu Deutschland, wobei er seine These, dass das Elsaß ein wesentlich „deutsches Problem“148 sei, vor allem kulturell begründete: „Elsässische Geschichte ist deutsche Geschichte. Sie ist süddeutsche Geistesgeschichte, von Erwin bis Goethe. Diese Zusammengehörigkeit hat auch durch die zweihundert Jahre französischer Herrschaft nicht gelöst werden können.“149 Analog aber mit deutlich kulturimperialistischem Unterton verfuhr Moeller mit Punkt XIII des Wilson-Kataloges (Schaffung eines pol140 141 142 143 144 145 146
147 148 149
Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Ebd., S. 54. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 100. Zitiert nach: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart (hg. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler), Berlin o. Jg., 2. Bd., S. 375. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82.
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nischen Staates). Da „Danzig wie Bromberg und Thorn [...] unzweifelhaft deutsche Städte“ seien und auch Posen einen deutschen „Zivilisationscharakter“ habe, würde der künftige polnische Staat „in einem Teile einen unzweifelhaft unpolnischen Charakter haben“.150 Schlussendlich war es aber vor allem Punkt VI, der Moellers Widerstand hervorrief. Dabei begegnete er der Forderung nach einer „Räumung des ganzen russischen Gebietes“151 mit dem Einwand, dass der Frieden von Brest-Litowsk „an keiner Stelle auf Kosten von russischem oder auch nur orthodoxem Gebiet abgeschlossen“ sei152, nach seinem Dafürhalten es also kein russisches Gebiet gebe, das geräumt werden könne. Darüber hinaus suchte Moeller den alliierten Verdacht, dass es sich bei dem Abkommen von Brest-Litowsk um einen annexionistischen Machtfrieden handle, zu entkräften, indem er gemäß den von v. Haeften vorgegebenen Richtlinien153 die Sicherstellung der Souveränität der „Einzelstaaten, von Finnland bis hinunter zur Ukraine“154 versprach. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass Moeller „den Völkern des Ostens“ tatsächlich „die Freiheit verwirklichen“ wollte.155 Schließlich gab er den Westmächten zu bedenken, dass diese „armen und hilflosen Kleinstaaten [...], sobald man sie sich selbst überläßt, ohne Deutschland nicht auskommen werden“.156 Weil zudem die fortgesetzte deutsche „Kulturwirkung“ insbesondere in den baltischen Provinzen nicht bestritten werden könne, war es nach Auffassung Moellers nur legitim, den bei der „Bannung der Weltrevolution“157 eventuell hilfreichen Deutschen nunmehr deren „Kolonisation in ihrer modernen Form organisatorischer Durchdringung“158 zu gestatten, statt sie „wieder den Russen auszuliefern“.159 Da Moeller also offen die Eingliederung des Baltikums in einen deutschen Herrschaftsbereich forderte, wird deutlich, worauf seine Argumentation insgesamt zielt. Ein den Vorkriegsstatus wiederherstellender und daher vorgeblich moderater
150 151
152 153
154 155 156 157 158 159
Ebd., S. 84. Zitiert nach: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart (hg. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler), Berlin o. Jg. 2. Bd., S. 375. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 104. In Bezug auf Gebietsregelungen in Osteuropa hatte von Haeften formuliert: „a) Das Ziel unserer Ostpolitik ist nicht die Vergewaltigung der Randstaaten, sondern die Sicherstellung ihrer staatlichen Freiheit und Ordnung. b) Schutz der unterdrückten osteuropäischen Völker gegen die zerstörenden Kräfte des Bolschewismus, Sicherstellung der großen moralischen und wirtschaftlichen Werte, die im Osten Europas zum Teil zerstört worden sind, zum Teil völlig brach liegen. Deutschlands Recht und Pflicht hier im Namen Europas Ordnung und Freiheit zu schaffen“ (Vorschlag des Obersten v. Haeften vom 3. Juni 1918 für eine deutsche politische Offensive, in: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918. Vierte Reihe im Werk des Untersuchungsausschusses, 2. Bd., Berlin 1925, S. 339–344, hier 341). Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 104. Ebd., S. 87. Ebd., S. 84 f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 86. Ebd., S. 84 f.
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Verständigungsfriede im Westen sollte durch die angeblich unabdingbare Ausdehnung Deutschlands nach dem Osten kompensiert werden. Obgleich die Bedingungen des Vertrages von Versailles zum Zeitpunkt des Entstehens der Broschüre Moeller noch nicht in Gänze bekannt sein konnten, schien ihm wohl ein über die Wilson-Bedingungen hinausgehender „Frieden der Vergewaltigung“160 wahrscheinlicher als der von ihm erträumte „gerechte“ Friede. In einem Brief an Hans Grimm hieß es dazu: „Das Buch [Das Recht der jungen Völker] rechnet scheinbar mit einem Wilson-Frieden. Aber es rechnet im Untergrunde schon mit der Wirklichkeit, daß es diesen Wilson-Frieden niemals geben wird.“161 Im Horizont solcher Analyse wird klar, warum Moeller der alliierten Propaganda zuerkannte, den Weltkrieg entschieden zu haben. In seiner Version der „Dolchstoßlegende“ suchte Moeller seinen Lesern plausibel zu machen, dass die Deutschen als ein Volk der „unpolitisch[en]“ Arbeit162 den Krieg nur aufgrund der politischen Kriegführung des Westens verloren hätten: „Wir sind nicht besiegt worden. Aber wir sind überwunden worden.“163 Begünstigt durch seine politische Unerfahrenheit sei es der englischen und französischen Propaganda gelungen, das deutsche Volk an seinem „Rechtsbewusstsein“ zweifeln zu lassen und seine Widerstandskraft zu zerstören: „In den vier Kriegsjahren wurde mit Gründen, um die eine Vernunft nie verlegen sein wird, der es nicht um die Wahrheit in einer allgemeinen Sache, sondern um den Gesichtspunkt der eigenen Partei zu tun ist, so sehr gegen unsere Stellung gearbeitet, daß sie unsicher wurde. [...] Wir hörten immer nur die Kritik, die an uns geübt wurde. Und auch wir lernten, Kritik zu üben, nicht zuletzt die, welche uns immer schon lag: an uns selbst. Während der Krieg seinen Gang ging, haben wir uns in der Muße, die er immer noch ließ, in den Grund kritisiert, bis nichts mehr von uns übrig blieb: haben uns in einem Ausmaße kritisiert, das von dem Augenblicke an gefährlich werden mußte, in dem wir vor lauter Selbstkritik vergaßen, um was es sich für die Nation in diesem Kriege schicksalsmäßig handelte.“164
So steigert Moeller die Suggestionskraft seiner Ausführungen durch die Behauptung einer politischen „Unvorbereitung“, die das deutsche Volk über vier Jahre hinweg „durch eigene Volkskraft, durch natürliche Überlegenheit und persönliche Tapferkeit, durch technische Begabung, organisatorische Vorarbeit und strategische Führung“165 hat ausgleichen können: Erst das die Absichten Englands und Frankreich bemäntelnde Wilson-Programm habe die politisch unerfahrenen Deutschen verleitet, die Waffen niederzulegen: „[...] im Vertrauen auf dieses Programm brachen die jungen Völker die Kriegshandlungen ab und traten in Friedensverhandlungen ein.“166 Somit entstand 160 161 162 163 164 165 166
Ebd., S. 16. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (23.03.1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 115 f.
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der Eindruck, die nunmehr „sich selbst entwaffnete[...] Nation“167 hätte bei hinreichender politischer Bildung weder den Bedingungen Wilsons zugestimmt, noch hätte sie die Waffen niederlegt. Damit verweist Das Recht der jungen Völker zugleich auf die Triebkräfte von Moellers weiterer politisch-publizistischer Tätigkeit. Als Nationalpädagoge, sah er sich durch den „Erziehungskrieg“168 und durch den „Frieden der Vergewaltigung“ in dem Vorhaben der politischen Ausbildung seiner Landsleute bestätigt.
167 168
Ebd. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (23.03.1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N.
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7.1. Revolution Moeller sah sich durch die Niederlage in seinen Hoffnungen einer deutschen Vorherrschaft in Europa getäuscht, doch trauerte er dem Kaiserreich nicht nach. Im Gegenteil, er begrüßte die Novemberrevolution, auch wenn er sie schon am 9. November „eine Revolution ohne Enthusiasmus“1 nannte. Ein an Hans Grimm gerichtetes Schreiben verdeutlicht, dass Moeller wenige Tage nach den Ereignissen die Revolution und die Niederlage als förderlich für die Nationalerziehung betrachtete. „Lassen Sie mich mit der Summe beginnen, die wenigstens in unserer Lage nur geistig zu fassen ist. Sie heißt mit einem Worte Vertrauen – Vertrauen trotz Weltkrieg und Weltrevolution zu unserer Zukunft [...]. Der Sinn aller dieser Ereignisse ist doch der, daß sie uns zur Nation erziehen sollen. Und ich kann mir wohl denken, daß wir diesen Ereignissen noch einmal sehr dankbar sein werden. Sie haben so ungeheuer viel freigemacht, und zwar alle unterschiedslos. Ich wenigstens möchte, wenn ich mich ernsthaft prüfe, keines von ihnen rückgängig gemacht haben. Und so empfindet, glaube ich, die ganze Nation, die sozialistische und schließlich auch in ihren jüngeren Elementen die konservative. [...Es] steckt eine gewisse Wahrheit darin, daß wir unbesiegt sind. Und diese Wahrheit müssen wir politisch fruchtbar machen.“2
Die Menge sei zwar oberflächlich wie immer, so Moeller weiter, aber „die Einzelnen“ seien sehr besonnen geworden. So verdeutlicht schon dieses frühe Schreiben, dass Moeller das Vertrauen auf die charismatische Werbekraft der „Einzelnen“ zur 1
2
Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693. Hans Grimm hat als Kollege Moellers in der OLHA das gemeinsame Revolutionserlebnis wie folgt geschildert: „Die Symptome des deutschen Verfalls wurden uns auf dem Dienstwege alle paar Tage offenbar. Ich rechnete zu den Symptomen, daß bei uns Gestalten auftauchten, die wir alle von ihrem Erscheinen an für schwankend hielten. Wir erfuhren bald wöchentlich von der großen und wachsenden Zahl der Deserteure, die sich in Berlin bei bekannter Anschrift verborgen hielten und gegen die nichts mehr unternommen wurde, um Aufsehen zu verhindern. Wir sahen von unserer Arbeitsstätte aus jenen ersten Aufmarsch Unter den Linden in der Richtung des Schlosses, der von blauer Polizei unter Gewehr mühsam abgedrängt wurde. Ich erinnere mich schließlich mit Entsetzen an jenen Tag, an welchem ich vormittags auf dem Gange vor der Grade-Füselier-Kaserne die ersten Verhaftungen von Offizieren durch aufständische Rekruten mit ansah. Zwei Stunden später ließ die Leitung unserer Stelle erklären: ‚Die Herrn können nach Hause gehen.‘ Als Moeller van den Bruck und ich noch blieben, bekamen wir um Mittag den Befehl: ‚Die noch anwesenden Herren gehen nach Hause!‘“ (Hans Grimm, Warum – Woher – Aber Wohin? Vor, unter und nach der geschichtlichen Erscheinung Hitler, Lippoldsberg o. Jg. (um 1955), S. 95). Moeller van den Bruck an Hans Grimm (20. Januar 1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N.
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Basis des erzieherischen Konzepts auch der Nachkriegszeit zu machen gedachte: „Und von den Einzelnen wird schließlich eine Wirkung auch auf die Menge ausgehen. Der Sinn dieser Ereignisse ist doch der, daß sie uns zur Nation erziehen sollen.“3 Auf die „Erziehung zur Nation“4, so Moeller in Anspielung auf eine Vorkriegsschrift gleichen Titels, komme es an. Resultierten Zusammenbruch und Revolution doch nicht zuletzt auch aus einem Defizit an nationalem Bewusstsein. So ist, auch wenn Moeller einräumte, dass die Lage der Nation sich durch Krieg und Revolution keineswegs gebessert hatte, unüberhörbar, dass er sich durch die jüngsten politischen Ereignisse bestärkt fühlte. Durch sie, so erkannte er, würden die Restbestände des von ihm verachteten wilhelminischen Reiches gänzlich vernichtet werden. Zuversichtlich, dass nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung ihm, dem verkannten Mahner und Visionär, in einem stärkeren Maße als bisher Gehör geschenkt werden würde, verfasste er einen Artikel, in dem er den Außenseiter und somit nicht zuletzt sich selbst als über den Parteien stehende neue politische Kraft präsentierte: „Es handelt sich um den Menschen, der nicht Partei sein kann.“5 Dieser zum politischen Seher und Garanten des Gesamtinteresses erhobene Außenseiter wurde von Moeller als gegenidentifikatorischer Typus sowohl zum „Normaldeutschtum“ des Kaiserreiches6 als auch zum „Übereinkünftler“ der Mitte und dem „Kompromißlertum“ der in den Parteien organisierten „Masse“ vorgestellt. Als Nachfahre vorbildlicher historischer Außenseiter – Moeller nannte den Freiherrn vom Stein, Friedrich List, Fichte, Julius Langbehn, Paul de Lagarde, Bismarck und Friedrich Nietzsche – schien er anders als die den partikularen Interessen verpflichteten Parteien in der Lage, die Nation aus der Krise zu führen: „Außenseiter dagegen setzen den Hebel von dem Standpunkt aus an, von dem her sie dem Ganzen nahen: aber so, daß er die Mitte trifft und das Ganze in Bewegung bringt – oder auch, in Zeiten der Revolution, das Ganze zur Ruhe und in die Stetigkeit zwingt.“7 Mit diesem Beitrag wurde der bis dato durch das wilhelminische System blockierte Führungsanspruch offen als solcher proklamiert. Von der kriegerischen Gestalt des Feldherrn spannte Moeller den Bogen hin zu den Führungsfiguren der Nachkriegszeit. Dem heroischen Außenseiter wurde überdies ein erlösungsbedürftiges und bereites Volk an die Seite gestellt: „Die Zeit für den Feldherren ist vorüber. Aber die Zeit für den Volkswirt, für den Staatsmann, für den Außenseiter auch hier, der auf seinen Augenblick wartet, wie das Volk auf ihn wartet: für den Menschen, der seine persönliche Sehweise mitbringt und seine Person für seine Sache einzusetzen, ist bereit.“8 Die Situation von Niederlage und revolutionären Wirren erschien aus Moellers Perspektive als Machtchance peripherer Künstler- und Intellektuellengruppen, die im Gegensatz zu den doktrinären und handlungsunfähigen Parteien Orte der Sammlung und Zentren der Tat werden könnten: 3 4 5 6 7 8
Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Der Außenseiter, in: Der Tag, 15. Januar 1919. Ebd. Ebd. Ebd.
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„Zum ersten Male in unserer Geschichte erleben wir, daß Außenseiter [...] das Ganze wollen, das ihnen bis dahin vorenthalten war. Die Verhältnisse sind vertauscht, und von den Parteien her, die den Anspruch auf Vertretung des Ganzen erhoben, kommt jetzt die Gefahr einer Zersetzung des Ganzen.“9
7.2. Im „Juni-Klub“ 7.2.1. Was ist der „Ring“? Moellers Porträt des Außenseiters erscheint aus heutiger Perspektive als Link zwischen der Ästhetischen Opposition des Kaiserreichs und dem rechst-oppositionellen Lager der Weimarer Republik, das sich seit Kriegsende in der sich als „Gemeinschaft der Gemeinschaften“10 verstehenden Ring-Bewegung sammeln sollte. Ihren Ursprung hatte diese dem „Ideal leibhafter Volksgemeinschaft“11 verpflichtete „Kampfgemeinschaft“12 in der Deutschen Kriegspropaganda. So hatte sich der mit Moeller am Montagstisch verkehrende baltendeutsche Publizist Max Hildebert Boehm seit 1918, beauftragt von der OHLA, in der Schweiz aufgehalten, um dort vor allem die lettische Propaganda zu beobachten und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Durch ihn lernte Moeller Heinrich von Gleichen-Rußwurm kennen. Von Gleichen-Rußwurm leitete während des Krieges den in enger Beziehung zur deutschen Kriegspropaganda stehenden Bund deutscher Gelehrter und Künstler, dem rund tausend Persönlichkeiten des geistigen und politischen Lebens angehörten – unter ihnen Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Ulrich von WilamowitzMoellendorff, Max Planck, Alfred Weber und Thomas Mann. Der Bund verfolgte den Zweck, „für die geistigen Güter Deutschlands einzutreten“, die „Vertreter deutschen Geisteslebens zu einheitlichem Wirken im Dienste des Vaterlandes zusammenzufassen“. Er fungierte aber auch als eine „korporative Vertretung“ der „geistigen Interessen“ seiner Mitglieder. Auch sollten Kontakte zu „gleichstrebenden Kräften“ im befreundeten Ausland geknüpft und im übrigen Ausland „für die Stärkung des Ansehens deutscher Geistesarbeit“ eingetreten werden.13 Gleichen selbst war dabei ein Mann, der seine scharf kritische Einstellung gegenüber den inneren Zuständen im Kaiserreich schon vor Kriegsbeginn publik gemacht hatte und dabei auch in enger Beziehung zur Ästhetischen Opposition stand. In einem Essay zur gesellschaftlichen Bedeutung politischer Salons kam er beispielsweise zu 9 10 11 12 13
Ebd. Anonym, Der Ring, in: Das Gewissen, 1. Jg. Nr. 34, 03.12.1919. Ebd. Vgl. Moeller van den Bruck (anonym), Was ist der Ring: Merk- und Werbeblatt, in: Das Gewissen, 2. Jg., Nr. 49, 12.12.1920. Satzung des Bundes deutscher Gelehrter und Künstler, BA Koblenz, Deutsches AuslandsInstitut, R57 neu 1004–12.
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dem Ergebnis, „[...] daß die Zeit gekommen ist, in der Literaten Künstler oder sonst gebildete Leute die Gleichgültigkeit abwerfen und keine Scheu spüren, von Dingen zu sprechen, die sie schließlich doch näher angehen als der Roman des Tages oder ein beliebiger Klatsch“.14 Gleichwohl sei es „ein gefährliches Spiel, in einer politisch unreifen Nation [...] mit ernsten Tagesfragen das gesellige Leben zu beschweren [...]. Aber unter reifen denkenden Männern wie Frauen erstarkt das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit [...].“15 Zudem hatte er in einer Art von figuriertem Essay eine Krisendiagnose gestellt. Seine Kritik an den Zuständen im Reich mündete in die Zeilen: „Hier fehlen die Lotsen der Gefahr. Und das Schiff, dessen Steuer eine Mechanik bewegte, zerschellt in der Woge der Brandung.“16 Das Reich, so führte von Gleichen an anderer Stelle aus, sei in seiner inneren Entfaltung sowohl durch den fehlenden einheitlich-nationalen Charakter wie auch durch wirtschaftliche und kulturelle Spaltungsvorgänge gehindert worden. Das deutsche Volk sei von einer inneren Zerrissenheit beunruhigt, und die Pflichtmomente im Volksleben hätten sich abgeschwächt. Der demokratischen Entwicklung des Reichsgedankens erteilte Gleichen eine Absage. Gegenüber altkonservativen Positionen setzte er die Hoffnung in eine planvolle Erziehungsarbeit, um über lokale und stammesmäßige Identitätsstiftungen affektive Bindungen im konservativen Sinn zu erzeugen.17 Zu der von Gleichen im Oktober 1918 gegründeten, nur etwa 20 Mitglieder starken Vereinigung für nationale Solidarität18 stieß wiederum der Elsässer Eduard Stadtler. Stadtler hatte in Straßburg bei dem Historiker Martin Spahn, dem Sohn des Zentrumspolitikers Peter Spahn, studiert und war daraufhin in der Jugendarbeit der Zentrumspartei tätig gewesen. 1917 war er in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Aus dieser 1918 entflohen, erlebte er die Frühphase des bolschewistischen Staates in Moskau, wo er im Auftrag des deutschen Generalkonsulates eine Pressestelle aufbaute und auch der deutschen Botschaft zuarbeitete.19 Nach seiner Rückkehr galt er als Experte für das bolschewistische Russland, das heißt, er wurde zu einem bekannten Antibolschewisten, der im Dezember 1918 mit finanzieller Unterstützung von Friedrich Naumann und namhaften deutschen Unternehmen (Deutsche Bank, Siemens, Borsig, Stinnes) ein Generalsekretariat zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus und im Frühjahr 1919 die überaus wirkungsmächtige Antibolschewistische Liga gründen konnte.
14 15 16 17 18 19
Heinrich von Gleichen, Politik und Geselligkeit, in: Die Güldenkammer, 2. Jg., Heft 5, Februar 1912, S. 265 –272 hier 271. Ebd., S. 271 f. Heinrich von Gleichen, Sturmvögel, in: Nord und Süd, 37. Jg., Nr. 460, Januar 1913, S. 117– 124, hier 124. Vgl. Heinrich von Gleichen, Der Reichsgedanke, in: Grenzboten, 73. Jg.; Nr. 5, Berlin 04.02.1914, S. 193–197. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 45 ff. Vgl. Eduard Stadtler, Als politischer Soldat 1914–1918, Düsseldorf 1935, S. 114 ff.
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Eigenen Angaben zufolge hatte Stadtler am 09.01.1919 vor über 1000 Studenten der Berliner Universität gesprochen.20 Zu einem Vortrag am 23.01.1919 waren „vor allem eine beträchtliche Zahl Herren der Ministerien, Prominente der Wissenschaft und Wirtschaft“21 erschienen. Im März 1919 kamen Reden auch vor Parteiforen der Deutschnationalen Volkspartei, des Zentrums und der Demokratischen Partei hinzu.22 Am 10.01.1919 kam es zu einem Treffen mit Vertretern der Wirtschaft, unter anderem mit Hugo Stinnes, Albert Vögler, Ernst Borsig, Geheimrat Deutsch und dem Bankier Mankiewitz, das mit der Bewilligung von 500 Millionen Mark für Stadtlers Tätigkeit endete und diesem neue Kontakte vermittelte, von denen diejenigen zu Hugo Stinnes und Albert Vögler auch mittelfristig von Bedeutung sein sollten.23 Generalsekretariat und Liga sollten sich gemäß den Vorstellungen ihres Gründers Stadtler jedoch keineswegs auf eine rein negative Gegenpropaganda beschränken. Der von Heinrich von Gleichen gegründete „Solidarier-Kreis“, der als „eine Art geistig-politische Geheimgruppe“ sowohl hinter dem Generalsekretariat wie auch hinter der Liga stand und mit beiden „in Personalunion intim verbunden“ war, erhoffte sich vielmehr Instrumente zur Propagierung der eigenen „deutsch-sozialistischen“ Vorstellungen.24 Dies führte jedoch notwendig zum Konflikt mit den Geldgebern aus der Wirtschaft. War es doch vor allem die Angst vor der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die deutsche Wirtschaftsführer dazu bewegte, den Antibolschewisten Stadtler zu unterstützen. Bereits Ende Januar 1919 wurde Stadtler von Geheimrat Deutsch angegriffen und besonders wegen der Propagierung des Rätegedankens scharf kritisiert. Ein von Stadtler verfasstes „Aktionsprogramm“25 vom 10.03.1919 war dann der Anlass für den endgültigen Bruch: Stadtler hatte darin schwere Vorwürfe gegen die Friedenspolitik der Regierung erhoben und die Beseitigung des „Parteienparlaments“26 gefordert. Da jedoch zu diesem Zeitpunkt allein die Nationalversammlung dem erschöpften und von revolutionären Unruhen geschüttelten Land ein Mindestmaß an politischer Stabilität zu garantieren schien (erst die Annahme der als äußerst drückend empfundenen Friedensbedingungen hatte das Vertrauen in die Nationalversammlung nachhaltig erschüttert), konnte Stadtler nicht auf eine Zustimmung rechnen, zumal er weiterhin auf eine „Verankerung des Rätegedankens in der Verfassung“27 drängte. Ende März sah sich Stadtler gezwungen, den Vorsitz der Liga niederzulegen, und auch die Solidarier verließen die Liga. Damit war Stadtler und von Gleichen vorerst die Möglichkeit genommen, gestützt auf großzügige Geldgeber, die Massen für ihre „deutsch-sozialistischen Vorstellungen“28 zu gewinnen. 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Eduard Stadtler, Als Antibolschewist 1918/19, Düsseldorf 1936, S. 44. Ebd., S. 61. Ebd., S. 111. Ebd., S. 46 ff. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 107 ff. Ebd., S. 109. Ebd., S. 107. Ebd., S. 22.
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Prototypisch ist dieser Vorgang insofern, als er zeigt, auf welche Weise man auf Seiten der elitären Rechten mit Hilfe der Organisationsform der „geistig-politische[n] Geheimgruppe“29 politischen Einfluss auszuüben gedachte. Die Geheimgruppe, die sich selbst als eine kompromisslos exklusive „Denkfabrik“ verstand, suchte mittels finanzieller Unterstützung aus der deutschen Wirtschaft eine möglichst breite Sammlungsbewegung zu initiieren, die sich unter ihrer Anleitung gegen das politische System der Weimarer Republik wenden sollte. In diesem Sinne lässt sich auch der Ring als eine vom Juni-Klub begründete Sammlungsbewegung betrachten. Denn der Ring wurde in einer ersten öffentlichen Erklärung (03.12.1919) als eine „freie Gemeinschaft ohne Vereins- und Parteicharakter, ohne Vorstandsausschüsse und Satzungen“30 vorgestellt. Da in dieser Stellungnahme zudem „Parteien und Interessengegensätze“31 als Symptom für den als Zerfallsprozess begriffenen Modernisierungsprozess gedeutet wurden, ist das von der Vereinigung propagierte „Ideal leibhafter Volksgemeinschaft“32 nicht zuletzt als ein Angriff auf die die nationale Desintegration repräsentierenden politischen Parteien zu verstehen. Man betonte: „Alle, die im Ring sich zusammenschließen, vertreten schon heute das Bekenntnis des Ringes innerhalb ihrer Gemeinschaft, innerhalb und außerhalb von Stand und Partei.“33 Ein Jahr später war es dann Moeller selbst, der, „das Gefühl für Gefüge und Gliederung und Einordnung“34 zur deutschen Tugend erhebend, die hierarchischen Züge der Gemeinschaft betonte. Nachdem vor ihm bereits Max Hildebert Boehm in einem Was wir wollen! (17.12.1919) betitelten Aufsatz den „Ring der Bauenden“ zu einer Domäne der „innerlich Jungen“35 erklärt hatte, wurde die Führungsrolle in Was ist der Ring? (12.12.1920) nun einer „jungen“ oder auch „dritten Generation“36 zugeschrieben, das heißt, Moeller suchte seinen Leseren plausibel zu machen, dass die von ihm „dritte Generation“ genannte Gruppe über ein exklusives politisches Wissen verfügte, das sie Revolution und Zusammenbruch voraussehen ließ: „Schon damals gab es Dritte, die Abstand zu den Ereignissen besaßen. Sie sahen voraus, daß das deutsche Volk das betrogene Volk des Weltkrieges sein werde. Sie sagten sich, daß es einen Frieden zu erwarten hätte, an dem es schwer und ganz unabsehbar zu tragen haben würde. Sie erkannten, daß von denen, die diese Revolution angelegt und im Sinne unserer Gegner herbeigeführt hatten, aus Gutgläubigkeit oder Gewissenlosigkeit vergessen worden war, sich Bürgschaften geben zu lassen. Sie selbst gehörten zu denen, die im ersten Augenblicke, als der Weltkrieg sich seinem verhängnisvollen Ausgange zuneigte, den Gedanken 29 30 31 32 33 34 35 36
Ebd. Anonym, Der Ring, in: Das Gewissen, 1. Jg., Nr. 34, 03.12.1919. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Moeller van den Bruck (anonym), Was ist der Ring: Merk- und Werbeblatt, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 49, 12.12.1920. Max Hildebert Boehm, Was wir wollen!, in: Das Gewissen, 1. Jg., Nr. 36, 17.12.1919. Moeller van den Bruck (anonym), Was ist der Ring: Merk- und Werbeblatt, in: Das Gewissen, 2. Jg., Nr. 49, 12.12.1920.
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der Nationalverteidigung faßten. Sie wollten einen Posten nicht räumen, bevor nicht alle Mittel versucht waren, ihn zu halten. Sie waren bereit bis zum äußersten zu gehen.“37
Zudem wurde die leitende Vorstellung von „Jugend“ ihrer Wortbedeutung als Lebensalter völlig entkleidet und als Frage der „Einstellung“38 zu einer der Programmatik des Juni-Klubs entnommenen Chiffre39 für die intellektuelle und affektive Disposition einer in Zukunft maßgeblichen Elite. „Jugend ist für uns keine Frage des Alters, sondern der Einstellung. Der dritten Generation [...] gehört an, wer ihr durch Erlebnis verbunden ist, wer gleich ihr durch die Zeitereignisse hindurchging und mit ihr eine ganz bestimmte Blickrichtung teilt.“40 Moeller suggerierte zwar, dass dieser Elite jeder angehört, der bis zum Ausgang der Revolution ein das „gegenseitige[...] Verstehen“ bestätigendes „Ringerlebnis“41 gehabt habe – was Moeller zufolge nur überzeugten Wilhelminern und Demokraten versagt geblieben sei –, er gab aber einschränkend zu bedenken, dass der „Versuch einer Sammlung über Klassen und Parteien hinweg [...] notwendig auf Führertum“ hinauslaufe: „Einer mußte sein, Viele mußten sein, die uns Alle aus Krieg und Revolution wieder herausführten.“42 Durch diese Hierarchisierung wird deutlich: Der Ring mochte, symbolisch aufgefasst, eine ebenso geschlossene wie segmentierte Sammlungsbewegung gewesen sein. Für seine im Juni-Klub versammelten Initiatoren war er vor allem eine publizistisch-organisatorische Plattform, die man nutzte, um die Ideologie der eigenen „Geheimgruppe“ in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen.
7.2.2. Juni-Klub. Gründung und Zielsetzung Die Geschichte dieser im Vergleich mit den Solidariern langlebigen „Geheimgruppe“ begann im März 1919 mit einer von Hans Roeseler (zu diesem Zeitpunkt in führender Position bei der Deutschen Welle, später Leiter des Propyläen-Verlags) initiierten Zusammenkunft.43 Auf dieser Versammlung, an der außer ihm auch Boehm, von Gleichen und Moeller teilnahmen, wurde die Gründung eines Klubs beschlossen. Zu Beginn der bis zur Jahresmitte 1919 dauernden Gründungsphase konstituierte sich ein Ausschuss mit insgesamt 13 Angehörigen, der den Klub steuerte und dem – neben Boehm, Gleichen, Moeller und Roeseler – Otto de la Chevallerie, Albert Dietrich,
37 38 39 40 41 42 43
Ebd. Ebd. Vgl. Juni-Klub. Die Dreiunddreissig Sätze, in: BA Koblenz, NL Rudolf Pechel (1160) I/144. Moeller van den Bruck (anonym), Was ist der Ring: Merk- und Werbeblatt, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 49, 12.12.1920. Ebd. Ebd. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 56.
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Fritz Ehrenforth, Paul Fechter, Karl Hoffmann, Wilhelm von Kries, Alexander Ringleb, Franz Röhr und Werner Wirths angehörten.44 Diese Kerngruppe des Juni-Klubs bestand aus jüngeren, mehrheitlich journalistisch tätigen Akademikern. Paul Fechter, den Moeller – der einzige Nichtakademiker – schon in die Intellektuellenrunde des „Montagstisches“ eingeführt hatte, war Feuilletonredakteur bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ), Werner Wirths Begründer der Wochenzeitung Das Gewissen. Gleichfalls publizistisch tätig waren Wilhelm von Kries und Fritz Ehrenforth. Karl Hoffmann war ein Mitarbeiter des Richters Alexander Ringleb, der Philosoph Albert Dietrich ein Studienfreund Max Hildebert Boehms. Andere Mitglieder gehörten einflussreichen politischen Verbänden an: Otto de la Chevallerie war Initiator des an der Berliner Universität gegründeten „Hochschulrings deutscher Art“, einer nationalistischen Studentenvereinigung. Franz Röhr war enger Mitarbeiter des christlichen Gewerkschaftsführers Adam Stegerwald.45 Nach der Adresse des ersten Versammlungsortes – der Wohnung Heinrich von Gleichens in der Potsdamer Privatstraße 121i – nannte sich der Klub zunächst der IKlub. Aus Protest gegen den im Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrag von Versailles und in Abgrenzung zum demokratisch geprägten Novemberklub gab man sich im Sommer 1919 den Namen Juni-Klub.46 In der Namensgebung war nach Angaben Max Hildebert Boehms überdies eine chiffrierte Programmatik enthalten: Die Buchstabenfolge „Juni“ stand für „Juvenum Unio Novum Imperium“.47 Die persönlich vertraute Kerngruppe traf sich nahezu täglich. Doch versuchte man bereits in den ersten Monaten, durch öffentliche Veranstaltungen an Einfluss zu gewinnen. Die Versuche blieben allerdings ohne Resonanz, so dass der Klub die Bemühungen der direkten Interventionen zunächst einmal einstellte48 und bis Mitte 1920 als Geheimgruppe fungierte. Wie Berthold Petzinna ausführt, hatte der Klub zunächst einen beinahe „esoterischen Charakter“. Dabei sei die bereits für Moellers Entwicklung zum Nationalisten ausschlaggebende Identitätsproblematik auch im frühen JuniKlub das beherrschende Thema gewesen.49 So waren es vor allem Moellers persönliche Entwicklung und seine charismatische Ausstrahlungskraft, die ihn zur zentralen Führungspersönlichkeit des Kreises werden ließen. In einem von Hans Schwarz verfassten Nachruf heißt es dazu beispielsweise: „Es war Moeller in seltenem Maße beschieden, durch seine Menschlichkeit zu überzeugen. Das stellte ihn abseits von der gewöhnlichen literarischen Wirkung und machte ihn zum
44 45 46 47 48 49
Vgl. Manfred Schoeps, Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Erlangen-Nürnberg 1974, S. 26 f. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 120. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 56. Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, 3. Aufl., Freiburg 1933, S. 30. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 58 f. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 121.
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natürlichen Mittelpunkt des Kreises. [...] er nahm seinen Weg von innen nach außen mit der seherischen Gewißheit des Religiösen.“50
Die herausragende Position Moellers im Juni-Klub wird auch von Max Hildebert Boehm in dem Aufsatz Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde (1932) bestätigt: „Ein gelegentlicher Gast des Juni-Klubs hat einmal die feine Beobachtung gemacht, daß Moeller van den Bruck in einer ganz seltsamen Weise es verstand, fast ohne zu sprechen, dem Kreis um ihn herum das Gesicht zu geben und ihn zu erfüllen und zu beherrschen. Das ist vollkommen richtig. Freilich war Moeller wortkarg, verhalten. Je größer der Kreis, desto hartnäckiger schwieg er. Um so geladener, geballter, zusammengefaßter waren dafür freilich die Bemerkungen, die er gelegentlich rasch und drängend, oft auch besinnlich einwarf und die schlechterdings niemals überhört werden konnten. Manche waren leicht hingestreut, andere standen wie jene quaderartigen Sätze, aus denen die reifsten seiner Bücher zusammengefaßt sind.“51
In solchen Schilderungen erscheint Moeller als charismatischer Führer, dem seine Jünger einen Zugang zu überzeitlichen Werten zuschrieben: „Er wachte an der Schwelle des Grundsätzlichen.“52 Ergänzt wurde die sakrale durch die in nationalpädagogischer Absicht gewährte Teilhabe: „[...] er [Moeller] überschüttete oder unterdrückte junge Menschen niemals, [...] sondern ließ sie willig aus sich heraustreten und dann selbst an die Grenzen stoßen, die er ihnen fast unmerklich setzte. [...] Und eben in diesem milden überlegenden Erziehertum lag ein großes Charisma beschlossen.“53 Überdies fungierte Moeller als Schiedsrichter des Klubs: „Er selbst war durch die [...] Würde und seherische Sicherheit seiner Person in allen Gegensätzen, die auch diesem Kreis nicht erspart blieben und schließlich seine Stoßkraft zersetzten, immer wieder dritte Partei.“54 Als charismatische Führungspersönlichkeit setzte Moeller, auf den ursprünglichen Namen „I-Klub“ anspielend, vor allem auf die kollektive Identität der Gemeinschaft. Max Hildebert Boehm schreibt dazu rückblickend: „[...] in den Anfangszeiten der gemeinsamen Arbeit, als wir noch fast in Geheimsprache redeten, ging im Kreise ein Moeller-Wort um: ‚I bedeutet Identifizierung‘. In der rückhaltlosen Identifizierung mit dem Kreis und mit der Sache und durch den Kreis und die Sache mit der Nation ist er uns ein makelloses Vorbild gewesen.“55
50 51 52 53 54 55
Hans Schwarz, Moeller van den Bruck, in: Die Mannen. Beilage zum Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, Juni 1923. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 694. Ebd. Ebd., S. 694 f. Ebd., S. 695. Max Hildebert Boehm, Am Grabe von Moeller van den Bruck, in: Die Mannen. Beilage zum Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, Juni 1925, sowie Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, 3. Aufl., Freiburg 1933, S. 74 ff.
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Der hohe Stellenwert, den Identität und geteiltes Lebensgefühl in der Konzeption des Juni-Klubs besaßen, bestätigt sich auch im Grundsatzmanifest des Klubs, dessen apodiktisch und teilweise dunkel raunend gehaltene Wendungen deutlich für die (Mit-) Urheberschaft Moellers sprechen.56 Die Verfasser der Dreiunddreissig Sätze erklärten die „Sammlung“ von „Menschen“ und „Meinungen“ zum „Zweck“ der Klubgründung57 und erwarteten vom Klubleben eine Angleichung der Standpunkte der Mitglieder. Zuversichtlich wurde prognostiziert: „18. Wir sehen voraus, daß diese Grundüberzeugungen im Zusammenleben und Zusammenarbeiten schließlich zu einer Gemeinsamkeit der Auffassung auch in Einzelfragen führen werden.“58 Deshalb seien „Verschiedenheiten der Anschauungen nicht bedauerlich“, sondern „vielmehr willkommen [...], weil sie der Verschiedenheit“ der Problemlage entsprächen.59 Die in dieser Formulierung enthaltene Wertschätzung politischer Differenzen bedeutete jedoch nicht, dass man in jedem einzelnen Klubmitglied einen möglichen Akteur sah. Zwar wurde die Art der tagespolitischen Einflussnahme der Klubmitglieder ausdrücklich offengelassen – „25. Der Eine wird am besten wirken, wenn er ins Heute wirkt, der Andere, wenn er für Morgen wirkt“60 –, doch ließen die Verfasser keinen Zweifel am Primat der Gemeinschaft aufkommen: „24. Wir werden als Gruppe nicht besser wirken können, als wenn wir die Mitglieder nach ihrer persönlichen Wirkungsmöglichkeit einsetzen.“61 Schließlich sollte die Gemeinschaft der Klubmitglieder als eine politisches Handeln intellektuell vorbereitende und vorprägende Denkfabrik fungieren: „20. Es ist unsere Aufgabe, diese Probleme zu Ende zu denken, ihnen die Formulierung zu geben und sie dicht an die Linie heranzuführen, an der ihre Lösung verwirklicht werden kann.“62 Als potenzielle Mitglieder der Gemeinschaft nannte das Manifest – „Ängstlinge“, „Kompromißnaturen“, „geistige Schieber“, „Bonzen“ und „Blender“ ausschließend – diejenigen Deutschen, „die aufbauend wirken können.“63 Eine weitere Aussage bestimmte diese näher als eine unter dem Erlebnis des Krieges „auf eine neue Ebene der Anschauung“ gestellte und von den „parteimäßig festgelegten Meinungen“ enttäuschte Elite. Ihr wurde die Orientierung auf den politischen Lagerkampf transzendierende „Gemeinschaften“ als Kennzeichen zugeschrieben: „Es sind Menschen, die von rechts kommen, und es sind Menschen, die von links kommen und die sich in den Gemeinschaften einer dritten Anschauung begegnen, die wir für die zukünftige halten.“64 Den Vorstellungen Moellers entsprechend, verstanden sich die Gründer des Klubs als die „Jungen“. Dabei wurde „Jugend“ als Disposition einer Elite zu einer Frage 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 125 ff. Juni-Klub. Die Dreiunddreissig Sätze, in: BA Koblenz, NL Rudolf Pechel (1160) I/144. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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„der Anteilnahme an den Wandlungen der Zeit, des Vertrautseins mit ihren Problemen, des Vorgefühls auf ihre Lösungen und der Leidenschaft, mit der wir uns für sie einsetzen“.65 Überdies zeigte sich der in seiner Anlage exklusive Klub nunmehr bestrebt, „im Laufe der Zeit in eine Beziehung zu allen Deutschen von Wert“ zu kommen. Die Mitglieder verpflichteten sich, nach den Deutschen Ausschau zu halten, „die aus dem Kriege mit der Anwaltschaft der Persönlichkeit hervorgehen werden“.66 Der Klub, der sich als „wissend“67 verstand, sollte dabei zum Keim einer größeren politischen Bewegung werden und seine Wirkung durch Geschlossenheit und prägnante öffentliche Sichtbarkeit als Gruppe entfalten: „Wir glauben, daß es bestimmte Grundüberzeugungen gibt, die der Mitgliedschaft ihr besonderes und bestimmtes Gesicht im öffentlichen Leben geben werden.“68 Den Mitgliedern wurde auferlegt, das Gemeinschaftsideal des Klubs in ihre jeweiligen Wirkungskreise hineinzutragen und sie nach seinem Vorbild umzuformen: „Immer und überall, wo und wie die Mitglieder auch wirken mögen, werden sie für die Ideen der Gruppe einzutreten haben: wird unsere Gemeinschaft verlangen, daß wir Gemeingefühl verwirklichen.“69 Dass das Konzept des Klubs auf Expansion angelegt war, zeigt sich in der ersten Publikation des Klubs, dem von Max Hildebert Boehm herausgegebenen Kleinen politischen Wörterbuch (1919). Unter dem Begriff der Gemeinschaft heißt es hier: „Gemeinschaft als politischer Begriff bedeutet die durch eine höhere Bestimmung beseelte und getragene Vereinigung von Menschen zu verbundenem Handeln und Leben.“70 Dieser Artikel in einem Werk, das „den Gemeinschaftsgedanken zum politischen Richtpunkt erheben will“ und sein Entstehen „einer engen Gemeinschaft gesinnungsverwandter Mitarbeiter“ verdankt,71 dokumentiert, dass sich der von Moeller mitbegründete Klub als Refugium einer höheren Lebensform den historischen Entwicklungen entgegenstellte. Da für die Autoren des Wörterbuchs „die übernommenen Gemeinschaftsformen des Staats und der Gesellschaft [...] mit zunehmender Mechanisierung an innerer Beseeltheit und Lebensfülle verloren“72 hatten, bestimmten sie die Klubgründung als Ende eines sozialkulturellen Zerfallsprozesses: Sie reklamierten für sich eine Verlebendigung der Gemeinschaft und stellten sich somit deutlichen Gegensatz zu den von ihnen kritisierten Zuständen in Republik und Kaiserreich. Das rasche Anwachsen der Gemeinschaft ist dabei ein sicheres Indiz, dass viele vor allem jüngere Intellektuelle mit der elitär-antidemokratischen Ausrichtung des Klubs übereinstimmten: Die einzig erhaltene Mitgliederliste des Klubs73 bezeugt, 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Max Hildebert Boehm (Hg.), Kleines politisches Wörterbuch, Leipzig 1919, S. 21. Ebd., S. 3 f. Ebd., S. 21. Abgedruckt in: Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau“ 1919– 1933. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik, Bremen 1971, S. 328 ff.
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dass eine Vielzahl von Journalisten und Schriftstellern dem Juni-Klub angehörten: Paul Bäcker (Chefredakteur der Deutschen Tageszeitung), Werner Beumelburg (Schriftsteller), Franz Evers (Schriftsteller), Friedrich Hussong (Schriftleitung Der Tag), Wilhelm von Kries (seit 1912 Chefredakteur der Telegraphen Union), Rudolf Pechel (seit 1919 Herausgeber der Deutschen Rundschau), Walther Schotte (ab 1920 Herausgeber der Preussischen Jahrbücher), Hermann Ullmann (Herausgeber Deutsche Arbeit, seit 1921 auch Chefredakteur des Organs des DGB Der Deutsche). Neben den professionellen Journalisten verfügten weitere Mitglieder des Klubs über Kontakte zur Presse oder zur Öffentlichkeitsarbeit. Hier wären zu nennen: Clemens Carl Freyer (1910/11 Generalsekretär des Vereins deutscher Zeitungsverleger und dann bis 1915 Justiziar der Verlagsanstalt August Scherl), Werner Otto von Henting (bei Kriegsende Pressechef in der Deutschen Botschaft in Konstantinopel). Die dem Klub angehörenden Vertreter von Einflussgruppen standen gleichfalls in der Öffentlichkeitsarbeit. Hervorzuheben sind Hans Werner von Zengen und Fritz Tänzler (Propagandaverantwortlicher bzw. Geschäftsführer der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) sowie der der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie verbundene und auch schriftstellerisch tätige Friedrich Freundt. Der Juni-Klub hatte schon aufgrund seiner personellen Ausstattung das Potenzial, die „bedeutendste antidemokratische Ideenzentrale der frühen Jahre der Weimarer Republik“74 zu werden. Hinzu kommt, dass der Klub auch über die für eine kontinuierliche Tätigkeit notwendigen finanziellen Ressourcen verfügte. Der Richter Alexander Ringleb, der bald sein Richteramt aufgab, um sich ungestört der Finanzierung der Klubaktivitäten zu widmen, unterhielt außergewöhnlich gute Verbindungen zum Preußischen Justizministerium, zur Industrie und zu den sogenannten D-Banken (Deutsche Bank, Dresdener Bank und Disconto-Gesellschaft), die es ihm gestatteten, weitere Finanzquellen zu erschließen. So konnte Ringleb neben Hugo Stinnes auch Alfred Hugenberg für finanzielle Zuwendungen gewinnen.75 (Hugenbergs Interesse am Juni-Klub und sein finanzielles Engagement entsprachen jedoch keiner außerordentlichen Sympathie für die Gruppierung, sie waren lediglich Spielarten seiner Einflussnahme auf ein möglichst breites Spektrum gegen die Republik gerichteter Kräfte.76) Zeugnis seines wachsenden politischen Gewichts ist, dass der Klub Ende 1920 eigene Räume im Haus des „Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum“ (Schutzbundhaus; Motzstraße 22, Berlin) bezog. Am neuen Ort veränderte sich auch das Klubleben. Der vormals halbprivate Betrieb erhielt einen offiziellen Zuschnitt, so dass die Mitgliedschaft durch die Ausgabe von Mitgliedskarten
74 75
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Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994, S. 32. Näheres zur Finanzierung des Klubs vor allem bei: Petzold, Joachim: Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983, S. 112 ff. Vgl. Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 154 ff., bes. 164 f.
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geregelt wurde.77 Beispielsweise ermöglichte ein im Haus befindlicher Gastronomiebetrieb die Kontaktaufnahme und -pflege mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Thomas Mann, Ernst Troeltsch und Oswald Spengler.78 Im Schutzbundhaus fanden auch Vortragsabende mit durchschnittlich 120 bis 150 Gästen statt.79 Überliefert ist, dass auch der zu diesem Zeitpunkt in Berlin noch unbekannte Adolf Hitler am 07.06.1921 einen Vortrag in der Motzstraße hielt.80 Ein wesentlicher Bestandteil des elitären Klubkonzepts war der „Führergedanke“. In Die Dreiunddreissig Sätze heißt es dazu unter 26.: „Was wir als Gruppe verwirkli77 78
79 80
Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 60. Detlef Felken gibt an, dass Spengler „wahrscheinlich“ im Juli 1920 noch in der Privatwohnung Gleichens vor ausgewählten Gästen – unter ihnen auch der junge Otto Strasser – über die Thesen von Preußentum und Sozialismus gesprochen habe. Anschließend soll es zu einer eindringlichen Diskussion zwischen Spengler und Moeller gekommen sein. Während die Differenzen zwischen den beiden Denkern nach dem Erscheinen von Moellers Spengler-Aufsatz (Moeller van den Bruck, Der Untergang des Abendlandes. Für und wider Spengler, in: Deutsche Rundschau, 46. Jg., Heft 10, Juli 1920, S. 41–70, vgl. hierzu 7.2.4) stärker in den Vordergrund traten, trennten sie sich an diesem Abend offensichtlich im Einvernehmen, denn kurz darauf fungierte Spengler als Leiter einer Münchener Dependance des Klubs im Hotel Union in der Barerstraße 7 (vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, S. 135 f., sowie Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 68). Vgl. Rudolf Pechel, Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich 1947, S. 279. Pechels Äußerungen zufolge hatte Hitler bei einem Treffen in München „großes Interesse für die Arbeit des Juni-Klubs“ geäußert, so dass Pechel ihm anbot, „einmal in unserem Kreise zu sprechen“. Vor einem vergleichsweise kleinen Publikum (Pechel spricht von ca. 30 Zuhörern) habe dann Hitler einen in Ton und Niveau unangemessenen Vortrag gehalten: „Man hörte förmlich, wie seine Tiraden auf den Boden fielen, ohne irgendeinen Kontakt mit den Anwesenden herzustellen. Es war die übliche Rede von der Brechung der Zinsknechtschaft und den anderen klischeemäßigen Programmpunkten, ohne daß er eine einigermaßen geistige Ebene auch nur berührte.“ Gleichwohl habe sich Moeller hiernach zu einer Unterhaltung mit Hitler bereit gefunden. Nach Aussage Pechels wollte er sich „vergewissern, was eigentlich an diesem Menschen dran wäre, dem es immerhin aus einem uns damals nicht erklärlichen Grunde gelang, Massen in Bewegung zu setzen.“ Das anschließende Gespräch wird von Pechel wie folgt wiedergegeben: „Nach der ihm eigenen Art griff Moeller nun Hitler sozusagen in die Seele und versuchte durch hartnäckiges Fragen sein Wesen bloßzulegen und seine Einstellung zu den wirklichen Zeitproblemen kennenzulernen. Hitler zeigte sich sehr beeindruckt von Moeller und seinem Kreise. Er sagte wörtlich: ‚Sie haben alles das, was mir fehlt. Sie erarbeiten das geistige Rüstzeug zu einer Erneuerung Deutschlands, ich bin nur ein Trommler und Sammler. Lassen sie uns zusammenarbeiten!‘ Wir blieben in unserer Reserve, und Moeller sagte Hitler nur zu, daß wir ihm die Zeitschrift des Juni-Clubs ‚Gewissen‘ und alle Veröffentlichungen unseres Kreises zusenden würden.“ Nachdem Hitler dann in den frühen Morgenstunden gegangen war, soll Moeller geäußert haben: „Pechel, der Kerl begreift’s nie! Lassen Sie uns auf diesen Schreck hin drüben in der Bodega noch eine Flasche spanischen Wein trinken“ (ebd., S. 278 f.).
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chen wollen, ist Korporativismus; Mitgliedschaft heißt Gliedschaft; Gliedschaft bedeutet Einordnung in Gemeinschaft; und Gemeinschaft verlangt Führertum.“81 Entsprechend betont das Kleine politische Wörterbuch: „Untrennbar vom Gemeinschaftsgedanken ist der Führergedanke. Gemeinschaft ist kein toter Zweckdiener, wie die Maschine, sie ist in einem höheren Sinn geweiht, sie verlangt deshalb die Vergeistigung und Verkörperung durch einen führenden Menschen.“82 Für diesen hielt man Moeller, da er den höheren Sinn der Gemeinschaft zu verkörpern schien und somit als graue Eminenz des Juni-Klubs galt, was sich unter anderem darin zeigt, dass zwar Eduard Stadtler als Herausgeber des Gewissens zeichnete, Moeller jedoch seit Anfang 192083 der eigentlich verantwortliche Redakteur und Schriftleiter dieser Wochenschrift war. Vom ehemaligen Frontoffizier Werner Wirths im April 1919 als Unabhängige Zeitung für Volksbildung (Untertitel) gegründet, wurde das Gewissen im Januar 1920 zum Zentralorgan des Juni-Klub-Kreises (nunmehr mit dem vollständigen Titel: Gewissen. Für den Ring herausgegeben von Ed. Stadtler). In der ersten Nummer des zweiten Jahrgangs hieß es: „Nun ist das ‚Gewissen‘ in den Händen der ‚Jungen‘“, einer „Gruppe von Politikern neuen Schlages“.84 Das Blatt sollte dabei zum Instrument einer langfristig angelegten Strategie zur Rückgewinnung der von der Linken dominierten Öffentlichkeit, zum Sprachrohr der „Außenseiter“ werden. In einem Schreiben an Ernst Krieck erläuterte Moeller Situation und Vorhaben wie folgt: „Auf der einen Seite ist das Bedürfnis nach einer neuen konservativ gerichteten Literatur sehr gross. Die Aufnahmefähigkeit wächst. Die Lesenden wären schon da. Aber die Schreibenden fehlen. Noch immer hat die politische Linke – zwar nicht die Ideen, die seit 1918 bloßgestellt sind, – wohl aber die Talente für sich. Es ist Halbqualität, nur Oberflächengeplätscher, durchaus Untiefe gewiss –: aber dieser Feuilletonismus, der noch immer irgendeine, wenn auch noch so zweifelhafte Interessantheit besitzt, ist Eigentum einer ganzen Generation.“85
Bemerkungen über die Oberflächlichkeit der politischen Linken standen im Horizont von Moellers auf die Avantgarderolle einer Minorität vertrauenden Politikverständnis, in dem nun auch das Gewissen seinen Platz fand. Die bis 1928 erscheinende Zeitung86 sollte der Sammelpunkt einer noch kleinen und zerstreuten Gruppe aufstrebender rechter Autoren werden. Die Mitarbeiter sollten sich nicht zuletzt auch der 81 82 83 84 85 86
Juni-Klub. Die Dreiunddreissig Sätze, in: BA Koblenz, NL Rudolf Pechel (1160) I/144. Max Hildebert Boehm (Hg.), Kleines politisches Wörterbuch, Leipzig 1919, S. 22. Vgl. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 694. Eduard Stadtler, Zum Geleit, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, 07.01.1920. Ungezeichnetes Schreiben (Moeller van den Bruck) an Ernst Krieck (09.07.1923), in: BA Koblenz R118/34 Bl. 211 f. Aufmachung, Umfang (4 Seiten) und Periodizität wurden mit nur wenigen Ausnahmen während der neun Jahre des Erscheinens beibehalten. Nach 1928 erschien das Gewissen nur mehr unregelmäßig in Kleinformat als Sonderdruck in der Zeitschrift Der Ring, die das Gewissen ablöste.
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kulturellen Erneuerung und der Beseitigung von durch den Wilhelminismus hervorgerufenen Defiziten widmen: „Auf der anderen Seite hat die neue Generation alles Recht für sich, den Gang der Dinge, und, wofern es noch Zukunft gibt, ganz sicherlich diese. Aber es wird Jahre dauern, bis sich diese Generation in den Besitz einer literarischen Kultur gesetzt und die geistigen Vernachlässigungen des wilhelminischen Zeitalters nachgeholt hat. Umso dringender ist, dass inzwischen die ganz wenigen Deutschen, die auf der Rechten überhaupt in politischen Betracht kommen, zusammengefasst und sozusagen geschlossen gegen den literarischen Linksblock angesetzt werden. Nicht zufällig sind all diese Deutschen irgendwie Aussenseiter. Und auch jetzt noch fällt es schwer genug, sie in diejenige Richtung zu bringen, die nun einmal die ihre ist – oder es doch sein sollte. Das GEWISSEN sucht dies zu tun.“87
Bis zu seinem Rücktritt von der Redaktion sah sich Moeller dabei immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass seinem Projekt die Mitarbeiter fehlten. Während die Zeitung aufgrund ihrer niedrigen Abonnentenzahlen immer von Zuwendungen abhängig blieb,88 sorgte sich Moeller vor allem um die wenigen Beiträger. Zufrieden, mit „der geistigen Rechten […], die erst heranwächst“89 eine elitäre Randgruppe zu bedienen, versuchte der umtriebige Redakteur unentwegt, prominente Schriftsteller zur regelmäßigen Mitarbeit zu bewegen. Diesbezüglich mahnt er beispielsweise Paul Ernst im Oktober 1922: „Sehr verehrter Herr Doktor! Wir haben das GEWISSEN wieder in Gang gebracht und möchten Sie um die Freundlichkeit bitten, uns doch mit Manuskripten zu bedenken. Es sind jetzt schon Monate vergangen, seitdem wir keinen Beitrag mehr von Ihnen bringen konnten. Und vielleicht werden auch Sie gerne wieder zu den Lesern des GEWISSENS sprechen. – Wir bitten also sehr, Ihre Mitarbeit doch wieder aufnehmen zu wollen.“90
Und ein halbes Jahr später: „Wir haben so sehr bedauert, dass Sie nun schon so lange zu den Zeitereignissen schweigen, die Sie doch früher immer mit Betrachtungen zu begleiten pflegten, welche für die Leser des GEWISSENS von einem so hohen Werte waren. Ich möchte wünschen, dass wir darin keine grundsätzliche Abkehr von der zeitphilosophischen Betrachtung sehen müssen. Und so bitte ich denn im Sinne dieses Wunsches, wie gesagt, um eine Wiederaufnahme Ihrer Mitarbeiterschaft.“91 87 88
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Ungezeichnetes Schreiben (Moeller van den Bruck) an Ernst Krieck (09.07.1923), in: BA Koblenz R118/34 Bl. 211 f. Im Mai 1920 gründete sich eine „Gesellschaft der Freunde des Gewissens“ mit dem Nationalökonomen Werner Sombart, dem Reeder Kurt Wormann und dem führenden Agrarier Freiherr von Wangenheim als herausragenden Mitgliedern. Die Mitgliederliste vom Oktober 1921 ist enthalten als Dokument 3 im Anhang von Manfred Schoeps, Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, ErlangenNürnberg 1974, S. 223 f. Moller van den Bruck an Hans Grimm (10.03.1924), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck an Paul Ernst (26.10.1922), in: NL Paul Ernst, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck an Paul Ernst (09.07.1923), in: Ebd.
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Trotz seiner Bemühungen gelang es Moeller kaum, Mitarbeiter für das Gewissen zu gewinnen. Der selbst vielfach unter Pseudonym oder anonym publizierende Redakteur (vgl. 9.1.3.) erkannte in dem Mangel an berühmten Autoren ein existentielles Problem der neuen Rechten. So schrieb er etwa an Hans Grimm: „Ich bin wütend darüber, dass Sie dem ‚Hannoverschen Kurier‘ einen Aufsatz über den ‚Schriftsteller und die Zeit‘ gegeben haben – und nicht dem ‚Gewissen‘. Wie in aller Welt sollen wir diesen schweren Kampf gegen eine literarisch-pazifistische Linke führen, wenn wir in dieser Weise die Kräfte verzetteln?“92 Und: „Das ‚Gewissen‘ wird jetzt wirklich nur von zehn Deutschen geschrieben. Es sind die Einzigen in Deutschland, die überhaupt in Betracht kommen. Über den Kreis hinaus wüsste ich eigentlich Niemanden, auf dessen Mitarbeiterschaft ich Wert legen würde. So muss das ‚Gewissen‘ mit zahlenmäßig schwachen Kräften seine Arbeit tun; seinen Zweck erfüllen, seine Aufgabe zu lösen suchen.“93
Zeugen Moellers briefliche Aufforderungen zur Mitarbeit am Gewissen von einem zunehmend prekären avantgardistisch-aristokratischen Selbstverständnis, wird in den schriftlichen Äußerungen des wohl berühmtesten Lesers das Bewusstsein von dessen Leserschaft erkennbar. Am 04.03.1920 schrieb Thomas Mann in sein Tagebuch: „Nachmittags zum ersten wieder im Garten. Las in der guten Zeitung ‚Das Gewissen‘ vortreffliche Artikel von Oppeln-Bronikowski und Moeller v. d. Bruck und schlief dann.“94 Am 14. April des gleichen Jahres hieß es dann: „K.’s Stimmung sehr gereizt und deprimiert, worunter ich leide. – Nach Tische ‚Auslandspost‘ und ‚Gewissen‘ gelesen. Letztere mir die angenehmste Zeitung.“95 Die in solchen Eintragungen sichtbaren Affinitäten zu den Positionen Moellers96 gehen bis in die Vorkriegszeit zurück. Wie Moeller schon in Die Zeitgenossen hatte Thomas Mann sein deutsches Kulturideal zu Kriegsbeginn als von bürgerlichen Idealen wie Sicherheit, Vernunft und Zivilisation deutlich abgegrenzt umschrieben: „Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine geistige Organisation der Welt, und sei alles auch noch so abenteuerlich skurril, wild, blutig und furchtbar.“97 Nach seiner Ansicht war die „deutsche Seele [...] zu tief, als daß Zivilisation ihr ein Hochbegriff [...] sein könnte“.98 92 93 94 95 96
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Moeller van den Bruck an Hans Grimm (26.02.1924), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (10.03.1924), in: Ebd. Thomas Mann, Tagebücher 1918–1921 (hg. von Peter de Mendelssohn), Frankfurt am Main 1979, S. 391. Ebd., S. 419. Zur Annäherung von Thomas Mann an den „Ring“-Kreis vgl. auch: Herbert Lehnert u. Eva Wessel, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns „Wandlung“ und sein Essay „Goethe und Tolstoi“, Frankfurt am Main 1991, S. 61–73. Thomas Mann, Gedanken im Kriege, Erstdruck: Die neue Rundschau 25 (November 1914), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1: Essays II 1914–1926 (hg. von Hermann Kurzke), Frankfurt am Main 2002, S. 27. Ebd., S. 38.
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Nach 1914 suchte Mann diese Position zu konkretisieren. Das Ergebnis waren die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), die Mann als seinen Beitrag zu den deutschen Kriegsanstrengungen verstand. Ihr leitender Gedanke ist die Abwehr der „Nivellierungstendenzen der heraufkommenden mechanisierten Zivilisation mit ihrem ‚Aufstand der Massen‘, ein Protest gegen seelische Verödung, Geldherrschaft und Korruption der ‚politicians‘“ zugunsten einer Kultur, wie sie sich selbst in der „Parvenu-Atmosphäre“ des Wilhelminismus noch habe entfalten können.99 So erhob auch Thomas Mann die kulturelle Identität Deutschlands zum existentiellen Problem. Diese sah er durch die „geistig-politische Invasion des Westens“100 bedroht. Die zurückhaltenden Reaktionen auf die Betrachtungen ließen in Thomas Mann nach Kriegsende jedoch ein Gefühl politischer Heimatlosigkeit entstehen. Bereits der Übergang zur parlamentarisch-demokratischen Verfassung (30.09.1918) hatte bei ihm einen „starken Choc“101 ausgelöst. Es war also ein Lichtblick, als kurze Zeit später im Gewissen eine positive Besprechung der Betrachtungen erschien, in der man insbesondere auf die „Abrechnung mit der Demokratie“ abhob, „welche man gerade eben dem durch vierjährigen Krieg erschöpften deutschen Volk auferlegen konnte“.102 So ähnelten um die Jahreswende 1918/19 Thomas Manns Problembewusstsein und Selbstverständnis den Vorstellungen des Kreises um Moeller, Gleichen, Stadtler und Boehm. Wie sie war auch Mann davon überzeugt, dass die mangelnde geistigkulturelle Selbstbehauptung der „deutschen Neigung zum Selbstverrat Vorschub“103 geleistet habe: In einem an Richard Dehmel gerichteten Brief heißt es: „Die anderen waren nicht besser; höchstens daß sie den allgemeinen Zustand moralisch und aesthetisch besser ertrugen.“104 Diese Affinitäten zwischen den Überlegungen Thomas Manns und den Positionen des Juni-Klubs führten im Sommer 1920 zu einem Schreiben an Heinrich von Gleichen. „Eben habe ich mein Abonnement auf das ‚Gewissen‘ erneuert, ein Blatt, das ich immer zu sehen wünsche und das ich jedem, mit dem ich mich über Politik unterhalte, als die ohne Vergleich beste deutsche Zeitung bezeichne.“105 Unter ausdrücklicher und lobender Erwähnung des Gewissens brachte Thomas Mann darin seine 99 100 101
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Thomas Mann, On Myself (1940), zitiert nach: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 13, Frankfurt am Main 1974, S. 160. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), zitiert nach: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 12, Frankfurt am Main 1960, S. 38. Thomas Mann an Ernst Bertram (03.10.1918), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 22: Briefe II 1914–1923 (hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini), Frankfurt am Main 2004, S. 255. Heinrich Reidinger, Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Gewissen, 1. Jg., Nr. 2, 17.04.1919. Thomas Mann an Richard Dehmel (18.12.1918), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 22: Briefe II 1914–1923 (hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini), Frankfurt am Main 2004, S. 266. Ebd. Thomas Mann an Heinrich von Gleichen (22.07.1920), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 22: Briefe II 1914–1923 (hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini), Frankfurt am Main 2004, S. 356.
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Sympathie mit dem von ihm „‚Ring‘-Sphäre“ genannten Kreis zum Ausdruck: „[...] die politische und kulturelle Haltung Ihres Kreises schmeichelt unmittelbar meinen geistigen Nerven und damit auch wirklich meinen physischen; was geistige Sympathie ist, ich erfahre es immer bei der Berührung mit Ihrer Welt, und zwar mit einer sehr weichmütigen Dankbarkeit.“106 Unter Hinweis auf Zeitmangel, Altersskepsis und künstlerische Morbidität bedauerte Mann, der Bitte Gleichens um Mitarbeit an den Projekten der Gemeinschaft nicht nachkommen zu können: „[...] wie käme ich dazu, mich unter eine Jugend zu mischen, die unangekränkelten Willens und Glaubens ist, der es um Land und Volk, Leben und Zukunft, nationale Gesundung und Grösse geht, und der mein Treiben und Schreiben, von den übrigens auch pessimistischresignierten ‚Betrachtungen‘ allenfalls abgesehen, eigentlich recht fremd und gleichgültig sein müsste.“107
Doch war ihm die Verbindung zum Gewissen wichtig genug, um sich am 23. Februar 1921 in der Redaktion einzufinden: „11 Uhr Konferenz mit Fischer über Essay-Band und Gesamtausgabe. 12 Uhr Frühstück in der Motzstraße, im Kreise der Leute vom ‚Gewissen‘. Nachmittags ins Hotel.“108 Manns Besuch zeigt, dass das Gewissen den Schriftsteller zum engeren Sympathisantenkreis zählen konnte. Entsprechend groß war die Betroffenheit, die Thomas Manns Bekenntnis zur Republik am 13. Oktober 1922 auslöste, zumal man sich von dem für die junge Demokratie werbenden Schriftsteller auch ganz persönlich angesprochen fühlen durfte. Denn es ist davon auszugehen, dass Thomas Mann, durch den Rathenau-Mord (24. Juni 1922) politisch sensibilisiert, nicht nur die deutsche Jugend im Allgemeinen, sondern auch die im Berliner Beethoven-Saal anwesenden Jungkonservativen meinte, wenn er in „seiner demokratischen Jungfernrede“109 klagte: „Heute scheint die Jugend, scheinen wenigstens lebenswichtige Teile gegen die Republik zu ewigem Haß verschworen“.110 Aufschlussreich ist die unmittelbare Reaktion des Gewissens. So widmete sich der Verfasser von Mann über Bord nicht zuletzt auch der Frage, ob denn die Äußerungen des abgefallenen Parteigängers d ie deutsche Jugend haben erreichen können: „Sie wollten, wie sie mit bemerkenswerter Bedeutsamkeit erklärten, zur deutschen Jugend sprechen [...]. Aber, Thomas Mann, kennen sie denn die deutsche Jugend? Die deutsche Jugend hat den Weltkrieg hinter sich. Und den Vertrag von Versailles vor
106 107 108 109
110
Thomas Mann an Heinrich von Gleichen (22.07.1920), in: Ebd., S. 354. Ebd., S. 355 f. Thomas Mann, Tagebücher 1918–1921 (hg. von Peter de Mendelssohn), Frankfurt am Main 1979, S. 486. Die Anwesenheit von Moeller und „mehrere[n] von uns“ ist durch Max Hildebert Boehm bestätigt (vgl. Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 1933, S. 15). Thomas Mann, Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag, (Rede, gehalten am 13. Oktober 1922 im Beethoven-Saal in Berlin), zitiert nach: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1: Essays II 1914–1926 (hg. von Hermann Kurzke), Frankfurt am Main 2002, S. 523.
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sich.“111 Indem er dieses also bestritt und in Mann einen „Spießbürger“112 und typischen Vertreter „gestriger“ bürgerlicher Literatur entdeckte, gab der Verfasser den Lesern des Gewissens zu verstehen, dass dessen Autoren, und nicht etwa der epigonale „Zivilisationsliterat“ Thomas Mann,113 die eigentlich zukunftsfähigen Positionen vertreten würden. Entsprechend wurden in einem weiteren Beitrag Manns Bekenntnisse zu Frieden, Republik und Demokratie als Zeugnisse erschlaffender künstlerischer Kraft gedeutet: „Man mag über diese Dinge sachlich dies oder jenes sagen, [...] über eins wird man jedenfalls übereinkommen: tiefsinnig und neu ist dies bestimmt nicht. Und das fürchten wir ist ein wesentlicher Punkt für Thomas Mann.“114 Der in solchen Ausführungen spürbare avantgardistisch-elitäre Gestus, der das Gewissen für Thomas Mann und weltanschaulich ähnlich disponierte Leser zumindest zeitweise attraktiv gemacht hatte, entsprach sicher der Geisteshaltung Moellers. Gruppen mit materiellen und praktischen Prioritäten fühlten sich allerdings davon abgestoßen. Moeller musste einräumen, dass es auch zahlreiche Kreise gebe, die wesentlich kommerziell und industriell eingestellt seien. Säuerlich bemerkte er zu diesen: „Wir sind ihnen, wie sie sagen zu ‚hoch‘.“115 War die daher rührende beschränkte Reichweite der Zeitung zwar enttäuschend, aber doch mit Moellers Vorstellungen zu vereinbaren, so offenbarte sich im Verhältnis der Finanziers zur Pressearbeit des Juni-Klubs eine fundamentale Fehleinschätzung des Ästheten Moeller. Der journalistische und agitatorische Freiraum der Gruppe war dort zu Ende, wo die Interessen der Geldgeber berührt wurden. Eine mit massiven Drohungen verbundene Intervention Alfred Hugenbergs im September 1922, die sich gegen die Empfehlung Gustav Stresemanns als Außenminister, gegen innenpolitische Einschätzungen und Kritik an der Ruhrindustrie richtete, machte deutlich, dass die von Moeller eingeforderte dienende Rolle der Wirtschaft eine Illusion war.116 Zudem begrenzte seine elitäre Ausrichtung die Verbreitung des Gewissens. Joachim Petzold zufolge kann man von rund 7000 interessierten Lesern ausgehen, doch schwankte die Zahl der Abonnenten zwischen 4000 im Oktober 1922 und 1400 am Anfang des Jahres 1923. Der Rest der damaligen Auflage von 3000 Exemplaren ist dann zu Propagandazwecken kostenlos verteilt worden.117 Außer durch das Gewissen versuchten die Klubmitglieder auch auf andere Weise, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dabei standen ihnen folgende namhafte Pe111
112 113 114 115 116 117
Otto Werner, Mann über Bord. Zu Thomas Mann’s Vortrag: Von deutscher Republik, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 35, 23.10.1922, auch in: Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955, Hamburg 1969, S. 103–105. Ebd. Erich Brock, Thomas Manns Manifest zum Schutze der Republik, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 29, 23.07.1923. Ebd. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (30.07.1921), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Vgl. Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983, S. 140 f. Ebd., S. 111 f.
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riodika zur Verfügung: die Studentenzeitschrift Die Hochschule (hg. von Hans Roeseler), die Preußischen Jahrbücher (seit 1920 im Besitz von Walther Schotte), die Deutsche Rundschau (seit 1919 hg. von Rudolf Pechel), die Deutsche Arbeit (hg. von Hermann Ullmann), die Zeitschrift Deutsches Volkstum (hg. von Wilhelm Stapel), Die Grenzboten (seit 1920 hg. von Max Hildebert Boehm und Fritz Kern), der seit 1915 zum Verlagsimperium Alfred Hugenbergs gehörende Tag (Schriftleitung Friedrich Hussong) und die im Stinnes-Verlag erscheinende Deutsche Allgemeine Zeitung (mit Paul Fechter in der Redaktion). Des Weiteren wurde dem Gewissen bald als zweites Organ des Kreises eine Vortragsverband G. m. b. H. an die Seite gestellt. Der Vertrieb von Ring-Flugschriften sowie ein von Hans J. Forsch und Max Hildebert Boehm geleiteter Pressedienst ergänzten die Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit. Die Gründung des Ring-Verlages, in dem unter anderem Moellers Das dritte Reich (1923) erschien, erfolgte 1921.
7.2.3. Moellers Nachkriegspublizistik Die Erscheinungsorte der von Moeller seit Anfang 1919 veröffentlichten Aufsätze sind gleichsam ein Spiegelbild der vom Klub entfalteten publizistischen Macht. Als dessen grauer Eminenz standen ihm nun nicht mehr allein Der Tag und das Gewissen, sondern auch die bis dato anspruchsvollen Grenzboten sowie die vormals regierungsoffizielle Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) als Publikationsorgane zur Verfügung. In dem von einem bildungsbürgerlichen Publikum gelesenen Feuilleton der DAZ suchte sich Moeller ebenso wie im Tag als untadeliger Anwalt seines Volkes und idealistischer Kämpfer für einen gerechten Frieden zu präsentieren. Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass er während der Friedensverhandlungen das Ende des Frankophilentums (23.04.1919), das heißt das Ende der Bevorzugung des französischen Volkes forderte. In diesem Zusammenhang wiederholte Moeller die Behauptung, dass die Franzosen eine „Nation mit zurückgehender Volkskraft“118 seien und nur von den Neutralen und vom Kriegsglück begünstigt worden seien. Er schlussfolgerte, dass jeder für Frankreich vorteilhafte Frieden ein im Grunde ungerechter Frieden sei. So nutzte Moeller seinen publizistischen Einfluss, um seine Auffassung von den „Rechten“ der Deutschen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Beispielhaft hierfür ist die Positionierung Wilsons als „Schiedsrichter“119, der Deutschland vor einem „ungerechten“ Vergeltungsfrieden bewahren solle. Nachdem Mitte Mai 1919 die Details des Friedensvertrages bekannt geworden waren, nahm Moeller die daraus abgeleitete Neutralitätspflicht zum Anlass, Wilson als einen im Prinzip vertrauenswürdigen, letztlich jedoch schwachen Idealisten bloßzustellen: Nach Deutung
118 119
Moeller van den Bruck, Das Ende des Frankophilentums, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 23.04.1919. Vgl. Moeller van den Bruck, Wilson und das Problem der Gerechtigkeit, in: Der Tag, 09.02.1919.
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Moellers hatte Wilson dem Drängen Englands und Frankreichs anfangs nur widerwillig, aber schließlich doch unter Aufgabe seiner Prinzipien nachgegeben: „Ihre Interessen sollten Halt vor Idealen machen. Dann drohte der Bruch oder Abbruch. Ja, gelegentlich sind Äußerungen eines Unmutes bekannt geworden, den Wilson selbst über die Eigennützigkeit der Staatsmänner empfand. Aber sein Ehrgeiz war größer als seine Selbstbehauptung. Er wollte eine Weltrolle spielen.“120
Auf diese Weise wurde Wilsons Nachgeben nicht nur zu einem Verrat an seinen eigenen idealistischen Vorgaben, sondern auch und vor allem an den Deutschen. Diese Interpretation wiederum ermöglichte es Moeller, sich als wahrhafter Idealist und Kämpfer für eine deutsche Irredenta zu geben, wenn er das Ergebnis der Friedensverhandlungen, den Vertrag von Versailles, kritisierte. Nach der von Moeller propagierten Sichtweise zeugten die Millionen von neuen Auslandsdeutschen davon, dass das Ideal des nationalen Selbstbestimmungsrechts, von Wilson zur Richtschnur für die Neuordnung Osteuropas erhoben (Punkt III und X), für das deutsche Volk nicht galt. Angesichts nicht für möglich gehaltener territorialer Verluste Deutschlands (Deutschland verlor ein Siebentel seines Gebietes und ein Zehntel seiner Bevölkerung) folgerte Moeller, dass als Ergebnis des Versailler Vertrages das Ideal der Irredenta „auf die Unterlegenen von 1919“ übergehen werde: „Deutschland wird das Land der ungeheuersten Irredenta sein, die es jemals geben hat.“121 Sein vergleichsweise optimistischer Ausblick zeigt noch einmal, worin sich Moeller und seine „jungen“ Mitstreiter von der Masse der deutschen Bevölkerung unterschieden. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen betrachtete die Friedensbedingungen ausschließlich als eine existentielle Bedrohung. Der „Außenseiter“ Moeller hingegen sah in Revolution, Niederlage und Vergeltungsfrieden Katalysatoren für die nach seiner Ansicht unausweichliche geistig-moralische Wende, wie sie nur durch die „Generation von 1919“ mit den darin versammelten „skeptischen Enthusiasten“ eingeleitet werden könne.122 In dem programmatischen Aufsatz Die drei Generationen (01.12.1919) zeigt sich, dass Moeller seine ganzen Hoffnungen auf die durch den Krieg geprägten Jahrgänge und eine ausstehende Ablösung der „Generation von 1888“ richtete. Dabei bestätigt gerade dieses Porträt der „Wilhelminer“, dass sich Moellers Juste-Milieu-Hass bis in die Nachkriegszeit erhalten hatte und die Ablehnung der geistigen Physiognomie des „Bürgers“ wesentliche Triebkraft seiner weiteren politisch-publizistischen Tätigkeit war. Ganz im Stile eines Bohemiens attestierte der „Außenseiter“ Moeller der „Generation von 1888“, wesentlich „eudämonistisch“ und „oberflächlich“ zu sein. Ferner formulierte Moeller, dass diese „Wilhelminer“ „den Sinn unseres Zusammenbruches“ „verkörpern“. Überdies konstatierte er, dass „Wilhelminer“ sich in die Parteien und die „Nationalversammlung [...] geflüchtet“ hätten, „um sich der Situation von 1918 120 121 122
Vgl. Moeller van den Bruck, Psychologie des Friedenschlusses, in: Der Tag , 17.05.1919. Moeller van den Bruck, Das Ende der Irredenta, in: Gewissen, 1. Jg., Nr. 9, 10.06.1919. Moeller van den Bruck, Die drei Generationen, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, 1. Jg., Heft 18/19, 01.12.1919, S. 1–11, hier 10.
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anzupassen“.123 Somit speiste sich Moellers Hass auf die neue Demokratie nicht zuletzt aus der Feststellung, dass die neuen Parlamentarier mit den vormaligen Bürgern identisch seien. Hier wie dort entdeckte er eine „Mittelmäßigkeit“124, die, weil sie schon die Niederlage verschuldet hätte, auch das „System von Versailles“ nicht überwinden würde, weshalb nur ein mit einem Generationswechsel verbundener „Übergang zu einer parteifreien Politik“125 die Lage der Nation tatsächlich verbessern könne. Jedoch sah der inzwischen 45-jährige Moeller das politische Vermögen nicht mehr wesentlich vom biologischen Alter bestimmt. „Jugend“ wurde vielmehr immer deutlicher zur Chiffre für eine durch identitätsstiftende Erlebnisse geformte „Einstellung“ (vgl. auch 7.2.1.), wie sie nach Moellers neuester Auffassung vor allem den „Außenseiter[n] von 1888“126 und den „Auslandsdeutschen“127 eigen sei. Der Aufsatz über die Auslandsdeutschen ist einer von drei Beiträgen, die Moeller im Frühjahr 1920 in den inzwischen von Max Hildebert Boehm herausgegebenen Grenzboten veröffentlicht hat. Alle drei sind deutlich nationalpädagogisch intendiert. Ausgehend von der Annahme, dass Deutschland den Krieg verlor, „weil die Nation dem Sinne des Krieges ohne jedes politische Bewußtsein gegenüberstand“128, beklagte ihr Verfasser jeweils das defizitäre politische Bewusstsein mal der gesamten Nation, mal der politisch Verantwortlichen, um schließlich das Charisma der deutschen Nation zu beschwören. So in dem Aufsatz Vaterland und Mutterland vom Januar 1920, in dem Moeller die Deutschen als politisch wie geistig begabte Nation schilderte, die den einseitig politisch begabten Nationen des Westens nur für einen kurzen historischen Augenblick unterlegen sei. Während vor allem England in diesem Zusammenhang für Moeller ein im Grunde unfruchtbares, vom Geist des Rationalismus durchdrungenes „Vaterland“129 sei, erschien Deutschland (im Gegensatz zu den Nur-„Mutterländern“ Russland und China) als fruchtbare Synthese von „Vaterland“ und „Mutterland“. In diesem Sinne treten „neben Deutschen mit weiblichen und empfindsamen bildenden Kräften, die im Unwirklichen auch dann lebten, wenn sie ihm eine feine oder wilde Gestalt gaben, [...] immer wieder Deutsche mit einer männlich starken klaren Entschlußkraft hervor, die das Wirkliche wollten.“130 Die Pointe dieser Argumentation besteht darin, dass Moeller die vorgeblich universale Begabung der Deutschen zum Indikator für die nachhaltige Fruchtbarkeit und 123 124 125 126 127 128 129 130
Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 6. Ebd., S. 10. Moeller van den Bruck, Notgemeinschaft (Fortsetzung), in: Der Tag, 14.12.1920. Vgl. Moeller van den Bruck, Der Auslandsdeutsche, in: Die Grenzboten, 79. Jg., Nr. 16 u. 17, 28.04.1920, S. 81–89. Moeller van den Bruck, Die Ideen der Jungen in der Politik, in: Der Tag, 26.07.1919. Moeller van den Bruck, Vaterland und Mutterland, in: Die Grenzboten, 79. Jg., Nr. 3, Januar 1920, S. 65–72, hier 66. Ebd., S. 67.
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Vitalität des deutschen Volkes erklärte und er Deutschland im (Unterschied zu England) zu den Nationen zählte, die „zur Zeit die Ewigkeit bekommen [...] haben“.131 Es gehörte jedoch zur jungkonservativen Rhetorik, dass Moeller bei der Masse seiner reichsdeutschen Zeitgenossen weder „bildende Kräfte“ noch eine „klare Entschlußkraft“ erkennen wollte: „Es ist gar nicht wahr, daß wir vor dem Kriege eine Nation gewesen sind, die ‚kulturell bedeutend und zugleich politisch bedeutend‘ war.“132 Wenn der Nationalpädagoge Moeller nunmehr die Auslandsdeutschen zu Protagonisten seiner Integrationsideologie erklärte – „wiederum erzog das Ausland zum Deutschtum“133, – war dies zum einen nicht ohne autobiographischen Bezug. Zum anderen war Moeller bemüht, seinen im Reich verbliebenen Landsleuten eine neue nationale Elite vorzustellen, der er zweifelsohne anzugehören glaubte. Dabei war der „Binnendeutsche in seiner Unbelehrbarkeit“134 die Projektionsfigur für alles, was Moeller an seinen Zeitgenossen für verachtenswert hielt, während in den Millionen von Auslandsdeutschen des wilhelminischen Zeitalters der idealtypische neue Mensch bereits vorweggenommen zu sein schien. Demnach habe der Auslandsdeutsche „den veränderten Lebenswillen einer Nation, die nach den schweren Schwächungen ihrer Geschichte lange im Bürgerrocke gesteckt hatte“135, vertreten. Zudem habe ihre herausragende Stellung die im Ausland tätigen deutschen Kaufleute und Techniker zunächst einmal zu legitimen Kritikern sowohl der „Unzulänglichkeiten“136 des Kaisers als auch des „politischen Phlegma[s] der Nation“137 werden lassen: Sie hätten, Moeller zufolge, nach und nach auch seherische Fähigkeiten erworben: Als geschulter Beobachter fremder Völker habe der Auslandsdeutsche schon frühzeitig nicht nur den Krieg, sondern auch die Zusammensetzung der Koalition der Kriegsgegner und die Bedingungen des Vergeltungsfriedens vorausgeahnt: „Sein [der Krieg] Ausbruch war für ihn [den Auslandsdeutschen] keine Überraschung. Sein Ausgang nicht minder. Und er kannte die Engländer. Er wußte, was von ihnen als Siegern zu erwarten war.“138 In der Konsequenz zögerte Moeller dann auch nicht, die Auslandsdeutschen zur Avantgarde der nationalen Erziehung zu erklären und „in dem Auslandsdeutschtum eine Erziehung zu politischem Denken“ zu sehen, „die wir, die wir keine Gegenwart und Wirklichkeit besitzen, nicht entbehren können“.139 Ebenfalls mit einem optimistischen Grundton versehen war der in der Deutschen Rundschau erschienene Essay Der Untergang des Abendlandes. Für und wider Spengler (Juni 1920). Moellers von den Zeitgenossen beachteter Beitrag zum Streit 131 132 133 134 135 136 137 138 139
Ebd. Moeller van den Bruck: Der Auslandsdeutsche, in: Die Grenzboten, 79. Jg., Nr. 16 u. 17, 28.04.1920, S. 81–89, hier 87. Moeller van den Bruck, Der Auslandsdeutsche, in: Die Grenzboten, 79. Jg., Nr. 16 u. 17, 28.04.1920, S. 81–89, hier 87. Ebd., S. 82. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89.
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um Spengler140 war keine Interpretation im engeren Sinne. Moeller wollte ein Urteil über die geschichtsphilosophische Konzeption Spenglers fällen. Dabei lässt die Art und Weise, wie Moeller sich zum Untergang des Abendlandes äußerte, ohne Schwierigkeit erkennen, dass seine Kritik an Spenglers Geschichtsfatalismus für ihn schwerer wog als die Zustimmung zu manchen Thesen des Buches. Zustimmend äußerte Moeller sich, wenn er Spengler zu einem Verbündeten gegen Historismus, Materialismus und Liberalismus erklärte.141 Kritik hingegen meldete Moeller sofort an, wenn er Spenglers Arbeit von seinem weltanschaulich intendierten geschichtsphilosophischen Standpunkt aus beurteilte. So war es gewiss kein Kompliment, wenn Moeller schrieb, dass Spengler ein „Skeptiker des Abendlandes“142 und zur „Hälfte seines Wesens ein Rationalist“143 sei. Solche Kennzeichnungen bedeuteten, dass Spengler Moeller zufolge zwar eine neue Epoche der Geschichtsphilosophie einleitete, aber die Probleme nicht löste, die er aufwarf, und er ihn gleichsam für einen Denker des Übergangs zwischen dem Materialismus des 19. Jahrhunderts und der eigentlich metaphysischen Geschichtsanschauung des 20. Jahrhunderts hielt. Es war vor allem die deterministische Schicksalskonzeption Spenglers, die Moeller ablehnte. So war er einerseits zwar beglückt, dass Spengler die bereits von ihm selbst adaptierte Antithese von Kultur und Zivilisation als normative Kategorie in die Geschichtsschreibung eingeführt hatte: „Erst Spengler faßt sie jetzt periodisch, [...]. Solange die Menschen schöpferisch sind und in der Kultur stehen, bleiben sie der Erde nahe, und deren Bindungen halten auch ihre Gebilde zusammen. Sobald dagegen die Kultur zur Zivilisation und das Bildende zum Selbstzwecke wird, sobald die Menschen den Zusammenhang mit der Erde lösen und ein Leben
140
141
142 143
In dem Buch Der Streit um Spengler (1922) hatte Manfred Schroeter (ab 1949 Cheflektor des Oldenbourg Verlages) Moellers Beitrag positiv beurteilt. Schroeter rechnete Moeller (zusammen mit Karl Scheffler, Julius Bab, Thomas Mann, Paul Ernst, Rudolf Borchardt) im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Rezipienten des Untergangs zu denjenigen, die „lebendigere Fühlung mit dem Zeitgeschehen in seinem Wollen und seinem ahnungsvollen Drang“ (S. 4) zeigten als die professionellen Philosophen und Soziologen, und attestierte ihm in seiner Beurteilung des Werkes sowohl „kulturkritische Witterung“ wie die Fähigkeit zu einem „menschlich freien Allgemeinurteil“ der Leistung Spenglers gegenüber. (S. 4) Mit dieser Einordnung von Moellers Essay wollte Schroeter vor allem hervorheben, dass ihm in dieser Arbeit folgendes wichtig erschien: Moellers Art, „feinsinnig in die Tiefen und in die Widersprüche Spenglers“ einzudringen (S. 12) und seine – wie er meinte – richtige Interpretation von Spenglers Auffassung der Zukunft Deutschlands und der notwendigen Ostorientierung (vgl. Manfred Schroeter, Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922). Moeller zufolge durchbrach das Buch „den Wahn des Kausalitätsgedankens, durch den der Historismus die Geschichte nach abgezogenen Grundbegriffen in eine Ordnung zu bringen suchte, die immer nur eine Aneinanderreihung war“ (Moeller van den Bruck, Der Untergang des Abendlandes. Für und wider Spengler, in: Deutsche Rundschau, 46. Jg., Heft 10, Juli 1920, S. 41–70, hier 41 f.). Ebd., S. 43. Ebd.
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nicht mehr der Natur, sondern der Retorte führen, lösen sich auch ihre Gebilde auf. Kultur stirbt, indem sie Zivilisation wird.“144
Es widerstrebte Moeller jedoch, das gesamte Abendland, und damit auch Deutschland, als am Übergang zur Zivilisation stehend anzusehen. Nicht zuletzt deshalb entwickelte er in Konkurrenz zur Konjekturalgeschichte145 Spenglers ein Modell, in dem der Niedergang zur Zivilisation insbesondere für das deutsche Volk nicht zwangsläufig war. Ausgehend von der Idee, dass es keine Trennung gebe zwischen dem Bereich der Natur und dem Bereich der Geschichte, erklärte er die Rotation der Erde zum Auslöser der Geschichte: „In der Rotation verschiebt sich alles ins Unendliche. Rotation ist der Erreger der Geschichte. Rotation ist der Träger der Weitergabe. Aus ihr kommt das Genie der Völker. Aus ihr kommen die Symbole, durch die Kulturen eine Rechenschaft von sich ablegen.“146 Unter Ausschluss der aus einer idealen Kreisbewegung resultierenden „ewigen Wiederkehr“ betrachtet Moeller Geschichte nun als ein „Gewinde [...], das ins Endlose verläuft“.147 Die Geschichte vollführe demnach eine Schraubenbewegung, weshalb sich der Schwerpunkt der europäischen Geschichte aufwärts, also von Süden nach Westen, und von dort aus nach Norden und Osten verlagere. Dieser Prozess war für Moeller keineswegs zwangsläufig. Immer wieder betonte er, dass das „Berechenbare [...] das Unberechenbare gegen sich“148 habe. Jedoch ließ er keinen Zweifel daran, dass er das deutsche Volk selbst im Angesicht der Niederlage als stärker von der Geschichte begünstigt ansah als der zum Zeitpunkt der Niederschrift noch siegesgewisse Spengler. Moellers diesbezügliche Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Idee eines Untergangs des Abendlandes sei wegen des Ausgangs des Weltkrieges völlig überholt. Ein einheitliches Abendland, wie Spengler es postuliert habe, gebe es nicht,149 daher sei es auch abwegig, die Möglichkeit seines Untergangs in Erwägung zu ziehen. Es sei nur der westliche Teil Europas, der zum Untergang verurteilt sei. Dieser Prozess sei nicht von einem Tag auf den anderen zu einem beherrschenden Phänomen der europäischen Geschichte geworden. Was jetzt im Westen Europas mit dem Niedergang Frankreichs feststellbar sei, bedeute im Grunde nur die fortgesetzte Zerstörung der Einheit Europas, wie sie mit der Renaissance begonnen habe. Die infolge dieser Spaltung eingetretene Abtrennung des Westens von den germanischen Völkern habe in den westeuropäischen Völkern einen seit der französischen Revolution beschleunigten Niedergang eingeleitet, für den ein fortgesetzter „Bevölkerungsstillstand“ in Frankreich und England ein wesentlicher Indikator sei: „Die Sieger im
144 145 146 147 148 149
Ebd., S. 46. Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt am Main 1995, S. 107 f. Moeller van den Bruck, Der Untergang des Abendlandes. Für und wider Spengler, in: Deutsche Rundschau, 46. Jg., Heft 10, Juli 1920, S. 41–70, hier 54. Ebd., S. 54. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 63.
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Weltkriege besitzen die Form der Zivilisation. Aber sie besitzen nicht die Menschen, um diese Form dauernd mit Leben zu füllen.“150 Moellers Meinung nach hätten die Deutschen als „Volk der ständigen Vermehrung“151 paradoxerweise wegen ihrer Niederlage im Kriege eine Chance, die die Völker des Westens nicht hätten. Weil ihr Imperialismus (als Erscheinung der „Zivilisation“) gescheitert sei, liefen sie keine Gefahr mehr, sich zu einem Volk der „Zivilisation“ zu entwickeln. Als Volk der „Kultur“ wie als unterdrückte Nation seien die Deutschen gemeinsam mit den Russen bestimmt, das „Unberechenbare“152 zu bewirken, durch das die Fortsetzung der Geschichte erst möglich sein werde. Sie seien die Völker der Zukunft, denen die Welt den Durchbruch des „Völkersozialismus“ verdanken werde. Dieser russisch-deutsche „Völkersozialismus“ werde „einmal vor die Herren und Mächte dieser Erde treten und die Frage nach dem Länderbesitz stellen: wie es kommt, daß den alten und zurückgehenden Nationen des europäischen Westens die Welt gehört, während junge und überschwengliche Völker nicht den Boden haben, nicht das Meer, die Luft und die Freiheit, um zu leben?“ In der Konsequenz erwartete Moeller dann „ein Erdgeschehen [...], das sich, unter veränderten Erscheinungsformen, mit dem Ausbruche der Völkerwanderung vergleichen läßt“.153 Nachrangig angesichts solcher Szenarien scheint die Frage, zu welcher Art von politischem Denken Moeller seine Leser nunmehr zu erziehen gedachte. Doch ist auch in diesem ideenarmen Selektionsoptimismus ein noch intellektuelles Profil auszumachen. Dieses wurde bestimmt von dem Glauben an die Kraft der harmonischen nationalen Volksgemeinschaft einerseits und dem Hass auf den Westen anderseits. „Volk ist Gemeinschaft“154, formulierte Moeller, der das Volk nach wie vor als durch eine gemeinsame Tradition verbundene Schicksalsgemeinschaft sah: „Es bleibt das Volk. Und mit dem Volk bleibt wieder das Land, bleibt das Leben, bleiben die Lebensbedingungen und, soweit sie sich lebendig erhielten, die Ueberlieferungen, die über das Staatliche hinaus in ein bestimmtes Menschliches zurückreichen.“155 So zielte sein politisches Denken darauf, die von ihm idealisierte Volksgemeinschaft sowohl vor allem westlichen Fremden als auch vor ihrem Zerfall zu bewahren. Notwendig war Moeller ein Gegner nicht nur des Liberalismus, sondern auch der seinem Ideal von „Volklichkeit“156 widersprechenden parlamentarischen Demokratie,
150 151 152 153 154 155 156
Ebd., S. 66 f. Ebd. Vgl. ebd., S. 69 f. Ebd., S. 69. Moeller van den Bruck, Hegel und der doppelte Staatsbegriff, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 29.03.1919. Ebd. Vgl. Moeller van den Bruck, Die drei Generationen, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, 1. Jg., Heft 18/19, 01.12.1919, S. 1–11, hier 11.
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wie der politischen Parteien überhaupt, denen er unterstellte, „durchweg“157 von der Ideologie des Westens befallen zu sein, und deren „Überwindung“158 er forderte. Ebenso wurde der Sozialismus marxistischer Prägung von Moeller nicht zuletzt aufgrund der desintegrativen Lehre vom Klassenkampf abgelehnt. Anstatt seiner propagierte Moeller die „Solidarität der Nation in einem Sozialismus, der sich nicht auf Klassenbegriffe beschränkt, und in einem Nationalismus, der Gemeinschaftsvorstellung verwirklicht“.159 In diesem Sinne trat er schon im März 1919 – neun Monate vor dem Erscheinen von Spenglers Preußentum und Sozialismus160 – auch als Prophet eines von Marx befreiten nationalen Sozialismus auf, der in den zu diesem Zeitpunkt noch potenziellen Reparationszahlungen und Gebietsabtretungen eine skandalöse Ausbeutung eines „jungen“ Volkes entdeckte.161 Daher war es für den auf die prinzipielle Solidarität der Volksgemeinschaft vertrauenden Moeller bereits „sozialistisch gedacht [...], wenn der Sozialismus eines Landes für die von ihm vertretene Nation denjenigen Anteil an Erdbesitz verlangt, der ihrer Lebensfähigkeit, ihrer Entwicklungsmächtigkeit, ihren Lebensnotwendigkeiten entspricht“.162 Im Übrigen scheint Moellers Denken unmittelbar nach dem Krieg wesentlich von dem in den Tag-Aufsätzen gepflegten Vorkriegsidealismus geprägt. Zwar betätigte er sich auch als Promotor von aus der Programmatik des Juni-Klubs abgeleiteten Geboten – „Kampf gegen das Individuum, das nicht das Gehirn ist“ und „Auslese und Führertum“ –, doch schienen der „Kampf für die Persönlichkeit, die eine Ganzheit ist“ sowie die „Einsetzung des Menschen in die Rechte seiner Würde“ ihm ebenso wichtige Ziele politischer Erziehung zu sein wie die „Widerlegung der materialistischen Geschichtsauffassung“, zu der er seine Leser anregen wollte.163 Dabei ist es genau diese Verquickung von untadeligem Idealismus mit einem radikal nationalistischen und antidemokratischen Programm, die den Publizisten Moeller auch für bürgerliche Leser attraktiv werden ließ.
157 158 159 160
161 162 163
Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Moeller hat die Schrift im Gewissen besprochen. In der begeisterten Rezension hieß es unter anderem: „Die Gedankengänge des Spenglerschen Buches münden unmittelbar in diejenigen der jungen Generation ein. Sie ist mit dem weittragenden und fruchtbaren Gedanken vorangegangen, das staatliche Leben aus der Zelle zu entwickeln, aus den Gemeinsamkeiten und aus leibhafter Volksgemeinschaft. Es gibt für sie nur eine Aufgabe. Es ist wesentlich die, welche Spengler formuliert hat: ‚den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien‘.“ (Moeller van den Bruck, Preußentum und Sozialismus, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, 07.01.1920). Vgl. Moeller van den Bruck, Die Sozialisierung der Außenpolitik, in: Der Tag, 09.03.1919. Ebd. Moeller van den Bruck, Die drei Generationen, in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, 1. Jg., Heft 18/19, 01.12.1919, S. 1–11, hier 10 f.
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7.2.4. „Die neue Front“ Während die Publikationsmacht des Juni-Klubs Moeller die Möglichkeit gab, seine Ideen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, konnten der Klub und die Ring-Bewegung selbst in der Öffentlichkeit kaum ein deutliches Gruppenprofil ausprägen. Allein der 1922 erschienene Sammelband Die neue Front (425 Seiten)164, der zahlreiche Aspekte der Programmatik des Kreises behandelte und seitens der Autoren zugleich ein Bekenntnis zum Ring darstellte, ließ die Gruppe stärker als Einheit hervortreten. Als Herausgeber fungierten Moeller, von Gleichen und Boehm. Das Leitmotiv gab Martin Spahn ganz im Sinne des jungkonservativen Appells an die deutsche Jugend vor. Der Leiter der Politischen Kollegs (vgl. 7.4.) verglich die Situation von 1648 mit der von 1918 und bedauerte, dass im Gegensatz zum Ende des Dreißigjährigen Krieges am Ende des Weltkrieges keine neue Generation zur Herrschaft gekommen sei. Das Geschlecht von 1888 habe „den Krieg weder zu verhindern noch zu führen“165 vermocht, es sei Deutschlands Verhängnis gewesen, jedoch in seinem Selbstvertrauen unerschüttert geblieben und hätte ohne Skrupel den Versailler Diktatfrieden unterschrieben. Sein Geist würde das deutsche Volk vergiften. Nachdem die begabteren und vor allem reineren Menschen dieses Geschlechts mit der 164
165
Der Band enthält folgende Beiträge: Martin Spahn, 1648 und 1918, S. 1–4; Moeller van den Bruck, An Liberalismus gehen die Völker zugrunde, S. 5–34; Max Hildebert Boehm, Körperschaftliche Bindung, S. 35–46; Hans Roeseler, Monoismus und Dualismus als metapolitische Grundanschauungen, S. 47–57; Willy Schlüter, Wege zur Führungskunde, S. 58–71; Rudolf Pechel, Das Wort geht um, S. 72–75; Werner Wirths, Das Erlebnis des Krieges, S. 76–79; Wilhelm Stapel, Volk und Volkstum, S. 80–89; Karl Bernhard Ritter, Religiöse Grundeinstellung der Jugend, S. 90–96; Kurt Ziesché, Politik vom Menschen aus gesehen, S. 97–130; Ernst Krieck, Erziehung und Entwicklung, S. 131–147; Albert Dietrich, Wissenschaftskrisis, S. 148–172; Paul Fechter, Wandlungen der Form, S. 173–181; Frank Glatzel, Die Jugendbewegung, S. 182–185; Wilhelm von Kries, Der Wert, S. 186–203; Bernhard Leopold, Der Unternehmer, S. 204–210; Franz Röhr, Die deutsche Arbeiterschaft, S. 211–215; Franz Weth, Sozialistische Wandlung, S. 216–219; Walther Lambach, Verinnerlichung des Klassenkampfes, S. 220–222; Fritz Ehrenforth, Politisierung der Landwirtschaft, S. 223–229; Reinhold Quaatz, Wirtschaftsförderalismus, S. 230–235; Heinrich Herrfahrdt, Zukunftsfragen der deutschen Volksvertretung, S. 236–242; Heinrich Brauweiler, Rückkehr zum deutschen Recht, S. 243–254; Walther Schotte, Die deutsche Presse und das Ausland, S. 255–260; Karl C. von Loesch, Die deutsche Grenzfrage, S. 261–264; Wilhelm Büderich, Wir im Westen, S. 266– 278; Hermann Ullmann, Das Deutschtum und der Südosten, S. 279–290; Hermann Albrecht, Nach Ostland wollen wir fahren, S. 291–306; Hans Heinrich Schaeder, Die Lehre des Ostens, S. 307–314; Paul Ernst, Rasse. Ein erdichtetes Gespräch, S. 315–328; Hans Grimm, Überbevölkerung und Kolonialproblem, S. 329–351; August Winning, Die neue Weltlage, S. 352– 358; Karl Hoffmann, Zwischen zwei Zeitaltern, S. 359–377; Heinrich von Gleichen, Staatsführung in Krisis, S. 378–387; Heinrich Goesch, Macht und Recht, S. 388–396; Helmut Göring, Macht und Staat, S. 397–308; Georg Eschreich, Selbsthilfe und Staat, S. 409–412; Eduard Stadtler, Die Nationalisierung der deutschen Revolution, S. 413–420. Martin Spahn, 1648 und 1918, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 1.
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Monarchie abgetreten seien, sei der Durchschnitt zur Macht gelangt und die Verderbten hätten das Wort erhalten. Dieser pauschalen Anklage verlieh Moeller die politische Akzentuierung. Er behauptete apodiktisch, am Liberalismus gingen die Völker zugrunde.166 Im Namen des Liberalismus habe Wilson eine Kreuzzugsstimmung gegen die Mittelmächte entfacht. Dahinter hätten sich jedoch nur nackte Raubinteressen verborgen. Als Sieg des Liberalismus seien der Sturz der Monarchie und die Begründung der Weimarer Republik in Deutschland gefeiert worden. Resultat sei aber die nationale Verknechtung des deutschen Volkes in Versailles gewesen.167 Boehm befasste sich mit dem Thema Körperschaftliche Bindung. Er behandelte in seinem Beitrag das Problem einer sozioökonomischen Transformation im jungkonservativen Sinne. Sein erklärtes Ziel war ein nach Berufsständen „gegliedertes Gemeinwesen“168, in dem das „Phäakenideal des Sechsstundentages“ und der „Pöbelinstinkt der Gleichmacherei“169 durch einen „hochgespannten Arbeiterstolz“170 abgelöst seien. Der von „bourgeoisen Instinkten“171 emanzipierte neue „Arbeiteradel“172 sollte sich als Teil einer nationalen „Werkgemeinschaft“173 betrachten. Da in dieser „Werkgemeinschaft“ die Klassengegensätze aufgehoben sein würden, ist Boehms Korporativismus zugleich als Antithese zum Sozialismus marxistischer Prägung zu verstehen: „Warum nannte man bislang nur den Unternehmer einen Industriellen, warum fühlte sich nicht auch der letzte Heizer und Kohlenschipper – stolz auf seine Stellung im Gesamtgefüge der Werkgemeinschaft – als ein solcher, oder warum schuf unsere Sprache kein Wort, das alle Werktätigen der Industrie vom obersten bis zum untersten Mitarbeiter umgreift?“174
Somit wollte Boehm nicht nur Unternehmer und Arbeiter einer Fabrik bzw. eines Industriezweiges in einer bestimmten Korporation zusammengefasst wissen; er sähe es auch am liebsten, wenn selbst die Sprache die Aufhebung der Klasseneinteilung widerspiegeln würde. In diesem Sinne bot sein Korporativismus die Möglichkeit, den das „volkliche Gemeinleben[...]“175 bedrohenden Klassenkampf durch den Aufbau berufsständischer Organisationen abzubremsen oder gar ganz zu unterdrücken. 166
167 168 169 170 171 172 173 174 175
Vgl. Moeller van den Bruck, An Liberalismus gehen die Völker zugrunde, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 5–34. Der Beitrag ist nahezu textidentisch mit dem Kapitel Liberal in Das dritte Reich. Auf den Text wird unter 7.6.4. genauer eingegangen. Max Hildebert Boehm, Körperschaftliche Bindung, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 44. Ebd., S. 36. Ebd., S. 43. Ebd., S. 37. Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45.
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Wiewohl also die nationale Integration das Generalthema der Neuen Front war, sahen sich die Herausgeber des Sammelbandes veranlasst, auch divergierenden Meinungen Raum zu geben. Den äußeren Rand des akzeptierten Spektrums markiert dabei der von Walther Lambach (M. d. R./DNVP) verfasste Beitrag. Der Vorsitzende des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes überraschte mit der Anerkennung des Klassenkampfes und stellte seine Organisation als „Klassenkampftruppe“ vor. Lambach formulierte: „Man kann den Klassenkampf nicht hinwegdisputieren, denn er ist da. Man kann ihm nicht weitere Arbeitnehmerkreise entziehen, sie werden noch immer hineingezogen.“176 Lambachs Lösungsvorschlag ließ klar werden, worauf es den Herausgebern der Neuen Front ankam. Er forderte, den Klassenkampf zu „verinnerlichen“. Das bedeutete für ihn: „Zurückziehung der Kampffronten hinter die nationalen Grenzen. Es gibt keine Klassensolidarität quer durch die Völker hindurch. Wir sagen, nur innerhalb des Volkes gelte das Streben nach immer größeren Einheitsfronten der Klassen mit dem Ziel ihrer Solidarität mit der völkisch-deutschen Weltanschauung! Hier gilt in manchen Fragen sogar die Arbeitnehmersolidarität vom Platzarbeiter bis zum ersten Einkäufer.“177
Um „die solidarische Volksgemeinschaft mit dieser Arbeitgeberschaft nach außen“ herzustellen und den „zwischenvölkischen Klassenkampf“ erfolgreich zu führen, regte Lambach eine Art Mitbestimmung in den Betrieben an.178 Dieser Leitgedanke der Ring-Bewegung wurde auch in dem Beitrag des Bergwerksdirektors Bernhard Leopold (M. d. R./DNVP) zum Thema Der Unternehmer179 sowie in dem von dem christlich-nationalen Gewerkschaftsfunktionär Franz Röhr verfassten Aufsatz über Die deutsche Arbeiterschaft erläutert. Er erfuhr schließlich seine abschließende Interpretation durch Eduard Stadtlers Artikel Die Nationalisierung der deutschen Revolution. Darin formulierte Stadtler die Aufgabe der „Überwindung der undeutschen Demokratie und des undeutschen Sozialismus.“ Ziel dieser nationalisierten Revolution sei die „Vergemeinschaftung unserer durch Parteien und Klassen zerrissenen Gesellschaft“.180 Symptomatisch für den elitären Anspruch eines „Geheimgruppenmitgliedes“ war dabei, dass Stadtler die in einer näheren Zukunft mögliche „Vergemeinschaftung“ zu einer Frage „entsprechender Führung“181 erklärte. Größere Aufmerksamkeit hatte Stadtler auch der Identitätsproblematik gewidmet. Als Antibolschewist vertrat er die Ansicht, dass das fragile Deutschtum gleicherma-
176 177 178 179 180 181
Walther Lambach, Verinnerlichung des Klassenkampfes, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 220. Ebd. Ebd. Bernhard Leopold, Der Unternehmer, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 204–210. Eduard Stadtler, Die Nationalisierung der deutschen Revolution, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 420. Ebd.
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ßen von „dem Westlertum Wilsons“ und dem „Ostwahn“ bedroht sei.182 Da jedoch erst selbst verschuldeter „Führungszusammenbruch und Gemeinschaftsauflösung“ der „deutschen Revolution ihren internationalistischen Zug“ verliehen und das deutsche Volk für die westliche Demokratie und den Bolschewismus empfänglich gemacht hätten,183 würde die „Kampfparole ‚Gegen Ost und West!‘“ das eigentliche Problem nicht benennen, denn, so Stadtler weiter, „im Streit gegen den Osten“ sei „ein Stück innerdeutscher Osten und im Kampf wider den Westen ein Stück innerdeutscher Westen gefährdet.“184 Damit war angedeutet, dass sich die Deutschen zunächst der ihnen eigentümlichen Zwischenstellung bewusst werden müssten, um zu einem wahrhaft „deutsche[n] Sozialismus“ und einer „deutsche[n] Demokratie“ zu finden.185 Dass der gegen den „Westen“ gewendete „völkische Gedanke“ das Generalthema der Neuen Front war, bestätigt sich nicht zuletzt in den Beiträgen von Rudolf Pechel, Werner Wirths und Wilhelm Stapel. Pechel, der die „Pflicht zum Volkstum [...] zur religiösen Forderung“186 erhob, bestimmte mit eindringlichen Worten das defizitäre Bewusstsein als das Problem der Epoche. Werner Wirths erklärte „das Jahr 1914“ für „ein heiliges Jahr“, weil „das Volk der Deutschen [...] in ihm Gemeinschaft“ geworden sei.187 Und Wilhelm Stapel führte aus, dass im Unterschied zu den westlichen Gesellschaften ein wirkliches „‚Volk‘“ als „eine unaufhebbare, natürliche Gemeinschaft“188 auch einen einheitlichen „Volkswillen“ habe. Diesem sei unter anderem wesentlich, dass er „sich nicht durch ‚Wahlen‘, sondern durch ‚Prophetie‘, d. h. durch die Erfühlung und Erkenntnis des schicksalhaft Notwendigen“ offenbare, wie sie nur „genialen Persönlichkeiten zuteil“ werde.189 Und schließlich war es Moeller selbst vorbehalten, sich mit dem am stärksten dem „Westen“ zuneigenden Deutschen auseinanderzusetzen. Unter dem Pseudonym Wilhelm Büderich190 bezog er in Wir im Westen Position wider den rheinischen Separatismus. In dem als Stellungnahme eines Rheinländers getarnten Beitrag schrieb Moeller unter anderem: „Wir Rheinländer beziehen den Autonomiegedanken nicht auf uns. Die wenigen, die ihm nach dem Zusammenbruche zuneigten, haben ihn nicht zu Ende gedacht. Sie geben sich keine Rechenschaft darüber, daß auch ein autonomes Rheinland die Rheinlande nicht vor
182 183 184 185 186 187 188 189 190
Ebd., S. 416. Ebd., S. 417. Ebd., S. 418. Ebd., S. 419. Rudolf Pechel, Das Wort geht um, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 72. Werner Wirths, Das Erlebnis des Krieges, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 78. Wilhelm Stapel, Volk und Volkstum, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 84. Ebd., S. 86. Vgl. hierzu Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 695.
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Frankreich schützen kann, im Gegenteil, daß es den Franzosen nur reizen wird, sich dieser autonomen Rheinlande zu bemächtigen.“191
Ferner nahm Moeller die Besetzung des Rheinlandes zum Anlass, um wider die jüngere Geschichte den Mythos vom sich behauptenden Deutschtum zu entfalten: „[...] niemals“, so Moeller, habe „das deutsche Volk sich erobernd gegen Frankreich, aber immer das französische Volk sich erobernd gegen Deutschland gewandt“.192 In diesem Sinne nahm Moeller eine mögliche Annexion des linksrheinischen Gebietes zum Anlass, um die Frage nach einem möglichen dauerhaften Frieden zu erörtern. Das untadelige Anliegen beinhaltete jedoch den Vorschlag, Frankreichs weitere Ostexpansion durch eine das Elsaß einschließende „Barre von selbständigen Staaten zwischen Frankreich und Deutschland“193 zu stoppen. Somit zeigte sich Moeller weniger am Frieden als an der Eindämmung des Erzfeindes interessiert.
7.3. Als Autor des „Gewissens“ 7.3.1. Kritik an den demokratischen Parteien Untadeliger Idealismus sollte auch das Markenzeichen des jungkonservativen Leitmediums sein. Während man in der „Gewissenlosigkeit [...] das hervorstechendste Merkmal unserer Zeit“ sah, fühlte sich die Redaktion des Gewissens dem „rücksichtslosen Kampf wider die Gewissenlosigkeit“ und dabei nicht zuletzt dem „Kampf gegen alles Parteiengezänk, gegen alle Selbstsucht und Selbstgefälligkeit“ verpflichtet.194 Gewissen und Parteilichkeit schienen somit unvereinbare Gegensätze zu sein, und selbst als das Gewissen nach 1920 immer deutlicher nach rechts tendierte, rühmte sich die Zeitschrift noch ihrer Überparteilichkeit. Dabei zeigt bereits Eduard Stadtlers Kommentar zu den Debatten um die Annahme des Versailler Friedensvertrages durch den Reichstag (22.06.1919), dass die Behauptung eines überparteilichen Standpunkts bestens geeignet war, die parlamentarische Demokratie zu diskreditieren. Für Stadtler waren die damaligen parlamentarischen Auseinandersetzungen „nur ein weiteres Symptom für den allgemeinen politischen Wirrwarr“195. Gegen „Verzweiflung, Ratlosigkeit, Illusionismus und Hoffnungsfreudigkeit“196 empfahl er die Gründung von „Bekenntnisgemeinschaf191
192 193 194 195 196
Wilhelm Büderich (Pseudonym Moeller van den Brucks): Wir im Westen, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 270. Ebd., S. 269. Ebd., S. 270. in: Gewissen, 1. Jg., Nr. 11, 24.06.1919. Eduard Stadtler, Generalstreik. Nach der Entscheidung, in: Gewissen, 1. Jg., Nr. 11, 24.06.1919. Ebd.
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ten“197, um das „alte Parteiwesen“198 zu überwinden, das angeblich den Bestand der nationalen Gemeinschaft bedrohte. Zu einem systematischen Angriff auf die Parteien fühlte sich das Gewissen jedoch erst nach dem Kapp-Putsch im März 1920 ermutigt. Das Ereignis hatte gezeigt, dass die demokratischen Parteien die junge Republik allenfalls passiv verteidigen konnten. Die meisten dieser Angriffe auf das Parteiensystem, das die republikanische Regierung stützte, wurden abwechselnd von Heinrich von Gleichen und von Eduard Stadtler vorgetragen. Mit Ausdrücken und Wendungen, die in den ersten Jahren der Weimarer Republik gang und gäbe waren und später zum rhetorischen Inventar der nationalsozialistischen Propaganda werden sollten, prangerten sie die Dummheit der ihrer Meinung nach von dummen und selbstsüchtigen Parteibonzen geführten Parlamentarier an. So war Gleichen der Auffassung, dass „eine deutsche Partei an die Stelle der großen vier Parteien treten“199 solle, eine Partei, die auf den Ideen Nationalität, Christentum, Körperschaft und Führertum aufgebaut werden müsse. Zuvor wurde durch Stadtler erstmals vorsichtig angedeutet, dass die Macht auch von einer anderen Gruppe ausgehen könne, nämlich von den Großindustriellen. In einem AchtPunkte-Programm forderte er praktisch die Abschaffung des parlamentarischen Systems, seine Stelle sollten ein „Wirtschaftsrat“ und eine „provisorische Vertretung des deutschen Volkes“ einnehmen, die „auf Grund elastischer Ernennungen und Wahlen“ zu bilden seien.200 Nach diesem ersten Manifest reagierte die Zeitschrift auf jede neue Krise in Weimar, auf jedes weitere und meist unvermeidliche Nachgeben der verschiedenen republikanischen Regierungen gegenüber alliierten Forderungen mit der Feststellung, der Parlamentarismus müsse abgeschafft werden. Immer wieder wurde behauptet, die von einer Koalition von SPD und Zentrum getragene Regierung Wirth sei für alle Niederlagen gegenüber dem Ausland verantwortlich. Wie später die Nationalsozialisten forderte das Gewissen im Oktober 1921 „für das ‚Kabinett der Erfüllung‘ wegen der Preisgabe Oberschlesiens die Einsetzung eines Staatsgerichts“201. Drei Monate später erklärte Stadtler sogar: „Die Regierung ist faktisch nur noch der Exekutor des Willens unserer Feinde.“202 Ebenso wurden einige führende Vertreter der Republik, Walther Rathenau ebenso wie der viel geschmähte Finanzminister Matthias Erzberger, offen beschuldigt, sie verkauften Deutschland an die Alliierten. Beständig verleumdet wurde Erzberger vor allem von Stadtler. Wenige Wochen vor der Ermordung des Zentrumspolitikers griff der nominelle Herausgeber des Gewissens Erzbergers Ideen zum christlichen Solidarismus mit den Worten an: „Erzbergers Lehre ist der neueste
197 198 199 200 201 202
Ebd. Ebd. Heinrich von Gleichen, Die Partei, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 9, 02.03.1921. Eduard Stadtler, Chaos und Ziel, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 12, 31.03.1920. Heinrich von Gleichen, Sagen was soll, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 43, 24.10.1921. Eduard Stadtler, 1922, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 1, 02.01.1922.
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Volksbetrug eines betrogenen Betrügers.“203 Kein Zweifel, dass Stadtler die Ermordung des Finanzministers billigte. Bereits im Juni 1921 hatte er prophezeit: „[...] der Kampf um Erzberger wird an ganz anderer Stelle ausgetragen werden: im deuschen Volke selbst. [...] Es wird der Kampf der zwei Fronten sein, die sich heute durch das deutsche Volk ziehen: [...] der Front der aufbauenden Kräfte und der Front der zersetzenden Schädlinge. Es wird ein Kampf werden, in dem niemand dem deutschen Volke hilft, wenn es nicht sich selbst hilft. Und diese Selbsthilfe wird mit Erzberger fertig werden.“204
So fand man, als man dann mit Erzberger „fertig“ geworden war, beim Gewissen nicht nur keine Zeile der Entrüstung über den von rechtsradikalen Offizieren verübten Mord (26.08.1921), sondern befasste sich in einem vom Schriftleiter Moeller verfassten Artikel Nachlaßverwaltung bereits mit dem nächsten Opfer, Walther Rathenau, der die durch Erzberger eingeleitete Politik bis zur „deutsche[n] Katastrophe“205 fortführen wolle. Auch in der Folge ließ das Gewissen keine Gelegenheit ungenutzt, Rathenau als „Erfüllungspolitiker“ anzuprangern. In der auf seine Ermordung (24.06.1922) folgenden Nummer hieß es in einem ebenfalls von Moeller formulierten Leitartikel: „Ueber Rathenau, den die ihm nahestehende Presse als Staatsmann, als Charakter und Volksmann jetzt rühmt, haben wir gesagt, daß er ohne innere Linie war und als geistiger Träger der Erfüllungspolitik schließlich dem verzweifelten Volke als erfüllungsschuldig erscheinen mußte. Das Attentat ist der Entwicklung einer solchen Volksstimmung zuvorgekommen.“206
Konkret distanzierte man sich wohl von den dem rechten Milieu angehörenden Mördern – „Der politische Mörder handelt auf eigene Faust“207 –, um sich dann empört gegen die Schuldzuweisungen insbesondere des Reichskanzlers wenden zu können. Der Tenor aller größeren Beiträge, die sich mit den Ereignissen befassten, lässt sich auf die Formel bringen: Die eigentlichen Mörder und Schuldigen seien die Urheber der „Versailler Friedensschuld“! Eduard Stadtler beispielsweise fühlte sich bemüßigt, dem Reichskanzler Wirth folgende Worte an die Westmächte – „als Interpretation des Mordes gewissermaßen“ – zu empfehlen: „Seht Ihr, so ergeht es denjenigen, welche den deutschen Nationalisten des Internationalismus verdächtig erscheinen; die Verbitterung und Empörung ist im deutschen Volke so weit gediehen, daß Mordvergehen, selbst den staatsgläubig- und rechtsgerichteten, vielfach als erlaubt scheinen; ein Wunder, daß die Mordanschläge, wenn sie so rücksichtslos gegen ei-
203 204 205 206 207
„Der Herausgeber“ (d.i. Eduard Stadtler), Front und Etappe, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 26, 27.06.1921. Eduard Stadtler, Das Zentrum und sein Erzberger, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 25, 20.06.1921. „Sterling“ (d.i. Moeller van den Bruck), Nachlassverwaltung, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 36, 05.09.1921. Moeller van den Bruck (anonym), Res publica, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 27, 03.07.1922. Martin Spahn, Wahret die Front, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 27, 03.07.1922.
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gene Volksgenossen angewandt werden, nicht auch auf Vertreter der Entente schon zahlreicher geworden sind!“208
Einzig in der Kritik der Presse bemühte sich Moeller um einen differenzierteren Blick. Noch bevor der von ihm verantwortete Abdruck eines den Reichskanzler beleidigenden „Urteil[s] eines amerikanischen Republikaners“209 zu einem zeitweiligen Verbot des Gewissens führte, gab Moeller der Befürchtung Ausdruck, dass die Tat den Bestand der Nation gefährden könnte. In diesem Sinne beklagte er, dass „das Attentat auf Rathenau die parteipolitischen Gegensätze wieder aufgerissen“ habe, und konstatierte: „Wir sind abermals ein Volk, das gegen sich selbst rast. Das ist der schlechteste Dienst, den die Attentäter aus Unpolitik ihrem Lande zugefügt haben.“210 In solchen Äußerungen wird noch einmal deutlich: Moeller lehnte Parteien schon deshalb ab, weil sie als partikulare Interessengruppen der nationalen Integration im Wege standen. Er wollte „die Parteien [...] sprengen“, um „der Nation näher [zu] sein“.211 Denn für den Nationalpädagogen Moeller waren die Deutschen ein im Grunde „unpolitische[s] Volk“, das erst seine politischen Parteien haben „verderben“ können.212 Im historischen Kontext seien sie die „ebenbürtige Fortsetzung der deutschen Kleinstaaterei“213, in der Gegenwart vor allem handlungsunfähige und gesichtslose Ansammlungen von mittelmäßigen opportunistischen Karrieristen. Ferner unterstellte Moeller den Parteien, das „Laster der Innenpolitik“214 befördert und die „nationalen Leidenschaften“215 abgeschwächt zu haben, weshalb sie auch fraglos für den Fortbestand des „Systems von Versailles“ verantwortlich zu machen seien. Somit resultiert Moellers „Ruf nach einer parteifreien Politik“216 nicht zuletzt aus der Behauptung, dass die Parteien als ebenso opportunistische wie partikulare Interessengruppen unempfänglich für die wahren Nöte der nationalen Gemeinschaft seien. Analog zu seinen Ausführungen in Das dritte Reich (1923) forderte er daher, die „Parteien von der Seite der Weltanschauung her zu zertrümmern“217, wobei er unterstellte, dass insbesondere die Parteien der Mitte keine Weltanschauung hätten:„In der Mitte aber findet eine große Vermischung statt. In der Mitte ist ein jeder alles, was man nur will, liberal und demokratisch und selbstverständlich national, wenn auch 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217
Eduard Stadtler, Irrung, Verwirrung, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 29, 17.07.1922. Vgl. Fred W. Elven, Das Urteil eines amerikanischen Republikaners. An die Schriftleitung der Wochenschrift „Gewissen“, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 29, 17.07.1922. Moeller van den Bruck, Die Presse zum Attentat auf Rathenau, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 27, 03.07.1922. Moeller van den Bruck, Die Ideen der Jungen in der Politik, in: Der Tag, 26.07.1919.
Moeller van den Bruck, Parteiendämmerung, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 32, 02.10.1922. Ebd. Moeller van den Bruck, Das Laster der Innenpolitik, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 39, 20.11.1922. Moeller van den Bruck, Partei, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 21, 28.05.1923. Moeller van den Bruck, Die Ideen der Jungen in der Politik, in: Der Tag, 26.07.1919.
Moeller van den Bruck, Partei, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 21, 28.05.1923.
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immer unter dem Vorbehalte der Sonderauffassung.“218 Hinzu trat die Verachtung des vormaligen Bohemiens sowohl für die eines Stils entbehrende „Kompromißpolitik“219 als auch für das „Kleinliche, Durchschnittliche, Undurchsichtige“220 in der alltäglichen parteipolitischen Arbeit.
7.3.2. Ostpolitik Moeller pflegte in seinen Polemiken „Parteipolitik und Innenpolitik“ als „gleichbedeutend“ hinzustellen.221 Darin ist auch ein Hinweis auf eigene außenpolitische Präferenzen zu sehen: Als Schriftleiter des Gewissens hatte er die „Aufhebung des Friedens von Versailles in allen Punkten“222 zum ersten Ziel einer neuen, stärker nach Osten auszurichtenden deutschen Außenpolitik erklärt. Dabei war es nicht allein die momentane außenpolitische Konstellation, die Moeller zu seiner Forderung nach einem gemeinsamen Vorgehen von Deutschland und der jungen Sowjetunion gegen England und Frankreich bewog. Vielmehr war es so, dass Moeller im Kampf gegen Versailles eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem Westen sah, in der dem russischen Volk nunmehr wieder die Rolle eines natürlichen Verbündeten zukam. In diesem Sinne suchte der geborene Rheinländer beispielsweise daran zu erinnern, dass „der Osten“223 bzw. ein der westlichen Zivilisation widerstehendes Mitteleuropa bereits am damals besonders umkämpften Rhein beginnen würde.224 Darüber hinaus gab er den Lesern des Gewissens zu bedenken, dass man den „Krieg gegen den Westen“ sowie „gegen den Liberalismus“ und somit vor allem gegen eine genuin westliche, die nationale Gemeinschaft zersetzende Ideologie verloren habe.225 Notwendig verbiete sich eine westliche Orientierung, insbesondere weil die nach dem Versailler Frieden gezogenen Grenzen die machtpolitischen Chancen Deutschlands gerade im Osten verbessert hätten. So wies Moeller ausdrücklich darauf hin, dass „an die Stelle von Rußland und Oesterreich die Randstaaten getreten“ seien und „der Anschluß von Deutsch-Oesterreich [...] fast mehr ein innenpolitisches als ein außenpolitisches Problem“ sei.226 Dabei ist es ein interessantes Detail, dass sich Moeller, seine frühere Auffassung revidierend, als ein früher Prophet des HitlerStalin-Paktes erweist. Diesen vorwegnehmend machte er geltend, dass eines Tages 218 219 220 221 222 223 224 225 226
Moeller van den Bruck, Parteiendämmerung, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 32, 02.10.1922. Moeller van den Bruck an Heinrich von Gleichen, ohne Datum (Mitte 1923), in: NL Moeller van den Bruck, SB Berlin, 12/5, S. 2. Moeller van den Bruck, Die Ideen der Jungen in der Politik, in: Der Tag, 26.07.1919. Moeller van den Bruck, Das Laster der Innenpolitik, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 39, 20.11.1922. Moeller van den Bruck, Unsere Entscheidung, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 8, 25.02.1920. Vgl. Moeller van den Bruck, Stellung zu Frankreich, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 15, 21.04.1920. Vgl. Moeller van den Bruck (anonym), An die Rheinländer, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 26, 26.06.1922. Moeller van den Bruck, Unsere Entscheidung, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 8, 25.02.1920. Moeller van den Bruck, Die Außenpolitische Entscheidung, in: Gewissen, 1. Jg., Nr. 35, 07.12.1919.
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„Rußland und Deutschland sich von jenen Randstaaten nicht getrennt, sondern gegen sie verbunden sehen“227 würden. Wesentlicher Bestandteil seiner Stellungnahme gegen den Westen war ferner, dass Moeller dem nachrevolutionären Russland auch in ideologischer Hinsicht etwas abzugewinnen versuchte. Zwar lehnte er die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit den Sozialismus als Wirtschaftsprinzip ab, doch nahm er den von den Bolschewisten eingeschlagenen Kurs gern zum Anlass, ein Gegenmodell zum nivellierenden „westlichen Kapitalismus“228 zu propagieren. Als Gegenentwurf imaginierte Moeller in Anlehnung an die Überlegungen Max Hildebert Boehms229 eine für Deutschland angemessene „korporative Form“230 des Sozialismus, in der die für das Kaiserreich konstitutive Klassenspaltung, nicht aber die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die ihr zugrunde liegende gesellschaftliche Ungleichheit, die „Gliederung der Deutschen“231, aufgehoben seien. Doch wurden solche Überlegungen nicht vertieft. Vielmehr gab Moeller seinen Lesern durch seine Ausführungen zu verstehen, dass an eine Übernahme des Sozialismus sowjetischer Prägung schon deshalb nicht zu denken sei, weil er ein fremder, östlicher Sozialismus sei. Entsprechend beeilte er sich dann auch festzustellen, dass „Deutschland [...] auch in wirtschaftlichen Dingen den Uebergang zwischen Osten und Westen“ bilde, weshalb es „vorbestimmt“ sei, „den Ausgleich zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu finden“.232 So war Moellers wiederholter Ruf nach einer östlichen Orientierung deutscher Außenpolitik keineswegs Ausdruck seiner nunmehrigen Sympathie für die junge Sowjetherrschaft. Tatsächlich entsprang seine Ostorientierung einer in der Vorkriegszeit entwickelten, dezidiert antiwestlichen Haltung sowie der vor allem in der Reichswehrführung verbreiteten Einsicht233, dass ein in der Mitte Europas liegendes, militärisch geschwächtes Deutschland sich die Option eines Bündnisses mit den Bolschewisten unbedingt offenhalten müsse. So war es für Moeller „schon aus raumpolitischen Gründen das Gegebene, daß das deutsche Volk in seinem Weltkampfe, den Deutschland gegen den Westen, den Ententekapitalismus, den Weltkapitalismus führt, sich auf den Osten stützt.“234 Beispielhaft für diese auf eine deutsche Vorherrschaft in Mitteleuropa abzielende Bündnisidee ist ein Vasallenpolitik betitelter Beitrag, in dem sich Moeller gegen ein die englische Intervention unterstützendes Eingreifen Deutschlands in den russischen Bürgerkrieg aussprach: „England soll deshalb nicht glauben, daß wir uns gegen den Osten entscheiden könnten. [...] Es ist deshalb unsere Bestimmung, das Gleichge227 228 229 230 231 232 233 234
Ebd. Moeller van den Bruck, Unsere Entscheidung, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 8, 25.02.1920. Vgl. Max Hildebert Boehm, Körperschaft und Gemeinwesen, Leipzig 1920. Moeller van den Bruck, Unsere Entscheidung, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 8, 25.02.1920. Ebd. Ebd. Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 166 f. Moeller van den Bruck, Der Wanderer ins Nichts, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 26, 02.07.1923.
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wicht zwischen Osten und Westen zu bilden.“235 Auch zeugt sein Kommentar zum Vertrag von Rapallo davon, dass Moeller die deutsch-sowjetische Annäherung als „Vorbedingung [...] für eine künftige deutsche Politik“236 vor allem deshalb begrüßte, weil die westlichen Mächte durch sie herausgefordert seien und „der deutschen Politik eine erste Bewegungsfreiheit zum mindesten gegenüber Frankreich zurück[gegeben]“237 worden sei, während die „Selbständigkeit gegenüber Rußland“238 aufgrund des defensiven Charakters der Vereinbarungen – wechselseitiger Verzicht auf etwaige kriegsbedingte Entschädigungsansprüche, diplomatische Anerkennung der Sowjetunion, Meistbegünstigungsklausel – weitgehend erhalten geblieben sei.
7.3.3. Behandlung der Kriegsschuldfrage Dass über die östlich orientierte Außenpolitik hinaus der Kampf gegen den Westen für Moeller schwerpunktmäßig ein Kampf gegen das „System von Versailles“ war, die Kritik an Versailles aber immer auch eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem Westen bedeutete, zeigt sich nicht zuletzt in Moellers Attacken auf die von den Alliierten im Versailler Vertrag festgeschriebene deutsche Kriegsschuld. Zuzüglich zu seiner moralischen Bedeutung war dieses Problem insofern ein existentielles, als die Reparationsansprüche der gegen Deutschland verbündeten Staaten aus der deutschen Urheberschaft des Krieges abgeleitet wurden. In dem berühmten Artikel 231 des Versailler Vertrages heißt es hierzu: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“
Nicht bloße Rechthaberei, sondern handfeste politische Interessen waren es also, die den auch im Politischen Kolleg mit der „Kriegsschuldlüge“239 befassten Moeller die deutsche Mitwirkung bei der Auslösung des Krieges hartnäckig verschweigen ließen, während er umgekehrt den Alliierten vorwarf, aus quasi niederen Beweggründen und wider besseres Wissen auf deren Festschreibung zu beharren. Unstrittig war für Moeller vor allem, dass „die Entente den Begriff einer Schuld am Ausbruche des Weltkrieges aufgebracht“ habe, „um ihren Vertrag von Versailles zu sanktionieren“.240 235 236 237 238 239 240
Moeller van den Bruck, Vasallenpolitik, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 10, 10.03.1920. Moeller van den Bruck, Die deutsch-russische Seite der Welt, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 20, 15.05.1922. Ebd. Ebd. Vgl. Martin Spahn, Bericht über das Politische Kolleg, seine Art und Tätigkeit in den Jahren 1920/25, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, Nr. 2, Dezember 1925, S.14–20, hier 15.
Moeller van den Bruck, Die versäumte Schuldfrage, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 32, 11.08.1924.
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Hinzu kam, dass er in seinen Pariser Jahren miterlebt hatte, wie im damaligen Frankreich der Revanchegedanke propagiert worden war. So zögerte Möller nun nicht, Frankreich in der Person seines Ministerpräsidenten Raymond Poincaré zum alleinigen Kriegsschuldigen zu erklären: „Poincaré wurde der Krieg.“241 Demnach sei es zum Krieg vor allem deshalb gekommen, weil es einem ehrgeizigen und intriganten Politiker gelungen sei, ein Bündnis zwischen Frankreich, England und Russland zustande zu bringen, dessen beklagenswertes Opfer dann das unschuldige deutsche Volk geworden sei: „Es war Poincaré, der den Krieg wünschte. Und es war Poincaré, der ihn betrieb. Er betrieb ihn auf seine russische Weise, in die er freilich die englische Hilfe schon deshalb mit einstellte, weil sich nur dann, wenn er sich Englands versicherte, die gefürchtete Möglichkeit einer Annäherung zwischen England und Deutschland, wie sie in der Möglichkeit eines Bagdadabkommens lag, durchkreuzen ließ.“242
Dass Moeller den Weltkrieg als von langer Hand vorbereiteten französischen „Revanchekrieg“243 bzw. als notwendiges Resultat britischer „Einkreisungspolitik“244 zu deuten versucht, zeichnet seine im Gewissen publizierten Ausführungen zur Kriegsschuldfrage jedoch allenfalls in zweiter Linie aus. In ihrem Bemühen, zu einer rechtlichen Klärung der Kriegsschuldfrage zu gelangen, gingen maßgebliche deutsche Politiker und Wissenschaftler noch lange Zeit von einer Unschuld Deutschlands aus.245 Signifikant für Moeller hingegen ist, dass er beispielsweise die im Abkommen von Spa (Juli 1920) festgelegten Kohlequoten – Deutschland wurde verpflichtet, sechs Monate lang jeweils zwei Millionen Tonnen Kohle besonders guter Qualität an die Alliierten zu liefern – als nationales Erweckungserlebnis feierte: „Das deutsche Volk weiß jetzt, daß dieser Friede ein Ernst ist. Es wird morgen wissen, daß er Fremdherrschaft bedeutet.“246 Dabei kam Moeller die unnachgiebige Haltung der Alliierten auch deshalb gelegen, weil er fortan den demokratischen Parteien ihr Versagen im Kampf gegen das System von Versailles und die „Preisgabe der Schuldfrage“247 vorwerfen konnte. Indem Moeller seinen Lesern suggeriert, dass die deutsche Kriegsschuld nur festgeschrieben werden konnte, weil es im Frühjahr 1919 keine „Menschen und Deutschen und Demokraten“ gegeben hatte, die „das gewaltige Wort des Einspruches gegen die
241 242 243 244 245 246 247
Moeller van den Bruck, Poincaré, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 9, 02.03.1921. Ebd. Moeller van den Bruck, Die Rückkehr zur Schuldfrage, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 22, 30.05.1921. Ebd. Vgl. Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983.
Moeller van den Bruck, Spaa als Wendepunkt, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 29, 04.08.1920. Moeller van den Bruck, Die versäumte Schuldfrage, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 32, 11.08.1924.
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Begründung des Betruges mit der Schuldfrage fanden“,248 erklärt er die Führer insbesondere der deutschen Sozialdemokratie und des Zentrums nicht nur für feige, sondern für generell unfähig und unwillig, sich überhaupt wieder mit dem Problem zu befassen. Diesbezüglich war für Moeller „die Schuldfrage bereits zu einer Parteifrage“249 auch insofern geworden, als dass die politisch Verantwortlichen von 1918/19 im Jahre 1921 von der durch den Vertrag von Versailles geschädigten Volksgemeinschaft zur Rechenschaft gezogen werden sollten: „Und mancher ist unter ihnen, der allerdings Grund hat, zu fürchten, wenn er aufhört, Deutschland mit der Schuld am Kriege zu belasten, zu einer Verantwortung dafür gezogen zu werden, daß er 1918 mit dieser Schuldlüge das deutsche Volk überredete, die Waffen niederzulegen und sein Heil einem unverhofften Sieger anzuvertrauen.“250
Da Moeller also diagnostiziert, dass „die deutsche Demokratie [...] die große Schlacht um die Schuldfrage niemals schlagen“251 werde und er alle auf eine Revision des Vertrages gerichteten Verhandlungen als aussichtslos kennzeichnet, erklärt er nicht nur die politische und womöglich militärische Konfrontation mit Frankreich und England zur einzig möglichen Strategie, er stellt darüber hinaus auch das Existenzrecht der Republik in Frage. Schließlich hatten es ihre führenden Vertreter (Rathenau und Stresemann) mit den ihnen gegebenen Mitteln nicht vermocht, ein Ende der Reparationsleistungen herbeizuführen. Pointiert fasste Moeller zusammen: „Die deutsche Demokratie muß heute wollen, was unsere Feinde wollen. Das ist ihr selbstverschuldetes Schicksal.“252
7.3.4. Innenpolitik als Außenpolitik Die These von der „Preisgabe der Schuldfrage“253 durch die deutschen Parteien wie auch sein Aufruf zum Kampf gegen den Parlamentarismus254 belegen, dass der Feind für Moeller primär ein äußerer Feind war, und zwar jener, gegen den man im Weltkrieg gekämpft hatte – die Entente, die Siegermächte von Versailles und die von ihnen oktroyierte Nachkriegsordnung, der Westen. Letztendlich war dieser äußere 248 249 250 251
Ebd. Moeller van den Bruck, Die Rückkehr zur Schuldfrage, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 22, 30.05.1921. Ebd. Moeller van den Bruck, Die versäumte Schuldfrage, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 32, 11.08.1924.
252
Moeller van den Bruck, Demokratisch, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 49, 05.12.1921.
253
Moeller van den Bruck, Die versäumte Schuldfrage, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 32, 11.08.1924.
254
Entsprechend: „Hinter dem Kampf gegen den Parlamentarismus steht der Kampf gegen den Frieden von Versailles, den der Parlamentarismus über den Kopf des Volkes hinweg abgeschlossen hat und den er jetzt deckt, hinnimmt, gutheißt“ (Moeller van den Bruck (anonym), Bayern, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 38, 13.11.1922).
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Feind für ihn aber auch im Inneren präsent. Das heißt, mochte seine Kritik auch den politischen Parteien oder der Republik gelten, immer unterstellte Moeller, dass der Westen hier seine Hand im Spiele habe. So suchte er beispielsweise in einer innerdeutschen „französische[n] Partei“255 sowohl den Wiedergänger der von ihm favorisierten Konfrontationspolitik als auch den eigentlichen Garanten der Erfüllungspolitik zu entdecken: „Wir haben nicht nur die Franzosen im Lande. Wir haben auch die Frankophilen im Lande. Wir haben sie überall, in der Presse, in den politischen Klüngeln, und in und zwischen der Reichspolitik.“256 Dabei war es vor allem der Liberalismus, dem Moeller die Qualitäten eines Trojanischen Pferdes zuschrieb. Nachdem der Liberalismus bereits die Niederlage Deutschlands mit verschuldet habe, sei es nun seine Funktion, die Ohnmacht Deutschlands zu zementieren: Außenpolitisch, indem er eine Politik der Erfüllung und friedlichen Verständigung garantierte, und innenpolitisch, indem er die Nation in Interessengruppen und Parteien spalte und dadurch jene nationale Integration verhindere, die in Moellers Augen allein den Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht ermöglichen würde. So war beispielsweise die Novemberrevolution als eine von „Opportunisten gemacht[e] [...] pazifistische Revolution“ für Moeller auch als ein vom Westen gesteuerter Dolchstoß deutbar. Seiner Auffassung nach suchte sie „nur eine ideologische Konjunktur zu erhaschen, die auf Versprechungen beruhte, welche aus dem Westen kamen, der Heimat des Liberalismus.“257 Auch die Weimarer Verfassung nannte Moeller „ein Dokument der Unbelehrbarkeit des liberalen Menschen“. Sie sei „auf den Grundsätzen aufgebaut, mit denen das deutsche Volk betrogen wurde“258, wie auch „Demokratie in Deutschland“ für ihn das Ergebnis eines Weltkrieges war, „den der nationalistisch gewordene europäische Liberalismus wider die deutsche Nation geführt hat“.259 In diesem Sinne schien ihm die erste deutsche Demokratie auch als der vorläufige Endpunkt der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Deutschen „von diesem Westen, anstatt die deutschen Verfassungsformen aus den eigenen Wurzeln zu entwickeln, [...] nacheinander Liberalismus, Konstitutionalismus, Parlamentarismus“ hatten „aufschwätzen lassen.260 So wird offenbar, dass Moeller die parlamentarische Demokratie deshalb bekämpfte, weil er sie als Fremdkörper empfand, da das deutsche Volk seiner Auffassung nach im Grunde dem Führerprinzip verpflichtet sei: „Das Volk weiß ganz genau, daß es, wenn ‚es‘ wieder einmal ‚anders‘ werden soll, wieder nur Einzelne sein werden, die uns die ‚Aenderung‘ bringen können.“261 Wenn Moeller trotz dieses Standpunktes der Nationalisierung der Demokratie (03.06.1922) einen Beitrag widmete, so hat dies zum einen damit zu tun, dass für ihn 255 256 257 258 259 260 261
Moeller van den Bruck, Frankophil, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 42, 22.10.1923. Ebd. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 38, 19.09.1921. Moeller van den Bruck, Konservativ (Fortsetzung), in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 39, 26.09.1921. Moeller van den Bruck (anonym), In demokratischer Gesellschaft, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 25, 19.06.1922. Moeller van den Bruck, Schwarzrotgold, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 42, 20.10.1924. Moeller van den Bruck, Demokratisch, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 49, 05.12.1921.
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die Monarchie als Staatsform durch den Wilhelminismus auf absehbare Zeit diskreditiert war.262 Zum anderen suchte Moeller die Leserschaft des Gewissens zu überzeugen, dass die von ihm imaginierte solidarische nationale Gemeinschaft die einzig wehrhafte und wahrhaft demokratische Organisationsform des deutschen Volkes sei: „Das Ziel ist der Sechzig-Millionen-Wille. Und völlig gleichgültig scheint uns zu sein, ob wir diesen Willen dann noch einen demokratischen Willen nennen. Aber alles hängt davon ab, ob er ein nationalisierter Wille ist: der Wille einer Nation, welche weiß, was sie will, und tut, was sie muß.“263 Sein Plädoyer für eine aus der ursprünglichen Lebensgemeinschaft des Volkes hervorgehende unmittelbare Demokratie motiviert dabei nicht zuletzt auch die Aufspaltung des Demokratiebegriffs in Form („Demokratentum“) und Inhalt („Volklichkeit“), wie Moeller sie unter anderem in dem Beitrag Schwarzrotgold (20.10.1924) vornahm. In der Behauptung eines die Weimarer Republik beherrschenden „Demokratentums ohne Volklichkeit, das durch Liberalismus in Massenindividualismus zersetzt wurde“264, zeigt sich, dass die parlamentarische Demokratie für ihn eine ihres Inhalts entbehrende Form der Demokratie war. Mehr noch, er unterstellte allen Weimarer Demokraten, den Zusammenhalt der nationalen Gemeinschaft nachhaltig beschädigt zu haben, und warf ihnen vor, durch ihren Liberalismus nicht nur zu einer „Politisierung im westlerischen Sinne“, sondern auch zur Ausbreitung des „Massenindividualismus“ beigetragen zu haben.265 In diesem Sinne war es vor allem die ihm zugeschriebene desintegrative Kraft, die den Liberalismus für Moeller zu dem äußeren Feind im Inneren machte. Doch begnügte er sich nicht mit dieser Art der inneren Feindbestimmung. Selbst wenn er Abstufungen hinsichtlich des Ausmaßes der Gefährdung vornahm, es nach dem Liberalismus nur noch innere Feinde zweiten Grades gab, sah Moeller die machtpolitische Stärke verheißende nationale Integration auch durch rechte Putschisten und kommunistische Klassenkämpfer bedroht. Zu den von ihm mit avantgardistischem Gestus bekämpften „Geschichtsidee[n]“266 des vergangenen Jahrhunderts gehörte dabei die auf Marx zurückgehende Lehre vom Klassenkampf, weil nach seiner Ansicht die wahrhaft existentiellen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts nicht zwischen Klassen, sondern zwischen Nationen ausgetragen würden. Diesbezüglich zeige gerade der Vertrag von Versailles, der die „Ausbeutung der Nationen verewigen“267 sollte, dass der auf die Ausbeutung der Arbeiter fixierte Marx die wahren Triebkräfte der Geschichte nicht erkannt hatte und also der Marxismus als Ideologie des materialistisch-positivistischen 19. Jahrhunderts überholt sei. 262 263 264 265 266 267
Vgl. Moeller van den Bruck, Die Nationalisierung der Demokratie, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 23, 03.06.1922. Ebd. Moeller van den Bruck, Schwarzrotgold, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 42, 20.10.1924. Ebd. Moeller van den Bruck, Das tausendjährige Reich, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 1, 05.01.1921. Ebd.
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Entsprechend kommentierte Moeller die Suspendierung der internationalen Klassensolidarität zugunsten der nationalen Solidarität, wie sie seiner Ansicht nach besonders deutlich nicht etwa schon im August 1914, sondern erst nach der Revolution, beim Abschluss des Versailler Friedensvertrages, zutage getreten sei: „[...] erst der Friede brachte die Enttäuschung. Während des Krieges gab sich die deutsche Sozialdemokratie noch den gewohnten Selbsttäuschungen hin. Sie glaubte im Ernste, daß der künftige Friede eine internationale Sozialpolitik bringen und die Programme von Leeds und Bern verwirklichen werde. [...] Dann wurde der Vertrag von Versailles unterzeichnet. [...] Da merkten die deutschen Arbeiter, daß sie die Betrogenen waren. Da merkten sie, daß dieser Vertrag eine Knechtschaft bedeutete, in der sie ein Menschenalter und länger für die Sieger arbeiten sollten. Da merkten sie, [...] daß vollends die englischen Genossen es als ziemlich selbstverständlich empfinden würden, wenn die deutschen Genossen künftig die Arbeit von Sklaven verrichteten.“268
Für Moeller erbrachte somit der Versailler Friede den Beweis, dass die nationale Solidargemeinschaft die einzig denkbare gerechte Ordnung sei: „[...] dieselben Arbeiter, denen Marx gesagt hatte, daß sie kein Vaterland haben, sie haben heute nichts anderes als die Gemeinschaft, in der sie mit den Menschen ihres Bodens, ihrer Sprache und eines gleichen Schicksals leben.“269 Da aber auch die deutschen Arbeiter unverzichtbarer Teil der nationalen Gemeinschaft waren, suchte Moeller Marxismus und Arbeiterbewegung auseinanderzudividieren, indem er nur die überzeugten Marxisten unter den Arbeitern, den Arbeiter, der „sich nicht als Mensch, sondern als Proletarier fühlt“, der „Masse bildet und in Doktrinen denkt“, bekämpfte.270 In diesem Sinne waren selbst Kommunisten für ihn noch „abgeirrte, querköpfige, toll gewordene Deutsche, die nicht wissen was sie tun – aber jedenfalls Deutsche, die überhaupt etwas tun.“271 Darüber hinaus implizierte die Frage, ob „Kommunisten Deutsche“ seien, dass es möglicherweise auch Anhänger eines nichtmarxistischen „nationalen Kommunismus“ geben könnte, die in die nationale Gemeinschaft integrierbar seien. Zwar wurde bei dieser Vereinnahmung der Begriff des Kommunismus der Beliebigkeit preisgegeben,272 doch war es neben dem gemeinsamen Kollektivismus auch die radikale Gegnerschaft sowohl zum „Ententekapitalismus“273 als auch zum Parlamentarismus, die
268 269 270 271 272
273
Moeller van den Bruck, Der Sozialismus an der Grenze und die Grenze des Sozialismus, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 20, 26.05.1920. Moeller van den Bruck, Das tausendjährige Reich, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 1, 05.01.1921.
Moeller van den Bruck, Sind Kommunisten Deutsche?, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 26, 27.06.1921. Ebd. Entsprechend: „Die Spanne des Kommunismus reicht von den Illusionen einer äußersten Linken, die in der chiliastischen Vorstellung einer möglichen Gütergemeinschaft lebt, von der die ganze Menschheit schon auf Erden selig werden soll – bis zu dem Radikalismus einer äußersten Rechten, die an das eigene Volk denkt, die von Volksgemeinschaft spricht, und heute von Notgemeinschaft“ (ebd.). Ebd.
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die deutschen Kommunisten für Moeller als mögliche Bündnispartner im Kampf gegen den Liberalismus akzeptabel werden ließen. „Was von beiden Seiten bekämpft wird, das ist der Liberalismus, das ist der Gehalt an Liberalismus, […] der sich von der Mitte aus nachgerade allen Parteien mitteilt, sie durchseucht und zersetzt. In diesem Liberalismus sieht der Revolutionär und der Konservative den Ausdruck einer individualistischen und […] einer egoistischen Lebensanschauung. Deshalb verneinen beide den Parlamentarismus, in dem sie eine Schutzform erkennen, die sich der Liberalismus geschaffen hat.“274
7.3.5. Der Kapp-Putsch und die Genese der Konservatismuskonzeption Moellers Dass die nationale Solidargemeinschaft nicht nur Zielvorstellung des politischen Denkens Moellers war, sondern ihre Gefährdung auch als Maßstab für die Bestimmung von inneren Feinden fungierte, zeigt sich nicht zuletzt in Moellers Beurteilung des Kapp-Putsches (März 1922). Während Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm und weitere maßgebliche Mitglieder des Juni-Klubs den gewaltsamen Umsturzversuch begrüßten,275 verurteilte Moeller die vom ostelbischen Großgrundbesitz und hohen Beamten unterstützte militärische Fronde. Sie bedeutete für ihn das vorläufige Ende der Annäherung von Links und Rechts und somit eine Unterbrechung der „beginnende[n] Einigung der Nation“276. Zu einer Zäsur in Moellers politischem Denken wurde das Ereignis schon deshalb, weil er bei den überwiegend monarchistisch gesinnten Putschisten eine geistige „Leere“277 feststellte. Überdies wurde Moellers Konservatismuskonzeption von den Ereignissen nachhaltig beeinflusst. Bis zum Putsch hatte Moeller im deutschen Konservatismus eine die Ausbildung des deutschen Nationalstaats behindernde „geistige[...] Verwahrlo-
274 275 276
277
Ebd. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 82 ff. Als Visionär einer „geistige[n] Annäherung von Rechts und Links“ führte Moeller im Frühjahr 1920 aus: „Linke und Rechte waren durch das Mißtrauen gegen die Parteien verbunden, gegen den liberalen und egoistischen Gehalt in allem Parteileben, der das Programm über die Sache stellt, gegen den Parteiparlamentarismus, der ebenso notwendig die Geschäfte, nicht so sehr der Nation, als derjenigen der Parteien zu betreiben pflegt, wenn es auch im Namen der Nation geschah. Es verband sich ferner der Diktaturgedanke, die harte menschliche Erfahrung, daß menschliches Wohlergehen niemals menschlichem Gutdünken überlassen werden darf, sondern durch Zwang und Führung vorgezeichnete und übergeordnete Richtung erreicht werden kann. Ein Diktatursozialismus kam auf, dem Arbeitszwang und Streikverbot nach alter preußischer Erfahrung und russischem Beispiel allmählich vertraute, weil verständige Vorstellungen wurden“ (Moeller van den Bruck, Wir wollen die Revolution gewinnen, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 12, 31.03.1920). Ebd.
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sung“278 beobachtet. Nach dem Putsch unterschied Moeller zwischen „konservativen“ und „reaktionären Menschen“ wobei er Letztere als „eine Entartungsform des konservativen Menschen“279 bezeichnete. Bei der Typisierung des rückwärtsgewandten, „reaktionären Menschen“ knüpfte er an seine Schilderung der Bedrohung, die vom Kapp-Putsch für die nationale Integration ausging, an und bezeichnete den „reaktionären Menschen“ als „eine Gefahr für die Nation“280. Demzufolge ist die Unterscheidung von „konservativ“ und „reaktionär“ als Resultat einer Selbstverständigung und der Abgrenzung gegen die in der Tradition des wilhelminischen Reiches stehenden Konservativen anzusehen: „Reaktionär ist, wer das Leben, das wir vor 1914 führten, noch immer für schön und groß, ja überaus großartig hält. Konservativ wird sein, sich [...] mit Wahrhaftigkeit einzugestehen, daß es abscheulich war.“281 In diesem Sinn konnte Moeller, da er im Gegensatz zu den an die Agrarlobby gebundenen Altkonservativen ein Verfechter des „gemeinwirtschaftlich gebundenen Unternehmerkapitalismus“282 war, jene Attribute der Zukunftsfähigkeit für sich beanspruchen, die er auch dem „konservativen Menschen“ zuschrieb: Moeller sah „die Gegenwart nach der Seite der Zukunft geöffnet“.283 Dabei zeigt eine Würdigung Friedrich Lists284, dass Moeller wirtschaftliche und technische Innovationen als möglichen Beitrag zur nationalen Integration prinzipiell begrüßte. So war Moeller auch in den Nachkriegsjahren konservativ vor allem insofern, als er die gesellschaftspolitischen Konsequenzen des von ihm affirmierten Industriekapitalismus bekämpfte. Seine Ablehnung von Individualisierung und gesellschaftlicher Differenzierung trat im Gewissen deutlich zutage, als er dem „konservativen Menschen“ exklusiv zuschrieb, dass er „nicht in Individuen“ denke, „wie der liberale Mensch, dessen Weltbild bei seinem Ich endet und anfängt.“285 Umgekehrt erkenne allein der „konservative Mensch“, „daß das Leben der Menschen sich in Nationen erhält. Also sucht er das Leben derjenigen Nation zu erhalten, der er angehört.“286 Weil bei Moeller die Nation eine präpolitische nationale Gemeinschaft war, formten sich seine Ausführungen zum Konservatismus jedoch nicht zu einer politi278
279 280 281 282 283 284 285 286
Entsprechend: „Der Konservatismus in Deutschland vergaß völlig, daß das zu Erhaltende ursprünglich ein zu Erringendes gewesen war. Und er vergaß, daß es nur dann erhalten werden kann, wenn es immer wieder errungen wird. Er ging von dem konservativen Angriff allmählich zur konservativen Verteidigung über, und noch nicht einmal zur Verteidigung – bis er schließlich geschlagen wurde“ (Moeller van den Bruck, Die konservative Schuld, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 11, 17.03.1920). Moeller van den Bruck, Reaktionär, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 24, 12.06.1922. Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Der Wanderer ins Nichts, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 26, 02.07.1923. Moeller van den Bruck, Reaktionär, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 24, 12.06.1922. Vgl. Moeller van den Bruck, Friedrich List, in: Die Mannen, Nr. 4. Beilage zum Gewissen vom 17.11.1924. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 40, 03.10.1921. Ebd.
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schen Theorie. In seinen von Informationsgehalt weitgehend befreiten Traktaten ging es Moeller um die Initiation einer Haltung, nicht aber um die Analyse gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Banales als Exklusives ausgebend, schreib er dem „konservativen Menschen“ beispielsweise zu, dass er „gewohnt“ sei, „Ansprüche an die Menschen zu stellen und sich nicht damit herauszureden, daß irgendwelche Umstände zu irgendwelchen Ereignissen führten.“287 Bezeichnend für Moellers jungkonservatives Selbstverständnis war jedoch vor allem der Grundsatz, dass das zu Erhaltende zugleich ein zu Erringendes sei. Die defensive Verteidigungshaltung des Vorkriegskonservatismus sollte abgelöst werden durch konservative Aktion: „Auch Konservatismus muß immer wieder errungen werden. Konservatives Denken sieht in allen menschlichen Verhältnissen ein Ewiges wiederkehren, nicht im Sinne einer Wiederkehr des Gleichen, sondern im Sinne dessen, was ständig und dauernd da ist, bald vortritt, bald zurücktritt, aber immer wieder durchbricht, weil es menschlich ist. [...] Nur dieser schöpferische Konservatismus läßt sich einem Volke mitteilen. Nur ihm glaubt ein Volk als Nation.“288
Das heißt, der von Moeller propagierte „schöpferische“ Konservatismus vertraute nicht mehr den organischen Wachstumskräften, wie es der klassische Konservatismus des 19. Jahrhunderts noch tat, sondern suchte mit revolutionären Mitteln die nationale Gemeinschaft in einen Zustand zu erheben, den es zu bewahren galt. Rückblickend wurde daher auch die Revolution vom November 1918 von Moeller als eine den allgemeinen Gesinnungswandel einleitende Zäsur im politischen Denken der Deutschen gewürdigt: „Seit der Revolution ist eine Veränderung mit uns Allen geschehen. Sie geht zwischen den Menschen als eine größere Volklichkeit um“.289 Angesichts solcher Äußerungen stellt sich nun allerdings auch die Frage, was denn tatsächlich noch konservativ an diesem sich revolutionär gebärdenden Konservatismus ist. Stefan Breuer schlägt in seiner wegweisenden Abhandlung über die Anatomie der Konservativen Revolution (1995) vor, eben jenen Begriff Konservative Revolution, den er in den Titel seines Buches aufgenommen hat, ab sofort aufzugeben, weil er eine ideologische Homogenität und Kontinuität vorspiegele, die in Wahrheit niemals existiert habe. Für Breuer hat der deutsche Konservatismus irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts seine Basis verloren. Der Versuch radikaler Nationalisten wie Moeller, diesen Begriff wiederzubeleben, laufe daher auf einen Etikettenschwindel hinaus. Bei der sogenannten Konservativen Revolution handle es sich um ein Phänomen sui generis, welches Breuer insgesamt den „neuen Nationalismus“ zu nennen empfiehlt.290 287 288 289 290
Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 39, 26.09.1921. Ebd. Moeller van den Bruck, Der Revolutionsgewinn, in: Das Gewissen, 1. Jg., Nr. 31, 11.11.1919. Vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995, S. 180 ff.
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Mir scheint dieser Vorschlag nicht unbedingt zweckmäßig zu sein. Zwar kann Breuer darauf verweisen, dass dieser inklusive „neue Nationalismus“ sich von einem „alten“ exklusiven Nationalismus beispielsweise dadurch unterscheide, dass seine Propagandisten nicht von einem bestimmten Klasseninteresse geleitet seien, weshalb sie sich, statt Reichsfeinde zu verfolgen, allein der nationalen Integration widmeten.291 Das Beispiel Moeller jedoch zeigt, dass gerade der Begriff der Konservativen Revolution jene inneren Paradoxien eines Denkens ausdrückt, welches sich auf eine ahistorische nationale Gemeinschaft wie auf angeblich unvergängliche Werte stützt, diesen Werten aber erst durch einen radikalen Umsturz neue Geltung verleihen will, ja mehr noch, sie durch eine geistige Elite überhaupt erst noch erschaffen zu müssen glaubt. Da jedoch der Begriff der Konservativen Revolution eine nichtexistente Kontinuität suggeriert, empfiehlt es sich, das Bewusstsein für die tatsächlichen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zu schärfen. Dabei ist bei Moeller eine substanzielle Verbindung zwischen „Ästhetischer Opposition“ und „Konservativer Revolution“ insofern gegeben, als dessen konservativ revolutionäre Attitüde auch durch seine nationalästhetische Position motiviert ist. Wenn Moeller von seinen Zeitgenossen ein Umdenken, die geistige Erneuerung der Nation verlangt, so ist in seinen Diagnosen292 wie in seinen Zielvorstellungen immer die Idee einer neu zu erschaffenden nationalen Stileinheit virulent. So formulierte Moeller: „Aber Leben ist nur unter Form möglich. Aus der Formlosigkeit selbst, die unser Ausdruck geworden ist, kommt der Ruf nach Form, der schon morgen überall gehört werden wird.“293 Ferner entsprach es Moellers elitär oppositioneller Haltung, dass er sich als Schriftleiter des Gewissens eindeutig auf die Veränderung des Bewusstseins, der Sichtweisen und Haltungen konzentrierte, während Fragen nach sozialen oder ökonomischen Strukturen meist völlig ausgeblendet blieben.294 So war die politische Krise der frühen Weimarer Republik als „Unförmigkeit“295 für Moeller im Grunde ein Problem des nationalen Habitus, dem er sowohl durch Denunziation des politischen Feindes als auch durch die geistige Ausbildung seiner Zeitgenossen begegnen zu können glaubte. In diesem Sinne rückte er dem „liberalen Menschen“ beispielsweise auch dadurch zu Leibe, dass er ihm ein defizitäres nationales Bewusstsein zuschrieb: „Der liberale Mensch sucht sich heute in Deutschland mit den Verhältnissen abzufinden, zu denen der Ausgang des Weltkrieges die Nation heruntergebracht hat. […] der liberale 291 292
293 294 295
Ebd., S. 187 f. Exemplarisch: „Das Reich war ohne Form. Es hatte die konservative Form aufgegeben, in der es gegründet war. Es hatte sie durch eine imperialistische Form ersetzt, zu der es sich berechtigt glaubte. Aber es gab auch wieder Dinge einer äußerlich verstandenen Tradition, an die es nicht rühren ließ. [...] Und in diesem äußersten Selbstbewußtsein hat es dann für sein zur Schau getragenes und mit Lärm verkündetes Wesen in der Welt eine unerhörte Reklame gemacht, die im Grunde eine Reklame für Formlosigkeit war“ (Moeller van den Bruck, Reaktionär, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 24, 12.06.1922). Moeller van den Bruck, Der Umsturz der Form, in: Der Tag, 27.01.1920. Vgl. auch Kurt Lenk, Deutscher Konservatismus, Frankfurt am Main 1989, S. 140. Moeller van den Bruck, Einheit, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 3, 16.01.1922.
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Mensch sucht diese Verhältnisse, für die er die Verantwortung trägt, auch noch zu beschönigen und sie erträglich zu finden. Er ist immer Bejaher, schon um des Lebens willen, das er so liebt. Er bejaht auch dieses Leben, das wir nach dem Befehle unserer Gegner im Weltkriege führen müssen, und frißt seine Schande, die man hinwirft. Er bejaht mit einem Opportunismus, der ihm angeboren ist und der dem Opportunismus entspricht, aus dem er zu handeln pflegt.“296
Demgegenüber erschien nun der „konservative Mensch“ als vorläufig vereinzelter Träger einer aristokratischen „Haltung“, wie sie im Kriege für Moeller noch ein gesamtnationales Charakteristikum gewesen war (vgl. 5.5.6.). Die „überlegene[...] Gelassenheit“297, die er damals allen Deutschen zugeschrieben hatte, ist in den Konservativ298 betitelten Beiträgen zur exklusiven Eigenschaft des „konservativen Menschen“ geworden. Zu dessen Eigenschaften gehörte für Moeller, dass er flüchtige, diesseitige „Begierde[n]“299 verachtet und es „gewohnt“ sei, „Hand anzulegen“.300 Dadurch sei es allein dem „konservativen Menschen“ gegeben, die augenblickliche „Unordnung“ wieder aufzuheben: „Der konservative Mensch weiß von seinem überlegeneren Standpunkt aus, daß es sich nicht darum handeln kann, am schnellsten, sondern immer nur darum, am sichersten unserem Elend ein Ende zu machen.“301
7.4. Im Politischen Kolleg Obwohl in seiner Schilderung des „konservativen Menschen“ das persönliche Auserwähltheitspathos kaum zu überhören ist, gab sich Moeller nicht der Illusion hin, dass eine neue Ordnung allein durch eine kleine Gruppe wie den Juni-Klub errichtet werden könnte. Vielmehr war es so, dass Moeller in Fortsetzung seiner früheren nationalpädagogischen Tätigkeit weiterhin eine Veränderung des Bewusstseins auch in breiten Bevölkerungsschichten initiieren wollte. Beispielhaft ist ein mit Erziehung betitelter Beitrag, in dem Moeller knapp dreißig Jahre nach seinem wenig ruhmreichen Schulabgang ein anspruchsvolles nationales Bildungsprogramm formulierte: „[...] wir müssen die klassische Bildungsgrundlage noch um die mannigfachen Bildungsgebiete erweitern, die inzwischen aufgedeckt worden sind. Und die neuen Dinge einer wesentlich praktischen Arbeit haben wir überhaupt erst klassisch zu machen, vollkommen und vorbildhaft. [...] das Wesen dieser deutschen Schule wird nur sein können, daß sie vereinigt, was uns irgendwie geistig verbunden ist: daß sie einen Deutschen heranbildet, der al-
296 297 298 299 300 301
Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 38, 19.09.1921. Moeller van den Bruck, Unser Stil ist die Haltung, in: Der Tag, 03.07.1915. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 38, 39, 40, Berlin 19.09, 26.09. u. 03.10.1921. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 38, 19.09.1921. Moeller van den Bruck, Konservativ, in: Gewissen, 3. Jg., Nr. 40, 03.10.1921. Ebd.
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les beherrscht, was überhaupt geistig beherrschbar ist, und der sich dadurch von den Menschen anderer Völker unterscheidet.“302
Seine Annahme, die Deutschen hätten den Krieg bereits in der Schule verloren, da diese seit den Gründerjahren der „Verwahrlosung“ preisgegeben sei,303 veranlasste ihn, auch für die „modernen [...], technischen“ und „mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildungsergänzungen“ sowie für eine „gesteigerte körperliche Durchbildung“ einzutreten.304 Ganz in diesem Sinne war der infolge der Kriegsniederlage gestärkte nationalpädagogische Impuls der maßgeblichen Juni-Klub-Mitglieder – Moeller, Boehm, Stadtler, von Gleichen – auch Haupttriebkraft der Bemühungen, die zur Gründung des Politischen Kollegs, einer vom Klub gesteuerten politischen Hochschule, führen sollten. Auf der Basis des von Moeller bereits zuvor entwickelten Grundgedankens, vermittelt über „Kulturwirkung“ und „Werbekraft“ eine Machtposition zu erringen, sollte das Institut zum dominierenden geistigen Zentrum der kommenden Generation werden. Diesem Ziel gemäß war das Projekt groß angelegt. Im Herbst 1919 umriss Moeller die Dimension des Planes: „[...] mit der ‚Politischen Hochschule‘ wollen wir, in dem wir uns zunächst selbst erziehen, durch die Werbekraft und Auswirkung einer derartigen Erziehungsarbeit am Ende die – mehr oder weniger ganze – junge Generation heranziehen. [...] Sie kann nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn es uns gelingt, sie gleich anfänglich auf eine breite Grundlage zu stellen. Ein Kümmerinstitut hat keinen Sinn. Wir rechnen auf acht festangestellte Dozenten und eine Reihe von Gast-Kursen. Und wir rechnen mit einem Jahresaufwand von fünfhunderttausend Mark, die für eine Reihe von Jahren sichergestellt sein müssen.“305
Moellers Gedanken bei der Planung der politischen Hochschule gingen zweifellos dahin, die Machtposition der Parteien durch die Gewinnung der Jugend auszuhöhlen. Dabei ist in dem Kampf gegen die partikularen und desintegrativen Gewalten vor allem das Gegenstück zu seinem Ziel der nationalen Integration zu sehen: Es zeigt sich zudem, dass Moellers Wahrnehmung politischer Zustände wie seine nationalpädagogischen Vorstellungen auch noch nach Kriegsende von seinen in Frankreich gemachten Erfahrungen bestimmt waren. So sah er im französischen Nationalismus auch das Erziehungsideal des Politischen Kollegs verkörpert: „Die Franzosen besitzen in nationalistischen Dingen eine ganz bestimmte Erfahrung. Die Deutschen dagegen nicht, was Irredenta usw. ist. Sie werden es erst lernen müssen.“306 In diesem Sinne stellt dann auch die renommierte zentrale Bildungsstätte der politischen Eliten 302 303
304 305 306
Moeller van den Bruck, Erziehung, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 25, 30.06.1920. Exemplarisch: „Wir haben den Krieg verloren, weil wir nicht dazu erzogen waren, ihn zu gewinnen. Mit dieser Schuld ist ein ganzes Geschlecht beladen, eine Zeit, die das Erbe unserer Bildung so aufgespeichert hatte, daß es unzugänglich für die Nation wurde“ (ebd.). Ebd. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (10.10.1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Abschrift Schreiben Moeller van den Bruck an Wurch (?), 19.10.1921, BA Koblenz, NL Rudolf Pechel I/122.
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Frankreichs, die Pariser École libre des sciences politiques, das Vorbild für das Politische Kolleg dar.307 Der Erfolg der Pariser Hochschule hatte bereits während des Ersten Weltkriegs in Deutschland Aufmerksamkeit erregt, wo man in weiten Kreisen die Notwendigkeit einer ähnlichen Einrichtung zu empfinden begann.308 So hatte der Historiker Otto Hoetzsch auf die Gründung einer École des sciences politiques zur Verbreitung außenpolitischer Kenntnisse im Bürgertum gedrungen.309 Einen ersten organisatorischen Niederschlag fanden diese Konzeptionen in der von Friedrich Naumann unter Mithilfe Ernst Jäckhs während des Krieges gegründeten Staatsbürgerschule. Der Straßburger Professor für neuere Geschichte, Martin Spahn, Sohn des Zentrumsführers Peter Spahn, hatte bereits in den letzten Friedensjahren des Kaiserreiches die nationale Erziehung „eine wesentliche Forderung unserer Zeit“310 genannt und dabei Frankreich als dem „Land der raschesten und kräftigsten Entfaltung der Nationalitätsidee“311 seine Reverenz erwiesen. Spahn erblickte in seinen Vorkriegsüberlegungen das Ziel der deutschen Nationalerziehung in der Hervorbringung eines nationalen „Typus“: „Insbesondere was die angelsächsischen Nationen vor uns an kraftvoller, gleichmäßiger Durchbildung ihrer nationalen Eigenart, ihres nationalen Selbstbewußtseins, in der Einheitlichkeit ihrer Bewegungen voraus haben, ist unter erheblicher, vielleicht entscheidender Mitwirkung der Erziehung erreicht worden, die dem Engländer wie dem Amerikaner zuteil wird.“ 312
Nach Ansicht Spahns müsse „eine Nation, die eine Zukunft haben wolle“, zunächst „ihre Ziele sehen lernen“.313 Dies sei in England der Fall, während die deutsche öffentliche Meinung uneinheitlich sei. So zeigt der im Tag erschienene Artikel Die Erziehung der Nation zur auswärtigen Politik (19.05.1915), dass Martin Spahn in der Kernfrage der nationalen Erziehung mit den Auffassungen der maßgeblichen JuniKlub-Mitglieder schon während des Ersten Weltkrieges übereinstimmte. Auch Spahn erkannte zu Kriegsende in der École libre des sciences politiques eine für Deutschland vorbildliche Institution314: „Die ‚École des sciences politiques‘ hat sich zur hohen Schule französischer Beschäftigung mit dem Staate und der Wirtschaft herausgebildet, während sich die deutschen Universitä307 308 309 310 311 312 313 314
Eine hervorragende Darstellung der Geschichte des Politischen Kollegs findet sich bei Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 143–189. Vgl. ebd., S. 143. Vgl. Gerd Voigt, Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers, Berlin 1978, S. 86. Martin Spahn, Nationale Erziehung und konfessionelle Schule, Kempten und München 1912, S. 38. Ebd., S. 3. Ebd., S. 7 f. Martin Spahn, Die Erziehung der Nation zur auswärtigen Politik, in: Der Tag, 19.05.1915. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 61 f.
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ten immer mehr von ihr abwandten, der Politik immer weniger Aufmerksamkeit schenkten. [...] Uns ist nunmehr die Aufgabe gestellt, [...] an Hand der französischen Leistung des letzten halben Jahrhunderts zu berichtigen und wiederum über diese hinaus vorzudringen.“315
Es war dann sein Schüler Eduard Stadtler, der den späteren wissenschaftlichen Leiter des Politischen Kollegs im Herbst 1919 in den Juni-Klub einführte.316 Es sollte jedoch noch ein Jahr vergehen, bis der zu diesem Zeitpunkt an der Universität Köln tätige Professor sein Amt antreten konnte. In der Zwischenzeit stellte sich heraus, dass die vom Klub geplante Hochschule sich in Konkurrenz mit der von Ernst Jäckh betriebenen Gründung der späteren Deutschen Hochschule für Politik befand. Jäckh, der gleichfalls die Notwendigkeit einer deutschen Einrichtung aus dem Erfolg der Pariser Hochschule ableitete,317 strebte jedoch eine explizit europäische Ausrichtung an: „Frankreich ist mit seiner École dem Revanchechauvinismus verfallen. Unsere Aufgabe dagegen muss es sein, Kristallisationspunkt zu werden für den geistigen und seelischen Wiederaufbau Deutschlands – eines neuen Deutschlands und dadurch auch eines neuen Europa in einem neuen Geist.“318 Zudem führte der zwischen Heinrich von Gleichen und Jäckh bestehende Kontakt zu der Übereinkunft, dass beide Projekte nicht miteinander zu kollidieren bräuchten.319 Ob – wie Antonio Missiroli meint – die Zustimmung vieler Juni-KlubMitglieder zum Kapp-Putsch Ernst Jäckh gegenüber dem Klub reservierter werden ließ,320 ist nicht sicher. Der Gründungskreis der Deutschen Hochschule für Politik bemühte sich anscheinend weiterhin, die Etablierung eines Konkurrenzinstituts durch Einbeziehung des Kreises um Moeller in den Rahmen der eigenen Hochschule zu verhindern. Moeller interpretierte derartige Angebote jedoch als Versuche der Vereinnahmung. Gegenüber Hans Grimm erklärte er: Ernst Jäckhs „Machenschaften und Quertreibereien“, mit denen er erstrebt habe, „unseren Kreis einzubeziehen und dadurch auszuschalten“, hätten das Gegenteil bewirkt: „Wir sind dadurch förmlich auf unseren Standpunkt gezwungen worden: uns nur auf unsere eigenen Kräfte zu verlassen und uns für keine Zugeständnisse herzugeben. Das ist erreicht. Und es ist gut so.“321
315 316 317
318 319 320 321
Martin Spahn, Die Pariser politische Hochschule und Frankreichs Wiederaufstieg nach 1871, in: Die Grenzboten, 79. Jg., Nr. 1, Januar 1919, S. 29 f. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 61. Vgl. hierzu Ernst Jäckh, Zur Gründung und Entwicklung der Deutschen Hochschule für Politik, in: Ders. (Hg.): Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, Berlin 1930, S. 175–202. Ebd., S. 182. Vgl. Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983, S. 153. Vgl. Antonio Missiroli, Die deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988, S. 28 f. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (06.10. 1920), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N.
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Als dann Anfang August 1919 die Vossische Zeitung die offizielle Mitteilung von der bevorstehenden Gründung der Hochschule für Politik durch Ernst Jäckh und Theodor Heuss machte, fühlte man sich im Juni-Klub dennoch betrogen und reagierte aufgebracht. Um den Streit um die Urheberschaft an einer deutschen Ausbildungsstätte beizulegen, wurde der Juni-Klub durch Hans Roeseler im Verwaltungsrat der Deutschen Hochschule für Politik vertreten, was jedoch das Verhältnis nicht völlig entkrampfte.322 Während Jäckh bereits erste Erfolge verbuchen konnte, bemühte sich der JuniKlub um Sponsoren für eine eigene Einrichtung. Erst im Spätsommer 1920 konnte Moeller mitteilen, dass der Verleger Reimar Hobbing zu finanzieller Unterstützung bereit war.323 Doch reichte dies für das kostenintensive Projekt nicht aus. Letztlich ruhten die Hoffnungen, die erforderlichen Finanzmittel für die zunehmend ins Hintertreffen geratenen eigenen Pläne beschaffen zu können, auf der Person Martin Spahns. Dem Professor kam daher von Beginn an eine herausragende Stellung zu. Moeller erkannte: „Der Name Spahn zieht und verbürgt. Geldgeber wollen nun einmal eine Gewähr und sehen sie beinahe ausschließlich in einer anerkannten und erfolgreichen öffentlichen Wirksamkeit.“324 Es war jedoch zunächst Eduard Stadtler, der im Sommer 1920 Hugo Stinnes und Stinnes-Generaldirektor Albert Vögler für das Projekt gewinnen konnte.325 Schließlich erfüllte auch Martin Spahn die in ihn gesetzten Hoffnungen und erreichte die Finanzierung des Kollegs über Gelder aus Industrie und Landwirtschaft. Nachdem auch Alfred Hugenberg seine Unterstützung zugesagt hatte,326 konnte das Politische Kolleg für nationalpolitische Schulungs- und Bildungsarbeit am 1. November 1920 gegründet werden. Den Lehrbetrieb nahm das im Haus des Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum ansässige Kolleg im Frühjahr 1921 im Spandauer Johannisstift auf. Dem Vorstand des Kollegs gehörten Rudolf von Broecker, Heinrich von Gleichen und Martin Spahn an.327 322 323 324 325 326
327
Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 62. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (12.09.1920), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck an Hans Grimm (10.10.1919), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Vgl. Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983, S. 154. Angaben zu den Finanzen des Kollegs finden sich unter anderem in: Heidrun Holzbach, Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 159 ff.; Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1981, S. 154 und 162 ff.; Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983, S. 129 ff.; Klaus-Peter Hoepke, Das „Politische Kolleg“, in: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig, 11. Jg., Heft II, 1976, S. 20– 25; Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 146 f. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 63.
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Die von den Förderern bewilligten Mittel erhielt das Kolleg über einen Verwaltungsrat, in dem Martin Spahn als Mitglied der Kollegleitung saß. In dem Gremium vertreten waren aus Industriekreisen Albert Vögler, Paul Reuch und Ernst von Borsig; Joachim von Oppen-Dannewalde und Graf von Behr waren Vertreter des Reichslandbundes. Wilhelm Freiherr von Gayl repräsentierte die nationalen Verbände. Das Verwaltungsratsmitglied Reinhold Quaatz gehörte der Deutschen Volkspartei an, Friedrich von Winterfeld und Alfred Hugenberg aus den Reihen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) komplettierten das über die Finanzen entscheidende Gremium.328 Darin verfügte Hugenberg zweifellos über den größten Einfluss. Die dem Politischen Kolleg zugewiesenen Mittel wurden über sein Berliner Büro geleitet. Wie bereits bei seiner Unterstützung des Juni-Klubs identifizierte sich Hugenberg auch bei seinem Engagement für das Kolleg nicht mit der Institution. Er beabsichtigte anscheinend, das Kolleg als Schulungsstätte der DNVP auszugestalten.329 Die Initiatoren hatten jedoch genügend Freiraum, um eigene programmatische Vorstellungen zu realisieren. Öffentlich zur Zielsetzung des Politischen Kollegs äußerte sich Heinrich von Gleichen. In seiner Standortbeschreibung bestimmte er die „Willensschwäche“ als „das deutsche Erbübel im politischen Sinne“.330 Sie zeige sich ein „Überwuchern verstandesmäßig begründeter Ziele und Formeln (Programme)“. Dies haben „eine starre Vereinzelung“ zur Folge, „sei es von Einzelindividuen, sei es von Gruppenindividuen (Parteien)“331. Aufgabe des Politischen Kollegs sei eine gegen diese Willensschwäche gerichtete willensbildende Schulungsarbeit. Gemäß der Anlage des nach Gleichen für die nationale Gemeinschaft vorbildlichen Juni-Klubs war auch das Politische Kolleg als „innere[...] deutsche[...] Gemeinschaft“332 exklusiv konzipiert: „In der politischen Bildungsarbeit entwickelt sich nur von einem innersten Kern ausgehend die Sicherheit des Willens, auf die es ankommt.“333 Folgerichtig machte Gleichen geltend, dass d er politische Wille der Gemeinschaft „durch eine intensive Schulung zu vertiefen und [...] zu vereinheitlichen und zu kräftigen“334 sei. Dass die Gründer des Kollegs bei solch „intensiven“ Schulungen von den Maßstäben wissenschaftlicher Objektivität abzusehen gedachten, das Kolleg also niemals eine Hochschule im engeren Sinne war, zeigt sich in Gleichens Ausführungen zum sogenannten „Ganzen“: „Das Ganze ist aber kein Zustand, keine Summe, keine formulierbare Programmeinheit. Es ist eine Willenseinheit und lebt von einer in jedem Augenblicke neuen, aus bestimmten Willensgründen sich gestaltenden und die Gesamtheit ordnenden Kraft.“335 328 329 330 331 332 333 334 335
Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil, Berlin 2000, S. 147. Gabriele Clemens, Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1981, S. 162 f. Heinrich von Gleichen, Das politische Kolleg, in: Deutsche Rundschau, 47. Jg., Nr. 7, April 1921, S. 104–109, hier 104. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 109. Ebd., S. 106. Ebd., S. 105.
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Schließlich wies Gleichen, da er das „Ganze“, das heißt die Nation, als vollständig von den Äußerungen einer Willenseinheit geformt ansah, der erzieherischen Willensformung (und nicht der wissenschaftlichen Ausbildung) eine für die Existenz der Nation entscheidende Bedeutung zu. Als ein erstes Anliegen der für das Kolleg Tätigen wurde daher die Stärkung des Bewusstseins für das „Ganze“ genannt: „Sie stammen aus allen Teilen Deutschlands und suchen auch in dieser Hinsicht nicht das Besondere zu verwischen, um das Allgemeine zu vertreten, sondern vielmehr das Besondere zu steigern, um das Gemeinsame Ganze zu erfüllen.“336 Dem Ziel der nationalen Integration fügte sich die Überwindung der konfessionellen Spaltung ein. So sollte das Kollektiv des Kollegs auch ein Beispiel dafür sein, dass „sich ein ausgesprochener Katholizismus und ein ausgesprochenes Luthertum [...] fruchtbar zeigt und wiederum in dem gemeinsamen deutschen Glauben sich ergänzt und vereint.“337 Dass mit solcher Stärkung der nationalen Identität die erzieherische Willensformung noch nicht in ihr finales Stadium eingetreten sei, deutete Gleichen in seiner Vorstellung des Kollegkollektivs als idealtypischer „junger Willensgemeinschaft“ an. Sie fühle sich „[...] geeint, durch die ungeheure dreifache Lehre: des Krieges, des Zusammenbruchs und der fortdauernden Not. Krieg, das ist ihr Augusterlebnis, die Lehre von der aus tragischen Urgründen in einem heiligen Augenblicke erfahrenen innersten Wesenseinheit der ganzen Nation. Zusammenbruch, das ist ihr Novembererlebnis, die Lehre von der schuldhaften Unzulänglichkeit und Schwäche der bisherigen deutschen Führung und Formen, ein ewiger Gewissensstachel. Dauernde Not, das ist ihr Junierlebnis, die Lehre von einer letzten Härte und Strenge des Lebens, die durch keinen frevelhaften Optimismus und kein billiges Kompromißlertum weggelogen werden dürfen.“338
Kein Zweifel, dass das Kolleg in der politischen Schulung einer nationalistischen und antidemokratischen Elite seine eigentliche Aufgabe sah. Zu diesem Zweck, genauer zur Sicherstellung eines kontinuierlichen Lehrbetriebes, wurden sechs Arbeitsstellen eingerichtet. Ihre Leiter waren fest angestellt und erhielten ein Monatsgehalt von durchschnittlich 350 Mark, was dem damals üblichen Beamteneinkommen entsprach.339 So war Dr. Max Hildebert Boehm der Leiter der Arbeitsstelle für Nationalitätenprobleme, Prof. Dr. Martin Spahn der Leiter der Arbeitsstelle für Außenpolitik und Paul Fechter der Leiter der nur wenig produktiven Arbeitsstelle Beeinflussung der Volksstimmung und der öffentlichen Meinungsbildung. Weitere Arbeitsstellen beschäftigten sich mit berufsständischen und geistesgeschichtlichen Fragen. Sie wurden von Dr. Heinrich Herrfahrdt beziehungsweise von Prof. Dr. Kurt Ziesché geleitet. Den genannten Arbeitsstellen zur Seite stand eine Arbeitsstelle für die Beobachtung des Kollegumfeldes. Ihre Aufgabe bestand darin, die Neuerscheinungen an staatsbürgerlicher Unterrichtsliteratur zu verfolgen und auszuwerten. 336 337 338 339
Ebd., S. 108. Ebd. Ebd., S. 105. Vgl. Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983, S. 134.
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Eine von Moeller angeregte und eigens für Hans Schwarz geschaffene Arbeitsstelle für „metapolitische Grundfragen“340 wurde erst Anfang 1925 eingerichtet, als das Kolleg seinen Zenit bereits überschritten hatte. Moeller selbst leitete „bis zu seiner Erkrankung“ eine Zweigstelle der von Spahn geleiteten Arbeitsstelle für Außenpolitik. Mit dem Ziel „einer Durchleuchtung der physischen Voraussetzungen für die Verbreitung der Kriegsschuldlüge“341 untersuchte er die Kriegspropaganda beider Seiten. Durch die Wahl dieses Arbeitsschwerpunktes konnte er an seine Erfahrungen als Mitarbeiter in der deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg anknüpfen. Dabei lässt der schon zitierte Handbuchartikel erkennen, dass Moellers Bemühungen auf eine historisch und systematisch erschlossene Theorie der Propaganda ausgerichtet waren.342 Ein weiteres Ergebnis seiner Arbeit ist die Broschüre Schuld am Kriege?343, eine kommentierte Sammlung zum Teil unveröffentlichter alliierter Selbstzeugnisse. Diese aus dem eroberten belgischen Außenministerium, serbischen Gesandtschaften sowie dem russischen Außenministerium stammenden Aufzeichnungen bezeugten Moeller zufolge sowohl den „französischen Revanchegedanken“344 als auch die englische „Einkreisungspolitik“345. Besondere Aufmerksamkeit widmete der Herausgeber der russischen Mobilmachung. Nach seiner Ansicht belegten die von den Bolschewisten zugänglich gemachten Dokumente, dass das zaristische Russland nicht erst am 30. Juli, sondern bereits fünf Tage früher mit der Mobilmachung begonnen hatte.346 Für Moeller war dies der Beweis, dass das mit französischer Unterstützung aufgerüstete Russland den Krieg mit dem prinzipiell friedlichen Deutschland347 unbedingt herbeiführen wollte. Da man es ihm im Kolleg ermöglichte, das „Dogma von der alleinigen Schuld Deutschlands am Krieg“348 zu erschüttern, wird deutlich, dass die Zweigstelle Moellers, so Spahn in einem Bericht nach dessen Tod, „ganz auf die Sonderart unseres im vergangenen Mai von uns gegangenen Freundes, des Besten in unserer Mitte, zugeschnitten“349 war. 340
341 342
343 344 345 346 347 348 349
Martin Spahn, Bericht über das Politische Kolleg, seine Art und Tätigkeit in den Jahren 1920/25, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, Nr. 2, Dezember 1925, S. 14–20, hier 16. (Ein Exemplar liegt im Stadtarchiv von Mönchengladbach: NL Heinz Brauweiler 2 15/13/191.). Ebd., S. 15. Moellers Leitgedanken während der Tätigkeit im Kolleg sind seinem Aufsatz Propaganda zu entnehmen, in: Politisches Handwörterbuch (hg. von Kurt Jagow und Paul Herre), Bd. II, Leipzig 1923, S. 386 ff. (vgl. auch 5.1.). Schuld am Kriege? 60 Selbstzeugnisse der Entente (hg. von Moeller van den Bruck), Berlin 1922. Ebd., S. 13. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 24 f. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 32. Martin Spahn, Bericht über das Politische Kolleg, seine Art und Tätigkeit in den Jahren 1920/25, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, Nr. 2, Dezember 1925, S. 14–20, hier 15.
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Mithin zeugt auch Moellers Tätigkeit für das Politische Kolleg von seiner Sonderrolle innerhalb der jungkonservativen Gemeinschaft. Denn obwohl er als hauptamtlicher Mitarbeiter des Kollegs über ein festes Einkommen verfügte,350 trat er in der Lehrtätigkeit kaum in Erscheinung. Lediglich für den Oktober 1922 kündigte das Kolleg ausnahmsweise eine Besichtigung Potsdams unter Moellers Leitung an.351 Hier scheint es der Gegenstand gewesen zu sein, der den Verfasser von Der preußische Stil zu einem Referat verleitete. Ansonsten „lehnte er grundsätzlich und entschieden die Übernahme jeglicher Vorträge ab, so daß er in den Kursen und Lehrgängen des ‚Politischen Kollegs‘ niemals zu Worte gekommen ist“.352 Kompensiert hat Moeller diese Enthaltsamkeit durch eine Vielzahl von schriftlichen Stellungnahmen zur Bildungspolitik in der Weimarer Republik. In einem Bildung (19.05.1920) betitelten Aufsatz geißelte Moeller beispielsweise einen Erlass des preußischen Kultusministeriums, der auch Volksschullehrern ohne Reifezeugnis die Teilnahme am universitären Unterricht gestattete, mit den Worten: „Was bedeutet der Erlaß eines preußischen Kultusministers im deutschen Revolutionsjahre 1920, wenn wir hundertjährigen Zuständen entgegengehen, für die das Beispiel der Verwüstung, die auf den dreißigjährigen Krieg folgte, [...] vielleicht noch zu klein ist und die nur mit den ganz großen Krisen, jener etwa, die zwischen Anfang des Christentums und Einbruch der Völkerwanderung gelagert ist, verglichen werden kann.“353
Da für ihn die Vernachlässigung ordnungs- und identitätsstiftender Bildungsinhalte ursächlich für Niederlage und Friedensschluss waren, befürchtete Moeller, dass die Volksschullehrer die an den Universitäten der Republik verbreitete „Halbbildung“354 in das bisher unverdorbene „Volk“ tragen und also die durch Materialismus und Relativismus eingeleitete Orientierungskrise (vgl. 4.3.) weiter vertiefen würden: „Es ist alles so relativ geworden, weil in einer Welt, in der nur noch Materie ist, sich kein Raum mehr für absolute Bedingungen findet, die über uns, die um uns, die in uns bestehen könnten.“355 Sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hinderte Moeller jedoch nicht, die Diskrepanz zwischen seinem elitären nationalpädagogischen Anspruch und den gesellschaftlichen Realitäten zu erkennen. Zwar hoffte er weiterhin, selbst eine absolute Werte propagierende „Bewegung gegen allen Relativismus“356 begründen zu können, doch wusste er auch um die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens.
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Vgl. Joachim Petzold, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, 2. Aufl., Köln 1983, S. 134. Vgl. Akten des Politischen Kollegs, BA Koblenz, R118/54 Bl. 48. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 694. Moeller van den Bruck, Bildung. Eine Aussprache mit deutschen Volksschullehrern, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 19, 19.05.1920. Ebd. Moeller van den Bruck, Das deutsche Gesicht, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 1, 08.01.1923. Ebd.
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So konstatierte Moeller in Das deutsche Gesicht (08.01.1923): „Es ist alles wahr, was heute von Deutschland gesagt wird.“357 Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, kleinliche Selbstsucht und eine hedonistische Einstellung – all das sei tatsächlich im republikanischen Deutschland anzutreffen: „Das Elend ist wahr! [...] es fehlt jede Einstellung zur Nation und ihren überpersönlichen Angelegenheiten.“358 Angesichts solch einer Diagnose stellte sich für das allseits engagierte geistige Oberhaupt des Juni-Klubs nun die Frage, wodurch das sich der radikalen Bewusstseinsveränderung verweigernde deutsche Volk noch gerettet werden könne: „Menschen müssen gezwungen werden. Deutsche müssen es doppelt. Es gibt Völker, für die eine Gefahr genügt, um sie zur Besinnung zu bringen. Deutsche, so scheint es, bedürfen des Unterganges.“359
7.5. Ruhrkampf Schon am 11. Januar 1923 schien mit der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen das lang ersehnte, die Nation aufrüttelnde Ereignis eingetreten zu sein.360 Deutschland reagierte mit einem Aufschrei der Empörung. Reichspräsident und Reichsregierung sprachen in einem Aufruf an das deutsche Volk von einer Tat der Verblendung, die zu verhindern Deutschland die Macht fehle. Im besetzten Gebiet fanden sich Parteien und Verbände zu einer nationalen Abwehrfront zusammen. Die Unternehmer hatten die zentrale Leitung des Ruhrbergbaus, das Rheinisch-Westfälische-Kohlensyndikat, unmittelbar vor der Besetzung von Essen nach Hamburg verlegt. Die Gewerkschaften lehnten den von der KPD geforderten Generalstreik in Absprache mit der Reichsregierung ab und befürworteten stattdessen eine Politik des passiven Widerstandes gegenüber den Besatzungsmächten. Auch Moeller zögerte nicht, seinen Beitrag zu leisten. Im Gewissen rief er die Kommunistische Partei dazu auf, dem Klassenkampf abzuschwören und sich unvoreingenommen am nationalen „Abwehrkampf gegen Frankreich“361 zu beteiligen. Im Frühsommer 1923 deutete sich an, dass ein Zusammengehen von deutschen Kommunisten und radikalen Nationalisten auch von anderer Seite gewünscht wurde. Der von 357 358 359 360
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Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Freiheit, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 1, 02.01.1922. Noch nach einem halben Jahr Ruhrkampf triumphiert Moeller: „Der elfte Januar mußte kommen, um uns zur Besinnung zu bringen. Von den Ereignissen, die dieser Tag heraufführte, hatte man uns immer versichert, daß es niemals zu ihnen kommen werde. An diesem Tage zerriß die geflissentliche Täuschung. Und eine Aenderung ging in der Nation vor sich [...]. Von diesem elften Januar an gibt es ein Recht auf Nationalismus in Deutschland. Jetzt kann man uns nicht mehr mit der Ausflucht kommen, es gebe auch andere und internationale Wege, um an das eine und einzige Ziel einer wiedererrungenen deutschen Selbständigkeit zu gelangen [...]. Nationalismus ist heute in Deutschland: Widerstand“ (Moeller van den Bruck, Nationalistisch, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 25, 25.06.1923). Um das Vaterland (anonym), in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 4, 29.01.1923.
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der Redaktion des Gewissens geschätzte Deutschlandexperte der Kommunistischen Internationale Karl Radek362 nahm den Ruhrkampf zum Anlass, der deutschen Rechten ein offenes Angebot zur Zusammenarbeit zu machen. In einer am 10. Juni 1923 vor dem Erweiterten Exekutivkomitee in Moskau gehaltenen Rede bezeichnete Radek den vom französischen Militär wegen Spionage und Sabotage hingerichteten radikalen Nationalisten und früheren „Baltikumer“ Albert Leo Schlageter363 als einen „Märtyrer des deutschen Nationalismus“ und „mutigen Soldaten der Konterrevolution“. Dieser verdiene es, „männlich ehrlich gewürdigt zu werden“.364 Weiterhin sagte Radek: „Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn des Geschickes Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollen sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts [...]. Wir wollen alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, die ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzten für die Profiteure der Kohlen- und Eisenbarone, sondern für die Sache des großen arbeitenden Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker [...].“365
Radeks Schlageter-Rede war auf lange Sicht ein Versuch, die nationalistischen Massen von ihren Führern zu lösen und sie in eine sozialrevolutionäre Kraft zu verwandeln. In einem Beitrag zur gleichen Tagung erläuterte er, der „Nationalismus, der frü362
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Beispielhaft ist ein Beitrag Moellers, in dem Radek als Gewährsmann für eine nationalbolschewistische Neuausrichtung der KPD ausdrücklich gewürdigt wird: „Radek hat soeben in der Moskauer Exekutive erklärt, daß das ‚Gewissen‘ mit seiner Kennzeichnung der Kommunistischen Partei als einer Kampfpartei, die von Tag zu Tag mehr nationalbolschewistisch werde, durchaus Recht habe. Radek erkennt, daß die Betonung der Nation und des nationalen Willens für die kommunistische Bewegung in Deutschland etwas anderes ist, als in anderen Ländern. Sie bedeutet hier, wie Radek sagt, einen ‚revolutionären Akt‘. Der Vernichtungswille der französischen Politik, der nicht wie im Kriege mit Flugzeugen, Minenwerfern, Gasen operiert, sucht vielmehr die Quellen der Produktion zu zerstören und nimmt damit dem Volke den letzten Rückhalt zum Leben. Aus dieser Not steigt dann das Gespenst des Bolschewismus auf, als der verzweifelte Wille eines Volkes zur Selbstbehauptung, ein blinder und wahnsinniger Wille, der rücksichtslos gegen sich selbst rast. Radek erklärt, daß der Bolschewismus einer Bevölkerung wie derjenigen an der Ruhr als ‚der einzige Ausweg‘ erscheinen müsse. Er wird Recht bekommen, wenn die Ruhr vom übrigen Deutschland verlassen und verraten wird und ihre Bevölkerung sich dennoch nicht dazu hergeben will, sich der französischen Herrschaft freiwillig zu unterwerfen“ (Moeller van den Bruck (anonym), Zwangsläufigkeit, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 25, 25.06.1923). Schlageter (1894–1923) nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, kämpfte danach in Freikorps im Baltikum (1919), im Ruhrgebiet und in Oberschlesien (1920/21) und trat 1922 der rechtsradikalen Großdeutschen Arbeiterpartei bei. Während des Ruhrkampfes beteiligte er sich als Mitglied des Freikorps Hauenstein an Sabotageakten gegen die französische Besatzung. Zitiert nach: Dietrich Möller, Karl Radek in Deutschland. Revolutionär, Intrigant, Diplomat, Köln 1976, S. 245–249. Ebd.
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her ein Mittel war, die bürgerlichen Regierungen zu stärken“, sei „jetzt ein Mittel, die bestehende kapitalistische Zerrüttung zu steigern“.366 So war es nur folgerichtig, dass Radek von seinen zukünftigen Partnern die „Erfüllung einer Reihe von Vorbedingungen“ wie die Herstellung einer „Einheitsfront der Arbeitenden“ sowie die Beendigung des Bündnisses mit der deutschen Großindustrie forderte: „Gegen wen wollen die deutschen Völkischen kämpfen: gegen das Ententekapital oder das russische Volk?“367 Ausdrücklich bat Radek Moeller sowie den nationalistischen Schriftsteller Ernst von Reventlow um eine Antwort auf seine Vorschläge. Im Gewissen, von Radek als „das einzige denkende Organ der deutschen nationalistischen Kreise“368 bezeichnet, veröffentlichte Moeller im Juli 1923 drei längere Aufsätze (Der Wanderer ins Nichts (02.07.), Radek noch ein Mal. „Die Arbeiter und Bauernregierung“. Der dritte Standpunkt (16.07.), Wirklichkeit. Eine Antwort (30.07.)), in denen er zu erklären versuchte, warum Radeks Einladung nicht für bare Münze genommen werden dürfe und grundsätzlich Misstrauen gegenüber den von Moskau abhängigen Kommunisten angebracht sei:369 Zunächst wird deutlich, dass ein Bündnis mit den Kommunisten seiner elitären Haltung widerstrebte. Obwohl er sie als Teil der nationalen Gemeinschaft betrachtete, stand Moeller der deutschen Arbeiterklasse kritisch gegenüber. „Spießbürgerliche[...] Verhältnisse in proletarischen Schichten“370 und die Abwesenheit eines revolutionären Bewusstseins waren die gewichtigsten Einwände, die Moeller gegen das deutsche Proletariat vorzubringen hatte. Auch gedachte er nicht, irgendjemand anders an der geistigen Führung der Nation zu beteiligen. Denn er meinte nicht zuletzt sich selbst, als er formulierte: „Wohl aber hat der Nationalismus vor dem Kommunismus eine Geschichtsphilosophie voraus, die nicht nur an eine bestimmte Klasse gebunden ist, sondern für die Völker gilt: das Wissen um bestimmte psychologische und politische Gesetze, denen die Völker un-
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Ebd., S. 243. Ebd., S. 246 u. 248. Karl Radek, Dem ‚Gewissen‘ zur Antwort, in: Die Rote Fahne, Nr. 156 vom 10.07.1923, zitiert nach: Ders., Schlageter. Kommunismus und nationale Bewegung. Eine Auseinandersetzung, 3. erw. Aufl., Berlin 1923, S. 19. Entsprechend: „Das Gefühl, daß Deutsche und Russen in einem Kampfe zusammengehören, den beide gegen den Vertrag von Versailles führen, der beide Länder in der gleichen Weise bedroht, ist im deutschen Volke nach dem Zusammenbruche sehr lebendig gewesen. Radek weiß genau, warum es damals zu diesem Zusammengehen nicht kam. Radek weiß, daß damals Rußland die Unterwerfung der deutschen Wirtschaft unter den Bolschewismus verlangte. Und Radek weiß nicht minder, in welcher Geistesverfassung sich damals ein revolutionäres deutsches Proletariat befand [...]. Es gab damals keine deutschen Kommunisten, denen man Deutschland anvertrauen konnte. Und ein bolschewisiertes Deutschland würde zu Zuständen geführt haben, in denen die deutsche Wirtschaft völlig unverwendbar auch für die russischen Zwecke geworden wäre. Es ist die Frage, ob sich in den drei, vier, fünf Jahren, in denen sich so vieles veränderte, auch dies geändert hat. Wir zweifeln“ (Moeller van den Bruck, Der Wanderer ins Nichts, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 26, 02.07.1923). Moeller van den Bruck, Radek noch ein Mal. Die „Arbeiter und Bauernregierung“, Der dritte Standpunkt, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 28, 16.07.1923.
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terworfen sind.“371 Schlussendlich war es aber die vom Dogma des Klassenkampfs ausgehende Gefährdung der nationalen Integration, die nach den Ausführungen Moellers eine Annäherung von Kommunisten und Nationalisten ausschloss. Beispielsweise sah Moeller im Unternehmer einen „Schaffer von Werten“372 und ein herausragendes Glied der nationalen Gemeinschaft und keineswegs ihren Ausbeuter. Dass das Bündnis mit der deutschen Großindustrie für Moeller nicht zur Disposition stand, zeigt sich zudem in seiner Ablehnung einer „Syndizierung der Industrie in den Händen des Staates“373. Von Radek vorgeschlagen, sollte diese die Bevölkerung entlasten und der Finanzierung des Ruhrkampfes dienen. Moeller lehnte eine solche „Syndizierung“ der deutschen Industrie ab; nicht nur, weil an der Spitze des über deren Gewinne verfügenden Staates nach Ansicht Radeks nur eine Arbeiter- und Bauernregierung stehen konnte, sondern auch, weil Moeller von der Existenz eines „gemeinwirtschaftlichen Unternehmerkapitalismus“374 und von der Opferbereitschaft des deutschen Bürgertums überzeugt war. Moeller wollte sich gegen das deutsche „Unternehmertum“ mit der KPD nur verbünden, wenn dieses „mit den Franzosen paktiert“ und es „die Nation um ihre wirtschaftliche Selbständigkeit bringt“.375 Angesichts solcher Ausführungen wusste nun Radek seinerseits nicht, ob er „weinen oder lachen soll“. Zwar konnte er der „Unwissenheit eines Literaten in nationalökonomischen Fragen“376 mit einem „Kursus deutscher Wirtschaftskunde“377 begegnen, in dem er nachwies, dass die deutsche Industrie schon lange mit den Franzosen, Amerikanern und Engländern paktierte, doch war ihm anderseits nun auch bewusst, dass der Kreis um Moeller für ein Bündnis mit der KPD nicht zu gewinnen war. Dass Moeller das ihm angetragene Bündnis ausschlug, offenbarte seine Realitätsferne und daraus resultierend seine Unfähigkeit zum politischen Handeln. Scheiterte doch die von Kommunisten und jungkonservativen Nationalisten zu bildende antiliberale Achse zu einem Zeitpunkt, da der gemeinsame Kampf gegen den Westen in greifbare Nähe rückte, nicht allein an unüberwindlichen innen- wie außenpolitischen Bedenken, sondern auch an elitären Vorbehalten. Der auf Distinktion bedachte Ästhet Moeller wollte sich nicht mit den Kommunisten gemein machen: Lieber zog er sich in die Klause der Gemeinschaft von Gleichgesinnten zurück, als sich im Angesicht eines gemeinsamen Gegners kompromissbereit zu zeigen. „Widerstandswillen“ gegen den Westen fand Moeller, nachdem am 26. September 1923 die Regierung den Ab-
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Moeller van den Bruck, Der Wanderer ins Nichts, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 26, 02.07.1923. Moeller van den Bruck, Wirklichkeit, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 30, 30.07.1923. Karl Radek, Dem ‚Gewissen‘ zur Antwort, in: Die Rote Fahne, Nr. 156 vom 10.07.1923, zitiert nach: Ders.: Schlageter. Kommunismus und nationale Bewegung. Eine Auseinandersetzung, 3. erw. Aufl., Berlin 1923, S. 22. Moeller van den Bruck, Der Wanderer ins Nichts, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 26, 02.07.1923. Moeller van den Bruck, Wirklichkeit, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 30, 30.07.1923. Karl Radek, Dem ‚Gewissen‘ zur Antwort, in: Die Rote Fahne, Nr. 156 vom 10.07.1923, zitiert nach: Ders.: Schlageter. Kommunismus und nationale Bewegung. Eine Auseinandersetzung, 3. erw. Aufl. Berlin 1923, S. 55. Ebd., S. 53.
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bruch des passiven Widerstands bekanntgegeben hatte, „nur noch bei den Jungen“378. Da dieses Urteil zum Zeitpunkt der Einführung der Rentenmark erfolgte, wird deutlich, dass Moeller nicht nur das Ende des Ruhrkampfes, sondern auch die hiernach einsetzende relative Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Lage in Deutschland als persönliche Niederlage empfand. Moellers Konzept des Gewissens, das die Erringung der kulturellen und politisch-publizistischen Hegemonie vorsah, war nach dem Ruhrkampf und dem Ende der Hyperinflation sichtlich gescheitert. Wenn er nun die Flagge auf „Halbmast“ setzte, so hieß dies auch, dass das allseits engagierte geistige Oberhaupt des Juni-Klubs resignierte. Spätestens im Herbst 1923 hatte Moeller seine optimistische Haltung verloren. An die Stelle seines Selektionsoptimismus war ein der Verzweiflung trotzender Heroismus getreten.
7.6. „Das Dritte Reich“ 7.6.1. Führungsanspruch Zuvor erschien im Herbst 1923 Moellers wohl bekanntestes Werk, Das dritte Reich (260 S.)379. Das Buch, das eine Vielzahl von Passagen aus im Gewissen publizierten Aufsätzen380 enthielt und ursprünglich Die dritte Partei381 heißen sollte, ist als nochmalige Bekräftigung des geistigen Führungsanspruchs der um Moeller versammelten jungkonservativen Gemeinschaft der wissenden „Einzelne[n]“382 zu verstehen. In diesem Sinne waren „die Vorgänge, die zum elften Januar [1923] führten“, der Anlass, den Parteien, die nach Auffassung Moellers die „Erfüllungspolitik“383 sanktionierten (insbesondere USPD, Sozialdemokraten und das Zentrum), auch als Buchautor den Kampf anzusagen. Entsprechend seiner Diagnose, dass sich nach dem 11. Januar 1923 der Wille „eines Sechzig-Millionen-Volkes als eine drohende gefährliche und unheimliche Macht“384 gegen die „Erfüllungspolitik“ der Parteien wenden würde, formulierte Moeller: „Wir brauchen [...] volkliche Führer, die wir [...] gar nicht erst zu fragen brauchen, welcher Partei sie angehören, weil ihre Partei von vornherein Deutschland ist.“385 So wurde in der Annahme, dass das Volk dem Führerprinzip anhänge, das Bild vom „konservativen Menschen“ präzisiert. Dieser war für Moeller 378 379
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Moeller van den Bruck (anonym), Halbmast, in: Gewissen, 5. Jg. Nr. 42, 22.10.1923. Das Buch enthält neben der nicht in die Seitenzählung aufgenommenen Einleitung „An Heinrich von Gleichen“ (4 Seiten) die Kapitel Revolutionär, Sozialistisch, Liberal, Demokratisch, Proletarisch, Reaktionär, Konservativ und Das dritte Reich. Vgl. Gewissen, 2. Jg., Nr. 6, 11, 40; 3. Jg., Nr. 1, 38, 39, 40, 49; 4. Jg., Nr. 9, 24; 5. Jg., Nr. 21. Unter diesem Titel war es auch im Gewissen ankündigt worden. Vgl. Gewissen, 5. Jg., Nr. 21. Vgl. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 107. Ebd., An Heinrich von Gleichen. Ebd., S. 124. Ebd., S. 228.
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Träger eines exklusiven Wissens, dessen Qualität nunmehr kaum unterscheidbar zwischen Banalem und Genialem schwankte und der sowohl das Selbstverständliche als auch das Esoterische als Legitimation für sein politisches Denken in Anspruch nehmen konnte: So hieß es vom „konservativen Menschen“, dass er „das Leben auf die Triebe und starken Leidenschaften, Gedanken und großen Planungen zurück[führe], die es als geschichtliches Leben bestimmt haben“. Überdies denke der „konservative Mensch“ „überzeitlich in den ewigen Gegebenheiten der menschlichen Natur, die das tägliche Leben wie den geschichtlichen Ablauf bestimmen“386. Sein Denken sei „niemals utopisch, sondern dem Wirklichen zugewendet“387, er wisse, „daß die geschichtliche Welt, in der wir leben, eine gesetzmäßige Welt ist, die sich immer wieder herstellt“, suche aber die „Wiederherstellung dieser Gesetzmäßigkeit nicht in den Formen, sondern in den Elementen – deren Ausdruck die Formen erst sind“.388 Diesem „konservativen Menschen“ entsprach der von Moeller gepriesene Konservatismus selbst, wie auch das „Dritte Reich“ der Ort war, an dem der „konservative Mensch“ sein Wissen von der Ewigkeit politisch zur Geltung bringen sollte. Bezeichnend für die durch die historischen Ereignisse bestimmte Optik ist, dass Moeller, da er die Typologie des zur Führung der Nation begabten „konservativen Menschen“ in Abgrenzung von anderen zeitgenössischen Typen („revolutionärer“, „liberaler“ und „reaktionärer“ Mensch) entwickelte, dem wahrhaft Konservativen immer wieder attestierte, „erfahren im Ewigen“389 und empfänglich für die aktuellen wie existentiellen Belange der Nation zu sein. Moeller zufolge hat der „konservative Mensch“ die ihm „hinterlassenen Lehren von allen Zeitaltern und Weltgegenden her auf die Lebensnotwendigkeiten des eigenen Volkes“390 bezogen. Den monarchistisch gesinnten „reaktionären Menschen“ warf Moeller auch im Dritten Reich vor, dem Vergänglichen verpflichtet und der Nation entfremdet zu sein. Sie würden nur dem Wilhelminischen Reich und damit einer ebenso verachteten wie unwiederbringlichen Vergangenheit nachtrauern. Zudem sei die rückwärtsgewandte Rechte eine „innere Gefahr“391 für die nationale Integration. Mit Blick auf den KappPutsch (vgl. hierzu auch 7.3.5.) formulierte Moeller das Verdikt, der „reaktionäre Mensch“ wisse offenbar nicht, „daß der Freiheitskampf, der uns bevorsteht, nur von dem ganzen Volke geführt werden“392 könne. Auf der äußersten Linken dagegen standen wiederum die marxistisch gesinnten „Proletarier“ im Verdacht, sich nicht hinreichend mit der im Ruhrkampf befindlichen Nation zu identifizieren: „Das klassenkämpferisch eingestellte Proletariat [...] denkt nicht an die Nation. Dieses Proletariat denkt nach wie vor nur an sich selbst.“393 Moeller war jedoch überzeugt, dass mit dem Ruhrkampf bei den Kommunisten die Erkenntnis reifen würde, „daß mit der Na386 387 388 389 390 391 392 393
Ebd., S. 156. Ebd., S. 192. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176. Ebd., S. 156. Ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Ebd., S. 128.
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tion auch das Proletariat unterdrückt wird“, dessen „Rückbesinnung zur Nationalität“394 also unmittelbar bevorstünde. Folglich begnügte sich Moeller nicht damit, den Marxismus als materialistische, volksfremde und „von der Geschichte der politischen Entscheidungen überholt[e]“395 Ideologie zu denunzieren. Er führte zudem aus, dass das deutsche Proletariat begabte „Führer nur unter den Menschen finden kann, die keine Proletarier sein wollen“396, so dass es lediglich des einzig der Nation verpflichteten „konservativen Menschen“ bedürfe, um das im Ruhrkampf mobilisierte Proletariat seiner nationalen Bestimmung zuzuführen: „[...] dankbar müßte sein, diese Massen zu führen, die im Proletariat zusammengeballt sind: den Willen aufzunehmen, den die Klasse immer nur entgegenbringt, aber von sich aus nicht umsetzen kann, [...] und ihn in eine Uebereinstimmung mit unserem nationalen Schicksale zu bringen [...]. Hier finden sich die Millionen Leiber bereits in sozialen Verbänden zusammen und können auf ein Ziel hin in Bewegung gesetzt werden. Hier harrt ein Volk seines Aufbruches und wartet des Zeichens.“397
In diesem Sinne wurde der geistige Führungsanspruch der um Moeller versammelten „(jung)konservativen Menschen“ in Das dritte Reich dadurch bekräftigt, dass Moeller ihnen zuschrieb, die als lähmend empfundenen Parteikämpfe transzendieren zu können. Die Gegensätze von Rechts und Links aufhebend, sollte allein dieser „konservative Deutsche einer dritten Partei“398 in der Lage sein, die durch divergierende Interessen verschärfte „deutsche Zerrüttung und Zwieschaft“399 zu überwinden.
7.6.2. Titel Mit seiner Behauptung, die wahrhaft konservative „Dritte Partei“ würde über den Parteigegensätzen stehen, versuchte Moeller, alle anderen Parteien als „egoistisch“ zu denunzieren. Analog hierzu war seine Reichsidee – wie auch alle anderen zeitgenössischen Reichsideen – als „Antithese gegen den Staat von Weimar“400 zu verstehen. Vergegenwärtigt man sich jedoch einmal die aus ihrer „magische[n] Werbekraft“401 resultierende politische Wirksamkeit der Formel vom „dritten Reich“, ist es allerdings ein erstaunliches Kuriosum, dass dieser Titel von Moeller gar nicht vorbedacht, son-
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Ebd., S. 170. Ebd., S. 146. Ebd., S. 168. Ebd., S. 130. Ebd., S. 243. Ebd., An Heinrich von Gleichen. Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994, S. 223. Julius Petersen, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934, S. 1.
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dern eher ein Werk des Zufalls bzw. ein Resultat publizistischen Kalküls war.402 Die Rechnung ging insofern auf, als Mitnahmeeffekte den symbolischen Mehrwert des Werkes beträchtlich steigerten. Der Traum vom „dritten Reich“ war als Verheißung eines zukünftigen paradiesischen Endzustandes eine uralte Vorstellung religiösen, politischen, sozialen und poetischen Gehalts403, an deren Entwicklungsgeschichte Moeller als geistesgeschichtlicher Trittbrettfahrer dadurch partizipierte, dass er sie fortzuschreiben vorgab. Die Geschichte der Idee vom „dritten Reich“ als paradiesischem Endzustand begann mit dem jüdischen Chiliasmus, der sich die Wiederkehr des Messias und mit ihr die Verwirklichung des tausendjährigen Reiches Christi auf Erden erhoffte. Das Christentum hatte das Endreich dann ins Jenseits verlegt und damit die Diesseitigkeit dieser Glücksvorstellung beseitigt. Den entscheidenden Einschnitt in der Entwicklung vom jüdisch-christlichen Chiliasmus zum Glauben an das jenseitige Gottesreich stellte jedoch Augustinus (354–430) dar, der sich gegen die Erwartung eines tausendjährigen Reiches auf Erden wandte und den Chiliasmus in eine häretische Unterströmung abdrängte. Erst Joachim von Floris (1130–1202) brach mit der augustinischen Auffassung, als er die Lehre von der Dreieinigkeit auf den Ablauf der Geschichte übertrug. Entsprechend seiner Vorstellung eines trichotomischen Weltverlaufes verkündete er, dass auf das erste Reich (Altes Testament; Herrschaft GottVater) und das zweite Reich (Neues Testament; Herrschaft Gott-Sohn) das dritte Reich des Heiligen Geistes vor dem Aufbruch der Welt ins Jenseits folgen werde. Während nach der augustinischen Spekulation die weltliche Sphäre der Existenz nur ein Warten auf das Jenseits, das Reich der eschatologischen Erfüllung war, bedeutete Joachim von Floris’ Lehre den Versuch, dem immanenten Lauf der Geschichte, und damit auch der weltlichen Existenz, einen Sinn zu geben. Joachim von Floris übertrug zu diesem Zweck den Sinn der transzendenten Geschichte auf den weltlichen Bereich, doch blieb der Zusammenhang mit der christlichen Heilserwar402
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Max Hildebert Boehm berichtet, vorgeschlagen zu haben, das Buch Der Dritte Standpunkt oder Der Dritte Standort zu nennen (vgl. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 695). Hans-Joachim Schwierskott bestätigt, dass der Titel aus „publizistischen […] Erwägungen“ heraus gewählt worden sei (Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 105). Vgl. Alois Dempf, Das Dritte Reich. Schicksale seiner Ideen, in: Hochland, 29. Jg., Heft 1 u. 2, Oktober u. November 1931, S. 36–49 u. S. 158–171. Heinz Hertel, Das dritte Reich in der Geistesgeschichte, Hamburg 1934. Hans-Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965. Julius Petersen, Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934. Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, 2. Aufl., München 1965.
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tung im Jenseits insofern gewahrt, als er sich die Steigerung der Erfüllung innerhalb des Weltgeschehens durch einen transzendentalen Einbruch des Geistes – und nicht durch eine nur innerweltliche Entwicklung – vorstellte. Erst allmählich wuchs bei dem Gedanken eines zu erwartenden dritten Reiches, der sich in verschiedenen Ausprägungen in der Neuzeit über Thomas Müntzer, Lessing, Fichte, Schelling und Ibsen fortsetzte, auch die Vorstellung einer „radikal immanenten Erfüllung“404 der Geschichte ohne jeden transzendentalen Einbruch. Das 18. Jahrhundert mit seinem Fortschrittsglauben bedeutete die Wendung von einer sogenannten „Immanentisierung“405 des Reichsgedankens – wie sie durch Joachim von Floris eingeleitet worden war – zu seiner vollkommenen „Säkularisierung“406. Eine besondere Ausprägung des Reichsgedankens stellte nun die Verbindung der Eschatologie des geistigen Reiches mit ihrer Verwirklichung durch eine politische Gesellschaft dar, wie dies in der russischen Idee vom Dritten Rom und der nationalsozialistischen Idee des Dritten Reiches geschah. Die politischen Propheten eines dritten Reiches in Deutschland übertrugen die trinitarische Weltbetrachtung des Joachim von Floris nicht nur auf einen rein weltlichen Geschichtsablauf, sondern sogar auf die konkrete Geschichte der deutschen Nation. In Deutschland entwickelte sich ein solcher politischer Reichsgedanke nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Aus der Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen erwuchs bei den Deutschen die Sehnsucht nach dem Reich und der Glaube an den historischen Auftrag des deutschen Volkes zur Errichtung dieses Reiches.407 Das kleindeutsche Reich von 1871, das mit der Übernahme der Begriffe Kaiser und Reich formell an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation anknüpfte408 erfüllte diese Sehnsucht nur zu einem Teil, so dass die Idee des Reiches trotz 1871 sowohl bei den dem protestantischen Reich entfremdeten Katholiken als auch in der Literatur der Jahrhundertwende weiterlebte.409
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Ebd., S. 169. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. Vgl. Helmut Beilner, Reichsidee, ständische Erneuerung und Führertum als Elemente des Geschichtsbildes der Weimarer Zeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 28, 1977, S. 1–16; Franz Schnabel, Das Werden des Reiches (1933), in: Ders., Abhandlungen und Vorträge 1914–1965, (hg. von Heinrich Lutz u.a.), Freiburg/Basel/Wien 1970, S. 177–233; sowie Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 104. Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 20), Köln und Opladen 1961, S. 77 ff. Vgl. Johannes Schlaf, Das dritte Reich, Berlin 1900; Martin Wust, Das dritte Reich. Ein Versuch über die Grundlagen individueller Kultur, Wien 1905; Gerhard von Mutius, Die drei Reiche. Ein Versuch philosophischer Besinnung, Berlin 1916. Moeller selbst tat die Autoren dieser „Reichsliteratur“ noch in Die Zeitgenossen als Ideologen ab, „denen ihre Epoche zwar klar war, denen sie sich aber immer wieder soziologischutopisch oder ästhetisch-utopisch verhüllte, und die nun von lauter dritten Reichen, die sie
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Als 1918 in der Folge von Krieg und Revolution das Hohenzollernreich zusammenbrach und an seiner Stelle die Weimarer Republik errichtet wurde, erlebte die Reichsidee insbesondere bei den Vertretern der „Fortschrittlichen Reaktion“ bzw. „Völkischen Opposition“ einen rasanten Aufschwung.410 Aus der Ablehnung der ungewollten Republik und der Empörung über den Versailler Vertrag heraus entstand das Gegenbild eines zukünftigen deutschen Reiches, „dessen magische Leuchtkraft die armselige Wirklichkeit des bestehenden Deutschen Reiches um so elender erscheinen ließ“.411 In das Wunschbild des mächtigen Reiches wurden die kühnsten Vorstellungen eines harmonischen Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftslebens hineinprojiziert, die in allen Bereichen der Realität der Weimarer entgegengesetzt waren und aus den verklärten Erinnerungen an das mittelalterliche Reich gewonnen wurden. Die Idee vom Reich wurde so zu einer Reichsideologie, die den Gegnern der Republik als Mittel diente, um die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik zu bekämpfen.412 So schrieb Martin Spahn: „Nur aus der Idee des Reiches heraus, aus der Besinnung auf sie, aus der Erfahrung mit ihr, aus ihrer [...] schöpferischen Neubelebung kann dem Unheil noch Einhalt geboten werden.“413 Moeller war also nicht der einzige rechte Denker, der den Traum vom Reich zu neuem Leben erwecken wollte. Weil er aber zufällig den Begriff des „dritten Reiches“ als Titel seines Buches wählte, wurde es sein „Verdienst“, die Forderung nach dem „dritten Reich“ populär gemacht und die Reichsliteratur neu begründet zu haben.414 Moeller verstand unter dem „dritten Reich“ das auf das mittelalterliche (1. Reich) und bismarcksche (2. Reich) folgende großdeutsche Reich der Zukunft. Das zweite Reich bezeichnete er als ein „Zwischenreich“415, das aufgrund der Nichteinbeziehung Österreichs unvollkommen gewesen sei und wegen seiner westlichen Infiltration zwangsläufig habe verfallen müssen. Das dritte Reich Moellers bedeutet daher keine wilhelminische Restauration, sondern einen Neuaufbau aus jungkonservativen Vorstellun-
410
411 412 413 414
415
sich selbst aus unserer Zeit zu erträumen versuchten, in dieser selbst gründlich ins Schwanken gerieten“ (Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 202). Vgl. Jost Hermand, Das „Dritte Reich“ in den Schriften deutsch-völkischer Fanatiker vor 1933, in: Michael Salewski (Hg.), Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brükken zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Stuttgart 1999, S. 64–68, hier 63. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994, S. 223. Zum Begriff der „Reichsideologie“ vgl. Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934), München 1969, S. 17 f. Martin Spahn, Volk im Raum II (1931), in: Ders., Für den Reichsgedanken. Historischpolitische Aufsätze 1915–1934, Berlin und Bonn 1936, S. 87–91, hier 91. Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 109 ff. – In diesem Zusammenhang ist besonders der 1932 erschienene Sammelband von Fritz Büchner zu erwähnen, in dem 15 bekannte Autoren mit unterschiedlichen Reichsvorstellungen zu Wort kamen (Fritz Büchner (Hg.), Was ist das Reich? Eine Aussprache unter Deutschen, Oldenburg 1932). Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 257.
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gen heraus. Das Reich der Zukunft sollte im Innern auf der Grundlage eines volksgebundenen Sozialismus und einer ständischen Gliederung beruhen, nach außen hin durch den Anschluss Österreichs und die Einbeziehung einiger Völker des Ostens entstehen. Moeller schwebte ein imperial strukturiertes mitteleuropäisches Reich vor, das durch die gemeinsame Anerkennung der deutschen Werte zusammengehalten und durch das deutsche Volk als Reichsvolk geführt werden sollte. Zum wiederholten Male beschwor Moeller die „bis tief hinein in den Osten“416 reichende deutsche „Kulturwirkung“. Zugleich war das „dritte Reich“ aber auch der von dem „konservativen Menschen“ angestrebte utopische Ort,417 als der es notwendigerweise kaum Konturen gewann. Der Rückgriff auf eine nicht näher erläuterte „Gesetzmäßigkeit“ in der Welt, deren „Wiederherstellung“ der „konservative Mensch“ erstrebe,418 entsprang genau dem Moeller eigentümlichen Zug, die Verwirklichung einer Vorstellung erst in der fernen und möglichst unbestimmten Zukunft für möglich zu halten. Zudem deutet vieles darauf hin, dass Moeller selbst nicht an eine Verwirklichung eines „dritten Reiches“ glaubte. Diesbezüglich gibt er schon in seiner Einleitung zu bedenken, dass man sich „eine klare und kalte Rechenschaft darüber geben“ müsse, „daß auch nicht die geringste Gewißheit besteht, die mit ihm [dem dritten Reich] verbunden wäre“.419 Im Übrigen konnte Moeller auf eine Realisierung des „Reiches“ auch gut verzichten. Schließlich berechtigte schon allein das exklusive Wissen um das zum „Weltanschauungsgedanken“420 umfunktionierte „dritte Reich“ zur Fundamentalkritik an den bestehenden politischen Institutionen und den von ihnen verantworteten Zuständen, während umgekehrt das eigene kategorische Festhalten an einem noch so unerreichbaren „höchsten und letzten Weltanschauungsgedanken“421 als Zeichen geistiger Integrität und Beständigkeit gedeutet werden konnte; um somehr, als die von ihrer geistigen Überlegenheit überzeugten Jungkonservativen für sich in Anspruch nahmen, auch gegen die Schrecken der Kontingenz gewappnet zu sein. Demnach gebe sich der „konservative Mensch“ „eine Rechenschaft über alles, was flüchtig ist, hinfällig und ohne Bestand, aber auch über das, was erhaltend ist, und wert, erhalten zu werden. Er erkennt die vermittelnde Macht, die Vergangenes an Künftiges weitergibt. Er erkennt mitten im Seienden das Bleibende. Er erkennt das Ueberdauernde.“422 Und auch in der schwersten Stunde wisse er noch, dass zwar „jede Lage von Umständen abhängt, die töricht scheinen können, und doch sinnvoll sind, zufällig und doch zureichend. Und nicht minder weiß er, daß der Sinn der Geschehnisse sich erst in ihrer Auswirkung herausstellt, die zunächst unabsehbar erscheint.“423 Allein schon durch das exklusive Wissen des „konservativen Menschen“ zur Führung berechtigt, wurde der Führungsanspruch der Jungkonservativen bis zur 416 417 418 419 420 421 422 423
Ebd., S. 260. Vgl. ebd., S. 195. Ebd., S. 175. Ebd., An Heinrich von Gleichen. Ebd. Ebd. Ebd., S. 197. Ebd., S. 175.
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Prädestination dadurch gesteigert, dass Moeller auch in der Natur die Wirksamkeit konservativen Geistes erkannte. So sei „der Kosmos selbst [...] in der Art, wie er auf den Achsen der Gesetzmäßigkeiten beruht [...], von konservativer Statik. Die Natur ist konservativ, weil sie auf einer nicht zu erschütternden Konstanz der Erscheinungen beruht, die sich auch dann, wenn sie vorübergehend gestört wird, immer wieder herstellt.“424
Gleichwohl wäre es für die Argumentation hinreichend gewesen, lediglich das politische Leben von „konservative[r] Statik“ bestimmt zu sehen. Begründet dieses doch die Gewissheit, dass insbesondere die jüngere Geschichte der Deutungshoheit der Jungkonservativen um Moeller unterlag. Schließlich gab er als Vertreter der „Partei der Kontinuität deutscher Geschichte“425 auch hier seiner Überzeugung Ausdruck, dass es in Anbetracht der Tatsache, dass „die Einigung der Nation [in einem „dritten Reich“ erst noch] zu vollenden“426 sei, vor allem einer Stärkung des nationalen Bewusstseins bedürfe, um nach dem „Erziehungskrieg“427 und der als „Zwischenspiel“428 apostrophierten Novemberrevolution das bismarcksche „Zwischenreich“429 durch ein „drittes“ und womögliches „Endreich“430 zu ersetzen. Folglich „kündigt sich die weltanschauliche Grundlage des dritten Reiches“ nach Moellers Auffassung bereits in einer sämtliche gesellschaftlichen Konflikte transzendierenden „Bewußtseinsart“ an.431 Von dieser „Kraft [...], in Gegensätzen zu leben“, heißt es zuvor: „Wir werden die Kraft haben müssen, auch jetzt wieder ‚Welfen‘ zu sein, die sich mit ihrem Stammesbewußtsein erfüllen, und zugleich ‚Ghibellinen‘ zu sein, die den Reichsgedanken vertreten. Wir werden die Kraft haben müssen, Barbaren und Christen, Katholiken und Protestanten, Süddeutsche und Norddeutsche, Westdeutsche und Ostdeutsche zu sein. Wir werden die Kraft haben müssen, hier Preußen und dort Oesterreicher oder Bayern, Schwaben, Franken, Hessen, Sachsen, Friesen zu sein: dies alles für sich und doch für einander – als Deutsche.“432
424 425 426 427 428 429 430 431 432
Ebd., S. 223. Ebd., S. 244. Ebd., S. 252. Ebd., An Heinrich von Gleichen. Ebd., S. 202. Ebd., S. 257. Ebd., S. 260. Ebd., S. 254. Ebd., S. 252 ff.
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7.6.3. Versagen des Konservatismus. Schuld an der Niederlage Da es für Moeller zu den Wesensmerkmalen des „konservativen Menschen“ gehörte, „die Gegenwart nach der Seite der Zukunft geöffnet“433 zu sehen, war er derjenige unter den politischen Denkern der neuen Rechten, der sich verbal am gründlichsten vom Konservatismus der Vorkriegszeit abgrenzte. Gemäß der im Gewissen bezogenen Position gab er in Das dritte Reich vor, den Konservatismus von allem zu befreien, was ihn in den Ruf eines Relikts gebracht habe. So bezog Moeller nicht nur die für den Konservatismus unentbehrliche Kampfstellung gegen den Liberalismus, sondern erklärte auch den dem Vorkriegskonservatismus verpflichteten „reaktionären Menschen“ zum Antagonisten der konservativen Sache. Von ihm gelte es sich zu distanzieren, um das beschworene wahre Verständnis von Konservatismus zu verwirklichen. Dreh- und Angelpunkt dieser Differenzierung war auch in Das dritte Reich der Topos der „geistigen Verwahrlosung“ des deutschen Konservatismus, wie sie Moeller zufolge „seit einem Jahrhundert die Nation herabgebracht“434 habe. Für ihn hat das Gebrechen des deutschen Konservatismus in einem Defizit an zeitgemäßem Geist gelegen. So warf er dem Konservatismus des 19. Jahrhunderts vor, dass er sich „auf seine Klitsche zurück“gezogen und den Sinn für die Probleme der Zeit verloren habe: „Er [der dt. Konservatismus des 19. Jh.] verließ sich auch jetzt noch auf das Ewige, auf das sich seine Weltansicht bezieht, aber er überließ es auch sich selbst, nahm es als ein Gegebenes hin [...]. Kein Konservativer wußte mehr, […] daß das Ewige nicht stille steht.“435 Moellers Kritik am Vorkriegskonservatismus führte zu einem Kampf gegen den Ballast alter „Formen“, auf denen der „Reaktionär [...] beharrt“436. In Das dritte Reich warf Moeller diesen Ballast auf eine besonders eigenwillige Weise von sich: Er erklärte den der konservativen Sache hinderlichen „Reaktionär“ zum „Rationalist[en]“ und damit zum vom Geist des „Liberalismus“ korrumpierten Vertreter des Konservatismus, der dessen eigentlichen Sinn nie mehr verstehen könne,437 da dieser Sinn zuletzt darin bestünde, „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“438. Betrachtet man Moellers Kritik am Vorkriegskonservatismus jedoch genauer, so zeigt sich, dass er sich nur bedingt auf dessen Gehalte bezog, sondern vor allem gegen die unzureichende Vertretung dieser Gehalte polemisierte. Was Moeller in Das dritte Reich genau genommen kritisierte, war nicht der ihm fremde Konservatismus von vor 1914, sondern die als ungenügend und unzeitgemäß diagnostizierte Haltung seiner wesentlichen Trägerschicht (die ostelblischen Junker) insbesondere in der wilhelminischen Epoche: 433 434 435 436 437 438
Ebd., S. 175. Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 175. Ebd., S. 215.
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„In dieser Zeit begab sich der konservative Mensch der geistigen Grundlage, die ihm das Denken der großen Deutschen am Anfange des Jahrhunderts überantwortet hatte [...]. Er ließ zu, daß an der Stelle, die frei wurde, in der Vorstellung des Volkes die liberalen Begriffe sich einschoben.“439
Da Moeller zudem einen Zusammenhang herstellte zwischen der „geistigen Verwahrlosung“ des deutschen Konservatismus und dem Aufkommen des Liberalismus, war seine Kritik repräsentativ für die Wandlung des Konservatismus von einer verteidigend-bewahrenden zu einer angreifend-aggressiven Haltung. Darüber hinaus bedeutete der gegen den Vorkriegskonservatismus gerichtete Vorwurf, sich selbst nicht erneuert und dadurch den Zusammenbruch von 1918 verschuldet zu haben, nicht unbedingt eine substanzielle Kritik am traditionellen Verständnis von Konservatismus. Vielmehr war durch die Behauptung der „geistigen Verwahrlosung“ genau der dialektische Schritt getan, der es dem Oppositionellen Moeller gestattete, den vermeintlichen wahren Geist des Konservatismus nun für sich in Anspruch zu nehmen. Nicht zufällig stellte Moeller in Das dritte Reich auch eine Ahnenreihe von innovativen „Außenseitern des Konservatismus“ vor, „zu denen nicht nur Lagarde und Langbehn [...], sondern auch Nietzsche gehört“ und in die sich der „Außenseiter“ Moeller zweifellos auch selbst eingereiht wissen wollte.440 Potenziert wurde der Vorwurf der „geistigen Verwahrlosung“ letztlich jedoch durch Moellers Interpretation des Kaiserreiches als politisches Gebilde, dessen prinzipiell begrüßenswerter Untergang durch „geistige Vernachlässigung“441 verursacht worden sei. Im Zentrum von Moellers Variante der Dolchstoßlegende stand somit wieder die Frage, wie der Verrat denn überhaupt möglich geworden war: In Das dritte Reich suggerierte Moeller, dass ebenso, wie der Konservatismus nicht in der Lage gewesen sei, sich gegenüber dem Liberalismus zu behaupten, auch das Volk ideell nicht in der Lage gewesen sei, einen Krieg durchzustehen. Entsprechend seinem nationalpädagogischen Anliegen führte er die Niederlage ausschließlich auf einen Mangel an bewusstem deutschem Geist zurück. Während die Kriegsgegner England und Frankreich „durch ihre Revolutionen zu politisierten Nationen geworden“ seien, habe sich kein deutscher Geist mit ihnen messen können: „Wir verloren den Krieg gegen den bewußten politischen britischen Geist, den die Engländer seit der englischen Revolution besitzen, und gegen den bewußten politischen gallischen Geist, der über die Franzosen mit der französischen Revolution kam.“442 Da Moeller das defizitäre nationale Bewusstsein der Deutschen vor allem der politischen Kultur des „zweiten Reiches“ anlastete, fungierten Niederlage, Zusammenbruch und Revolution wiederum als Katalysatoren: Sie sollten dazu beitragen, den Deutschen ihren bisher latent gebliebenen, unpolitischen Geist als politisierten Geist zum Bewusstsein zu bringen. Das in Das dritte Reich beschworene Ziel ist die „Poli-
439 440 441 442
Ebd., S. 219. Ebd., S. 214. Ebd., S. 5. Ebd., S. 1.
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tisierung deutscher Nation“443 im „Dritten Reich“, der „Anbruch eines deutschen Zeitalters [...], in dem das deutsche Volk erst seine Bestimmung auf der Erde erfüllen“444 werde. Das heißt, der von Moeller kultivierte Mythos vom jungen deutschen Volk sollte sich, provoziert durch die als überlegen empfundene Feindpropaganda, als politische Kraft entfalten und den Weg aus der Krise weisen.
7.6.4. Feindbestimmung. Noch einmal wider den Liberalismus Blieb somit im Positiven alles gewollt unbestimmbar, so musste Moeller auch in Das Dritte Reich das bereits im Gewissen entwickelte Feindbild „Liberalismus“ und den Hass auf alles Liberale ständig neu beschwören, um weiterhin die Einheit des Konservatismus als dessen Gegenidee zu suggerieren. Die Intensität seiner nunmehrigen Polemik gegen den Liberalismus steht bei Moeller in einem direkten Verhältnis zur inhaltlichen Unbestimmtheit seines Konservatismus-Verständnisses. Wo das Positive immer weiter mystisch verklärt wird, nimmt die Beschreibung des Negativen ständig grotesker werdende Formen der Dämonisierung an.445 Dies gilt umso mehr, als sich der Glaube an das „dritte Reich“ fundamental von der Verteufelung der „zersetzende[n] Anschauungswelt“ Liberalismus nährte446, wie sich umgekehrt der Liberalismus als Formel für Desintegration und Nivellierung schlechthin erwies: „Der Liberalismus ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die nicht mehr Gemeinschaft ist.“447 Seine Auseinandersetzung mit dem Parlamentarismus ist beispielhaft dafür, wie sich Moeller nunmehr als Exorzist aller liberalen Einschläge in den gängigen politischen Schlagworten zu präsentieren suchte. Ausgehend von der Annahme, dass, „wenn die Verwirrung der politischen Begriffe nicht so unendlich wäre, [...] die Möglichkeit einer konservativen Demokratie zu unseren selbstverständlichen Vorstellungen gehören“448 würde, entwickelte Moeller in Das dritte Reich das Idealbild einer aus der nationalen Urgemeinschaft erwachsenen, „echte[n] Demokratie“449 mit dem Ziel, die scheinbar armselige Wirklichkeit der bestehenden parlamentarischen Demokratie noch elender erscheinen zu lassen. Mit Carl Schmitt als dem damals wirkungsmächtigsten Parlamentarismuskritiker teilte Moeller dabei den Gedanken, dass eine auch zeitgenössische Demokratie auf ein Parlament durchaus verzichten könne. 443 444 445
446 447 448 449
Ebd., An Heinrich von Gleichen. Ebd. Vgl. hierzu auch: Anja Lobenstein-Reichmann, Liberalismus – Demokratie – Konservatismus: Moeller van den Bruck, das Begriffssystem der Konservativen zu Beginn der Weimarer Republik, in: Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, (hg. von Dieter Cherubim, Karlheinz Jakob u. Angelika Linke), Berlin 2002, S. 183–206, bes. 201. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 64. Ebd., S. 78. Ebd., S. 121. Ebd., S. 112.
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Während jedoch Schmitt in seiner Beurteilung der Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) zu illustrieren suchte, dass der einem (nur) relativen Wahrheitsbegriff verpflichtete Parlamentarismus vor allem an der Problematik der Willensbildung gescheitert sei, lehnte Moeller die parlamentarische Demokratie vor allem deshalb ab, weil „diese Demokratie“ für ihn „Liberalismus“ und also ein Zeichen der Desintegration und Schwächung der nationalen Gemeinschaft war.450 Die „Anteilnahme des Volkes am Staate“451 zum Kriterium „echter“ Demokratie erhebend, kritisierte Moeller den Parlamentarismus, weil seiner Ansicht nach mit den politischen Parteien angehörenden Abgeordneten und Regierungsmitgliedern sich zwischen dem „Volk [...] und dem Staate eine Schicht befand, [...] eine Schicht, die sich auf das Volk berief, aber gleichzeitig das Volk fernhielt“.452 Demzufolge waren es in der Weimarer Republik dann allein die zeitgenössischen „deutschen Demokraten“, die, vom „Liberalismus […] verdorben“, dem deutschen Volke durch die „Erfüllungspolitik“ „die Anteilnahme [...] an seinem Schicksale“ vorenthalten würden453, während für die Jungkonservativen „schon immer eine Demokratie zu denken gewesen“ sei, „die sich schließlich an die letzte Wand ihrer Ausflüchte gedrängt sah [...], sich zur Wehr setzte – mit den Kräften einer Sechzig-Millionen-Kraft“.454 Nach etwa dem gleichen Schema verfuhr Moeller mit den Begriffen „revolutionär“ und „sozialistisch“, seine im Gewissen veröffentlichten Ausführungen in signifikanter Weise fortführend. Die Novemberrevolution war für ihn von im Grunde „liberalen Menschen gemacht worden“455, denen Moeller den „konservativen Mensch[en]“ als den eigentlichen Revolutionär gegenüberstellte. Während die nach seiner Meinung auf ihr „Nichtgenie“ stolzen „deutschen Revolutionsdemokraten“456 allenfalls eine „liberale Revolution“457 zustande gebracht hätten, deren Ergebnisse die ungeliebte parlamentarische Demokratie und die schmähliche „Erfüllungspolitik“ seien, lebte Moeller ganz in Erwartung einer konservativen „‚zweiten Phase‘ der Revolution“458, deren Ziel die Verwirklichung der nationalen Gemeinschaft sei. Bezeichnend für den vormaligen ästhetischen Oppositionellen ist dabei sowohl die Diagnose eines „Nichtgenies“ auf Seiten der Revolutionäre als auch die Behauptung, dass die Revolution „von Opportunisten“ und „nicht von Fanatikern“ gemacht worden sei.459 Das konnte nur bedeuten, dass die Novemberrevolutionäre, wären sie nur hinreichend radikal und konsequent gewesen, den Deutschen auch die „Erfüllungspolitik“ hätten ersparen können. Ferner versuchte Moeller seine Leser zu überzeugen, dass Marx bzw. die vom Marxismus ausgehende Zerstörung des „deutschen Sozia450 451 452 453 454 455 456 457 458 459
Vgl. ebd., S. 109. Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Ebd., S. 123. Ebd., S. 124. Ebd., S. 200. Ebd., S. 14. Ebd., S. 21. Ebd., S. 236. Ebd., S. 200.
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lismus“460 die eigentliche Ursache des „Nichtgenies“ und der Kläglichkeit der Revolution von 1918/19 gewesen sei. Gemäß seinem einleitenden Sinnspruch zum Kapitel Sozialistisch – „Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus“461 – und nahezu identisch mit Spengler in Preußentum und Sozialismus (1919) – nur mit einem einmalig viel stärker akzentuierten Antisemitismus462 – sah Moeller in Marx und in dem vom Geist des Liberalismus bestimmten Marxismus den Gegner des „deutschen Sozialismus“463. Entsprechend rechnete er auch hier wieder das verdorbene Element an einer ursprünglich guten Sache dem undeutschen Liberalismus zu. Denn während der auf einer „körperschaftliche[n] Auffassung von Staat und Wirtschaft“ beruhende deutsche Sozialismus „Verwurzelung, Straffung, Gliederung“464 bedeuten müsse, habe Marx den Sozialismus eben „liberal“ interpretiert und diesen durch eine die „metamaterialistischen Voraussetzungen des sozialen Gefüges“465 verkennende materialistische Geschichtsauffassung verfälscht: auch weil er als „volklose[r] Rationalist“466 durch die Lehre vom internationalen Klassenkampf die Desintegration der nationalen Gemeinschaft vorangetrieben und einen „atomisierenden Sozialismus“467 begründet habe. Daneben war die Auseinandersetzung mit Marx für Moeller Anlass, nochmals das deutsche „Überbevölkerungsproblem“ zu thematisieren. Ihm schien die im Vergleich mit Frankreich hohe Bevölkerungsdichte in Deutschland ein wesentlich „sozialistisches Problem“468 zu sein. Jedoch irrte der Lebensraumtheoretiker Moeller, als er meinte, dass es nach den durch den Versailler Vertrag verfügten Gebietsabtretungen urplötzlich „in Deutschland zwanzig Millionen zuviel“469 Menschen gegeben habe, die „nicht das Land haben, um in ihm zu leben“470. Schließlich dauerte der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzende Geburtenrückgang in der dezimierten Bevölkerung (zwischen 1914–1918 fielen immerhin 2,04 Millionen deutsche Soldaten) unvermindert an. Der Geburtenüberschuss betrug zunächst 8,9 (1921–25), dann 6,6 (1926–30) und schließlich 5,3 (1931–35) Neugeborene je 1000 Einwohner.471 Die durch die Gebietsabtretungen verursachten Rückwanderungen in das Reichsgebiet wogen die Geburtenrückgänge keinesfalls auf. Dazu kommt, dass die deutsche Auswanderung nach Übersee in den Jahren bis 1925 größer war als die Einwanderung einschließlich der
460 461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471
Ebd., S. 61. Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 28 f. Ebd., S. 61. Ebd. Ebd., S. 136. Ebd., S. 145. Ebd., S. 221. Ebd., S. 52. Ebd. Ebd., S. 54. Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte. Bevölkerungs-Ploetz, 3. Aufl., Bd. 4, Würzburg 1965, S. 172.
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Rückwanderungen. So war die Bevölkerungsdichte, wie Moeller suggeriert, nach Versailles keineswegs außergewöhnlich drückend geworden.472 Im Übrigen zielte die These von den „zwanzig Millionen zuviel“ auch weniger auf die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen als auf die Einbußen an Wirtschaftsraum und machtpolitischer Geltung, die Deutschland hatte hinnehmen müssen und die Moeller von einem „Drucke der Fesselung“473 schreiben ließen. Zudem lehnte Moeller Auswanderung mit dem Argument ab, „Menschen“ seien „die einzige Macht, die wir jetzt noch besitzen“, weshalb man folglich „nichts Dümmeres tun“ könne, „als diese Macht freiwillig zu vermindern“.474 Es sind also eher außenpolitische Erwägungen, die Moeller das „Bevölkerungsproblem“ thematisieren ließen. Nachdem er bereits in Das Recht der jungen Völker (1919), um ihr „Ausbreitungsbedürfnis“475 vor dem Weltkrieg zu erklären, die Deutschen mit einigem Recht das „Volk einer starken Vermehrung [...] und [...] einer gesteigerten Lebensfähigkeit“476 genannt hatte, evozierte er in Das dritte Reich das Bild von einem „Volk in Bedrängnis“, von dem eine „unendliche Gefahr“ ausgehe, die Moeller zu „Politik machen“ wollte.477 Da Moeller beispielsweise unterstellte, durch den „Liberalismus“ sei „im Grunde auch der Sozialismus unterwühlt und zersetzt worden“478, entstellte er einen der zentralen zeitgenössischen Begriffe auf höchst eigentümliche Weise. Nicht nur, dass er seinen von Marx befreiten deutschen Sozialismus als einzig mögliche Alternative präsentierte, er deutete auch die von ihm selbst angerichtete gedankliche Konfusion als Auswuchs eben des „zersetzenden“ Liberalismus: „[...] dem Liberalismus fiel die Verwirrung der Begriffe zu, die aus dem Westen kam und auf die Deutschland hereinfiel.“479 Diese Auffassung von der „Verwirrung der Begriffe“ hat ihren Ursprung in der Annahme, dass der Frieden ein Resultat des von der alliierten Propaganda praktizierten „Betrugs durch Ideen“ sei.480 Entsprechend bemühte sich Moeller, in dem Liberal betitelten Kapitel, zu zeigen481, dass eine Demokratisierung nach westlichem Vorbild wie auch das Wort von einem „Frieden ohne Sieg“ von der Entente nur
472 473 474 475 476 477 478 479 480 481
Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 177. Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, München 1919, S. 20. Ebd., S. 7. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 58. Ebd., S. 63. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 64 ff. Das Kapitel ist identisch mit dem in Die neue Front (1922) publizierten Beitrag (Moeller van den Bruck: An Liberalismus gehen die Völker zugrunde, in: Die neue Front (hg. von Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen, Max Hildebert Boehm), Berlin 1922, S. 5–34).
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propagiert wurde, um nach erfolglosem Kampf „das deutsche Volk selbst zu verlokken“.482 Ferner wurde mit der Behauptung, dass „der Liberalismus [...] nicht mehr Freiheit verteidigte, sondern Vorteile betrieb“483, der wirtschaftliche Liberalismus mit seiner politischen Form identifiziert, so dass der liberale Politiker als Geschäftsmann erschien, der seine humanitären Gesten und Freiheitsphrasen nur zur Verdeckung handfester persönlicher oder nationaler Interessen benutzt habe. Notwendig hatte der „liberale Mensch“ in Moellers Darstellung keinerlei Prinzipien. Für ihn, so Moeller, sei „Freiheit [...] der Spielraum, den er sich für seinen Egoismus zu schaffen weiß“.484. Dabei wurde das wirtschaftsliberale Axiom vom „Egoismus“ zum Bestandteil einer verräterischen Gesinnung wiederum dadurch, dass Moeller die in Deutschland lebenden „liberalen Menschen“ zu Nutznießern der Erfüllungspolitik erklärte: „Der liberale Mensch verstand, die vier Jahre zu nutzen, die hinter uns liegen. Er befestigte während dieser Zeit seine politische Stellung in den demokratischen Errungenschaften der Revolution und, wenn es nur eben anging, durch ergebene Erfüllung des Friedens von Versailles.“485
Bezeichnend für Moeller ist, dass er in diesem Zusammenhang auch die dem Weltkrieg vorangegangene Epoche als tendenziell liberalistisch kennzeichnete. Nicht zufällig findet sich seine Polemik gegen die dem wahren Konservatismus nicht gerecht werdenden Konservativen des 19. Jahrhunderts im Kapitel Liberal. Erschien ihm doch gerade ihre Empfänglichkeit für den „zersetzenden“ Liberalismus als Bestätigung seiner Verwahrlosungshypothese. Dabei gipfelte seine Kritik am Parteikonservatismus, der angeblich keinen wahren Politiker hervorgebracht habe, „der den Konservatismus noch in der Idee vertrat“486, in einer Polemik gegen den jüdischen „Rationalisten“ Friedrich Julius Stahl als Begründer einer den Konservatismus selbst am schwersten schädigenden konservativen Theorie. Die „unendliche[...] geistige[...] Verlegenheit, in der sich das konservative Denken befand“, habe dazu geführt, dass dessen „politisch-juristische-philosophische Führung“487 an einen „rabulistisch-zelotische[n] Geist“ wie Stahl kam, der „nicht der Begründer, sondern der Zerstörer des Konservatismus in Deutschland“488 gewesen sei. Schließlich offenbare sich mit dem Aufstieg von Stahl – eines „Rationalist[en]“ ohne das „mystische“ wie das „nationale Erlebnis“489 – zum Advokaten der konservativen Sache die Anpassung des Konservatismus an den Liberalismus, die nach Moeller einer Selbstzerstörung gleichkam, da der Konservatismus im Gegensatz zum
482 483 484 485 486 487 488 489
Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 65. Ebd., S. 85. Ebd., S. 100. Ebd., S. 203. Ebd., S. 93. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd.
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Liberalismus „keinen Kompromiß“490 wie den monarchischen Konstitutionalismus vertrage. Stahl habe folglich „[...] den Konservatismus als Weltanschauung zersetzt. Er hat ihm statt der organisch natürlichen volklichen Grundlage, die er bei Stein und wieder bei Bismarck besaß, eine formal-eklektische, staatlich-selbstzweckhafte gegeben. Und vor allem: er hat den Konservatismus nicht geistig so ausgerüstet, daß er nun wirklich den Kampf gegen den Umsturz aufnehmen konnte, indem er ihn gegen die Zersetzung aufnahm.“491
Noch deutlicher wurde Moeller seinem ehemaligen Kaiser gegenüber. Für ihn war Wilhelm II. nunmehr ein „liberaler Monarch“, der „als Opfer seiner liberalen Halbheiten [...] den Krieg verloren“ habe.492 Moeller zufolge teilte er als Repräsentant seiner Epoche jenes defizitäre Volks- und Nationalbewusstsein, das ihn dazu prädestinierte, dem „Anflug von Liberalismus“ nachzugeben, der „schließlich auch die Monarchie zerstört hat.“493 Dabei entsprach es der Optik eines „ästhetischen Oppositionellen“, dass Moeller den vermeintlichen Siegeszug des „zersetzenden“ Liberalismus im wilhelminischen Reich auch durch einen Mangel an „konservative[r] Form“ bestätigte.494 Laut Moeller versinnbildlichte die Gleichzeitigkeit von „modernen Werkformen“ und „eitle[r] Repräsentation“ jenen „breiten und ausschweifenden Dilettantismus“,495 der als Zeichen einer „geistig verwahrlosten“ Epoche und Ursache für den Zusammenbruch auch die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen und politischen Neuanfangs begründete; insbesondere deshalb, weil für Moeller darüber hinaus auch alle Institutionen des gegenwärtigen Staates, der Parlamentarismus und das Parteiensystem sowie die Kunst des Kompromisses und die Einflussnahme gesellschaftlicher Gruppen auf den Staat liberal waren. Vereinfacht könnte man sagen, dass für Moeller die Weimarer Republik und ihr politisches System „liberal“ waren. Für ihn war es ein vom Westen aufgezwungenes System und als solches die Ursache für Deutschlands Schwäche und Ohnmacht, ein System der Willkür, das sich auf den Individualismus bzw. Egoismus von einzelnen Personen und Gruppen gründete und zu keiner das ganze Volk umfassenden Gemeinschaft führen konnte. Ist manches Verdikt Moellers gegenüber dem Liberalismus zumindest noch originell pointiert – „Der Liberalismus ist die Freiheit, keine Gesinnung zu haben, und gleichwohl zu behaupten, daß eben dies eine Gesinnung ist“496 –, so war die Projektion aller verderbenbringenden Tendenzen auf den Liberalismus zum Teil derart grotesk, dass auch die kritischen unter den jungkonservativen Autoren Moeller später die Gefolgschaft versagten. Georg Quabbe beispielsweise meinte in Das letzte Reich (1933), 490 491 492 493 494 495 496
Ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 213 f. Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 178. Ebd. Ebd., S. 65.
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dass Das dritte Reich zwar „unzweifelhaft die Arbeit eines geistvollen Mannes und in seinen, die konservative Idee betreffenden Kapiteln sehr ergiebig“497 sei. In allen übrigen Teilen wirke es „fast peinlich“. Gänzlich „unerträglich“ seien seine Erörterungen über Liberalismus und Demokratie: „[...] wenn er [Moeller] den liberalen Menschen als ‚Menschen mit einem je nachdem aufgeweichten oder abgefeimten Gehirne‘ charakterisiert und im Liberalismus den Ausdruck einer Gesellschaft sieht, die sich nur aus den minderwertigen Bestandteilen des Volkes zusammensetzt, so weiß man vor Verlegenheit nicht, was man zu diesem politischen Gesinnungsgenossen noch sagen soll. Oder doch, etwas kann man sagen: daß ein politischer Schriftsteller, der sich so grobe Exzesse im Negativen leistet, auch kein Zutrauen in seinen politischen Feststellungen verdient, wie klirrend und siegesgewiß seine Sätze auch einhermarschieren.“498
Dass die von Quabbe kritisierte unterkomplexe Perhorreszierung des Liberalismus in erster Linie der Furcht vor der Auflösung der nationalen Gemeinschaft entsprang, zeigt sich zuletzt darin, dass Moeller das liberale Denken als epigonalen Antipoden zum erhaltenden konservativen Denken zu bestimmen versuchte: „Das liberale Denken ist aufgelöstes konservatives Denken, seine Zersetzung von Innen.“499 Damit war dem Liberalismus jeglicher ideale Anspruch abgesprochen, während umgekehrt das konservative Denken mit dem Attribut konstruktiver Ganzheitlichkeit versehen wurde: „Konservatives Denken ist makrokosmisches Denken, das den Mikrokosmos mit einbezieht und als politisches Denken die Gewähr für die Aufrechterhaltung des Lebens übernimmt.“500 Mit solchen Postulaten suchte Moeller verständlich zu machen, dass die neue konservative Haltung im Wesentlichen als Kampfmittel gegen die Desintegration zu verstehen sei. Was diese Haltung aber im Positiven ausmachen sollte, woher sie ihre Ideen und Glaubensgehalte bezog und wie sie diese untereinander in der Rangfolge abzustufen und zu werten habe, trat angesichts des als bisher so übermächtig betrachteten Gegners in den Hintergrund. Wo Moeller ansetzte, Konservatismus selbst als politische Haltung begrifflich zu fixieren, wurde der Konservatismus stets in schwärmerischverklärtem Ton zur Glaubenssache erhoben, die sich einer genauen Beschreibung entziehen musste. Die Identität des gepriesenen Konservatismus gründete sich fundamental auf die Suggestion, mit der Zerstörung des Liberalismus der „Selbstauflösung der Menschheit“501 und der „Verwirrung der politischen Begriffe“502 ein Ende setzen zu können. Anderseits verdeutlichen die Entgegenstellungen Moellers auch, dass der Liberalismus als Bezugspunkt für den Jungkonservatismus von existentieller Bedeutung war. Denn so sehr die Jungkonservativen um Moeller den Liberalismus zu hassen 497 498 499 500 501 502
Georg Quabbe, Das letzte Reich, Leipzig 1933, S. 52. Ebd. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 80. Ebd., S. 121.
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vorgaben, sie konnten ihn gar nicht entbehren, da sich ihre Identität erst ex negativo aus diesem ergab: Ihr Antiliberalismus war, im Gegensatz zum angeblich gesinnungslosen Liberalismus, der Ausweis dafür, eine – wie auch immer geartete – „Gesinnung“ bzw. einen „festen Standpunkt“503 zu haben. „Liberalismus“ war somit das für die Identität der Jungkonservativen unentbehrliche Antonym. Mit seiner Verteufelung huldigten sie ihrem Selbstverständnis als wahrhaft „konservative Menschen“: Kultur und Vaterland bewahrende, die natürlichen „Bindungen“504 ehrende, in ihrer Gesinnung unbestechliche Politiker, die angeblich versuchten, der „Selbstauflösung der Menschheit“505 ein Ende zu setzen. Dadurch schließlich, dass die Sentenzen Moellers Eingang in das allgemeine konservative Bewusstsein fanden, drang dort nicht nur sein spezifischer Liberalismus-Hass ein, sondern auch die in jungkonservativen Kreisen gepflegte Suggestion, dass schon die Zerstörung des Liberalismus die notwendige wie hinreichende Bedingung der Wiederermöglichung einer nationalen Politik sei. Unmittelbar mit der gebündelten Projektion aller Übel auf den Liberalismus hing auch die Bedeutung zusammen, die Moellers Interpretation einem weiteren gängigen Argument der jungkonservativen Ablehnung der Weimarer Republik gab. Denn erst jetzt, wo der Feind deutlich erkannt zu sein schien und auch die Nachlässigkeiten des früheren Konservatismus gegenüber diesem Feind beim Namen genannt waren, konnte zur entscheidenden Schlacht gegen diesen Feind aufgerufen werden. Die Frage, wie die Erfolgschancen in dieser Schlacht einzuschätzen seien, war hierbei sekundär. Es ging vielmehr darum, nach dem schmählich beendeten Ruhrkampf den vielleicht letzten günstigen Zeitpunkt für den Angriff zu nutzen und, falls dieser erfolglos bleiben sollte, zumindest den verhassten Gegner Liberalismus mit ins Grab zu reißen. In Das dritte Reich gab Moeller der unter zeitgenössischen Konservativen verbreiteten dezisionistischen Attitüde von der nun zu vollziehenden Gegenwehr gegen den vom Liberalismus in Gang gesetzten Desintegrationsprozess die ihm eigene Note. Denn allgemein waren die Konservativen durch die militärische Niederlage und den Verlust des vertrauten Herrschaftssystems zutiefst verunsichert und neigten in einer Mischung aus Trotz und Enttäuschung zwar gefühlsmäßig zum „jetzt erst recht“, konnten jedoch in dieser Gegenwehr kein endgültiges Heil erblicken. Moeller erklärte diesen Verlust nicht als einen endgültigen, sondern stilisierte ihn in Das dritte Reich zur Vorbedingung einer jetzt möglich gewordenen Wende. Die traumatische Erfahrung 1918/19 wurde somit als Stufe in einem heilsgeschichtlichen Prozess gedeutet, dessen Ziel das „dritte Reich“ darstellte. Die bei den Konservativen vorherrschende Verbitterung über den Verlust aller bisher verinnerlichten staatlichen wie gesellschaftlichen Wert- und Orientierungsmaßstäbe wurde somit zum emotionalen Potenzial einer neuen Vision. Die das konservative Bewusstsein im Allgemeinen zuneh503 504 505
Ebd., S. 192. Ebd., S. 83. Ebd., S. 80.
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mend prägende Suggestion, dass die konservative Gegenwehr gegen den „zersetzenden“ Liberalismus jetzt erst recht möglich und unumgänglich geworden sei, war somit eine vor allem von Moeller und anderen Jungkonservativen geprägte Vorstellung. Moellers prinzipiell optimistische Haltung wirkte sich hier am folgenreichsten auf den Konservatismus der Weimarer Republik aus. Seine direkten Angriffe auf den Kaiser wie den altkonservativen Theoretiker Stahl mochten manchem gestandenen Konservativen als respekt- bzw. pietätlos erscheinen, jedoch traf Moeller mit seiner Kritik an Wilhelm II. einen wesentlichen Punkt im konservativen Bewusstsein nach 1918/19, der von den meisten konservativen Zeitgenossen nur nicht so deutlich ausgesprochen wurde: Der Zusammenbruch der alten Ordnung sei vor allem dadurch verursacht worden, dass der Konservatismus von seinen berufenen Trägern nicht energisch und glaubensfest genug vertreten worden sei.506 Aus dieser Perspektive konnte dann – bedingt durch den Wegfall des staatlichen Rahmengefüges, auf das man hätte Rücksicht nehmen müssen – zur Einnahme einer kompromisslosen konservativen Haltung als Vorbedingung einer politischen Entscheidung aufgerufen werden. Es galt als „Schuld“ des wilhelminischen Zeitalters, „daß es die konservativen Formen ausleiern ließ“507, weshalb das deutsche Volk als Volk „ohne Idee“ zu „materialistischen Menschen eines sich materialisierenden Zeitalters“ degenerieren konnte.508 Also konnte man glauben, zukünftig alle politischen Probleme mit einer umso entschiedeneren Haltung endgültig aus der Welt schaffen zu können. Zusammenbruch und Revolution wurden als die für diese Erweckung notwendige Erschütterung gedeutet. Die Gegenwart wurde somit zum Endpunkt der liberalen Zersetzung erklärt.
7.7. Moellers Haltung in Bezug auf den Faschismus Die Gewissheit, dem liberalen System letztlich doch noch den entscheidenden Schlag versetzen zu können, spiegelt sich in Moellers Beurteilung des Münchner Putsches wider. Drei Tage nachdem die Bierkellerrevolte Adolf Hitlers am 9. November 1923 unter den Kugeln der bayerischen Landespolizei beendet worden war, bezeichnete Moeller das Ereignis im Gewissen als „Verbrechen aus Dummheit!“509, das heißt analog zu seinen Einwendungen gegen den Kapp-Putsch warf Moeller den Initiatoren des Umsturzversuchs vor, einen allenfalls kontraproduktiven Beitrag zur nationalen Einigung geleistet zu haben. In diesem Sinne heißt es unter anderem: 506
507 508 509
Wie charakteristisch dieses Argument war, verdeutlicht eine Feststellung Graf Westarps in seinen Erinnerungen an die konservative Politik vor 1918. Darin heißt es unter anderem: „Wo ich persönlich Fehler und Schwächen sehe, beruhen sie nicht darauf daß wir zu starr gewesen sind, sondern daß wir unsere Grundsätze nicht fest und schlagfähig genug verfochten haben“ (Graf Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Berlin 1935, Bd. 2, S. 677). Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 168. Ebd., S. 4. Moeller van den Bruck (anonym), Scharf aufgepaßt!, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 45, 12.11.1923.
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„Hitler vermaß sich, aus Nichts einen deutschen Staat zu gründen, von München aus, ohne Fühlung mit den staatsbildenden Kräften des Nordens. Während doch der neue deutsche Staat nur auf den Fundamenten aufgebaut werden kann, welche die Geschichte gelegt hat und die unterdrückt worden sind.“510
Der Eindruck, dass man sich beim Gewissen Hitler gegenüber vor allem als „wissend“ empfand, wird dadurch verstärkt, dass er in der sehr wahrscheinlich von Moeller verfassten Kritik der Presse ein „Fanatiker für Deutschland“ und ein „Eiferer aus München“ genannt wurde,511 der vor allem an „seiner proletarischen Primitivität gescheitert“ sei: „Er verstand nicht, seinen Nationalsozialismus geistig zu unterbauen. Er war verkörperte Leidenschaft aber ganz ohne Abstand und Augenmaß.“512 Solche Formulierungen in einer von Moeller verantworteten Rubrik bestätigen, dass es vor allem das Bewusstsein des Auserwähltseins war, das die Differenz zwischen den Jungkonservativen und den Nationalsozialisten begründete. Gleichwohl reicht der immer wieder zitierte Kommentar zu einer Unterredung mit Hitler („Pechel, der Kerl begreift’s nie!“513) nicht aus, um auf eine grundsätzliche Diskrepanz zum Nationalsozialismus zu schließen. Bereits im Dezember 1922 hat mit Eduard Stadtler ein maßgeblicher Mitstreiter Moellers den Nationalsozialismus als „ursprüngliche Kampfbewegung [...] gegen den senilen Parlamentarismus“514 gewürdigt. Verlockend war es auch, die agitatorische Wirkung, die Hitler als Angeklagter vor dem bayerischen Volksgerichtshof zu entfalten wusste, für die eigenen Interessen auszunutzen. In einem vermutlich von Moeller verfassten Artikel wurde Hitler diesbezüglich zugerufen: „Rühre die Trommel, Trommler der Nation!“515 Nur vom Putsch als Mittel zur Machtergreifung hat sich Moeller im Gewissen noch deutlich distanziert: „Es handelt sich nicht um Abspringen und Schauturnen. Es handelt sich um geduldige und planmäßige aktive Nationalpolitik, die auf Trümmer- und Fäulnisboden neuen Staat bilden soll und den Weg der Freiheit immer nur schrittweise erzwingt. Politische Tat ist diejenige Tat, die die deutsche Nation auf dem Wege zur Freiheit vorwärts bringt.“516
Dem entspricht, dass Moeller in einem an Hans Grimm gerichteten Brief den nationalrevolutionären Umsturz als ein längerfristiges Projekt schilderte, dem gegenüber Hitlers Putschversuch als ein ebenso überstürztes wie eruptives Vorspiel erschien: „Wir müssen uns für Deutschland auf einen langen Zeitraum einrichten, in dem in dem Grade, wie die Dinge reif werden, auch die Nation politisch reif werden wird. Und an jedem dieser Fälle, ob es der Kapp-Putsch war, oder der Münchner Fall, der sicher nicht der letzte dieser Art gewesen ist, – an jedem dieser Fälle müssen wir ler510 511 512 513 514 515 516
Ebd. Moeller van den Bruck (anonym), Kritik der Presse, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 45, 11.12.1923. Ebd. Rudolf Pechel, Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich 1947, S. 279. Eduard Stadtler, Nationalsozialismus, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 44, 25.12.1922. Moeller van den Bruck (anonym), Trommler der Nation, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 14, 07.04.1924. Ebd.
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nen.“517 Dass Moellers persönliches Urteil bei aller Distanz zu diesem frühen Zeitpunkt wesentlich von Hitlers politischem Misserfolg bestimmt wurde, verdeutlicht zuletzt ein Brief an Paul Ernst, in dem es unter anderem heißt: „Wir haben zu den münchner Vorgängen nur eine politische Stellung genommen und möchten die geistigen und sittlichen und menschlichen Dinge [...] mehr ihrer Auswirkung überlassen. Wir sehen hier, dass die gute Natur namentlich die Jugend so durchaus richtig geht, dass sie von selbst von einem voreiligen Urteil zu einem zureichenden über Hitler und Ludendorff hin findet. Anderseits ist mit den beiden Männern zu viel Schmerzliches gerade für die Jugend verbunden, so dass wir ohne Not nicht daran rühren wollen.“518
Diese Stellungnahmen zum Nationalsozialismus haben ihre Entsprechung auch in einem ambivalenten Verhältnis zum Italofaschismus, wie es unter anderem in einem im Oktober 1922 im Gewissen erschienenen Beitrag zum Ausdruck kam. Unter dem Titel Italia docet (dt. Italien lehrt) empfahl Moeller der deutschen Jugend, den Faschismus als Teil der durch Europa gehenden „konservativen Gegenbewegung“519 zu sehen. Die italienische Jugend habe sich in Marsch gesetzt, sei nach Rom geeilt und habe vom König eine „Änderung des Staatsgeistes“520 erzwungen, der sich bis dahin schwächlich und verächtlich präsentiert habe. Italien sei mit der Einigungsbewegung des Risorgimento schon einmal, so Moeller, mit gutem Beispiel vorangegangen. „Sollte das Beispiel, das Italien heute gibt, abermals irgendwie für Deutschland mitgelten[?]“521 Acht Monate später wollte Moeller von dieser Vorreiterrolle Italiens nichts mehr wissen. Er lehnte es ab, für den deutschen Nationalismus Karl Radeks Wort vom „deutschen Faschismus“ zu übernehmen. Faschismus sei durchaus eine Sache der Italiener. Sie besage, „[...] daß dieses Volk, das sich durch Jahrhunderte vernachlässigt hat und verwahrlost gewesen ist [...], heute durch eine Schule der Zucht und der staatlichen Ordnung und verwaltungsmäßigen Zusammenfassung geht, wie Deutschland sie durch das Preußentum als Schulung längst erfuhr“.522 Eben deshalb sei der Faschismus, was der deutsche Nationalismus keinesfalls werden dürfe, antirevolutionär. Außerdem habe er, wie Moeller in Das dritte Reich ausführte, „das Ideal der Irredenta in der Anwendung auf andere Nationalitäten [die Deutschen in Südtirol] verraten“.523.Somit war, was sich auf den ersten Blick wie eine Parteinahme für die faschistische Bewegung gegenüber dem faschistischen Staat ausnimmt, letztlich nichts dergleichen. Vom Italofaschismus wusste Moeller nichts Genaueres zu berichten. Er übersah beispielsweise den undoktrinären, lokalen, gewalttätigen und bandenmäßigen Charakter der Bewegung und präsentierte seinen deutschen Lesern 517 518 519 520 521 522 523
Moeller van den Bruck an Hans Grimm (10.03.1924), in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck an Paul Ernst (14.5.1924), in: NL Paul Ernst, DLA Marbach a. N. Moeller van den Bruck (anonym), Italia docet, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 37, Berlin, 06.11.1922. Ebd. Ebd. Moeller van den Bruck, Radek noch ein Mal. Die „Arbeiter und Bauernregierung“. Der dritte Standpunkt, in: Gewissen, 5. Jg., Nr. 28, 16.07.1923. Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 185.
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stattdessen eine Fortsetzung der nationaldemokratischen Einigungsbewegung des Novecento. Das kam seinen Interessen insofern entgegen, als sich an der von ihm interpretierten jüngeren italienischen Geschichte die Vorzüge nationaler Integration eindrucksvoll vor Augen führen ließen. Moeller vertrat die Überzeugung, dass „das italienische Volk [...] mit dem italienischen Nationalismus die besten Erfahrungen gemacht“ habe: „Er hielt, was er versprach. Also vertraut ihm das Volk. Es vertraut auch dem Fascismus“524, dessen Ideen inzwischen auch die Massen ergriffen hätten, und zwar so nachhaltig, dass selbst die Arbeiterschaft mitgerissen worden sei. „Und vielleicht“, überlegte Moeller, „war der entscheidende Tag, an dem der Fascismus seine Sache gewann, derjenige, an dem das roteste Proletariat Italiens, dasjenige der Romagna, zu seiner Fahne übertrat.“525 Die ist keine Annäherung an den Faschismus: Moeller deutete den Faschismus als eine neue, zeitgemäße Erscheinungsform des Nationalismus, genauer gesagt erklärte er ihn zum Teil einer „konservativen Gegenbewegung“526, als deren Offenbarungsmedium er sich verstand. Seine spätere Kritik richtete sich zwar gegen einen spezifischen Zug dieses neuen Nationalismus, nämlich die etatistische Komponente, aber dies wiederum (nur) aus nationalistischen, nämlich deutsch-nationalen Motiven, setzte Mussolini doch gegenüber der deutschen Minderheit in Südtirol die Politik seiner Amtsvorgänger fort. Obgleich sich also eine vermutlich unüberbrückbare Distanz sowohl zum Italofaschismus als auch zum Nationalsozialismus ausmachen lässt, bleibt letztlich der Befund, dass Moeller die Nationalsozialisten als tatkräftigen Bündnispartner im Kampf gegen Weimar und Versailles allemal akzeptiert hätte. Da Moeller sich freilich geweigert hätte, seinen geistigen Führungsanspruch aufzugeben, war, wie es die Rezeption seiner Schriften verdeutlicht, der Konflikt mit der sich konsolidierenden Bewegung vorprogrammiert.
524 525 526
Moeller van den Bruck (anonym), Italia docet, in: Gewissen, 4. Jg., Nr. 37, 06.11.1922. Ebd. Ebd.
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7.8. Krise des „Rings“, Krankheit, Tod War Das dritte Reich Moellers letzter großer Versuch, den Führungsanspruch der Jungkonservativen zu behaupten, so zeigte Anfang 1924 „die nationale Bewegung“ aus Sicht des Gewissens bereits „jene typischen Zersetzungserscheinungen, wie sie sonst nur die parlamentarische Parteiorganisation mit sich bringt“.527 Moeller, der im Mai 1923 das Ausscheiden Rudolf Pechels (Deutsche Rundschau) und des Schriftstellers Wilhelm von Kries noch als notwendigen Befreiungsakt feierte528, musste am Ende des Krisenjahres feststellen, dass die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit nicht mehr ausreichte, um die innere Geschlossenheit des inzwischen 1000 Mitglieder starken Klubs529 zu gewährleisten. Symptomatisch für die infolge einer großzügigen Aufnahmepraxis fortschreitende Desintegration der Gemeinschaft war das Verhalten der beiden konkurrierenden Führungspersönlichkeiten Eduard Stadtler und Heinrich von Gleichen. In den Jahren bis 1923 hatte Moeller als Mentor des exklusiven Klubs für die Zusammenarbeit des elitär-konservativen von Gleichen mit dem radikalen, der Arbeiterschaft nahestehenden Stadtler gesorgt. Im Herbst 1923 spitzte sich der Konflikt dann jedoch bedenklich zu.530 Gleichen nutzte Stadtlers jahrelange Vernachlässigung der Redaktionsarbeit sowie seine taktischen Missgriffe insbesondere dem ostpreußischen Großgrundbesitz gegenüber, um von ihm den Verzicht auf die nominelle Herausgeberschaft des Gewissens zu fordern. In einem Briefentwurf vom 12. Dezember 1923 schrieb Gleichen an Stadtler: „Sie wissen, daß schon lange Einwendungen gerade aus dem engeren Kreise der Mitarbeiter gegen die Bezeichnung Ihrer Person als Herausgeber geltend gemacht worden sind und dass wir es nur dabei beliessen, um ihre Position nach aussen nicht zu mindern. Nachdem Sie aber selbst durch ihre Oppositionsstellung in Ostpreussen sich aus der Reihe unserer Freunde herausgestellt und auch hier in Berlin nicht den Weg zur Zusammenarbeit zurückgefunden haben, können wir den Zeitpunkt ihres Ausscheidens als Herausgeber nicht län527 528
529 530
Anonym (zeigt nicht die für Moeller typische Diktion): Die Besinnung, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 17, 28.04.1924. Entsprechend: „[...] gestern ist im Klub eine schwere Krise ausgetragen, bzw. beigelegt worden. [...] ‚Wir‘, d.h. die Gründer, die eigentliche Leitung mit Gleichen auf der einen Seite. Und die ‚Opposition‘, die Gruppe Kries, auf der anderen Seite. Die Sache gedieh schließlich zu einer Pistolenforderung. Nun, damit hat jetzt ein Ehrengericht aufgeräumt. Wir haben anderes zu tun. Wenn geschossen werden soll, dann findet sich am Rhein reichlich Gelegenheit. Im Übrigen hat die Opposition den Vorsitz, den sie bis dahin mit Gleichen teilte, niedergelegt und scheidet künftig aus. Wir werden endlich freie Hand und vor allem freien Rücken haben. Dieser ständigen Behinderung durch Besserwisser und gleichzeitig Nichtstuer im eigenen Hause mußte einmal ein Ende gemacht werden“ (Moeller van den Bruck an Hans Grimm (05.05.1923), in: NL Hans Grimm, DLA Marbarch a. N.). Vgl. Joachim Petzold, Juniklub, in: Fricke, Dieter u.a. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte, Bd. 3, Köln 1985, S. 156. Vgl. auch Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau“. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918–1933), Bremen 1971, S. 40 f.
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ger hinausschieben [...]. Wir werden deshalb zum 1. Januar das GEWISSEN in der bezeichneten veränderten Form erscheinen lassen, wobei wir es für zweckmäßig halten, keinerlei Begründung der Öffentlichkeit mitzuteilen.“531
Seine Position in der Redaktion konnte Stadtler daraufhin nur mit Mühe verteidigen. Erst im Herbst 1925 verzichtete er offiziell auf die Herausgeberschaft. Zur Begründung seines Rücktritts gab er in der letzten unter seinem Namen erschienenen Nummer des Gewissens politische Meinungsverschiedenheiten insbesondere mit Gleichen an, die erst nach dem Ausscheiden Moellers aus der Redaktion zutage getreten seien: „Solange Moeller van den Bruck der geistige Mittelpunkt der Mitarbeiter war und selbst die Hauptarbeit an den Veröffentlichungen des ‚Gewissen‘ leistete, ergaben sich für mich aus meiner Herausgeberschaft keine sachlichen Schwierigkeiten. Seit der Erkrankung des inzwischen Hingeschiedenen ist immer mehr zu Tage getreten, daß ein Teil der Mitarbeiter, die sich nunmehr um Herrn von Gleichen sammelten, in der politischen Richtung unsicher wurden und teilweise in Gegensatz zu mir gerieten.“532
Beschleunigt wurde das Ende des Juni-Klubs von der mit dem Jahreswechsel 1923/24 einsetzenden politischen Entspannung, für die die Umorientierung maßgeblicher rechtsoppositioneller Kräfte wie der DNVP – die sich zu diesem Zeitpunkt mit der Republik zu arrangieren begann533 – nur ein Beispiel ist. In dieser Situation markierte Moellers Suizid (30.05.1925) einen Einschnitt in der Geschichte der Ring-Bewegung. Als charismatische Figur fand er keinen Nachfolger, und die von ihm ausgefüllte Rolle des Propheten blieb vakant. Sein Suizid fällt mit dem Scheitern des Juni-Klubs zusammen, dessen Konzept er maßgeblich bestimmt hatte. Von allen Beteiligten hatte sich Moeller zweifellos am intensivsten mit dem Klub identifiziert. Inwieweit ihm selbst bewusst war, dass der Misserfolg der Gruppierung nicht allein auf die politischen Rahmenbedingungen der mittleren Jahre der Weimarer Republik zurückzuführen war, kann nicht geklärt werden. Fest steht jedoch, dass, auch wenn die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik den entscheidenden Anstoß zur Auflösung des Juni-Klubs gegeben haben sollte, die den Erwartungen der Gründerriege bereits Jahre zuvor zuwiderlaufende Gruppendynamik und eine unklare strategische Orientierung genügend Sprengstoff für das Zerbrechen der „Gemeinschaft“ akkumuliert hatten. Die inneren Gegensätze spiegelten sich deutlich in einem Protokoll des Juni-Klubs vom April 1924 wider, das durch von Gleichen an alle Mitglieder geschickt worden war. Dort heißt es: „In der Aussprache wurde festgelegt, daß die Mitgliederzahl des Klubs zu groß geworden ist. Dadurch verlor der Kreis an Geschlossenheit und inneren Zusammenhalt. Viele Mitglieder wurden nur noch in Listen geführt, andere gerieten in Gegensatz zu der taktischen Haltung des Vorstandes. Die Gegensätze liegen vor allem in der verschiedenen Beurteilung der Aufgaben einer nationalen Opposition. So bildeten sich im Lauf der Zeit Gruppen in531 532 533
Heinrich von Gleichen an Eduard Stadtler (12.12.1923), in: Akten des Politischen Kollegs, R118/35, Bl. 105, Bundesarchiv Koblenz. Eduard Stadtler, Erklärung, in: Gewissen, 7. Jg., Nr. 49, 07.12.1925. Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, S. 244–284.
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nerhalb des Klubs heraus, für die der gemeinsame Rahmen zu eng geworden war. Es soll versucht werden, einen neuen neutralen Rahmen auf gesellschaftlicher Grundlage mit einem neuen Namen zu schaffen.“534
Trotz verschiedener Widerstände gründete Gleichen zusammen mit Walther Schotte (Herausgeber der Preußischen Jahrbücher) im Dezember 1924 einen „neutralen Rahmen“ für die jungkonservative Bewegung, den von dem jungen Adligen Hans Bodo Graf von Alvensleben-Neugattersleben geleiteten Deutschen Herrenklub. Bereits erkrankt, lehnte Moeller es ab, dieser dezidiert elitär-konservativen Nachfolgeorganisation des Juni-Klubs beizutreten und überwarf sich mit den meisten seiner früheren Mitarbeiter. Nachdem er jahrelang der führende Kopf einer einflussreichen Gruppierung gewesen war, wurde er nun wieder zum einsamen Außenseiter, dem neben Max Hildebert Boehm nur noch die Schriftsteller Hans Schwarz und Hans Grimm die Treue hielten. Der akuten Erkrankung Moellers war eine drastische Verschlechterung seiner Lebensumstände vorausgegangen. Auf Drängen Hugenbergs waren er und Max Hildebert Boehm durch Martin Spahn aus dem Politischen Kolleg entlassen worden.535 Für Moeller, der niemals besonders vermögend war, bedeutete dies den Verlust seiner Lebensgrundlage. Zudem hatte Moeller sich geistig so engagiert, dass ihm der Fehlschlag seiner politischen Hoffnungen als persönliches Scheitern erschien. Die Kombination dieser Umstände dürfte die Krise hervorgerufen haben, die zu Moellers Nervenzusammenbruch im Herbst 1924 führte. Er litt an Zwangsneurosen und wurde in das Sanatorium Weißensee bei Berlin eingeliefert. Ein Brief an Hans Grimm zeugt von einer zerrütteten Gesundheit: „Lieber Herr Grimm [...] Ich hörte, daß Sie sich immer wieder nach meinen Ergehen erkundigt haben. Und danke Ihnen von Herzen. Gerne würde ich Gutes von mir melden. Aber mein Zustand, der auf eine schwere Erschöpfung zurückgeht, ist nachwievor ungewiss und rätselhaft. Und Wochen einer langen Qual liegen hinter mir.“536
Gleichwohl hatte er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgegeben. Noch einen Monat vor seinem Tod wandte sich er in einem Brief an Hans Schwarz.537 Darin gibt 534 535 536 537
Rundschreiben: An die Mitglieder des Juni-Klubs vom 30.04.1924, in: GStA Berlin, Rep. 303, Nr. 174. Vgl. Akten des Politischen Kollegs R118/35 Bl. 91, in: BA Koblenz. Moeller van den Bruck an Hans Grimm, Ostern 1925, in: NL Hans Grimm, DLA Marbach a. N. Sein Anfang lautet: „Lieber Herr Schwarz, ich danke Ihnen für das freundschaftliche Lebenszeichen, das Sie mir zu meinem Geburtstage sandten. Leider stehe ich unter Besuchsverbot, zumal während des hypnotischen Versuches, der jetzt mit mir angestellt wird. Sonst würde ich mich sehr freuen, Sie hier wieder zu sehen. So muß ich mich damit begnügen, Ihnen von mir zu erzählen. Ich arbeite nicht, aber ich lese. Dante. Die Edda. Neuerdings Äschylos. Und am Rande, doch nicht ohne Leidenschaft, lese ich auch Zeitungen, nehme Teil an der Tagespolitik, und freue mich, daß die Nation in Bewegung ist. Oh ich kann Ihnen versichern, daß es schmerzt, da nicht mehr mittun zu können, nicht endgültig, wie wir hoffen wollen, aber im-
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Moeller eine Deutung seines Lebensweges und seines Selbstverständnisses als politisierender Schriftsteller. Es gebe ein ganz bestimmtes „auslandsdeutsches Erlebnis“, hieß es in dem Schreiben, „in dem Alle übereinstimmen, die vor dem Kriege in der Welt und unter Völkern waren. Und eben dieses Erlebnis blieb in unserem Schrifttum geistig ungewertet.“538 Die Schlusspassagen von Moellers Brief an Hans Schwarz widmen sich weiteren Buchprojekten. Ihnen ist die Bestimmung als Vermächtnis und letzte Rechenschaft anzumerken. Moeller begann mit einem Projekt, in dem er der Nation den fehlenden deutschen „Maßstab“, das heißt die verpflichtende Idealvorstellung einer als Auftrag gegebenen deutschen Nationalkultur vor Augen führen wollte. Er hoffte auf die interne Spannungen auflösende Wirkung seines alten Ideals und setzte dabei auf einen affektiven Zugang: „Es ist schon so: die ‚Werte der Völker‘ müssen geschrieben und sie müssen vor allem von den Deutschen erlebt werden: oder wir bleiben eine Nation ohne Maßstab, ohne Blick und Vergleich, werden uns vielmehr ewig und unbelehrbar in der Innenpolitik herumsühlen, bei der wir uns ja so wohl fühlen.“539 Anschließend wandte er sich der grundlegenden Bedeutung seiner vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten „Stil“-Theorie zu und befasste sich mit dem Plan einer Synthese: „Ob ich dagegen die anderen Bücher, die seit langem geplant sind, noch werde schreiben wollen? Die ‚Grenzen der Stile‘ sind im Grunde schon in der ‚It. Sch.‘ [lies: Italienischen Schönheit] und im ‚Pr. St.‘ [lies: Preußischen Stil] enthalten, und nun noch ein System daraus zu machen, das erscheint mir heute recht überflüssig. Ebenso liegt die ‚Metaphysik der Wirklichkeit‘ eigentlich allem zugrunde, was ich in den letzten Jahrzehnten geschrieben und was ich erlebt habe.“540
Die vom „Erlebnis“ ausgehenden subjektiven Wurzeln von Moellers politischem Engagement und seiner Produktion ließen stattdessen den Plan einer Autobiographie in den Vordergrund treten: „Ja, gerade was ich erlebt habe: und viel eher und immer ernsthafter denke ich denn auch daran, eine Rechenschaft über mein Leben zu geben – über ‚Unser Leben‘, wie Wir es nennen.“541 Dem in seiner Pariser Zeit erworbenen politischen Selbstverständnis verpflichtet, rückte Moeller von lang gehegten Lieblingsprojekten ab und setzte die Werte der Völker, die politisch pointierte Variante seiner „Stil“-Analysen, an die erste Stelle. Die individuelle Motivation der „politischen“ Wende des sich damals im Exil befindenden Ästheten wurde dadurch ebenso deutlich wie das seither beibehaltene, ihm selbst nur quasi-politisch erscheinende Politikverständnis:
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merhin vorläufig. Sie schreiben, daß ich fehle. Ähnliches schreibt Hans Grimm. Er denkt dabei an das ‚Gewissen‘, während Sie mehr an die Probleme meiner Bucharbeit denken werden.“(Moeller van den Bruck an Hans Schwarz, 29.04.1925, in: NL Hans Schwarz (Privatbesitz: Familie Buhbe in Schöppenstedt). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
In der Weimarer Republik
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„Aber zunächst wollen die ‚Werte der Völker‘ geschrieben sein. Ich bin nun einmal an der entscheidenden Wende meines Lebens den Weg nicht des aesthetisierenden und nicht den des philosophierenden Menschen gegangen, sondern damals, vor zwanzig Jahren, den des politischen Menschen – wenn auch im Sinne einer Metapolitik. Und ich bin froh über diesen Weg, denn er hat mich vor Literatentum bewahrt, hat mich der Wirklichkeit nahe gebracht, und ich will ihn in Dankbarkeit zu Ende gehen.“542
Die so hoffnungsvoll begonnene direkte politische Tätigkeit seiner letzten Jahre erschien rückblickend als untergeordnete Episode, die zugunsten einer anderen Kontinuität verschwand. Das war ein vermutlich schmerzhafter Abgesang, der den Schwerpunkt der eigenen Tätigkeit wieder dort verortete, wo er sich schon vor dem Kriege befand, auf dem Feld des politisierenden Ästheten: „Auch die redaktionelle u. s. w. Tätigkeit der letzten Jahre gehörte wohl dazu. Es fällt mir jedenfalls nicht ein, sie nachträglich zu bedauern, aber sie war nicht dauernd meine Sache, und es ist gut, daß ich schließlich gezwungen wurde, ihr ein Ende zu machen.“ 543
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Ebd. Ebd.
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8.1. Die Rezeption bis 1933 Der Brief an Hans Schwarz ist das letzte von Moeller verfasste Schriftstück. In „einem depressiven Zustand, jedoch bei vollem geistigen Bewußtsein“1 setzte Moeller am 30. Mai 1925 im Weißenseer Sanatorium seinem Leben ein Ende. Noch am selben Tag erschienen Nachrufe in zwei großen Berliner Tageszeitungen. Sie zeugen davon, dass man in der Öffentlichkeit die Person Moellers höchst unterschiedlich, aber nur selten klar und deutlich sah. Während der zum publizistischen Einflussbereich des Juni-Klubs gehörende Tag Moeller als „eine der führenden Persönlichkeiten der deutschen geistigen Rechten“ und „weltanschauliche[s] Gewissen“ der „nationalen Opposition“ würdigte2, bemühte sich die liberal-bürgerliche Vossische Zeitung um einen sachlich unterkühlten Tonfall: „Erst fünfzigjährig ist unerwartet Arthur Moeller van den Bruck gestorben. Als Popularisator Houston Stewart Chamberlains ist er vor dem Kriege durch sein bändereiches3 Werk ‚Die Deutschen‘ bekannt geworden. Ein Extrakt seiner Weltanschauung stellt sein Kriegsbuch ‚Der preußische Stil‘ dar. Als Vorkämpfer für das Recht der jungen Völker stand er während der Revolution den Führern der sogenannten nationalen Opposition nahe.“4
„Besonders verdient gemacht“ hatte sich Moeller nach Ansicht der Vossischen Zeitung lediglich als Herausgeber der ersten großen Dostojewskij-Ausgabe.5 Solche distanzierte Stellungnahmen behinderten die Legendenbildung jedoch keineswegs. Im Gegenteil: Zur Position des Sehers und Propheten gehört, dass ihm zumindest zeitweise kein Gehör geschenkt wurde. In Max Hildebert Boehms Grabrede und in dem im Gewissen erschienenen Nachruf von Hans Schwarz wird die geringe öffentliche Wirkung zum Zeichen der Auserwähltheit stilisiert. Nach Darstellung Schwarz’ „[...] fehlten seinem [Moellers] Willen die Menschen, und er fühlte die Vereinsamung wachsen. Es begann eine jener geistigen Tragödien, die so selten sind wie die Menschen, denen sie verhängt werden. Sie hat Goethe gestreift und Hölderlin und Kleist überwältigt.
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Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 20. Anonym, Moeller van den Bruck †, in: Der Tag, 31.05.1925. Auch der Verfasser des Tag-Nachrufes vermag die genaue Anzahl der Bände – er geht von sechs aus – nicht zu benennen. Anonym, Moeller van den Bruck †, in: Die Vossische Zeitung, 31.05.1925. Ebd.
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Es sind die Tragödien der Geister, die gegen eine Zeit gehen, die ihnen aus Unverstand und Erschlaffung die lebendige Gestalt versagt.“6
Ganz in diesem Sinne wurden auch andere Weggefährten Moellers nicht müde, zu betonen, dass „nur eine kleine Trauergemeinde [...] vor sein Grab“7 auf dem (Berlin-) Lichterfelder Friedhof getreten war, obgleich zahlreiche Kondolenzschreiben (unter den Absendern sind drei Reichstagsabgeordnete der DNVP, die Neue Preußische Zeitung, die Deutsche Zeitung, die Schriftstellerin Ina Seidel sowie Ernst Barlach und Alfred Hugenberg) eine rege Anteilnahme bezeugen.8 So scheint diese Klage vielmehr Ausdruck des unter den Jüngern verbreiteten Wunsches zu sein, „dass gleich Heinrich von Kleist [...] auch Moeller van den Bruck eines Tages im Kreise derjenigen in der deutschen Geschichte auferstehen wird, die leidenschaftlich und mit Erbitterung und unter Aufopferung ihres Lebens für die Nation in schwerster Zeit stritten.“9 Dass Moeller recht bald als ein verkannter Prophet galt, zeigt ein Beitrag in den von Gottfried Traub (Vorstandsmitglied der DNVP) herausgegebenen Eisernen Blättern. In diesem folgt auf die Beschreibung des einsamen Begräbnisses eine Vorstellung seines schriftstellerischen Werkes; sichtlich getragen von dem Bemühen, Moeller als einen exklusiven, nur einer kleinen Gemeinde bekannten, visionären Autor vorzustellen: „Seine [Moellers] Schreibweise ist glatt. Aber sie enthält zwischen Punkt und Punkt einen Gedanken; sie zwingt den Leser geradezu zur strengen Sammlung. [...] Das macht es begreiflich, warum seine Wirkung nicht umfänglicher war in jenen Kreisen, die das moderne Deutsch die ‚weiteren‘ nennt, und die doch anscheinend geistig immer enger werden! Moeller van den Bruck war kein Schriftsteller für jene Leute, welche die Tagesgrößen machen und nichts vom Volke wissen, das in Jahren arbeitet und denkt. [...] Er hat nicht bei allen, die den Zusammenhang neuen Werdens mit altem Sein wahren wollen, Eingang und Verständnis gefunden – noch nicht, möchten wir sagen: Das war die große Bitterkeit seines Lebens.“10
Ein von den Massen vergessener, weil wenig aktueller Autor sollte Moeller jedoch für die nächsten fünf Jahre erst einmal bleiben. Die Weimarer Republik hatte sich konsolidiert. Die politische Dauerkrise war offensichtlich überwunden, weshalb die These, dass die westliche Demokratie eine dem deutschen Volk wesensmäßig fremde Staatsform sei, zunehmend an Zuspruch verlor. Erst durch die mit der Weltwirt-
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Hans Schwarz, Moeller van den Bruck, in: Die Mannen. Beilage zum Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, Juni 1923. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 20. Vgl. NL Moeller van den Bruck, SB Berlin 12/13–67. Harald Oldag an Lucy Moeller van den Bruck, 03.06.1925, in: NL Moeller van den Bruck, SB Berlin, 12/49 Bl. 1 f. Heinz Klamroth, Moeller van den Bruck, in: Eiserne Blätter, 7. Jg., Nr. 19, 08.11.1925, S. 343 f.
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schaftskrise einhergehende Destabilisierung der Republik sollte sich dies wieder ändern. Maßgeblichen Anteil an der Anfang der 1930er Jahre einsetzenden mythisierenden Moeller-Renaissance hatte der Schriftsteller Hans Schwarz, dessen Gedichtband Heroisches Vorspiel (1924) Moeller im Gewissen als vorbildlichen Gegenentwurf zur unter Subjektivismusverdacht stehenden Dichtung der Weimarer Republik gelobt hatte: „Der Dichter des ‚heroischen Vorspiels‘ richtet Gestalten auf, die der erhabene Ausdruck unseres gemeinen Wesens gewesen sind.“11 Moeller hatte den vom Preußischen Stil und Das Recht der jungen Völker tief beeindruckten Schwarz Anfang der 1920er Jahre kennengelernt und setzte sich fortan für ihn ein. So unterbreitete er Martin Spahn noch im Herbst 1924 den Vorschlag, Schwarz die Leitung der Zweigstelle für „metapolitische Grundfragen“ im Politischen Kolleg zu übertragen.12 Diesen Posten gab Schwarz allerdings zwei Jahre später wieder auf, um sich als Herausgeber der politischen Halbmonatsschrift Der Nahe Osten (1928–36) für das „Erbe Moeller van den Brucks“ wie für eine auf die „Wiedergewinnung der verlorenen Provinzen“ gerichtete Ostpolitik einzusetzen.13 Die Zeitschrift, zu deren Mitarbeiterstab Admiral von Trotha als Mitherausgeber sowie Lucy Moeller van den Bruck, Harald Lauen und andere gehörten, und der gleichnamige, mit der Veröffentlichung der Schriften Moellers befasste Verlag waren in der Motzstraße 22 in Berlin, dem ehemaligen Treffpunkt des Juni-Klubs, untergebracht. Moeller hatte zwar Heinrich von Gleichen als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Da sich Gleichen jedoch nach Schwarz’ Zeugnis dem moellerschen Werk gegenüber sehr distanziert verhielt, machte die Witwe Lucy Moeller van den Bruck, die der Verstorbene völlig mittellos zurückgelassen hatte, Schwarz zum Verwalter des Nachlasses.14 Dieser hatte sich für das Amt schon deshalb qualifiziert, weil er die Treue zum Meister bereits in seinem Nachruf zum Zeichen sowohl der geistigen Integrität als auch der Auserwähltheit erhoben hatte. Schwarz zufolge sollte der Tod Moellers zum „Erlebnis eines Kreises werden, dem Führung persönliches Gesetz ist“.15 Fünf Jahre später beklagte er den „gutbürgerlich[en]“ Abfall einstiger Mitstreiter: „War eine Natur wie Moeller dazu geschaffen, Wege zu weisen und Gebote zu geben, so haben sich seine Mitkämpfer inzwischen häufig genug von den Umständen, von der Anpassung, von einem politischen Naturalismus gebieten lassen.“16 Zugleich findet sich bei Schwarz bestätigt, dass sich mit der politisch-ökonomischen Krise von 1929 die kulturellen wie die politischen Parameter zugunsten Moellers verschoben haben. In die11 12 13 14 15 16
Moeller van den Bruck, Das heroische Vorspiel, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 4, 28.01.1924. Martin Spahn, Bericht über das Politische Kolleg, seine Art und Tätigkeit in den Jahren 1920/25, in: Mitteilungen des Politischen Kollegs, Nr. 2, Dezember 1925, S. 14–20, hier 16. Vgl. Anonym, Der Nahe Osten, 1. Jg., Heft 1, 01.01.1928, S. 0. Vgl. Oswald von Nostitz, Ein Preuße im Umbruch der Zeit. Hans Schwarz 1890–1967, Hamburg 1980, S. 292. Hans Schwarz, Moeller van den Bruck, in: Die Mannen. Beilage zum Gewissen, 2. Jg., Nr. 1, Juni 1923. Hans Schwarz, Fünf Jahre nach dem Tode Moeller van den Brucks, in: Der Nahe Osten, 3. Jg., Heft 11, 01.06.1930, S. 161–164, hier 162.
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sem Sinne fügte er hinzu, dass Moellers Deutungsmuster, „sein Stil, seine Formulierungen, seine Kritik am Zeitgeist [...] Eigentum der Jugend geworden“ seien, „die unproblematischer als ein Teil der Kriegsgeneration schon deutlich und denkend sich meldet“.17 Ausdrücklich betonte Schwarz, dass „manche literarischen Figuren wie etwa [der Tat-Herausgeber Hans] Zehrer [...] bis in ihren Stil hinein ohne Moellers Vorarbeit gar nicht zu denken“18 seien: Kein Zweifel also, dass im Angesicht der staatspolitischen und wirtschaftlichen Krise der Führungsanspruch von einem Schüler Moellers erneuert wurde. Überdies war man beim Nahen Osten schon lange vor der Machtübernahme durch die NSDAP der Überzeugung, dass „eine junge Rechte [...] wie ein deutscher Faschismus nur über Möller van den Bruck zu entwickeln“19 sei. In diesem Sinne wurde auch das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 14.09.1930 von Schwarz zuallererst als Sieg der Ideen Moellers gefeiert: „Die Wahlen haben Moeller wieder zur politischen Diskussion gestellt.“20 Dabei ist es nicht allein der unerhörte Stimmengewinn der NSDAP – von Schwarz als „Volksentscheid gegen Demokratie und Parlamentarismus“21 gewertet –, sondern auch und vor allem die Zugkraft der Parole vom „Dritten Reich“, die Moeller nunmehr als „einzige[n] Realpolitiker seiner Generation“22 und wegweisenden Theoretiker eines in absehbarer Zeit realisierbaren „Dritten Reiches“ erscheinen ließ: „[...] jeder, der sich am Wachsen des ‚Dritten Reiches‘ beteiligen will, muß sich mit Moeller auseinandersetzen.“23 Neben Schwarz war es vor allem Lucy Moeller van den Bruck, die ihren verstorbenen Ehemann zu einem politischen Visionär und maßgeblichen Vordenker nicht nur einer zu einem „Dritten Reich“ führenden „deutschen Revolution“, sondern konkret auch des Nationalsozialismus erheben wollte. Für sie war der Nationalsozialismus die „einzige[...] Bewegung, der es gelungen ist, im Sinne Moellers und des dritten Reiches Deutschland revolutionär voranzutreiben [...]. Er allein trägt heute zu Recht das Banner und die Parole des ‚Dritten Reiches‘.“24 Zudem hatte sie in einem Interview erklärt: „‚Wir haben den Krieg verloren, wir müssen die Revolution gewinnen!‘, das war von nun an sein [Moellers] Losungswort. Damit leitete er die große Propaganda zum Dritten Reich ein. Diese Propaganda hat dann später die nationalsozialistische Bewegung aufgenommen und sie groß gemacht.“ Und auf Nachfrage: „B. [Hans Georg Bodenstein]: ‚Damit hat also Moeller van den Bruck die Idee des Nationalsozia-
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Ebd., S. 162 f. Ebd. Anonym, Randbemerkungen zum nahen Osten, in: Der Nahe Osten, 1. Jg., Heft 23, 01.12.1928, S. 0. Hans Schwarz, Die Moellerlinie der deutschen Politik, in: Der Nahe Osten, 3. Jg., Heft 19, 01.10.1930, S. 297–302, hier 297. Ebd. Ebd. Ebd. Lucy Moeller van den Bruck, Moeller van den Brucks drittes Reich, in: Der Nahe Osten, 4. Jg., Heft 1, 01.01.1931, S. 1.
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lismus geistig schon vorbereitet?‘ Frau M. v. d. B.: ‚Ja, er stürzte sich mit Erbitterung in die Erziehung des Volkes.‘“25 Die Krise der Weimarer Republik wie der Erfolg der NSDAP schienen den politischen Denker somit postum zu bestätigen. Jedoch war es nicht unbedingt Moeller, von dem die Nationalsozialisten den Begriff „Drittes Reich“ übernommen hatten. Schon 1919 hatte Dietrich Eckart (1868–1923) diesen Begriff im eindeutigen Kontext politisch-ideologischer Schriften gebraucht. In der von ihm selbst seit 1918 herausgegebenen Zeitschrift Auf gut deutsch hatte Eckart den Aufsatz Luther und der Zins publiziert. In diesem hieß es in Bezug auf die Abschaffung der Geldwirtschaft: „Nirgends auf Erden ein anderes Volk, das fähiger, gründlicher wäre, das dritte Reich zu erfüllen, denn unseres!“26 Der als Dramatiker mäßig erfolgreiche Eckart war, wiewohl er niemals Parteimitglied war, doch Gründungsmitglied der Bewegung. Anfang 1919 gehörte er der ominösen Thule-Gesellschaft an, und seine Beziehungen reichten von der Reichswehr über das Münchener Präsidium bis zu den Freicorps. So war es auch kein Zufall, dass Alfred Rosenberg, kaum in München angekommen, von der Tänzerin Edith von Schrenck auf Dietrich Eckart und dessen völkische Kampfschrift aufmerksam gemacht worden war.27 1919 war Eckart das erste Mal mit der Deutschen Arbeiterpartei, der Vorgängerorganisation der NSDAP, in Berührung gekommen. Im Dezember des gleichen Jahres lernte er wahrscheinlich den damals noch unbekannten Adolf Hitler kennen, wobei Altersunterschied und Bildungsdifferenz zunächst dazu beitrugen, dass Hitler in Eckart einen väterlichen Freund sah.28 Eckart war es auch, der Hitler dazu anregte, den Völkischen Beobachter für die NSDAP zu erwerben. Er half anschließend bei der Finanzierung der Zeitung, deren Hauptschriftleiter er (als Vorgänger Rosenbergs) wurde.29 Für den Einfluss Eckarts auf die Ausbildung der späteren NS-Ideologie spricht dabei nicht zuletzt der Umstand, dass Alfred Rosenberg der engste Mitarbeiter bei Auf gut deutsch war.30 Dass Moeller gleichwohl lange Zeit als Urheber ihrer Kampflosung galt, ist vermutlich das Verdienst Otto Strassers. Dieser hatte Moeller Anfang 1920 während seines Studiums in Berlin noch persönlich kennengelernt und war von diesem zur Mitarbeit am Gewissen eingeladen worden.31 Durch Strasser wiederum mag Goebbels
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Hans Georg Bodenstein, Erbe und Auftrag. Interview mit Lucy Moeller van den Bruck, in: Der Nahe Osten, 4. Jg., Heft 20, 15.10.1932, S. 429–436, hier 434. Dietrich Eckart, Luther und der Zins, in: Auf gut Deutsch, 1. Jg., Nr. 19/20, Juli 1919, S. 296. Vgl. Alfred Rosenberg (Hg.), Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis, München 1928, S. 45. Vgl. Margarete Plewnia, Auf dem Weg zu Hitler. Der „völkische“ Publizist Dietrich Eckart, Bremen 1970, S. 67. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. hierzu auch: Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998, S. 57 ff. Vgl. Otto Strasser, Exil, München 1958, S. 34 sowie Otto Strasser, Bilder aus Halle, in: Gewissen, 2. Jg., Nr. 42, 27.10 1920. Zu Otto Strasser vgl.: Patrick Moreau, Nationalsozialismus von links. Die ‚Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten‘ und die ‚Schwarze Front‘ Otto Strassers 1930–1935, Stuttgart 1985.
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auf Moeller aufmerksam geworden sein, denn schon knapp drei Wochen nach der ersten Begegnung mit Strasser vermerkt er in seinem Tagebuch: „Ich habe Zeit gefunden, wieder mal in Ruhe ein Buch zu lesen: Moeller van den Bruck, ‚das dritte Reich‘. Der Frühverstorbene schreibt wie in prophetischer Schau. So klar und so ruhig, und dabei doch von inneren Leidenschaften ergriffen, schreibt er all das, was wir Jungen längst im Gefühl und Instinkt wußten. Warum zog Moeller van den Bruck, warum zieht der Ring und das Gewissen nicht die letzte Konsequenz und proklamieren mit uns den Kampf! Geistige Erlösung? Nein Kampf bis aufs Messer. Nur nicht das Vitalste im Leben, Politik, Geschichte vergeistigen wollen. [Wir] haben die politische Ästhetik knüppelsatt, bevor wir sie kennen. Das Buch gibt manchen Aufschluß. Ich werde viel bei der stürmischen Lektüre lernen.“32
Und am 06.01.1926 heißt es: „Ich konnte nicht schlafen. Habe bis 4 Uhr wach gelegen und in v. d. Brucks ‚drittem Reich‘ gelesen.“ Ungefähr zu diesem Zeitpunkt scheint Goebbels seine Lektüre beendet und dabei die propagandistische Kraft der mit mythischen Assoziationen aufgeladenen Formel „Drittes Reich“ erkannt zu haben. Er machte sie sich sofort zu eigen, denn schon ein halbes Jahr später (06.07.1926) bezog er sie wie selbstverständlich auf die kommende Herrschaft der Nationalsozialisten: „Umzug! Mit Straßer im Wagen entgegen. Unter endlosem Jubel der dichtgestauten Menschenmassen. Der Zug kommt. Mit an der Spitze die ganze Führerschaft, Hitler als erster marschiert vorne. Durch ganz Weimar. Auf dem Marktplatz, 15 000 S.A. marschieren an uns vorbei. Das dritte Reich zieht auf. Die Brust geschwellt vor Glauben. Deutschland erwacht! [...] 15 000 Menschen, ein Fahnenwald. Treuschwur an das dritte Reich.“33
Vier Jahre später war die (abgesehen von Strassers Teilnahme) Gestaltwerdung dieser Vision für Moellers Erben zugleich das Signal, mit der Neuausgabe seiner inzwischen vergriffenen Schriften34 zu beginnen. Nachdem Schwarz die Leser des Nahen Ostens regelmäßig mit Auszügen aus den Schriften Moellers bekanntgemacht hatte35 und bei Cotta in Stuttgart eine von Schwarz deutlich gekürzte Neuausgabe der Italienischen Schönheit (1930, 512 S.!) herausgekommen war, erschien 1931 eine Neuauflage des Dritten Reiches in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg. Innerhalb eines Jahres
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Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (hg. von Elke Fröhlich), Teil 1, Aufzeichnungen 1924–1941, Bd. 1: 27.06.1924–31.12.1930, München u. a. 1987, S. 148 f. Ebd., S. 153. u. S. 191. Vgl. Hans Schwarz, Fünf Jahre nach dem Tode Moeller van den Brucks, in: Der Nahe Osten, 3. Jg., Heft 11, 01.06.1930, S. 161–164, hier 163. Unter Angabe Moellers als Verfasser erschienen im ersten Jahr folgende Beiträge: Der Standpunkt, 1. Jg., Heft 1, 01.01.1928, S. 1–3; Der deutsche Protest, 1. Jg., Heft 8, 15.04.1928, S. 93–96; Ethik des Imperialismus, 1. Jg., Heft 11, 01.06.1928, S. 134–136; Sozialistische Außenpolitik, 1. Jg., Heft 15, 01.08.1928, S. 183–185; Imperialismus und Irredenta, 1. Jg., Heft 17, 01.09.1928, S. 209–211; Das Recht der jungen Völker, 1. Jg., Heft 19, 01.10.1928, S. 233–236. Der Schwerpunkt der Auswahl lag auf Passagen, die Moeller als Referenzautor für die von der Zeitschrift verfolgte Ostpolitik erscheinen ließen.
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bereits 25 000 Mal verkauft,36 fand dieses Buch nun die weite Resonanz, die Moeller zu Lebzeiten versagt geblieben war. Es folgten – bei dem Breslauer Verlag Wilhelm Gottlieb Korn – Der preußische Stil (1931) sowie mehrere Sammelbände mit Einleitungen von Schwarz, die politische Aufsätze Moellers unter Leitthemen zusammenfassten: Das Recht der jungen Völker (1932)37, das bearbeitete Auszüge aus dem ursprünglichen Text des Zeitungsaufsatzes sowie mehrere Essays enthielt, ferner Rechenschaft über Rußland (1933)38, der Band Sozialismus und Außenpolitik (1933)39 und Der politische Mensch (1933)40. Eine vom philologischen Standpunkt aus äußerst problematische Auswahl aus dem Frühwerk Moellers enthält Das ewige Reich (3 Bände, 1933–35). Alle Neuausgaben und Sammlungen verstreuter Aufsätze scheinen ein breites Publikum gefunden zu haben. Laut einer Verlagsabrechnung wurden im Dezember 1933 473 Exemplare von Das ewige Reich, 640 Exemplare von Der politische Mensch und 509 Exemplare von Sozialismus und Außenpolitik abgesetzt.41 Von Der preußische Stil wurden innerhalb eines Jahres drei Auflagen gedruckt. Bereits 1931 erschien mit der fünften Auflage das 30.–34. Tausend des Buches.42 Dieser Erfolg wie auch das Bild, das man Anfang der 1930er Jahre von Moeller hatte, spiegelt sich in einer Vielzahl von Rezensionen, vor allem zu Das Dritte Reich, aber auch zum Preußischen Stil, wider. Dabei verdeutlichen insbesondere einzelne Besprechungen des Letzteren, in denen Moellers „Kunstverständnis“ hervorgehoben wurde,43 dass man ihn damals nicht allein als Propheten des Dritten Reiches und Vordenker des Nationalsozialismus sah. In den Zeiten der politischen Krise überwogen jedoch vor allem im nationalkonservativen bzw. völkischen Lager die Rezensionen, die das Buch als ein wesentlich „politisches Werk“44 erkannten: Die politische
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Vgl. Verlagsanzeige der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg, in: Moeller van den Bruck, Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus [Auszug aus: Das dritte Reich], Oldenburg 1931. Das sind die unter 9.1.2 mit RdjV gekennzeichneten Beiträge. Enthält eine Auswahl aus den Einführungen zu den Bänden der Dostojewskij-Ausgabe, die unter 9.1.2 mit RüR gekennzeichneten Beiträge sowie einige nicht publizierte Beiträge und einen sonst nicht nachweisbaren Beitrag zu einer Festausgabe zum 25jährigen Jubiläum des Verlages Piper: Die italienische Schönheit – der preußische Stil – Dostojewski. Enthält die unter 9.1.2. mit SuA gekennzeichneten Beiträge. Enthält neben den unter 9.1.2. mit DpM gekennzeichneten Beiträgen zwei Aufsätze, die an den angegebenen Orten nicht auffindbar und auch sonst nicht nachweisbar sind. Revolution, Persönlichkeit, Drittes Reich (laut Schwarz in: Gewissen vom 30.05.1920) und Einkehr bei Friedrich List (laut Schwarz in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 403/1919 Morgenausgabe). Vgl. Wilh. Gottl. Korn, Verlagsbuchhandlung: Honoraraufstellung für Frau Moeller van den Bruck für den Monat Dezember 1933, in: NL Moeller van den Bruck, SB Berlin, 12/26/Bl. 1. Vgl. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil. Mit einem Vorwort von Hans Schwarz, 5. Aufl., Breslau 1931, S. 3. Rudolf Huch, Moeller van den Bruck: Der preußische Stil, in: Die neue Literatur, 33. Jg., Heft 6, Juni 1932, S. 278. Anonym, Moeller van den Bruck: Der preußische Stil, in: Hammer. Blätter für deutschen Sinn, 30. Jg., Nr. 707/708, Dezember 1931, S. 333.
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„Unordnung“ machte die Leser offenbar empfänglich für die Heilsvorstellung von einer zeitlose Stabilität verheißenden preußischen Stileinheit: „Preußischer Stil ist keinesfalls eine Sache der Vergangenheit. Jahrhunderte haben an ihm geformt in Bauten und Bildern, aber was entstand, war [...] ein Stück deutschen Werdens, eingehend in die Ewigkeit; fortlebend im deutschen Antlitz. Das sah zuerst Moeller van den Bruck, als er sein Buch ‚Der preußische Stil‘ herausgab.“45
Auch die Besprechungen des Dritten Reiches,46 das bald schon als „bedeutendstes Werk“ Moellers angesehen wurde, zeigen, dass die mit der Krise der Republik wachsende Unsicherheit der Nährboden für den späten Ruhm der Schriften Moellers war. Er galt in der bürgerlichen Presse als Verfasser „einer sehr schlüssigen, weitausholenden politischen Ideologie, die er das Dritte Reich nennt“47, und schien also ein politischer Denker, dem in einer Periode wachsender Unübersichtlichkeit verstärkt Gehör geschenkt werden müsse. Entsprechend hieß es in der Kölnischen Zeitung über Das Dritte Reich: „Dieses Buch gibt eine Orientierung für alle, die konservativ nicht mit reaktionär verwechseln und nach einer Verwurzelung ihrer kulturellen und politischen Gedanken in der Tradition und nach gleichsam ewigen Werten suchen.“48 Noch deutlicher drücken sich die konservative Deutsche Zeitung und Der Reichsbote aus. Hier wurde Moeller als „Prophet des ewigen Deutschtums“ und „Sinndeuter deutscher Geschichte“ gewürdigt.49 Die Rezensenten hoben ausdrücklich auf die antidemokratische Grundaussage des Dritten Reiches ab50 und bescheinigten dem Werk, „die staatspolitischen Maximen des autoritären Staates von morgen“51 zu enthalten. Im rechten Lager hielt man es somit zweifelsfrei für „verdienstvoll“, dass Das Dritte Reich „weitesten Kreisen des Volkes in ungekürzter Fassung zugänglich gemacht“52 wurde. Somit war Moeller Anfang der 1930er Jahre einem breiteren Publikum bekannt und, bedingt durch die Krise der politischen Institutionen, zugänglich. Davon zeugen auch die Besprechungen der Sammlungen politischer Aufsätze in den Periodika des Bildungsbürgertums. So notierte beispielsweise Die neue Literatur:
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Curt Hotzel, Preußischer Stil, in: Deutsche Zeitung (Morgenausgabe), 01.11.1931. Vgl. Helmut von Schweinitz, Bücher die erscheinen werden, in: Der Reichsbote, 15.11.1932. Stuart, Ein „Drittes Reich“, in: Die Literatur/Nr. 49. Beilage zur Kölnischen Zeitung, 06.12.1931. Ebd. Helmut von Schweinitz, Bücher die erscheinen werden, in: Der Reichsbote, 15.11.1932. Exemplarisch heißt es: „Die erzieherische Bedeutung dieses Buches liegt im Aufruf an die deutsche Jugend, anstelle liberalistischer Ideen von vorgestern eine Auseinandersetzung über die brennenden Fragen von Nationalismus und Sozialismus zu beginnen. [...] Es handelt sich hier wirklich um ein schöpferisches Buch, dessen Tragweite mit dem Maße seiner politischen Erfüllung immer wichtiger wird“ (Dr. R. B., Moeller van den Bruck: „Das Dritte Reich“, in: Deutsche Zeitung (Morgenausgabe), 17.03.1931). Helmut von Schweinitz, Bücher die erscheinen werden, in: Der Reichsbote, 15.11.1932. Ebd.
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„Aus dem politischen Nachlaß von Moeller van den Bruck ist der Band ‚Das Recht der jungen Völker‘ herausgegeben, der prophetische, überzeitlich bedeutsame Arbeiten enthält. Ich nenne besonders die großartige Auseinandersetzung mit Spengler, das von Schlageters Schicksal angeregte ‚Gespräch mit Radek‘ über den Nationalbolschewismus [...] und die Aufsätze über die ‚deutsche Position‘, die jetzt noch fast frischer und zutreffender wirken als vor einem Jahrzehnt, da wir sie im ‚Gewissen‘ lasen.“53
Die mit der verstärkten Rezeption einhergehende veränderte Wahrnehmung des Autors ist durch einen Brief des von Moeller verehrten Dichters Alfred Mombert (vgl. 2.1.2) bestätigt: „Seltsam, daß die ‚Heil‘-Rufer, die Nationalsozialisten (Hitler) den Moeller van den Bruck als ihren Klassiker verehren (wegen seiner Bücher ‚Das dritte Reich‘ und ‚Der preußische Stil‘), aber von seinen Literatur-Geschichten nichts wissen.“54 Ernst Barlach hingegen klagte anläßlich einer Neulektüre von Das dritte Reich: „[...] ich las und versuchte es redlich, in dem Exemplar, das er [Moeller] mir s. Z. und gleichzeitig Klaus dediziert hatte. Aber es stellte sich als unlesbar heraus. Früher hatte ich es durchlaufen und als Moeller-Brucks gutgemeinten persönlich überschwungten (wie alles von ihm etwas aufgeschwemmt war) Aufschrei aus preußisch-kölnischer Brust hingenommen. Nun faßten meine Hände eine aufgestochene Blas, tot und leer.“55
Diese Neurezeption Moellers, die bei früheren Sympathisanten auf Ablehnung stieß, war von Schwarz dabei insofern gesteuert worden, als er in seinen Vorworten zu den Essaybänden immer wieder auf die Aktualität der moellerschen Publizistik hingewiesen und sie mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht hatte. So heißt es beispielsweise im Vorwort zum Dritten Reich: „Die Parolen des dritten Reiches, vor allen anderen jene, daß wir die Revolution gewinnen müßten, haben ständig Boden erobert. Wer die politische Publizistik unserer Tage verfolgt, wird überall die Spuren von Worten Moellers finden [...]. Die Nationalsozialisten nahmen den Ruf nach dem dritten Reich auf, der Bund Oberland benannte seine Zeitschrift danach, die Volkskonservativen belegten ihre Einstellung mit Zitaten Moellers, der Kreis um Zehrer in der ‚Tat‘ hat den Geist Moellers auf sich wirken lassen.“56
Das heißt, während sich die Rezensenten der von Schwarz betreuten Ausgaben noch enthielten, einen unmittelbaren Bezug zum Nationalsozialismus herzustellen, sah der Herausgeber seinen Autor schon durch die Wahlsiege der NSDAP bestätigt. So war er beispielsweise der Überzeugung, dass die auf eine Revision des Versailler Friedens zielende „Parole von ‚Sozialismus und Außenpolitik‘“ im Zusammenhang mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wieder an Bedeutung gewonnen hätte: 53 54 55 56
Hans Bogner, Zwischen Demokratie und Autorität, in: Die neue Literatur, 33. Jg., Heft 10, Oktober 1932, S. 458. Alfred Mombert an Hans Reinhart (03.12.1931), in: Alfred Mombert, Briefe (hg. von B. J. Morse), Heidelberg 1961, S. 100 f. Ernst Barlach an Karl Barlach (14.11.1932), in: Ernst Barlach, Die Briefe 1888–1938 (hg. von Friedrich Dross), München 1969, Bd. 2, S. 332 f. Hans Schwarz, Vorwort, in: Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, 3. Aufl., bearbeitet von Hans Schwarz, Hamburg u. a. 1931, S. XIV.
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„Das Schicksal [...] der deutschen Revolution meint es gut mit ihr.“57 In diesem Sinne suchte nun auch Schwarz seine Leser davon zu überzeugen, dass Moeller, als ein Initiator des Protests gegen den Vergeltungsfrieden, die Entwicklung des „nationalen Sozialismus“ maßgeblich befördert habe: „Moeller van den Bruck lebte diesen Protest. Darum verquickte er die deutsche Revolution mit der Parole von Sozialismus und Außenpolitik und machte auf diese Weise den deutschen Protest zur Verpflichtung der deutschen Revolution.“58 Ferner war Moeller für Schwarz noch in weiteren Vorworten das Medium der von ihm propagierten Ostpolitik. Es ist Hans Schwarz, der das Bild vom „Ostideologen“ Moeller maßgeblich geprägt hat. Nicht zufällig schließt die Einführung zu Rechenschaft über Rußland mit einem verheißungsvollen Ausblick auf die Außenpolitik des Führers: „Als Adolf Hitler in diesem Jahre den Rapallovertrag erneuerte, führte er schon den deutschen Nationalsozialismus aus dem Gewirr der Schlagworte auf jenen nüchternen und staatsmännischen Weg [...].“59 Demnach sah es so aus, als würden hier „die Einsichten Moellers“ wie diejenigen Schwarz’ „bestätigt werden“.60 Schlussendlich ist es aber vor allem das Vorwort zu Der politische Mensch, in dem explizit eine „Vorarbeit“ Moellers zur Machtergreifung behauptet wird: „[...] wer die Vorarbeit der jungen Generation überblicken will, solange sie sich von Moeller führen und beeinflussen ließ, der findet hier manchen außerordentlichen Beitrag der Vorgeschichte der Revolution von 1933.“61 Das Ziel, Moeller als geistigen Vater des Dritten Reiches erscheinen zu lassen, hat sich auch auf Schwarz’ editorische Praxis ausgewirkt. Gegenüber Hans Joachim Schwierskott hat Schwarz zugegeben, in die Werke Moellers „hineinkorrigiert, bzw. weggelassen“ zu haben: „Das meiste wurde von Frau Moeller und mir gemeinsam besprochen [...]. Manchmal ersetzten wir eine Vokabel und meinten dabei, so hätte Moeller heute ausgedrückt, was er wollte. [...] Daß wir uns unakademisch benahmen [...] das müssen wir als Vorwurf mit ins Jenseits nehmen.“62 Mögen die Längen in Moellers Texten die Kürzungen noch rechtfertigen, so lässt sich bei den unter dem Aspekt „hineinkorrigiert“ zu fassenden Änderungen das Bemühen erkennen, den Texten Moellers möglichst weitreichende Bedeutung zuzuschreiben. So fehlen beispielsweise in der 3. Auflage von das Dritte Reich sämtliche Bezüge auf den 11.01.1923 und den Ruhrkampf, mit der Folge, dass Moellers auf ein konkretes histo-
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Hans Schwarz, Vorwort, in: Moeller van den Bruck, Sozialismus und Außenpolitik (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, S. 5. Ebd., S. 9. Ebd., S. 6. Ebd. Hans Schwarz, Vorwort, in: Moeller van den Bruck, Der politische Mensch (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, S. 6. Hans Schwarz an Hans Joachim Schwierskott (22.01.1961), zitiert nach: Oswald von Nostitz, Ein Preuße im Umbruch der Zeit. Hans Schwarz 1890–1967, Hamburg 1980, S. 292 f. Kritisiert wurde Schwarz‘ herausgeberische Leistung vor allem in den Eisernen Blättern. D. Traub, Was Bücher erzählen, in: Eiserne Blätter. Wochenschrift für deutsche Politik und Kultur, 15. Jg., Nr. 35, 27.08.1933, S. 448.
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risches Ereignis bezogene Ausführungen nunmehr universale und damit auch aktuelle Gültigkeit beanspruchten. Das unrühmlichste Zeugnis dieser Art der Aktualisierung ist zweifellos eine unter dem Titel das Das ewige Reich (1933–35)63 erschienene dreibändige Kurzfassung der Deutschen, die Schwarz als zwingende Fortsetzung der Werkbiographie Moellers ausgab.64 Durch neue Überschriften und Umstrukturierungen sowie durch Veränderungen des Originaltextes hat der Herausgeber diesem Werk insbesondere in seinem ersten Band einen neuen Sinn gegeben: Der im Wesentlichen dem Schlussteil der Lachenden Deutschen entnommenen Einleitung65 und den Einleitungen der für die Biographie des deutschen Volkes unverzichtbaren Bände der Deutschen66 folgen die zum Teil gekürzten Porträts von Armin [Der erste Deutsche]67, Alarich, Karl dem Großen, Friedrich I. und Friedrich II. [Siegen und Scheitern]68, Heinrich dem Löwen, Maximilian I., Ulrich von Hutten, dem Großen Kurfürsten, Friedrich dem Großen, Herder, dem Freiherrn vom Stein und Bismarck [Der Deutsche in der Mitte Europas]69 und Wilhelm II. [Jahrhundertwende und scheiternde Gegenwart]70 sowie eine Textcolla63
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Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), 3. Bde. [von Schwarz überarbeitete und gekürzte Fassung von: Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte], Breslau 1933–1935. In diesem Sinne formulierte Schwarz: „Als das Buch [Die Deutschen ] vollendet war, da war es für Moeller bereits durch eine neue und großartige Konzeption überholt. Denn indem er die Werte des Deutschtums bewegt hatte, waren ihm zugleich die Werte der Nationen aufgegangen. Deshalb kündete sein Verleger ein neues Werk an: ‚Die Werte der Völker‘. [...] Dann lenkte Moeller auf die deutsche Frage zurück und schrieb das ‚Dritte Reich‘. [...] Erst nach Vollendung dieser Arbeiten sah sich Moeller von neuem seinem alten Plane gegenüber, ‚Die Deutschen in Europa‘ oder richtiger ‚Die Deutschen als Europäer‘ zu schreiben und auszulegen. [...] Was war natürlicher, als daß er dabei auf ‚Die Deutschen‘ zurückgriff. Einst hatte er nur ‚Die Deutsche Weltanschauung‘ oder ‚Das Deutsche Bewußtsein‘ schreiben wollen. [...] Nach dem deutschen Zusammenbruch genügte das nicht mehr. Er hatte zum dritten Reich aufgerufen, weil das zweite, das bismärckische Reich, im Weltkrieg erlegen war. [...] Und dann sah er wieder die geistespolitische Verknüpfung der Gegenwart mit unseren geschichtlichen Anfängen im Raume, [...] dahinter unsere Aufgabe: das ewige Reich. [...] So fand Moeller ganz von selbst zu seinem frühen Werke ‚Die Deutschen‘ zurück, und es reifte in ihm der Plan einer gründlichen Bearbeitung und Kürzung, dergestalt, daß jetzt das ewige Reich das Thema sein sollte, durch das wir ebenso oft der Friede wie die Unruhe Europas geworden waren“ (Hans Schwarz, Vorwort zu: Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, Bd. 1, S. 5 f.). „Von der Grösse eines Volkes“, in: Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Bd. 1, Breslau 1933, S. 11–21. Unter dem Titel Vom Ausmaß unseres Bewußtseins sind die Texte Vom Monumentalen (Gestaltende Deutsche, S. 1–9), Vom Universalen (Goethe, S. 1–9), Vom Tragischen (Scheiternde Deutsche, S. 1–12), Vom Dogmatischen (Führende Deutsche, S. 1–5) und Vom Kritischen (Entscheidende Deutsche, S. 1–9) zusammengefasst: Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Bd. 1, Breslau 1933, S. 25–51. Ebd., S. 55–67. Ebd., S. 71–120. Ebd., S. 123–295. Ebd., S. 299–323.
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ge, deren Bestandteile überwiegend dem visionären Schluss des Kapitels Scheiternde Gegenwart71 und dem ersten Teil der Zeitgenossen [Die Geister] entnommen sind. Der Titel dieser Zusammenstellung – Das dritte Reich und die jungen Völker72 –, die Eingriffe in den Text sowie die Überschriften einiger Einzelerzählungen73 hatten sichtlich den Zweck, schon den Verfasser der Deutschen und der Zeitgenossen als den politischen Visionär erscheinen zu lassen, der das Dritte Reich vorhergesagt habe. Beispielhaft ist nachstehende Textbearbeitung: Original: Scheiternde Gegenwart
Bearbeitung: Das Dritte Reich und die jungen Völker
„Das Imperium Karls des Großen umfaßte von vornherein kulturell wie volklich ungleiche, innerlich unverbundene und äußerlich unverbindbare Bestandteile. Es konnte, was von dem heutigen Deutschland aus gar nicht vorzustellen wäre, testamentarisch geteilt werden. Schon damit war ihm von Anfang an bestimmt, wieder auseinanderzufallen, und sein geschichtliches Ziel konnte gar nicht anders sein, als die Neugründung von Nationalstaaten. Die Weiterentwicklung des Deutschen Reiches dagegen, so wie es Bismarck geschaffen hat, geht von der Nationalität und vom Nationalstaat als Grundlage anfänglich aus.“74
„Das erste Reich, das Imperium Karls des Großen, umfaßte von vornherein kulturell wie volklich ungleiche, innerlich unverbundene und äußerlich unverbindbare Bestandteile. Es konnte, was von dem heutigen Deutschland aus gar nicht vorzustellen wäre, testamentarisch geteilt werden. Schon damit war ihm von Anfang an bestimmt, wieder auseinanderzufallen, und sein geschichtliches Ziel konnte gar kein anderes sein, als die Neugründung von Nationalstaaten. Das zweite Reich dagegen, so wie es Bismarck geschaffen hat, geht von der Nationalität und vom Nationalstaat als Grundlage anfänglich aus.“75
„Ja, so soll es sein: als neue Rasse, als ein neuer Grundsatz auf Erden, in einem Volke zu einem einheitlichen Nationalcharakter verkörpert, muß das Deutschtum sich seinen politischen Anteil an der Erdherrschaft erobern, wie es sich seinen zi-
„Ja, so soll es sein: als neue Rasse, als ein neuer Grundsatz auf Erden, in einem Volke zu einem einheitlichen Nationalcharakter verkörpert, muß das Deutschtum sich seinen politischen Anteil an der Erdherrschaft erobern, wie es sich seinen zi-
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Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 243–318. Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Bd. 1, Breslau 1933, S. 327–343. Die Herder-Erzählung betitelte Schwarz Der Vater der jungen Völker (vgl. ebd., S. 213), die Stein-Erzählung nennt er Revolutionär, aber konservativ (vgl. ebd., S. 229), die BismarckErzählung heißt Das zweite Reich (vgl. ebd., S. 267). Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 313. Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, Bd. 1, S. 329.
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386 vilisatorischen, von Hamburg bis Saloniki, von Antwerpen bis Wladiwostok, heute schon und täglich mehr und mehr erobert! Und nur in diesem Sinne wird man sagen können, daß dieses Deutschtum das alte Germanentum, daß die Schöpfung Bismarcks die Schöpfung Karls des Großen nicht nur kulturell, sondern auch politisch fortsetzt, als diese eigentümliche Wechsel- und Wiederkehrbeziehung zwischen den beiden ist: als es der einen Schöpfung bestimmt war, zugrundezugehen, indem sie, die eine der Rasse war, in Nationen zerfiel, während es der anderen als Rasse und Rassigkeit dadurch zu siegen gelang, daß sie zunächst einmal eine feste und geschlossene Nation darstellte.“76
vilsatorischen, von Hamburg bis Saloniki heute schon erobert! Und nur in dem Sinne wird man dann sagen können, daß die Schöpfung Bismarcks die Schöpfung Karls des Großen fortsetzt
und in ein Drittes Reich hinüberleitet, wo es der Rasse und Rassigkeit dadurch zu siegen gelingt, daß sie zunächst einmal eine geschlossene Nation darstellt.“77
Bezeichnend für die Bearbeitung ist, dass Schwarz den Führungsanspruch, den Moeller in Die Zeitgenossen im Namen der „große[n] innere[n] Kulturpartei“78 für sich reklamiert hatte, nun einer „dritten Partei“ zuschrieb, die im Textzusammenhang mit den Nationalsozialisten identisch zu sein scheint. Original: Junge Völker „Darüber, daß das geschieht, wie über unsere ganze Entwicklung, wacht die große innere Kulturpartei, die es, die Geister unsichtbar verbindend, in Deutschland heute gibt. Vielleicht wird sie sich auch äußerlich noch einmal zusammenschließen, alle unseren kleinen politischen Parteien durch eine große nationale erlösend: beiden Teilen, dem offiziellen Deutschland wie dem kulturellen, dem Staat wie dem Volk, würde sie wenigstens gleich not und gleich gut tun: denn beide 76 77 78
Bearbeitung: Das Dritte Reich und die jungen Völker „Darüber80, daß das geschieht, wie über unsere ganze Entwicklung, wacht die große innere Bewegung, die es, die Geister unsichtbar verbindend, in Deutschland heute gibt. Vielleicht wird sie sich auch äußerlich noch einmal zusammenschließen, alle unsere kleineren politischen Parteien durch eine große nationale, eine dritte Partei, erlösend: beiden Teilen, dem Staat wie dem Volk, würde sie wenigstens gleich not und gleich gut tun: denn beide
Moeller van den Bruck, Scheiternde Deutsche, Minden 1909, S. 316. Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, Bd. 1, S. 330 f. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79.
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wollen sie ja doch schließlich dasselbe – die Größe Deutschlands. Nur eine solche Kulturpartei könnte am Ende auch, während sich die tiefsten und feinsten Aufgaben der Zeit ganz von selbst durch das Individuum lösen, die letzten, die schwersten, die eigentlichen Volksaufgaben zu ihrer Lösung bringen – wie jene, die so unbedingt gefunden werden muß, wie die der Versöhnung von Sozialismus und Nationalismus, von Massenkraft und Einzelkraft, von Menge und Mensch.“79
387 wollen sie ja doch schließlich dasselbe – die Größe Deutschlands. Nur eine solche dritte Partei könnte am Ende auch, während sich die tiefsten und feinsten Aufgaben der Zeit ganz von selbst durch das Individuum lösen, die letzten, die schwersten, die eigentlichen Volksaufgaben zu ihrer Lösung bringen – wie jene, die so unbedingt gefunden werden muß, wie die der Versöhnung von Sozialismus und Nationalismus, von Massenkraft und Einzelkraft, von Menge und Mensch.“81
Ganz ohne Not hat Hans Schwarz mit Das ewige Reich Moellers Die Deutschen in wesentlichen Passagen neu erfunden. Da er sich in seinem Vorgehen vor allem durch den Erfolg der Nationalsozialisten bestätigt sah, suchte sich der Herausgeber als wissende Deutungsinstanz zu positionieren. Demnach sei das Ziel seiner Bearbeitungen, „die Gestalt Moellers abseits von allen egoistischen, reaktionären oder romantischen Deutungen herauszuarbeiten und sein Bleibendes allen sichtbar zu machen“.82 Ganz von selbst würde sich dann „[...] ergeben, wie sehr Moeller mit dem Herzen dem Nationalsozialismus bereits vor dem Kriege zugehörte. Wird das einmal ausgewertet, so werden sich auch Moellers Gedanken und Hitlers Gedanken, werden sich der prophetische Geist und zupackende Tat finden und durchdringen; denn sie stammen aus der selben Liebe zu Deutschland, ja, sie sind aus verwandter Witterung der Zukunft, ohne zunächst von einander zu wissen, geboren.“83
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Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79. Durch Streichungen hat Schwarz auch den Textzusammenhang verändert. Bezieht sich „darüber“ in Die Zeitgenossen auf die Entwicklung einer repräsentativen modernen Kultur (vgl. Moeller van den Bruck, Die Zeitgenossen, Minden 1906, S. 79), so steht es in der schwarzschen Ausgabe im Kontext einer kulturimperialistischen Vision (vgl. Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, Bd. 1, S. 337). Moeller van den Bruck, Das ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933, Bd. 1, S. 337. Hans Schwarz, Vorwort, in: Moeller van den Bruck, Das Ewige Reich (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1934, Bd. 2, S. 5 f. Ebd.
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8.2. Die Rezeption zwischen 1933 und 1945 Ein Resultat der schwarzschen Herausgebertätigkeit wie der historischen Entwicklung war, dass die Popularität Moellers zwischen 1933 und 1935 ihren Höhepunkt erreichte. In der Vorbemerkung zur Herausgabe der Briefe Moellers an Ludwig Schemann bemerkte Schemann 1934: „Der Name Moeller van den Brucks ist heute in Aller Munde. Die wenigsten ahnen, wieviel Mühe es einstens gekostet hat, ihn auch nur einem verschwindend kleinen Teile seiner Landsleute auf die Lippen zu bringen.“84 Dabei war es auch ein Verdienst des Herausgebers Schwarz, dass man in zunehmendem Maße in Moeller als Verfasser des Dritten Reiches den Wegbereiter des Dritten Reiches bzw. den Geistige[n] Wegbereiter der deutschen Umwälzung zu erblicken begann.85 So führte die von Walter Sagitz herausgegebene Bibliographie des Nationalsozialismus (1933) sechs Titel Moellers an.86 Zum Vergleich: Theodor Fritsch, die „Galionsfigur“ des völkischen Antisemitismus, ist mit sieben, Joseph Goebbels mit dreizehn, Alfred Rosenberg mit zwölf Titeln vertreten. Gleichwohl stimmten nicht alle Zeitgenossen der Einordnung als „Wegbereiter“ zu. Die von Hans Zehrer herausgegebene Tat brachte beispielsweise noch im Januar 1933 einen Aufsatz, in dem man sich hinsichtlich des Nationalsozialismus in beredtes Schweigen hüllte, wohingegen Moeller explizit die „Erneuerung der konservativen Welt“87 attestiert wurde. Darüber hinaus waren es vor allem die im Ring-Kreis versammelten Jungkonservativen, die das Erbe Moellers durch eine unzulässige Vereinnahmung gefährdet sahen. Sie, die sich immer wieder auf Moeller beriefen88, begannen bereits nach der Wahl vom 14. September 1930 das Dritte Reich als das eigene Schlagwort zu verteidigen. Als offizielle Stellungnahme des Ring-Kreises zur nationalsozialistischen Propaganda vom Dritten Reich kann der in Der Ring veröffentlichte Brief eines Mitarbeiters vom 13. Dezember 1930 an die Schriftleitung des 84
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Briefe Moeller van den Brucks an Ludwig Schemann, abgedruckt in: Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk, 18. Jg., Heft 6, Juni 1934, S. 321–327 und Heft 7, Juli 1934, S. 396–399, hier 321. Beispielhaft: Wolfgang Koeppen, Ein Wegbereiter des Dritten Reiches. Moeller van den Bruck, in: Beilage zum Hannoverschen Kurier, 30.07.1933, sowie H. Getzney, Geistige Wegbereiter der deutschen Umwälzung. I: Moeller van den Bruck, in: Im Schritt der Zeit. Sonntagsbeilage der Kölnischen Zeitung, Nr. 29, 29.10.1933. In der Reihenfolge ihrer Nennung: Das Dritte Reich, 3. Aufl., Breslau 1931; Der preußische Stil. Mit einem Vorwort von Hans Schwarz, 3. Aufl., Breslau 1931; Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus (Auszug aus: Das Dritte Reich), 1. Aufl., 1932; Das Recht der jungen Völker. Sammlung von politischen Aufsätzen, hg. von Hans Schwarz, 1. Aufl., Hamburg 1932; Potsdam (Auszug aus: Der preußische Stil), hg. von Paul Winter, 1. Aufl., Leipzig 1933; Der politische Mensch. Aufsatzsammlung, hg. von Hans Schwarz, Breslau 1933. Anonym, Die Erneuerung der konservativen Welt. Moeller van den Bruck, in: Die Tat. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 24. Jg., Heft 10, Januar 1933, S. 904–908. So druckte der Ring im Dezember jenen an Heinrich von Gleichen gerichteten Brief, mit dem Moeller Das dritte Reich einleitete. Vgl. Das dritte Reich, in: Der Ring. Konservative Wochenschrift, 3. Jg., Heft 51, 21.12.1930, S. 883 f.
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Dortmunder Generalanzeigers gelten. Der Schreiber bezog sich auf einen das Jahresessen des Deutschen Herrenklubs (05.12.1930) betreffenden Bericht. Dem Zeitungsartikel zufolge hätte der ehemalige Reichswehrminister Otto Geßler, da er sich in seiner in diesem Zusammenhang gehaltenen Rede auf das Schlagwort des Dritten Reiches bezogen habe, sich zum Nationalsozialismus bekannt und ihn propagiert. Der Ring erwiderte diese Zeitungsdarlegung mit den Worten: „Sehr geehrte Herren, [...] Sie nehmen Anstoß daran, daß Geßler vom ‚Dritten Reich‘ spricht und daß er es – unwidersprochen – in einem konservativen Kreise tut. Sie folgern daraus ein Bekenntnis zu Hitler, eine Selbstempfehlung an den Nationalsozialismus. Sie wissen offensichtlich nicht, daß die Parole aus dem konservativen Gedankengut – sagen wir höflich: – entnommen worden ist [...]. ‚Das Dritte Reich‘ ist der Titel eines kurz nach dem Kriege erschienenen Buches von Moeller van den Bruck, das heute die Bibel aller ist, die rechts an der Erneuerung des politischen Lebens und der Nation arbeiten. Wer sich die Mühe macht, dieses Buch zu lesen, muß einen Begriff davon bekommen, welcher Abgrund zwischen der ‚herren‘-mäßigen Verantwortlichkeit des Konservativen und der Straßendemagogie [...] des Nationalsozialismus klafft. [...] Moeller van den Bruck, der uns als Prophet gilt, hat sein wichtigstes Werk, eben ‚Das Dritte Reich‘, Heinrich von Gleichen gewidmet, der heute neben [...] Herrn von Alvensleben der Hauptpromotor des ‚Deutschen Herrenklubs‘ ist. Wenn also irgendwo das Wort vom ‚Dritten Reich‘ heute noch eine Heimat hat, dann in diesem Kreise.“89
Ein halbes Jahr später stellte der Herrenklub praktisch das gesamte Kabinett Franz von Papens.90 Papen berief sich in seinen Schriften explizit auf die Ideen Moellers91, dergleichen seine Propagandisten Walther Schotte92 und vor allem Edgar Julius Jung, der Moeller, da man ihn inzwischen für ein „Gründungsmitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“93 zu halten begonnen habe, als „Politiker aus Weltanschauung“94 und Urheber des „Dritten Reiches“95 gegen den Nationalsozialismus gleich mehrfach in Stellung brachte, bevor er selbst von der Gestapo, vermutlich am 01.07.1934, dem Höhepunkt der Röhm-Krise, in einem Wäldchen bei Orani89 90 91
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Rüdiger Robert Beer, Gegen die Parole – für die Parole, in: Der Ring. Konservative Wochenschrift, 3. Jg., Heft 51, 21.12.1930, S. 896. Vgl. hierzu: Manfred Schoeps, Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Erlangen-Nürnberg 1974, S. 138 f. In der Einleitung zu einer Buchveröffentlichung seiner Reden formuliert Papen: „Wenn ich mich zur deutschen Revolution bekenne, so bekenne ich mich zum Geistesgut und zur Haltung [...] jener Männer, die wie Moeller van den Bruck, Max Hildebert Böhm [sic], Edgar J. Jung oder Leopold Ziegler [...] seit langem um eine konservative Neugestaltung ringen. Ihrer und der Geistesverwandten unermüdlichen Vorarbeit und geistigen Unerbittlichkeit verdankt die konservative Idee wesentlich ihre neue Prägung“ (Franz von Papen, Appell an das deutsche Gewissen. Reden zur nationalen Revolution, Oldenburg 1933, S. 10 f.). Vgl. Walther Schotte, Der neue Staat, Berlin 1932. S. 163 f. Edgar Julius Jung, Das eigenständige Volk. Bemerkungen zu Boehms Volkstheorie, in: Deutsche Rundschau, 58. Jg., Bd. 232, August 1932, S. 86–92, hier 88. Edgar Julius Jung, Sinndeutung der deutschen Revolution, Oldenburg 1933, S. 22 f. Vgl. Edgar Julius Jung, Reichsreform, in: Deutsche Rundschau, 55. Jg., Bd. 217, November 1928, S. 101–112, hier 101.
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enburg erschossen wurde.96 Jung zufolge hätten die Nationalsozialisten Moeller lediglich für sich „reklamiert [...], ohne daß das Verständnis für sein Werk wesentlich gewachsen wäre. Er ist tot und gilt deshalb als geistiger Führer, während man die lebenden Geistigen gerne als disziplinlose Intellektuelle hinstellt.“97 Analog hierzu bestritt Max Hildebert Boehm im Deutschen Volkstum, „daß nur der Nationalsozialismus heute ein Recht habe, sich auf das Erbe Moeller van den Brucks zu berufen“. Boehm suchte dementgegen, Moeller als einen unabhängigen und originellen Denker vorzustellen, der „nie die Rolle eines Schulpapstes für sich in Anspruch genommen hat“. Beispielhaft sei seine Auffassung vom Sozialismus, die im Verdacht stehe, noch am ehesten eine Nähe zum Nationalsozialismus erkennen zu lassen: „Es ist richtig, daß wir in den ersten Jahren nach der Revolution unsere Haltung manchmal als einen deutschen Sozialismus bezeichneten, wofür Moeller jederzeit auch den von mir genauer bestimmten körperschaftlichen Gedanken als Formel anerkannte. [...] Aber auch dieser ‚Sozialismus‘ war für Moeller kein Dogma. [...] Moeller war keineswegs geneigt, die von uns bekämpfte marxistische Orthodoxie durch irgendeinen Patent-Sozialismus, der nach Lebensreform und Weltverbesserung roch, zu vertauschen. [...] so wählte er trotz allem ‚Sozialismus‘ in einer der Wahlen um 1921 als stärkste Führerpersönlichkeit auf der Rechten – den ‚liberalen‘ Stinnes. Hiernach mag man urteilen, ob es angängig ist, Moeller van den Bruck, den Verewigten, von seinem dritten Standort herabzuzerren und Partei- und Richtungskämpfe innerhalb der Rechten mit seiner Kronzeugenschaft auszufechten.“98
Bezugnahmen auf Moeller finden sich jedoch nicht nur bei den Jungkonservativen. Ernst Jünger beispielsweise, der in den 1920er Jahren in Moeller einen ihm verwandten Gegner des Wilhelminismus erkannt hatte99, erinnert sich anlässlich seiner Dostojewskij-Lektüre noch in den 1980er Jahren: „Die Übersetzung ist von Moeller van den Bruck, den ich leider nicht mehr kennen gelernt habe. Er starb 1925; wie so viele war ich ein Leser seines ‚Preußischen Stils‘, eines der Denkanstöße nach dem Ersten Weltkrieg.“100 Dabei war die Wahrnehmung innerhalb der Weimarer Rechten keineswegs einheitlich. Vor allem in der von Ernst Niekisch herausgegebenen nationalrevolutionären Zeitschrift Widerstand hat man sich von Moeller immer deutlicher distanziert. Wurde Moeller hier noch 1930 als „ein Mann der Ostbewegung“ und Propagandist des sich gegenüber den „Verführungen des Westens“ behauptenden „Preußischen“ gewürdigt,101 so suchte man ihn bereits 1932 als einen die „bürgerlich-kapitalistische 96 97 98 99
100 101
Vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995, S. 167 f. Edgar Julius Jung, Neubelebung von Weimar?, in: Deutsche Rundschau, 59. Jg., Bd. 231, Juni 1932, S. 153–162, hier 159. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 696 f. Vgl. Ernst Jünger, Der Frontsoldat und die Wilhelminische Zeit, in: Die Standarte. Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens, Nr. 3, Beilage zu: Der Stahlhelm, 7. Jg., Nr. 38, 20.09.1925. Ernst Jünger, Siebzig verweht, Bd. IV, Stuttgart 1995, S. 446. Anonym, Zeitschau, in: Widerstand, 5. Jg., Heft 4, April 1930, S. 121.
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Reaktion“102 begünstigenden Autor zu positionieren. Entsprechend formulierte man in einer Besprechung von Das ewige Reich den „Verdacht“, dass Moeller „nicht der Prophet der Zukunft, sondern der geistige Wegbereiter der deutschen Restauration“103 gewesen sei. Anlässlich einer Besprechung von Georg Quabbes Das letzte Reich (1933) hieß es dann folgerichtig: „Mit Vergnügen liest man seine Abrechnung mit Moeller van den Bruck. Moeller hat Leistungen und Verdienste; allmählich aber wird auch klar, wieviel Unheil er unter der deutschen Jugend angerichtet hat.“104 Zudem lassen sich trotz aller Bedenken auch bei den Jungkonservativen Sympathien für den Führer erkennen. Boehm beispielsweise erinnerte sich in dem bereits oben zitierten Beitrag an das Zusammentreffen von Hitler und Moeller wie folgt: „Hitler hat, damals fast unbekannt, etwa um 1921 in unserem Kreise eine freundliche sympathisierende Aufnahme gefunden. Ob Moeller van den Bruck an dem Abend anwesend war, kann ich mich nicht erinnern. Da er ein äußerst fleißiger Besucher von Klubveranstaltungen war, ist diese vermutlich einzige Begegnung zwischen Hitler und ihm wenigstens wahrscheinlich. Sie hätten sich damals jedenfalls ausgezeichnet verstanden.“105
In einem anlässlich von Moellers zehntem Todestag publizierten Artikel schilderte Boehm den Verfasser des Dritten Reiches dann als zeitweilige und tragische Parallelgestalt des Führers. Er betonte: Das dritte Reich wurde „[...] in den Tagen des Ruhreinbruches geschrieben. Er brachte einen Aufschwung, der doch mit Enttäuschung endete. Auch der junge Nationalsozialismus erlebte seinen 9. November 1923, den er nur dank der unerhörten Glaubenszuversicht und Zähigkeit seines Führers überwand. Noch ehe Adolf Hitler aus der Festung auf das Feld der Politik zurückkehrte, brach die Lebens- und Schaffenskraft Moellers zusammen.“106
Dieser Beitrag ist zugleich ein vergleichsweise spätes Beispiel einer ganzen Reihe von biographischen Darstellungen, die Moeller als einen Frühverstorbenen kennzeichneten. So erschien bereits am 30.04.1933 in der Beilage des renommierten Berliner Börsen-Courier ein Porträt Moellers, in dem der Verfasser konstatierte, dass Moeller van den Bruck „heute, sieben Jahre nach seinem Tode, [...] als einer der wichtigsten geistigen Wegbereiter des neuen Nationalismus sozialer Prägung“107 gelte. Diese Äuße102 103 104 105 106 107
Nikolaus Götz, Funktion der Ideologie, in: Widerstand, 7. Jg., Heft 12, Dezember 1932, S. 361. Anonym, Politische Literatur, in: Widerstand, 7. Jg., Heft 12, Dezember 1932, S. 382. Anonym, Zeitschau, in: Widerstand, 8. Jg., Heft 4, April 1933, S. 128. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck im Kreise seiner politischen Freunde, in: Deutsches Volkstum, 14. Jg., Heft 14, September 1932, S. 693–697, hier 696 f. Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck, in: Kreuz-Zeitung, 26.05.1935. Wolfgang Koeppen, Moeller van den Bruck. Von der „Italienischen Schönheit“ über den „Preußischen Stil“ zum „Dritten Reich“, in: Beilage des Berliner Börsen-Courier Nr. 201, 30.04.1933. Der Beitrag ist leicht verändert noch in zwei weiteren Zeitungen erschienen (Ein Wegbereiter des Dritten Reiches. Moeller van den Bruck, in: Beilage zum Hannoverschen Kurier, 30.07.1933; Männer die Deutschland schufen. Moeller van den Bruck. Von der „Italienischen Schönheit“ über den „Preußischen Stil“ zum „Dritten Reich“; in: Westfälische
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rungen Wolfgang Koeppens sind schon deshalb bemerkenswert, weil es dem 27jährigen Feuilletonredakteur trotz des Sujets gelang, jegliche Stellungnahme zum Nationalsozialismus zu vermeiden. Sein Moeller-Porträt bestätigt vielmehr den von Jörg Döring erstellten Befund, dass „Koeppens Affinität zum Nationalsozialismus im Jahr 1933“ durch die Hoffnung begründet sei, „daß mit der nationalen Revolution auch eine artistische Modernisierungsbewegung in Gang gebracht werden könnte“.108 In diesem Sinne hat Koeppen, obwohl er Moellers jüngere politische Aktivitäten würdigte, dessen kurzfristige Sympathien für den Futurismus in das Zentrum seines Beitrages gerückt. Vermutlich von Theodor Däubler109 ins Bild gesetzt, bescheinigte Koeppen Moeller, einen besonderen Sinn für das avantgardistische Italien, für den Futurismus und die neue Rechte gehabt zu haben: „[...] für den tiefer Schauenden war ganz Italien in diesen Jahren ein Hexenkessel voll von gärendem Aktivismus, in dem schon die ganze Entwicklung des Krieges und der Nachkriegszeit kochte.“ Und: „Moeller reagierte wie eine Antenne. Er nahm auf und verarbeitete. Ein feines Gefühl zeigte ihm die junge Rasse im alten Volk..“110 Zum Phänotypen einer an den italienischen futurismo anknüpfenden deutschen Avantgarde111 avancierte Moeller jedoch nicht allein durch die Behauptung, dass er „Umgang mit den geistigen Urhebern der Bewegung“112 gehabt habe. Auch Moellers nationalpädagogisches Engagement wurde von Koeppen positiv veranschlagt: „Seine Liebe war Deutschland, und sie war nicht nur das natürlich warme Gefühl des Mannes für sein Vaterland, sondern vor allem auch ein politisch-philosophischer Impetus von seltener Stärke und gewonnen aus schmerzlicher Erkenntnis.“113 Eine Affinität zu den Positionen der „Ästhetischen Opposition“ klingt an, da Koeppen den Preußischen Stil als richtungsweisende nationalästhetische Schrift heraushob: „Ein Preußischer Stil jedenfalls war festzustellen. Der Stil einer Gesinnung und eines politischen Bewußtseins. Es war hier nie an die bloße Schönheit gedacht worden [...] und so war nicht die Malerei und nicht die Bildhauerei, sondern die Architektur, die neben dem
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Zeitung, Zweite Beilage, 10.08.1933), eine deutlich gekürzte Fassung erschien in der Neuen Leipziger Zeitung (Moeller van den Bruck. Von der „Italienischen Schönheit“ über den „Preußischen Stil“ zum „Dritten Reich“, in: Neue Leipziger Zeitung, Beilage „Kultur und Kunst“, 06.08.1933). Jörg Döring, „ ... ich stellte mich unter, ich machte mich klein ...“. Wolfgang Koeppen 1933– 1938, Frankfurt am Main und Basel 2001, S. 40. Däubler war Mitarbeiter des Berliner Börsen-Courier. Er verstarb im Juni 1934. Wolfgang Koeppen, Moeller van den Bruck. Von der „Italienischen Schönheit“ über den „Preußischen Stil“ zum „Dritten Reich“, in: Beilage des Berliner Börsen-Courier Nr. 201, 30.04.1933. Auch in: Wolfgang Koeppen, Gesammelte Werke in sechs Bänden (hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel), Frankfurt am Main 1986, Bd. 6, S. 26–33. Vgl. Jörg Döring, „ ... ich stellte mich unter, ich machte mich klein ...“. Wolfgang Koeppen 1933–1938, Frankfurt am Main und Basel 2001, S. 40. Wolfgang Koeppen, Moeller van den Bruck. Von der „Italienischen Schönheit“ über den „Preußischen Stil“ zum „Dritten Reich“, in: Beilage des Berliner Börsen-Courier Nr. 201, 30.04.1933. Ebd.
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Gesetz alles Geformten noch einen Nutzen darzustellen hatte, zum künstlerischen Ausdruck dieses Landes geworden. [...] Sein Buch ‚Der Preußische Stil‘ ist nicht nur die klärendste Monographie des Landes, sondern auch wohl seine beste und wohl einzige Aesthetik.“114
Koeppens Moeller-Porträt unterscheidet sich von den anderen zeitgenössischen Darstellungen dadurch, dass Koeppen Das dritte Reich nicht als notwendigen Kulminationspunkt der Werkbiographie, sondern als eine „Auseinandersetzung mit der Zeit“ kennzeichnete. Das Buch bringe „Moellers politisch-völkisches Bekenntnis [...] ganz nackt, ohne die kulturhistorische Fundierung, die ja aber – und zum Glück – in dem Verfasser lebendig war“115 und der schließlich auch Koeppens Interesse galt. Die Mehrheit der mit Moeller befassten Autoren ging jedoch davon aus, dass dessen letztes Buch das Ende einer folgerichtigen, Werk und Leben verbindenden Entwicklung markiert, wie sie auch das nationalsozialistische Deutschland als eine Gestaltwerdung von Moellers politischen Visionen zu deuten versuchten. Prototypisch in diesem Sinne ist die von Paul Fechter (von 1933–1940 Leiter des kulturpolitischen Teils des Berliner Tageblatt) verfasste Biographie Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal (1934), die die erste ausführliche Schilderung von Moellers Leben und eine Huldigung an den Freund darstellt. Demonstrativ als Nr. 1 der Reihe Deutsche Innerlichkeit publiziert, zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie auch Moellers Frühwerk, Das Varieté und Die Moderne Literatur, berücksichtigt. Obgleich die beiden Bücher für Fechter nichts mit dem „ernsthaften“116 Moeller zu tun haben, werden sie von ihm als Beginn des zum konservativ revolutionären Engagement hinführenden Weges vorgestellt. Diesen sieht er darin, dass Moeller sich in Das Varieté nicht allein mit Darstellern und Dargestelltem, sondern auch mit dem an der modernen „Volkshalbkunst“ interessierten Publikum und dessen „Kulturinstinkt“117 befasst habe: Dies ist für Fechter der „Punkt, an dem der Weg bereits aus der Welt der bürgerlichen Bildung und Ästhetik hinausführt ins Lebendige und Ganze“118, wobei das von Fechter gemeinte Ganze mit der eigenen identisch Nation war. Als eine erste Wegmarke erscheinen daher Die Deutschen, da sie Moellers Wandlung zum Nationalisten bezeugten. Nach Auffassung Fechters war mit ihrer Niederschrift „das Wesentliche [...] geschehen. Moeller hatte aus der Erfahrung in der Fremde begriffen, daß der Einzelne nicht für sich existenzfähig ist, sondern auch in seinem inneren Schicksal abhängig von der Beziehung zum Ganzen, zur Nation.“119 Bis zum Ersten Weltkrieg allerdings „rang der politische Mensch mit dem künstlerischen, der historische mit dem philosophischen“120, so dass Fechter zwar bis zum Preußischen Stil eine verstärkte Hinwendung zu patriotischen Themen, jedoch kein 114 115 116 117 118 119 120
Ebd. Ebd. Vgl. Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 33. Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 35. Ebd., S. 42. Ebd., S. 54.
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dauerndes Interesse an politischen Fragestellungen, mithin auch keine Annäherung an das Ziel, verzeichnen konnte. Als zweite Wegmarke wurde daher das Ende des Krieges betrachtet. Moellers kontinuierliches politisch-publizistisches Engagement in der Zeit nach 1919 war für Fechter ein „politische[r] Kampf“, dessen bleibendes Ergebnis „Moellers letztes und am bekanntesten gewordenes Buch: ‚Das Dritte Reich‘“ sei.121 Darüber hinaus schien es Fechter bedauerlich, dass Moeller „nur“ schriftstellerisch tätig war. Fechter konstatierte: Der „letzte Schritt blieb ihm versagt. Er rang mit Radek um Schlageters Tat, [...]: zum eigenen Mithandeln kam er nicht mehr. Er blieb bei den Büchern, bei den Aufsätzen.“122 Auf diese Weise suggerierte Fechter, dass Moeller, hätte er länger gelebt, „zum eigenen Mithandeln“ gekommen wäre, was 1934 nur heißen kann, dass er mit den Nationalsozialisten kooperiert hätte. Mit einem Vers von Hermann Conradi suchte Fechter „das Verhältnis zwischen dem Verfasser des Dritten Reiches und denen, die es acht Jahre nach seinem Tode begründeten“, zu umschreiben: „Was ich geträumt – sie geben ihm Gestalt.“123 Fechter erwähnte in diesem Zusammenhang auch das Aufeinandertreffen von Moeller und Hitler: „[...] das Gespräch war lang und ausführlich; aber es blieb das einzige.“124 Kanonisiert wurde diese Interpretation der Werkbiographie Moellers vor allem durch einen auf dem Buch basierenden Artikel Fechters in der Neuen Deutschen Biographie. Dieser Artikel unterstreicht, indem er Moeller zu den „Großen Deutschen“ (u.a. Friedrich Nietzsche, Gottlieb Daimler, Stefan George, Paul von Hindenburg) zählte, dessen enorme Reputation.125 Jedoch war es nicht allein das Verdienst der früheren Weggefährten, dass Moeller nun als ein „Großer“ galt. Vielmehr scheinen Machtübernahme und das Ende der Republik selbst, die Wahrnehmung von Werk und Person in dieser Hinsicht beeinflusst zu haben. Beispielhaft ist ein bereits am 30.03.1933 in der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg gehaltener Vortrag. Darin verfälschte Reinhard Adam Moellers Biographie dahingehend, dass er ihm ein Hochschulstudium andichtete,126 um ihn anschließend, ganz im Stil des neuen Geistes, als maßgeblichen Autor der „Grundlegung“ zu würdigen, „auf der der Nationalsozialismus unserer Tage beruht“.127 Ein Jahr später erschien in der Reihe Der Deutsche Quell von Schöninghs Textausgaben der von Wilhelm Gotthardt bearbeitete Band Moeller van den Bruck, der Seher und Deuter des dritten Reiches.128 Darin wurde Moeller als ein „mit der Gene121 122 123 124 125 126 127 128
Ebd., S. 69. Ebd., S. 78. Ebd. Ebd. Paul Fechter, Moeller van den Bruck 1876–1925, in: Die Großen Deutschen. Neue Deutsche Biographie (hg. von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz), Bd. 4, Berlin 1936, S. 570–583. Vgl. Reinhard Adam, Moeller van den Bruck, Königsberg 1933, S. 38. Ebd., S. 8. Der Band enthält Auszüge aus Das dritte Reich sowie aus Das Recht der jungen Völker.
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ration 1888 in heftiger Fehde lebend[er]“, „kritischer Außenseiter“ vorgestellt,129 der, nachdem er in Paris die zersetzende Wirkung des zweiflerischen Geistes kennengelernt hatte, seine Lebensaufgabe in der Verkündung einer deutschen Sendung erkannt habe: „In seinem Bemühen, das deutsche Volk für seine politische Sendung reif zu machen, war Moeller van den Bruck neben seinen kritischen Studien über die Kulturen der Völker mit einem mehrbändigen Werk über die Deutschen beschäftigt.“130 Seine politisch-publizistische Tätigkeit nach dem Weltkrieg wurde in diesem Zusammenhang als von dem Anliegen der „politische[n] Mobilmachung der Nation“131 bestimmt betrachtet, sodass Moeller gemäß der von Fechter und Schwarz initiierten Betrachtungsweise als zu früh verstorbener Vordenker des Nationalsozialismus erschien: „Mitten in dem Aufkeimen der Saat [....] wurde Moeller van den Bruck uns 1925 durch den Tod entrissen. Sein Geist aber lebt im deutschen Volke weiter.“132 Ein in der gleichen Reihe (Nr. 171) publizierter Sammelband hat Die völkische Idee im deutschen Geistesleben der neuesten Zeit zum Gegenstand. Der Herausgeber Engelbert Pülke stellte Moeller darin in eine Reihe von Repräsentanten der völkischen Idee, die von Friedrich Karl Freiherr von Moser bis Adolf Hitler reicht.133 Doch ging es den Herausgebern von Schöninghs Textausgaben nicht allein um die Beeinflussung der Traditionsbildung. Mindestens gleichrangig scheint das Anliegen, Moeller einem breiteren Publikum bekannt zu machen, das auch von den Programmverantwortlichen von Reclams Universalbibliothek verfolgt wurde. In dieser kamen 1934 mit Armin (Nr. 7242) und Freiherr von Stein (Nr. 7243) zwei Kapitel aus Die Deutschen als Einzelbände heraus. In deren Nachworten versuchte der jungkonservative Schriftsteller Gustav Steinbömer, Moeller als einen „legitimen Wegbereiter des neuen Deutschland“134 vorzustellen, wobei er sich gleichfalls der Wegmetaphorik bediente. Steinbömer zufolge hatte „Moellers Haltung [...] durch den Krieg die letzte, tiefe Entscheidung erfahren, aber der Weg zu dieser Entscheidung hatte schon viele Jahre zuvor begonnen. Es war die Entscheidung zum Politischen.“135 Von Fechters Interpretation der Biographie unterscheidet sich diese Art nur durch die stärkere Akzentuierung des Außergewöhnlichen wie des Folgerichtigen. Nach Steinbömer traf Moeller seine Entscheidung bereits lange vor dem Krieg, „in dieser Zeit und in einer Generation der ästhetisch-literarischen Verhaltung zur Welt“136, und erkannte also als Einziger die Zeichen der Zeit. Vorangegangen sei die „Aneignung und Erfahrung dreier großer Erkenntnisbereiche: der Geschichte, des Blutes und Bo129 130 131 132 133 134 135 136
W. Gotthardt (Hg.), Moeller van den Bruck, der Seher und Deuter des dritten Reiches. Auswahl aus seinen Schriften, Paderborn und Würzburg 1934, S. 7. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Vgl. Engelbert Pülke (Hg.), Die völkische Idee im deutschen Geistesleben der neuesten Zeit, Paderborn und Würzburg 1934. Gustav Steinbömer, Nachwort in: Moeller van den Bruck, Freiherr vom Stein (Auszug aus: Die Deutschen), (hg. von Gustav Steinbömer), Stuttgart 1934, S. 64. Ebd. Ebd.
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dens, des Staates.“137 Dies sind zugleich die Etappen, die durch die auf einzigartige Erlebnisse zurückgehenden Buchprojekte Die Deutschen, Die italienische Schönheit und Der preußische Stil bezeichnet sind. Nachdem Moeller Paris kennengelernt habe, „suchte [er] in der eigenen vaterländischen Vergangenheit seine deutschen Bedingungen und Voraussetzungen“.138 Das Ergebnis seien Die Deutschen. Zum Nationalismus bekehrt, hätte Moeller anschließend „Italien nicht mit der berühmten Südsehnsucht und dem komplementären Bildungsverlangen des Nordländers, sondern mit der Sehnsucht zu sich selbst und dem Bildungswillen zu seinem deutschen Menschentum“139 betreten. Dem Verfasser der Italienischen Schönheit wurde von Steinbömer attestiert, als ein von den Konventionen befreiter Reisender „ein neues Italien“ entdeckt und den positiven Einfluss der germanischen Rasse auf die Entwicklung der italienischen Kultur erkannt zu haben: „Er sah durch die Erscheinungen hindurch auf die Kräfte, die in ihnen Gestalt geworden waren. Und als solche Kräfte entdeckte Moeller: Blut und Boden.“140 Für Steinbömer war Der preußische Stil insofern ein weiterer Schritt, als Moeller darin, nachdem er bereits mit „Blut“ und „Boden“ die Triebkräfte der kulturellen Entwicklung erkannt hatte, mit dem „Staat“ nun auch das „ordnende Zentrum“ entdeckt habe. Auf dem „Weg“ war damit das erste Ziel der Politisierung erreicht. Moeller wurde bescheinigt, bei „Kriegsausbruch in Bereitschaft“ gewesen zu sein, „das Politische als Universalität und Totalität zu erfassen“.141 Als Begründer des „geistigen Nationalismus“, auf dessen alleinige Initiative hin der Juni-Klub und das Gewissen gegründet worden seien, sei der politische „Avantgardist aus einer Übergangsgeneration“142 nach dem Kriege dann am Ziel seines Lebensweges angekommen. Das dritte Reich weise bereits über ihn hinaus. Es „[...]ist das Vermächtnis einer älteren Generation, die in den Erfahrungen des Krieges politisch geworden war, die in den Stahlgewittern des Krieges gereift war. [... D]ie junge Frontgeneration trug schon im Unterbewußten aus dem Gemeinschaftserlebnis in der Hölle des Krieges den neuen deutschen Staat in sich. Ihr wurde Moeller Erwecker zur erkennender Bewußtheit und geistiger Gerüstetheit“. 143
Dass die Bemühungen der Weggenossen von Erfolg gekrönt waren und Moeller als Vordenker der „deutschen Revolution“ Mitte der 1930er Jahre auch einem breiteren Publikum bekannt war, dokumentiert eine Vielzahl von Aufsätzen, die anlässlich von Moellers zehntem Todestag erschienen sind.144 137 138 139 140 141 142 143 144
Ebd. Ebd., S, 65. Ebd., S. 65 f. Ebd. Ebd., S. 66. Ebd. Ebd. Hier eine Auswahl: Max Hildebert Boehm, Moeller van den Bruck, in: Kreuz-Zeitung, 26.05.1935; Krause, Moeller van den Bruck. Zum 10. Todestag am 10. Mai, in: Archiv für Volksschullehrer, 38. Jg., Heft 11, Mai 1935; Heinrich Jilek, Moeller van den Bruck und der
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Wie aber standen die Nationalsozialisten selbst zu Moeller und den Versuchen, ihn zum „Wegbereiter des Dritten Reiches“ zu erklären? Goebbels soll die Neuauflage von Moellers Das dritte Reich mit freundlichen Worten begleitet haben: „Ich begrüße die Verbreitung des für die Ideengeschichte der NSDAP so bedeutungsvollen Werkes.“145 Auch das Zentralorgan der Hitlerjugend feierte Moeller als den „Künder des neuen Deutschland“146, und Lucy Moeller van den Bruck betrieb offenbar mit Unterstützung Hermann Görings die Gründung eines „nationalsozialistischen“ Moeller-Archivs.147 In einem nicht datierten Briefentwurf bedankte sie sich bei dem damaligen preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring für seine Fürsprache, durch die ihr vom preußischen Kultusministerium Räume in der Berliner Dorotheenstraße zur Verfügung gestellt worden waren.148 Doch scheinen Unterstützung und Zustimmung recht bald abgeflaut zu sein. Hans Schwarz und Lucy Moeller van den Bruck erwogen, ihr Archiv ins Ausland zu verlegen.149 Dies mag auch an der Kritik an Moeller gelegen haben, die noch im Jahr der Machtübernahme auf nationalsozialistischer Seite durch Alfred Rosenberg geäußert worden war. Der Aufsatz Gegen Tarnung und Verfälschung verdeutlicht, problematisch für den nationalsozialistischen Chefideologen war vor allem, dass Moellers
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Osten, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 11. Jg., Berlin und Leipzig 1935; Curt Hotzel, Moeller van den Bruck. Der Verkünder des Dritten Reiches, in: Der deutsche Erzieher, 3. Jg., Heft 21, 25.05.1935; Wilhelm Rößle, Politisches Sehertum. Zum 10. Todestag von Moeller van den Bruck, in: Das Deutsche Wort, 11. Jg., Nr. 23, 09.06.1935; Wilhelm Rößle, Konservativer Revolutionär. Zum 10. Todestage von Möller van den Bruck, in: Berliner Börsen-Zeitung, 30.05.1935; Wilhelm Rößle, Überwindung und Ausschau. Zum Gedächtnis an Moeller van den Bruck, in: Deutsches Adelsblatt, 53. Jg., Nr. 23, 01.06.1935; Hans Schwarz, Moeller van den Bruck zum Gedächtnis, in: Hochschule und Ausland, 13. Jg., Heft 6, Juni 1935; Franz Strauß, Moeller van den Bruck, der Künder des Dritten Reiches. Sein Werk, in: Deutsches Bildungswesen, 3. Jg., Nr. 1, Januar 1935. Prospekt der Hanseatischen Verlagsanstalt, zitiert nach: Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 149. Verlagsanzeige in: Moeller van den Bruck, Der politische Mensch (hg. von Hans Schwarz), Breslau 1933. Lucy Moeller van den Bruck an den Ministerpräsident (Hermann Göring), Briefentwurf in: NL Moeller van den Bruck, SB Berlin 12/69 Bl. 1. Im Wortlaut: „Sie hatten die Güte, mein Anliegen – ein nationalsozialistisches Moeller van den Bruck-Archiv – dem Kultusministerium mit ihrer Genehmigung zu überweisen. Wenn ich meinem Dank an Sie erst heute nach Monaten der Vorbereitung des Archivs Ausdruck gebe, geschieht es in der Hoffnung, Sie bitten zu dürfen, auch weiterhin diese nationale Arbeitsstelle unter ihren hohen Schutz zu nehmen. [...] Moeller van den Bruck war der Auffassung, dass unsere deutsche Revolution für die jungen Völker zukunftsbestimmend sein würde. Sie aber, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, durch die Vorsehung schicksalshaft mit Schweden verbunden, geben mir immer wieder den Glauben an Ihre Berufung, diesen Nord-Ostraum politisch von Preußen zu gestalten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Sache Moeller van den Brucks, die eine Sache der Zukunft ist, Ihr Interesse und der Stätte die Ehre ihres Besuchs schenken würden“ (ebd.). Vgl. Oswald von Nostitz, Ein Preuße im Umbruch der Zeit. Hans Schwarz 1890–1967, Hamburg 1980, S. 312.
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„Prägung vom ‚Dritten Reich‘ [...] heute Allgemeingut geworden“ sei, was viele „verführt [...], in ihm, wie es jetzt heißt, einen eindeutigen Künder des Nationalsozialismus zu erblicken“.150 Wiewohl der inzwischen volkstümliche Begriff von Hitler selbst kaum verwandt151 und „auch amtlich nur selten davon [vom Dritten Reich] gesprochen worden“152 sei, sah Rosenberg die Bewegung um die Urheberschaft an dem Begriff gebracht und suchte daher Moeller nicht als „Schirmherrn“ der Nationalsozialisten, sondern einer ausschließlich „rein abstrakt[...] literarische[n] Strömung“153 vorzustellen. Es scheint Reaktionen auf diese Stellungnahme Rosenbergs gegeben zu haben. Klemens von Klemperer berichtet, dass bereits 1935 in bewusster Abgrenzung von Moeller der Begriff „Drittes Reich“ für den nationalsozialistischen Staat kurzfristig für unzulässig erklärt wurde.154 Rosenberg selbst wurde tätig, indem er die Aufsatzsammlung Rechenschaft über Rußland beschlagnahmen ließ.155 Dass die Nationalsozialisten den oben skizzierten Annäherungsversuchen nicht eben aufgeschlossen gegenüberstanden, bestätigt ferner eine Besprechung von Der politische Mensch, die am 17.01.1934 ebenfalls im Völkischen Beobachter erschien. Unter dem Titel Gegen Verfälschung wurde hier gegen die von Schwarz initiierte Lesart der Werke Moellers mit deutlichen Worten Stellung bezogen: „Seit der Auflösung aller politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen, die im nationalsozialistischen Staatsaufbau keine Existenzberechtigung haben, vollzieht sich ein bemerkenswerter Prozeß. Man kann ihn den Versuch der intellektualistischen Verwässerung und ‚Neutralisierung‘ des Nationalsozialismus nennen. Damit sind alle jene Vorgänge gemeint, wo auf der neuen, gesicherten Grundlage des nationalsozialistischen Staats unfruchtbaren und überholten Anschauungen erneut Geltung verschafft werden soll – und dies noch dazu gerne unter dem Schutz einer mißbrauchten nationalsozialistischen Forderung.“156
Danach war es ein Beitrag von Wilhelm Rößle in der Berliner Börsen-Zeitung, wie auch ein im Hamburger Fremdenblatt (anonym) veröffentlichter Aufsatz, der, da er 150 151 152
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Ebd., S. 65 f. Vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 1998, S. 158 f. Vgl. Georg Büchmann u. Werner Rust (Hg.), Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, Ges. und erl. v. Georg Büchmann. Volksausgabe nach der v. Gunther Haupt u. Werner Rust herausgegebenen 29. Aufl. d. Hauptwerkes bearb. v. Werner Rust, Berlin 1943, S. 404. Ebd., S. 65 f. Vgl. Klemens von Klemperer, Moeller van den Bruck, in: Neue Deutsche Biographie (hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), Bd. 17, Berlin 1994, S. 650–652. Endgültig verboten wurde der Begriff „Drittes Reich“ im Sommer 1939 durch mehrere aufeinanderfolgende Presseanweisungen (vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin/New York 1998, S. 159 f). Vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 150. Walter Schmitt, Gegen Verfälschung, in: Völkischer Beobachter, 17.01.1934.
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eine Verbindung zwischen Moeller und den Nationalsozialisten zu konstruieren versuchte, die nationalsozialistische Kritik auf den Plan rief. Konkret meinte Rößle, „daß der eine [Hitler] für die Tat geboren ist, der andere [Moeller] für das Denken der Tat“.157 Der Völkische Beobachter nannte ein solches Vorgehen eine „ebenso dumme wie dreiste Gegenüberstellung“. Die deutsche Revolution sei „nicht nur das politische, sondern auch das alleinige geistige Werk Adolf Hitlers“.158 Das SS-Organ Das schwarze Korps nahm die beiden Gedenkartikel zum Anlass für eine ähnlich harsche Kritik. Zwar wurde der Verfasser des Dritten Reiches darin als ein „Wegbereiter“ ausdrücklich gewürdigt, den Exegeten Moellers wurde jedoch vorgeworfen, sie würden als elitäre Sektierer die originäre Leistung des Führers in Frage stellen: „Sie [die ‚Jünger‘ Moellers] fühlten sich als die geistig Überlegenen und kehrten das heraus, wo sie konnten. Sie theoretisierten und diskutierten über die Probleme der Politik und meinten, jener Kampf auf der Straße, jene Auseinandersetzung im Versammlungslokal, jene Unduldsamkeit der nationalsozialistischen Bewegung, die nichts kannte neben sich, sei ungeistig [...]. Mit unerbittlicher Härte hat der Führer den Trennungsstrich zwischen sich und dieser Art völkischer Propheten gezogen. Und die Nachfahren Moeller van den Brucks gehören dazu.“159
Allen diesen Polemiken ist gemein, dass sie in erster Linie die von Moellers geistigen Erben angeregte Neuinterpretation seiner Schriften angriffen. Auf nationalsozialistischer Seite befürchtete man, die originäre Denkart des Führers könne hierdurch in Zweifel gezogen werden. Daher gab man vor, den „wahren“ Moeller vor den Verfälschungen seiner Jünger in Schutz nehmen zu wollen. Lediglich das von Wilhelm Seddin verfasste Pamphlet Preußentum gegen Sozialismus (1935) fügt sich nicht in dieses Muster. Moeller wurde darin als „Schreiber“ herabgesetzt. Seddin erhob sogar den vernichtenden Vorwurf: „Sowohl die Betrachtungsweise wie die Zielrichtung Moellers stammen nicht aus deutscher Geistigkeit.“160 Neben diesen Angriffen161 wurde die Auseinandersetzung mit Moeller auch an den Universitäten geführt. Bereits 1936 erschien die Dissertation von Woldemar Fink, in der Moellers Rolle als „geistige[r] Vater der Ostideologie“162 dargestellt wurde. Moeller erscheint darin als ein wirklichkeitsfremder Dilettant163, der starke
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Wilhelm Rößle, Konservativer Revolutionär. Zum 10. Todestag von Moeller van den Bruck, in: Berliner Börsen-Zeitung, 30.05.1935. Anonym, Möller van den Bruck und die nationalsozialistische Revolution, in: Völkischer Beobachter, 04.06.1935. Anonym, Wer ist der Künder des Dritten Reiches?, in: Das schwarze Korps, 1. Jg., Heft 14, 05.06.1935. Wilhelm Seddin, Preußentum gegen Sozialismus, Berlin 1935, S. 41. Vgl. auch Wilhelm Seddin, Nachwort zu Moeller van den Bruck, in: Wille und Macht, 3. Jg., Heft 23, 01.12.1935, S. 1–6. Woldemar Fink, Ostideologie und Ostpolitik. Die Ostideologie als Gefahrenmoment in der deutschen Außenpolitik, Berlin 1936, S. 9. Vgl. Volker Weiß, Dostojewskijs Dämonen. Thomas Mann, Dimitri Mereschkowski und Arthur Moeller van den Bruck im Kampf gegen „den Westen“, in: Völkische Bande. Dekadenz
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Sympathien für die Sowjetunion gehegt habe. So behauptete Fink, dass auch in Das dritte Reich „der ‚nahe Osten‘, die Sowjetunion, wieder im Vordergrund“ stünde: „Formulierungen einzelner Begriffe wie ‚reaktionär‘, ‚sozialistisch‘, ‚proletarisch‘, ‚liberalistisch‘, ‚konservativ‘, oder ‚nationalistisch‘ überdecken nicht die immer wieder mit Konsequenz interpretierte Sowjetunion.“164 Überdies warf er Hans Schwarz vor, Moeller in Übereinstimmung mit Karl Radek, und damit auch mit dem Bolschewismus, gesetzt zu haben.165 Durch seine Ausführungen wollte Fink einen möglichst unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Sympathien für den „Osten“ und einer Neigung zum Bolschewismus herstellen, so dass er Moellers Ostideologie als ein „Gefahrenmoment der deutschen Außenpolitik“ (Untertitel) darstellen konnte. Drei Jahre nach Finks Arbeit erschien die Dissertation Helmut Rödels, die als anerkannte Stellungnahme der NSDAP zu den Schriften Moellers gelten kann.166 Die Schrift sollte die unüberwindlichen Differenzen zwischen der nationalsozialistischen Weltanschauung und der „Gedankenwelt Moellers“ aufzeigen und letztere am Schluss als „eine wirklichkeitsfremde Ideologie“ erscheinen lassen.167 Symptomatisch für die Intentionen des Autors ist, wie Moellers Stellungnahmen zu Raum und Rasse als Triebkräfte der Geschichte gegeneinander gewogen werden. Während Rödel Moellers Thesen von der „Macht des Ortsgeistes“168 (vgl. 5.4.3.) als „kosmologische Romantik“169 qualifizierte, wurde die Diskussion des Rassebegriffes, „dem Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung“170, von ihm zum „Prüfstein für alle ‚Auch‘-Nationalsozialisten“171 und somit auch für Moeller erhoben. Vor allem anhand von im Gewissen erschienenen Aufsätzen suchte Rödel nachzuweisen, dass dessen „Rassenansicht [...] im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Tatsachen“172 stehe und Moeller im Unterschied zu maßgeblichen Autoren wie Gobineau, Chamberlain und Woltmann ein Gegner der „Rassereinheit“173 sei. Anstoß erregten dabei vor allem jene Passagen einer Entgegnung auf eine Leserzuschrift, in denen Moeller wider das von Hitler postulierte Ideal der rassischen Reinheit174 den Primat der „geistigen Rassengehörigkeit“175 behauptete. Sie veran-
164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174
und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie (hg. von Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul), Münster 2005, S. 90–122, hier 114. Woldemar Fink, Ostideologie und Ostpolitik. Die Ostideologie als Gefahrenmoment in der deutschen Außenpolitik, Berlin 1936, S. 12. Ebd., S. 13. Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939. Ebd., S. 7. Moeller van den Bruck, Die italienische Schönheit, München 1913, S. 373. Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939, S. 70. Ebd., S. 7. Ebd., S. 41. Ebd., S. 54. Ebd., S. 44. Vgl. Claus-Ekkehart Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998, S. 272.
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lassten Rödel zu dem Fazit, dass von Moellers „‚Rasse‘ als einem rein geistigen Prinzip [...] kein Weg zu der Rasse als Einheit von ‚Naturgeschichte und Seelenmystik‘ (Rosenberg), wie sie der Nationalsozialismus erkannt hat“176 führe. Daher sei der Autor von Das dritte Reich kein „Seher und Künder des ‚Dritten Reiches‘“177 im Sinne des Nationalsozialismus. Schlussendlich war aber nach Auffassung Rödels Moellers letztes Buch vor allem beispielhaft dafür, dass dessen Gedankenwelt „mit der tatsächlichen Entwicklung der Geschichte und mit nüchterner Realpolitik nichts zu tun hat“.178 Zwar räumte Rödel ein, dass Moeller, da dieser mit seinem Dritten Reich einen verdienstvollen Beitrag im Kampf gegen die Republik, gegen Liberalismus und Parlamentarismus geleistet habe, in den Jahren kurz vor und nach der Machtübernahme nicht ohne Grund „weiten Kreisen als der große geistige Verfechter des Nationalsozialismus erscheinen konnte“179, doch machte er unmissverständlich klar, dass Moellers Schrift wegweisend nur in der Feindbestimmung sei: „Es ist mehr eine kritische Sichtung des Vorhandenen als der konstruktive Aufbau eines Neuen und stellt in erster Linie eine Abrechnung mit jenen Mächten dar, die der Errichtung des Reiches feindlich oder hinderlich sind: Liberalismus, demokratischer Parlamentarismus und Reaktion.“180 Dass sich im Positiven hingegen kaum Übereinstimmungen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung fänden, wurde nach Ansicht Rödels in den divergierenden Sozialismuskonzeptionen deutlich. Demnach widerlegten die von den Nationalsozialisten geschaffenen Tatsachen Moellers Auffassung vom außenpolitischen Primat des Sozialismus: „Der deutsche Aufbau nach 1933 ist der schlagende Beweis gegen die Moellersche These vom Vorrang eines ‚außenpolitischen‘ vor einem ‚innenpolitischen‘ Sozialismus: Deutschland hat keinen Quadratmeter Boden von anderen Mächten erhalten, und doch hat es einen straffen inneren Aufbau nach leistungsfähigen Grundsätzen durchgeführt, in dem jeder an den Platz gestellt wird, wo seine Kräfte am ehesten dem Volksganzen zugute kommen.“181
Doch soll der wiederholte Verweis auf die Erfolge des nationalsozialistischen Staates nicht allein die Realitätsnähe der nationalsozialistischen Weltanschauung belegen. 175
176 177 178 179 180 181
Moeller hatte im Gewissen geschrieben: „Die Rasseanschauung muß sich eine Rechenschaft darüber geben, daß sie sich in unlösbare Widersprüche verstrickt, wenn sie Rasse nur in dem biologischen Sinne begreift, in dem sie Rasse durch Ehen züchten will [...]. Diese Rassenanschauung ist mystisch gemeinte Aufklärung, Rationalismus, Naturwissenschaft. Ihre Widersprüche lösen sich erst, wenn wir das Problem der Rasse von einer biologischen Ebene auf die geistige Ebene erheben – auf die Ebene der geistigen Werte, die wir durch zwei Jahrtausende in uns aufgenommen haben. Die geistige Rassezugehörigkeit gehorcht anderen Gesetzen als die biologische Rassezugehörigkeit“ (Moeller van den Bruck, Rasse, in: Gewissen, 6. Jg., Nr. 17, 28.04.1924). Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939, S. 54. Ebd., S. 42. Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Ebd., S. 137. Ebd., S. 141.
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Vielmehr bestätigte Rödel auch, dass das Dritte Reich Moellers als „protestantischsäkularisiertes Gegenstück“ zum Heiligen Römischen Reich „katholischuniversalistischer Prägung“182 im Wesentlichen den gestrigen Wunschvorstellungen eines elitären Schriftstellers entsprungen sei. So lief Rödels Gegenüberstellung von moellerscher „Gedankenwelt“ und nationalsozialistischer „Realität“ letztlich darauf hinaus, dem Nationalsozialismus alle Attribute der Modernität zu verleihen, die man Moeller und dem von ihm im Dritten Reich propagierten Konservatismus verweigerte, weshalb beide nun wieder sauber voneinander geschieden werden könnten und Moeller selbst nicht mehr erster „,Seher und Künder des Dritten Reiches‘ [...], sondern ‚letzter Konservativer‘“183 sei. Mit Rödels Dissertation war die Moeller-Rezeption der Nationalsozialisten beendet. In der offiziellen Nationalsozialistischen Bibliographie wurde die Schrift wie folgt gewürdigt: „Unter Herausstellung der fundamentalen Grundwerte von Rasse und Volk schafft Rödel eine klare Abgrenzung, die verhindert, daß Moeller van den Bruck noch länger als das herausgestellt wird, was er niemals war und auch nicht sein wollte: ‚Der geistige Begründer unseres nationalsozialistischen Dritten Reiches‘.“184 Der Eintrag verdeutlicht, dass Moeller das Schicksal vieler konservativer Revolutionäre teilte. Wie beispielsweise Hans Zehrer, Ernst Niekisch oder Edgar Julius Jung schien er zunächst ein Verbündeter der „Bewegung“, um dann, im Zuge des machtpolitischen und ideologischen Konsolidierungsprozesses, wieder ausgeschlossen und ins Abseits gestellt zu werden, mit dem Unterschied, dass man den Verstorbenen weder internieren (Niekisch) noch umbringen (Jung) musste. In diesem Sinne weist die Kritik der Nationalsozialisten zunächst darauf hin, dass die Summe der geteilten politischen Optionen zwar nicht kleiner geworden war, einzelne Aspekte aber an Relevanz verloren hatten. Das System von Versailles wie auch die Weimarer Republik hatten aufgehört zu existieren, so dass die gemeinsame Gegnerschaft den Nationalsozialisten nichts mehr bedeutete. Ferner hatten sowohl die kontinentalhegemonialen Träume als auch der integrale Nationalismus an auszeichnender Kraft verloren, so dass Moeller immer deutlicher der dem NS-Regime eigenen Tendenz zur „kumulativen Radikalisierung“185 zum Opfer fiel. Dieser entsprach zum einen, dass die von Rödel herausgearbeiteten Differenzen wichtiger wurden als die von Goebbels bemerkten Übereinstimmungen. Darüber hinaus schienen die maßgeblichen Ideologen zu ahnen, dass Moellers Schriften auch ein ideelles Potenzial zur Aktivierung von Widerstandshaltungen im nationalkonservativen Lager enthielten. Dass die Wirkungsgeschichte Moellers bis in den Deutschen Widerstand gegen Hitler reicht, ist zuletzt von Nicolai Hammersen nachgewiesen worden. Dieser konstatiert, dass führende Exponenten der nationalkonservativen Opposition, wie Fritz182 183 184
185
Ebd., S. 148. Ebd., S. 164. Nationalsozialistische Bibliographie. Monatshefte der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums (hg. von Philipp Bouhler (Reichsleiter), 4. Jg., Heft 9, September 1939, S. 15. Zum Begriff der „kumulativen Radikalisierung“ vgl. Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 81 u. 198.
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Dietlof Graf von der Schulenburg186, Adam von Trott zu Solz187 und Ulrich von Hassell188 von Moellers Ideen geprägt waren.189 So sei deren Bild von einem „Sonderbewußtsein“ der Deutschen auch durch Moellers Aufsätze, die eine Ostorientierung beschwören, bestimmt worden.190 Affinitäten zu den Standpunkten Moellers ließen sich Hammersen zufolge jedoch auch in der Liberalismus-191 und Parlamentarismuskritik192 sowie im Konservatismusverständnis193 einzelner Opponenten nachweisen. Da Moeller somit einen unbestreitbaren Einfluss auch auf das antiliberale Gesellschaftsmodell des Deutschen Widerstands gehabt hat, steht man vor dem Paradox, dass er Ideengeber sowohl der Nationalsozialisten als auch ihrer nationalkonservativen Gegner war. Daher ist die Frage, wie Moellers Werk in Bezug auf die Entfaltung des NSRegimes zu positionieren ist, nur historisch differenzierend zu beantworten. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Nachdem Moellers Schriften in der staatspolitischen und wirtschaftlichen Krise (1930–1933) an Aktualität gewonnen hatten und er auch von breiteren Schichten als Gegner der Republik und Urheber des „Dritten Reiches“ wahrgenommen wurde, entbrannte zunächst ein Streit darüber, wie denn das Werk Moellers zu deuten sei. Während insbesondere sein Herausgeber (Hans Schwarz) sowie seine zweite Ehefrau (Lucy Moeller van den Bruck) Moeller zu einem bis dato verkannten Vordenker des Nationalsozialismus erklärten, hoben die dem Herrenklub nahestehenden jungkonservativen Autoren (Max Hildebert Boehm, Edgar Julius Jung) auf das aristokratische Selbstverständnis Moellers ab, welches mit der Straßendemagogie des Nationalsozialismus unvereinbar sei. Die Rezeptionszeugnisse belegen, dass Schwarz sich in dieser Auseinandersetzung durchgesetzt hat. Nach der Machtergreifung entstand dann, durch die von Schwarz verantworteten Ausgaben gefördert, das Bild des „Wegbereiters“ des Nationalsozialismus. Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass Das dritte Reich als notwendiger Kulminationspunkt von Moellers Lebenswerk gedeutet wurde. Bis zu seinem zehnten Todestag war Moeller als ein visionärer Vordenker bekannt, der früh schon gegen das Defizit an nationalpolitischem Bewusstsein angeschrieben hatte, hierdurch die „nationale Erhebung“ von 1933 mit initiierte und dessen politische Vorstellungen nun von den Nationalsozialisten umgesetzt würden. Begünstigt wurde diese Art der Legendenbildung da186 187
188
189 190 191 192 193
Zu den Positionen Schulenburgs vgl. Klaus-Jürgen Müller, Preußische Elemente im Deutschen Widerstand, in: Revue d‛Allemagne, 19. Jg., Heft 3, 1987, S. 267–277, bes. 275 ff. Trotts Kenntnis der Schriften Moellers ist durch eine Besprechung von Das ewige Reich belegt: Adam von Trott zu Solz, Moeller van den Bruck, in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt, 67. Jg., Nr. 28, 15.07.1934. Hassell gehörte der Ring-Bewegung an, vgl. Hans-Joachim Schwierskott, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962, S. 168. Vgl. Nicolai Hammersen, Politisches Denken im deutschen Widerstand. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914–1944, Berlin 1993, S. 30. Ebd., S. 92. Ebd., S. 134. Ebd., S. 156. Ebd., S. 120.
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durch, dass Moeller bereits 1925 „aus dem Leben geschieden“ war. Dies gestattete es seinen Biographen, ihn als einen „Zu-früh-Verstorbenen“ zu schildern, der, würde er noch leben, an der Ausgestaltung des „Dritten Reiches“ mitarbeiten würde.194 Die Nationalsozialisten erkannten in solchen Ausdeutungen zunächst den Versuch einer „rein abstrakt[...] literarische[n] Strömung“195, den alleinigen Führungsanspruch der NSDAP zu bestreiten. Moeller selbst wurde anfangs von dieser Art der Kritik noch ausgenommen. Erst als die für den Prozess der „kumulativen Radikalisierung“ repräsentative Verfolgung der Juden mit der Reichspogromnacht (09.11.–10.11.1938) in ein neues Stadium trat, wurden nationalsozialistische Autoren auf die nach ihrer Meinung defizitäre „Rassenanschauung“ Moellers aufmerksam. Beispielhaft hierfür ist die Dissertation Helmut Rödels. Nachdem er Moellers Auffassung von der Bedeutung der Rasse als unwissenschaftlich bestimmt hatte, konstatierte Rödel, dass die „rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates [...] nur die Folgerungen“ der aus „exakter Einzelforschung gezogenen Folgerungen“ darstellten.196 Der nationalkonservative Deutsche Widerstand hingegen begann sich erst im Zuge der nicht zuletzt durch diese „Maßnahmen“ beschleunigten Zerstörung von Rechtsnormen und zunehmender Gräueltaten zu konstituieren. Zu den Voraussetzungen des Zusammenhalts der einzelnen Widerstandsgruppen gehörten in einem hohen Maße Abscheu und moralische Integrität, aber auch militärische und politische Illusionen197, wie sie sowohl durch Moellers Darstellung des „konservativen Menschen“ als auch durch die von ihm propagierte Ostorientierung genährt wurden. Wiewohl es Moeller nicht rehabilitiert, ist zu konstatieren, dass sein Werk noch am Ende seiner Wirkungsgeschichte die oppositionelle Haltung einer elitären Minderheit beeinflusst hat. Es ginge jedoch zu weit, Moeller allein als geistigen Wegbereiter des Deutschen Widerstands zu beschreiben. Eine solche Beurteilung übersähe, dass er selbst noch jene Geister begrüßte, die zu bekämpfen die Nationalkonservativen sich lange nicht entschließen konnten. Moellers Schriften waren vielmehr mit ursächlich dafür, dass weite Kreise der deutschen Bevölkerung für die nationalsozialistische Revolution geistig und seelisch empfänglich waren. Sie bestärkten die Deutschen zunächst einmal darin, der demokratischen Republik die geistige Unterstützung zu versagen, und lieferten den Nationalsozialisten wichtige Vorlagen für deren politische Agitation. Trotz seiner singulären Verdienste ist Moeller daher heute zu Recht als eine problematische Gestalt der deutschen Geistesgeschichte bekannt. 194
Vgl. Paul Fechter, Moeller van den Bruck. Ein politisches Schicksal, Berlin 1934, S. 78. Vgl. Alfred Rosenberg, Gegen Tarnung und Verfälschung (erstmals in: Völkischer Beobachter, 08.12.1933), in: Blut und Ehre (hg. von Thilo von Trotha), München 1936, S. 15–19, hier 16 f. 196 Helmut Rödel, Moeller van den Bruck. Standort und Wertung, Berlin 1939, S. 52. 197 Vgl. Manfred Messerschmidt, Motivationen der nationalkonservativen Opposition und des militärischen Widerstands seit dem Frankreich-Feldzug, in: Klaus-Jürgen Müller (Hg.), Der deutsche Widerstand 1933–1945, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl., Paderborn u. a. 1986, S. 60–78, hier 77. 195
9. Bibliographie
9.1. Schriften Moeller van den Brucks 9.1.1. Bücher und Flugschriften – Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen, 12 Bde., Berlin u. Leipzig 1899–1902. – Die moderne Literatur, Berlin und Leipzig 1902. – Das Varieté, Berlin 1902. – Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte, 8 Bde., Minden 1904–1910. – Das Théâtre Français. In: Hagemann, Carl (Hg.): Das Theater, Bd. 14, Berlin und Leipzig o. J. (1905). – Die Zeitgenossen. Die Geister – Die Menschen, Minden 1906. – Nationalkunst für Deutschland. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 1, Berlin 1909. – Erziehung zur Nation. Flugschriften des Vaterländischen Schriftenverbandes, Flugschrift Nr. 13., Berlin 1911. – Die italienische Schönheit, 1. u. 2. Aufl., München 1913. – Belgier und Balten. In: Jäck, Ernst (Hg.): Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften, Heft 59, Stuttgart und Berlin 1915 [ein Auszug ist abgedruckt in „Das Recht der jungen Völker“, Breslau 1932]. – Der preußische Stil, 1. Aufl. München 1916. – Das Recht der jungen Völker, München 1919. – Konservativ. In: Ring. Flugschrift, Berlin 1921. – Schuld am Kriege? 60 Selbstzeugnisse der Entente (hg. von Moeller van den Bruck), Berlin 1922. – Der preußische Stil, 2. Aufl., München 1922. – Das dritte Reich, 1. Aufl. Berlin 1923. – Was sagt die rote Fahne? In: Ring. Flugschrift, Berlin 1923. – Das dritte Reich (Hg. Moeller van den Bruck, Lucy), 2. Aufl., Berlin 1926. – Die italienische Schönheit (Hg. Schwarz, Hans), 3. neubearbeitete Aufl., Stuttgart und Berlin 1930. – Der preußische Stil (Hg. Schwarz, Hans), 3. Aufl., Breslau 1931. – Das dritte Reich (Hg. Schwarz, Hans), 3. Aufl., Hamburg 1931. – Jedes Volk hat seinen eigenen Sozialismus [Auszug aus: Das Dritte Reich], Oldenburg 1931. – Das Recht der jungen Völker (Hg. Schwarz, Hans), Aufsatzsammlung, Breslau 1932 [unter 9.1.2. RdjV]. – Der politische Mensch (Hg. Schwarz, Hans), Aufsatzsammlung, Breslau 1933 [unter 9.1.2. DpM].
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Bibliographie
– Sozialismus und Außenpolitik (Hg. Schwarz, Hans), Aufsatzsammlung, Breslau 1933 [unter 9.1.2 SuA]. – Rechenschaft über Rußland (Hg. Schwarz, Hans), Aufsatzsammlung, Breslau 1933 [unter 9.1.2. RüR]. – Potsdam (hg. von Paul Winter), [Auszug aus: Der preußische Stil, 2. Aufl.], Bielefeld und Leipzig 1933. – Das ewige Reich (Hg. Schwarz, Hans), 3. Bde. [von Schwarz überarbeitete und gekürzte Fassung von: Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte], Breslau 1933– 1935. – Moeller van den Bruck, der Seher und Deuter des dritten Reiches. Auswahl aus seinen Schriften (Hg. Gotthardt, W.), Paderborn und Würzburg 1934. – Der preußische Stil (Hg. Moeller van den Bruck Archiv), 4. Aufl. München 1953. – Richard Wagner. In: Ruf aus deutscher Vergangenheit, Nr. 28, [Auszug aus: Die Deutschen. Unsere Menschheitsgeschichte], Kiel 1961. – Rasse und Nation, Meinungen über deutsche Dinge, Der Untergang des Abendlandes. (Hg. Grunewald, Michel). In: Grunewald, Michel: Moeller van den Brucks Geschichtsphilosophie, Bd. 2., Bern u.a. 2001.
9.1.2. Aufsätze und Artikel – de profundis. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik, 12. Jg., Mai 1896, S. 663–669. – Vom modernen Drama. In: Die Gesellschaft, 12. Jg., Juni 1896, S. 931–938. – Der Mitmensch. In: Die Gesellschaft, 12. Jg., September 1896, S. 1201–1206. – Richard Dehmels Lyrik. In: Die Gesellschaft, 13. Jg., Leipzig, Februar 1897, S. 245– 255. – Johannes Schlaf. In: Die Gesellschaft, 13. Jg., Leipzig, November 1897, S. 154–165. – Johannes Schlafs drei Essays. In: Magazin für Litteratur, 67. Jg., Nr. 18, 07.05.1898, 416–420. – Arno Holz und die neue Lyrik. In: Magazin für Litteratur, 67. Jg., Nr. 27, 09.07.1898. – Alfred Mombert. In: Magazin für Litteratur, 68. Jg., Nr. 44, 04.01.1899, S. 1036–1044. – Richard Dehmel. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, 22. Jg., Bd. 88, Heft 263, Februar 1899, S. 162–172. – Frank Wedekind. In: Die Gesellschaft, 15. Jg., April 1899, S. 244–252. – Zur Kunst des Hintergrundes. In: Wiener Rundschau. Zeitschrift für Cultur und Kunst, 3. Jg., Heft 18, 1899, S. 435–437. – Grabbe und was von ihm bleibt. In: Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst, 2. Jg., Heft 3, Dezember 1901, S. 14–20. – Gegen Cléo de Mérode. In: Freistatt. Kritische Wochenschrift für moderne Kultur, 4. Jg., Heft 45, 09.11.1902. – Schicksalsspiel gegen Gesellschaftsspiel. In: Freistatt, 4. Jg., Heft 47, 23.11.1902. – Georg Büchner. In: Die Rheinlande. Düsseldorfer Monatshefte für deutsche Art und Kunst, 4. Jg., Heft 3, Dezember 1902. – Keinerlei Kunst. Ein Pariser Brief. In: Freistatt, 5. Jg., Heft 6, 02.07.1903.
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– Hermann Bang. Ein ironischer Dichter aus Dänemark. In: Nord und Süd, 26. Jg., Bd. 104, Heft 311, Februar 1903. – Herbert Eulenberg. Deutscher Marlowgeist. In: Freistatt, 5. Jg., Nr. 14, 04.04.1903. – J. M. R. Lenz. In: Die Kultur, 1. Jg., Heft 23, Juni 1903, S. 1468–1476. – Zur Entwicklung der Ästhetik. In: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Januar 1904, S. 5–8. – Hugo von Hofmannsthal. In: Die Rheinlande. Düsseldorfer Monatshefte für deutsche Art und Kunst, 4. Jg., Heft 6, März 1904. – Ein vlämischer Erzähler. In: Magazin für Litteratur, 73. Jg., April 1904, S. 197–199. – Zum Wesen der Karikatur. In: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Mai 1904, S. 251–253. – Tolstoi, Dostojewski und Mereschkowski. In: Magazin für Litteratur, 73. Jg., Juni 1904, S. 304–308. – Von der modernen Novelle. In: Nord und Süd, 27. Jg., Bd. 110, Heft 328, Juli 1904, S. 79–85. – Moderne Literatur, modernes Leben – Ein Gegensatz. In: Der Kunstwart, 17. Jg., Heft 23, September 1904, S. 453–457. – Die Komödie. In: Die Rheinlande. Düsseldorfer Monatshefte für deutsche Art und Kunst, 4. Jg., Heft 13, Oktober 1904. – Bemerkungen über Zuloaga. In: Jugend. Münchener illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 10. Jg., Heft 9, Februar 1905. – Die Ueberschätzung französischer Kunst in Deutschland. In: Kunstwart, 18. Jg., Heft 22, 15.08.1905, S. 501–508. – Der Excentrik. Eine Studie über die komische Figur unserer Zeit. In: Nord und Süd, 29. Jg., Bd.115, Heft 343, Oktober 1905. – Emil Strauß, ein deutscher Erzähler. In: Deutschland, Monatsschrift für die gesamte Kultur, 4. Jg., Heft 5 u. 6, Februar u. März 1906. – Bemerkungen über Rodin. In: Jugend. Münchener illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, 11. Jg., Heft 47, November 1907. – Weltliteratur, Nationalliteratur und das Verhältnis der Völker. In: Werdandi. Monatsschrift für deutsche Kunst und Wesensart für den deutschen Werdandibund, 1. Jg., Heft 4/5, April/Mai 1908 S. 38–45. – Rassenanschauung. In: Der Tag, 09.07.1908 [RdjV]. – Berliner Möglichkeiten. In: Der Tag, 13.01.1909. – Poe. Zum 100. Geburtstage des Dichters. In: Frankfurter Zeitung, 19.01.1909. – Der Fürst. In: Werdandi. Monatsschrift für deutsche Kunst und Wesensart für den deutschen Werdandibund, 2. Jg., Heft 1, Januar 1909 [unter dem Titel „Die Berechtigung des Fürsten“ in MüdD]. – Das Mäzenat der Nation. In: Werdandi. Monatsschrift für deutsche Kunst und Wesensart für den deutschen Werdandibund, 2. Jg., Heft 2, Februar 1909. S. 8 f. – Beethoven-Halle und Bach-Chor. In: Der Tag, 25.02.1909. – Theodor Däubler. In: Der Tag, 24.03.1909. – Feuer an Alexandria. In: Der Tag, 22.06.1909 [MüdD]. – Der Mut zur neuen Weltanschauung. In: Der Tag, 10.12.1909 [MüdD]. – Der nationale Mensch moderner Zeit. In: Der Tag, 31.12.1909 [MüdD]. – Die Größe eines Volkes. In: Der Tag, 19.01.1910. – Einheit im Städtebau. In: Der Tag, 03.02.1910. – Preußentum und Ungenialität. In: Der Tag, 03.03.1910.
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9.1.3. Anonym bzw. unter Pseudonym publizierte Beiträge1 – Anonym: Was ist der Ring: Merk- und Werbeblatt. In: Gewissen, 2. Jg., Nr. 49. 12.12.1920.* – Sterling: Deutsche Energiewirtschaft. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 30, 25.07.1921. – Sterling: Der Tigerritt. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 32, 08.08.1921. – Sterling: Pleite. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 33, 15.08.1921. – Sterling: Nachlaßverwaltung. In: Gewissen. 3. Jg., Nr. 36, 05.09.1921. – Wilhelm Osterling: Zum Görlitzer Parteitage. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 39, 26.09.1921 – Osterling: Aussichten. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 41, 10.10.1921. – Osterling: Reich der Mitte. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 45, 07.11.1921. – Osterling: Im Anfang war die Tat. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 47, 21.11.1921. – Anonym: Die neue Front. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 51, 19.12.1921.* – Osterling: Julklapp. In: Gewissen, 3. Jg., Nr. 52, 26.12.1921. – Anonym: Die Schuld. In Gewissen, 4. Jg., Nr. 4, 23.01.1922. – Osterling: Der Dolchstoß gegen die Erfüllungspolitik. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 6, 06.02.1922. – Osterling: Die große Illusion. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 8, 20.02.1922. – Von einem Rheinländer: Haß als Notwendigkeit. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 9, 27.02.1922. – Osterling: Stufenleiter. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 10, 06.03.1922. – Osterling: Die Steuern. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 11, 13.03.1922. – Anonym: Gerechtigkeit. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 14, 03.04.1922. – Anonym: Politik wider Willen. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 17, 24.04.1922.* – Anonym: Poincaré=Frankreich, In Gewissen, 4. Jg., Nr. 18, 01.05.1922. – Anonym: Kleine Anfrage wegen „Aktiver Politik“. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 19, 07.05.1922. – Anonym: Männer ohne Mut. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 20, 15.05.1922. – Anonym: Stagnation. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 21, 22.05.1922. – Anonym: Allenstein. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 22, 29.05.1922. – Anonym: Heuert. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 24, 12.06.1922. – Anonym: In demokratischer Gesellschaft. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 25, 19.06.1922. – Anonym: An die Rheinländer. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 26, 26.06.1922. – Trevir: Der Kampf ums Rheinland. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 26, 22.06.1922. – Anonym: Res publica. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 27, 03.07.1922. – Anonym: Not. In: Gewissen, 4. Jg.; Nr. 32, 02.10.1922. – Anonym: Schuld. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 33, 09.10.1922. – Anonym: Führerbesinnung. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 34, 16.10.1922. – Anonym: Italia docet. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 37, 06.11.1922.* – Anonym: Bayern. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 38, 13.11.1922. – Anonym: Widerstand. In: Gewissen, 4. Jg., Nr. 41, 04.12.1922. 1
Von den hier erfaßten 78 Beiträgen wurden fünf bereits von Hans-Joachim Schwierskott als von Moeller verfasst erkannt. Diese sind mit einem* gekennzeichnet. Bei den Übrigen sprechen Stil und Inhalt deutlich für eine Autorenschaft Moellers, obzwar diese nicht hundertprozentig gesichert ist.
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Bibliographie
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9.1.4. Editionen – E. A. Poe: Werke (herausgegeben von Hedda und Arthur Moeller-Bruck, 10 Bde., Minden 1901–1904. – Thomas de Quincey: Bekenntnisse eines Opium-Essers, aus dem Englischen übersetzt von Hedda u. Arthur Möller-Bruck, Berlin 1902. – Barbey d’Aurevilly: Finsternis (übertragen und herausgegeben von Hedda u. Arthur Moeller-Bruck), Berlin 1902. – Guy de Maupassant: Ausgewählte Novellen (aus dem Französischen übertragen von Hedda u. Arthur Moeller-Bruck, 6 Bde., Leipzig 1902–1907. – Michel Provins: Der letzte Flirt (aus dem Französischen übersetz von Hedda und Arthur Moeller-Bruck), Berlin 1902. – Daniel Defoe: Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders (übertragen und herausgegeben von Hedda u. Arthur Moeller-Bruck), München 1903. – F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Unter Mitarbeiterschaft von Dimitri Mereschkowski, Dimitri Philosophoff u.a. hg. von Moeller van den Bruck, 22 Bde., München 1905 ff. – H. J. Chr. v. Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus. Mit einer Einleitung von Moeller van den Bruck. In: Meisterromane der modernen Weltliteratur Bd. 8, Minden 1915. – Die neue Front: (gemeinsam mit H. v. Gleichen-Rußwurm und M. H. Boehm), Berlin 1922.
9.1.5. Die Einführungen in die Dostojewskij-Ausgabe – Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski. In: F. M. Dostojewski: Die Dämonen, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band, München 1906. – Zur Einführung. Bemerkungen über Dostojewski, als Dichter der Großstadt. In: F. M. Dostojewski: Aus dem Dunkel der Großstadt. 8 Novellen, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Zwanzigster Band, München 1907. – Die Voraussetzungen Dostojewskis. Zur Einführung in die Ausgabe (späterer Titel: Die slawische Rasse). In: F. M. Dostojewski: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne), Erste Abteilung: Erster Band, München 1908. – Vorwort. In: F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasoff, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Neunter Band, Leipzig und München 1908. – Zur Einführung. Bemerkungen über sibirische Möglichkeiten. In: F. M. Dostojewski: Aus einem Totenhaus. Aufzeichnungen, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Achtzehnter Band, München 1908. – Zur Einführung. Bemerkungen über russische Mystik. In: F. M. Dostojewski: Der Idiot, Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Dritter Band, München 1909. – Zur Einführung. Bemerkungen über den russischen Humor. In: F. M. Dostojewski: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner (Aufzeichnungen eines Unbekannten). Humoristischer Roman, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Sechzehnter Band, München 1909.
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– Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen. In: F. M. Dostojewski, Politische Schriften, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Dreizehnter Band, München 1917. – Petersburg und die Schönheit der Stadt. In: F. M. Dostojewski: Helle Nächte. Vier Novellen, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band, München 1917. – Bemerkungen über den russischen Humor (Neufassung). In: F. M. Dostojewski: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner (Aufzeichnungen eines Unbekannten). Humoristischer Roman, 2. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Sechzehnter Band, München 1917. – Der Nihilismus und die russische Revolution. In: F. M. Dostojewski: Die Dämonen, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Fünfter Band, München 1919. – Dostojewski in der Schule der Empfindsamkeit. In: F. M. Dostojewski: Die Erniedrigten und Beleidigten, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Neunzehnter Band, München 1920. – Dostojewski und das Westlertum. In: F. M. Dostojewski: Der Spieler – Der ewige Gatte. Zwei Romane, 3. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Einundzwanzigster Band, München 1920. – Dostojewski und der soziale Imperativ. In: F. M. Dostojewski: Arme Leute – Der Doppelgänger. Zwei Romane, 4. Aufl., Sämtliche Werke, Zweite Abteilung: Vierzehnter Band, München 1922. – Einführung in die Ausgabe. In: F. M. Dostojewski: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne), 4. Aufl., Sämtliche Werke, Erste Abteilung: Erster Band, München 1922.
9.2. Rezensionen, Autorenporträts, Briefe Adam, Reinhard: Moeller van den Bruck, Königsberg 1933. Andrae, August: Moeller van den Bruck, Das Theater Francais. In: Neue Philologische Rundschau, Nr. 21, Bd. 25, 14.10.1905. Anonym: Moeller van den Bruck. Der preußische Stil. In: Dekorative Kunst, 20. Jg., Nr. 8, Mai 1917, Beilage S. IV. Anonym: Moeller van den Bruck. Der preußische Stil. In: Das Kunstblatt, 2. Jg., Heft 3, 1918. Anonym: Moeller van den Bruck †. In: Der Tag, Berlin 31.05.1925. Anonym: Moeller van den Bruck †. In: Die Vossische Zeitung, 31.05.1925. Anonym: Moeller van den Bruck: Der preußische Stil. In: Hammer. Blätter für deutschen Sinn, 30. Jg., Nr. 707/708, Dezember 1931. Anonym: Die Erneuerung der konservativen Welt. Moeller van den Bruck. In: Die Tat. Unabhängige Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, 24. Jg., Heft 10, Januar 1933. Anonym: Möller van den Bruck und die nationalsozialistische Revolution. In: Völkischer Beobachter, 04.06.1935. Anonym: Wer ist der Künder des Dritten Reiches?. In: Das schwarze Korps, 1. Jg., Heft 14, 05.06.1935.
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10. Register
Adam, Reinhard 394 Adler, Friedrich 246 f. Alarich 119, 124, 384 Alberti, Leon Battista 216, 256 Alexander III., Papst 146 Alfieri, Vittorio 208 Altenberg, Peter 42, 70 Alvensleben-Neugattersleben, Hans Bodo Graf von 371, 389 Ammon, Otto 207 Angelus Silesius 119 Anker, Alfons 245 Annunzio, Gabriele d’ 71, 95, 105, 115 Ansorge, Conrad 36, 267 Armin (= Hermann der Cherusker) 119, 124 f., 127–135, 136, 146, 156, 162, 384 Äschylos 78, 371 Augustinus 350 Aurévilly, J. A. Barbey d’ 19, 36 Avenarius, Ferdinand 20 f., 23 f., 91, 127, 157 f. Bab, Julius 310 Bach, Johann Sebastian 119 Bäcker, Paul 298 Baer, Karl Ernst von 263 Balistreri, Giuseppe 3 Bard, Julius 77, 80 Barlach, Ernst 194–199, 375, 382 Barrès, Maurice 88 Bartels, Adolf 138, 170 Baudelaire, Charles 11, 36 Beardsley, Aubrey 37 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 91 f. Beethoven, Ludwig van 119 Begas, Reinhold 159, 236
Behne, Adolf 234 Behr, Carl Friedrich Felix Graf von 339 Behrens, Peter 232, 251 f. Bellini, Vincenzo 208 Benjamin, Walter 88 Beumelburg, Werner 298 Bierbaum, Otto Julius 42, 66 f., 72 f. Bismarck, Otto von 18, 27, 100, 119, 123 f., 126, 132 f., 135, 148–152, 159–162, 235, 238, 257, 266, 288, 362, 384 ff. Blei, Franz 76, 80 Blücher, Gebhard Leberecht von 258 Blumenberg, Hans 121 Böcklin, Arnold 119 Bode, Arnold Wilhelm 157 Bodenstein, Hans Georg 377 Boehm, Max Hildebert 267, 289, 292 f., 294–297, 303, 306, 308, 314 f., 323, 330, 335, 340, 350, 371, 384, 390 ff., 403 Böhme, Jakob 119, 135, 144, 154 Bonsels, Jakob Ernst Waldemar 266 Borchardt, Rudolf 310 Borsig, Ernst von 290 f., 339 Botticelli, Sandro 214 f. Bramante, Donato (= Donato di Pascuccio d’Antonio) 216 Breuer, Stefan 5, 8 f., 118, 122, 332 Broecker, Rudolf von 338 Bruck, Elise van den 29 Brunelleschi, Filippo 210, 214 ff. Bruns, J. C. C. 35, 185 Büchner, Fritz 352 Büchner, Georg 119, 125 f. Buhmann, Hans K. E. 207 Bülow, Bernhard Fürst von 160, 280 Burckhardt, Jacob 218
442
Calderón de la Barca, Pedro 100 Caprivi, Leo von 162 Carlyle, Thomas 120 Cavour, Camillo Benso Conte di 208 Celtis, Conrad 131 Cervantes, Miguel de 100 Chamberlain, Houston Stewart 97, 105 ff., 113, 120, 138, 177, 199, 209, 374, 400 Chevallerie, Otto de la 293 Chopin, Frédéric 50 f. Cimabue (= Cenni di Peppo) 214, 218 Clausewitz, Carl von 239 Columbus, Christoph 208 Comenius, Johann Amos 172 Conrad, Michael Georg 31, 48 Conradi, Hermann 30, 42, 45, 48–51, 57, 71 f., 86, 119, 123, 126, 152, 394 Corneille, Pierre 96 Cranach d. Ä., Lucas 119 Crowe, J(oseph) A(rcher) 226 Daimler, Gottlieb 400 Dante Alighieri 100, 208, 371 Darwin, Charles 4, 45, 97, 114, 153 Däubler, Theodor 115, 119, 123, 155 f., 192–195, 199 ff., 228, 232., 267, 392 Dauthendey, Maximilian 35 ff., 42, 65 f., 72, 88 Defoe, Daniel 36 Dehmel, Richard 9, 30 f., 34 ff., 37, 40–45, 52, 58–61, 68, 71, 72 f., 74, 80 f., 84, 87, 95, 98, 105, 109 f., 112 f., 116, 119, 155, 303 Demetz, Peter 201 Denis, Maurice 123 Deutsch, Felix 291 Dietrich, Albert 293 Diriks, Karl Edvard 88 Donatello (= Donato di Niccolò di Betto Bardi) 218 Donizetti, Gaetano 208 Döring, Jörg 392
Register
Dostojewskij, Fjodor 1 f., 27, 33, 38, 88, 102, 174–188, 202, 204, 272– 278, 380, 390 Droysen, Johann Gustav 147 Dürer, Albrecht 119 Durkheim, David Émile 105 Eckart, Dietrich 378 Eckermann, Johann Peter 139 Ehrenforth, Fritz 294 Elias, Norbert 98 Emerson, Ralph Waldo 120 Erasmus von Rotterdam 131 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 248 Ernst, Paul 165, 301, 310, 367 Erzberger, Matthias 319 Eulenberg, Hedda (geb. Maase, gesch. Moeller-Bruck) 29 f., 35 f., 38 Eulenberg, Herbert 266 Evers, Franz 34 f., 36, 88 f., 265, 267, 289 Falke, Gustav 74 Falkenhayn, Erich von 265 Fechner, Gustav Theodor 119, 123, 144, 154, 192 Fechter, Paul 29, 34, 87, 88 ff., 267, 294, 306, 340, 393 ff. Felken, Detlev 299 Fidus (= Hugo Reinhold Karl Johann Höppener) 36 Fichte, Friedrich Gottlieb 5, 119, 123, 154, 192, 258, 288, 351 Finckh, Ludwig 74 Fink, Woldemar 399 f. Flaubert, Gustave 20 Flavus (Bruder Armins) 129 Fontane, Theodor 56 Forsch, Hans J. 306 Franz Ferdinand, Erzherzog 171 Franz von Sickingen 132 Freundt, Friedrich 298 Freyer, Clemens Carl 298 Friedrich der Große 119, 123, 247 ff.
Register
Friedrich I. „Barbarossa“, Kaiser 119, 124, 146, 384 Friedrich II., Kaiser 119, 123, 146, 384 Friedrich II. „der Große“, König von Preußen 188, 250 ff. Friedrich Wilhelm I., König von Preußen („Soldatenkönig“) 148 f., 241–244 Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Brandenburg („Der Große Kurfürst“) 119, 123, 135, 148, 161, 384 Fritsch, Theodor 118, 388 Fuller, Loie 80, 82 Galilei, Galileo 208 Galvani, Luigi 201, 203, 208 Garibaldi, Giuseppe 208 Garstka, Christoph 1 f. Gauthier, Theophil 19 Gayl, Friedrich Frhr. von 339 George, Stefan 2, 19, 40–43, 66 ff., 71 f. 112, 394 Gerigk, Horst-Jürgen 187 Geßler, Otto 389 Gilly, Friedrich 237, 241 f., 244–252, 258 f. Gioberti, Vincenzo 208 Giotto di Bondone 214 f. Gleichen-Rußwurm, Heinrich Frhr. von 289 ff., 293 f., 299, 303 f., 314, 319, 330, 335, 337–340, 344, 369 ff., 376, 389. Gobineau, Arthur de 97, 117, 120, 177, 210, 400 Goebbels, Joseph 378 f., 388, 397, 402 Goedel, Denis 97 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 67, 78–81, 97, 116, 119, 122 f., 139 f., 139–145, 155, 181, 278, 374 Gogh, Vincent van 229 Gogol, Nikolai 181 Göring, Hermann 397 Gorki, Maxim 95, 105
443 Görres, Joseph 90 Gotthardt, Wilhelm 394 Grabbe, Christian Dietrich 119, 125 ff. Grimm, Hans 266 f., 285, 287, 302, 337, 366, 371 f. Grimm, Jacob und Wilhelm 122 Grimmelshausen, Johann Jakob von 119, 150 Gropius, Walter 244 Grünewald, Matthias 119 Grunewald, Michel 3 ff., 187, 263 Gryphius, Andreas 155 Guilbert, Yvette 80, 82 f. Gundolf, Friedrich 266 Günther, Johann Christian 119, 125 f. Gurlitt, Cornelius 157 Haeften, Hans von 265, 279, 284 Hagemann, Carl 90 f. Hake, Bruno 267 Halbe, Max 33 Hammersen, Nicolai 402 f. Harden, Maximilian 157 f., 186 Hart, Heinrich 56 Hart, Julius 165 Hartleben, Otto Erich 36 f. Hassell, Ulrich von 403 Hauptmann, Gerhart 33, 42, 53–56, 62, 71 f., 89, 95, 105, 109–112, 119, 155, 289, 304 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 123, 192, 239, 304 Heimann, Moritz 41 Heinrich der Löwe 119, 123, 146 f., 149, 162, 384 Heißenbüttel, Helmut 53 Helferich, Hermann 157 Henting, Werner Otto von 298 Herder, Johann Gottfried 119 f., 123, 133, 188 f., 384 f. Hermann der Cherusker s. Armin Herrfahrdt, Heinrich 314, 340 Hesiod 121 Hesse, Hermann 186 f.
444 Heuss, Theodor 26, 338 Heymel, Alfred Walter 74 Hille, Peter 36, 119, 123, 126 Hindenburg, Paul von 394 Hirschfeld, Georg 33 Hitler, Adolf 299 f., 365 f., 378 f., 382 f., 387, 389, 391, 394 f., 398 ff., 402 Hobbing, Reimar 338 Hodler, Ferdinand 196 f., 229 Hoetzsch, Otto 336 Hoffmann, E. T. A. 119 Hoffmann, Karl 294 Hofmannsthal, Hugo von 42 f., 70 f., 112, 164 Holbein d. J., Hans 119 Hölderlin, Friedrich 119, 374 Holz, Arno 30, 32, 37 f., 41 f., 53–55, 74 Homer 121 Hugenberg, Alfred 298, 305 f., 338 f., 371, 375 Humboldt, Alexander von 235 Hume, David 188 Hus, Jan 172 Hussong, Friedrich 298, 306 Hutten, Ulrich von 110, 112, 119, 123 f., 127, 130–133, 149, 384 Ibsen, Henrik 55, 351 Ihne, Ernst Eberhard von 235 Isle-Adam, Villiers de l’ 20 Jäckh, Ernst 265, 336 ff. Jean Paul 119 Joachim von Floris 350 f. Julius II., Papst 220 Juncker, Axel 35 Jung, Edgar Julius 2, 389 f., 402 f. Jünger, Ernst 390 Kaerrick, Elisabeth („Less“) 88, 174 Kaerrick, Lucie (s.a. Moeller van den Bruck, Lucy) 88, 174 Kampmann, Theoderich 176, 186
Register
Kandinsky, Wassili 259 Kant, Immanuel 5, 97, 119, 123, 144, 149, 154, 179, 188, 239, 248 Karl der Große 119, 123, 161, 384 ff. Keim, August 162 Kellermann, Bernhard 266 Kern, Fritz 306 Kerr, Alfred 164 Kleemann, Elisabeth 1 Kleist, Heinrich von 123, 374 f. Klemperer, Klemens von 398 Klenze, Leo von 247 Klinger, Max 95, 105, 107 f. Klinger, Friedrich Maximilian 119, 125 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb 67, 119, 193 Knobelsdorff, Hans Georg Wenzeslaus von 242 Koeppen, Wolfgang 392 f. Kokoschka, Oskar 259 Kopernikus, Nikolaus 172 Kreuzer, Helmut 34 Krieck, Ernst 300 f. Kries, Wilhelm von 294, 298, 369 Lagarde, Paul de 6, 8 f., 113, 117, 168, 170, 270, 288, 356 Lambach, Walther 316 Langbehn, Julius 5–8, 18 f., 45, 70, 81, 89, 113, 120, 144, 288, 356 Langen, Albert 87 f. Lasker-Schüler, Else 31 Lauen, Harald 376 Lechter, Melchior 112 Leibniz, Gottfried Wilhelm 119, 144, 154, 192 Lenz, Jakob Michael Reinhold 119, 124 ff., 155 Leonardo da Vinci 100, 205, 208, 219, 223, 227, 230 Leopold, Bernhard 316 Lermontow, Michail 181 Le Roy (Leroi), Julien-David 247
Register
Lessing, Gotthold Ephraim 119, 123, 133, 155, 248, 351 Lichtwark, Alfred 157 Liebermann, Max 289 Lienhard, Friedrich 31, 165 Liliencron, Detlev von 31, 36, 42, 44, 57 f., 67 f., 71, 74, 95, 105, 109 f., 112, 119, 154 Limprecht, Carl 137 f. Lindau, Paul 31, 39, 41 Lippi, Filippino 219 List, Friedrich 270, 288, 331 Ljubimov, N. A. 181 Longhi, Roberto 205 f., 230 Lope de Vega, Félix 100 Löwenthal, Leo 186 Lublinski, Samuel 37, 39, 83 Luckhardt, Hans 250 Luckhardt, Wassili 244 ff. 249 f. Ludwig XIV. 92, 100 Lukács, Georg 11 Luther, Martin 110, 112, 119, 123 f., 130, 133 ff., 144, 150, 193, 378 Maase, Hedda (s. a. Eulenberg, Hedda) 29 f., 35 Maeterlinck, Maurice 37, 95, 105 Mebes, Paul 248 Maistre, Joseph Marie Comte de 3 Malatesta, Sigismondo 227 Mallarmé, Stéphane 68 Manet, Éduard 94 Mankiewitz, Paul 291 Mann, Heinrich 31 Mann, Thomas 31, 98, 112, 164, 253, 277, 289, 299, 302–305 Mantegna, Andrea 219 Marc, Franz 259 Marconi, Giuglielmo 201 Marinetti, Filippo Tommaso 201 Martini, Simone 218, 222 Marx, Karl 97, 276 f., 313, 328 f., 358 ff. Masaccio (= Tommaso di Ser Cassai) 218 f., 223, 225, 231 f.
445 Mattenklott, Gert 9 f., 15 Maupassant, Guy de 36 Maurras, Charles 88 Maximilian I., Kaiser 119, 124 Meier-Graefe, Julius 157 Meister Eckhart (auch Eckart, Eckehart) 110, 112, 119, 135, 179, 192 Meister Erwin (= Erwin von Steinbach) 283 Meister Wilhelm 119 Metzner, Franz 196 ff. Mereschkowskij, Dmitrij 38, 88, 174 ff. Merian, Hans 30 Messel, Alfred 137, 232, 251 Michelangelo 100, 205 f., 216, 220 f., 223 f., 230 ff. Mies van der Rohe, Ludwig 244 Millet, Jean-François 94 Missiroli, Antonio 337 Moeller, Alwin 29 Moeller, Amalie (geb. Barthel) 29 Moeller, Ernst Ludwig 29 Moeller, Ottomar Victor 29 Moeller, Rudolf 29, 239 Moeller van den Bruck, Lucy (s.a. Kaerrick, Lucie) 3, 194, 376 f., 397, 403 Molière 92 f., 100 Moltke, Helmuth Graf von 119, 123, 228 Mombert, Alfred 35, 37 ff., 42 f., 65, 71, 97, 119, 123, 154, 382 Mommsen, Wolfgang 13 Monet, Claude 94 Moser, Karl Frhr. von 394 Mosse, Rudolf 164 Mozart, Wolfgang Amadeus 119 Mühsam, Erich 36 Müller, Georg 176, 194 Munch, Edvard 36, 88 f., 95, 105, 108, 196, 259 Münchhausen, Börries Frhr. von 266 Müntzer, Thomas 351
Register
446 Mussolini, Benito 368 Muther, Richard 157 Muthesius, Hermann 24 f. Mutianus Rufus, Conrad 131 Napoleon Bonaparte 37, 90, 258 Narni, Erasmo da („Gattamelata“) 219 Naumann, Friedrich 25 f., 27, 269 f., 290, 336 Niekisch, Ernst 390, 402 Nietzsche, Friedrich 2, 4 f., 9, 14 f., 30, 33, 42, 44–54, 57 f., 62, 67, 71 f., 78, 82, 94, 105, 106, 114, 119, 123, 130 f., 152 ff., 165 f., 175, 202, 288, 356, 394 Nordau, Max 5, 86, 112, 256 Northcliffe, Alfred Charles William Harmsworth, 1st Viscount 281 Novalis 119, 154, 350 Oppeln-Bronikowsi, Friedrich von 302 Oppen-Dannewalde, Joachim von 339 Palladio, Andrea 247 Papen, Franz von 2, 389 Panizza, Oskar 84 Paracelsus, Theophrastus 119, 144, 154 Paul, Großfürst 125 Pechel, Rudolf 267, 293, 299 ff., 306, 317, 366, 369 Pechstein, Max 259 Peter I. „der Große“, Zar 182, 264, 270, 276 Petrarca, Francesco 208 Petzinna, Berthold 2 f., 17, 294 Piero della Francesca 205, 210, 225– 230 Pilon, Germain 96 Piper, Reinhard 176, 204 Pisano, Niccolò 222 Pissarro, Camille 95
Planck, Max 289 Poe, Edgar Allan 35 Poelzig, Hans 232, 234, 251 Poincaré, Raymond 325 Poussin, Nicolas 96 Provins, Michael 36 Przybyszewski, Stanislas 31, 36, 42– 44, 50–52, 57, 62, 63, 71 f., 86 Puget, Pierre 96 Pülke, Engelbert 395 Puschkin, Alexander 181 Quaatz, Reinhold 339 Quabbe, Georg 362 f, 391 Quincey, Thomas de 36 Racine, Jean Baptiste 19, 81, 92, 96 Radek, Karl 344–346, 367 382, 400, 406, 413 Radkau, Joachim 9, 13, 127 Raffael 205, 208, 221 f., 230, 256 Raffaelli, Jean-François 95 Raschdorff, Julius 156, 235 f. Rathenau, Walther 304, 319 ff., 326 Rembrandt 7, 18, 81, 119, 154 Reuch, Paul 339 Reuchlin, Johann 131 Reventlow, Ernst von 345 Ribera, Jusepe de 100 Rickert, Heinrich 189 Riegel, Hermann 137 f. Ringleb, Alexander 6, 294, 298 f. Rödel, Helmut 204 f., 400 ff., 404 Rodenberg, Julius 267 Rodin, Auguste 95, 103 ff., 183 Roeseler, Hans 293, 306, 338 Röhr, Franz 294, 316 Roosevelt, Theodore 95, 105 Rops, Félicien 37 Rosenberg, Alfred 378, 388, 397 f., 401 Rossini, Gioachino 208 Rößle, Wilhelm 398 f Sachs, Hans 79, 119
Register
Sagitz, Walter 388 Saharet (= Clarissa Rose Campell) 80, 82 Samassa, Paul 171 Savonarola, Gironamo 219 Schadow, Rudolf 197, 239, 247 Schäfer, Wilhelm 36 Scharnhorst, Gerhard von 258 Scheerbart, Paul 37, 42, 64 f., 71 Scheffler, Karl 17, 254, 310 Scheler, Max 267 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 5, 351 Schemann, Ludwig 117 f., 123, 126, 138, 164, 205 ff., 388 Scherl, August Hugo 164 f., 298 Schiller, Friedrich 78, 80 ff., 119, 123 f., 133, 155 Schinkel, Karl Friedrich 235, 237, 246 f., 249 ff., 251, 258 Schlaf, Johannes 30, 32, 37, 39, 42, 52 ff., 55, 57 f., 61, 64, 73, 86 Schlageter, Albert Leo 344, 383, 394 Schleich, Carl Ludwig 267 Schlenther, Paul 56 Schlieffen, Alfred von 264 Schlüter, Andreas 237, 242, 259 Schmitt, Carl 194, 357 Schmitz, Hermann 246 f. Schmitz, Oskar A. H. 20 f., 93, 152 Schnitzler, Arthur 33 Schopenhauer, Arthur 89, 123, 154, 192 Schrenck, Edith von 378 Schotte, Walther 298, 306, 371, 389 Schröder, Rudolf Alexander 74 Schroeter, Manfred 310 Schulenburg, Fritz-Dietloff Graf von der 403 f. Schuster, Richard 42, 87 Schwarz, Hans 3, 89, 165, 187, 294, 341, 371 f., 374, 376–388, 395, 397 f., 399 f., 403 Schweiß, Friedrich 116, 257
447 Schwierskott, Hans Joachim 5 f., 87, 265, 387 Seddin, Wilhelm 399 Seeßelberg, Friedrich 138 Seidel, Arthur 48 Seidel, Ina 237, 375 Seidlitz, Woldemar von 157 Serner, Walter 17 Servaes, Franz 72, 165 Severini, Gino 203 Sforza, Battista 225 Shakespeare, William 33, 79 f., 100, 103 Simmel, Georg 12 f., 15 f., 105, 165 Sisley, Alfred 95 Smith, Goldwin 188 Sombart, Werner 253, 301 Sophokles 78, 143 Spahn, Martin 290, 314, 336–341, 352, 371, 376 Spahn, Peter 290, 336 Spengler, Oswald 3, 260, 277 f, 299, 309 ff., 359, 382 Ssymank, Paul 30 Stadtler, Eduard 290 f., 300, 303, 316–320, 335, 337 f., 366, 369 f. Stahl, Friedrich Julius 361, 305 Stapel, Wilhelm 306, 317 Stegerwald, Adam 294 Stehr, Hermann 42 f., 62 ff., 72 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 119, 124, 150, 288, 362, 384 Steinbömer, Gustav 395 f. Steiner, Rudolf 37 Stern, Fritz 6 ff., 44, 87 Sternberger, Dolf 17 f. Stinnes, Hugo 290, 298, 338, 390 Strasser, Otto 299, 378 f. Strauß, David Friedrich 130 Stresemann, Gustav 305, 326 Strindberg, August 36, 95, 105 Swinburne, Algernon Charles 105 Sybel, Heinrich von 147
448 Tacitus 129 Tänzler, Fritz 298 Taut, Max 244 Thespis 79, 84 Tintoretto 100, 230 Tizian 205, 230 Tolstoi, Leo 175, 181 f., 278 f. Tönnies, Ferdinand 105 Toroop, Jan 37 Traub, Gottfried 375 Treitschke, Heinrich von 147 Troeltsch, Ernst 299 Treu, Georg 157 Trotha, Adolf von 376 Trott zu Solz, Adam von 403 Tschudi, Hugo von 157 Ullmann, Hermann 22, 298, 296 Ullstein, Leopold 164 Velásquez, Diego 100 Velde, Henry van de 157 Verdi, Giuseppe 208 Vitruv (Marcus Vitruvius Pollo) 216 Vögler, Albert 291, 338 Volta, Alessandro Giuseppe Antonio Anastasio Conte di 201, 203, 208 Voltaire 188 Wagner, Richard 21, 91, 107, 119, 123, 154 f. Walden, Herwarth 201 Wallot, Paul 157 Wangenheim, Alexander Frhr. von 301 Walther von der Vogelweide 67 f., 119 Weber, Alfred 289 Weber, Max 18, 105, 122, 152, 257 Wedekind, Frank 36, 42, 71, 73 f., 95, 105, 109, 112 Wehler, Hans-Ulrich 12 Weitbrecht, Carl 144 Werner, Anton von 158 Westarp, Kuno Graf von 365 Whitman, Walt 102, 202
Register
Wieland, Christoph Martin 123 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 289 Wilde, Oscar 95, 103 ff. Wilhelm II., Kaiser 21, 156–161, 234, 236, 362, 365, 384 Wille, Bruno 37 Wilson, Thomas Woodrow 279 f, 283, 285 f., 306, 315 Winckelmann, Johann Joachim 119, 123, 139,140–143, 248 Winterfeld, Friedrich von 339 Wirth, Joseph 319 f. Wirths, Werner 294, 300, 317 f. Witting, Felix 228 Woermann, Karl 157, 226, 230 Wolfram von Eschenbach 119 Woltmann, Alfred 226 Woltmann, Ludwig 5, 199 f., 207– 210, 221, 256, 400 Wolzogen, Ernst Frhr. von 74, 81, 84 Wormann, Kurt 301 Worringer, Wilhelm 15 ff., 196 f., 205, 221 Wundt, Wilhelm 30 Zehrer, Hans 377, 382, 388, 402 Zengen, Hans Werner von 298 Zetsche, Carl 243 f., 246 Ziegler, Leopold 389 Ziesché, Kurt 340 Zitter, Moritz 38 Zuloaga, Ignacio 95, 105 Zweig, Stefan 31, 186 f.
BIRGIT SCHWARZ
GENIEWAHN: HITLER UND DIE KUNST
Zu den folgenreichsten Eigenschaften Hitlers gehörte, dass er sich für ein Genie hielt. Übernommen hatte er die Genievorstellung bereits in seiner Jugend aus Künstlerbiographien des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Ablehnung an der Wiener Akademie verinnerlichte er sie im Konzept des verkannten Künstlers. Das romantische Geniekonzept, das sich längst ideologisiert und mit nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Inhalten aufgeladen hatte, bildete die Basis seiner Weltanschauung und Selbstkonzeption als „Führer“, Künstler-Politiker und Stratege. Künstlertum und Geniewahn erzeugten auch die Notwendigkeit der ständigen Selbstbestätigung und Selbstdarstellung als Kunstfreund und Mäzen und bildeten damit die Grundlage für die Kulturbesessenheit des Dritten Reiches. War die Architektur das Medium des NS-Staates, so dienten historische Gemälde Hitlers persönlicher Imagepflege. Erstmalig werden die Gemäldekollektionen in Hitlers Wohnungen und diversen Residenzen vorgestellt und ihre Bedeutung rekonstruiert, die die Hauptwerke für den Diktator hatten. 2009. 400 S. 114 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78307-7
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar
PETER GATHMANN, MARTINA PAUL
NARZISS GOEBBELS EINE PSYCHOHISTORISCHE BIOGR AFIE
Joseph Goebbels (1897–1945) war einer der einflussreichsten Politiker des NS-Regimes und einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Diese Biografie nähert sich der Persönlichkeit Goebbels mit den Mitteln der Psychohistorie und sucht in den Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend die Wurzeln für die späteren politischen Entscheidungen.
„In dieser psychohistorischen Biografie versuchen die Autoren Goebbels quasi posthum auf die Couch zu legen. Und das gelingt ihnen auf weite Strecken in beeindruckender Weise.“ (Profil) Dass sie [die psychohistorische Analyse] zu beeindruckenden Ergebnissen führen kann, zeigen insbesondere die Kapitel über Goebbels Abhängigkeit von Hitler – eine faszinierende Studie über eine „narzisstische Verschmelzung“, in der der Aufstiegshungrige seine Erweckung und Erlösung erlebt. (Frankfurter Rundschau) 2009. 298 S. 16 S. S/W-ABB. GB. M. SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78411-1
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MA XIMILIAN TERHALLE
DEUTSCHNATIONAL IN WEIMAR DIE POLITISCHE BIOGR APHIE DES REICHSTAGSABGEORDNETEN OTTO SCHMIDT(-HANNOVER) 1888–1971
Otto Schmidt, in einem märkischen Pastorenhaushalt geboren, war Generalstabsoffizier im Ersten Weltkrieg und später Mitglied des Reichstags für die Deutschnationale Volkspartei. Wie viele Konservative sah Schmidt in der Reichspräsidentschaft Hindenburgs, an deren Zustandekommen er nicht unwesentlich beteiligt war, ein Signal zur Versöhnung mit dem politischen System der Weimarer Republik. Enttäuscht von der deutschen Außenpolitikk wandte er sich jedoch ab 1928 gegen die Republik. Schmidt gelang es, in den engsten Vertrauenskreis Alfred Hugenbergs aufzusteigen und zwischen 1929 und 1933 die deutschnationale Politik entscheidend mitzugestalten. Stets loyal gegenüber Hugenberg vermochte er es allerdings nicht, ihn von seinem Bündnisgedanken mit Hitler abzubringen. 2009. 449 S. BR. 170 X 240 MM. € 49,90 [D] / € 51,30 [A] ISBN 978-3-412-20280-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
JUSTUS H. ULBRICHT (HG.)
WEIMAR 1919 – CHANCEN EINER REPUBLIK
Im Jahre 1919 wurde in Weimar deutsche Geschichte geschrieben. In der Stadt Goethes und Schillers begann ein faszinierendes Experiment, nämlich die Gründung und Gestaltung einer neuen Gesellschaftsordnung, die nach der deutschen Klassikerstadt benannt ist: die Weimarer Republik. Wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und kurz nach der Novemberrevolution 1918 versuchten engagierte Männer und Frauen einen demokratischen Neubeginn auf nationaler, aber auch auf regionaler Ebene. Das Buch dokumentiert die Ereignisse jenes dramatischen Aufbruchs. So wie schon früher kulturelle oder politische Ereignisse in Weimar immer auch nationale Bedeutung besaßen, ist die Anwesenheit des ersten demokratisch gewählten deutschen Parlaments, dessen Debatten und schließlich die endgültige Verfassungsentscheidung ein herausragendes Ereignis der deutschen Geschichte insgesamt. Die Geschehnisse werden dabei als Folgen des Kaiserreichs, des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der Fürstenabdankung gewertet und vor allem als chancenreicher politischer und sozialer Neubeginn interpretiert. 2009. 183 S. MIT 78 S/W-ABB. UND 30 FARB. ABB. GB. 210 X 270 MM. ISBN 978-3-412-20359-7
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K athrin iselt
»sonderbeauftr agter des führers« der KunsthistoriKer und MuseuMsMann herMann Voss (1884–1969) (studien zur Kunst, band 20)
Hermann Voss (1884-1969) gehört zu den profiliertesten deutschen Kunsthistorikern des 20. Jahrhunderts. Leipzig, Berlin, Wiesbaden und Dresden waren Stationen seiner Museumskarriere. Verbunden bleibt sein Name jedoch mit der Tätigkeit als Sonderbeauftragter Hitlers für das »Führermuseum« in Linz. Dieses Buch untersucht erstmals detailliert das Leben und Wirken des Kunsthistorikers und seine Verstrickung in den nationalsozialistischen Kunstraub, die schon lange vor seiner Ernennung zum »Sonderbeauftragten für Linz« begann. Voss hatte bereits als Direktor der Wiesbadener Gemäldegalerie, deren Leitung er 1935 übernahm, im Sinne des NS-Staates agiert und von der Beschlagnahme jüdischen Eigentums profitiert. Konsequenzen sollten sich für ihn nach Kriegsende daraus nicht ergeben. Voss verstarb 1969 in München als geachteter Wissenschaftler und Gemäldeexperte.
2010. 516 S. Gb. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-412-20572-0
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