Migration und Männlichkeit: Biographien junger Straffälliger im Diskurs [1. Aufl.] 9783839415191

Wenn in der Öffentlichkeit über die Kriminalität junger Migranten diskutiert wird, kommen die Jugendlichen nur selten se

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Inhalt
1. Einleitung
TEIL I: KONTEXTBESCHREIBUNGEN
2. Migration, Männlichkeit und Kriminalität im gesellschaftlichen Diskurs
2.1 Zur Rolle der Medien
2.2 Polizeiliche Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung
2.2.1 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)
2.2.2 Dunkelfeldforschung
2.3 Dominante Erklärungsansätze
2.3.1 Etikettierung
2.3.2 Sozialstrukturelle Benachteiligung
2.3.3 Desintegration
2.3.4 Kulturkonflikt
2.4 Dominante Erklärungsansätze – revisited
2.4.1 Migration und Kriminalität
2.4.2 Männlichkeit und Kriminalität
2.4.3 Migration, Männlichkeit und Kriminalität in intersektioneller Perspektive
TEIL II: VERKNÜPFUNG VON DISKURS- UND BIOGRAPHIEFORSCHUNG
3. Biographieforschung und biographische Fallrekonstruktion
3.1 Theoretische Grundlagen
3.1.1 Entstehung und Entwicklung der Biographieforschung
3.1.2 Biographie als soziales Konstrukt
3.1.3 Erleben – Erinnern – Erzählen
3.2 Das narrativ-biographische Interview
3.2.1 Erzählungen
3.2.2 Der Ablauf des Interviews
3.2.3 Der Einfluss situativer und kommunikativer Bedingungen
3.3 Biographische Fallrekonstruktion
3.3.1 Biographische Datenanalyse
3.3.2 Text- und thematische Feldanalyse
3.3.3 Feinanalysen
3.4 Biographie und Normalität
3.5 Biographie und Diskurs
4. Diskurs und Subjekt
4.1 Individuum, Subjekt und Biographie
4.2 Dezentrierung des Subjekts
4.3 Diskurstheoretischer Kontext
4.3.1 De Saussure
4.3.2 Foucault
4.3.3 Laclau und Mouffe
4.4 Stuart Hall: Das Konzept der Artikulation
4.4.1 Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht
4.4.2 Positioniert sein
4.5 Zwischenresümee
5. Methodische Modifikationen und Forschungsprozess
5.1 Erweiterung des methodischen Repertoires
5.1.1 Analyse von Positionierungen im Diskurs
5.1.2 Intersektionalitätsanalyse
5.2 Der Forschungsprozess
5.2.1 Forschung in einem umstrittenen Feld
5.2.2 Sample und Setting
5.2.3 Transkription, Anonymisierung und Ansprache
5.2.4 Rolle der Akten
5.2.5 Auswertung und Auswahl der Fälle
TEIL III: INTERSEKTIONELLE ANALYSE VON BIOGRAPHIEN ALS ARTIKULATIONEN
6. »Ich hab meine Jugend ordentlich gelebt« – AHMET
6.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
6.2 Biographische Datenanalyse
6.2.1 Familiengeschichte
6.2.2 Lebensgeschichte
6.3 Text- und thematische Feldanalyse
6.4 Feinanalysen
6.4.1 Anfangssequenz
6.4.2 ›Streiche‹ in der Schule
6.4.3 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit
6.4.4 Die eigene Gruppe vs. Andere
6.4.5 Familie
6.4.6 Exfreundinnen und Interaktionen im Interview
6.5 Positionierungen
7. »Du bist doch n Türk« – MURAT
7.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
7.2 Biographische Datenanalyse
7.2.1 Familiengeschichte
7.2.2 Lebensgeschichte
7.3 Text- und thematische Feldanalyse
7.4 Feinanalysen
7.4.1 Anfangssequenz
7.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit
7.4.3 Selbstverortung als Türke?
7.4.4 Konflikte im Gefängnis
7.4.5 Murats Beziehung zum Vater
7.5 Positionierungen
8. »Ohne Geld kannst du draußen nicht überleben« – SERDAR
8.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation
8.2 Biographische Datenanalyse
8.2.1 Familiengeschichte
8.2.2 Lebensgeschichte
8.3 Text- und thematische Feldanalyse
8.4 Feinanalysen
8.4.1 Anfangssequenz
8.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit
8.4.3 Morde, Verhaftungen und Folter in Serdars Kindheit
8.4.4 Zeit im Gefängnis
8.4.5 Zukunftsvisionen und Vorbilder
8.5 Positionierungen
9. Schlussbetrachtungen
9.1 Subjektpositionen im Diskurs
9.2 Zwischen Diskurs- und Handlungsmacht
9.2.1 Positionierungen im Kontext Kriminalität
9.2.2 Positionierungen im Kontext Migration
9.2.3 Positionierungen im Kontext Männlichkeit
9.3 Biographieanalyse als Diskursanalyse
Literatur
Transkriptionszeichen
Dank
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Migration und Männlichkeit: Biographien junger Straffälliger im Diskurs [1. Aufl.]
 9783839415191

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Tina Spies Migration und Männlichkeit

Tina Spies (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind qualitative Forschungsmethoden, Migration, Gender und Intersektionalität.

Tina Spies

Migration und Männlichkeit Biographien junger Straffälliger im Diskurs

Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich Sozialwesen Datum der Disputation: 11. Dezember 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ben. / photocase.com (Detail) Lektorat & Satz: Tina Spies Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1519-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

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1. Einleitung

TEIL I: KONTEXTBESCHREIBUNGEN 2. Migration, Männlichkeit und Kriminalität im gesellschaftlichen Diskurs 2.1 Zur Rolle der Medien 2.2 Polizeiliche Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung 2.2.1 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2.2.2 Dunkelfeldforschung 2.3 Dominante Erklärungsansätze 2.3.1 Etikettierung 2.3.2 Sozialstrukturelle Benachteiligung 2.3.3 Desintegration 2.3.4 Kulturkonflikt 2.4 Dominante Erklärungsansätze – revisited 2.4.1 Migration und Kriminalität 2.4.2 Männlichkeit und Kriminalität 2.4.3 Migration, Männlichkeit und Kriminalität in intersektioneller Perspektive

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TEIL II: VERKNÜPFUNG VON DISKURS- UND BIOGRAPHIEFORSCHUNG 3. Biographieforschung und biographische Fallrekonstruktion 3.1 Theoretische Grundlagen 3.1.1 Entstehung und Entwicklung der Biographieforschung 3.1.2 Biographie als soziales Konstrukt 3.1.3 Erleben – Erinnern – Erzählen 3.2 Das narrativ-biographische Interview 3.2.1 Erzählungen 3.2.2 Der Ablauf des Interviews 3.2.3 Der Einfluss situativer und kommunikativer Bedingungen 3.3 Biographische Fallrekonstruktion 3.3.1 Biographische Datenanalyse

71 72 72 75 77 80 82 84 87 92 94

3.3.2 Text- und thematische Feldanalyse 3.3.3 Feinanalysen 3.4 Biographie und Normalität 3.5 Biographie und Diskurs

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4. Diskurs und Subjekt 4.1 Individuum, Subjekt und Biographie 4.2 Dezentrierung des Subjekts 4.3 Diskurstheoretischer Kontext 4.3.1 De Saussure 4.3.2 Foucault 4.3.3 Laclau und Mouffe 4.4 Stuart Hall: Das Konzept der Artikulation 4.4.1 Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht 4.4.2 Positioniert sein 4.5 Zwischenresümee

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5. Methodische Modifikationen und Forschungsprozess 5.1 Erweiterung des methodischen Repertoires 5.1.1 Analyse von Positionierungen im Diskurs 5.1.2 Intersektionalitätsanalyse 5.2 Der Forschungsprozess 5.2.1 Forschung in einem umstrittenen Feld 5.2.2 Sample und Setting 5.2.3 Transkription, Anonymisierung und Ansprache 5.2.4 Rolle der Akten 5.2.5 Auswertung und Auswahl der Fälle

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TEIL III: INTERSEKTIONELLE ANALYSE VON BIOGRAPHIEN ALS ARTIKULATIONEN 6. »Ich hab meine Jugend ordentlich gelebt« – AHMET 6.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation 6.2 Biographische Datenanalyse 6.2.1 Familiengeschichte 6.2.2 Lebensgeschichte 6.3 Text- und thematische Feldanalyse 6.4 Feinanalysen 6.4.1 Anfangssequenz 6.4.2 ›Streiche‹ in der Schule 6.4.3 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit 6.4.4 Die eigene Gruppe vs. Andere 6.4.5 Familie 6.4.6 Exfreundinnen und Interaktionen im Interview 6.5 Positionierungen

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7. »Du bist doch n Türk« – MURAT 7.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation 7.2 Biographische Datenanalyse 7.2.1 Familiengeschichte 7.2.2 Lebensgeschichte 7.3 Text- und thematische Feldanalyse 7.4 Feinanalysen 7.4.1 Anfangssequenz 7.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit 7.4.3 Selbstverortung als Türke? 7.4.4 Konflikte im Gefängnis 7.4.5 Murats Beziehung zum Vater 7.5 Positionierungen

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8. »Ohne Geld kannst du draußen nicht überleben« – SERDAR 8.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation 8.2 Biographische Datenanalyse 8.2.1 Familiengeschichte 8.2.2 Lebensgeschichte 8.3 Text- und thematische Feldanalyse 8.4 Feinanalysen 8.4.1 Anfangssequenz 8.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit 8.4.3 Morde, Verhaftungen und Folter in Serdars Kindheit 8.4.4 Zeit im Gefängnis 8.4.5 Zukunftsvisionen und Vorbilder 8.5 Positionierungen

301 301 304 304 305 311 328 328 331 347 362 369 376

9. Schlussbetrachtungen 9.1 Subjektpositionen im Diskurs 9.2 Zwischen Diskurs- und Handlungsmacht 9.2.1 Positionierungen im Kontext Kriminalität 9.2.2 Positionierungen im Kontext Migration 9.2.3 Positionierungen im Kontext Männlichkeit 9.3 Biographieanalyse als Diskursanalyse

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Literatur Transkriptionszeichen Dank

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1. Einleitung

»Politik wird nicht an den Konferenztischen des internationalen Geschehens gemacht, sondern zuallererst in den Köpfen der Menschen, in denen sich, ja: Wörter befinden. [...] So begriffen, ist Schreiben immer und gerade jetzt ein politischer Akt: Er beginnt bei der Frage, ob man den ›Kampf der Kulturen‹ in Anführungszeichen setzt oder nicht.« (Juli Zeh)

Als im Dezember 2007 zwei junge Männer einen Rentner in der Münchner UBahn überfielen, avancierte das Thema ›Jugendkriminalität‹ schnell zum Wahlkampfthema Nummer eins bei der Hessischen Landtagswahl. Es dominierte über mehrere Wochen hinweg in den Medien und wurde bundesweit von Politikern, Expertinnen und Praktikern diskutiert. Dabei ging es weniger um ›Jugendkriminalität‹ im Allgemeinen, als vielmehr um die von ›Ausländern‹ verübte Kriminalität in Deutschland. Denn gewalttätige Jugendliche mit deutscher Staatsangehörigkeit waren in den Diskussionen auffällig schnell abhanden gekommen.1 Stattdessen wurde diskutiert, ob Jugendgewalt ein »Ausländerproblem« sei oder ob es sich bei dem »brutale[n] Machismo betrunkener Männer« gar um einen »Kulturkampf gegen etablierte christliche Werte« handle (Bartsch et al. 2008: 21; vgl. auch Schirrmacher 2008). Die Diskussionen verliefen dabei erschreckend ähnlich wie 1998, als der Fall ›Mehmet‹ bekannt wurde und für Schlagzeilen sorgte (vgl. Kap. 2). Allerdings wurde Roland Koch nun z.B. vorgeworfen, dass er erneut »Ausländerhetze« im Wahlkampf betreibe und sich hierdurch einen Wahlsieg wie zuletzt 1999 erhoffe, als er mit einer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft die Landtagswahl gewann und zum ersten Mal Ministerpräsident wurde (vgl. z.B. Jenter 2007; Greven 2007). Und Kochs Rechnung 1

So titelte beispielsweise der Spiegel im Januar 2008 zwar: »Junge Männer: Die gefährlichste Spezies der Welt«. Im Untertitel war jedoch hinzugefügt »Die Migration der Gewalt« und im Inhaltsverzeichnis des Heftes wurde der entsprechende Beitrag angekündigt mit »Jung, männlich, chancenlos – die Wurzeln der importierten Gewalt«. 9

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ist am Ende auch nicht aufgegangen, denn letztlich hat die CDU bei dieser Wahl zwölf Prozentpunkte gegenüber 2003 verloren (vgl. z.B. Malzahn 2008). Doch das Wahlkampfthema Jugendkriminalität hat dennoch auf eindrückliche Weise gezeigt, dass sich an den Diskussionen und dominanten Erklärungsansätzen in den letzten zehn Jahren wenig geändert hat: Noch immer sind es die ›Anderen‹, die Probleme bereiten, obwohl Jugendliche mit deutscher Staatsangehörigkeit ebenso auffällig werden und die vermeintlichen jungen ›Ausländer‹ fast alle in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Für die hier vorliegende Arbeit spielen diese Diskussionen eine wichtige Rolle. Denn so wie Juli Zeh (2008: 15) in der eingangs zitierten Passage gehe auch ich davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob man den »Kampf der Kulturen« (Huntington 2002) in Anführungszeichen setzt oder auch nicht. Die Frage, die mich hierbei beschäftigt, ist die, welchen Einfluss das Sprechen über Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie auf die Jugendlichen selbst hat. Es geht um den Gedanken, dass das, was und wie etwas geschrieben wird, Einfluss nimmt auf unser Denken und Handeln. Es bestimmt, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen, was sagbar ist oder auch nicht. Dabei ist sicherlich Schreiben nicht das einzige Medium, das hierauf Einfluss nimmt. Letztlich geht es um die Macht der (geschriebenen oder reproduzierten) Sprache, die gesellschaftliche Effekte hervorbringen und Subjekte konstituieren kann (vgl. Butler 1998: 52). Und damit geht es um das, was Foucault als Diskurs definiert, nämlich jene »Praktiken [...] die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). Insofern interessiert mich, wie über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie im gesellschaftlichen Diskurs gesprochen wird. Dabei verstehe ich unter ›Sprechen im gesellschaftlichen Diskurs‹ alle Formen der Beteiligung (reden, schreiben, vortragen, predigen, analysieren, twittern etc.) am medialen, wissenschaftlichen und/oder politischen Diskurs, also an der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Kap. 2). Es geht um die Verbreitung von Diskursen in Gestalt konkreter Äußerungen. Hieran können Journalisten und Journalistinnen, Aktivisten und Aktivistinnen, Politiker/-innen, Wissenschaftler/-innen u.a.m. beteiligt sein, wobei erst die Gesamtheit der Äußerungen einen (oder verschiedene) gesellschaftliche(n) Diskurs(e) ausmacht (bzw. ausmachen) (vgl. Keller 2004: 62 ff.). Die Auseinandersetzung mit dem Sprechen über ›Andere‹ ist daher ein Strang dieser Arbeit. Der zweite Strang besteht darin, mit den Jugendlichen zu sprechen. Es sollen also diejenigen zu Wort kommen, über die normalerweise gesprochen wird. Dies ist zunächst einmal nicht neu,2 die Besonderheit dieser 2

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So hat vor einiger Zeit z.B. Susanne Spindler (2006) eine umfangreiche Studie vorgelegt, in der sie männliche jugendliche Migranten in Haft nach ihren Lebenserfahrungen gefragt hat. Auch sind in diesem Zusammenhang die qualitati-

EINLEITUNG

Arbeit besteht jedoch darin, dass ich beide Stränge miteinander verknüpfen möchte. Es geht mir um die Frage, welchen Einfluss gesellschaftliche Diskurse über Jugendkriminalität auf die Identitätskonstruktionen, Lebenserfahrungen und -deutungen der Jugendlichen haben, über die in diesen Diskursen gesprochen wird. Hierzu führe ich narrativ-biographische Interviews mit straffälligen Jugendlichen, die eigene und/oder familiale Migrationserfahrungen haben. Es geht mir darum, den Jugendlichen einen Raum zu eröffnen, in dem sie über sich selbst sprechen können, und mich auf diese Weise ihren spezifischen Lebenserfahrungen annähern zu können; die Ebene der ›Objekte‹ soll in eine Ebene der ›Subjekte‹ verwandelt werden. Narrativ-biographische Interviews bieten sich hierbei als Methode an, da diese einen Zugang zu biographischen Lebensgeschichten ermöglichen und gleichzeitig auf gesellschaftliche Konstruktions- und Konstitutionsprozesse verweisen (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999: 35). Darüber hinaus werden narrativ-biographische Interviews häufig in der Migrationsforschung verwendet, da hierdurch die Möglichkeit besteht, die Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und die Verflechtungen multipler Verortungen und Positionierungen zu rekonstruieren (vgl. Lutz/Schwalgin 2006: 101 f.). Bei der Auswertung der Interviews geht es mir jedoch nicht nur – wie in der Biographieforschung üblich – um die biographische Fallrekonstruktion, sondern vor allem darum, mithilfe der Interviews Antworten auf meine diskurstheoretischen Fragen zu finden. Dabei ist meine Ausgangsfrage, welchen Einfluss gesellschaftliche Diskurse über Jugendkriminalität auf die Identitätskonstruktionen, Lebenserfahrungen und -deutungen der Jugendlichen haben, über die in diesen Diskursen gesprochen wird, nur eine von vielen Fragen, die sich hieran anschließen. Denn ganz grundsätzlich geht es darum, wie der Zusammenhang zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie zu denken ist. Sind alle Subjektpositionen, die in einem Interview eingenommen werden können, hervorgegangen aus Diskursen? Sind Subjekte nur Effekte von Diskursen? Oder gibt es eine Möglichkeit der Handlungsmacht, die dann auch in biographischen Erzählungen sichtbar wird? Es geht also um eine Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung bzw. – auf methodischer Ebene – um die Erweiterung der Biographieanalyse zur Diskursanalyse. In diesem Zusammenhang spielen die Arbeiten von Stuart Hall, die im Kontext der Cultural Studies entstanden sind, eine wichtige Rolle. Hall beschreibt – in Anlehnung an die machttheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Laclau 1990; Laclau/Mouffe 2006) ven Langzeitstudien des KFN zu nennen, bei denen Jugendliche während der Haft und nach Haftentlassung über mehrere Jahre hinweg immer wieder interviewt wurden (vgl. u.a. Bereswill 2003b; Bereswill et al. 2008; Koesling et al. 2004). 11

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

– Identität als eine Nahtstelle zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen und Prozessen, die Subjektivitäten produzieren, auf der anderen Seite (Hall 1996: 5 f.; vgl. auch Spies 2009b: 71; Supik 2005: 45). Das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt sei hierbei als Artikulation zu verstehen: Das Subjekt könne eine Subjektposition im Diskurs einnehmen, aber es sei nicht auf alle Zeiten auf diese Position festgelegt. Darüber hinaus gebe es eine Möglichkeit der Handlungsmacht (agency), denn eine Position könne auch aktiv ausgestaltet oder modifiziert werden (vgl. Kap. 4). Mithilfe des Konzepts der Artikulation lässt sich das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt auf theoretischer Ebene klären. Um die aufgeworfenen Fragen jedoch nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch bearbeiten zu können, ist ein weiterer Schritt nötig. Es geht darum, ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe Biographien als Artikulationen (vgl. Lutz/ Schwalgin 2006; Lutz 2010) analysiert werden können. Auf diese Weise soll nicht nur rekonstruiert werden, welche Diskurse in den Interviews (re-)produziert werden, sondern auch, welche Macht Diskurse auf biographische Erzählungen haben bzw. welche Möglichkeiten der Handlungsmacht für den Einzelnen bzw. die Einzelne bestehen. Wann wird welche Subjektposition eingenommen? Wie wird diese gefüllt? Und wann wird in eine bestimmte Position investiert und in andere nicht? All diese Fragen möchte ich am Beispiel dreier Interviews mit männlichen Jugendlichen bzw. Heranwachsenden3 diskutieren, die eigene oder familiäre Migrationsbiographien haben, nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) verurteilt wurden und zum Zeitpunkt des Interviews unter Bewährung standen. Ich ziehe hier die Beschreibung ›mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie‹ dem gegenwärtig üblichen Zusatz ›mit Migrationshintergrund‹ vor, auch wenn ich diesen im Rahmen der Arbeit ebenfalls verwende. Denn es stellt sich die Frage, nach wie vielen Generationen immer noch von einem Migrationshintergrund gesprochen werden soll bzw. wann dieser endlich einmal nicht mehr zur Markierung als ›Andere/r‹ herangezogen wird. Dennoch markiert natürlich auch die Beschreibung ›mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie‹ einen Unterschied und zementiert diesen in gewisser Weise. Dies ist ein Problem bzw. Paradoxon, das für die gesamte Arbeit gilt: Es geht mir darum, ein Phänomen zu analysieren, gleichzeitig bin ich jedoch – nicht zuletzt auch durch die Macht der von mir gewählten Worte – an dessen Konstitution beteiligt. Doch aus diesem Zwiespalt komme ich nicht heraus: Durch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Diskursen im Zusammenhang mit Migration, Männlichkeit und Kriminalität werden diese zu3

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Heranwachsende ist die juristisch korrekte Bezeichnung für diejenigen, die zum Zeitpunkt der Tat zwischen 18 und 21 Jahre alt waren (vgl. Kap. 5.2.2). Zur Vereinfachung werde ich im Folgenden meist nur von ›Jugendlichen‹ sprechen, wobei dann ›Heranwachsende‹ ebenso gemeint sind.

EINLEITUNG

gleich (re-)produziert und aktualisiert. Das gleiche gilt für die Wahl meiner Interviewpartner/-innen:4 Die Dekonstruktion setzt nun einmal die Konstruktion voraus; es ist nicht möglich über ›die Anderen‹ zu sprechen und gleichzeitig auch nicht (vgl. Spindler 2006: 51; Spies 2004). Dennoch muss es natürlich um die Frage gehen, wie über ›die Anderen‹ gesprochen wird (vgl. Mecheril et al. 2003: 109). Nicht zuletzt aus diesem Grund spielt neben der diskurstheoretischen Perspektive das Konzept der Intersektionalität im Rahmen dieser Arbeit eine wichtige Rolle. Hierdurch soll vermieden werden, dass ›Andere‹ naturalisierend als ›Andere‹ festgeschrieben bzw. durch den Bezug auf ›ethnische Differenz‹ weitere Differenzlinien außer Acht gelassen werden (vgl. Kap. 5.1). Darüber hinaus ist das Konzept der Intersektionalität für die Arbeit zentral, da es sowohl bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Diskursen als auch bei der Analyse der Interviews darum geht, verschiedene Differenzlinien in ihrem Zusammenhang und in Bezug auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkung zu betrachten (vgl. z.B. Lutz/Davis 2005). Gender, ›Rasse‹5/Ethnizität, Nationalität und Klasse sind wichtige Kategorien, die zur Erklärung der Straffälligkeit jugendlicher Migrant/-innen im gesellschaftlichen Diskurs herangezogen werden. Und sie spielen – in ihrer Verwobenheit – eine entscheidende Rolle bei den Positionierungen der Jugendlichen im Interview. Die Arbeit untergliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (Kontextbeschreibungen) beinhaltet eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Diskursen über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie. Angefangen bei der Frage, welche Rolle die Medien im gesellschaftlichen Diskurs spielen (Kap. 2.1), bildet dieser Teil sowohl den Einstieg in das Forschungsfeld als auch die Argumentationsbasis für die spätere Untersuchung der biographischen Wirkmächtigkeit von Diskursen (Teil III). Um das Feld einzugrenzen, habe ich mich hierbei (und daher auch bei der Auswertung der Interviews) auf männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund konzentriert. Denn es wurde schnell deutlich, dass im gesellschaftlichen Diskurs über diese Jugendlichen in ganz spezifischer Weise gesprochen wird. Dies zeigte sich bereits bei der Auseinander4

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Ich habe im Rahmen dieser Arbeit sowohl Interviews mit jungen Männern mit türkischem Migrationshintergrund geführt und ausgewertet als auch mit jungen Frauen und Männern mit russlanddeutschem Migrationshintergrund. Letztlich habe ich mich jedoch entschieden, den Schwerpunkt dieser Arbeit auf junge Männer mit türkischem Migrationshintergrund zu legen (vgl. Kap. 5.2). Im Englischen wird der Begriff ›Rasse‹ zur Bezeichnung einer analytischen und sozialen Kategorie wesentlich selbstverständlicher und daher auch ohne Anführungszeichen verwendet. Im deutschen Sprachgebrauch wird er jedoch meist in Anführungszeichen gesetzt, was auf seine spezifische Prägung im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und insbesondere dem Holocaust zurückzuführen ist (vgl. u.a. Lutter/Reisenleitner 2002: 105). 13

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

setzung mit der Polizeilichen Kriminalstatistik und den Dunkelfeldforschungen durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) (Kap. 2.2). Besonders deutlich wurden diese Spezifika jedoch bei der Auseinandersetzung mit den dominanten Erklärungsansätzen (Kap. 2.3). Denn hier zeigte sich schnell, dass das männliche Geschlecht sowie die ›andere Kultur‹ eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Kriminalität ›nichtdeutscher‹ Straftäter zu erklären. Im letzten Teil dieses Kapitels (2.4 Dominante Erklärungsansätze – revisited) geht es dann darum, das Verhältnis zwischen Migration und Kriminalität sowie zwischen Männlichkeit und Kriminalität kritisch zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang spielen neben dem Konzept der Intersektionalität Forschungen aus dem Bereich der Postcolonial, Cultural und Gender/Men’s Studies eine entscheidende Rolle, da mithilfe dieser die dominanten Ansätze dekonstruiert und alternative Erklärungen sowie Verortungsmöglichkeiten aufgezeigt werden können. Es soll hier der aktuelle Forschungsstand wiedergegeben und auf diese Weise der Blick für (Gegen-) Lesarten bei der Auswertung der Interviews geöffnet werden. Im zweiten Teil der Arbeit (Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung) geht es um die Klärung grundlegender methodologischer und methodischer Fragen zum Zusammenhang zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie und zur intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen. In Kapitel 3 werden hierzu zunächst die theoretischen Grundlagen der Biographieforschung (Kap. 3.1) dargelegt und die Durchführung narrativ-biographischer Interviews (Kap. 3.2) sowie das Vorgehen der strukturalen biographischen Fallrekonstruktion beschrieben (Kap. 3.3). Anschließend werden die gesellschaftlichen Annahmen und Erwartungen, die die Produktion und Rekonstruktion von Biographien beeinflussen, kritisch reflektiert (Kap. 3.4) und erste Überlegungen zur biographischen Wirkmächtigkeit von Diskursen angestellt (Kap. 3.5). Diese Überlegungen werden in Kapitel 4 systematisch fortgesetzt. Hier geht es auf theoretischer Ebene um den Zusammenhang zwischen Diskurs und Subjekt, wobei die Arbeiten von Stuart Hall und seine Auseinandersetzung mit Fragen der (kulturellen) Identität eine zentrale Rolle spielen. Zunächst ist hierzu jedoch in Kap. 4.1 die Anschlussfähigkeit der Biographieforschung an diskurstheoretische Arbeiten zu klären. Anschließend wird der Ausgangspunkt von Halls Überlegungen dargestellt (Kap. 4.2 Dezentrierung des Subjekts) und darauf folgend der diskurstheoretische Kontext skizziert (Kap. 4.3). Hierbei sind sowohl de Saussures Sprachtheorie, Foucaults Diskurstheorie als auch Laclaus und Mouffes Überlegungen zum Zusammenhang von Diskurs und Subjekt für das Verständnis von Halls Arbeiten wichtig. Hierauf aufbauend wird dann Halls Konzept der Artikulation vorgestellt, das für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Diskurs und Subjekt für diese 14

EINLEITUNG

Arbeit zentral ist (Kap. 4.4). Mit einem kurzen Zwischenfazit wird dann die theoretische Ebene verlassen (Kap. 4.5). Doch bevor der Einstieg in die Empirie erfolgen kann, geht es in Kapitel 5 zunächst noch um die Frage, wie sich die theoretischen Implikationen aus den vorangegangenen Kapiteln in der Forschungspraxis umsetzen lassen. Hierzu wird das Instrumentarium der strukturalen biographischen Fallrekonstruktion modifiziert und erweitert, so dass letztlich Biographien als Artikulationen intersektionell analysiert werden können (Kap. 5.1). Anschließend wird der Forschungsprozess beschrieben und so in den empirischen Teil der Arbeit übergeleitet (Kap. 5.2). Im dritten Teil der Arbeit (Intersektionelle Analyse von Biographien als Artikulationen) erfolgt schließlich die Auswertung der narrativ-biographischen Interviews, nach der zuvor beschriebenen Vorgehensweise. Es werden nun sowohl die Lebensgeschichten derjenigen, über die im gesellschaftlichen Diskurs gesprochen wird, als auch ihre Positionierungen im Diskurs analysiert (Kap. 6-8). Dabei spielen die Themen Migration, Männlichkeit und Kriminalität, um die es bereits im ersten Teil der Arbeit ging, wieder eine zentrale Rolle. Am Beispiel dreier Biographien werde ich mein Vorgehen veranschaulichen und gleichzeitig versuchen, die Fragen, die zuvor auf theoretischer Ebene behandelt wurden, nun auf empirischer Ebene zu klären: Innerhalb welcher Diskurse verorten sich die von mir interviewten Jugendlichen? Wann wird welche Subjektposition eingenommen und wie wird diese gefüllt? Welche Möglichkeiten der Handlungsmacht haben die Jugendlichen innerhalb biographischer Erzählungen? Und wie werden diese von den Jugendlichen genutzt? Im Schlusskapitel (Kap. 9) werden schließlich alle Teile noch einmal zusammengefasst und am Beispiel der Themen Migration, Männlichkeit und Kriminalität die Möglichkeiten der Positionierung zwischen Diskurs- und Handlungsmacht reflektiert. Ziel dieser Arbeit ist es zum einen, den Zusammenhang zwischen Diskurs und Subjekt theoretisch zu erarbeiten und auf methodologisch/methodischer Ebene einen Beitrag zur Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung zu leisten. Zum anderen geht es mir darum, die gesellschaftlichen Diskurse über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie zu dekonstruieren und diesen die (Selbst-) Positionierungen der Jugendlichen entgegenzusetzen, gleichzeitig jedoch deren Verstrickung und Einbettung in dominante Diskurse, »Achsen der Ungleichheit« (Klinger et al. 2007) und Herrschaftsdimensionen aufzuzeigen.

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Teil I Kontextbeschreibungen

2. Migration, Männlichkeit und Kriminalität im gesellschaftlichen Diskurs

1998 sorgte der Fall ›Mehmet‹1 für zahlreiche Schlagzeilen und öffentliche Diskussionen. Dem Jugendlichen aus München wurde vorgeworfen, noch bevor er strafmündig wurde, über 60 Straftaten begangen zu haben. Er wurde deshalb mit 14 Jahren in die Türkei ausgewiesen, obwohl er in Deutschland geboren wurde, in München aufgewachsen ist und seine Eltern seit über 30 Jahren in Deutschland leben. Im August 2002 erklärte das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig, und ›Mehmet‹ kehrte nach Deutschland zurück.2 Seitdem lebte er scheinbar unauffällig in München. Anfang März 2005 wurde ›Mehmet‹ jedoch erneut angezeigt und kurz darauf wegen räuberischer Erpressung, vorsätzlicher Körperverletzung und Betrugs zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Mit der erneuten Verurteilung von ›Mehmet‹ kehrten auch die Diskussionen aus dem Jahr 1998 zurück. So stellte beispielsweise der bayerische Innenminister Günther Beckstein die nächste Abschiebung bereits in Aussicht und betonte, wie wichtig die Integration der ›türkischen Mitbürger‹ in der deutschen Gesellschaft sei. Gleichzeitig verwies er darauf, dass ›Mehmet‹ in der Türkei keine Straftaten begangen habe, hier jedoch einfach nicht zurecht komme (vgl. Schallenberg 2005). In der Welt wurde ›Mehmet‹ als »Synonym für die gescheiterte Integration«3 bezeichnet und gefordert, dass »junge aus1 2

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Der Name wurde dem Jugendlichen von den Behörden aus Datenschutzgründen gegeben. Dieses Urteil verursachte zahlreiche Diskussionen und Kontroversen, die sich v.a. auf die Bedeutung der Staatszugehörigkeit bezogen. So schrieb die Süddeutsche Zeitung bspw.: »Mehmet ist in München geboren, er ist hier aufgewachsen, er hat seine halbseidenen Kumpels in Neuperlach kennen gelernt und er hat seine Überfälle, Schlägereien und sonstigen Untaten nicht irgendwo, sondern in München begangen. Er ist, sorry, ein Sohn dieser Stadt, wenn auch ein missratener [...].« (Makowsky 2002; zit. in: Beck-Gernsheim 2002: 40) Der bayerische Innenminister Günther Beckstein hingegen formulierte in einem Interview: »Für mich bleibt er [Mehmet] ein Ausländer.« (Müller-Jensch 2002; zit. in: BeckGernsheim 2002: 40) Vgl. http://www.welt.de/data/2005/03/04/604804.html [09.03.2005]. 19

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ländische Intensivstraftäter ihre Strafen im Heimatland verbüßen und dann dort bleiben müssen, weil sie nicht integrationsfähig sind«.4 Diese Debatten sind symptomatisch für den Umgang mit dem Thema Jugendkriminalität bzw. straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund in der (deutschen) Öffentlichkeit. Der Hinweis von Günther Beckstein, ›Mehmet‹ komme hier einfach nicht zurecht, entspricht der verbreiteten Auffassung, dass Migrant/-innen ihre Identität zwischen zwei Kulturen entwickeln und diese Spannung zu einem mehr oder weniger starken inneren Kulturkonflikt führe, der Einfluss auf das Verhalten nehmen könne (vgl. z.B. Bundesministerium des Innern 2006: 409 f.). Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass das Maß der Integration die strafrechtliche (Un-)Auffälligkeit regelt: mangelnde Integration begünstige straffälliges Verhalten bzw. – umgekehrt – ›integrierte‹ Migrant/-innen würden selten auffällig. Dadurch wird jede Integrationshilfe letztlich als ein Akt der Kriminalprävention betrachtet (vgl. Walter 2001: 216; Reich 2005: 243; Baier et al. 2006: 241). Dass ›Mehmet‹ in Deutschland geboren wurde, spielt bei diesen und anderen Diskussionen zum Thema Jugendkriminalität selten eine Rolle. Stattdessen wird in den Medien, aber auch von Politiker/-innen ein automatischer Bezug zum Migrationshintergrund der Jugendlichen hergestellt, was zuletzt bei den Diskussionen im hessischen Wahlkampf Ende 2007, Anfang 2008 zu beobachten war (vgl. Kap. 1). Auch das Schlagwort ›Ausländerkriminalität‹ taucht in den Medien immer wieder auf, obwohl in der wissenschaftlichen Literatur (vgl. z.B. Eisner 1998; Jäger et al. 1998; Yildiz/Tekin 1999) und z.B. auch im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht des Bundesministerium des Innern und des Bundesministerium der Justiz (Bundesministerium des Innern 2001: 308) beständig darauf verwiesen wird, dass diese Bezeichnung dazu verleite, einen kohärenten Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migration zu unterstellen, und hierdurch Differenz mit Devianz gleichgesetzt werde. Auf diese Weise wird ein Migrationsdiskurs (re-)produziert, bei dem – unterstützt durch Kollektivsymbole wie der ›Asylantenflut‹ oder dem ›vollen Boot‹ (vgl. z.B. Jung et al. 1997; Jung et al. 2000) – Einwanderung vor allem mit Bedrohung assoziiert wird (vgl. auch Spindler 2006: 90 f.; Mansel 2006: 270 f.). Straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie werden hierbei zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung über innere Sicherheit sowie über Ethnisierung, Kulturkonflikte und Toleranzgrenzen innerhalb einer als homogen konstruierten Gesellschaft (vgl. Tietze 2001: 241).

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Vgl. http://www.welt.de/data/2005/03/04/604641.html [09.03.2005].

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2.1 Zur Rolle der Medien »Mit den Jugendlichen mit Migrationshintergrund erfinden die Medien eine Gruppe, in der sie besonders gut Bilder von Verwahrlosung und Gewalt aufleben lassen können. In ihnen vereinen sich die beschriebenen kollektiven Symbole über MigrantInnen mit denen der Kriminalität – die Jugendlichen werden zur idealen Projektionsfläche.« (Spindler 2006: 92)

Es wäre aber wohl verkürzt, den herrschenden Diskurs über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund nur den Medien zuzuschreiben. Denn letztendlich sind Massenmedien lediglich »Instanzen der Selektion und Sinngebung« (Althoff 2002: 77), die nicht für den gesamten gesellschaftlichen Diskurs verantwortlich gemacht werden können. So wird der massenmediale Diskurs z.B. vom politischen Diskurs beeinflusst. Gleichzeitig bestimmen Medien mit der Auswahl ihrer Themen, wann und in welcher Form über etwas gesprochen wird, d.h. dass Medien auch Politik machen (vgl. Spindler 2006: 85). Sebastian Scheerer (1978) spricht in diesem Zusammenhang von einem »politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf«: Auch Politiker/-innen beziehen ihr Wissen über (Jugend-)Kriminalität vor allem aus den Medien.5 Dieses Wissen setzen sie im politischen Diskurs ein. Über die dabei entstehenden Debatten, Forderungen und Gesetzesentwürfe berichten dann wiederum die Medien (vgl. Althoff 2002: 85; Spindler 2006: 87 f.). Auf diese Weise (re-)produziert sich der Diskurs über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund beständig selbst. Dennoch schaffen Medien ›Realitäten‹. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit (vgl. z.B. Torfing 1999: 210 ff.; Lutz 2002). Bzw. anders herum ausgedrückt: »Bei unseren gesellschaftlichen Konstruktionen der Wirklichkeit nutzen wir ständig Informationen und Deutungen, die medial vermittelt werden.« (Yildiz 2006: 39) Insofern können Massenmedien als wichtige »Diskursgeneratoren« betrachtet werden: »Massenmedien setzen Themen in einer ganz bestimmten Weise auf die Tagesordnung, bringen sie in Umlauf und leisten auf diese Weise einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion und Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie bestimmen nicht nur, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als wichtig und diskussionswürdig erachtet wird, sondern auch die Art und Weise, wie darüber gesprochen oder gedacht wird.« (Yildiz 2006: 40)

Nicht zu unterschätzen ist hierbei jedoch auch die Rolle der Wissenschaft (vgl. z.B. Schulze/Spindler 2006: 64 ff.). Vor allem die jährlich vom Bundes5

Scheerer zeigt dies nicht am Beispiel Jugendkriminalität, sondern am Beispiel der Drogengesetzgebung in der BRD (vgl. Scheerer 1978: 223). 21

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kriminalamt herausgegebene Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) sowie die u.a. vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) und vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld (IKG) betriebene Dunkelfeldforschung stößt in den Medien auf große Resonanz. Stuart Hall et al. (1978: 57 ff.) sprechen in diesem Zusammenhang von primären Nachrichtenlieferanten, da bestimmte gesellschaftliche Institutionen »eine Definitions- und Gestaltungsmacht über spezifische Ausschnitte gesellschaftlicher Wirklichkeit besitzen und gesellschaftlich als glaubwürdig eingestuft werden« (Althoff 2002: 82). Die Medien hingegen gelten als sekundäre Definierer. Medien schaffen also keine neuen ›Realitäten‹, sondern vermitteln und verstärken lediglich die gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit, die in anderen Kontexten – z.B. in der Politik oder in der Wissenschaft – entstanden sind. Ich spreche daher von gesellschaftlichen Diskursen, um auf diese Weise die Verwobenheit von massenmedialen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig handelt es sich hierbei um eine Hilfskonstruktion, denn den ›Ursprung‹ der Diskurse werde ich Rahmen dieser Arbeit nicht klären können.6 Doch wie entsteht ein Diskurs? Diskurse werden an institutionellen Orten durch (kollektive) Akteure oder Ereignisse in Gestalt von konkreten Äußerungen verbreitet (vgl. Kap. 1). Dies kann mittels Diskussionsveranstaltungen, Ratgeberliteratur, Gesetzestexte, Demonstrationen, Fachbücher, Belletristik oder eben mittels politischer Aushandlungsprozesse, wissenschaftlicher Auseinandersetzungen oder durch die Massenmedien geschehen (vgl. Keller 2004: 66 f.). In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Migration, Männlichkeit und Kriminalität bestimmen die Polizeiliche Kriminalstatistik sowie die Dunkelfeldforschungen des KFN und IKG als primäre Nachrichtenlieferanten maßgeblich den gesellschaftlichen Diskurs. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus diesen Institutionen werden von Politik und Medien aufgegriffen (vgl. z.B. Bartsch et al. 2008), zum Teil sind Ministerien der Bundesregierung an Forschungsprojekten beteiligt (vgl. z.B. Baier et al. 2009) und die Autor/-innen der Studien richten sich auch direkt mit Veröffentlichungen an ein nichtwissenschaftliches Publikum.7 Darüber hinaus werden Experten und Expertinnen aus diesen Institutionen – allen voran sicherlich Christian Pfeiffer, Direktor und Vorstand des KFN – bei aktuellen Diskussio6

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Hierzu wäre es nötig, mittels einer eigenständigen Diskursanalyse z.B. der Frage nachzugehen, wie straffällige Jugendliche (sozial-)historisch konstituiert werden. Dies ist jedoch nicht das Anliegen meiner Arbeit (vgl. Kap. 1). Dirk Enzmann & Peter Wetzels (2000: 154) weisen beispielsweise explizit darauf hin, dass es ihnen mit Veröffentlichungen, die an ein nichtwissenschaftliches Publikum gerichtet sind, darum geht »einen Beitrag zu einer rationalen Kriminalpolitik zu leisten«.

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nen zum Thema oder für Expertisen befragt. Ich werde daher im Folgenden die Ergebnisse und Befunde der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Dunkelfeldforschungen darstellen (Kap. 2.2), um von diesen ausgehend die dominanten, die öffentliche Diskussion bestimmenden Erklärungsansätze zum Zusammenhang von Migration, Männlichkeit und Kriminalität vorzustellen (Kap. 2.3). Auf diese Weise soll der gesellschaftliche Diskurs über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund zumindest in groben Zügen nachgezeichnet werden. Andere, alternative Forschungen und Ansätze finden in der Öffentlichkeit hingegen kaum Beachtung. Dennoch gehe ich davon aus, dass auch sie eine Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen und diesen möglicherweise (langfristig) verändern können. Ich werde daher den dominanten Erklärungsansätzen alternative Forschungen und Ansätze aus dem Bereich der Postcolonial, Cultural und Gender/Men’s Studies entgegen setzen (Kap. 2.4). Auf diese Weise sollen die dominanten Ansätze hinterfragt und gleichzeitig alternative Möglichkeiten der Verortung aufgezeigt werden, die eventuell auch eine Rolle dabei spielen, welche Positionen die von mir interviewten Jugendlichen im Interview einnehmen können.8

2.2 Polizeiliche Kriminalstatistik und Dunkelfeldforschung Ende der 1980er Jahre und vor allem in den 1990er Jahren wurde eine quantitative Zunahme der Jugendkriminalität im Hellfeld registriert. Dies führte zu umfangreichen öffentlichen, wissenschaftlichen und auch kriminalpolitischen Debatten. Hierbei wurde u. a. immer wieder die Verschärfung des Jugendstrafrechts gefordert, ohne zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl jugendkriminologischer Forschungsarbeiten darauf verweisen, »dass die weit überwiegende Mehrheit junger Menschen im Laufe ihrer Jugendzeit vorübergehend mit geringfügigen strafrechtlichen Normverstößen auffällig wird, ohne dass sich daraus längerfristige kriminelle Karrieren entwickeln« (Bundesministerium des Innern 2001: 475; vgl. auch Bundesministerium des Innern 2006: 409). Inzwischen ist die Jugendkriminalitätsrate leicht rückläufig: Im Jahr 2008 wurde ein Rückgang der Zahl tatverdächtiger Jugendlicher um 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr registriert (vgl. Bundesministerium des Innern 2009: 11).9 Dies heißt jedoch nicht, dass das Thema aus der öffentlichen Dis8 9

Vgl. zum Zusammenhang zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie Kap. 4. Der Anteil der Jugendlichen an den Tatverdächtigen insgesamt betrug 2008 11,8 Prozent (2007: 12,1 Prozent). Dabei wurden Jugendliche hauptsächlich wegen Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Sachbeschädigung registriert (vgl. Bundesministerium des Innern 2009: 11). 23

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kussion verschwunden wäre. Vor allem vor Wahlen scheint die Kriminalität Jugendlicher immer wieder gut geeignet, um auf Stimmenfang zu gehen (vgl. Kap. 1). Und auch mit der Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist das Thema ›Jugendkriminalität‹ und damit eng verknüpft meist auch das Thema ›Ausländerkriminalität‹ alljährlich in Medien und Politik vorprogrammiert (vgl. z.B. Zand-Vakili 2009). Die Veröffentlichung der Tatverdächtigenzahlen wird hierbei nicht selten dazu genutzt, auf die von ›jungen kriminellen Ausländern‹ ausgehenden ›Kriminalitätsgefahren‹ aufmerksam zu machen, wobei im Subtext der Debatte häufig mitschwingt, dass das Gewaltproblem ein importiertes sei und »sich dementsprechend auch wieder exportieren lassen [müsse] – zur Not durch Ausweisung« (Gaschke/Jungclausssen 2008; vgl. Mansel/Albrecht 2003: 341). Die Bedrohung der ›inneren Sicherheit‹ wird hierbei als externe Bedrohung konstruiert und so auch kommuniziert (vgl. Albrecht 2001: 196). Innerhalb dieses Sicherheitsdiskurses kommt ein »ethnisches Alltagswissen« zum Tragen, das auf kulturellen Stereotypisierungen beruht und zu einer »Verschränkung von Kriminalisierung und Ethnisierung« führt (Spindler/Tekin 2000: 52; vgl. auch Yildiz/Tekin 1999). Bestimmte Gruppen werden hierbei ethnisiert und als Fremde identifiziert (vgl. Tekin 2007: 295), wobei die Zahlen der PKS diskutiert werden als ob es sich hierbei um unumstößliche Fakten handle. Nur selten wird berücksichtigt, dass bereits seit den 1960er Jahren darauf verwiesen wird, dass Kriminalstatistiken keine objektiven Fakten liefern, sondern durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden (vgl. z.B. Sack 1973: 47 f.; Mansel/Hurrelmann 1998: 80; Liell 2007: 274).

2.2.1 Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) Die PKS ist in erster Linie als ein Tätigkeitsnachweis polizeilicher Kriminalitätskontrolle zu sehen. Sie beleuchtet lediglich das Hellfeld und gibt Aufschluss darüber, welche Delikte der Polizei gemeldet und von ihr bearbeitet wurden. Die Zahl und Art der erfassten Delikte und die Ermittlung von Tatverdächtigen spiegeln daher zumindest teilweise polizeiliche Kontrollpräferenzen sowie Bewertungsänderungen wider und müssen unter Vorbehalt betrachtet werden (vgl. Bundesministerium des Innern 2001: 312; Bundesministerium des Innern 2006: 9; Hüttermann 2000: 539 f.). Auch handelt es sich bei den in der PKS aufgeführten Fällen häufig um Bagatelldelikte, die nicht von den Strafgerichten verurteilt werden (vgl. Spindler 2006: 87). 2005 entfielen etwa 60 Prozent aller polizeilich registrierten Fälle10 auf Eigentums- und Vermögensdelikte, wobei bei einem Fünftel (19,7 Prozent) aller Fälle der

10 Ausgenommen sind bei dieser Prozentangabe Staatsschutz- und Sraßenverkehrsdelikte. 24

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Schaden unter 15 Euro lag, bei zwei Dritteln aller Fälle blieb er unter 250 Euro (vgl. Bundesministerium des Innern 2006: 9 ff.). In Bezug auf den Anteil ›nichtdeutscher‹ Tatverdächtiger kommen darüber hinaus eine Reihe weiterer Verzerrungsfaktoren hinzu. So wird in der PKS die Staatsbürgerschaft als unterscheidendes Merkmal genutzt. Auf diese Weise finden sich unter den ›Nichtdeutschen‹ auch solche Tatverdächtige, die bereits in Deutschland geboren wurden, und unter den so genannten ›Deutschen‹ sind Migranten und Migrantinnen, die unter Umständen gerade erst nach Deutschland gekommen sind.11 Eine solche Unterscheidung steht im Kontrast zu einer Lebenswirklichkeit, die gekennzeichnet ist durch transnationale Migration und mehrfache Zugehörigkeiten (vgl. Kap. 2.4.1): »Die Daten, die mit solchen Untersuchungsmethoden produziert werden, sind deshalb im besseren Fall irrelevant – und im schlimmeren Fall irreführend, ja falsch.« (Beck-Gernsheim 2002: 24) Daneben ist zu berücksichtigen, dass z.B. 2007 bei 15,8 Prozent aller ›nichtdeutschen‹ Tatverdächtigen ausschließlich wegen Verstößen gegen das Aufenthalts-, Asylverfahrens- und Freizügigkeitsgesetz (EU) ermittelt wurde; Straftaten also, die von deutschen Staatsangehörigen nicht begangen werden können (vgl. Bundeskriminalamt 2008: 105). Darüber hinaus belegen neuere Dunkelfeldstudien des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, dass bei der Strafverfolgung, aber auch bei der Anzeigenbereitschaft durch die Bevölkerung ethnische Selektionseffekte zugunsten der ›Deutschen‹ und zu Lasten von Migrant/-innen existieren:12 Wenn ein ›Ausländer‹13 als Täter vermutet wird, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 52,0 Prozent Anzeige erstattet, wohingegen nur in 38,6 Prozent der Fälle, in denen vermutet wird, dass der Täter ›deutscher Herkunft‹ ist, Anzeige erstattet wird

11 Um diese von den offiziellen Statistiken konstruierte Unterscheidung im Blick zu behalten, aber die so markierte Differenz nicht zu reproduzieren, werde ich im Folgenden von ›Deutschen‹ und ›Nichtdeutschen‹ nur in Anführungszeichen sprechen. 12 Hierbei existieren enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern: Für in Bayern lebende Migranten und Migrantinnen ist z.B. die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei als Tatverdächtige/-r registriert zu werden, 1,5 mal so hoch wie für Migranten und Migrantinnen in Nordrhein-Westfalen (vgl. Mansel 2006: 270). 13 Mansel & Albrecht sprechen nur in der männlichen Form von ›Tätern‹, ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹. Die Zahlen bezüglich der Anzeigebereitschaft von Opfern und Zeugen im Zusammenhang mit der ›Ethnie‹ des Täters scheinen sich jedoch sowohl auf weibliche als auch auf männliche Täter zu beziehen, wobei die Anzeigebereitschaft gegenüber Frauen unabhängig von der ›Ethnie‹ bei nur 29,1 Prozent liegt (N=55), bei männlichen Tätern bei 46,1 Prozent (N=588) (vgl. Mansel/Albrecht 2003: Tabelle 2). 25

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(vgl. Mansel/Albrecht 2003: 347).14 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen: Schülerbefragungen zeigten, dass die Polizei seltener verständigt wurde, wenn Täter und Opfer derselben ethnischen Gruppe angehören, wohingegen die Polizei besonders häufig gerufen wurde, wenn Deutsche Opfer der Übergriffe von Migranten und Migrantinnen wurden (vgl. Pfeiffer/Wetzels 1998: 3 f.; Baier et al. 2006: 251; Baier et al. 2009: 4). Aus diesen Gründen wird immer wieder diskutiert, inwiefern die Zahlen der PKS – vor allem in Bezug auf das sensible Thema ›nichtdeutsche Tatverdächtige‹ – überhaupt aussagekräftig sind. Bekannt sind in dem Zusammenhang vor allem die Berechnungen Rainer Geißlers. Er unterscheidet zwischen »Arbeitsmigranten und ihren Familien«, »Asylbewerbern und Flüchtlingen«, »Illegalen« sowie »kriminellen Grenzgängern« und kommt mithilfe der Bevölkerungsstatistik und der PKS zu dem Ergebnis, dass »die Kerngruppe der ausländischen Arbeitsmigranten und ihrer Familien [...] mindestens genauso gesetzestreu [ist] wie Deutsche« (Geißler 2003: 375) bzw. bei Berücksichtigung der Unterschiede im Sozialprofil sogar »erheblich gesetzestreuer als Deutsche mit einem vergleichbaren Sozialprofil« (Geißler 2003: 377; vgl. auch Geißler 2002). Andere hingegen setzen sich dafür ein, die »erhöhte[n] Kriminalitätsbelastung« von Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht nur als »statistisches Artefakt« zu betrachten, »das nach Eliminierung aller Verzerrungsfaktoren hinfällig wäre« (Reich 2005: 235): »Die Mehrzahl der Kriminologen geht davon aus, dass tatsächlich eine Höherbelastung besteht, die ja schon deshalb erwartbar ist, weil die bekannten kriminalitätsrelevanten Faktoren bei Zuwanderergruppen gehäuft vorkommen. Auch aus einer Integrationsperspektive heraus wäre es ungünstig, sich auf dieses ›Artefakt‹-Argument zu stützen. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass Integrationsdefizite inzwischen auch auf die Gesetzestreue durchschlagen und Migrantenkinder für straffälliges Verhalten anfällig machen.« (Reich 2005: 235)15 14 Insgesamt wurden bei der hier zitierten Untersuchung 2081 Interviews durchgeführt, wobei bei den Auswertungen nur die Personen berücksichtigt wurden, die keinen Migrationshintergrund haben, d.h. die nicht selbst oder deren Eltern eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft haben (vgl. Mansel/Albrecht 2003: 345 ff.). Ob nach einer Straftat Anzeige erstattet wird oder nicht, hängt auch von der Art des Delikts, der Täter-Opfer-Beziehung, der materiellen Schadenshöhe und der persönlichen Bedeutung des geschädigten bzw. abhanden gekommenen Gutes ab. Doch selbst bei Berücksichtigung all dieser Faktoren, bleibt eine erhöhte Anzeigebereitschaft gegenüber Menschen, bei denen eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit vermutet wird, bestehen (vgl. Mansel/Albrecht 2003). 15 Kerstin Reich (2005) bezieht sich bei den »bekannten kriminalitätsrelevanten Faktoren« auf die unterschiedliche Bevölkerungs- und Sozialstruktur, die häufig für eine erhöhte Gefahr der Kriminalitätsbegehung verantwortlich gemacht wird (vgl. Kap. 2.3.2). 26

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In den Medien wird der Vergleich der Kriminalitätsbelastung von ›deutschen‹ und ›nichtdeutschen‹ Tatverdächtigen immer wieder gerne herangezogen. So hieß es beispielsweise in der Bild-Zeitung nach bereits erwähntem Überfall in der Münchner U-Bahn Ende 2007 (vgl. Kap. 1): »Mehr als jeder fünfte von der Polizei ermittelte Täter (22 Prozent) besaß laut Kriminalstatistik 2006 ›nicht die deutsche Staatsangehörigkeit‹. [...] Alarmierende Zahlen, wenn man bedenkt, dass der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung nur 8,8 Prozent beträgt!« (Koch 2007) Das Bundeskriminalamt selbst verzichtet seit einigen Jahren auf einen solchen Vergleich und verweist darauf, dass »die tatsächliche Belastung von hier lebenden Nichtdeutschen im Vergleich zu den Deutschen [...] nicht bestimmbar« ist und »für die langfristige Veränderung der Tatverdächtigenzahlen bei jungen Menschen [...] u. a. demografische Einflüsse eine Rolle« spielen (Bundeskriminalamt 2008: 74).

2.2.2 Dunkelfeldforschung Doch nicht nur die Hellfelddaten der Polizeilichen Kriminalstatistik verweisen auf eine erhöhte Delinquenzbelastung von jungen Migrant/-innen. So ermittelte das KFN die »ethnische Zusammensetzung« junger Gefangener in westdeutschen Jugendstrafanstalten und kommt zu dem Ergebnis, dass Ende Mai 1998 der Anteil »junger Türken« in Haft bei 15 Prozent lag und »damit fast dreimal so hoch wie ihr Bevölkerungsanteil in der entsprechenden Altersgruppe«, wohingegen die »einheimischen Deutschen [...] nur noch jeden zweiten Gefangenen bei einem Bevölkerungsanteil in der Altersgruppe von 78 Prozent« stellten (Pfeiffer/Wetzels 2000b: 5). Auch diese Zahlen können – zumindest zum Teil – mit der erhöhten Anzeigebereitschaft durch die Bevölkerung erklärt werden. Darüber hinaus ergaben Studien zum Entscheidungsverhalten der Jugendgerichte, dass türkische und auch jugoslawische Abgeurteilte schärfer sanktioniert werden und dass insbesondere ›nichtdeutsche‹ Mehrfachtäter, verglichen mit ›Deutschen‹, zu schwereren Sanktionen verurteilt werden, wohingegen Diversionsmaßnahmen und ambulante Maßnahmen seltener angewendet werden (Grübl/Walter 1999; vgl. auch Reich 2005: 240; Pfeiffer/Wetzels 2000b: 5).16 Um diese Verzerrungsfaktoren ausschließen zu können und genauere Daten zu Tätern und Opfern von Jugendgewalt zu erhalten, untersuchen KFN und IKG auch das Dunkelfeld der Straftaten, also die Taten, die der Polizei nicht gemeldet werden. So werden vom KFN seit 1998 Schülerbefragungen durchgeführt (vgl. u.a. Wetzels et al. 2001; Pfeiffer et al. 1998; Pfeiffer/Wetzels 1998). Im Jahr 2005 wurden hierzu über 23 000 Schüler aus elf bundes16 Vgl. hierzu auch den Erklärungsansatz der Etikettierung (Kap. 2.3.1). 27

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deutschen Städten, Landkreisen und dem Bundesland Thüringen17 befragt, wobei die Befragung der Jahrgangsstufe neun im Vordergrund stand (vgl. Baier et al. 2006; Baier/Pfeiffer 2007).18 Um nicht wie in der PKS die Staatsangehörigkeit zum unterscheidenden Faktor zu machen, wurden die Schüler/ -innen hier u.a. auch nach der Staatsangehörigkeit ihrer leiblichen Eltern bei deren Geburt befragt. Auf der Basis dieser Daten wurden dann ethnische Zugehörigkeiten konstruiert: Wenn beide Eltern ›deutsch‹ waren, wurden auch die Jugendlichen als ›deutsch‹ klassifiziert (69 Prozent der Befragten). Jugendliche, bei denen ein Elternteil ›deutsch‹, der andere ›nicht-deutsch‹ ist, wurden als ›deutsch mit Migrationshintergrund‹ bezeichnet (8,5 Prozent der Befragten). Die Zugehörigkeit aller anderen Jugendlichen wurde über die Staatsangehörigkeit der Mutter bei deren Geburt bestimmt.19 Die größte Gruppe machten hierbei die ›türkischen‹ Jugendlichen aus (7,3 Prozent aller Befragten).20 Die Jugendlichen wurden gefragt, ob sie im letzten Jahr eines oder mehrere ausgewählte Delikte begangen haben und wie oft sie dies taten. Hierbei zeigte sich, so die Autor/-innen der Studie, dass die »ethnischen Unterschiede« am deutlichsten bei der personalen Gewalt21 ausgeprägt sind: »Am auffälligsten sind türkische, jugoslawische und polnische Jugendliche, deren Raten die der Deutschen fast um das doppelte übersteigen.« (Baier et al. 2006: 246) Besonders markant zeigten sich diese Unterschiede bei der Analyse von 17 Die Analysen zum Thema Jugendgewalt beziehen sich jedoch nur auf die westdeutsche Stichprobe (vgl. Fn 20). 18 2005 wurden auch Kinder der vierten Jahrgangsstufe in die Untersuchung mit einbezogen, wobei diese vor allem in Hinblick auf ihren eigenen Medienkonsum und dessen Auswirkungen auf den Schulerfolg befragt wurden (vgl. Baier et al. 2006: 243). In den Jahren 2007 und 2008 wurden insgesamt 44.610 Schüler der Jahrgangsstufe neun aus 61 Landkreisen bzw. kreisfreien Städten befragt. Erste Ergebnisse dieser Studie wurden veröffentlicht in Baier et al. (2009). 19 Hierdurch sollte der Vorwurf vermieden werden, dass die Daten wenig aussagekräftig seien, da sie lediglich die Staatsbürgerschaft der Jugendlichen berücksichtigen. Die Konstruktionen die mit dieser Absicht entstanden sind, zeigen jedoch recht deutlich, wie wenig das Denken in nationalstaatlichen Kategorien mit der Lebenswirklichkeit der Befragten korrespondiert (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.1). Ich werde daher auch die vom KFN konstruierten ›ethnischen Zugehörigkeiten‹ im Folgenden nur in Anführungszeichen benennen. 20 Hierbei gibt es jedoch große Unterschiede zwischen den verschiedenen Erhebungsgebieten: In Stuttgart haben beispielsweise nur 51,1 Prozent aller Befragten zwei ›deutsche‹ Elternteile und der Anteil ›türkischer‹ Jugendlicher beträgt 12,7 Prozent, wohingegen in Thüringen nur 3,7 Prozent aller Befragten einen bzw. zwei ›nicht-deutsche‹ Elternteile haben. Aus diesem Grund beziehen sich die Analysen zum Thema Jugendgewalt nur auf die westdeutsche Stichprobe (vgl. Baier et al. 2006: 244). 21 Unter ›personaler Gewalt‹ wurden die Delikte Erpressung, Bedrohung mit einer Waffe, Raub und Körperverletzung zusammengefasst (vgl. Baier et al. 2006: 246). 28

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Mehrfachtätern: 4,1 Prozent der ›deutschen‹ Jungen und 1,2 Prozent der ›deutschen‹ Mädchen haben im Jahr zuvor fünf und mehr Delikte begangen, wohingegen knapp jeder siebte ›türkische‹ Junge (13,2 Prozent) zu den Mehrfachtätern zählt, der Anteil an den Mehrfachtätern somit um mehr als das dreifache höher ist als bei ›deutschen‹ Jungen (vgl. Baier/Pfeiffer 2007: 19). Dies könnte jedoch möglicherweise damit zusammen hängen, dass vor allem ›türkische‹ und ›jugoslawische‹ Jungen dazu tendieren, in ihren Antworten zu übertreiben. Um dies ausschließen zu können, wurden daher Jugendliche, die schon einmal Opfer einer Gewalttat wurden, in den Schülerbefragungen ebenfalls gebeten, die zuletzt erlebte Tat näher zu beschreiben und hierbei auch Angaben zur ›ethnischen Herkunft‹ des Täters zu machen. Hierbei ergab sich, dass über ein Viertel aller benannten Täter (27,8 Prozent) ›türkischer Herkunft‹ ist, wohingegen ihr Anteil an der Stichprobe bei nur 8,7 Prozent lag. »Sie sind also« – so die Folgerung der Autor/-innen der Studie – »viermal häufiger in der Täterpopulation zu finden als es ihrem Bevölkerungsanteil entspräche« (Baier et al. 2006: 250). Das IKG kommt in seinem Jugendpanel zu ähnlichen Ergebnissen, wobei hier – im Gegensatz zu den Befragungen des KFN – auch Bagatellstraftaten erfasst werden. Es zeige sich, dass »sich die nichtdeutschen Jugendlichen nur im Hinblick auf die Qualität der berichteten Gewalthandlungen, nicht aber auf den quantitativen Anteil der Gewalttäter von den jungen Deutschen« unterscheiden. Bei den schweren Gewalttaten und auch bei den Mehrfachtätern seien »ausländische und dabei insbesondere türkischstämmige Jugendliche jedoch überproportional vertreten« (Mansel 2006: 273). Insgesamt stimmen die Autor/-innen des IKG-Jugendpanels daher mit den Ergebnissen der Schülerbefragung des KFN überein: »Die in Deutschland lebende Bevölkerung nicht-deutscher Herkunft ist häufiger gewalttätig. Zudem hat sich ihr Gewaltpotenzial in den letzten Jahren auch kaum abgeschwächt. Werden die Befunde einbezogen, dass sich Jugendgewalt vor allem in den Großstädten zwischen den Ethnien abspielt und sich aufgrund der Bevölkerungsentwicklung zukünftig eine Zunahme des Anteils an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund abzeichnet, kommt der Frage nach den Ursachen der Höherbelastung eine entscheidende Rolle zu.« (Baier et al. 2006: 253)

Dieser »Frage nach den Ursachen der Höherbelastung« soll auch im Folgenden nachgegangen werden, wobei der Fokus auf männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund gerichtet sein wird. Denn die meisten Erklärungsansätze beziehen sich ausschließlich auf männliche Straffällige, wohingegen weibliche Straffällige kaum Beachtung finden (vgl. auch Kap. 2.3.4 & 2.4.2). Und es wird auch nach dem jeweiligen Migrationshintergrund unterschieden. Dies trifft vor allem auf die Kulturkonflikttheorie zu (vgl. Kap. 29

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2.3.4), da hier der ›Herkunftskultur‹ der (männlichen) Migranten eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. Doch auch bei den anderen Ansätzen wird häufig zumindest zwischen russlanddeutschen und türkischen bzw. jugoslawischen oder marokkanischen Jugendlichen unterschieden, was vor allem auch damit zusammenhängt, dass erstere meist im Gegensatz zu letzteren die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Ich habe mich daher dazu entschieden, mich sowohl bei den dominanten als auch bei den alternativen Erklärungsansätzen (Kap. 2.3 & 2.4) und bei der Auswahl der Interviews (Kap. 6-8) auf männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund zu konzentrieren, wohl wissend dass hierdurch die Gefahr besteht, Differenzen zu zementieren (vgl. hierzu auch Kap. 5.2).22 Mithilfe einer intersektionellen Perspektive soll jedoch zumindest der Blick auch auf andere Differenzlinien gerichtet und diese in ihrem Zusammenwirken untersucht werden. Doch bevor ich hierauf ausführlicher eingehe (Kap. 2.4.3), sollen nun die im gesellschaftlichen Diskurs dominierenden und auch vom KFN und IKG herangezogenen Erklärungsansätze zum Zusammenhang von Migration, Männlichkeit und Kriminalität vorgestellt und diskutiert werden.

2.3 Dominante Erklärungsansätze 2.3.1 Etikettierung Ein erster Erklärungsansatz ist der Etikettierungsansatz bzw. labeling approach, auf den bin ich bereits im vorangegangenen Unterkapitel eingegangen bin. Denn die Dunkelfeldforschungen, die zu dem Ergebnis kamen, dass die unterschiedlichen Kriminalitätsraten (vor allem in Bezug auf Gewalthandeln) von Migrant/-innen und Deutschen zumindest auch mit der unterschiedlichen Wahrnehmung und Sanktionierung durch Öffentlichkeit, Polizei und Justiz zusammen hängen, sind diesem Ansatz zuzurechnen (vgl. z.B. Mansel/Albrecht 2003; Grübl/Walter 1999). Beim labeling approach wird davon ausgegangen, dass sozial abweichendes Verhalten durch Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Instanzen 22 Neben dem unmittelbaren Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die dafür sprechen, sich für die Untersuchung einer Migrantengruppe zu entscheiden. So beschreibt z.B. Regina Römhild (2007: 168), dass mit dem Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft bei russlanddeutschen Migranten und Migrantinnen Hoffnungen verbunden seien, als ›Deutsche unter Deutschen‹ wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Diese Hoffnungen werden jedoch »im Alltag der Einwanderungsgesellschaft, die sie gleichwohl in den großen Pool der ›Fremden‹ einsortiert, enttäuscht. [...] Das scheinbare Privileg des ›Deutschseins‹ erweist sich in diesem Alltag als sozialer Zündstoff«. 30

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sozialer Kontrolle entsteht. Menschen mit Migrationshintergrund handeln nicht tatsächlich öfter abweichend, sondern die Abweichung von Migranten und Migrantinnen wird von der autochthonen Bevölkerung und den Strafverfolgungsorganen anders wahrgenommen und es wird auf sie besonders sensibel reagiert. Eine Etikettierung als ›Verbrecher‹ hat wiederum Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche des zukünftigen Lebensweges wie z.B. sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern, und kann daher dazu führen, erneut in kriminalisierbare Situationen zu geraten (vgl. Baier/Pfeiffer 2007: 5). Es handelt sich hierbei also um einen sozialkonstruktivistischen Ansatz, dessen Kerngedanke darin besteht, »dass ›kriminell‹ kein beschreibendes, sondern ein zuschreibendes Attribut ist« und Kriminalität immer ein sozial konstruierter Gegenstand ist (Greve/Enzmann 2001: 213f, Herv. i.O.): Menschen sind nicht kriminell, sondern werden durch die Gesellschaft dazu gemacht. Bei der Beschäftigung mit dem Thema Jugendkriminalität muss daher immer berücksichtigt werden, dass es sich hierbei um ein soziales Phänomen handelt und es muss gefragt werden, »wie dieses Phänomen zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft definiert wird, und welche kollektiven Deutungen mit diesem Phänomen verbunden sind« (Althoff 2002: 78). Der Zusammenhang zwischen Gewalt und (männlichem) Geschlecht ließe sich dementsprechend (zumindest auch) als ein Prozess der Zuschreibung verstehen: Gewalt wird Männern gesellschaftlich immer wieder zugerechnet und damit auch zugetraut (vgl. Bereswill 2007a: 102; Kap. 2.4.2). In gleicher Weise ließe sich der Zusammenhang zwischen dem Gewalthandeln jugendlicher Migrant/-innen und der Zunahme rechtsextremistischer Gewalt erklären, der zum Teil als wechselseitiger Prozess beschrieben wird (vgl. Halm 2000: 20): Rassistische Übergriffe oder auch einfach nur die Angst davor, eventuell Opfer rassistischer Gewalt zu werden, können dazu führen, dass junge Migrant/-innen sehr viel schneller mit Gewalt reagieren, um sich zu verteidigen bzw. weil sie erwarten, dass sie sich verteidigen müssen und daher einem (vermuteten) Angriff zuvorkommen. Alarmierend sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der Schülerbefragungen durch das KFN in den Jahren 2007 und 2008. Hier stimmten 29,7 Prozent der Befragten ›deutschen‹ Jugendlichen aus Jahrgangsstufe neun der Aussage »In Deutschland gibt es zu viele Ausländer« uneingeschränkt zu. Jede/r siebte Jugendliche habe darüber hinaus »in hohem Maß ausländerfeindliche Einstellungen«, 5,2 Prozent der ›deutschen‹ Jugendlichen werden als »eindeutig rechtsextrem« eingestuft (Baier et al. 2009: 6).

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

2.3.2 Sozialstrukturelle Benachteiligung Eine zentrale und wichtige Erklärung für die erhöhte Gewaltbereitschaft junger Migrant/-innen wird – neben dem etikettierungstheoretischen Ansatz – auch darin gesehen, dass vor allem Jungen mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie häufig im deutschen Bildungssystem scheitern und auch in anderen Beziehungen sozialstrukturell benachteiligt sind (vgl. z.B. Albrecht 2001: 204 f.; Geißler 2003: 376 f.; Pfeiffer/Wetzels 1998: 8 ff.). So besuchen im Vergleich zu ›deutschen‹ Schüler/-innen fast dreimal so viele ›türkische‹ Schüler/-innen die Hauptschule (vgl. Baier/Pfeiffer 2007: 26); etwa viermal so viele schließen keine Berufsausbildung ab (vgl. Geißler 2002: 37). Die Gymnasialquote ›türkischer‹ Jugendlicher ist hingegen alarmierend niedrig und – laut KFN-Schülerbefragung – in den letzten Jahren sogar noch gesunken. So besuchten im Jahr 1998 15,2 Prozent der ›türkischen‹ Jugendlichen ein Gymnasium, während es 2005 nur noch 11,5 Prozent waren. Die Gymnasialquote der ›Deutschen‹ ist im gleichen Zeitraum hingegen leicht gestiegen; von 49,0 auf 51,2 Prozent (vgl. Baier et al. 2006: 253).23 Diese Zahlen sind insofern alarmierend, als in Deutschland der formale Berufsabschluss als Bildungsminimum gilt, der den Einstieg in ein mehr oder weniger stabiles Arbeitsverhältnis ermöglicht (vgl. Walther 2002: 87). So kritisierte auch der UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz Villalobos in seinem im Februar 2007 erschienen Bericht (erneut) das deutsche Bildungssystem und forderte die Bundesregierung dazu auf, die extreme Selektivität und die damit verbundenen diskriminierenden Effekte vor allem auf junge Migrant/-innen zu beheben.24 Und auch der dritte Pisa-Bundesländervergleich, der im November 2008 veröffentlicht wurde, zeigte, dass »deutsche Schüler, deren Eltern zugewandert sind [...] zu den Verlierern [zählen], genauso wie Kinder aus bildungsfernen Familien« (Lehmann 2008). Darüber hinaus sind die Eltern von Jugendlichen mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen und/oder beziehen Sozialhilfe wie die Eltern von Jugendlichen ohne Migra23 Aktuellere Zahlen – die im November 2008 veröffentlicht wurden, sich jedoch nur auf Berlin beziehen – liefert die international vergleichende Studie TIES (The Integration of the European Second Generation). Demnach erhielten 40% der ›deutschen‹ Grundschüler in Berlin eine Gymnasialempfehlung, aber nur 20% der ›türkischen‹ Grundschüler. 6,1% der ›deutschen‹ Befragten verließen die Hauptschule ohne Schulabschluss, bei den ›Türken‹ läge der Anteil bei 15,5%. Im Vergleich zur ersten Generation gäbe es dennoch Fortschritte: So hätten nur 3,9% der so genannten zweiten Generation keinen Schulabschluss, 37,3% verfügten über einen Sekundarabschluss I und 55,3 % über eine Berufsausbildung (vgl. http://www.schulen-ans-netz.de/meldungen/aktuelles/tiesstudie berlin.php [26.11.2008]). 24 Vgl. z.B. http://www.dw-world.de/dw/article/0,,2413086,00. html [21.03.2007]. 32

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tionshintergrund (vgl. Pfeiffer/Wetzels 1998: 13). Laut einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die im Januar 2009 veröffentlicht wurde und auf Daten des Mikrozensus 2005 beruht, liegt die Erwerbslosenquote der ›türkischen Migranten‹25 bei 23 Prozent, die Jugenderwerbslosenquote sogar bei 28 Prozent. »In keiner anderen Herkunftsgruppe finden sich mehr Menschen ohne Bildungsabschluss (30 Prozent) und weniger mit einer Hochschulberechtigung (14 Prozent).« (Woellert et al. 2009: 36)26 Dieses Aufwachsen in materiell schwierigen Verhältnissen führt – so das gängige Erklärungsmuster in Bezug auf sozial-strukturelle Benachteiligung – zusammen mit den Benachteiligungen in der Schule und später im Erwerbsleben dazu, dass kulturell vorgegebene Ziele nicht auf den sozial vorstrukturierten Wegen erreicht werden können; was dann zu abweichendem Verhalten führen kann (vgl. Merton 1974: 289; Sack 1973: 54 f.).27 »Die Enttäuschung über den fehlenden Zugang zu den als wertvoll erachteten Ressourcen erzeugt Frustrationen, die sich in Aggressionen oder in alternativen Wegen der Beschaffung von Ressourcen (unter anderem Diebstahl) niederschlagen.« (Baier et al. 2006: 241)

Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf die gewachsenen Ansprüche der so genannten ›zweiten‹ und ›dritten Generation‹ verwiesen. Die erste Schülerbefragung zeigte, dass ›türkische‹ Jugendliche umso häufiger Gewalttaten begangen haben, je länger ihre ›Aufenthaltsdauer‹ in Deutschland ist. Pfeiffer & Wetzels (2000b: 12) vermuten daher zumindest u.a., dass

25 Als ›türkische Migranten‹ gelten laut dieser Studie – in Anlehnung an das Statistische Bundesamt – alle Personen, die eine türkische Staatsbürgerschaft haben oder hatten sowie deren Nachkommen, »unabhängig davon, ob sie selbst zugewandert sind oder schon in Deutschland geboren wurden«. Lediglich »Personen, deren Migrationshintergrund nur über die Eigenschaften der Eltern definiert ist, [können] diesen nicht weitervererben. Ihre Kinder gelten dann als Einheimische.« (Woellert et al. 2009: 87) 26 Nach der Veröffentlichung der Studie durch das Berlin-Institut wurde das Thema Integration – und hier vor allem die scheinbar schlechte Integration der ›Türken‹ im Gegensatz zu z.B. der der ›Aussiedler‹ und ›Vietnamesen‹ – breit in den Medien diskutiert (vgl. z.B. Spiewak 2009; Elger et al. 2009; kritisch z.B. Hilbk 2009). Klaus J. Bade kritisierte in diesem Zusammenhang die einseitige Orientierung der Studie an der Herkunft: »Natürlich muss man sie [die Probleme der Deutschtürken] benennen, vor allem aber muss man nach den Ursachen fragen. Dabei hilft die Herkunft nicht weiter.« (am Orde 2009) 27 Die Autoren und Autorinnen der KFN-Schülerbefragung folgen mit diesem Erklärungsansatz der Anomietheorie von Robert K. Merton, wonach »abweichendes Verhalten als Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und von sozial vorstrukturierten Wegen, auf denen diese Ziele zu erreichen sind, betrachtet werden kann« (Merton 1974: 289). 33

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»junge Einwanderer in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft offenbar noch gewillt [sind], Nachteile in Kauf zu nehmen. Je länger sie nun in Deutschland leben, umso mehr entstehen in ihren Köpfen deutsche Ansprüche, denen häufig keine deutschen Chancen gegenüberstehen. Diese Enttäuschung und die frustrierende Erfahrung, dass Wünsche und Realisierungsmöglichkeiten weit auseinanderklaffen, wird von manchen mit Gewalttaten beantwortet.«

Dieser These folgt auch Rainer Geißler. Er geht davon aus, dass »die eingewanderte Generation der Arbeitsmigranten« offensichtlich nicht in der Lage gewesen sei, »ihr eigenes bescheidenes Niveau an ihre Kinder weiterzugeben« (Geißler 2003: 378). Denn die »Migrantenkinder« orientierten sich offensichtlich an den Ansprüchen ihrer deutschen Bekannten und Klassenkameraden und empfänden daher »die strukturelle Benachteiligung und das damit zusammenhängende Chancendefizit als soziale Ungerechtigkeit«, auf die sie – »ähnlich wie Einheimische in dieser Lage« – mit Abweichung reagierten (Geißler 2003: 378 f.). Die Autor/-innen der KFN-Schülerbefragungen sehen allerdings in der sozialstrukturellen Benachteiligung der Jugendlichen nicht den eigentlichen Grund für ihre Höherbelastung. Denn die signifikant erhöhten Täterraten bei männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund seien auch dann noch nachweisbar, wenn die soziale Lage der Herkunftsfamilien und das Bildungsniveau statistisch kontrolliert werden. Bei einem Vergleich der Gewaltraten von Jugendlichen, die »relativ privilegiert aufwachsen«, dominierten noch immer »die jungen Türken mit einer im Vergleich zu den Deutschen etwa doppelt so hohen Rate (22,9 % zu 11,1 %)« (Pfeiffer/Wetzels 2000b: 9). Diesem Ergebnis stimmen auch die Autor/-innen des IKG-Jugendpanels zu: »Wetzels et al. [...] kommt das Verdienst zu, die Hypothese, ob nach Kontrolle von Faktoren der sozialen Lage ein Effekt der Ethnizität auf das Gewalthandeln festzustellen ist, einer empirischen Überprüfung zugeführt zu haben. Das Ergebnis besagt, dass die Höherbelastung türkischer männlicher Jugendlicher nicht allein durch Faktoren der sozialen Lage erklärt werden kann [...].« (Babka von Gostomski 2003: 254)

Von Mitarbeiter/-innen des Zentrums für Türkeistudien in Essen wird jedoch kritisiert, dass man nicht davon ausgehen könne, »dass Ausländer und Deutsche in gleicher Art und Weise auf soziale Benachteiligung reagieren« (Halm 2000: 18) und dass vor allem auch die subjektiv empfundene Situation der Jugendlichen berücksichtigt werden müsse: So könnte »auch bei ›privilegierten‹ Türken [...] ein Gefühl der grundsätzlichen sozialen Benachteiligung aufgrund der Ethnie bestehen, das die objektiv privilegierte soziale Lage stark relativiert und das Handeln entsprechend beeinflusst« (Sauer 2000b: 48). 34

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Diese Kritikpunkte stehen im Zusammenhang mit dem Desintegrationsansatz, der von Wilhelm Heitmeyer u.a. zur Erklärung von Gewalt in modernen Gesellschaften entwickelt wurde (vgl. z.B. Anhut/Heitmeyer 2000). Ich möchte daher im Folgenden diesen Ansatz und die daraus resultierenden Erklärungsmodelle kurz vorstellen, bevor ich auf die Erklärungsansätze eingehe, die von den Autor/-innen der KFN-Schülerbefragung näher untersucht wurden.

2.3.3 Desintegration Der Desintegrationsansatz geht davon aus, dass Jugendliche mit vermehrter Verunsicherung und Orientierungslosigkeit auf gesellschaftlichen Wandel und Individualisierungsprozesse reagieren: »Die sozialisatorischen Rahmenbedingungen heutiger Jugendlicher sind [...] gekennzeichnet durch eine prinzipielle Ambivalenz , die sich ergibt aus der Parallelität von gewachsenen individuellen Handlungs- und Wahlfreiheiten durch den Rückgang sozialer Fremdzwänge einerseits und neu einsetzenden Gefährdungen und Risiken durch den Zwang zu einer immer komplexeren Bewältigung von Lebensaufgaben ohne den Rückhalt stabiler Vergemeinschaftungen andererseits.« (Anhut/ Heitmeyer 2000: 35 f.)

Hierbei wird zwischen drei unterschiedlichen Dimensionen gesellschaftlicher Integration unterschieden. Bei der sozialstrukturellen Dimension steht die Teilhabe an materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft im Vordergrund. Diese erfolgt über den Zugang zu Arbeits- und Konsummärkten, d.h. hier sind die Schul- und Berufsbildung sowie die finanzielle Lage des Elternhauses für die Jugendlichen ausschlaggebend, ob sie sozialstrukturell integriert werden und sich hierdurch positionale Anerkennung sichern können. Bei der institutionellen Dimension sozialer Integration geht es um die Möglichkeiten der Teilnahme am öffentlichen Diskurs (z.B. durch Wahlberechtigung bei der Bundestagswahl) sowie um das subjektive Gefühl in Fragen der moralischen Anerkennung fair und gerecht behandelt zu werden. Die sozialemotionale Dimension sozialer Integration bezeichnet schließlich den Grad der Einbindung in gemeinschaftliche Gruppen wie Familie oder Freundeskreis. Wenn diese sozialen Beziehungen als verlässlich, selbstwertfördernd und identitätssichernd bezeichnet werden, so tragen sie zur emotionalen Anerkennung bei (vgl. Babka von Gostomski 2003: 255 ff.; Heitmeyer 1992). Desintegrationserfahrungen innerhalb dieser Dimensionen können – so der Erklärungsansatz – in anti-sozialen Einstellungen oder auch gewalttätigen Verhaltensweisen resultieren. Dies sei jedoch abhängig davon, wie die Desintegrationsprozesse individuell verarbeitet oder kompensiert werden. Es wird 35

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also kein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen Anerkennungsdefiziten und Gewalthandeln unterstellt, sondern es wird davon ausgegangen, dass subjektive Erfahrungsprozesse in Zusammenhang mit Anerkennung oder sozialen Kompetenzen als ›Puffer‹ dienen können. Dennoch wird davon ausgegangen, dass Anerkennungsdefizite das Risiko für Gewalthandeln steigern. Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie seien diesbezüglich besonders gefährdet: »[Es] wird vermutet, dass diese weniger Anerkennung erhalten als deutsche Jugendliche: Sei es über eine schlechtere Positionierung im Bildungssystem, über die häufigere Wahrnehmung der Verletzung der Prinzipien wie Fairness und Gleichbehandlung, sei es über eine weniger starke Ausrichtung auf eine Erziehung , die auf die Erfordernisse der bundesrepublikanischen Gesellschaft ausgerichtet ist.« (Babka von Gostomski 2003: 257 f.)

Dabei wird davon ausgegangen, dass sich erst am Ende einer so genannten desintegrativen ›Negativspirale‹ anomische Zustände einstellen: Migranten und Migrantinnen würden sich aufgrund sozialstruktureller Benachteiligung und mangelnder Konkurrenzfähigkeit in die eigene Community zurückziehen. Dadurch verringere sich die Intensität der integrativen Interaktionen mit der Mehrheitsgesellschaft, was wiederum die mangelnde Kompetenz sowie die sozialstrukturelle Benachteiligung verstärke. Hieraus resultiere dann eine Ausgrenzungserfahrung, die eine normative Bindungslosigkeit zur Folge habe und in Radikalisierungen wie z.B. kriminellen Jugendbanden oder auch religiösem Fundamentalismus28 resultiert. Die Mehrheitsgesellschaft reagiere hierauf mit verstärkter Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, was zusätzlich die Radikalisierung der Jugendlichen und den Rückzug in die eigene Community nochmals verstärke (vgl. Heitmeyer 1997: 640 f.; Rauer 2008: 51 ff.). Tatsächlich zeigte die Auswertung des IKG-Jugendpanels von 2001, bei dem mehr als 11.000 Fragebögen von Schüler/-innen der 10. Klasse in NRW ausgefüllt wurden, dass das Risiko unter den Gewalttätern zu sein, bei den ›türkischen‹29 Jugendlichen um 76 Prozent höher ist als bei ›deutschen‹ Ju28 Zur Erklärungskraft von Religion in diesem Zusammenhang hat vor allem auch die Studie von Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller & Helmut Schröder »Verlockender Fundamentalismus« (1997) beigetragen. 29 Auch im IKG-Jugendpanel zeigt sich die enorme Konstruktionsleistung, die mit einer Differenzierung nach nationaler Herkunft einhergeht (vgl. Kap. 2.2.2; Fn 19). Als ›türkische‹ Jugendliche bzw. ›Jugendliche mit türkischem Herkunftshintergrund‹ wurden hier Jugendliche bezeichnet, welche die türkische Staatsbürgerschaft haben bzw. Jugendliche, welche die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber die selbst bzw. von denen mindestens ein Elternteil in der Türkei geboren wurde oder in deren Familie die türkische Sprache gesprochen wird. Als ›deutsche‹ Jugendliche wurden Jugendliche bezeichnet, die keinen ›türkischen Herkunftshintergrund‹ und keinen ›Aussiedler-Hintergrund‹ haben 36

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gendlichen. Dabei erwiesen sich Anerkennungsdefizite, also vor allem eine wahrgenommene Benachteiligung gegenüber anderen Jugendlichen und der Besuch von Schulen, an denen es nicht möglich ist, die Allgemeine Hochschulreife zu erreichen, als wichtige Indikatoren in Bezug auf gewalttätiges Handeln (vgl. Babka von Gostomski 2003: 264 ff.). Wenn die Desintegrationsbelastungen bei den türkischen Jugendlichen berücksichtigt werden, so ein Ergebnis des IKG-Jugendpanels, ergibt sich hingegen kein Effekt der Ethnizität auf das Gewalthandeln der Jugendlichen, wobei das Risiko für gewalttätiges Handeln zusätzlich sinkt, wenn nicht vergeltungsorientierten Konfliktlösungsstrategien zugestimmt wird und die Jugendlichen nicht Mitglied einer Clique sind (vgl. Babka von Gostomski 2003: 271 ff.).

2.3.4 Kulturkonflikt Der Desintegrationsansatz beklagt also den gesellschaftlichen Wandel und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit der Jugendlichen aufgrund mangelnder kultureller Werte und sozialer Bindungen. Im Gegensatz hierzu gehen Anomietheoretische Ansätze gerade von wirksamen kulturellen Werten einer Gesellschaft aus. Hier wird lediglich angenommen, dass es bei der Verwirklichung dieser Werte aufgrund sozialstruktureller Ungleichheiten zu Abweichung kommt (vgl. Kap. 2.3.2). Die beiden Erklärungsansätze widersprechen sich also, folgen aber der gleichen Logik (vgl. Halm 2000: 19). Die Autor/ -innen der KFN-Schülerbefragung gehen im Gegensatz hierzu jedoch davon aus, dass »ausbleibender Erfolg über Generationen hinweg zur Rückbesinnung auf schon abgelegte kulturelle Vorstellungen bzw. zu ihrer übertriebenen Wertschätzung führen kann« und damit abweichendes Verhalten einhergehe (Baier et al. 2006: 242). Eine solche Erklärung kehrt die Logik der beiden zuvor beschriebenen Ansätze um: Denn plötzlich werden »kulturelle Normen und Werte als zu dauerhaft, stabil und wirksam diagnostiziert« (Liell 2007: 271, Herv. i.O.). Zentral ist in diesem Zusammenhang die so genannte Kulturkonflikttheorie bzw. Subkulturtheorie. Hierbei wird davon ausgegangen, dass sich die ›Kultur‹30 von Migrant/-innen und die der Mehrheitsbevölkerung grundlegend unterscheiden. In den Familien der Jugendlichen würden traditionelle Sitten und Bräuche des ›Heimatlandes‹ vermittelt, die im Kontrast zu gesellschaftlichen Erwartungshaltungen stehen, denen die Jugendlichen in der Schule, unter Gleichaltrigen und in den Massenmedien begegnen (vgl. z.B. Bundesministerium des Innern 2006: 409 f.; Celikbas/Zdun 2008: 121; Enzmann et al. und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen (vgl. Babka von Gostomski 2003: 260). 30 Zur Kritik an einer solchen essentialistischen Vorstellung von ›Kultur‹ vgl. Kap. 2.4.1. Ich setze daher ›Kultur‹ hier bewusst in Anführungszeichen. 37

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2003: 265; Sauer 2000a: 27; Schwind 2000: 459 f.).31 Als Folge wird von einer ›zerrissenen Identität‹ bzw. einem permanenten Gefühl der Heimat- und Orientierungslosigkeit ausgegangen: »[...] viele junge Türken [wissen] nicht, wohin sie gehören. Sie sitzen zwischen zwei Stühlen. Auf der einen Seite streben sie nach den Kulturgütern der deutschen Gesellschaft, auf der anderen Seite hängen sie an der türkischen Tradition, die ihnen durch die Familie vermittelt wird.« (Celikbas/Zdun 2008: 118)

Folgt man diesem Erklärungsmuster, so bleiben den Jugendlichen zwei Möglichkeiten: entweder sie orientieren sich an der ›Kultur‹ ihrer Eltern und geraten damit in Konflikt mit der deutschen Gesellschaft, oder sie orientieren sich an der deutschen ›Kultur‹ und geraten in Konflikt mit ihren Eltern (vgl. Baier/ Pfeiffer 2007: 4). Quer zu diesen Erklärungsansätzen liegt die Kategorie Geschlecht. Denn sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den massenmedialen und politischen Diskursen gilt: (Jugend-)Gewalt ist männlich (vgl. z.B. Pfeiffer/Wetzels 2000a). Dabei wird ein »scharfer Kontrast zwischen Männlichkeit, Gewalt und der Position des aktiven Täters auf der einen und Weiblichkeit, Gewalt und der Position des passiven Opfers auf der anderen Seite« konstruiert (Bereswill 2007a: 101).

Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen Auf der Basis dieser Überlegungen haben die Autor/-innen der KFN-Schülerbefragung versucht, die besondere Gewaltaffinität von vor allem ›türkischen‹ männlichen Jugendlichen zu erklären. Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass verschiedene ethnische Gruppen der Zuwanderer auch unterschiedliche ›Kulturen‹ im Hinblick auf Männlichkeitskonzepte repräsentieren und dass diese in einem Zusammenhang mit den Unterschieden der Gewalttäterbelastung stehen. Ihrer Vorstellung nach orientieren sich die Jugendlichen bei ihrem Gewalthandeln an »ethnisch und kulturell divergierenden Vorstellungen von Männlichkeit« (Wetzels et al. 2001: 288; vgl. auch Pfeiffer/Wetzels 2000b: 11), die aus der jeweiligen ›Herkunftskultur‹ kommen. Sie vermuten also eine Rückbesinnung auf die ›Kultur‹ der Eltern, die diese – das kommt verschärfend hinzu – möglicherweise selbst schon abgelegt haben. 31 In ähnlicher Weise interpretieren auch Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller & Helmut Schröder ihre Ergebnisse: Die Hinwendung zu einer religiös fundierten Gewaltbereitschaft lasse sich interpretieren »als Ausdruck bloßer Rückwendungen in eine verklärte Vormoderne«, als Hinweis auf »Modernisierungslücken« oder auch als Indiz für die These, »dass die dominierenden gesellschaftlichen Entwicklungen vielfältige Identitäts- und Gemeinschaftsfragen vor dem Hintergrund zunehmender Komplexität wie Desintegrationsbedrohungen neu und verstärkt aufwerfen« (Heitmeyer et al. 1997: 184). 38

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Um dies zu untersuchen, wurden bei der zweiten Welle von Schülerbefragungen im Jahr 2000 eine Reihe von Fragen integriert, in denen nach der Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen (GLMN) gefragt wurde.32 Dabei gingen die Autor/-innen der Schülerbefragung davon aus, dass die Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen positiv mit jugendlicher Gewaltdelinquenz korreliert ist. Dementsprechend müssten sich ethnische Gruppen signifikant in ihrer Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen voneinander unterscheiden (vgl. Enzmann et al. 2003). Es zeigte sich, dass nur ein kleiner Teil der befragten Jugendlichen diesen Normen, die von den Autor/-innen der Schülerbefragung auch als »Kultur der Ehre« bezeichnet werden (Baier et al. 2006: 257), überhaupt zustimmte. Wurden jedoch nur die männlichen Jugendlichen in die Auswertung mit einbezogen, so stellte sich heraus, dass knapp ein Viertel der ›türkischen‹ Jugendlichen den gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen zustimmt, wohingegen von den männlichen ›deutschen‹ Jugendlichen nur 3,9 Prozent zustimmen (vgl. Baier et al. 2006: 258). Allerdings wurde auch deutlich, dass die Akzeptanz gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen positiv mit dem sozioökonomischen Status korreliert ist. So zeigten bspw. auch ›einheimische deutsche Jugendliche‹ mit niedrigem sozioökonomischem Status einen vergleichsweise höheren GLMN-Wert als ›einheimische deutsche Jugendliche‹ mit hohem sozioökonomischem Status (vgl. Enzmann et al. 2003: 269). Für die Autor/ -innen der Schülerbefragung bedeutet dies: »Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen finden sich nicht allein innerhalb von Gruppen jugendlicher Migranten, erfahren dort jedoch unter besonderen soziostrukturellen Bedingungen von Marginalisierung sowie äußeren und inneren Kulturkonflikten eine besondere Ausprägung.« (Enzmann et al. 2003: 270)

Insgesamt kommen sie zu dem Ergebnis, dass sich das Bildungsniveau, der sozioökonomische Status der Eltern sowie die erlittene Elterngewalt in der Kindheit direkt auf die aktive Gewaltdelinquenz der Jugendlichen auswirken. Werden diese Variablen kontrolliert, so sei der »Faktor Ethnizität nicht mehr signifikant«, doch sei »im Einzelvergleich von einheimischen Deutschen und der Gruppe der anderen Ausländer die Gewaltinzidenz33 männlicher und weiblicher Jugendlicher [...] immer noch deutlich [...] erhöht« (Enzmann et al. 2003: 279). Dies ändere sich erst, wenn auch die Ausprägung gewaltlegitimie32 Dies geschah mithilfe von acht Items, in denen die Jugendlichen zustimmend oder ablehnend auf Aussagen wie »Ein richtiger Mann ist stark und beschützt seine Familie« oder »Ein richtiger Mann ist bereit, sich mit körperlicher Gewalt gegen jemanden durchzusetzen, der schlecht über die Familie redet« reagieren sollten (vgl. Enzmann et al. 2003: 273). 33 Bei der Gewaltinzidenz geht es um die Häufigkeit der begangenen Taten. 39

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render Männlichkeitsnormen kontrolliert werde: »Nach Kontrolle auch dieser Variable findet sich in keiner Migrantengruppe mehr eine gegenüber den einheimischen Deutschen erhöhte Gewaltinzidenz.« (Enzmann et al. 2003: 280) Interessanterweise zeigte sich dabei jedoch auch, dass die Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen nicht im Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit steht, sondern mit der Erfahrung von Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft. Denn bei Kontrolle des GLMN-Wertes war die Gewaltinzidenz bei den männlichen Jugendlichen der unterschiedlichen Migrantengruppen niedriger als die der ›einheimischen Deutschen‹. Unterschied man jedoch zwischen z.B. eingebürgerten und nicht eingebürgerten Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund, so zeigte sich bei letzteren eine deutlich erhöhte Gewaltdelinquenz (vgl. Enzmann et al. 2003: 280 f.). Enzmann, Brettfeld & Wetzels kommen daher zu dem Ergebnis, »dass es sich bei der als gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen operationalisierten Kultur der Ehre weniger um einen ethnisch spezifischen kulturellen Faktor handelt, als vielmehr um Orientierungen, die über die Ethnie hinweg allgemeiner in Kontexten von sozialer Benachteiligung und Marginalisierung entstehen. [...] Das hier untersuchte Phänomen der Kultur der Ehre dürfte eher jugendtypisch sein und der Entwicklung von Identität und Autonomie (bei gleichzeitiger Abgrenzung von den Werten und Normen der Herkunftsfamilie) unter den Bedingungen von sozialer und kultureller Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft dienen.« (Enzmann et al. 2003: 283)

Eine solche differenzierte Darstellung der Ergebnisse bezüglich der Befürwortung gewaltlegitimierender Männlichkeitsnormen fehlt jedoch bezeichnenderweise meist in den übrigen Veröffentlichungen zur KFN-Schülerbefragung (vgl. z.B. Baier/Pfeiffer 2007) und auch in der breiten Diskussion in der Politik und den Medien. Hier wird stattdessen davon ausgegangen, dass männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund ganz allgemein traditionelle Männlichkeitsmuster vermittelt bekommen, in denen sie sich – bedingt durch den Kulturkonflikt – verstricken. Die Jugendlichen verfolgten eine ›Kultur der Ehre‹, die in einer besonderen Gewaltaffinität resultiere. Männlichkeit und Ethnizität erscheinen dabei »als quasi natürliche, vordiskursive Dispositionen, die schnell als Ursache verschiedener Problematiken ausgemacht werden« (Huxel 2008a: 61).

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Innerfamiliäre Gewalterfahrungen Neben den gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen schreiben die Autor/ -innen der KFN-Schülerbefragung innerfamiliären Gewalterfahrungen eine zentrale Rolle für die Genese von Gewalt zu. Das wiederholte Erleben von innerfamiliärer Gewalt führe dazu, so die These, dass zum einen »Gewalt als legitimes Mittel der Machtausübung durch Stärkere anerkannt und erlernt« wird, und dass zum anderen, andere Kompetenzen zur Konfliktschlichtung nicht oder nur erschwert ausgebildet werden (Baier et al. 2006: 255; vgl. auch Baier et al. 2009: 80 f.; Celikbas/Zdun 2008: 126). Vor allem Jungen erlebten die Gewalt der Väter gegenüber Frau und Kindern als Normalität, was dazu führe, dass sie selbst ebenfalls gewaltbereiter werden. Darüber hinaus wird auch zum Teil darauf verwiesen, dass sich Jugendliche, die Gewalt in der Familie erlebt haben, bei ihrem eigenen Gewalthandeln eher als Opfer denn als Täter wahrnehmen. Sie bringen andere Personen in die von ihnen erlebte Situation der Hilflosigkeit und betäuben auf diese Weise symbolisch ihren eigenen seelischen Schmerz (vgl. z.B. Tschöke 2003: 75). Die Dunkelfeldforschung des KFN scheint diese Thesen zu bestätigen. Laut der Schülerbefragung im Jahr 2005 wurde fast jeder dritte ›türkische‹ Jugendliche in der Kindheit verprügelt oder geschlagen, hat also schwere Züchtigungen oder Misshandlungen durch die Eltern erfahren.34 Fast jeder fünfte ›türkische‹ Jugendliche gab darüber hinaus an, auch noch in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung Gewalt durch die Eltern erlebt zu haben. Gleichzeitig erreichen die ›türkischen‹ Jugendlichen die höchste Quote an beobachteter Gewalt, d.h. die ›türkischen‹ Eltern schlagen nicht nur ihre Kinder, sondern wenden auch untereinander häufiger Gewalt an (vgl. Baier et al. 2006: 255).35 Eine Erklärung für diese erhöhte Gewaltbereitschaft innerhalb der Familie wird in der sozialen Lage gesehen. So werden ganz allgemein Jugendliche, deren Familien von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe betroffen sind, mehr als doppelt so häufig misshandelt wie Jugendliche aus Familien, die diesen Belastungen nicht ausgesetzt sind (vgl. Pfeiffer et al. 1998: 87 ff.). Doch laut Christian Pfeiffer & Peter Wetzels (2000b: 9) scheint dies nicht die einzige Erklärung zu sein, denn wenn nur solche Familien miteinander verglichen werden, die derselben sozialen Gruppe angehören, bleiben die Unterschiede »weitgehend bestehen«. Hinzu kommt, dass – laut der ersten Schülerbefra34 Bei den ›Deutschen‹ liegt die Quote – laut KFN – ungefähr halb so hoch (vgl. Baier et al. 2006: 255). 35 Die Autoren und Autorinnen der Schülerbefragung problematisieren in diesem Zusammenhang auch, dass in ›türkischen‹ Familien der Elterngewalt seltener ein Ende durch Trennung oder Scheidung gesetzt werde (vgl. Baier et al. 2006: 255 f.). 41

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gung aus dem Jahr 1998 – die Häufigkeit von innerfamiliären gewalttätigen Auseinandersetzungen in ›türkischen‹ Familien steigt, je länger die Familien in Deutschland leben. Pfeiffer & Wetzels (2000b: 12) gehen daher davon aus, dass »traditionell strukturierte türkische Familien in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft in Deutschland noch einen starken Zusammenhalt haben«. Dieser Zusammenhalt gerate »mit wachsender Aufenthaltsdauer« jedoch ins Schwanken, wobei vor allem der Rolle des Vaters eine zentrale Funktion zukommt. In ihm sehen Pfeiffer & Wetzels eine Art ›Gralshüter‹ der traditionellen Normen und Werte des Herkunftslandes. So sei die »Dominanz des Vaters« in den ersten Jahren noch ungebrochen, doch dann stellten sich häufig die Kinder gegen die Traditionen und damit gegen den Vater, wohingegen die Mutter nicht selten Partei für die Kinder ergreife. Hinzu komme, »dass die Kinder die deutsche Sprache erheblich schneller erlernen als ihre Eltern und sich auch deswegen nach einigen Jahren in der neuen Welt besser zurechtfinden«. Dies führe in »hierarchisch strukturierten Familien« zu Spannungen, wobei wiederum insbesondere der Vater sich schwer damit tue, dass ihm seine Kinder an sozialer Kompetenz überlegen seien. Das Resultat: »Die Familie wird so zum Austragungsort von wachsenden Konflikten, in denen ein Teil der Väter unter Einsatz körperlicher Gewalt versucht, eine traditionelle Ordnung aufrecht zu erhalten.« (Pfeiffer/Wetzels 2000b: 12; vgl. auch Celikbas/ Zdun 2008: 122 f.)

2.4 Dominante Erklärungsansätze – revisited Die dominanten Erklärungsansätze, die sich mit der sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld abzeichnenden Höherbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzen, bewegen sich zwischen Etikettierungs-, Desintegrations- und Kulturkonflikttheorien, wobei in den Studien meist auch die sozialstrukturelle Lage der Jugendlichen berücksichtigt wird. Während die Mitarbeiter/-innen des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung eher Aspekte der sozialen Ungleichheit und Desintegration hervorheben, berufen sich die Autor/-innen der KFN-Schülerbefragung eher auf die ›kulturelle Andersartigkeit‹ der Jugendlichen. So sehen die Mitarbeiter/-innen des IKG Ursachen für die erhöhte Gewaltbereitschaft von vor allem ›türkischen‹ Jugendlichen in Diskriminierungserfahrungen und fremdenfeindlicher Gewalt, einer problematischen Familiensituation und den Folgen der Modernisierung (vgl. z.B. Heitmeyer et al. 1997); wohingegen die Autor/-innen der KFNSchülerbefragung davon ausgehen, dass die von ihnen festgestellten ethnischen Unterschiede in der Jugendgewalt subkulturell begründet sind. In gesellschaftlich als desintegriert zu beschreibenden Milieus würden Männlichkeitsnormen und Ehrvorstellungen kultiviert, denen sich Jugendliche vor al42

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lem dann zuwenden, wenn ihnen aktuell oder zukünftig aufgrund ihres Hauptschulbesuches oder der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern der Zugang zu den zentralen Märkten verwehrt bliebe. Darüber hinaus spiele die sozio-emotionale Anerkennung durch die Eltern eine wichtige Rolle bei der Frage, ob subkulturelle Normen und Werte, die Gewalttätigkeit fördern, übernommen werden oder nicht (vgl. Baier et al. 2006: 261 f.). In den Medien zeichnet sich diese Mischung aus verschiedenen Erklärungsansätzen ebenfalls ab. So heißt es beispielsweise in einem Artikel des Berliner Tagesspiegel vom 30.01.2008:36 »Ausländische Herkunft allein führt nicht zu mehr Gewalt und Kriminalität. Wohl aber bestimmte Milieus, denen solche Täter meist entstammen. [...] Die beste Prävention gegen Jugendgewalt ist eine gute Bildung. [...] Andererseits müssen Migrantencommunities akzeptieren, dass sie nicht auf ewig überholte Wertvorstellungen und Rollenmuster beibehalten können. Patriarchalische Familienverhältnisse und eine verbreitete Machokultur sind in Verbindung mit Bildungsmangel, wirtschaftlicher Chancenarmut und dem Gefühl, ohnehin ausgeschlossen zu sein, ein giftiges, Gewalt begünstigendes Amalgam. Diese Machokultur und der entsprechende Erziehungsstil sind nicht mit unseren Werten vereinbar. Es geht nicht an, dass Söhne ihre Identität hauptsächlich über ständige Gewalterfahrung und Dominanzstreben entwickeln und Töchter lebenslang unter der Fuchtel ihrer Väter, Brüder und Ehemänner zu stehen haben. Ehre, Identität und Glauben tut es keinen Abbruch, wenn Migrantencommunities sich aus eigenem Antrieb der Erkenntnis öffnen, dass jegliche Art von Gewalt abzulehnen ist und dass Mädchen und Frauen dasselbe Menschenrecht auf Selbstbestimmung haben wie Männer.« (Mutlu 2008)

Auffallend ist, dass in den Medien keine alternativen Erklärungsansätze herangezogen und die dominanten Theorien nicht in Frage gestellt werden. Vor allem in Bezug auf die Kategorien Kultur, Ethnizität und Geschlecht lohnt es sich jedoch die Konstrukte, mit denen in den dominanten Ansätzen gearbeitet wird, zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang spielen alternative Forschungsansätze und Konzepte aus dem Bereich der Cultural, Postcolonial und Gender/Men’s Studies eine wichtige Rolle. Diese finden in den Medien bzw. ganz allgemein im herrschenden Diskurs kaum Beachtung, sind aber dennoch Teil des gesellschaftlichen Diskurses und werden unter Umständen auch bei den Positionierungen der Jugendlichen im Interview reproduziert (vgl. Kap. 6-8).

36 Der Artikel ist im Zusammenhang mit den Diskussionen über Jugendkriminalität im Hessischen Wahlkampf erschienen (vgl. Kap. 1). Nach der Wahl ebbte das Interesse am Thema sehr schnell wieder ab; ab Februar 2008 gab es in den überregionalen Zeitungen und Magazinen kaum noch Artikel (bzw. nur noch in ›gewöhnlichem‹ Ausmaß), die sich mit Jugendgewalt beschäftigten. 43

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Im Folgenden werde ich mich daher mit dem Zusammenhang von Migration und Kriminalität noch einmal auseinandersetzen (Kap. 2.4.1). Es geht mir nun vor allem um eine Dekonstruktion des essentialistischen Kulturbegriffes innerhalb der dominanten Erklärungsansätze. Postcolonial und Cultural Studies bieten hierfür eine kritische Perspektive, mit deren Hilfe das Wechselspiel zwischen Macht und Subjektivität untersucht werden kann und öffnen den Blick für alternative Positionierungs- und Handlungsmöglichkeiten (vgl. Mecheril 2006: 124), die möglicherweise auch innerhalb der biographischen Erzählungen der Jugendlichen eine Rolle spielen. Anschließend werde ich ausführlich auf den Zusammenhang von Männlichkeit und Kriminalität eingehen (Kap. 2.4.2) und mich hierbei vor allem mit Arbeiten auseinandersetzen, die innerhalb der (kritischen) Männlichkeitsforschung bzw. der Men’s Studies entstanden sind. Dabei geht es mir auch hier wieder sowohl um eine kritische Auseinandersetzung mit den dominanten Erklärungsansätzen als auch darum, den aktuellen Forschungsstand für die Auswertung der Interviews aufzuarbeiten. Am Ende dieses Kapitels werde ich schließlich den Forschungsansatz der Intersektionalität (2.4.3) vorstellen, mit dessen Hilfe das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren sozialer Ungleichheit zu erklären versucht wird. Auf diese Weise möchte ich die unterschiedlichen Kategorien zur Erklärung der Kriminalität männlicher Jugendlicher mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie explizit in ihrem Zusammenhang betrachten und gleichzeitig eine Perspektive vorstellen, die ebenfalls bei der Auswertung der Interviews eine wichtige Rolle spielen wird.

2.4.1 Migration und Kriminalität Vergleicht man die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung des KFN und IKG mit Studien aus anderen Mitgliedsstaaten der EU, so wird deutlich, dass auch hier Migrant/-innen und Angehörige ethnischer Minderheiten überdurchschnittlich unter den Tatverdächtigen, Angeklagten, Verurteilten und Häftlingen vertreten sind (vgl. die Beiträge in Tonry 1997). Dies gilt jedoch keinesfalls für alle Gruppen von Migrant/-innen und Minderheiten in gleichem Masse.37 So fallen in Deutschland und der Schweiz vor allem Jugendliche mit türkischem und jugoslawischem Migrationshintergrund durch eine besonders hohe Gewaltbereitschaft auf. In den Niederlanden übernehmen ›marokkanische‹ Jugendliche und Jugendliche aus der Karibik diese Rolle, während Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund nicht auffälliger sind als ›niederländische‹ Jugendliche (vgl. Gesemann 2000: 32; Albrecht 2001). In England und Wales besteht ein starker Kontrast zwischen der außerordentlich

37 Die folgenden Angaben beziehen sich v.a. auf Studien, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurden (vgl. v.a. Tonry 1997). 44

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geringen Auffälligkeit von Jugendlichen aus Pakistan, Indien und Bangladesch und der hohen Auffälligkeit von Jugendlichen in einer vergleichbaren sozial-strukturellen Lage, die aus dem karibischen Raum stammen. In Schweden hingegen scheinen Jugendliche aus Pakistan, Indien und Bangladesch in den Kriminalstatistiken etwas übervertreten zu sein (vgl. Eisner 1998: 12; Smith 1997; Martens 1997: 227). Allein diese Ergebnisse, die ebenso wie die Dunkelfeldforschungen von KFN und IKG den ethnischen Hintergrund bzw. die nationalen Herkünfte der Jugendlichen in den Vordergrund stellen, zeigen, dass einfache Modelle kaum geeignet sind, die Kriminalität von Jugendlichen mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie zu erklären. Eine vergleichbare soziale Lage ist nicht ausschlaggebend für die Kriminalitätsbelastung. Aber auch Kultur, Ethnizität und Nation stehen – entgegen der dominanten Erklärungsansätze – offenbar nicht in direktem Zusammenhang mit Kriminalität. Denn es ist wohl kaum zu erklären, warum angebliche Kulturkonflikte von ›türkischen‹ Jugendlichen in Deutschland zu erhöhter Gewaltbereitschaft führen, während ›Kulturkonflikte‹ von ›türkischen‹ Jugendlichen in den Niederlanden, die nach dieser Logik genauso vorhanden sein müssten, keine Auswirkungen auf das Gewaltpotential haben sollen.

Integration als Zauberwort Im gesellschaftlichen Diskurs spielt in diesem Zusammenhang die Forderung nach Integration eine wichtige Rolle. Integration gilt als ›Allheilmittel‹, das den Jugendlichen helfen solle, sich hier zurechtzufinden und vor delinquentem Verhalten schütze. Vor allem nach den bzw. nochmals verstärkt durch die Unruhen in Frankreich Ende 2005 gilt Integration als Zauberwort, um ›französische Verhältnisse‹ hier in Deutschland zu verhindern (vgl. z.B. Lau 2006). Sabine Hess & Johannes Moser (2009: 12) sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer »Hochkonjunktur des Integrationsbegriffes«, die begleitet sei von einem »Abgesang auf die so genannte Ära des Multikulturalismus«. Wurden damals Differenzen zelebriert, geht es nun um das Abschleifen derselben. Begleitet würde dies »von in katastrophischen Bildern inszenierten Berichten über ›Parallelwelten‹, ›Ghettos‹ [und] ›migrantische Jugendkriminalität‹«. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter der »Leerformel ›Integration‹« (Nikles/Griese 2005)? Zunächst einmal steht sie – auch in neueren Studien – als Metapher für soziale Inklusion (vgl. auch Kap. 2.3.3). Sie beschreibt »einen neutralen Prozess sozialstruktureller und politischer ›Einbeziehung‹« (Rauer/Schmidtke 2004: 249). Im Kontext von Migration ist hiermit jedoch nicht nur soziale Inklusion, sondern häufig auch die Forderung nach einer vollständigen kulturellen Unterwerfung verbunden: Es geht darum, sich an 45

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eine als homogen konstruierte Gesellschaft anzupassen. Insofern bedient die Forderung nach Integration einen essentialistischen Kulturbegriff und knüpft an die Vorstellung der ›Leitkultur‹ aus den 1990er Jahren an: Durch Integration soll »den immigrierten Anderen die deutsche Kultur- und Werteordnung« beigebracht werden (Nghi Ha/Schmitz 2006: 233; vgl. auch Ronneberger/ Tsianos 2002; Sökefeld 2004; Yildiz/Tekin 1999).38 Dabei wird übersehen, dass für Migrant/-innen der Begriff ›Heimat‹ meist nicht stabil und singulär ist (vgl. u.a. Römhild 2003: 42; Gemende et al. 2007: 28). Sie identifizieren sich zwar teilweise mit den Orten ihrer Herkunft, »[a]ber sie machen sich keine Illusionen über eine mögliche ›Rückkehr‹. Entweder werden sie niemals im wörtlichen Sinne zurückkehren oder die Orte, zu denen sie zurückkehren, [...] werden sich zur Unkenntlichkeit verändert haben.« (Hall 1995b: 41; vgl. auch Bhabha 2000: 246) Hierdurch wird jedoch nicht der neue Aufenthaltsort automatisch zu ›Heimat‹. Vielmehr etablieren Migrant/-innen soziale Felder, die geographische, kulturelle und politische Grenzen durchkreuzen. Sie verorten sich – so Floya Anthias (2002: 500) – an drei Orten gleichzeitig: in der Aufnahmegesellschaft, im Heimatland und innerhalb der Migrantengruppe, wobei es zwischen diesen Orten flexible Beziehungen gibt. So entwickeln Migranten und Migrantinnen multiple familiäre, ökonomische, soziale, religiöse und politische Beziehungen, durch die sie sowohl in ihr Herkunfts- als auch in ihr Residenzland (oder -länder) involviert sind (vgl. Apitzsch 2003b: 66) und müssen daher eher als ›Transmigrant/-innen‹ denn als ›Immigrant/-innen‹ verstanden werden (vgl. Penitsch 2003: 29 f.; Glick Schiller et al. 1992: ix; Lutz 2004: 480 f.).39

Hybride Identitäten Neuere Ansätze aus dem Bereich der Cultural und Postcolonial Studies hinterfragen und dekonstruieren daher die essentialisierenden und ontologisierenden Zuschreibungen und Konzepte von Kultur, Ethnizität und Identität (vgl. auch Kap. 4). Stuart Hall (u.a. 1994e) spricht in diesem Zusammenhang z.B. von ›neuen Ethnizitäten‹ oder auch ›hybriden Identitäten‹. Er setzt sich

38 Vgl. zur Integrationsdebatte in Europa auch den Sammelband von Sabine Hess, Jana Binder und Johannes Moser (2009). 39 Solche Überlegungen haben jedoch keinerlei Einfluss auf die aktuelle Integrationspolitik. So sprach sich die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer, z.B. im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der neuen Integrationsstudie (Woellert et al. 2009) gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft aus und begründete dies mit den Worten: »Das klärt ja nicht: Wo gehöre ich eigentlich hin.« (http://www.zeit.de/online/2009/05/inte gration-tuerken-schulabschluss [27.01.2009]) 46

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für eine Umdeutung des Ethnizitätsbegriffs40 und seine Entkopplung von rassistischen und nationalistischen Diskursen ein und betont die Geschichtlichkeit und Positioniertheit von Diskursen, innerhalb derer sich Zugehörigkeiten formieren. Darüber hinaus greift er das Konzept der Hybridität auf, das v.a. von Homi K. Bhabha (2000) entwickelt wurde, um einen dritten Weg zu beschreiben, wie Identität im Zeitalter der Globalisierung gebildet werden kann.41 Diese Möglichkeit würde von Menschen entwickelt, die für immer aus ihren Heimatländern zerstreut wurden und starke Bindungen zu den Orten ihrer Herkunft erhalten, jedoch ohne die Illusion, zur Vergangenheit zurückkehren zu können. Sie trügen die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich; jedoch mit dem Unterschied, »dass sie nicht einheitlich sind und sich auch nie im alten Sinne vereinheitlichen lassen wollen, weil sie unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinander greifender Geschichten und Kulturen sind« (Hall 1994b: 218; vgl. auch Hall 1995b: 41). In Anlehnung an Salman Rushdie (1992: 31) bezeichnet Hall diese Männer und Frauen als »Übersetzer« (Hall 1994b: 218), als Produkte der neuen Diaspora, die lernen mussten, mindestens zwei Identitäten anzunehmen und zwei kulturelle Sprachen zu sprechen, um zwischen ihnen zu übersetzen und zu vermitteln. Mit diesen Überlegungen geht es Hall nicht um eine Idealisierung der Zwischen-Existenz und des Zwischen-Raums, durch die die realen Lebensbedingungen von Migrant/-innen verharmlost und verwischt werden.42 Hybridität ist für ihn »kein vorübergehender Schwebezustand«, sondern »eine ›unwiderrufliche‹ [...] Positionierung« (Supik 2005: 58). Es ist ein Gegenkonzept zu 40 Ethnizität wird meist so gehandhabt, als sei sie eine »vorsoziale, primordiale, außergesellschaftliche Eigenschaft, die irgendwo in den Menschen tief verankert ist« (Gümen 2000: 175). Dabei handelt es sich um einen »highly contested term« (Anthias 2002: 497); um eine Naturalisierung, durch die soziale Gruppen zu homogenen Einheiten konstruiert werden (vgl. z.B. Baumann 1998: 296; Baumann 1999: 63f; Gutiérrez Rodríguez 1999: 32). Ausführlich zum Begriff der Ethnizität im Kontext postkolonialer Theorien vgl. Spies (2004). 41 Für Bhabha stellt das Konzept der ›Hybridisierung‹ eine Alternative zum Multikulturalismus dar, da es weder versucht, kulturelle Differenzen zu assimilieren, noch durch Prozesse des ›Othering‹ kulturelle Alterität fixiert (vgl. Pritsch 2001: 171). Migranten und Migrantinnen setzten »das Wirken der Nichtübersetzbarkeit der Kultur dramatisch in Szene« (Bhabha 2000: 335). Dadurch treibe sie die Frage der Aneignung von Kultur über den Traum der Assimilationisten oder den Alptraum der Rassisten hinaus und bringe sie »zu einer Begegnung mit dem ambivalenten Prozess der Spaltung und Hybridität, der die Identifikation mit der Differenz der Kultur kennzeichnet« (Bhabha 2000: 335; vgl. auch Göktürk 1998: 101; Yuval-Davis 2001: 99). 42 Diese Kritik wurde u.a. von Claudia Rademacher (1999: 267) in Bezug auf Bhabhas Hybriditätskonzept hervorgebracht. Zu einer ausführlichen Diskussion der Kritik am Hybriditätskonzept vgl. z.B. Castro Varela/Dhawan (2005: 100 ff.); Spies (2004). 47

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der Vorstellung, dass Identität »im Zeitalter der Globalisierung nur entweder zu ihren ›Wurzeln‹ zurückkehren oder in der Assimilation oder Homogenisierung verschwinden« könne (Hall 1994b: 218). Insofern ist es auch ein Gegenkonzept zur Kulturkonflikttheorie (vgl. Kap. 2.3.4). Im Unterschied zu der Behauptung, Migrant/-innen würden ›zwischen den Kulturen‹ aufwachsen und könnten keine eindeutige Identität entwickeln, betont das Reklamieren einer hybriden Identität die Stärke dieser Position (vgl. Räthzel 1999: 212); »an energy field of different forces« (Papastergiadis 2000: 258). Es wird all jenen widersprochen, die behaupten, Migrant/-innen seien zerrissen zwischen den entgegen gesetzten Anforderungen der verschiedenen Kulturen und wüssten deshalb nicht, wer sie seien. Stattdessen wird betont, dass Migrant/-innen nicht »zwischen«, sondern »auf allen Stühlen« sitzen (Otyakmaz 1995).43 Floya Anthias spricht in diesem Zusammenhang auch von ›translokaler Positionierung‹: »The focus on location (and translocation) recognizes the importance of context, the situated nature of claims and attributions and their production in complex and shifting locales. It also recognizes variability with some processes leading to more complex, contradictory and at times dialogical positionalities than others: this is what is meant by the term ›translocational‹. The latter references the complex nature of positionality faced by those who are at the interplay of a range of locations and dislocations in relation to gender, ethnicity, national belonging, class and racialization [...].« (Anthias 2002: 502)

Ein solches Verständnis von Migration und kultureller Identität fehlt in den dominanten Erklärungsansätzen zu Jugendkriminalität. Hier wird davon ausgegangen, dass die Bedeutung von Ethnizität für Migrant/-innen mit zunehmender Integration graduell abnimmt. Ethnische Selbstbeschreibungen z.B. als ›Türke‹ erscheinen in dieser Logik meist als problematischer »backlash« (Treibel 2003; vgl. Scheibelhofer 2005: 213), während alternative Studien auf der Basis der Dekonstruktion von kultureller Differenz die kulturellen Zugehörigkeiten sowie die komplexen Prozesse der Selbst- und Fremdrepräsentation rekonstruieren (vgl. z.B. Spindler 2006; Liell 2007).

43 Paul Mecheril (2003) bezeichnet dies als natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten: »Natio-ethno-kulturell Mehrfachzugehörige sind die im Prinzip Unentscheidbaren, sie sind doppeltes Mitglied, doppelt wirksam und doppelt verbunden, doppeltes Nicht-Mitglied, doppelt nicht-wirksam und doppelt unverbunden. Der Doppel-Status der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit ›Anderer‹, der nicht selten auch ein doppelter Status der Nicht-Zugehörigkeit ist, wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung nicht anerkannt, weil er ihr (modernes) Grundprinzip bedroht.« (Mecheril/Hoffarth 2006: 238) 48

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»Konzepte wie das der hybriden Identitäten und der Mehrfachzugehörigkeiten sind geeignet, erstens die empirische Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeit von Zugehörigkeitskontexten konzeptionell zu fassen und die scheinbare Reinheit und Exklusivität von national-kulturellen Identitäten und Zugehörigkeiten infrage zu stellen. Zweitens ermöglichen sie es, Momente der Selbstverortung und Zugehörigkeit unter Verhältnissen sozialer Ein- und Ausgrenzung zu analysieren [...].« (Riegel/Geisen 2007: 10)

Allerdings sollten auch die Ansätze aus den Postcolonial und Cultural Studies nicht unhinterfragt übernommen werden. So weist beispielsweise Paul Scheibelhofer darauf hin, dass »neuere Zugänge oft dazu [tendieren], problematische ›soziale‹ Aspekte der Situation von Menschen mit Migrationshintergrund aus dem Blick zu verlieren« (Scheibelhofer 2005: 213); die Rolle der Kultur würde überbewertet, wohingegen Aspekte sozialstruktureller Benachteiligung eher vernachlässigt würden (vgl. auch Dietrich 2000: 71; Grimm 1997: 56; Räthzel 1999). Auch von anderen Autor/-innen wird kritisiert, dass mit der Rede von Hybridität die Lebensbedingungen im Exil, in der Diaspora und in der Migration ästhetisiert und die lokalen, geografischen sowie politischen Lebensbedingungen der Subjekte in der Migration verklärt würden (vgl. z.B. Gutiérrez Rodríguez 2001: 45; Gutiérrez Rodríguez 2003: 28; San Juan Jr. 1996: 366). Es würde die privilegierte Position postkolonialer Intellektueller verallgemeinert, wohingegen die Mehrheit der hier lebenden Migrant/-innen »dem Imago der Hybridsubjekte nicht so recht zu entsprechen« scheine (Terkessidis 1999: 239).

Hybridität vs. Kulturkonflikt und Integration Solange im gesellschaftlichen Diskurs jedoch noch immer zwischen ›Deutschen‹ und ›Nichtdeutschen‹ bzw. ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ unterschieden und damit Differenz zementiert wird, kann die Existenz hybrider Positionen nicht oft genug wiederholt werden. In diesem Sinne ist das Hybriditätskonzept als »heilsame Provokation für ein verkrustetes Selbst(miss-)verständnis im Umgang mit Andersheit und Fremdheit« zu verstehen (Rademacher 1999: 266). Gerade im Zusammenhang mit Jugendkriminalität werden die mediale Berichterstattung und der Mainstream der wissenschaftlichen Diskussionen beharrlich von der Kulturkonflikttheorie und der Forderung nach Integration dominiert (vgl. Kap. 2.3). Damit ist der gesellschaftliche Diskurs über junge Migrant/-innen auf theoretischer Ebene noch immer Ansätzen und Modellen aus den 1970er und 1980er Jahren verhaftet, die spätestens seit den Terroran-

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

schlägen 2001 und mit der Rede von ›Parallelgesellschaften‹44 eine gefährliche Renaissance erlebt haben (vgl. Weber 2007: 309). Grundlage der Kulturkonflikttheorie und auch der Forderung nach Integration ist eine Vorstellung von soziokultureller Homogenität, die sowohl den eigenen ›Kulturraum‹ präge als auch den der Migrant/-innen, wobei sich beide Räume – und dies gilt vor allen Dingen für die Herkunftsgebiete aus dem Nahen und Mittleren Osten – in grundlegender Weise voneinander unterscheiden (vgl. Geisen 2007: 30 f.; Riegel/Geisen 2007: 8 f.; Yildiz/Tekin 1999).45 Die Zugehörigkeit zu bestimmten Klassen und Schichten wird hierbei als weniger relevant angesehen und vernachlässigt, wohingegen Kultur in dieser Logik fungiert »als eine Art und Weise, Individuen und Gruppen a priori in eine Ursprungsgeschichte, eine Genealogie einzuschließen, in ein unveränderliches und unberührbares Bestimmtsein durch den Ursprung« (Balibar 1990: 30). Kulturelle Differenz ersetzt dabei den Begriff des biologischen Unterschieds bzw. der ›Rasse‹. So entsteht ein »Rassismus ohne Rassen« (Balibar 1990), dessen Paradigma die Unaufhebbarkeit der kulturellen Verschiedenheit ist (vgl. u.a. Bojadžijev/Karakayal 2003: 61; Gutiérrez Rodríguez 1996: 104; Terkessidis 1995; Terkessidis 1998). Migrant/-innen werden innerhalb dieser kulturalisierenden und ethnisierenden Diskurse als ›kulturell Andere‹ wahrgenommen, die sich anzupassen haben bzw. unter dem Stichwort ›Integration‹ in spezieller Weise gefördert und mit »assimilativen Sondermaßnahmen« (Mecheril/Rigelsky 2007: 76) behandelt werden müssen. Die ›eigene Kultur‹, die hastig gebastelt und als Schutzschild verwendet wird (vgl. Hall 1995b: 35), erfährt eine Aufwertung, die ›andere Kultur‹ wird zumeist als rückständig abgewertet: »Indem wir zwanghaft über die Notwendigkeit zur einseitigen Integration des Anderen sprechen, wird Integration als ein öffentlich zelebriertes Glaubensbekenntnis des

44 Bei der Debatte um Parallelgesellschaften »geht es um die diskursive Beschwörung des alteingesessenen Bürgertums gegenüber dem Rest der Welt«, wobei davon ausgegangen wird, dass innerhalb der Gesellschaft institutionell geschlossene, wohl abgegrenzte Parallelgesellschaften existieren (Bukow et al. 2007b: 16). Ausführlich zum Thema ›Parallelgesellschaften‹ vergleiche den Sammelband Was heißt hier Parallelgesellschaft? von Bukow, Nikodem, Schulze und Yildiz (2007a). 45 Bukow & Llaryora (1988) haben schon früh kritisch darauf verwiesen, dass die Herkunftsfamilie im Zusammenhang mit der Kulturkonflikttheorie als ›kulturelle Insel‹ betrachtet werde, die fortlaufend Fremde in der ›Aufnahmegesellschaft‹ gebiert. Auf diese Weise komme es zu einer durch die Wissenschaften mit hervorgebrachten ›Soziogenese ethnischer Minoritäten‹ (vgl. auch Apitzsch 2000: 58). 50

MIGRATION, MÄNNLICHKEIT UND KRIMINALITÄT IM GESELLSCHAFTLICHEN DISKURS

eigenen guten Willens, der deutschen Offenheit wie der moralischen Überlegenheit westlicher Demokratien instrumentalisiert.« (Nghi Ha/Schmitz 2006: 236) 46

Vor allem in Bezug auf Migrant/-innen mit türkischem Migrationshintergrund wird hierbei immer wieder auf die traditionellen, patriarchalen Geschlechterverhältnisse und die unterdrückte ›türkische‹ Frau verwiesen (kritisch hierzu z.B. Weber 2007: 308; Gemende et al. 2007; Emcke 2010), wobei sowohl ›deutsche‹ bzw. westliche Frauen als auch ›deutsche‹ bzw. westliche Männer von dieser Argumentation profitieren: Denn westliche Frauen werden auf dieser hierarchischen Differenzfolie interessanterweise gern als emanzipiert und in allen Bereichen gleichberechtigt dargestellt (vgl. Lutz 1992; Spindler 2007a: 289), und westliche Männer werden »zu Trägern von Fortschritt und Emanzipation« stilisiert (Spindler 2006: 144). Auf diese Weise werden die Konstruktionen von hegemonialen und subordinierten Männlichkeiten gefestigt (vgl. Kap. 2.4.2). Helma Lutz (2010: 118) spricht in diesem Zusammenhang von der »Produktion des ›imperialen Projekts‹«, für das »die Konstruktion des/der Anderen [...] als abweichend, different, abnormal« und »die Selbstdefinition beziehungsweise Selbstnorm(alis)ierung als tolerant, zivilisiert, emanzipiert, egalitär usw.« von zentraler Bedeutung sei. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund stehen dieser Argumentation folgend zwischen den Kulturen. Sie werden als Problem behandelt, »pathologisiert und [...] als passive Opfer ihrer Situation und nicht als aktiv handelnde Individuen betrachtet« (Juhasz/Mey 2003: 33; vgl. auch Scheibelhofer 2005: 211 f.; Yildiz/Tekin 1999: 96). Die Möglichkeit pluraler Formen von Zugehörigkeit wird innerhalb des Paradigmas der Integration und der kulturellen Differenz infrage gestellt. Selbstbeschreibungen als ›Transmigrant/ -in‹ gelten als Integrationshindernis oder auch -verweigerung. Soziale und räumliche Mehrfachbindungen werden als defizitäre Folgen einer gescheiterten Integration, und nicht als Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Migration verstanden (vgl. Römhild 2003: 41; Hess 2007: 183 ff.). Es findet ein sozialer Zuschreibungsprozess statt, durch den Menschen bestimmten Kollektiven und ›anderen Kulturen‹ zugeordnet werden – mit der Erwartung bzw. expliziten Aufforderung, dass sie sich von genau diesen Kollektiven bzw. diesen ›anderen Kulturen‹ distanzieren sollen (vgl. Geisen 2007: 40; Soysal 2004: 158). Vor allem männlichen Jugendlichen kommt in diesem Diskurs um kulturelle Differenz und Integration eine entscheidende Rolle zu:

46 Ein solches Verständnis von kultureller Differenz birgt u.a. auch die Gefahr des ›Diskriminierens‹, des Ausübens von Macht durch ›Tolerieren‹, wenn »Minderheiten Toleranz nur ›abbekommen‹« können oder – aus welchen Gründen auch immer – »als der Toleranz nicht würdig betrachtet« werden (Ang 1998: 277). 51

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

»Sie dienen nicht nur als Beispiel für eine mangelnde Integration, sondern sie werden auch politisch instrumentalisiert indem ihnen exemplarisch das Scheitern des Modells einer multikulturellen Gesellschaft zur Last gelegt wird und Verschärfungen des Ausländerrechts eingefordert werden. Auf diese Weise werden an den jugendlichen MigrantInnen die Grenzen von Einwanderung exekutiert.« (Riegel/Geisen 2007: 15)

2.4.2 Männlichkeit und Kriminalität Neben dem Verweis auf mangelnde Integration und kulturelle Differenz spielt das Geschlecht im gesellschaftlichen Diskurs über Jugendkriminalität eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 2.3). Dieser Zusammenhang zwischen Gewalt und Geschlecht ist auch in der Kriminologie und in der Männlichkeitsforschung weit verbreitet: Jugendgewalt gilt als ›Jungengewalt‹ (vgl. Kersten 2002).47 Hiermit verbunden ist häufig die Annahme einer Kausalität zwischen Gewalt und Männlichkeit, die – so Joachim Kersten, der als einer der ersten in Deutschland zum Verhältnis zwischen Devianz und Geschlecht forschte (vgl. z.B. Kersten 1986; Kersten 1997) – »ähnlich wie die Desintegrationsthese im Fahrwasser des Essentialismus« dümpelt (Kersten 2002): ›Männlichkeit‹ gelte wesensmäßig als böse und schlecht, wohingegen ›Weiblichkeit‹ von Natur aus für das Gute stehe.

Robert Connell: Hegemoniale Männlichkeit Ein Konzept, das sich diesem Essentialismus zu widersetzen versucht und gegenwärtig die Männlichkeitsforschung prägt, ist das von Tim Carrigan, Robert Connell und John Lee (1985) entwickelte und von Robert Connell (2006, Orig. 1995)48 weiter ausgeführte Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Zentrale Annahme dieses Konzeptes ist, dass jede Gesellschaft ein hegemoniales Männlichkeitsmuster ausbildet, dem sowohl Weiblichkeit als auch alle anderen Formen von Männlichkeit untergeordnet sind: »Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitäts-

47 Das war nicht immer so: Noch bis Ende der 1980er Jahre war Gewaltforschung weitestgehend geschlechtsblind (vgl. Kersten/Steinert 1997: 7), und wenn sich die Kriminologie – infolge des Feminismus – mit Geschlechterverhältnissen befasste, dann nur im Zusammenhang mit der von Männern an Frauen verübten Gewalt, die mithilfe von Patriarchatstheorien erklärt wurde (vgl. Meuser 1999; Meuser 2003a: 37). Zur Kritik an der Patriarchatsthese vgl. auch Lutz/Davis (2005). 48 Das Original erschien 1995 unter dem Titel ›Masculinities‹ und wurde 1999 zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht. 52

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problem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).« (Connell 2006: 98)

Männlichkeit konstituiert sich demnach durch eine doppelte Relation: in Bezug auf untergeordnete Weiblichkeit und in Bezug auf andere Männlichkeiten. Das Verhältnis zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit ist durch Dominanz und Überordnung bestimmt, wohingegen sich das Verhältnis zu anderen Männlichkeiten durch eine hierarchisch strukturierte Beziehung auszeichnet (vgl. Scholz 2008: 108). Connell geht davon aus, dass hegemoniale Männlichkeit gerade nicht durch gewaltförmige Herrschaft, sondern durch die Anerkennung allgemeiner kultureller Werte und Normen durch Männer und Frauen sowie durch institutionelle Anerkennung fundiert wird (vgl. Bereswill et al. 2007: 10). Er bezieht sich hierbei auf Gramscis Hegemoniebegriff, wonach Herrschaft in modernen Nationalstaaten nicht lediglich direkt durch Zwang und Gewalt ausgeübt wird, sondern die Interessen der herrschenden Gruppen und Klassen werden in Form von Hegemonie durchgesetzt, d.h. sie werden von den zu beherrschenden Gruppen und Klassen als ihre eigenen beziehungsweise als gesellschaftliches Allgemeininteresse angesehen (vgl. Scholz 2004: 37 f.; Brand 2004). Hegemoniale Männlichkeit nehme »in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position« ein, wobei diese Position »jederzeit in Frage gestellt werden kann« (Connell 2006: 97). Sie sei daher nicht für alle Zeiten fixiert, sondern eine »historisch bewegliche Relation« (Connell 2006: 98). Ältere Formen von hegemonialer Männlichkeit können durch neuere ersetzt werden (vgl. auch Connell/Messerschmidt 2005: 832 f.). Mithilfe der Annahme unterschiedlicher Männlichkeiten, die zueinander in einem hierarchisch strukturierten Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, können Machtbeziehungen unter Männern untersucht werden (vgl. Scholz 2004: 37).49 Connell geht davon aus, dass nur die wenigsten Männer das hegemoniale Männlichkeitsbild in der Praxis vollständig verwirklichen. Es wirke innerhalb einer Gesellschaft vor allem als verbindliches Orientierungsmuster, zu dem sich Männer zustimmend oder ablehnend in Beziehung setzen müssen (vgl. Scholz 2004: 38; Bereswill et al. 2007: 11): »Hegemonic masculinity was not assumed to be normal in the statistical sense; only a minority of men might enact it. But it was certainly normative. It embodied the currently most honored way of being a man, it required all other men to position themselves in relation to it, and it ideologically legitimated the global subordination of women to men.« (Connell/Messerschmidt 2005: 832) 49 Dies war mit dem Patriarchatskonzept nicht möglich, da dieses Männer und Frauen als jeweils in sich homogene Genusgruppe betrachtet (vgl. Scholz 2004: 37). 53

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Faktoren wie Klasse, Ethnizität, Alter, Bildungsstand, aber z.B. auch Religion sind entscheidend darüber, ob der Zugang zur hegemonialen Männlichkeit erreicht werden kann (vgl. Spindler 2007b: 121; Meuser/Scholz 2005). Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass die mächtigsten Männer einer Gesellschaft das Bild hegemonialer Männlichkeit verkörpern, denn häufig sind die offensichtlichsten Vertreter hegemonialer Männlichkeit eher Filmschauspieler oder Filmfiguren. Statistisch der Normalfall ist die komplizenhafte Männlichkeit. Diese Männer orientieren sich zwar an hegemonialer Männlichkeit und haben Teil an der »patriarchalen Dividende«, setzen »sich aber nicht den Spannungen und Risiken an der vordersten Frontlinie des Patriarchats aus« (Connell 2006: 100). Doch sie profitieren von hegemonialer Männlichkeit, da diese ihre Vormachtstellung gegenüber Frauen verfestigt und stabilisiert. Ausgeschlossen sind hingegen homosexuelle Männlichkeiten sowie Männlichkeiten, die symbolisch verweiblicht werden. Connell bezeichnet diese als untergeordnete Männlichkeiten, da sie am untersten Ende der männlichen Geschlechterhierarchie stehen (vgl. Connell 2006: 99 f.). Darüber hinaus differenzieren sich Männlichkeiten entlang der Kategorien Ethnizität und sozialer Randständigkeit. Connell definiert daher als vierten Typus den der marginalisierten Männlichkeit. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit wird breit rezipiert und eignet sich – insbesondere durch die weiterführenden Arbeiten von Messerschmidt, Kersten und Meuser – zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Männlichkeit und (Gewalt-)Kriminalität. Der große Vorteil dieses Konzepts besteht darin, dass es nicht von Männlichkeit an sich ausgeht, die im Kontrast zu Weiblichkeit steht, sondern zwischen verschiedenen Männlichkeiten unterscheidet. Diese sind – wie Connell betont – nicht als Charaktertypen zu verstehen, sondern als »Handlungsmuster, die in bestimmten Situationen innerhalb eines veränderlichen Beziehungsgefüges entstehen« (Connell 2006: 102). Doch obwohl die Männlichkeitsforschung wohl kaum noch ohne Connells Konzept vorstellbar wäre, wird es auch kontrovers diskutiert und scharf kritisiert. Ein Hauptkritikpunkt besteht darin, dass die Theorie hegemonialer Männlichkeit einer heteronormativen Konzeption von gender verhaftet bleibe und den Körper marginalisiere bzw. naturalisiere (vgl. Connell/Messerschmidt 2005: 836 f.). Aus einer diskurstheoretisch-psychologischen Perspektive argumentieren Margaret Wetherell und Nigel Edley (1999), »we need to consider the multiple and inconsistent discursive resources available for constructing hegemonic gender identities« (Wetherell/Edley 1999: 352), und schlagen daher vor, hegemoniale Männlichkeit als eine Subjektposition im Diskurs zu verstehen, die von Männern unter bestimmten Umständen strate-

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gisch eingenommen werden kann.50 Darüber hinaus stellen Michael Meuser und Sylka Scholz (2005) z.B. in Frage, ob es in einer Gesellschaft nur eine hegemoniale Männlichkeit geben kann und kritisieren, dass der Aspekt der kompetitiven Logik bei Connells Konstruktion von Männlichkeit zu kurz komme. Sie betonen, dass hegemoniale Männlichkeit durch die soziale Praxis der gesellschaftlichen Elite definiert wird und einem generativen Prinzip des doing masculinity folge, das jedoch in gleicher Weise auch für die Herstellung untergeordneter Männlichkeiten gelte (s. u.).51 Die (hier nur beispielhaft wiedergegebene) Kritik führte dazu, dass Robert Connell und James Messerschmidt sich veranlasst sahen, das Konzept zu überdenken und an einigen Stellen Überarbeitungen vorzunehmen (vgl. Connell/Messerschmidt 2005). Die Frage, die im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit jedoch eigentlich interessiert, ist eine andere: Wie lässt sich mithilfe des gesellschaftstheoretischen Konzepts hegemonialer Männlichkeit der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und (Gewalt-)Kriminalität erklären? Mit dieser Frage haben sich in Deutschland vor allem Joachim Kersten und Michael Meuser auseinandergesetzt. Ich möchte daher im Folgenden ihre Überlegungen vorstellen und mich in diesem Zusammenhang dann auch kritisch mit dem Konzept hegemonialer Männlichkeit auseinandersetzen.

Joachim Kersten: Gewalt als Bewerkstelligung von Geschlecht Joachim Kersten kritisiert die Geschlechtsblindheit in der Kriminologie und der Sozialpädagogik, die Kriminalität vor allem als Folge von sozialer Kontrolle und Etikettierung, Desintegration und sozialstruktureller Benachteiligung sehen (vgl. Kap. 2.3). Im Gegensatz hierzu betont Kersten die situativen Faktoren sowie den aktiven Anteil von widerrechtlich bzw. gewalttätig handelnden (jungen) Männern. Im Anschluss an Connell und die Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen James Messerschmidt (1993; 1997) versteht er Kriminalität und hier speziell Gewalttätigkeit als eine Möglichkeit der situationsbedingten und kontextbezogenen Bewerkstelligung von Geschlecht, die sowohl für männliche als auch für weibliche Gesellschaftsmitglieder besteht (vgl. Kersten 2003: 72 f.). Kersten spricht hierbei – Messerschmidt folgend – vor allem in Bezug auf marginalisierte Männer und männliche Heranwachsende, die weder über materielle noch symbolische Ressourcen verfügen, von einer Kompensationsdynamik. Für sie sei Gewalt eine letzte Möglichkeit ihre Männlichkeit zu verteidigen (vgl. Kersten 2002), auch wenn dies 50 Auf das strategische Einnehmen von Subjektpositionen im Diskurs werde ich in Kap. 4 noch ausführlich eingehen. 51 Eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Kritikpunkte am Konzept hegemonialer Männlichkeit findet sich bei Connell/Messerschmidt (2005). 55

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in der Konsequenz zu einer Verfestigung von Marginalisierung führe (vgl. Bereswill 2007b: 90). Gewalt bzw. ganz allgemein Kriminalität sei demnach nicht ein Ausdruck von Männlichkeit, sondern ein Mittel, um Männlichkeit herzustellen (vgl. auch Spindler 2006: 83); bzw. in den Worten Messerschmidts (1993: 85): »[C]rime by men is a form of social practice invoked as a resource, when other resources are unavailable, for accomplishing masculinity.« Viele aktuelle Forschungen bestätigen die Kompensationsthese von Messerschmidt und Kersten. So weist etwa Mechthild Bereswill (2007b: 90) darauf hin, dass sich in ihren qualitativen Interviews mit jungen, männlichen Inhaftierten »rigide Ideale einer wehrhaften Männlichkeit, verknüpft mit der abwertenden Feminisierung von Schwäche und Verletzbarkeit bei Männern« finden lassen. Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von Hypermaskulinität, die – und zwar nicht nur bei jungen Migranten – häufig mit Vorstellungen von männlicher Ehre verknüpft sei (vgl. auch Bereswill 2006).52 Auch Susanne Spindler, die sich in ihrer Dissertation mit Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten auseinandergesetzt hat, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Nach der Verweigerung anerkannter Männlichkeit suchen die Jugendlichen Auswege – dazu statten sie ihre Männlichkeit gewalttätig aus. Ihnen bleiben nur wenige Ressourcen und in ihrem Alltag ist Gewalt an der Tagesordnung. [...] Sie führen ihre Auseinandersetzung gegen Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit und staatlicher Macht, gegen Gegner wie beispielsweise die Polizei. Damit versuchen sie, sich überlegener Männlichkeit anzunähern, entfernen sich aber immer mehr davon. Ihre unterworfene Männlichkeit verkehren sie in Gewalt, körperliche Auseinandersetzungen sind ihr einziges Mittel. Das reicht aber gegen diesen Gegner nicht aus, und prädestiniert sie, zu verlieren.« (Spindler 2006: 313)

Spindler betont in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von Cliquen. Sie geht davon aus, dass die Jugendlichen eine Gruppe kreieren, der sie angehören dürfen, wobei Zugehörigkeit über Geschlecht und migrantische bzw. stadtteilbezogene Herkunft bestimmt wird. In ihren Cliquen versuchen sich die Jugendlichen gemeinsam durch gewalttätige Auseinandersetzungen und der Darstellung von Körperlichkeit in hypermaskuliner Form, hegemonialer Männlichkeit anzunähern, entfernen sich dabei jedoch immer mehr davon. Gleichzeitig grenzen sie sich durch die Ablehnung bzw. Abwertung von Homosexualität und Weiblichkeit von untergeordneten Männlichkeiten ab. Auf diese Weise (re-)produzieren sie innerhalb der Clique die Ordnung hegemo-

52 Mechthild Bereswill kritisiert jedoch auch die Kompensationsthese, worauf ich später noch näher eingehen werde. 56

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nialer Männlichkeit und erkennen diese an (vgl. Spindler 2006: 314; Spindler 2007b: 125, 132; Spindler 2007c: 263).

Michael Meuser: Gewalt als Strukturübung Auch Michael Meuser schließt an die Arbeiten von Connell und Messerschmidt an, kritisiert jedoch die Begrenztheit der Kompensationsthese in Bezug auf die Erklärung männlicher Gewalt: Zum einen könne nicht jede männliche Gewalttat als »Ersatzhandeln« verstanden werden, »mit dem eine fragile männliche Geschlechtsidentität zu bewältigen versucht wird« (Meuser 2003a: 47). Zum anderen sei mit der Identifikation des Motivs nicht der soziale Sinn kompensatorisch veranlasster Gewalt erschöpfend beschrieben. Seiner Meinung nach schenkt Connell »der Bestimmung von hegemonialer Männlichkeit als generativem Prinzip des doing masculinity« zu wenig Aufmerksamkeit (Meuser 2006: 168, Herv. i.O.). Mit seinem – an Bourdieus (1997) Überlegungen zur männlichen Herrschaft angelehnten – Ansatz, Gewalt als Strukturübung zu verstehen, versucht Meuser dem entgegen zu wirken. Auch bei Bourdieu basiert die soziale Konstruktion von Männlichkeit auf einer »doppelte[n] Distinktions- und Dominanzlogik« (Meuser 2003a: 39): Männlichkeit werde in Abgrenzung gegenüber Frauen, aber auch gegenüber anderen Männern konstruiert und reproduziert. Das Ergebnis dieses Herstellungsprozesses sei jedoch nicht unbedingt die Konstitution hegemonialer Männlichkeit. Diese würde – wie Meuser und Scholz (2005: 218) anmerken – meist eher verfehlt. Doch auch die Herstellung untergeordneter Männlichkeiten folge dem gleichen generativen Prinzip. Im Unterschied zum Konzept hegemonialer Männlichkeit, welche die heterosoziale Dominanz männlicher Herrschaft betont, rücke – so Meuser – bei Bourdieu stärker die homosoziale Dimension in den Vordergrund. In den von ihm beschriebenen »ernsten Spiele[n] des Wettbewerbs« (Bourdieu 1997: 203), lasse sich beobachten, wie »Hegemonie als Strukturprinzip des männlichen Habitus erworben und immer wieder bekräftigt wird« (Meuser 2006: 171). Es geht dabei um die Anerkennung durch andere Männer, während Frauen eher eine marginale, aber dennoch nicht unwichtige Position einnehmen: Sie sind »auf die Rolle von Zuschauerinnen oder [...] von schmeichelnden Spiegeln verwiesen, die dem Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückwerfen, dem er sich angleichen soll und will« (Bourdieu 1997: 203, Herv. i.O.; vgl. Meuser 2003a: 39 ff.; Meuser 2005: 316 f.). Auf homosozialer Ebene werde der männliche Habitus in verbalem und oft scherzhaftem Wettstreit,53 durch berufliche Konkurrenz, aber auch durch Gewalthandeln gegen-

53 Hermann Tertilt (1996: 198 ff.) beschreibt dies z.B. in Form der Beleidigungsduelle unter Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund. 57

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über anderen Männern hergestellt. In der heterosozialen Dimension geschehe dies durch das Übernehmen von Verantwortung für die Familie, dem Beschützen von Frau bzw. Familie, aber auch durch das Anwenden physischer Gewalt gegen Frauen (vgl. Meuser 2006: 163 f.). Im Anschluss an Bourdieu begreift Meuser (2005) das gewaltbetonte Verhalten junger Männer als eine »Strukturübung«, die der Aneignung des männlichen Geschlechtshabitus dient (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.3). Selbst wenn das Riskieren des Körpers zum Teil unter starkem Gruppendruck erfolgt, lasse sich dennoch nicht behaupten, dass das Risikohandeln ausschließlich »als kompensatorischer Akt angesichts einer fragilen Geschlechtsidentität« gesehen werden muss (Meuser 2005: 315): »Risikohandeln ist Teil der normalen Entwicklung männlicher Adoleszenter, es ist eine entwicklungsphasentypische Form der ernsten Spiele des Wettbewerbs, mit der dessen Spielregeln angeeignet werden.« (Meuser 2005: 319 f.) Der Clique oder peergroup kommt bei diesen ›Spielen‹ eine entscheidende Bedeutung zu, da diese als Anerkennung verschaffendes Publikum dient. Vor allem Männer sind als Ko-Akteure wichtig, denn Anerkennung als Mann könne – so Bourdieu (1997: 204) – nur von einem anderen Mann kommen. Der Körper fungiert hierbei als Spieleinsatz, der riskiert wird, um Männlichkeit darzustellen und sich anzueignen (vgl. Meuser 2005: 313 f.). »Unsicher ist die Männlichkeit insofern, als sie den männlichen Adoleszenten nicht als unverbrüchlicher Besitz zu eigen ist, sondern durch bestimmte Praktiken, zu denen Risikohandeln gehört, situativ hergestellt werden muss. Gleichwohl vermittelt die homosoziale Männergemeinschaft habituelle Sicherheit, indem sie keinen Zweifel lässt hinsichtlich der angemessenen Performanz einer anerkannten Männlichkeit. Es sind die ernsten Spiele des Wettbewerbs, in denen Männlichkeit sich formt, und die homosoziale Gemeinschaft sorgt dafür, dass die Spielregeln in das inkorporierte Geschlechtswissen der männlichen Akteure eingehen.« (Meuser 2005: 316)

Abweichendes Verhalten ist insofern also funktional für die Generierung des männlichen Geschlechtshabitus (vgl. auch Bereswill 2006: 246). In manchen männlichen Subkulturen – vor allem während der Pubertät und Adoleszenz – ist Gewalt darüber hinaus »ein entscheidender Faktor der Gemeinschaftsbildung«; sie ist eingelassen in einen geselligen Rahmen bzw. »eine Fortsetzung von Geselligkeit mit anderen Mitteln« (Meuser 2002: 67).54 Dennoch ist und bleibt der Charakter von Gewalt ambivalent: Es ist »sowohl eine Form der

54 Meuser (1999; 2002; 2003b; 2005) beschreibt dies u.a. am Beispiel von Hooligans, schlagenden Studentenverbindungen und der ›Turkish Power Boys‹. Nicht selten vergemeinschafte Gewalt diejenigen, die zuvor gegeneinander gekämpft haben. 58

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Reproduktion sozialer Ordnung als auch ein Ordnungsproblem« (Meuser 2002: 64).

Zusammenfassung und Kritik Mithilfe einer solchen handlungstheoretischen Lesart von Männlichkeit und Gewalt, die sich an den Ansätzen von Connell und Bourdieu orientiert, kann Gewalt im Hinblick auf die Konstitution und Konstruktion von Männlichkeit untersucht werden. In den Blick gerät dabei nicht nur die heterosoziale, sondern auch die homosoziale Dimension von Gewalt sowie deren Bedeutung für die soziale Ordnung einer Gesellschaft (vgl. Bereswill 2007a: 102). Während Kersten und Messerschmidt den Zusammenhang von Marginalisierung und Gewalt betonen, hebt Meuser vor allem die normalisierende Funktion von Gewalt für das Einüben des männlichen Geschlechtshabitus hervor. Gemeinsam ist den Ansätzen, dass Gewalt »als eine geschlechtsgebundene Handlungsressource« gesehen und abweichendes Verhalten als gesellschaftliches Phänomen diskutiert wird (Bereswill 2007a: 104). Offen bleibt jedoch die Frage, warum nicht alle marginalisierten Männer auf Gewalt bzw. abweichendes Verhalten zurückgreifen, bzw. warum manche andere Ressourcen nutzen, um ihre Männlichkeit zu bewerkstelligen (vgl. Jefferson 1996, zit. in: Bereswill 2007a: 105). Es stellt sich also die Frage, ob der Zusammenhang von Gewalt und marginalisierter Männlichkeit tatsächlich in solch einer direkten Form vorliegt. Mechthild Bereswill bezweifelt dies zum Beispiel. Sie weist darauf hin, dass sich Gewalt und Geschlecht aus einer biographischen Perspektive nicht gegenseitig erklären. Stattdessen geht sie davon aus, dass »der soziale Sinn von Gewalt biografischen Brechungen unterliegt, die das kontextspezifische Handeln von Individuen strukturieren« (Bereswill 2003c: 128). Die Schilderung eines jungen Mannes, der während eines Interviews im Gefängnis von Kämpfen auf dem Schulhof berichtet, könne als eine Form des doing masculinity verstanden werden. Im biographischen Kontext zeige sich jedoch, »dass die Ausübung von Gewalt eng mit Versagenskonflikten und mit der Befriedigung von Leistungsbedürfnissen verbunden ist« (Bereswill 2003c: 132). Auch an anderen Stellen im Interview erweise sich »die Verbindung zwischen Gewalthandeln und Männlichkeitsklischees [...] als starke Handlungslegitimation«, in einer biographischen Perspektive könne jedoch gezeigt werden, dass die Gewalt eher aus einem Anerkennungsdefizit resultiere, »dem keine eindeutige Verbindung mit Männlichkeitsvorstellungen zugeschrieben werden kann« (Bereswill 2003c: 133). Mechthild Bereswill kommt daher zu dem Schluss, dass es »nicht seine soziale Lage allein [ist], die den Heranwachsenden auf ein Auslaufmodell von Männlichkeit und die Ressource Gewalt Bezug nehmen lässt. Erst die spe59

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zifische Erfahrungskonstellation von vorenthaltener Anerkennung und familiärer Krise plausibilisieren sein aktives Agieren zum Schutz des eigenen Ansehens. Vor diesem Hintergrund wäre es gewagt, ihn und andere, die ähnliche Handlungsstrategien wählen, als Gralshüter überkommener Männlichkeit zu betrachten.« (Bereswill 2003c: 134)

Darüber hinaus seien junge Männer, die im Zusammenhang mit Gewalt auffallen, nicht nur Täter, sondern – sowohl in der eigenen Gruppe als auch im familiären Kontext – häufig Opfer von Gewalt (vgl. Bereswill 2007a: 107; Hosser/Raddatz 2005).55 Dementsprechend könne Gewalt nicht nur als Ressource zur Bewältigung von Geschlecht gesehen werden, sondern sei auch mit Schmerz und Angst verbunden. Durch das Bezugnehmen »auf dominante Symbolisierungen wehrhafter Männlichkeit« und das in Anspruch nehmen der »Männergruppe als Ort der wechselseitigen Anerkennung« werde diese »Täter-Opfer-Ambivalenz« zwar auf der Handlungsebene kaschiert, bleibe aber dennoch bestehen (Bereswill 2007a: 111). So könne man bei Männern im Gefängnis »tatsächlich sehen, wie Männlichkeit zuerst erschüttert, dann reproduziert und schließlich gesteigert und verfestigt wird« (Bereswill 2007a: 112, Herv. i.O.). Man könne jedoch auch rekonstruieren, wie Männlichkeit »durch eine nicht zu hintergehende Verletzungsoffenheit der Akteure« konstituiert wird; auch wenn diese von den Akteuren aus sich selbst heraus auf andere projiziert wird (Bereswill 2007a: 112).56 Diese Ergebnisse aus den von Mechthild Bereswill u.a. durchgeführten Längsschnittuntersuchungen von Männern im Gefängnis zeigen, dass es verkürzt wäre, abweichendes Verhalten allein als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten und die individuelle Ebene außer Acht zu lassen. Anke Neuber fordert dementsprechend »eine Untersuchungsperspektive [...], die beides in den Blick nimmt: Einerseits die Konflikte der Subjekte und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen junge Männer ihre Männlichkeit entwerfen und andererseits die zur Verfügung stehenden 55 Auch Michael Meuser verweist auf die »potentielle[n] Reversibilität von Täterund Opferstatus«, die er als wichtiges Merkmal homosozialer im Unterschied zu heterosozialer Gewalt sieht. Er spricht damit vor allem von Gewalterfahrungen innerhalb der eigenen Gruppe, wo Verletzungen auch als »demonstratives Zeichen der eigenen Männlichkeit« präsentiert werden können (Meuser 2002: 67 f.). Susanne Spindler betont dem gegenüber insbesondere die Erfahrung sexualisierter Gewalt im familiären Kontext. Einigen der von ihr interviewten Jugendlichen seien diese Erfahrungen nicht mehr zugänglich oder sie wollten nicht darüber sprechen. Doch bei den Jugendlichen, die über ihre eigene Missbrauchserfahrung sprechen, würde deutlich, dass sie sich schämten und sich selbst Schuld zuwiesen (vgl. z.B. Spindler 2007c: 259 f.). 56 Zum Zusammenhang zwischen Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit vgl. auch Bereswill (2006), Scholz (2008) und Spies (2009b). 60

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Möglichkeiten, Konflikte zu thematisieren, auszuhalten oder zu lösen, ohne auf Gewalt zurückzugreifen.« (Neuber 2003: 153)

2.4.3 Migration, Männlichkeit und Kriminalität in intersektioneller Perspektive Was bedeuten nun diese theoretischen Ansätze aus der Männlichkeitsforschung in Bezug auf den dominanten Erklärungsansatz des Zusammenhangs zwischen Gewalt und Geschlecht? Und inwiefern haben diese Ansätze Erklärungskraft, wenn zu den Faktoren Gewalt und Männlichkeit scheinbar verschärfend noch andere Faktoren wie z.B. die eigene und/oder familiale Migrationserfahrung, sozialstrukturelle Benachteiligung, Diskriminierung und eigene Gewalterfahrungen hinzukommen? Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es einer Perspektive, die über das Konzept hegemonialer Männlichkeit hinausgeht und es ermöglicht, verschiedene Differenzlinien in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Es geht darum, die gleichzeitige Wirksamkeit von u.a. Ethnizität, Geschlecht und sozialstruktureller Benachteiligung in den Blick zu bekommen.

Zum Zusammenwirken und -denken von Differenzlinien Um eine solche Perspektive handelt es sich bei der Intersektionalitätsanalyse. Der Begriff intersectionality wurde vor 20 Jahren von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) eingeführt und steht heute für ein methodologisches Konzept, mit dessen Hilfe »Achsen strukturierter Ungleichheit und kultureller Differenz« (Klinger/Knapp 2007: 35) analysiert werden können. Entwickelt hat sich die Intersektionalitätsanalyse vor dem Hintergrund der Debatten über ›Identitätspolitik‹, die seit Anfang der 1990er Jahre die Women’s bzw. Gender Studies im angelsächsischen Raum geprägt haben, wobei die Initiativen, die diese Diskussionen ausgelöst haben, schon wesentlich älter sind.57 Zusammengefasst ging es hierbei um eine Kritik an der TripleOppression-Theory (im Deutschen als ›Mehrfachunterdrückungsthese‹ bezeichnet), bei der darauf verwiesen wurde, dass Begriffe wie z.B. kollektive Erfahrung oder kollektive Identität nicht haltbar seien, da diese die unterschiedlichen Dimensionen von Machtverhältnissen und Mehrfachdiskriminierungen nicht erfassen könnten. Unterdrückungsmerkmale könnten nicht ledig57 Kimberlé Crenshaw (2009) sieht die Wurzeln des Konzepts u.a. im Schwarzen Feminismus des 19. Jahrhunderts, im Civil Rights/ Women Rights Movement, im Combahee River Collective und in Büchern wie z.B. This Bridge Called My Back (Moraga/Anzaldúa 1983) und Ain’t I A Woman (hooks 1982). Vgl. auch Phoenix & Pattynama (2006: 187). 61

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lich addiert werden, da auf diese Weise nicht die Erfahrungen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Positionierungen einhergehen, sichtbar gemacht werden können (vgl. Lutz 2001a: 217 ff.; Lutz/Davis 2005: 229 f.; Erel et al. 2007: 242): »Our argument against the ›triple oppression‹ approach was that there is no such thing as suffering from oppression ›as Black‹, ›as a woman‹, ›as a working-class person‹. We argued that each social division has a different ontological basis, which is irreducible to other social divisions [...]. However, this does not make it less important to acknowledge that, in concrete experiences of oppression, being oppressed, for example, as ›a Black person‹ is always constructed and intermeshed in other social divisions (for example, gender, social class, disability status, sexuality, age, nationality, immigration status, geography, etc.).« (Yuval-Davis 2006: 195)

Häufig wird der Begriff der Intersektionalität in der wissenschaftlichen Literatur verwendet, um auf die Verwobenheit unterschiedlicher Faktoren sozialer Ungleichheiten (z.B. soziale Herkunft, Geschlecht, ›Rasse‹,58 Ethnizität, Migrationsstatus etc.) aufmerksam zu machen.59 Darüber hinaus handelt es sich jedoch bei der Intersektionalitätsanalyse auch um ein »theoretisches Gerüst« (Lutz/Davis 2005: 231), das ganz allgemein genutzt werden kann, um Identitätskonstruktionen analysieren zu können, die sich auf der Kreuzung unterschiedlicher Differenzlinien bewegen. Dabei wird davon ausgegangen, dass jede/r Einzelne im Schnittpunkt unterschiedlicher Kategorien positioniert ist, wobei diese »Kategorien nicht als statische, sondern als flüssige und sich verschiebende« Kategorien betrachtet werden (Lutz/Davis 2005: 231). Identitäten sind demnach – in intersektioneller Perspektive – »nicht eindimensional, sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen«; sie sind »auf Kreuzungen von Differenzlinien zu lokalisieren« (Lutz/Davis 2005: 231; vgl. auch Lutz 2004: 482). Nicht zufällig beruhen die in diesem Unterkapitel vorgestellten alternativen Erklärungsansätze zum größten Teil auf theoretischen Ansätzen, die von hybriden Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten (Anthias, Hall und Bhabha) bzw. dem Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren (Connell und 58 Auch wenn der Begriff der ›Rasse‹ wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit im deutschen Sprachgebrauch meist in Anführungszeichen gesetzt wird (vgl. Kap. 1, Fn 5), ist er – gerade auch in Deutschland – wichtig als analytische Kategorie und sollte nicht durch andere Begriffe wie z.B. Kultur ersetzt werden (vgl. Lutz 2009). 59 Das Aufzählen dieser Faktoren ist nicht als abschließende Liste in Frage kommender Faktoren gemeint. So spricht Helma Lutz bspw. von 13-15 Differenzlinien, die sich kreuzen und untereinander verschränkt sind (Lutz 2009; Leiprecht/Lutz 2006: 219; Lutz/Wenning 2001a: 20). Vgl. zur Diskussion, welche Kategorien wie verbunden werden sollen, auch Winker & Degele (2009) sowie Kap. 5.1.2. 62

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Bourdieu) ausgehen und auf Studien, die sich auf die Intersektionalitätsanalyse berufen (z.B. Huxel 2008a; Huxel 2008b; Lutz/Davis 2005; Scheibelhofer 2007; Spindler 2006; Tunç 2006). Nur mithilfe solcher Ansätze gelingt es, sich der Lebenswirklichkeit straffälliger Jugendlicher zu nähern, ohne in skandalisierender Weise zu verkürzen bzw. durch eindimensionale Erklärungen die Komplexität des Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren, also die gleichzeitige Wirksamkeit von u.a. Ethnizität, Geschlecht und sozialstruktureller Benachteiligung aus den Augen zu verlieren. Diesen Überlegungen folgend sollen daher die zuvor genannten Faktoren nun in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden. Die Besonderheiten einer intersektionellen Perspektive und die methodischen Implikationen, die sich aus einer solchen Perspektive ableiten, werde ich in Kap. 5 noch ausführlich darstellen.

Inszenierungen von Männlichkeit Sylka Scholz (2004) hat in ihrer Studie über die Lebensgeschichten ostdeutscher Männer auf die Unsichtbarkeit von Männlichkeit hingewiesen. Die meisten Männer erfahren – dies bemerkt auch Michael Meuser in Bezug auf Gruppendiskussionen mit Männern unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus – ihre Männlichkeit als »fraglos gegeben« (Meuser 1998: 296). Durch Ethnisierung wird Männlichkeit jedoch sichtbar und damit auch ansprechbar: »Männlichkeit verliert dann ihre fraglose Gegebenheit, wenn sie von anderen Differenzlinien, wie hier von Ethnizität, durchkreuzt und durchzogen wird. [...] Die Selbstverständlichkeit, mit der Männer ihre Männlichkeit (er)leben bricht auf. Mit der Ethnisierung verliert Männlichkeit also ihre ›Normalität‹, die Migranten entsprechen hier nicht der gesellschaftlichen Normerwatung – aufgrund der Ethnisierung ihres Geschlechts. Sie werden in den Augen der Mehrheitsgesellschaft zu ›fremden‹, zu ›anderen‹ Männern.« (Huxel 2008a: 75, Herv. i.O.)

Doch straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie werden nicht nur als ›andere‹ Männer wahrgenommen. Sie leben darüber hinaus meist in sozialstruktureller Benachteiligung, haben keine oder schlechte Bildungsabschlüsse, keine oder schlecht bezahlte Arbeit60 und ihre Eltern sind arbeitslos bzw. verrichten einfache Arbeiten in Schicht- oder Zeitarbeit. Sie verkörpern damit den von Connell beschriebenen Typus marginalisierter Männlichkeit. Eine Erklärung für ihr abweichendes Verhalten besteht daher – in intersektioneller Perspektive – darin, dass sie mangels anderer Res60 Erwerbsarbeit gilt – darauf verweist z.B. Mechthild Bereswill – nach wie vor als »identitätsstiftendes Element von Männlichkeit«, obwohl gleichzeitig das »Ende der Erwerbsgesellschaft« als gesichert gilt (Bereswill 2003c: 128; vgl. auch Spindler 2007a: 296 f.; Spindler 2007b: 123 f.). 63

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

sourcen auf Gewalt zurückgreifen, um sich hegemonialer Männlichkeit anzunähern (vgl. Weber/Gosch 2005). Der oftmals durch Training bearbeitete (hyper-)maskuline Körper dient hierbei als Kapital und symbolisiert das von den Jugendlichen angestrebte (und modifizierte) Bild hegemonialer Männlichkeit. Dabei führt die Betonung des Körpers zu einer Verstärkung des Ausschlussprozesses: Die Jugendlichen werden von anderen als Gefahr wahrgenommen und fallen den Kontrollinstanzen durch den Einsatz des Körpers bei gewalttätigen Auseinandersetzungen auf (vgl. z.B. Spindler 2007b: 131 f.). Hierüber hinaus behaupten die Jugendlichen ihre Männlichkeit innerhalb der peergroup mithilfe von (ritualisierten) Wettkämpfen oder durch das ›Abrippen‹ von Schwächeren (vgl. Kap. 2.4.2).61 Auf diese Weise akkumulieren sie symbolisches Kapital, verschaffen sich schnelles Geld und erlangen kurzfristig Macht. Von den relevanten Feldern des Wettbewerbs bleiben sie jedoch ausgeschlossen (vgl. Weber 2007: 319). Sie haben nichts von der »patriarchalen Dividende« (Connell 2006: 100), denn es fehlt ihnen die finanzielle Ausstattung und Sicherheit, um Mädchen bzw. Frauen zu beeindrucken, um zu heiraten und um eine Familie zu ernähren (vgl. Kersten 2003: 79). Männlichkeit ist daher zwar zum einen als Ressource zu sehen, aber sie wird auch – wie Susanne Spindler dies betont – zur Falle. Statt mit legitimierter Gewalt statten die Jugendlichen ihre Männlichkeit mit illegitimer Gewalt aus und versuchen sich so (ihrer Vorstellung von) hegemonialer Männlichkeit anzunähern, ohne diese erreichen zu können. Gleichzeitig reproduzieren sie auf diese Weise die Ordnung hegemonialer Männlichkeit und erkennen diese an (vgl. Spindler 2007b). Daneben lässt sich das Gewalthandeln der Jugendlichen natürlich auch als »Strukturübung« (Meuser 2005) verstehen, mit der ein männlicher Geschlechtshabitus bzw. die Regeln geschlechtlicher Differenzierung angeeignet werden (vgl. Kap. 2.4.2). Dass dieses Risikohandeln in verstärktem Maße während der Adoleszenz auftritt, erklärt Michael Meuser (2005: 321) damit, dass es sich hierbei um »wechselseitig verschränkte Prozesse« handle. Das männliche Risikohandeln sei gleichermaßen als entwicklungsphasentypischer Modus des doing gender und als geschlechtstypischer Modus des doing adolescence zu begreifen. Dem Körper komme hierbei eine besondere Bedeutung bei der Durchsetzung erfolgreicher Männlichkeitskonzepte zu; er ist sozusagen die zentrale Instanz des doing masculinity und doing adolescence: »[B]edingt durch die mit der Pubertät sich einstellenden körperlichen Veränderungen und die dadurch hervorgerufene erhöhte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper« eigne sich dieser in besonderer Weise als Medium für die 61 Dies beschreibt z.B. Hermann Tertilt in seiner Ethnographie Turkish Power Boys (1996). Zur Praxis des ›Abrippens‹ vgl. auch die Interviews mit Murat und Serdar (Kap. 7 & 8). 64

MIGRATION, MÄNNLICHKEIT UND KRIMINALITÄT IM GESELLSCHAFTLICHEN DISKURS

Darstellung von Geschlecht in »den ernsten Spielen des Wettbewerbs« (Meuser 2005: 321).62 Solche Inszenierungen von randständiger und/oder adoleszenter Männlichkeit als ›typisch türkisch‹ bzw. im Zusammenhang mit einer ›Kultur der Ehre‹ zu interpretieren, greift zu kurz. Denn »die Auffassungen hegemonialer Männlichkeit«, die auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden, deuten – so Weber (2007: 318) – »eher auf Lebensbedingungen in sozialer Randständigkeit als auf ethnisch-kulturelle oder migrationsspezifische Faktoren hin«. Dabei scheint es so zu sein, dass die Jugendlichen sich nicht dem hegemonialen Bild von Männlichkeit anzunähern versuchen, sondern dass sie dieses auf ihre eigene Weise interpretieren und sich dann versuchen, dem von ihnen entworfenen Bild anzupassen (vgl. hierzu auch Kap. 9.2.3).63 So haben Ann Phoenix und Stephen Frosh (2005) z.B. gezeigt, dass sich sowohl die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht als auch ›Rasse‹ auf die Vorstellungen von ›hegemonialer Männlichkeit‹ auswirken, und dass diese Vorstellungen einen nachhaltigen Einfluss auf das Verhalten der von ihnen interviewten Londoner Schüler haben. Dennoch verhindere die »Wirksamkeit des ›hegemonialen Ideals‹« (Phoenix/Frosh 2005: 33) die Konstruktion alternativer Formen von Männlichkeit, innerhalb derer sich die Jugendlichen verorten könnten, und unterstütze konformistische Vorstellungen von Männlichkeit wie z.B. Härte, ein bestimmtes Aussehen, die Fähigkeit, schulische Anforderungen zu unterlaufen und das Anliegen, nicht für homosexuell gehalten zu werden (vgl. Phoenix/Frosh 2005: 33 f.). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Susanne Spindler in ihrer Studie (2006). Sie geht davon aus, dass die von ihr interviewten Jugendlichen Männlichkeit dort platzieren, »wo die Institutionen Lücken lassen« (Spindler 2006: 314). Durch die Ablehnung von Homosexualität grenzten sie sich von untergeordneter Männlichkeit ab, durch die Abwertung von Weiblichkeit konstruierten sie ihre eigene Überlegenheit. Gleichzeitig versuchten die Jugendlichen jedoch auch Beziehungen herzustellen, »die ihnen männliche Normalität und anerkannte Männlichkeit verschaffen könnten«, wobei diese »›privaten‹ Versuche« nicht ausreichten, um einen Platz in der Gesellschaft zu erlangen (Spindler 2006: 314).64 62 Eine solche Sichtweise wird von Mechthild Bereswill (2007a: 108 f.) jedoch als »zu einseitig« kritisiert. Für sie stellt sich »die Frage nach den Leerstellen der überschüssigen Posen«, womit sie vor allem die Opferängste von Männern und ihre Erfahrung von alltäglicher Angst meint. Der Körper diene dementsprechend auch »Manövern der Angstabwehr«. 63 Dies entspricht auch der Kritik von Meuser und Scholz (2005), die in Frage gestellt haben, dass es nur jeweils eine Form hegemonialer Männlichkeit in einer Gesellschaft geben könne (vgl. Kap. 2.4.2; 9.2.3). 64 Vgl. hierzu auch die These von Meuser & Scholz (2005: 218), die davon ausgehen, dass die Herstellung von untergeordneten Männlichkeiten nach dem glei65

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Inszenierungen von Ethnizität Doch welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang nun die eigene und/oder familiale Migrationserfahrung der Jugendlichen sowie das Aufwachsen in sozialstruktureller Benachteiligung? Vera King geht davon aus, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Adoleszenz mit einer »verdoppelten Transformationsanforderung« (King 2005: 60; King/Koller 2006: 12) konfrontiert werden. Sowohl die Phase der Adoleszenz als auch die eigene oder familiale Migration seien mit Trennung und Umgestaltung verbunden. Die Jugendlichen würden sich mit den »Veränderungen zwischen Kindheit und Erwachsensein« auseinandersetzen, gleichzeitig würde die Migration (der Eltern), die Folgen für die Familie sowie die Art der Verarbeitung seitens der Eltern zwangsläufig zum Thema (King 2005: 61). Ursula Apitzsch (2005: 13) spricht in diesem Zusammenhang von einer »doppelte[n] Stresssituation«. Zum einen projizierten die Eltern ihre eigenen Erfolgserwartungen bezüglich der Migration auf ihre Kinder, zum anderen evaluierten die Kinder sowohl das ursprüngliche Migrationsprojekt der Eltern als auch ihre eigenen Chancen auf Erfolg. Nicht selten seien die Jugendlichen hierbei – so King (2006: 35) – einem verstärkten Druck ausgesetzt, erfolgreich in Bezug auf Bildung zu sein und hierdurch »den Erfolg des familialen Migrationsprojekts zu bestätigen und den Status der Familie zu verbessern«. Doch selbst wenn die Eltern keine Aufstiegserwartungen hegen bzw. diese nicht aussprechen, könne »[d]er Umstand, dass die Eltern selbst Diskriminierung, Entwertung oder Deklassierung erfahren haben, [...] als Auftrag, sozial aufzusteigen, aufgefasst werden« (King 2006: 34). Vor allem wenn sich das Leben der Eltern aus der Sicht der Kinder als besonders leidvoll darstelle, könne dies eine Haltung evozieren, »für die Eltern erfolgreich sein zu müssen« (King 2006: 34, Herv. i.O.). Dies wiederum könne darin resultieren, im Verlauf der Adoleszenz Bildung zu verweigern, und sich hierdurch von den Eltern abzugrenzen. Doch auch bei Bildungsaufstieg können Konflikte entstehen, wenn der Erfolg, der unter Umständen »im Dienste der Familie« erlebt wird, zu Brüchen mit bzw. Trennung von der Herkunftsfamilie führt (King 2005: 65). Hierüber hinaus betont Vera King insbesondere die Bedeutung »des in der Migration sozial abgestiegenen oder diskriminierten Vaters, der zugleich gegenüber dem Sohn hohe Erwartungen hegt« (King 2005: 64). Die Jugendlichen versuchten daher in der Adoleszenz einen »Entwurf von Männlichkeit« zu entwickeln, »der weder unmittelbar an den Vater anknüpft noch die eigene Herkunft entwertet, der den Wunsch nach Anerkennung einschließt, ohne das

chen generativen Prinzip erfolge wie die Konstitution hegemonialer Männlichkeit (vgl. Kap. 9.2.3). 66

MIGRATION, MÄNNLICHKEIT UND KRIMINALITÄT IM GESELLSCHAFTLICHEN DISKURS

je Eigene und Eigensinnige aufzugeben« (King 2005: 64). Die entsprechend übersteigerten und aggressiven Männlichkeitsinszenierungen könnten daher als Abwendung von den Eltern gelesen werden, aber auch als hilfloser Versuch die entwertete Männlichkeit der Väter zu rehabilitieren (vgl. auch Apitzsch 2005; Spindler 2007a).65 Darüber hinaus lassen sich die übersteigerten Inszenierungen von (Hyper-)Maskulinität auch als »Protest-Männlichkeit«66 (Connell/Messerschmidt 2005: 847) und das delinquente Handeln der Jungen als »Widerstand gegen Marginalisierung« (Weber 2007: 319) bzw. als eine »Art von aggressiver Kapitulation« (King 2005: 64) lesen. Denn männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund sind eine Risikogruppe für verfestigte Armut und zugleich ethnischer Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt (vgl. Weber/Gosch 2005: 23; Weber 2007: 319). Dennoch wird Ethnizität ebenso wie Geschlecht von den Jugendlichen auch als Ressource genutzt. Michael Meuser und Sylka Scholz (2005: 220) sprechen in diesem Zusammenhang von doing gender und doing ethnicity als »wechselseitig genutzte[r] Ressource«: Ethnische Differenz werde mithilfe der Geschlechterdifferenz akzentuiert. Gleichzeitig mache es »die ethnische Zugehörigkeit notwendig, die rigiden Vorstellungen, was ein geschlechtsadäquates Verhalten ausmacht, durchzusetzen« (Meuser 2006: 166; vgl. auch Lutz 2004: 476). Von den Jugendlichen werden dann Klischees über Migrant/-innen reproduziert, die sie zum ›Anderen‹ machen. Sie eignen sich die Zuweisungen an, die sie im Alltag erfahren (vgl. Spindler 2007b: 126; Scheibelhofer 2005). Hierdurch tragen sie dazu bei, dass sich Stereotype über sie verfestigen, erfahren aber auch Stärke. In der Ethnographie von Hermann Tertilt (1996: 233) wird dieser Prozess von einem Jugendlichen folgendermaßen beschrieben: »So haben sie angefangen: ›Scheißtürken.‹ Das haben sie in die Welt gesetzt. Und die Türken haben dann angefangen: ›Ihr sagt zu uns Scheißtürken, so, dann machen wir jetzt auch Scheiße: Zieh mal deine Jacke aus!‹« Reethnisierung kann so »zu einer wichtigen Bewältigungsstrategie in einer marginalisierten Minderheitensituation« werden (Gemende et al. 2007: 32), wobei nicht davon ausgegangen werden darf, dass von den Jugendlichen 65 Ursula Apitzsch (2005: 17) weist z.B. darauf hin, dass »die beruflichen Fähigkeiten der männlichen Migranten fast immer eine Abwertung erfahren«, während Frauen sich in der Migration nicht nur den Bereich der Familie, sondern auch den der Berufswelt eroberten. 66 Connell und Messerschmidt (2005: 847f) verstehen unter einer Protest-Männlichkeit »a pattern of masculinity constructed in local working-class settings, sometimes among ethnically marginalized men, which embodies the claim to power typical of regional hegemonic masculinities in Western countries, but which lacks the economic resources and institutional authority that underpins the regional and global patterns«. 67

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einfach Traditionen aus ihrer ›Herkunftskultur‹ wieder zum Leben erweckt werden. Denn zum einen stehen den Jugendlichen unterschiedliche Bilder von Männlichkeit und ›Türkisch‹-Sein als Orientierungsrahmen zur Verfügung, die »im Wechselspiel mit lebensweltlich vorhandenen Möglichkeitsstrukturen aktualisiert« werden können (Scheibelhofer 2005: 226). Zum anderen kann es hier zu Transformationen bzw. zur »Neubildung von Traditionen und Milieus« kommen (Bohnsack/Nohl 2001: 78; vgl. z.B. auch Apitzsch 2005: 16; Geisen 2007: 53). So kommt Paul Scheibelhofer zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass das ›Konzept der Ehre‹ eine wichtige Rolle für die von ihm interviewten Jugendlichen spielt. Doch es werde in den biographischen Erzählungen sowohl aufwertend als auch abwertend verwendet; die Bedeutung des Konzepts sei somit nicht fixiert, sondern Resultat eines aktiven Auseinandersetzungsprozesses (vgl. Scheibelhofer 2007: 283). Ebenso weisen Güler Celikbas und Steffen Zdun in Bezug auf das ›Konzept der Ehre‹ darauf hin, dass bei Körperverletzungen, die infolge von Beleidigungen verübt werden, ›Ehre‹ häufig nur als Vorwand benutzt werde, um das eigene Handeln zu legitimieren.67 »Die vermeintlich große Bedeutung von Ehre für Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis relativiert sich rasch, wenn man berücksichtigt, dass zwischen den Konfliktparteien Beleidigungen gezielt eingesetzt werden, um die Gegenseite möglichst intensiv zu reizen, so dass sie sich zur Wehr setzen muss, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Mit anderen Worten, von diesen Heranwachsenden wird die Ehre instrumentalisiert und ihrer eigentlichen kulturellen Bedeutung entfremdet.« (Celikbas/ Zdun 2008: 126)68

Inszenierungen von Männlichkeit und Ethnizität können daher auch als eine Form der aktiven Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Diskursen verstanden werden. Im empirischen Teil der Arbeit (Teil III) wird es darum gehen, solche Inszenierungen herauszuarbeiten und die damit zusammenhängenden Positionierungen zu hinterfragen. Bevor dies gelingen kann, müssen jedoch zunächst auf theoretischer und auch methodischer Ebene grundlegende Fragen zur Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung geklärt werden (Teil II).

67 In den von mir ausgewerteten Interviews verwendet Ahmet das Konzept der Ehre als Erklärung, warum ein Freund einen Jugendlichen am Busbahnhof angegriffen hat. Er positioniert sich hierdurch innerhalb eines kulturalisierenden Diskurses, und durch diese Positionierung scheint er sich vor weiteren Nachfragen schützen zu wollen (vgl. Kap. 6.4.3 – Gerechte Rächer?). 68 Vgl. zur Kritik an dieser Studie Kap. 2.3.4. 68

Teil II Verknüpfung von Diskursund Biographieforschung

3. Biographieforschung und biographische Fallrekonstruktion

Um den Einfluss gesellschaftlicher Diskurse über den Zusammenhang von Migration, Männlichkeit und Kriminalität auf die Identitätskonstruktionen, Lebenserfahrungen und -deutungen straffälliger Jugendlicher untersuchen zu können, bedarf es einer methodischen Herangehensweise, mit deren Hilfe »die Komplexität des Gewordenseins und des Werdens von Subjekten am Schnittpunkt von Institutionen, sozialen Praktiken und Diskursen« (Gutiérrez Rodríguez 1999: 35) untersucht werden kann. Damit stand zu einem relativ frühen Zeitpunkt im Entstehungsprozess der Arbeit fest, narrativbiographische Interviews mit den Jugendlichen zu führen, ihnen also Raum zur eigenen Gestaltentwicklung zu geben und damit die Arbeit innerhalb der Biographieforschung zu verorten. Gleichzeitig zeigte sich jedoch auch recht schnell, dass sowohl hinsichtlich der theoretischen Ansätze als auch hinsichtlich des methodischen Vorgehens ›Kurskorrekturen‹ nötig sein würden, um vor allem eine diskurstheoretische, aber auch eine intersektionelle Perspektive (vgl. Kap. 2.4.3) in die Arbeit integrieren zu können. Bevor ich jedoch auf diese theoretischen Überlegungen und methodischen Modifikationen näher eingehe (Kap. 4 & 5) und mein eigenes Vorgehen darstelle (Kap. 5.2.5), möchte ich zunächst die grundlegenden Konzepte der Biographieforschung sowie ausgewählte sozialwissenschaftliche Debatten um die Biographieforschung aufzeigen (Kap. 3.1) und das narrativ-biographische Interview als Instrumentarium zur Generierung von Biographien (Kap. 3.2) sowie die biographische Fallrekonstruktion – soweit sie hier als ›Grundgerüst‹ verwendet wurde – vorstellen und diskutieren (Kap. 3.3). Anschließend werde ich der Frage nachgehen, was es bedeutet, mit Biographien im Kontext von Migration, Männlichkeit und Kriminalität zu arbeiten (Kap. 3.4) und erste Überlegungen zur biographischen Wirkmächtigkeit von Diskursen anstellen (Kap. 3.5).

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3.1 Theoretische Grundlagen 3.1.1 Entstehung und Entwicklung der Biographieforschung Biographieforschung ist seit den 1920er Jahren fester Bestandteil soziologischer Forschung. Sie steht in der Tradition der phänomenologischen Wissenssoziologie, des Symbolischen Interaktionismus sowie der Chicago School, was sich u.a. in dem Anspruch einer nicht-dualistischen Theoriebildung ausdrückt. So wird zum einen das Konzept der Biographie als soziales Konstrukt und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als dialektisch verstanden. Zum anderen wird der rekonstruktiven Analyse empirischer Erfahrungen ein großer Stellenwert für die soziologische Theorieentwicklung zugemessen (vgl. Dausien et al. 2005: 10). Biographieforschung kann als eine »Reaktion auf die soziale Tatsache der Biografisierung in der Moderne« (Völter 2006: 169; vgl. auch FischerRosenthal/Rosenthal 1997a: 133 f.) verstanden werden. Denn seit dem 18. Jahrhundert werden mit zunehmender Institutionalisierung und gleichzeitiger Individualisierung Biographien sowohl von Individuen als auch von Institutionen vermehrt genutzt und dienen als »neue[n] wichtige[n] Ordnungsstrukturen« (Fischer-Rosenthal 1996: 149).1 Insofern kann Biographieforschung als »Institution der Moderne« verstanden werden, die jedoch ihre Wurzeln in der Vormoderne (z.B. in der katholischen Beichte) hat (Lutz 2010: 119). »Moderne Gesellschaften brauchen und bilden Biographien aus, um bestimmte Orientierungsprobleme ihrer Mitglieder in der Gesellschaft und um Probleme der Integration der Gesellschaft selber, also ihres Zusammenhalts, zu lösen.« (Fischer-Rosenthal 1996: 149; vgl. auch Fischer-Rosenthal 1995: 256 f.) Die Tendenz vermehrt Biographien zu produzieren, betrifft hierbei zunächst einmal die Mitglieder einer Gesellschaft, die sich (auch außerhalb einer Interviewsituation) (Teile ihrer) Lebensgeschichte(n) erzählen und sich hierdurch ihrer eigenen Identität2 versichern. Denn im und mittels des Erzählens3 werden Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft geordnet, so dass sinnvolle Konturen entstehen können. Man kann sich als jemand präsentieren, der trotz aller Veränderungen gleich geblieben ist oder der sich (z.B. aufgrund eines bestimmten Ereignisses) verändert hat; und auf diese Weise eine narrative Identität herstellen (vgl. Bamberg 1999a: 46 f.). Aber auch In-

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Der Wunsch, von sich zu erzählen, kann also als Ergebnis einer kulturhistorischen Entwicklung gesehen werden, er kann jedoch – Foucault folgend – auch als Zeichen eines verinnerlichten Imperativs der Selbsterkenntnis und Selbstprüfung gelesen werden (vgl. Schäfer/Völter 2005: 164 f.; Foucault 1997). Vgl. zum Begriff der Identität und zum Subjektbegriff in der Biographieforschung Kap. 4. Und hier insbesondere mittels der Textsorte ›Erzählung‹; vgl. Kap. 3.2.

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

stitutionen sind z.B. durch das Fordern eines lückenlosen Lebenslaufs in Bewerbungsunterlagen oder durch das Erstellen von Gerichtsurteilen und Krankenakten an der Produktion von (Normal-)Biographien beteiligt (vgl. z.B. Fischer-Rosenthal 1996: 151; Dausien 2006: 188 f.).4 Wolfram Fischer (v.a. Fischer-Rosenthal 2000a; 2000b) spricht in diesem Zusammenhang von »biographischen Strukturierungen«, die sowohl in der Alltagskommunikation als auch in organisatorisch-institutionellen Kontexten auftauchen. In beiden Zusammenhängen gehe es dabei um das Herstellen von Konsistenz und die Bearbeitung von Kontingenz. Wenn jemand erzählt, was er/sie erlebt hat, leistet er/sie biographische Arbeit: Der Erzähler bzw. die Erzählerin rekapituliert das Erlebte und integriert es in seine/ihre Welt- und Selbstwahrnehmung. Gleichzeitig stellt er/sie sich seinem/ihrem Gegenüber als jemand dar, der dies erlebt hat und dementsprechend so oder anders gesehen werden möchte. Dies bedeutet auch, dass bestimmte Geschichten nicht erzählt werden können, da sie nicht erzählbar sind: sei es, weil sie nicht in die aktuelle Selbstpräsentation oder weil sie nicht in den gegenwärtigen Diskurs passen.5 Letztendlich geht es bei der biographischen Strukturierung im Erzählen also »um wechselseitige Versicherung und Herstellung: Wer sind wir, genauer: wie sind wir geworden, wer wir sind, und was können wir künftig voneinander erwarten?« (Fischer-Rosenthal 2000b: 102)6 »Although individuals often do not know for sure who they are or what is happening to them at a particular moment in their lives, the ability to narrate who they have become enables them to present themselves for the time being as integrated persons, despite the presence of various other possible and often contradictory renditions of the story.« (Fischer-Rosenthal 1995: 257)

Damit ist narrative biographische Strukturierung zu verstehen als »ein prozessuales erfahrungssensibles Geschehen, das flexibel jeweils Erlebtes validiert, integriert oder ausschließt« und Individuum und Gesellschaft als Einheit begreift (Fischer-Rosenthal 2000b: 102, Herv. i.O.; vgl. auch Fischer-Ro4

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Alois Hahn (1982) nennt Institutionen dementsprechend auch »Biographiegeneratoren« und Martin Kohli (1985) spricht in diesem Zusammenhang von der »Institutionalisierung des Lebenslaufs«; vgl. auch Kap. 3.4. Wolfram Fischer (2006) führt hier als Beispiel die ›Wiedervereinigung‹ 1989 an, nach der bestimmte Geschichten nicht mehr erzählbar waren und andere zum ersten Mal erzählt werden konnten. Allerdings betont er in diesem Zusammenhang weniger den Einfluss sich verändernder Diskurse, sondern vor allem den Einfluss des Zuhörers. Ähnliches gilt für institutionelle biographische Strukturierung: Auch hier geht es um die Integration und Rekapitulation von Erlebnissen im weitesten Sinne, mit denen sich eine Institution z.B. bei der Akkreditierung eines Ausbildungsganges oder beim Verfassen einer Strafakte befassen muss (vgl. Fischer-Rosenthal 2000b). 73

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senthal 2000a: 117 f.). Mithilfe biographischer Strukturierung wird narrative Identität hergestellt. Darüber hinaus entsteht auch ein Ordnungs- und Orientierungsschema, das Erfahrungs- und Handlungsstile bestimmt (vgl. Fischer 2006: 329). Eine der ersten Studien der soziologischen Biographieforschung war die Untersuchung The Polish Peasant in Europe and America von William I. Thomas und Florian Znaniecki (1918-1922/1958), die sich mit der ersten Generation polnischer Migranten in den USA beschäftigte.7 Inspiriert durch diese Studie entstanden in den 1920er Jahren am Department of Sociology der Universität Chicago zahlreiche biographische Studien. Eine Renaissance erlebte die interpretative Biographieforschung sowohl in der deutschsprachigen als auch in der internationalen Soziologie jedoch erst ab den 1970er Jahren.8 Vor allem als Reaktion auf einen eher positivistischen Forschungsbetrieb in der empirischen Sozialforschung wurden biographische Methoden damals reaktiviert und weiterentwickelt. Seitdem dienen niedergeschriebene oder in Interviews erzählte Lebensgeschichten in der Soziologie als »Ausgangsmaterial zur Rekonstruktion bestimmter sozialer Milieus und sozialen Handelns in seiner Entstehungsgeschichte und unter Berücksichtigung der Eigendeutungen durch die Gesellschaftsmitglieder selbst« (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997b: 409; vgl. z.B. auch Rosenthal 2008: 161 ff.).9 Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete ein Mitte der 1960er Jahre entstandener Artikel von William Labov und Joshua Waletzky (1973 auf Deutsch erschienen), der sich mit der »Frage, wie Wirklichkeitserfahrung unter Gesellschaftsmitgliedern durch Kommunikation hergestellt und wissenschaftlich rekonstruiert werden kann« (Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000: 458), auseinandersetzte. Dieser Artikel ebnete sowohl auf theoretischer als auch auf methodischer Ebene den Weg für die Entwicklung des ›narrativen Interviews‹ (vgl. hierzu Kap. 3.2). Dieses wurde – im deutschsprachigen Raum vor allem durch die weiterführenden Überlegungen von Fritz Schütze bezüglich der ›Hervorlockung‹ und Auswertung narrativer Texte im Interview – zu einem prominenten Erhebungsinstrument in der Biographie- und ganz allgemein in der qualitativen Sozialforschung (vgl. Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000: 458).

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Allerdings enthält das Werk von Thomas & Znaniecki lediglich eine Biographie eines männlichen, polnischen Migranten. Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf Dokumentenanalysen zum Migrationsprozess. Ein erster Sammelband zur Biographieforschung wurde 1978 von Martin Kohli herausgegeben. Doch nicht nur in der Soziologie, sondern z.B. auch in der Psychologie, in den Erziehungswissenschaften und vor allem in der Oral History wird mit biographischen Methoden gearbeitet (vgl. z.B. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997b: 409; Rosenthal 2008: 163).

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

Einen besonderen Stellenwert nimmt die Analyse von Lebensgeschichten auch in der Migrationsforschung ein. Migranten und Migrantinnen tragen die Spuren und Geschichten verschiedener Kulturen und Traditionen mit sich, die nicht einheitlich sind und sich auch nicht vereinheitlichen lassen (vgl. Hall 1994b: 218; Kap. 2.4.1). Wenn sie ihre Lebensgeschichten erzählen, spiegeln sich hierin – in besonderer Weise – die vielfältigen globalen und lokalen Verflechtungen. Mithilfe der Biographieanalyse lassen sich diese »komplexen Prozesse multipler Verortungen und Positionierungen« (Lutz/Schwalgin 2006: 101) untersuchen. Es lässt sich hier das Gewordensein im Schnittpunkt unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte rekonstruieren, ohne den/die Andere durch den Bezug auf die Herkunft fremd zu machen (vgl. Apitzsch 2003b: 9; Karakayalı 2010: 86 f.).10

3.1.2 Biographie als soziales Konstrukt Es wird in der Biographieforschung davon ausgegangen, dass es möglich ist, die Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft anhand einer einzigen erzählten Lebensgeschichte aufzuzeigen (vgl. z.B. Fischer-Rosenthal 1996: 149; Rosenthal 2005: 61). So argumentierten bereits Thomas & Znaniecki: »Indem wir die Erfahrungen und Einstellungen eines einzelnen Menschen analysieren, erhalten wir immer Daten und elementare Fakten, die nicht ausschließlich auf dieses Individuum begrenzt sind, sondern die als mehr oder weniger allgemeine Klassen von Daten und Fakten behandelt werden und so für die Bestimmung und Gesetzmäßigkeiten des sozialen Prozesses genutzt werden können.« (Thomas/Znaniecki 1918-1922/1958: II, 1831 f.; zit. in: Rosenthal 2005: 46)

Gesellschaftliche Zusammenhänge, also gesellschaftliche Diskurse und Regeln sowie soziale Bedingungen der Produktion von Biographien, können mittels erzählter Lebensgeschichten analysiert werden.11 Dieser Aspekt ist zentral für diese Arbeit und wird im weiteren Verlauf noch ausführlich diskutiert werden (vgl. v.a. Kap. 3.5 & 9.2). Zunächst interessiert jedoch, was eigentlich eine erzählte Lebensgeschichte bzw. Biographie überhaupt ist. Diese Frage ist in der Biographieforschung durchaus nicht unumstritten. Konsens

10 Die Erforschung der Biographien von Migranten und Migrantinnen wirft jedoch auch methodische Probleme auf, auf die ich im weiteren Verlauf des Kapitels noch eingehen werde (vgl. Kap. 3.3.1 & 3.4). 11 Dies entspricht einer Definition von Biographie, wie sie von Bettina Dausien, Helma Lutz, Gabriele Rosenthal und Bettina Völter (2005) formuliert wurde, und auf die ich am Ende des Kapitels (3.5) noch ausführlicher eingehen werde. 75

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

scheint jedoch insoweit zu bestehen, dass ›Biographie‹ als soziales Konstrukt betrachtet wird. »Lebensgeschichten werden in einem bestimmten Rahmen und von einem je besonderen biographischen Standpunkt aus [...] immer wieder neu ausgelegt und entworfen. In diesem Prozess stellen Subjekte beiläufig oder ausdrücklich Kontinuität und Kohärenz her, die in dem Grundgefühl zum Ausdruck kommen, durch alle Veränderungen hindurch und u.U. gerade in dramatischen Krisen und Umbrüchen noch ›dieselbe‹ oder ›derselbe‹ zu sein – was prinzipiell immer auch misslingen kann.« (Dausien 2006: 190)

Es geht also – und zwar unabhängig davon, ob eine Biographie innerhalb einer Forschungssituation (vgl. Kap. 3.2) oder im Alltag produziert wird – darum, mithilfe der eigenen erzählten Lebensgeschichte bzw. mithilfe biographischer Strukturierung Kontinuität und Kohärenz herzustellen und sich seiner selbst zu versichern. Stuart Hall, auf dessen Arbeiten ich vor allem in Kapitel 4 noch ausführlich eingehen werde, beschreibt dies so: »Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ›Erzählung unseres Ich‹ über uns selbst konstruieren.« (Hall 1994b: 183) Dies bedeutet nicht, dass Biographien ein kohärentes ›Ich‹ produzieren. Denn zum einen kann sich der/die Einzelne als jemand präsentieren, der/die sich entwickelt oder verändert hat (vgl. Fischer-Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal 2000b), zum anderen können Lebensgeschichten zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort oder gegenüber einem/einer anderen Zuhörer/in auch umgeschrieben oder neu erzählt werden. Denn Lebensgeschichten »enthalten einen Sinnüberschuss von Nicht-Gesagtem, Nicht-Sagbarem und noch zu Sagendem, der das Potential für immer wieder neue Interpretationen liefert« (Dausien 2006: 191; vgl. z.B. auch Fischer-Rosenthal 1999: 161). Ist eine erzählte Lebensgeschichte also lediglich eine »Erfindung«, wie dies von Max Frisch (1960/1975) nahe gelegt wird (vgl. Fischer-Rosenthal/ Rosenthal 1997b: 411)?12 Pierre Bourdieu wirft genau dies der Biographieforschung in seinem Aufsatz Die biographische Illusion (1986/1990) vor. Er bezeichnet hier eine Biographie als »Konstruktion des perfekten sozialen Artefaktes« (Bourdieu 1986/1990: 80), denn Interviewer/-in und Biograph/-in hätten beide ein Interesse daran, das Postulat der Sinnhaftigkeit der berichteten Existenz aufrecht zu erhalten (vgl. auch Bukow/Spindler 2006: 25 f.). Die er12 So heißt es bei Max Frisch (1960/1975: 10 f.): »Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, so dass an ihrer Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist. [...] Die Erfahrung ist ein Einfall, der Einfall ist das wirkliche Ereignis, Vergangenheit eine Erfindung, die nicht zugibt, eine Erfindung zu sein, ein Entwurf rückwärts.« 76

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

zählte Lebensgeschichte sei dem entsprechend darauf ausgelegt, zu begründen und zu erklären und hierdurch Konsistenz und Konstanz herzustellen und sich gleichzeitig einer trivialen Vorstellung von der Existenz zu unterwerfen. Denn der Versuch, »ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, [...] ist beinahe genauso absurd wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen, also die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den verschiedenen Stationen« (Bourdieu 1986/1990: 80).

Dieser Vorwurf ist so nicht zu halten, da in der Biographieforschung gerade das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft betont wird, was sich zum Beispiel methodisch darin niederschlägt, dass in die Rekonstruktion des gelebten Lebens auch zeitgeschichtliche Daten einbezogen werden (vgl. Kap. 3.3.1). Dennoch geht es natürlich um die Frage, was eigentlich erzählt wird. Ist die Lebensgeschichte nur eine »retrospektive[n] Illusion« (Osterland 1983: 285) oder basiert sie auf Erlebtem und ist daher keinesfalls beliebig (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a: 137)? Daran schließt sich die Frage an, inwiefern aus Biographien das, was ›tatsächlich‹ erlebt wurde, rekonstruiert werden kann. Bzw. kann es überhaupt ein Anliegen der Biographieforschung sein, sich dem erlebten Leben zu nähern?

3.1.3 Erleben – Erinnern – Erzählen Eine der zentralen Annahmen der Biographieforschung ist die These, dass das gelebte Leben und das erzählte Leben verschieden sind (vgl. FischerRosenthal 1996: 151); das, was erzählt wird, wird also keinesfalls als ›Abbildung‹ von vergangenem Geschehen begriffen. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass das, was erinnert wird und wie etwas erinnert wird, zunächst einmal abhängig ist von der gegenwärtigen Lebenssituation. Diese beeinflusst »die Auswahl der Erinnerungen, die temporalen und thematischen Verknüpfungen von Erinnerungen und die Art der Darbietung der erinnerten Erlebnisse« (Rosenthal 2008: 167). Gurwitsch (1975) spricht in diesem Zusammenhang von »thematischen Feldern«, die maßgeblich bestimmen, was und wie etwas erinnert wird, und die sich – im Laufe der Zeit oder ausgelöst durch bestimmte Ereignisse – verändern können (vgl. Rosenthal 2008: 166 f.; Rosenthal 1995). In einem der Interviews, die ich im Rahmen dieser Arbeit geführt habe, spricht eine Interviewpartnerin13 beispielsweise über ihren ersten Freund, den 13 Dieses Interview mit einer russlanddeutschen Frau habe ich zu Beginn der Arbeit geführt, als ich mich noch nicht dazu entschieden hatte, lediglich die Bio77

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sie vor ca. zehn Jahren kennen lernte. Doch die Erzählung über dieses vergangene Erlebnis ist nicht (mehr) eingebettet in das thematische Feld ›erste Liebe‹, sondern ›Beginn der Drogenkarriere‹, und so argumentiert sie dem entsprechend abgeklärt, dass dieser erste Freund – »so wie es ist« – die große Liebe war, aber dass er sie »eingewickelt« hat und sie »das« [die Drogensucht des Freundes] nicht hat sehen können: dann hab ich meinen ersten Freund kennen gelernt, das war der also das war en Russlandsdeutscher auch /m/ erste Freund große Liebe so wie es ist und hat mich halt ein bisschen eingewickelt, und ähm, ich hab das halt nicht gesehn weil ich grad sechzehn war (Interview Tatjana, 1/23-1/27)

Doch nicht nur die gegenwärtige Lebenssituation, sondern auch die Gesprächssituation beeinflusst was, in welchem Zusammenhang und wie etwas erzählt wird.14 So wird davon ausgegangen, dass Biographien gemeinsam von Sprecher/-in und Hörer/-in hervorgebracht werden und sich stark nach deren aktuellen (Präsentations-)Interessen richten (vgl. Fischer-Rosenthal 1996: 151; Völter 2006: 276). Viele meiner Interviewpartner/-innen präsentierten sich bspw. zunächst als ›gute‹ oder ›erfolgreiche‹ Probanden bzw. Probandin, was damit erklärt werden kann, dass der Kontakt zu den Jugendlichen über deren jeweilige/n Bewährungshelfer/-in zustande kam, und die Interviews darüber hinaus z.T. in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe stattfanden (vgl. Kap. 5.2). Der Begriff des doing biography trägt dieser Annahme der Herstellung von Biographien in der Interaktion Rechnung und kann als Kritik an Vorstellungen verstanden werden, »die Biographie in erster Linie als Repräsentation einer individuellen Erfahrungsgeschichte oder gar einer ›inneren Wahrheit‹ begreifen« (Dausien/Kelle 2005: 200).15 Dennoch wird davon ausgegangen, dass die aus der Gegenwart heraus konstruierte Vergangenheit nicht unabhängig ist von der erlebten Vergangenheit:

graphien junger Männer mit türkischem Migrationshintergrund im Rahmen dieser Arbeit auszuwerten (vgl. Kap. 1 & 5.2). 14 Ich werde auf diesen Aspekt in Kap. 3.2 noch ausführlicher eingehen und in Kap. 5.1 das Konzept der Positionierung vorstellen, mit dessen Hilfe die in jedem Interview stattfindende und häufig vernachlässigte Interaktion im Interview analysiert werden kann. 15 Bettina Dausien und Helga Kelle (2005: 207) betonen mit dem Konzept des doing biography »sowohl den konkreten Vollzug biographischer Kommunikationspraxis als auch die konstruktivistische Basisannahme, dass man eine ›Biographie‹ [...] nicht einfach ›hat‹, sondern sie immer erst interaktiv ›herstellt‹« (vgl. auch Apitzsch et al. 2006: 48). Bettina Völter (2006) bezeichnet darüber hinaus auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Biographien als einen Prozess des doing biography. 78

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

»Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen verweisen sowohl auf das heutige Leben mit dieser Vergangenheit als auch auf das damalige Erleben. Ebenso wie sich das Vergangene aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft konstituiert, entsteht die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem anvisierten Zukünftigen. Und so geben biographische Erzählungen sowohl Auskunft über die Gegenwart der/des Erzählenden als auch über deren/dessen Zukunftsperspektive.« (Rosenthal 2008: 168)

Diesen Zusammenhang hat vor allem Fritz Schütze in seinen empirischen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre immer wieder herausgearbeitet. In seinen Analysen konnte er dabei einen Zusammenhang zwischen Erzählstrukturen und Erlebensstrukturen, zwischen Strukturen der Erfahrungsaufschichtung und des Erzählaufbaus zeigen (vgl. Rosenthal 1995: 17; Fischer-Rosenthal/ Rosenthal 1997a: 138, 148). So heißt es bei Schütze: »Der lebensgeschichtliche Erfahrungsstrom wird in erster Linie ›analog‹ durch Homologien des aktuellen Erzählstroms mit dem Strom der ehemaligen Erfahrungen im Lebenslauf wiedergegeben und erst sekundär ›digital‹ durch unterstützende Resymbolisierungen des Erfahrungsablaufs vermittels abstrakter Kategorien und Prädikate dargestellt, die allgemeine Phasierungsmerkmale zuschreiben.« (Schütze 1984: 78 f.)

Die Homologieannahme, also die Annahme, dass Erzähl- und Erlebensstrukturen miteinander übereinstimmen, ist jedoch höchst umstritten. Sie wurde zunächst von Heinz Bude (1985) kritisiert und führte zu kontroversen Diskussionen, die an Aktualität nicht eingebüßt haben (vgl. z.B. Nassehi/Saake 2002; Saake 2006). Es geht dabei um die Frage, inwiefern anhand einer Biographie das erlebte Leben tatsächlich rekonstruiert werden kann. Dabei gilt in der Biographieforschung – und dies konstatieren auch Armin Nassehi & Irmhild Saake (2002: 72) – inzwischen unbestritten, »[d]ass die Vergangenheit als gegenwärtige Vergangenheit dargestellt wird«. Monika Wohlrab-Sahr (2002, zit. in: Apitzsch et al. 2006: 40) geht bspw. davon aus, »dass vergangene Ereignisverkettungen der Biographieforschung immer nur als gegenwärtig produzierte ›Texte‹ vorliegen«. Doch die »in diesen Texten geschilderte[n] Prozesse und die Art und Weise, wie die Person in sie involviert ist«, trügen dazu bei, »dass dieser biographische Text heute so und nicht anders ausfällt«. Und Thomas Schäfer & Bettina Völter (2005) betonen, dass es bei der Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte nicht um eine »authentische Bedeutungsgenerierung« (Nassehi/Saake 2002: 71) gehe, sondern lediglich um die Suche nach Anhaltspunkten, die Hinweise darauf geben, welche Erfahrungen bzw. sozialen Konstellationen den/die Erzähler/-in geformt haben und letztendlich dazu führen, dass eine Lebensgeschichte so und nicht anders erzählt wird. Hierbei betonen Schäfer & Völter gleichzeitig jedoch auch den Einfluss 79

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der Interviewsituation (vgl. Kap. 3.2.3) sowie die Wirkmacht von Diskursen (vgl. Kap. 3.5). Sie gehen davon aus, »dass BiographieforscherInnen, die dem narrativen Ansatz folgen, sich nicht dem Erleben, sondern einer Erlebnisterminologie annähern, d.h. dem in Sprache gefassten Erleben, entweder, wie es sich zunächst situationsnah auf der Basis von erinnerten und gefühlten Erlebnisqualitäten, leiblichen Empfindungen und deren Ausdruck, sozialen Konstellationen, Diskursen sowie individuellen Handlungs- und Deutungsstrukturen herausgebildet hat oder wie es sich im Kontext späterer Erfahrungen reproduzierte oder veränderte« (Schäfer/Völter 2005: 173).16

Vielleicht schafft es gerade dieser Begriff der »Erlebnisterminologie« die Kritik an der Homologieannahme zu entkräften. Denn er verdeutlicht – so denke ich – recht gut, dass Erfahrungen nicht an und für sich existieren können, sondern dass sie – wie Paul Mecheril (2006: 125) dies beschreibt – »in einer umfassenden Weise in diskursiv-ideologische Zusammenhänge eingebettet« sind und sich verändern und reproduzieren. So kann eben gerade nicht von einer ontologisch irgendwie existenten Vergangenheit ausgegangen werden, die jenseits ihrer je gegenwärtigen Repräsentation existieren könnte (vgl. Nassehi 2002: 5). Ob diese Prämissen dann auch innerhalb des jeweiligen methodischen Vorgehens eingehalten werden, ist eine andere Frage, die hier nicht geklärt werden kann. In meiner eigenen empirischen Arbeit habe ich mich jedoch aufgrund dieser und anderer Überlegungen dazu entschlossen auf die Rekonstruktion des erlebten Lebens zu verzichten (vgl. Kap. 3.3).

3.2 Das narrativ-biographische Interview Nur selten wird in der Biographieforschung mit Tagebuchaufzeichnungen oder bereits bestehenden Autobiographien gearbeitet (vgl. z.B. Lutz/Davis 2005). Meist wird eine Biographie – genauer gesagt eine erzählte Lebensgeschichte – im Forschungsprozess erst produziert; sie wird mithilfe des narrativ-biographischen Interviews in einem performativen Akt hergestellt. Dies geschieht – so Bettina Völter (2006: 276) – »indem komplexe Innenwelten in eine sprachliche Artikulation transformiert werden« und auf diese Weise ein 16 Eine ähnliche Sichtweise vertreten z.B. auch Jens Brockmeier & Rom Harré (2005: 45), wenn sie schreiben, dass Erzählen »nicht heißen [kann], eine innere Wirklichkeit zu externalisieren, indem ihr eine sprachliche Gestalt verliehen wird. Stattdessen ist es eine kommunikative Praxis, in der Versionen unseres Wissens und unserer Annahmen und Vorstellungen über die Welt und uns selbst verhandelt werden. Dabei werden unsere Erfahrungen und Intentionen strukturiert und restrukturiert, und zugleich werden im Prozess des Erzählens neue Erfahrungen gemacht.« 80

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

Selbstbild erschaffen wird. Erinnerungen an (vergangene) Erlebnisse, Gefühle, Beobachtungen, leibliche Empfindungen etc. werden – abhängig vom Einfluss des Interviewers bzw. der Interviewerin, der Interviewsituation und dem aktuellen Präsentationsinteresse – in Sprache gefasst und in einen lebensgeschichtlichen Gesamtkontext integriert. Dies bringt auch die Möglichkeit der Umdeutung mit sich; bisherige Muster biographischer Selbstdarstellungen können – gerade auch unterstützt durch ein fremdes Gegenüber – reorganisiert werden: »Der Akt der biographischen Selbstartikulation im narrativen Interview bringt also nur partiell eine Reproduktion der Lebensgeschichte hervor, und produziert, formt und orientiert ansonsten die große Vielfalt des durchlebten Lebens zu einer Geschichte.« (Völter 2006: 278, Herv. i.O.) Zur Produktion von Biographien wird in der Biographieforschung meist auf das von Fritz Schütze Mitte der 1970er Jahre entwickelte ›narrative Interview‹ zurückgegriffen, mit dessen Hilfe der/die Interviewpartner/-in dazu motiviert werden soll, seine/ihre Lebensgeschichte oder eine bestimmte Lebensphase zu erzählen (vgl. z.B. Schütze 1983; 1987).17 Narrative Interviews sind dabei so konzipiert, dass nicht die Relevanzen des Interviewers bzw. der Interviewerin, sondern die Relevanzen des/der Interviewten im Vordergrund stehen. Es wird also keine biographische Strukturierung vorgegeben und den Interviewten auf diese Weise ein größtmöglicher Raum zur Selbstgestaltung und Entwicklung ihrer Biographie gegeben (vgl. Rosenthal 2008: 137; Völter 2006: 275). Anliegen des narrativen Interviews ist es Erzählungen – in Abgrenzung zu anderen Textsorten wie z.B. Argumentationen oder Beschreibungen (vgl. Kap. 3.3.2) – ›hervorzulocken‹, um so den/die Erzähler/-in, »in einen Erinnerungsprozess und damit in eine größere Nähe zu den vergangenen Situationen [zu] bringen« (Rosenthal 2005: 51). Denn es wird davon ausgegangen, »dass sich biographische Selbstpräsentationen am überzeugendsten in Erzählungen, der Textform für die Vermittlung selbst erzählter Ereignisse, darstellen lassen« (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a: 136) und auf diese Weise ein Nachvollzug von Handlungsabläufen möglich wird. Schütze geht dabei davon aus, dass die sequentielle Struktur der ›tatsächlichen‹ Abläufe im Lebenslauf aufgrund von implizit wirkenden Zugzwängen in der Erzählung der Interviewten sichtbar wird. So seien die Interviewten »getrieben, sich an die Abfolge der [...] erlebten Ereignisse zu halten« (Kallmeyer/Schütze 1977: 188), ihr Leben detailliert zu schildern und an Stellen mangelnder Plausibilität weiter auszuholen, damit das Erzählte verstanden werden kann. Auch seien sie zur Gestaltschließung gezwungen, da eine Lebensgeschichte nur verständlich wird, wenn sie vom Anfang bis zum Ende erzählt wird. Und schließlich müssten Interviewte beim Erzählen Relevanzen 17 Das narrative Interview ist in der Biographieforschung sehr beliebt und weit verbreitet. Es fehlt jedoch – so Wolfram Fischer – bislang eine ausführliche Diskussion und Darstellung des Instruments (vgl. Apitzsch et al. 2006: 45). 81

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setzen und kondensieren, d.h. sie müssen wichtige Stellen hervorheben und raffen, um ihre subjektive Sichtweise verständlich zu machen (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977: 188; Schütze 1984). »Was für das Geschehen als relevant erachtet wird und was nicht, steht dabei im Zusammenhang mit dem Relevanzsystem des oder der Erzählenden. Kondensierungen geben damit Hinweise darauf, was ihm oder ihr persönlich wichtig erscheint, und (implizit) auf die Kriterien, nach denen etwas als wichtig oder unwichtig betrachtet wird.« (Rosenthal 2008: 142)

3.2.1 Erzählungen Der Diskurstätigkeit des Erzählens wird also eine besondere Funktion innerhalb erzählter Lebensgeschichten zugesprochen. Sie werden – so eine Formulierung von Günter Mey (2000: 135) – »als der Königsweg zum Verständnis von Subjekten« angesehen. Das heißt jedoch – zumindest für die im Rahmen dieser Arbeit verwendete strukturale biographische Fallrekonstruktion (vgl. Kap. 3.3) – nicht, dass alles, was im Interview mittels anderer Textsorten dargestellt wurde, für die Analyse unbrauchbar sei. Andere Textsorten werden ebenfalls in die Interpretation mit einbezogen, wobei es immer auch um die Frage geht, warum an der jeweiligen Stelle im Interview argumentiert, berichtet – oder eben erzählt wird (vgl. Kap. 3.3.2). Auch gilt kein ›Reinheitsgebot‹ für Erzählungen, denn die vermeintlich exakten Abgrenzungen unterschiedlicher Textsorten sind so in der Empirie nicht zu finden (vgl. Mey 2000: 147), und die meisten Erzählungen enthalten z.B. auch argumentative Elemente. Es kann und soll also nicht darum gehen, mittels des narrativ-biographischen Interviews ausschließlich ›reine‹ Erzählungen zu produzieren,18 sondern es soll lediglich die Möglichkeit des Erzählens nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Argumentationen und Beschreibungen werden auch unaufgefordert im Interview verwendet, da diese Textsorten im Alltag viel geläufiger sind (vgl. Rosenthal 2008: 141), und auch den Vorstellungen, wie in einem (›normalen‹) Interview geantwortet wird, viel eher entsprechen. Erzählungen hingegen bedürfen einer speziellen Fragetechnik. Wenn diese nicht angewandt wird, kann das Interview sehr schnell eine Frage-Antwort-Struktur bekommen. Gelingt es jedoch, den Interviewten bzw. die Interviewte zum Erzählen zu bringen, so wirken die so genannten Zugzwänge des Erzählens, die meist dazu führen, dass die Erzählenden mehr erzählen als sie zunächst beabsichtig18 Dies wurde u.a. von Heinz Bude (1985) kritisiert, indem er den Sozialforscher als »Narrationsanimateur« entlarven wollte. Auch Armin Nassehi und Irmhild Saake werfen der Biographieforschung ein Desinteresse an anderen Textsorten vor, die so behandelt würden, als taugten sie nicht als Daten für die Sozialforschung (vgl. Nassehi 2002: 6; Nassehi/Saake 2002: 72 f.). 82

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

ten und in einen »Erinnerungsfluss gleiten« (Rosenthal 2008: 142; vgl. auch Kap. 3.1.3). »Im Erinnerungs- und Erzählfluss tauchen zunehmend Eindrücke, Gefühle, Bilder, sinnliche und leibliche Empfindungen und Komponenten der erinnerten Situation auf, die zum Teil nicht in deren Gegenwartsperspektive passen und an die die Erzähler/-innen schon lange nicht mehr gedacht haben. Dadurch ergibt sich bei den Erzählungen eine während des Erzählflusses zunehmende Nähe zur Vergangenheit und es zeigen sich ganz andere Sichtweisen als die Gegenwartsperspektive, die in den Argumentationsteilen oder auch in erzählten Anekdoten dominiert und deutlich wird.« (Rosenthal 2008: 142 f.)

Darüber hinaus soll der/die Biograph/-in (z.B. durch Fragen nach dem warum) nicht in die Situation gebracht werden, das, was er/sie erzählt hat, argumentativ verteidigen zu müssen. Denn dies würde die im Interview entstehende Vertrauensbasis beeinträchtigen und der/die Interviewpartner/-in würde sich (noch viel stärker) an den Relevanzen seines/ihres Gegenübers bzw. dem, was (vermeintlich) sozial erwünscht ist, orientieren (vgl. Kap. 3.2.3). Erzählungen oder Narrationen werden nach William Labov & Joshua Waletzky (1973) verstanden als »mündliche Versionen persönlicher Erfahrung«. Im Erzählen wird eine temporale Ordnung geschaffen. Es werden räumliche Lokalitäten zueinander in Beziehung gesetzt und ein oder mehrere Akteur/-e wird/werden durch den/die Erzähler/-in in das zeitliche und räumliche Arrangement eingebunden (vgl. Bamberg 1999a: 45). Erzählungen rekurrieren dabei auf selbst erlebte, gehörte oder auch erfundene Ereignisse. Im Unterschied zu Argumentationen oder Beschreibungen19 haben sie keinen statischen Charakter, sondern thematisieren den zeitlichen Prozess eines (zumeist) vergangenen Geschehens (vgl. Goblirsch 2010: 102 ff.). Labov & Waletzky (1973: 95 ff.) gehen dabei davon aus, dass das vergangene Ereignis entsprechend seiner damaligen zeitlichen Chronologie rekapituliert wird, wohingegen Martina Goblirsch konstatiert, dass Erzählungen – vor allem bei Kindern und Jugendlichen – nicht zwangsläufig einer zeitlichen Abfolge folgen: »Die Konstruktion der Zeitabfolge des erzählten Ereignisses innerhalb von Erzählungen ist vielmehr Produkt der kreativen Erinnerungs- und Kommunikationsleistung der Sprecher und der Interaktion, in der die Erzählung formuliert wird. Narrationen werden vom Erzähler im Augenblick der Darstellung retrospektiv in der Art und Weise konstruiert, wie sie seinen aktuellen Relevanzen und dem aktuellen interaktiven Setting entsprechen.« (Goblirsch 2010: 104)

19 Vgl. zur Unterscheidung der verschiedenen Textsorten Kap. 3.3.2. 83

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Ein solches Verständnis von Erzählungen zeigt nochmals deutlich, dass das Hervorlocken von Erzählungen in narrativen Interviews nicht zum Ziel haben kann, ein vergangenes Geschehen retrospektiv einzufangen (vgl. Kap. 3.1.3). Das, was erzählt wird, wird entsprechend der gegenwärtigen Relevanzen des Sprechers bzw. der Sprecherin dargestellt. Es verändert sich im biographischen Prozess und ist abhängig von den situativen und kommunikativen Bedingungen, innerhalb derer erzählt wird (vgl. Kap. 3.2.3). Dennoch wird davon ausgegangen, dass sich biographische Erzählungen immer auf »Momente der eigenen Geschichte« (Goblirsch 2010: 106) beziehen. Diese müssen jedoch nicht selbst erlebt und daher auch nicht im wörtlichen Sinne ›eigen‹ und/oder ›vergangen‹ sein. Denn Erzählungen können auch auf fiktive Ereignisse rekurrieren, die jedoch erzählt werden, um z.B. ein bestimmtes Präsentationsinteresse zu verfolgen und sich zu positionieren (vgl. Spies 2009b: 77 f.). Darüber hinaus repräsentieren weder Erzählungen noch andere Textsorten eine autobiographische, dem Text vorgängige ›Wahrheit‹ (vgl. Reh 2001: 41). Denn eine solche ›Wahrheit‹ kann nicht außerhalb ihrer jeweiligen textuellen Repräsentation existieren. Letztendlich basiert also jede Erzählung auf (re-) konstruierten Ereignissen (vgl. Kap. 3.1).

3.2.2 Der Ablauf des Interviews Das narrativ-biographische Interview – so wie es in dieser Arbeit in Anlehnung an das von Fritz Schütze entwickelte ›narrative Interview‹ verwendet wurde – ist in vier Phasen unterteilt (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a: 140 ff.; 1997b: 414 ff.): Zunächst wird von dem/der Interviewer/-in eine narrative Eingangsfrage formuliert, die den/die Biograph/-in20 in die Lage versetzen soll, sich und seine/ihre Erfahrungen frei gestaltend zu präsentieren (Phase 1). Dabei kann fokussiert und themenzentriert oder – so wie im Rahmen dieser Arbeit – ganz allgemein nach der Familien- und Lebensgeschichte der Interviewten gefragt werden: ich hätte gern dass du mir deine Familien und Lebensgeschichte erzählst, dass einfach, wo auch immer du möchtest anfängst und=mir alles erzählst was dir so einfällt /m/ und=ich hör einfach erst mal auch nur zu und werd dir auch gar keine weiteren Fragen stellen mach mir so=n paar Notizen /m/ und werd=dann vielleicht nachher noch mal n bisschen was weiter nachfragen aber erst mal möcht ich einfach nur zuhören (Interview Serdar, 1/03-1/08)

20 Als ›Biograph/-in‹ wird in der Biographieforschung der-/diejenige bezeichnet, der/die seine/ihre Lebensgeschichte erzählt. Zum Teil werden auch die Begriffe ›Autobiograph/-in‹, ›Interviewee‹, ›Interviewpartner/-in‹ oder ›Interviewte/-r‹ verwendet. 84

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

Auf diese Erzählaufforderung durch den/die Interviewer/-in folgt die Haupterzählung des Biographen bzw. der Biographin (Phase 2). Diese wird autonom von dem/der Erzähler/-in gestaltet. Es wird also – so zumindest die methodische Prämisse – nicht von dem/der Interviewer/-in interveniert (vgl. hierzu auch Kap. 3.2.3. & 5), sondern lediglich durch parasprachliche Phrasierungen (›m‹), Blickkontakt oder andere (leibliche) Aufmerksamkeitsbekundungen zum Weitererzählen ermutigt. Auf diese Weise soll dem/der Interviewten Raum zur Gestaltentwicklung gegeben werden; er/sie soll sich so präsentieren können, wie er/sie das in der konkreten Situation gerne möchte. Hintergrund einer solchen Herangehensweise ist die Annahme, dass das, worüber der/die Biograph/-in erzählt oder nicht erzählt, argumentiert oder berichtet, Informationen über die Selbstwahrnehmung des/der Interviewten sowie die Bedeutung von Lebenserfahrungen für ihn/sie selbst enthält: »Wenn wir Detailfragen in dieser Phase nicht zurückhalten, strukturieren wir damit nicht nur entscheidend die Darstellung der BiographInnen, wir vergeben auch die Chance, zu sehen, ob, wann und wie sie selbst diese Details einführen. So reduzieren wir die späteren Analysemöglichkeiten, setzen also die Qualität unseres Ausgangsmaterials selber herab.« (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997b: 416)

Es soll also die Etablierung eines Frage-Antwort-Schemas vermieden werden, bei dem sich der/die Biograph/-in zunehmend an den von ihm/ihr intendierten Erwartungen des Interviewers bzw. der Interviewerin orientiert. Dies bedeutet, dass auch dann, wenn es zu ›Stockungen‹ in der Haupterzählung kommt, nicht sofort in den Nachfrageteil übergeleitet wird, sondern zunächst einmal durch Fragen wie: »Und wie ging es dann weiter?« der/die Interviewpartner/ -in aufgefordert wird, weiter zu erzählen. Erst wenn die Haupterzählung durch den/die Interviewte/-n beendet wird, beginnt die nächste Phase des Interviews. Dieses Ende kann z.B. durch eine Evaluation oder Coda markiert werden: was soll=isch noch sagen? (3) \((etwas lächelnd:)) isch weiß nicht ((I. lächelt (1)) (1) isch=habe=dir meine ganze Geschichte erzählt ((I. lächelt (1)) ganze Geschichte (Interview Serdar, 31/44-31/46)

Oder es kann in eine Interaktion übergeleitet werden: (9) ja, und jetzt sitz=ich hier und red mit ner schöne Frau ((gemeinsames Schmunzeln (1)) [...] ja m, ich weiß=nicht was=ich erzählen soll ehrlich jetzt Sie müssen mich fragen wenn schon (1) was Neues ((kurzes Schmunzeln)) (Interview Murat, 1/36-1/40)

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Die dritte Phase des Interviews basiert auf erzählgenerierenden Nachfragen. Dabei wird zunächst immanent – also anhand der während des Interviews notierten Stichpunkte – und anschließend erst (eventuell auch) exmanent nachgefragt; d.h. es werden Lücken oder Themen angesprochen, die im bisherigen Interview ausgespart wurden und/oder für die Forschungsarbeit von Interesse sind. Wolfram Fischer-Rosenthal & Gabriele Rosenthal (1997b: 418) unterscheiden hierbei drei Haupttechniken narrativen Nachfragens: • Ansteuern einer Lebensphase »Können Sie mir über die Zeit [Ihrer Kindheit/Jugend/Ausbildung] noch etwas mehr erzählen?« • Ansteuern einer benannten Situation/eines Themas »Sie erwähnten vorhin die Situation [so und so], können Sie mir davon noch einmal genauer erzählen?« • Ansteuern einer Belegerzählung zu einem Argument »Können Sie sich noch an eine Situation erinnern, in der [Ihnen zum ersten mal klar wurde, dass ...]?« Die immanenten Fragen basieren – auch in der Reihenfolge des Fragens – auf den zuvor im Interview angesprochenen Themen. Es wird nicht über das hinausgegangen, was der/die Biograph/-in zuvor selbst angesprochen hat. Wenn z.B. im Interview lediglich allgemein über Anzeigen gesprochen wird, nicht aber über die konkreten Delikte, so wird auch im immanenten Nachfrageteil lediglich – angelehnt an den Wortlaut des/der Interviewten – nach den Anzeigen gefragt, also z.B. und von den Anzeigen kannst du mir da noch n bisschen was erzählen? (Interview Ahmet, 13/19-13/20)

Häufig werden auf diese Weise die von den Interviewpartner/-innen zuvor ausgesparten Themen im ersten Nachfrageteil von selbst angesprochen. Dies ergibt sich zum einen aus den Zugzwängen des Erzählens (vgl. 3.2), aber auch aus dem zunehmenden Vertrauen zwischen Biograph/-in und Interviewer/-in während des Gesprächs. Die Erzählenden merken, dass der/die Forscher/-in ernsthaft an dem, was sie erlebt und zu erzählen haben, interessiert ist; und dass das, was sie sagen, nicht bewertet wird (vgl. z.B. auch Rosenthal et al. 2006: 24 f.). So folgt z.B. auf die oben zitierte immanente Nachfrage tatsächlich – nach einem anfänglichen Versuch, die Frage ins Lächerliche zu ziehen – eine kurze Erzählung bzw. die Beschreibung einer verdichteten Situation:

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BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

(1) was soll=ich da erzählen? (1) ´kann=ich Ihnen erzählen´ aber was? (2) was ne Anzeige ist? Das geht über die Polizei \((Lächeln:)) /I: ach ja? danke/ \ ((gemeinsames Lachen (1)) ((I. lächelt kurz weiter)) ich weiß nicht (2) a=ich=hatt schon mal eine Anzeige=gehabt, die war=auch vor kurzem irgendwann (1) da=hat=s-, da haben wir uns mit so Kollegen in so ner Gruppe geschlagen und=so /m/ (1) beziehungsweise mit ner Gang /m/ ham wir=uns da geschlagen (1) ging halt auch über so über (oft) Messer und, Waffen und so (1) u:nd äm, a=ja irgendwann wurd=ich=halt vorgeladen zur Polizei (Interview Ahmet, 13/21-13/28)

Im exmanenten Nachfrageteil können dann schließlich Fragen angesprochen werden, die von dem/der Interviewten bisher umgangen wurden bzw. Themen, über die nicht gesprochen wurde. Allerdings sollte hier auch akzeptiert werden, wenn ein/e Interviewpartner/-in ein Thema weiterhin umgehen möchte: »[Es] ist hier eine Sensibilität der Interviewer/-innen von Nöten, um zwischen Ambivalenzen, Abwehr und einer benötigten Hilfestellung zur sprachlichen Ausgestaltung von Erzählungen unterscheiden zu können.« (Rosenthal et al. 2006: 25) Nach dem exmanenten Nachfrageteil folgt dann die vierte Phase, der Interviewabschluss, bei dem z.B. nach der schwierigsten und – zum Beenden des Interviews – nach der schönsten Lebenssituation gefragt wird. Auf diese Weise kann der/die Biograph/-in nach dem Ansprechen von möglicherweise unangenehmen Themen im exmanenten Teil zum Abschluss noch einmal ausführlich über eine schöne Zeit bzw. einen Bereich des Lebens erzählen, in dem er/sie sich besonders sicher und geborgen fühlt/-e. Anschließend können dann noch Daten zur Familien- und Lebensgeschichte erhoben und weitere Vereinbarungen getroffen werden.21 Nach Abschluss des Interviews wird schließlich noch ein Memo erstellt, in dem die Interviewsituation, Eindrücke des/der Interviewer/-in u.ä. notiert werden, was bei der Auswertung des Interviews als Kontext von Bedeutung ist (vgl. Kap. 3.5).

3.2.3 Der Einfluss situativer und kommunikativer Bedingungen Die weitgehende Zurückhaltung des Interviewers bzw. der Interviewerin in der Interviewsituation führt zu einer asymmetrischen Struktur der Forschungsbeziehung. Der/die Interviewte soll ausführlich von seinem/ihrem Leben erzählen, während der/die Interviewer/-in von sich selbst nichts preis gibt und gleichzeitig jedoch einen Kommunikationsvorsprung hat, da er/sie das In-

21 Ich habe zum Abschluss der Interviews meine Interviewpartner/-innen auch immer noch gefragt, wie das Interview für sie war, woraufhin ich meist sehr positive Rückmeldungen erhalten habe. Dennoch stellt das Interview – ob man das möchte oder nicht – eine erhebliche Intervention dar, mit deren (Nach-)Wirkungen die Interviewpartner/-innen allein gelassen sind. 87

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

terview initiiert und leitet. Hierdurch entsteht eine hierarchische Beziehung, die in Interviews mit straffälligen Jugendlichen – wie sie im Rahmen dieser Arbeit geführt wurden – durch weitere Faktoren verstärkt wird: So gehöre ich als Forscherin der Dominanzgesellschaft (Rommelspacher 1998) an und verfüge über einen akademischen Abschluss, während meine Interviewpartner/innen einer (ethnischen) Minderheit zuzuordnen sind und keinen oder höchstens einen Hauptschulabschluss vorzuweisen haben. Mit den Worten Bourdieus verfüge ich als Forscherin also über ein Übergewicht an kulturellem Kapital (vgl. Bereswill 2005: 126; Thielen 2009). Hinzu kommt, dass meine Interviewpartner/-innen fast keine Informationen über mich und meine Arbeit erhalten (und auch nicht gefordert) haben,22 während ich – theoretisch – durch den Kontakt zur Bewährungshilfe vorab ihre Akten hätte lesen können;23 und dies von den meisten meiner Interviewpartner/-innen offensichtlich auch angenommen wurde (vgl. Kap. 6-8). Darüber hinaus standen meine Interviewpartner/-innen zum Zeitpunkt des Interviews unter Bewährung. Auch wenn ich ihnen Anonymität und Vertraulichkeit zugesichert habe, so waren sie mir letztlich doch ›ausgeliefert‹ und mussten darauf vertrauen, dass ich das, was sie mir erzählten, nicht an ihre/-n Bewährungshelfer/-in weitergebe. Auch dies verstärkte die hierarchische Situation des Interviews und ist den Interviews zum Teil und hier vor allen Dingen zu Beginn des Gesprächs auch anzumerken (vgl. Kap. 6-8).24 Doch nicht nur die hierarchische Beziehungsstruktur zwischen Forscher/in und Biograph/-in beeinflusst die Interviewsituation und damit auch was und wie im Interview erzählt wird. Denn hierüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die in einem Interview hervorgebrachte Lebensgeschichte immer »eine interaktive und konstruktive Leistung aller an der Situation Beteiligten« ist (Dausien/Mecheril 2006: 159, Herv. i.O.; vgl. auch Anthias 2002). Forschungsbegegnungen stellen regelhaft strukturierte Interaktionen dar, die auf der Aushandlung wechselseitiger Interpretationen und Zuschreibung basieren. Die erzählte Lebensgeschichte ist dem entsprechend immer als eine KoKonstruktion zwischen Interviewenden und Interviewten zu verstehen, wobei hier mindestens drei Aspekte zu unterscheiden sind (vgl. Scholz 2003: 143 f.): 22 Meine Interviewpartner/-innen wussten von ihrem/ihrer Bewährungshelfer/-in lediglich, dass ich eine Arbeit über straffällige Jugendliche schreibe. Zum Teil haben meine Interviewpartner/-innen während oder nach dem Interview zum Ausdruck gebracht, dass sie hoffen, dass ich mit ihrer Hilfe meinen Abschluss schaffe, wobei einige damit offensichtlich meinen Schulabschluss meinten (vgl. Kap. 5.2). 23 Tatsächlich hatte ich Zugang zu den Akten meiner Interviewpartner/-innen, die ich aber immer erst nach dem Interviewtermin eingesehen bzw. vorgelesen bekommen habe (vgl. Kap. 5.2). 24 Verstärkend wirkte hier mit Sicherheit auch, dass die Interviews zum Teil in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe stattfanden (vgl. Kap. 5.2). 88

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

So haben die Interviewten erstens schon vor Beginn der konkreten Interviewsituation bestimmte Vorannahmen, die in Erwartungen hinsichtlich dessen resultieren, wie das Gespräch verlaufen wird. Sie machen sich Gedanken darüber, was sie wohl gefragt werden und was sie erzählen oder besser verschweigen möchten und was von ihnen erwartet wird (so genannte Erwartungs-Erwartungen).25 In der Interviewsituation selbst werden dann zweitens »die eigenen Annahmen hinsichtlich der Erwartungen des bzw. der Forschenden konkretisiert« (Scholz 2003: 143), d.h. es wird von den Interviewten Bezug genommen auf die sozialen Zugehörigkeiten des/der Interviewenden und das, was diese dementsprechend (vermeintlich) hören wollen bzw. aushalten können (vgl. Baker 2002; Grenz 2005: 2096). Hierbei ist im Rahmen dieser Arbeit auch zu berücksichtigen, dass die Jugendlichen ihre ›Geschichte‹ im Kontext der Bewährungshilfe und ihrer Verurteilung/en schon häufig erzählt haben und sie daher ziemlich genaue Vorstellungen davon haben, was von ihnen vermeintlich erwartet wird.26 Der/die Interviewende wird hierbei – das wäre zumindest eine Hypothese – dem System der Betreuung und sozialpädagogischen Disziplinierung zugerechnet (vgl. Apitzsch et al. 2006: 45; Thielen 2009).27 Zum Teil zeigt sich dies im Interview auch in Form von Fachtermini, die die Jugendlichen im Kontakt mit professionellen Helfer/-innen übernommen haben und deren Verwendung »als notwendige Zeichen ihrer Einsicht oder ›Besserung‹ gelten« (Bereswill/ Rieker 2008: 422; vgl. Kap. 6-8).28 Darüber hinaus spielt die Geschlechterdifferenz im Interview eine Rolle. Von den männlichen Jugendlichen,29 die von mir nach ihrer Familien- und Lebensgeschichte gefragt wurden, wird – darauf hat u.a. Sylka Scholz (2003) 25 Grundlage solcher Überlegungen ist eine an George Herbert Mead orientierte Konzeption von Intersubjektivität: In Interaktionen treffen Menschen aufeinander, die die Fähigkeit entwickelt haben, ihr eigenes Handeln mit den Augen signifikanter Anderer zu sehen und zu interpretieren. Dadurch wird die Interaktion maßgeblich durch gegenseitige Erwartungsunterstellungen strukturiert (vgl. Bereswill 2003a: 523). 26 Diese Erfahrung beschreibt auch Susanne Spindler (2006: 121): Es zeige sich in den Interviews »eine deutliche Differenz zwischen denjenigen Jugendlichen, die ihre Hauptverhandlung noch vor sich haben, sich also in der Untersuchungshaft befinden, und denen, die schon in Strafhaft sind«. 27 Phoenix et al. (2003) beschreiben ein ähnliches Phänomen bei Interviews im Klassenzimmer: Die meisten Jungen seien in die Interviewsituation mit der Erwartung gekommen, dass sie der Interviewer wie ein Lehrer behandle und ihnen dementsprechend nicht zuhöre, sie mit Fragen bombardiere und ihre ›Performance‹ am Ende bewerte. 28 Bereswill & Rieker (2008: 421) merken diesbezüglich kritisch an, dass die »Gefahr eines fatalen Zirkels« bestehe: Sozialwissenschaftliche Theorien würden vermittelt über professionelle Helfer den Weg zurück in die sozialwissenschaftliche Forschung finden und sich auf diese Weise selbst bestätigen. 29 Vgl. zur Zusammenstellung des Samples sowie zur Auswahl der Fälle Kap. 5.2. 89

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

verwiesen – auf unterschiedlichen Ebenen Männlichkeit im Interview hergestellt. So erfolgt auf der inhaltlichen Ebene die Konstruktion von Männlichkeit durch das Thematisieren bzw. Nicht-Thematisieren von bestimmten Lebensbereichen. Mittels spezifischer Erzählmodi wird Männlichkeit auf formaler bzw. grammatikalischer Ebene hergestellt und durch Bezugnahme auf das Geschlecht der Interviewerin wird Männlichkeit auf interaktiver Ebene produziert (vgl. auch Bereswill 2005; Bereswill 2006). Hierbei gibt es Unterschiede in den biographischen Erzählungen. Zum Teil werde ich – auf interaktiver Ebene – von den Jugendlichen sehr direkt als Frau oder auch potentielle Freundin angesprochen (vgl. v.a. Kap. 6), zum Teil erfolgt die Herstellung der Geschlechterdifferenz auch eher implizit z.B. indem ich als Frau erklärt bekomme, dass »Galatasaray« eine Fußballmannschaft und ein CL Cabrio ein schönes Auto ist (vgl. Kap. 7). So geht auch Sylka Scholz (2003: 145) davon aus, dass die »Modi oder Praktiken der Konstruktion von Männlichkeit [...] in den einzelnen Lebensgeschichten performativ eingesetzt« werden, dass sie also von den Jugendlichen in der Erzählung eigenlogisch für die Konstruktion ihrer Lebensgeschichte verwendet werden (vgl. auch Kap. 9.2.3). Hinzu kommt, dass die Jugendlichen sich mir gegenüber als ›kulturell anders‹ präsentieren und zum Teil die Position des ›authentischen‹ Sprechers einnehmen. So erklären mir Jugendliche im Interview z.B. was sich bei »den Türken gehört«: ich hab ihm=eigentlich früher=immer Backe Backe Kuss=gegeben weil-, so wie=s bei=den Türken gehört sag=ich mal (Interview Murat, 12/6-12/7)

Oder sie erläutern den Konflikt zwischen Türken und Kurden: weißt du die Kurden wollen ja nur des haben, die wollen nur, die warn- wollen eigene Schulen haben /m/ die wollen dass ihre Sprache weiterentwickelt wird, die wollen die die wollen gar nicht alle peng machen Leute nur oder so warum denn? /m/ verstehst du? warum /m/ im Krieg oder so /m/ die kämpfen ja da dafür damit sie damit sie das erhalten können, ihre Sprache, die wollen die wollen Schulen haben die wollen eigenen Fernsehn haben (2) eigenen Anerkennung weißte? (Interview Serdar, 9/36-9/42)

Offensichtlich erwarten die Jugendlichen, dass sie mir ›ihre Kultur‹ erklären müssen und machen sich auf diese Weise zum ›Anderen‹. Doch auch umgekehrt lassen sich Prozesse des Othering erkennen, wenn ich als Interviewerin z.B. am Ende des Interviews wiederholt nach Zugehörigkeiten frage (vgl. Spies 2009b). Es handelt sich hierbei um Machtmomente, die – auch beeinflusst durch gesellschaftliche Diskurse – in der Interaktion verhandelt werden

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BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

und damit ebenfalls die erzählte Lebensgeschichte beeinflussen (vgl. auch Thielen 2009). Die Erzählung wird also von der/dem Interviewten an die Person des/der Interviewenden adressiert. Hierdurch entsteht – drittens – eine Gesprächsdynamik. Das Interview konstituiert sich – auch dann wenn sich der/die Interviewende weitgehend zurückhält – als »eine gemeinsame Textproduktion, bei der die wechselseitig aufeinander bezogenen Redezüge die Hauptsteuerung und Selektionsleistungen bestimmen« (Fischer 2006: 332). Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass Interviews bei der Auswertung konsequent als Dialog gelesen und interpretiert werden müssen (vgl. Scholz 2003: 159) und auch der Interviewkontext (möglichst detailliert festgehalten im Memo zum Interview) stets mit einbezogen werden muss (vgl. Kap. 5.1). Bei Interviews mit Jugendlichen ist ein solches Verständnis von Interviews als »talk-in-interaction« (Baker 2002: 778) besonders wichtig und auch offensichtlich, da sich Interviews mit Jugendlichen unter anderem bezüglich dessen, wie das Interview abläuft, von Interviews mit Erwachsenen deutlich unterscheiden (vgl. Rosenthal et al. 2006).30 Interviewer werden hier – anders als bei Interviews mit Erwachsenen üblich – immer wieder von den Jugendlichen in kurze Gespräche verwickelt, die zum Teil aus mehreren aufeinander folgenden Redebeiträgen (turns) bestehen. Hierbei handelt es sich »um intensive thematische Aushandlungssequenzen oder Präzisierungsinteraktionen, die für die biographische Selbstdarstellung der Jugendlichen und den weiteren Fortgang des Interviews notwendig sind« (Goblirsch 2010: 82). Würde man diese Abschnitte bzw. kompletten Interviews als misslungen betrachten – wie das in einer strengen Anwendung des narrativen Interviews durchaus üblich wäre – würde man u.a. die für den weiteren Interviewverlauf und Präsentation der Lebensgeschichte wichtige Aushandlung von Positionierungen, die in diesen Sequenzen stattfindet, außer Acht lassen und eine wichtige Erkenntnisquelle nicht nutzen (vgl. auch Bereswill 2003a; Bereswill 2006: 248 ff.). Um solche Interaktionen innerhalb narrativ-biographischer analysieren zu können, ist jedoch eine Erweiterung des methodischen Repertoires nötig. In Kap. 5.1 werde ich daher auf das Konzept der Positionierung eingehen, das sowohl den Einfluss von Diskursen als auch von Interaktionen auf die Auswahl der Themen und die Art und Weise, wie erzählt wird, berücksichtigt. In diesem Zusammenhang werde ich auch die von Michael Bamberg (2003) entwickelte Positionierungsanalyse vorstellen, die in dieser Arbeit – in modi-

30 Zum Teil wird in der Biographieforschung auch die Meinung vertreten, dass narrativ-biographische Interviews mit Jugendlichen nicht möglich seien, da diese noch nicht oder nur bedingt zu Erzählungen fähig seien. Dieser Auffassung kann ich jedoch – wie das Material meiner Arbeit zeigen wird – klar widersprechen (vgl. auch Goblirsch 2010: 80 ff.; Mey 2000: 136 f.). 91

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

fizierter Form – zur Ergänzung der strukturalen biographischen Fallrekonstruktion herangezogen wurde (vgl. hierzu auch Goblirsch 2010).31

3.3 Biographische Fallrekonstruktion Zur Auswertung narrativer Interviews werden in der Biographieforschung unterschiedliche Methoden herangezogen. Ich beziehe mich bei der Auswertung meiner Interviews weitestgehend auf das Verfahren der (strukturalen) biographischen Fallrekonstruktion, wie es von Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer entwickelt wurde (vgl. Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal 1996; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a; Rosenthal/Fischer-Rosenthal 2000; Rosenthal 2008). Hierbei handelt es sich um eine Verknüpfung der von Fritz Schütze (1983) vorgestellten Textanalyse, der objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik von Ulrich Oevermann (Oevermann et al. 1979) sowie der thematischen Feldanalyse (Fischer 1982) im Anschluss an Aron Gurwitsch (1975). Die biographische Fallrekonstruktion ist ein rekonstruktives und sequentielles Vorgehen; das heißt, es wird nicht mit vorab definierten Kategorien an den Text herangegangen, sondern die Bedeutung einer Textpassage wird aus dem Gesamtzusammenhang des Interviews (rekonstruktiv) erschlossen. Hierzu werden einzelne Textpassagen nach dem Verfahren der objektiven Hermeneutik sequentiell, also in der Abfolge ihres Entstehens, feinanalytisch interpretiert. Die Haupterzählung wird nach dem Verfahren der thematischen Feldanalyse ebenfalls in ihrer sequentiellen Gestalt analysiert. Hierbei wird untersucht, in welcher Reihenfolge und in welcher Textsorte die Lebenserzählung von den Biographen bzw. Biographinnen präsentiert wird. Darüber hinaus wird die erlebte Lebensgeschichte rekonstruiert und untersucht, »wie sich die einzelnen biographischen Erfahrungen in der erlebten Lebensgeschichte chronologisch aufgeschichtet haben« (Rosenthal 2008: 173). Es wird also sowohl die sequentielle Gestalt der erzählten als auch der erlebten Lebensgeschichte rekonstruiert, wobei dies – und das ist ein entscheidendes Merkmal der biographischen Fallrekonstruktion – zunächst in getrennten Analyseschritten geschieht.

31 Martina Goblirsch hat in ihrer Studie Biographien verhaltensschwieriger Jugendlicher und ihrer Mütter. Mehrgenerationale Fallrekonstruktionen und narrativ-biographische Diagnostik in Forschung und Praxis (2010) eine solche Methodenverknüpfung vorgenommen und gezeigt, inwiefern die Positionierungsanalyse eine wichtige Ergänzung für das Verfahren der struktural-hermeneutischen Analyse sein kann (vgl. auch Goblirsch 2005). 92

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

»Ziel der Rekonstruktion ist sowohl die biographische Bedeutung des in der Vergangenheit Erlebten als auch die Bedeutung der Selbstpräsentation in der Gegenwart. Wird bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte nach der biographischen Bedeutung einer Erfahrung zur damaligen Zeit gefragt, so stellt sich bei der Rekonstruktion der Lebenserzählung, bei der so genannten Text- und thematischen Feldanalyse, die Frage nach der Funktion der Darstellung des Erlebens für die interviewte Person in ihrem gegenwärtigen sozialen Kontext.« (Rosenthal 2008: 174)

Die biographische Fallrekonstruktion besteht – klassischerweise – aus sechs Analyseschritten (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a: 152 ff.). Zunächst wird (1.) das gelebte Leben rekonstruiert (Analyse der biographischen Daten), anschließend (2.) das erzählte Leben (Text- und thematische Feldanalyse) und schließlich (3.) das erlebte Leben (Rekonstruktion der Fallgeschichte). Ergänzt werden diese drei Auswertungsschritte durch die Feinanalyse einzelner Textstellen (4.). Nach Abschluss dieser Analyseeinheiten werden (5.) das erzählte und das erlebte Leben kontrastiert. Wurden mehrere Interviews ausgewertet, so kann am Ende noch eine Typenbildung erfolgen (6.). Im Rahmen dieser Arbeit wurden allerdings nicht alle Auswertungsschritte durchlaufen. Denn bei der Rekonstruktion der Fälle interessierte mich vor allen Dingen, wie sich meine Interviewpartner/-innen mir gegenüber und unter dem Einfluss gesellschaftlicher Diskurse über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund positionieren (vgl. Kap. 1). Die Frage nach dem erlebten Leben (Schritt 3), also danach, wie die Jugendlichen bestimmte Ereignisse erlebt haben – so weit sich dies überhaupt aus dem Interviewmaterial rekonstruieren lässt (vgl. Kap. 3.1.3) – und wie dieses ›Erleben‹ möglicherweise im Kontrast zu dem steht, wie sie sich präsentieren und was sie erzählen (Schritt 5), interessierte mich hingegen nicht. Auch habe ich keine Typenbildung durchgeführt, da eine Rekonstruktion verschiedener Typen nicht Ziel der Arbeit war, sondern es darum ging, den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Diskursen und biographischen Erzählungen zu untersuchen (vgl. Kap. 1). Ich werde daher im Folgenden auch nur die Auswertungsschritte der biographischen Fallrekonstruktion näher vorstellen und ausführlich beschreiben, die ich für die Auswertung meines Materials tatsächlich herangezogen habe (vgl. auch Kap. 5.2.5). Hierzu werde ich exemplarisch die Analysemethode an meinem Material erläutern, wobei es sich hierbei nicht um so genannte ›Werkstattprotokolle‹, also die zusammengefassten Hypothesen aus den Interpretationsgruppen handelt, sondern um Tabellen, mit denen innerhalb der Interpretationsgruppe gearbeitet wurde. Grundlage für die Analyse ist das narrativ-biographische Interview, welches vollständig transkribiert wird und als anonymisierter Text vorliegt (vgl. Kap. 5.2.3). Bei der Transkription wird so wenig wie möglich geglättet oder

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

verbessert. Es wird nicht nach den Regeln der Grammatik, sondern nach der hörbaren Gestalt wortwörtlich und ohne Auslassungen transkribiert.32

3.3.1 Biographische Datenanalyse Der erste Auswertungsschritt der biographischen Fallrekonstruktion ist die Analyse der biographischen Daten. Hierzu werden alle ›objektiven‹ Daten (Geburt, Anzahl der Geschwister, Ausbildungsdaten etc.) zum gelebten Leben des Biographen33 in einer Tabelle chronologisch sortiert aufgeführt. Die Daten können sowohl dem Interview selbst als auch zusätzlichem Material (z.B. den Akten der Bewährungshilfe) entnommen sein. Wichtig ist hierbei jedoch eine kritische Nutzung des Materials, da dieses in Widerspruch zu den im Interview aufgeführten Daten stehen kann. Tauchen Widersprüche auf, so werden alle Möglichkeiten in der Tabelle aufgeführt. Darüber hinaus werden auch zeithistorische Daten (z.B. Kriegsende, Fall der Mauer etc.) eingefügt, die möglicherweise für den Biographen von Bedeutung waren. Hierbei ist zu beachten, dass Daten aus zusätzlichen Quellen, die vielleicht zunächst ›objektiver‹ und zuverlässiger scheinen, keineswegs zur Überprüfung der Authentizität der erzählten Lebensgeschichte genutzt werden. Denn Akten der Bewährungshilfe oder sonstige sozialhistorische Dokumente sind nicht weniger ›subjektiv‹ als der biographische Text; auch sie sind Produkte der im sozialen Entstehungskontext geltenden und wirkenden institutionellen Regeln (vgl. Rosenthal 2005: 49), werden also ebenso wie die erzählte Lebensgeschichten von gesellschaftlichen Diskursen beeinflusst. Ich habe daher – vor allen Dingen bei widersprüchlichen Angaben – stets mehrere Lesarten bei der Auswertung verfolgt und auch kenntlich gemacht, woher ich welche Informationen habe. Darüber hinaus habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, warum bestimmte Informationen aus dem Interview in den Akten nicht auftauchen bzw. umgekehrt: warum bestimmte Daten aus den Akten im Interview nicht erzählt werden (vgl. zur Rolle der Akten auch Kap. 5.2.4). Beim Sammeln der ›objektiven‹ Daten ist des Weiteren zu beachten, dass die dabei entstehende Tabelle nicht als abgeschlossene Liste verstanden werden darf. Vor allem bei der Analyse von Biographien im Kontext von Migration sind beim Zusammenstellen und hier vor allem beim Ergänzen von Daten 32 Die im Rahmen dieser Arbeit verwendeten Transkriptionszeichen in Anlehnung an Rosenthal (1995) sind im Anhang aufgeführt. 33 Da ich im Rahmen dieser Arbeit nur die Interviews mit männlichen Jugendlichen ausgewertet habe, werde ich im Folgenden – zur besseren Lesbarkeit – auch nur die männliche Schreibweise verwenden. Der gleichen Logik folgend werde ich auch von der Interviewerin sprechen, da ich die Interviews selbst geführt habe. Dies heißt natürlich nicht, dass alles, was ich schreibe, nicht auch für Biographinnen bzw. Interviewpartnerinnen und Interviewer gelten würde. 94

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

durch zusätzliches Material genaue Kenntnisse der Lebensbedingungen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten erforderlich. Regionale und kollektive Bezüge sowie zeithistorische Ereignisse lassen sich jedoch häufig nur bedingt recherchieren und rekonstruieren (vgl. Lutz 2007: 60; Karakayal 2010: 88). Es kann daher bei der Analyse immer nur darum gehen, die eigene eingeschränkte (Forschungs-)Perspektive offen zu legen34 und kritisch zu reflektieren (vgl. auch Kap. 3.4). Dass dies jedoch längst nicht alle Probleme löst, zeigt sich innerhalb der Arbeit vor allen Dingen bei der Analyse des letzten Interviews: Serdar ist in bzw. in der Nähe von Diyarbakr aufgewachsen und wurde in seiner Kindheit durch Verhaftungen und Ermordungen innerhalb der Familie auf brutale Weise mit dem Kurdenkonflikt konfrontiert (vgl. Kap. 8). Es stellt sich hier die Frage, inwiefern ich als in Deutschland aufgewachsene und der Dominanzgesellschaft angehörende Forscherin mit solchen biographischen Daten angemessen umgehen kann bzw. inwiefern sich solche Ereignisse überhaupt rekonstruieren lassen. Innerhalb der Biographieforschung wird dies meines Erachtens noch viel zu wenig diskutiert. Und auch innerhalb der Migrationsforschung wäre hier – so denke ich – ein kritischer(er) Umgang mit biographischen Forschungsmethoden nötig (vgl. hierzu auch Beck-Gernsheim 2004: 146 f.). Die Tabelle, die ich im Folgenden exemplarisch und ausschnittsweise anführen möchte, basiert auf einem narrativ-biographischen Interview, das ich mit Ahmet geführt und im Rahmen dieser Arbeit analysiert habe (vgl. Kap. 6), einem anschließenden (ungeplant entstandenen) Gespräch, zu dem Ahmets Eltern und seine Schwester hinzugekommen sind, sowie den Angaben aus der Akte der Bewährungshilfe. Alle Daten, die nicht ausdrücklich im Interview, im Gespräch oder in der Akte angeführt, sondern mithilfe der Benennung des jeweiligen Alters oder Schuljahres errechnet wurden, stehen in Klammern. Das erste Datum einer solchen Tabelle kann durch familienbezogene und gesellschaftliche Daten ergänzt werden (vgl. Rosenthal 2008: 178 f.). Alternativ wird bei der Analyse des gelebten Lebens nochmals zwischen Familienund Lebensgeschichte unterschieden. Es werden dann – zusätzlich zu den in der Tabelle aufgeführten lebensgeschichtlichen Daten des Biographen – in einem weiteren Dokument familiengeschichtliche Daten aufgeführt und zunächst Hypothesen zum gesellschaftlichen und familialen Setting gebildet, in das der Biograph hineingeboren wird (vgl. Kap. 6.2, 7.2, 8.2).

34 Im Rahmen dieser Arbeit habe ich dies insofern versucht, als ich immer wieder Bezug auf den Interviewtext nehme, diesen zitiere und daran meine Interpretationen veranschauliche. 95

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Tabelle 1: Biographische Daten aus dem Interview mit Ahmet (Ausschnitt) 1

3.5.1989/ 3.5.198835

Geburt von Ahmet Ahmet ist das vierte Kind seiner Eltern. Der älteste Bruder ist bei Ahmets Geburt 14 Jahre alt, der zweitälteste Bruder ist 10 Jahre alt, die Schwester ein Jahr. Die Familie lebt in einer Mietswohnung in Darmstadt (Eberstadt).36 Der Vater arbeitet Schichtdienst in einer Firma, die Mutter ist zu Hause bei den Kindern.

2

(1991)

Ahmets ältester Bruder beendet die 10. Klasse und beginnt eine Ausbildung.

3

1994

Umzug der Familie: Sie zieht in ein eigenes Haus mit Terrasse, Garten und ausgebautem Dachboden, das in der gleichen Straße wie die Mietswohnung liegt. Die Eltern von Ahmet verkaufen mehrere Häuser in der Türkei und nehmen Schulden auf, um das Haus zu finanzieren.

4

(1995)

Ahmet kommt in die Schule. Sein zweiter Bruder beendet die 10. Klasse.

5

(1997/1998)

Ahmet wird beschnitten.

6

(1998)

Gerichtsverhandlung gegen Ahmets zweitältesten Bruder. Er soll in Frankfurt mit Drogen gedealt haben. Der Vater sucht einen Ausbildungsplatz für ihn.

7

(1998)

Ahmets zweitältester Bruder beginnt eine Ausbildung. Der älteste Bruder beginnt seinen Meister.

8

(1999)

Ahmet kommt in die Hauptschule.

9

1999

Ahmets ältester Bruder stirbt bei Glatteis bei einem Verkehrsunfall (mit 23 Jahren).

10

(2000/2001)

Ahmets zweitältester Bruder wird nach mehreren Gerichtsverhandlungen und sechs Monate vor dem Ende seiner Ausbildung wegen Drogenhandels in die Türkei abgeschoben.

11

(2001)

Ahmet hat Schulprobleme und bekommt Nachhilfeunterricht. Er fällt wegen aggressiven Verhaltens auf.

12

(2002, 2003)

Ahmet fällt in der Schule wegen zahlreicher »Streiche« auf und wird häufig zum Direktor bestellt.

35 Dieses Geburtsdatum stammt aus den Akten der Bewährungshilfe und wurde auch von Ahmets Mutter während des Gesprächs benannt. Ahmet selbst sagte, er sei 1988 geboren worden. 36 Es handelt sich hierbei um anonymisierte Angaben aus dem Interview (vgl. zur Anonymisierung auch Kap. 5.2.3). 96

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

13

24.09.2003

Gerichtsverhandlung: Ahmet wird wegen Bedrohung in zwei Fällen angeklagt. Von Strafverfolgung wird abgesehen (§ 45 II JGG).37

Jedes in der Tabelle aufgeführte Datum wird ohne Kontextwissen und ohne Kenntnis des Interviews, d.h. ohne Wissen über die Selbstdeutungen und Erzählungen des Interviewten und ohne Kenntnis des weiteren biographischen Verlaufs interpretiert. Hierbei bietet sich – wie auch bei allen anderen Auswertungsschritten – die Arbeit mit einer (interdisziplinären) Interpretationsgruppe an, die das Interview nicht kennt.38 Nach jeder Sequenz wird gefragt, was das einzelne Datum für den Biographen bedeutet und welche Handlungsmöglichkeiten er damals hatte. Anschließend werden Folgehypothesen über den möglichen Fortgang der Lebensgeschichte gebildet. Diese werden anhand des folgenden Datums überprüft und es werden nun erneut Hypothesen aufgestellt. Dabei geht es bei diesem Auswertungsschritt nicht nur um die Erstellung eines Kurzlebenslaufs, der vor allem für den darauf folgenden Auswertungsschritt als Kontrastfolie dienen kann (z.B. in Bezug auf die Frage, was thematisiert wird und was nicht), sondern es soll mithilfe der – anfangs meist noch weit gestreuten – Hypothesen zu jedem einzelnen Datum versucht werden, sich der Verlaufsstruktur der Biographie anzunähern. Dabei weisen die Daten zum Teil »bereits deutlich auf eine bestimmte Verlaufsstruktur hin, d.h. auf die systematische, immer ähnlich erscheinende Wahl aus Handlungsmöglichkeiten, während man bei anderen Fällen am Ende der Analyse eher vor einer nicht in eine Struktur zu bringende Anzahl von weiterhin als plausibel erscheinenden Hypothesen und auch Fragen steht« (Rosenthal 2005: 176).

3.3.2 Text- und thematische Feldanalyse Bei der Text- und thematischen Feldanalyse steht die Frage nach der Selbstpräsentation des Biographen im Mittelpunkt. Grundlage der Analyse ist die Haupterzählung des Interviewten, d.h. der Teil des Interviews, der – allein strukturiert durch die Relevanzen des Erzählenden – auf die narrative Eingangsfrage folgt. Es geht also um die Analyse des erzählten Lebens. Auch

37 Kursive Daten stammen aus der Akte der Bewährungshilfe. 38 Ich habe mit unterschiedlichen Interpretationsgruppen gearbeitet, die aus Männern und Frauen bestanden, die Erfahrungen mit der Methode, sozialpädagogische Kenntnisse im Umgang mit straffälligen Jugendlichen oder eigene Erfahrungen im Umgang mit Delinquenz haben, ähnliche (familiäre) Migrationsbiographien haben oder deren Promotionsvorhaben in den gleichen oder ähnlichen (theoretischen) Kontexten (Männlichkeit, Migration, Kriminalität) verortet sind. 97

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

hier wird wieder sequentiell interpretiert. Hierzu wird die Haupterzählung in Analyseeinheiten unterteilt, in denen das, was im Interview gesagt wird, mit eigenen Worten wiedergegeben wird. Es wird also auch bei diesem Analyseschritt lediglich bei der Vorbereitung mit dem Transkript gearbeitet, die Hypothesen beziehen sich jedoch nicht auf die wörtliche Rede des Interviewten.39 Die Sequenzierung soll sowohl wiedergeben, was der Biograph sagt, als auch wie er es sagt. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Thema grundsätzlich sowohl mittels einer Erzählung, einer Beschreibung oder einer Argumentation dargestellt werden kann, und dass die Wahl einer bestimmten Textsorte zur Darstellung eines Themas nicht zufällig ist (vgl. Schütze 1983). Bei der Sequenzierung wird daher nicht nur nach Themen, sondern auch nach Textsorten unterschieden, wobei diese meist nicht in ›reiner‹ Form, sondern vermischt mit (mindestens) einer anderen Textsorte auftreten (vgl. auch Kap. 3.2.1). Zur Unterscheidung der Textsorten konzentriert man sich meist auf die drei Haupttextsorten Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen sowie deren Unterkategorien Berichte und verdichtete Situationen (vgl. Goblirsch 2010: 95 ff.; Rosenthal 2008: 139 f.). Erzählungen referieren auf zurückliegende singuläre Ereignisabfolgen. Sie sind an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit und an eine bestimmte Person gebunden und beziehen sich meist auf herausragende Ereignisse innerhalb der Lebensgeschichte (vgl. Kap. 3.2.1). Bei Berichten handelt es sich um eine Unterkategorie von Erzählungen; es sind stark geraffte Erzählungen, die sich durch einen geringen Indexikalitätsgrad auszeichnen. Es wird lediglich eine Ereigniskette dargestellt, ohne einzelne Situationen weiter herauszuarbeiten (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977: 187). Argumentationen sind theoriehaltige Textelemente, die als eigenständige Textsorte, aber auch in der Kombination mit anderen Textsorten auftreten können. Sie werden zur Bewertung, Begründung und Erklärung von Aussagen und Standpunkten herangezogen und dienen der eigenen Positionierung. Argumentationen sind sehr viel stärker als Erzählungen von situativen und kommunikativen Bedingungen abhängig (vgl. Kap. 3.2.3). Man orientiert sich beim Argumentieren »am Zuhörenden, den man von etwas überzeugen will, an seiner Gegenwartsperspektive, unter der man sich selbst etwas erklären möchte, und an Gesichtspunkten der sozialen Erwünschtheit« (Rosenthal 2008: 139). Darüber hinaus »können auch Positionen von realen oder imaginären Widersachern geschwächt werden, wodurch der Sprecher die eigene Position [...] profilieren kann« (Goblirsch 2010: 97). Beschreibungen beziehen sich – im Unterschied zu Erzählungen – nicht auf singuläre Ereignisse, sondern zeichnen sich – ebenso wie Argumentationen – durch einen eher sta39 Lediglich Interaktionen werden meist wörtlich wiedergegeben (vgl. Tabelle 2). 98

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

tischen Charakter aus. Sie haben »die wichtige Funktion, den Ereignisraum des Geschehens auszugestalten und sprachlich die interessierenden Aspekte der ›Welt‹ des Erzählers zu konstruieren und zu charakterisieren« (LuciusHoene/Deppermann 2004b: 160). Eine Unterkategorie von Beschreibungen sind verdichtete Situationen. Hier werden Ereignisse, die ein Erzähler häufig erlebt hat, zusammengefasst und komprimiert beschrieben. Als Beispiel für die Sequenzierung einer Haupterzählung soll auch hier wieder das Interview mit Ahmet dienen, das ich im Rahmen dieser Arbeit analysiert habe (vgl. Kap. 6): Tabelle 2: Beispiel für die Sequenzierung einer Haupterzählung (Ausschnitt) 1

1/1-1/20

Interaktion

I: also, ich hätt gern dass du mir deine, Familien und Lebensgeschichte erzählst B: das heißt? I: (1) ä:m, dass du einfach irgendwo anfängst zu erzählen was immer du auch möchtest und einfach erst mal erzählst ich hör dir zu (1) nimm dir soviel Zeit wie du möchtest B: was soll ich Ihnen denn erzählen? /((I. lacht (1))/ ((gemeinsames Lächeln (1)) I: und äm ich mach mir einfach nur n paar Notizen und werd dann vielleicht später noch n bisschen was fragen aber jetzt erst mal bin ich erst mal nur ruhig und, hör dir zu B: ja was soll=ich Ihnen erzählen? (1) I: was dir dazu einfällt B: wozu? ich weiß\((leicht schmunzelnd:)) ich=weiß nichts\ stellen Sie mir Fragen ich geb Ihnen ne Antwort ((gemeinsames Lächeln (1)) I: \((B. lächelt weiter:)) solln=wir\ du sagen? weil ich hab jetzt einfach du gesagt B: alles klar kein #Problem# I: #ja?# okay ((Lächeln (1)) also (1) mm was dir zu deiner, Familien, Lebensgeschichte (2) einfällt B: zu meiner Familie? (1) I: und zu deinem Leben ((Lächeln (1))

2

1/211/30

Argumentation

Leben und ich Ahmets Leben lief nicht so grade. Seine Familie ist gut, mit ihr kommt er gut zurecht. In seinem Leben sind viele Sachen schief gelaufen; nicht immer für extra, aber was war, das war.

99

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

3

4

5

6

7

1/301/35

Beschreibung/ Argumentation

Hauptschule

1/361/48

Beschreibung/ Argumentation

Anzeigen, Jugendarrest und Bewährung

1/48-2/8

Verdichtete Situation/ Argumentation

Anzeigen wegen Körperverletzung

Argumentation/ Beschreibung

Jugendarrest

Argumentation/ Interaktion

Resümee & Einleitung der Interaktion

2/9-2/24

2/242/29

Angefangen hat es, als Ahmet in die Hauptschule kam. Da waren seine Klassenkameraden, die haben ihn angestachelt und Ahmet hat gern ein bisschen Spaß mitgemacht. Alles fing damit an, dass jemand das Auto einer Lehrerin in die Luft gejagt hat und Ahmet mit seinen Freunden anschließend das Auto zusammen getreten hat. Dann kam die erste Anzeige, dann noch eine und noch eine, dann Jugendarrest, anschließend wieder Anzeigen. Es ist Ahmet egal, dass er nun eine Bewährungsstrafe hat. Was war, das war. Er kann nichts mehr daran ändern. Dann kamen Anzeigen wegen Körperverletzung. Das waren alles immer Schlägereien, die Ahmet gar nicht machen wollte. Das fing mit einer Beleidigung an und ging über Schubsen zur Schlägerei, bis Ahmet dann am Ende mit Handschellen dastand. Ahmet hat auch mal Jugendarrest bekommen und Sozialstunden. Der Jugendarrest ist kein Knast, das ist einfach der reinste Tod. Da stirbt man von alleine. Knast ist eher Angst einflößend. Da sagt man, da war ich drin und geh nie wieder rein. Aber die JA ist anders. Im Knast hat man wenigstens was zu tun. Aber in der JA darf man nur morgens mal eine Stunde raus auf den Hof und das war’s. Ahmet hat nichts mehr zu erzählen. Ihm fällt nichts mehr ein, weil er so gut wie möglich alles vergessen wollte. Ihm fällt schon noch viel ein, aber das sind alles so Geschichten, auf die er nicht gerade stolz ist. »(4) Sie sind sicher dass Sie keinen Kaffee oder Tee wollen?«

Die Hypothesen, die wiederum nach und nach für jede Analyseeinheit innerhalb einer Interpretationsgruppe gebildet werden, welche weder den Kontext noch den weiteren Verlauf des Interviews kennt, beziehen sich auf folgende Fragen (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a: 153 f.): 100

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

• •





Frage nach der Selbstpräsentation: Als welche Person stellt sich der/die Interviewte dar? Frage nach der Gliederung der Haupterzählung: Was wird als erstes dargestellt? Was kommt danach? Weshalb wird dieses Thema an dieser Stelle dargestellt? Welche Themen werden angesprochen, welche nicht? Frage nach der Art der Darstellung: Warum wird diese Textsorte an dieser Stelle verwendet? Was bedeutet diese Art der Darstellung für den/die Sprecher/-in? Was bedeutet diese Art der Darstellung für den/die Zuhörer/-in? Was bedeutet diese Art der Darstellung für die Selbstpräsentation? Weshalb wird das Thema in dieser Ausführlichkeit/Kürze dargestellt? Welche andere Möglichkeit der Darstellung hätte es gegeben? Frage nach den thematischen Feldern: Was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema und diese Art der Darstellung einfügt?

Die Frage nach den thematischen Feldern geht auf Überlegungen von Aron Gurwitsch (1975) zurück. Jedes Thema, also das, was einen Biographen in einem bestimmten Augenblick beschäftigt und im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht, ist – so Gurwitsch – eingebettet in ein thematisches Feld (vgl. Kap. 3.1.3). Dieses definiert Gurwitsch als »die Gesamtheit der mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, die als sachlich mit dem Thema zusammenhängend erfahren werden und den Hintergrund oder Horizont bilden, von dem sich das Thema als Zentrum abhebt« (Gurwitsch 1975: 4). Feld und Thema bestimmen sich also gegenseitig: »Mit dem Wechsel eines Themas von einem Feld in ein anderes modifiziert sich das Thema, ebenso wie sich mit der Einbettung eines Themas in ein spezifisches Feld dieses Feld modifiziert.« (Rosenthal 2008: 184) Neben den Hypothesen zu den genannten Fragen werden nach jeder Analyseeinheit auch Folgehypothesen gebildet, die sich auf den hypothetischen weiteren Verlauf der Selbstpräsentation (Thema und Feld) beziehen. Auf diese Weise zeigt sich, »a) welche Themen nicht präsentiert werden, obwohl sie kopräsent sind – und zwar unabhängig von den Selbstdeutungen der Autobiographen, und b) wie der Autobiograph seine Erlebnisse systematisch nur in spezifische Felder einbettet und mögliche andere den Erlebnissen inhärente Rahmungen vermeidet« (Fischer-Rosenthal 1996: 175). Ziel ist es, das Hauptpräsentationsinteresse des Biographen mithilfe der thematischen Felder herauszuarbeiten. Es geht also »um die Bildung von Strukturhypothesen zur Generierung des erzählten Lebens im Interview« (Fischer-Rosenthal 1996: 175). Wichtig ist hierbei – mehr noch als in den anderen Auswertungsschritten – die Beachtung des situativen und kommunikati101

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ven Kontexts, in dem die erzählte Lebensgeschichte entstanden ist (vgl. Kap. 3.2.3). Dies ist kein Widerspruch zur Ausblendung des Kontextwissens bei der Interpretation der Daten, denn »grade bei methodischer Ausblendung des Kontextwissens [lassen sich] besondere Strukturen und Bedingungen des Kontexts herausarbeiten, die man bei allzu selbstverständlicher Einbeziehung des Kontexts in die Analyse nur zu leicht übersieht« (Fischer 2006: 314). Es muss bei der Auswertung danach gefragt werden, inwiefern sowohl die Textsorte als auch das Thema der Präsentation dem Interaktionsprozess zwischen Interviewtem und Interviewerin geschuldet ist (vgl. Rosenthal 2008: 185); welcher Rahmen also gesprächslokal hergestellt wird und welche Rolle hierbei der Einfluss gesellschaftlicher Diskurse spielt (vgl. Kap. 5.1).

3.3.3 Feinanalysen Bei der Feinanalyse handelt es sich um einen Auswertungsschritt der in der Tradition der objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik steht. Einzelne Textstellen werden aus dem Interview herausgenommen und ohne Kontextwissen sequentiell analysiert; erst jetzt wird also bei der Hypothesenbildung mit der Transkription gearbeitet. Es können nun Passagen zur Analyse ausgewählt werden, die sich auf Themen oder Fragen beziehen, die in der bisherigen Auswertung noch nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten oder in denen die Erzählung der Lebensgeschichte sehr unklar verlaufen ist. Auch können Textelemente zu wichtigen biographischen Daten hier genauer analysiert werden. Die Sequenzierung erfolgt entlang thematischer (Sinn-)Einheiten, aber auch Pausen im Interview oder Unterbrechungen des Redeflusses können zur Einteilung der Analyseeinheiten genutzt werden. Bei der Hypothesenbildung werden auch hier die bisherigen Interpretationen zurückgestellt und gemäß den Ansprüchen eines abduktiven und sequentiellen Verfahrens vom empirischen Phänomen ausgehend Hypothesen und Folgehypothesen aufgestellt. Ziel ist hierbei – neben der Überprüfung bisheriger Hypothesen und der Klärung offener Fragen bezüglich der vorgenommenen Interpretationen – »die ›Entdeckung‹ bisher unerklärter Mechanismen und Regeln der Fallstruktur« (Fischer-Rosenthal 1996: 186; vgl. auch Rosenthal 2008: 193 f.). Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit nehmen die Feinanalysen eine besondere Bedeutung ein, da in diesem Auswertungsschritt – mehr noch als in der Text- und thematischen Feldanalyse – nach dem Einfluss gesellschaftlicher Diskurse gefragt werden kann. So wurden vor allen Dingen aus der Haupterzählung und dem Nachfrageteil des Interviews Textstellen ausgewählt, in denen (neue) Positionierungen ausgehandelt oder vorgenommen wurden, wie z.B. zu Beginn des Interviews oder in Erzählungen. Im Zentrum

102

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

der Analyse standen dementsprechend weniger Fragen nach dem ›Erleben‹,40 als nach der Präsentation des Biographen und seinen Verortungen bzw. Positionierungen in der Interviewsituation und im gesellschaftlichen Diskurs (vgl. auch Kap. 5).

3.4 Biographie und Normalität Kritik an der Biographieforschung bezieht sich häufig auf die Frage, was eigentlich mithilfe des narrativ-biographischen Interviews und bei der biographischen Fallrekonstruktion produziert wird. Der Einfluss kommunikativer und situativer Faktoren bei der Entstehung von erzählten Lebensgeschichten wurde bereits beschrieben (vgl. Kap. 3.2.3). Hierüber hinaus lohnt sich jedoch ein genauerer Blick auf die gesellschaftlichen Annahmen und Erwartungen, die die Produktion und Rekonstruktion von Biographien beeinflussen. So weist Wolfram Fischer (Fischer 2006: 326) darauf hin, dass moderne westliche Kulturen »[m]akrosoziologisch gesehen [...] Normalbiographien [fördern], bei denen die autobiographischen Darstellungen das Selbst als aktiv Handelnden in den Vordergrund bringen«. Der/die Erzähler/-in habe sich als jemand zu präsentieren, »der individuelle Wahlen und Entscheidungen trifft« (vgl. auch Kap. 3.2). Offenbar orientiert sich also ein/e Erzähler/-in an gesellschaftlichen Erwartungen und Vorgaben, Erzähltraditionen, Deutungsmustern und Bildern. Diese wiederum sind eng mit (kulturellen und sozialen) Normalitätsvorstellungen verbunden, wobei etwas dann als ›normal‹ definiert wird, wenn es »erwartet werden darf (weil es regelmäßig so ›ist‹)« (Dausien/Mecheril 2006: 162). Die Selbst-Beschreibung bzw. Beurteilung einer Biographie als ›erfolgreich‹, ›gelungen‹ oder ›gescheitert‹ folgt »einer als Normalitätskonstruktion präsenten kulturellen Matrix« (Lutz 2010: 122): »Normalitätsannahmen gehen – reflektiert oder nicht – durch wissenschaftliche oder alltagsweltliche Erwartungen bereits in die Datenerhebung ein, etwa in Gestalt von expliziten oder impliziten geschlechts-, alters- oder klassenbezogenen Typisierungen oder als Annahmen, die sich auf ethnische und kulturelle Herkunftskontexte bzw. deren Imagination und angelagerte Ko-Imaginationen durch die Forschenden und die Interviewten beziehen.« (Dausien/Mecheril 2006: 159)

Eine solche Matrix beinhaltet z.B. das Vorweisen eines vorzeigbaren Lebenslaufs, der sich durch das ›erfolgreiche‹ Absolvieren signifikanter Statuspassagen (Schulabschluss, Ausbildung oder Studium, Berufsausübung, Eheschließung, Familiengründung usw.) auszeichnet. Biographen und Biographinnen 40 Häufig werden Feinanalysen auch zur (Ergänzung bzw. Überprüfung der) Rekonstruktion der Fallgeschichte genutzt; also zur Analyse des erlebten Lebens. 103

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

sehen sich mit Normen konfrontiert und müssen sich mit diesen auseinandersetzen. Sie müssen »sich in der affirmativen oder devianten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zumutungen als Subjekte positionieren« (Dausien/Mecheril 2006: 160). Für die Jugendlichen, die ich im Rahmen meiner Arbeit interviewt habe, gilt dies in besonderer Weise: Sie haben meist keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung, sie sind finanziell abhängig von Familie und/oder Staat und haben häufig keine feste Freundin. Hinzu kommt ihre eigene und/oder familiale Migrationserfahrung, die in Deutschland noch immer als von einer ›normalen‹ Biographie abweichend konstruiert wird. Die Aufforderung, mir ihre Familien- und Lebensgeschichte zu erzählen, zwingt sie, sich hiermit auf der Folie von Normalitätskonstruktionen auseinanderzusetzen, was häufig – gerade zu Beginn des Interviews – mit zahlreichen Argumentationen und Positionierungen als ›eigentlich unschuldig‹ oder als ›jemand, der seine kriminelle Zeit schon lange hinter sich hat‹ einhergeht (vgl. Kap. 6-8). Doch nicht nur beim Erzählen von Lebensgeschichten werden gesellschaftliche Normalitätsannahmen (re-)produziert, sondern auch bei deren Auswertung: »Für die Analyse biographischer Texte und die Re-Konstruktion ihrer Individualität wird immer schon ein Vorverständnis über Biographie benötigt, ein Wissen über das Spektrum dessen, was als biographisches Handeln, Erleben und Erzählen in einem bestimmten gesellschaftlich-historischen Kontext und lebensweltlichen Horizont im Allgemeinen möglich und vorstellbar ist. Welcher Art die Normalitätsunterstellungen sind, die in dieses Vorverständnis eingehen, ist nicht nur eine Frage expliziter Annahmen im Forschungsprozess, sondern auch ein vielschichtiges Gewebe von wechselseitigen Erwartungen und Interpretationen, die auf alltagsweltlichen Konstruktionsprozessen beruhen.« (Dausien/Mecheril 2006: 160, Herv. i.O.)

So bemerken beispielsweise auch Wolf-Dietrich Bukow & Susanne Spindler (2006: 24), dass die Rekonstruktion von Biographien von zeitgenössischen Annahmen durchdrungen sei. Kaum hätten Kulturdifferenztheoreme Konjunktur, würden sie auch schon zu »zentralen Interpretamenten«. So würde bspw. ganz selbstverständlich mit ›türkischer Ethnizität‹ argumentiert oder dem Islam patriarchale Männlichkeitsvorstellungen unterstellt, die in einer ›Kultur der Ehre‹ münden (vgl. auch Beck-Gernsheim 2004: 146 ff.). »Man bedient sich eines öffentlichen Diskurses, ohne dessen Zustandekommen und seine Implikationen in Rechnung zu stellen [...].« (Bukow/Spindler 2006: 24) Bettina Dausien und Paul Mecheril fordern daher, die »unauflösliche Konstruktivität zu reflektieren und am konkreten Material zu re-konstruieren« (Dausien/Mecheril 2006: 160). In besonderem Maße gilt dies für Migrationsbiographien (vgl. Dausien/Mecheril 2006; Karakayal 2010: 87 f.; Lutz 2010). 104

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

Vor allem bei der Auswertung der biographischen Daten (vgl. Kap. 3.3.1) erscheint eine Migration in der Familien- oder Lebensgeschichte schnell als biographischer Risikofaktor, der mit Erfolg gemeistert werden kann, aber häufig auch mit Verlusten einhergeht. Bei der Auswertung besteht dementsprechend die Gefahr, sie als nicht erwartbares Lebensereignis zu behandeln. Hierdurch »bleibt Migration potentiell immer ein Sonderposten, eine Unordentlichkeit, die erklärt bzw. auf die Bezug genommen werden muss« (Lutz 2010: 125; vgl. auch Lutz 2007: 59). Sie wird im Gegensatz zu einer ›normalen‹ Biographie konstruiert. Bei der Auswertung der biographischen Daten in der hier vorliegenden Arbeit ist daher eine besondere Sensibilität gefragt, denn es handelt sich nicht nur um (familiäre) Migrationsbiographien, sondern um Biographien, die in einem ganz alltagsweltlichen Verständnis von der ›Normalität‹ abweichen. Es besteht also hier in besonderem Maße die Gefahr gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen zu (re-)produzieren. Da die Frage, warum die Jugendlichen kriminell wurden, nicht im Zentrum dieser Arbeit steht, werde ich bei der biographischen Datenanalyse hypothetische Überlegungen nach biographischen Handlungsmöglichkeiten weitgehend außen vor lassen. Denn hier ist meines Erachtens die Gefahr besonders groß, Hypothesen auf der Basis einer Normalitätsfolie zu entwickeln und die Biographien der Jugendlichen unter dem Aspekt des Scheiterns zu analysieren. Dennoch wird es darum gehen, die Machtkonstellationen in den Blick zu nehmen, in die die Biographien eingebettet sind. Denn die Handlungsfähigkeit der von mir interviewten jungen Männer wird durch spezifische Regelungen (z.B. bzgl. der Staatsangehörigkeit oder der Schulpflicht) und durch verschiedene Differenzlinien wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse und Nationalität begrenzt (vgl. Lutz/Schwalgin 2006: 100 f.). Diese gilt es, bei der Analyse sichtbar zu machen. Darüber hinaus wird es sowohl bei der Text- und thematischen Feldanalyse als auch bei den Feinanalysen um die Reflektion und Rekonstruktion biographischer Normalitätserwartungen in den Präsentationen und Positionierungen der Jugendlichen gehen.41

3.5 Biographie und Diskurs Eine Biographie wird im Rahmen dieser Arbeit als soziales Konstrukt verstanden, »das Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen in sozialen Kontexten hervorbringt, aber dabei immer auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen verweist« (Dausien et al. 2005: 7 f.). Biographien sind darüber hinaus »ein spezifischer Ort und eine 41 Vgl. zum konkreten methodischen Vorgehen Kap. 5.2.5. 105

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

spezifische Praxis der Konstruktion von Identität, und sie rücken besonders die reflexiven Konstruktionsleistungen der empirischen Subjekte in den Blick« (Dausien 2006: 204). Dennoch sind sie nicht allein das Resultat individueller Konstruktionsprozesse, sondern eng mit gesellschaftlichen Diskursen und damit auch mit gesellschaftlichen Normen, Regeln und Erwartungen sowie mit den sozialen Bedingungen ihrer Konstruktion verbunden. Sowohl das Erzählen als auch das Erleben sind von gesellschaftlichen Diskursen beeinflusst. Sie bestimmen die Art und Weise, wie das Erlebte in der Gegenwart präsentiert wird, sowie die »Regeln für die Artikulation biographischer Erlebnisse« und – vermittelt über die subjektiven Definitionen der Interviewsituation – »was, wie, wann und in welchen Kontexten thematisiert werden darf und was nicht« (Rosenthal 2005: 51; vgl. auch Ploder 2009). Darüber hinaus beeinflussen Diskurse aber auch, welche Bedeutung biographischen Erlebnissen zur Zeit des Erlebens zugeschrieben wurde und wie sie dem entsprechend in den Erfahrungsvorrat eingeordnet wurden. Eine erzählte Lebensgeschichte lässt sich dementsprechend beschreiben als ein Zusammenwirken gesellschaftlicher Diskursregeln und den aus ihnen resultierenden Rahmungen in der gegenwärtigen Situation des Interviews, in der Vergangenheit des biographischen Erlebens sowie in Situationen, in denen zu einem anderen Zeitpunkt schon einmal über das Erlebte gesprochen oder nachgedacht wurde (vgl. Rosenthal 2005: 51; Rosenthal 2008: 171 f.; Schäfer/Völter 2005: 171 ff.). Dies bedeutet, dass Biographien nur unter Berücksichtigung dessen, was zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext gesagt (oder nicht gesagt) werden konnte, analysiert werden können. Es wird also weder von einer Homologie zwischen Erfahrung und Erzählung ausgegangen, noch wird eine ontologisch irgendwie existente Vergangenheit angenommen, die jenseits ihrer je gegenwärtigen Repräsentation und unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen existieren könnte (vgl. Kap. 3.1.3). Biographische Fallrekonstruktionen sind dementsprechend nicht als eindeutige Repräsentationen einer Realität zu verstehen, sondern beziehen sich »auf einen Gegenstand, der seinerseits nicht fixiert und ›natürlich gegeben‹ ist, sondern immer nur durch die Perspektive der jeweiligen Beobachtung wahrgenommen und – in diesem Sinn – konstruiert wird« (Dausien 2006: 197; vgl. auch Völter 2006: 271). Für die biographische Fallrekonstruktion bedeutet dies, dass immer auch Kontexte rekonstruiert werden müssen, die für die Produktion der jeweiligen Biographie relevant sind (vgl. Kap. 5.1). Bettina Dausien (2006: 201 ff.) unterscheidet hier zwischen mindestens drei Kontexten, die systematisch in die Analyse mit einbezogen werden sollten: Zunächst einmal müsse »die Biographie des autobiographischen Subjekts« berücksichtigt werden; und zwar insofern als der biographische Text als Resultat eines Konstruktionsprozesses verstanden wird, der u.a. durch die individuelle Erfahrungsgeschichte strukturiert ist, und daher auf diesen Kontext der konkreten Biographie verweist (vgl. 106

BIOGRAPHIEFORSCHUNG UND BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTION

Kap. 3.1.3). Daneben müsse der Interaktionsrahmen beachtet werden (vgl. Kap. 3.2.3). Hierdurch werde »der performative Aspekt biographischer Konstruktionen fokussiert« und gleichzeitig darauf verwiesen, »dass biographische Artikulationen keine Leistungen isolierter Individuen sind, sondern in realen oder imaginierten sozialen Interaktionen lokalisiert sind« (Dausien 2006: 202). Und schließlich müssten auch »[k]ulturelle Muster und soziale Regeln« bei der Analyse mit einbezogen werden. Denn Diskurse markieren Positionen, von denen aus gesprochen werden kann und geben Hinweise darauf, »welche sozialen Vorgaben und informellen Regeln und Formen biographisierender Praxis in der Konstruktion des untersuchten Textes ›aufscheinen‹ und – hypothetisch – wirksam geworden sind« (Dausien 2006: 203; vgl. auch Reh 2001: 45; Anthias 2002: 499). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen der Produktion von Biographien aus den Biographien heraus »mit Hilfe biographischer Einzelfallanalysen strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können« (Dausien et al. 2005: 7 f.). Jede Biographieanalyse müsste dem entsprechend – in der hier praktizierten Form – letztlich auch als Diskursanalyse zu verstehen sein (vgl. Kap. 9.3; Rosenthal 2008: 172). Doch um Biographie- und Diskursanalyse ganz konkret miteinander zu verknüpfen, bedarf es zunächst einiger grundlegender theoretischer Überlegungen, wie der Zusammenhang zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie überhaupt gedacht werden kann.

107

4. Diskurs und Subjekt 1

In der Biographieforschung wurde lange Zeit der Einfluss von Diskursen auf Biographien nicht berücksichtigt. Gleichzeitig wird in Diskursanalysen meist nur die Ordnungs- und Strukturierungsfunktion von Diskursen untersucht und ihre subjektkonstituierende Wirkung vernachlässigt (vgl. Tuider 2007). So konstatiert z.B. Korobov (2001: Abs. 1): »[...] there are far too few explicit analytic methods that effectively reconcile the theoretical tension that we both constitute and are constituted by the social and cultural discourses in / by / through which we speak.« Erst in den letzten Jahren hat es erste methodologische Überlegungen hinsichtlich einer Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung gegeben (Schäfer/Völter 2005; Tuider 2007) und es sind einige empirische Arbeiten entstanden, die einen diskursiven Aspekt bzw. auch eigene Diskursanalysen in die Analyse biographischer Interviews einbeziehen (z. B. Gutiérrez Rodríguez 1999; Freitag 2005; Çelik 2006; Karl 2006).2 Weitgehenden Konsens scheint es in der Biographieforschung – das zeigte bereits das vorhergehende Kapitel – inzwischen dahingehend zu geben, »dass ein Autobiograph sich nicht allein auf der Basis seiner subjektiven Gewordenheit bzw. aufgrund von sozialen Zwängen so und so verhält, einschätzt, selbstverständigt oder darstellt, sondern dass er dabei auch Diskursen unterliegt« (Schäfer/Völter 2005: 178). Es wird also eine »Verwobenheit von Biographie, Diskurs und Subjektivität« (Dausien et al. 2005: 12) angenommen und davon ausgegangen, dass Diskurse sowohl die erlebte als auch die erzählte Lebensgeschichte beeinflussen (vgl. Kap. 3.5): »Gesellschaftliche, institutionelle und gruppenspezifische Regeln bzw. die Regeln unterschiedlicher Diskurse geben vor, was, wie, wann und in welchen Kontexten thematisiert werden darf und was nicht.« (Rosenthal 2008: 171 f., Herv. i.O.; vgl. auch Ploder 2009) So wird z.B. davon ausgegangen, dass selbst das spezifische Vokabular, mit dessen Hilfe Lebensgeschichten erzählt werden, nicht nur ein 1 2

Teile dieses Kapitels wurden bereits veröffentlicht in Spies (2009a). Auch in früheren biographischen Studien wurden häufig bereits Überlegungen zu dem, was nun ›Diskurs‹ genannt wird, angestellt, ohne jedoch diese mit dem Namen ›Diskurs‹ zu labeln. Vor allem im Bereich der Migrationsforschung wurde hier vom ›Kontext‹ gesprochen (vgl. z.B. Breckner 2005). 109

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

rein persönliches ist, das sich auf der Basis von Erfahrungen entwickelt hat, sondern dass auch dieses abhängig von gesellschaftlichen Diskursen ist (vgl. Völter 2006: 276). Es scheint also unbestritten, dass Diskurse eine biographische Wirkmächtigkeit besitzen. Doch ungeklärt bleibt damit die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Diskurs, Subjekt und biographischen Erzählungen besteht. Ist das Subjekt dem Diskurs vorgängig oder sind alle Subjektpositionen, die eingenommen werden können, hervorgegangen aus Diskursen? Sind Subjekte also nur als Effekte von Diskursen zu verstehen? Oder gibt es eine Möglichkeit der Handlungsmacht, die sich dann auch in biographischen Erzählungen widerspiegelt?3 In der Biographieforschung sind bezüglich dieser Fragen Foucaults Arbeiten – und hier vor allem seine genealogischen Schriften – von großem Einfluss (vgl. Kap. 4.3.2). Diese können zu einem Verständnis des Verhältnisses zwischen Diskurs und Subjekt beitragen, hinterlassen jedoch – auf methodischer, aber auch auf theoretischer Ebene – fast ebenso viele offene Fragen (vgl. auch Nonhoff 2006: 150). Vor allem wenn es um die Frage von Handlungsmacht bzw. von subversivem Potential in biographischen Lebensgeschichten geht, findet sich bei Foucault nur wenig Weiterführendes. Bei empirischen Arbeiten wird hingegen immer wieder darauf hingewiesen, dass biographische Erzählungen zwar auf Diskurse verweisen, jedoch auch über diese hinausgehen und sie unterlaufen bzw. dass Diskurse im Interview strategisch verwendet und umgedeutet werden (vgl. z.B. Karl 2006; Spies 2009b; Tuider 2007). Vonseiten der Biographieforschung wird daher bereits eine – z.B. empirisch unterstütze – Weiterentwicklung der Foucaultschen Diskurstheorie gefordert (vgl. Schäfer/Völter 2005: 181), deren Ziel darin besteht, das, was in empirischen Arbeiten beschrieben wird, auch theoretisch fassen zu können. Konkret geht es also um die Frage, wie Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht zusammen gedacht werden können. Mit dieser Frage möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen. Hierzu werde ich das Konzept der Artikulation vorstellen, das Stuart Hall in seinen Arbeiten verwendet, um den Zusammenhang zwischen Diskurs und Sub3

Hier spielt auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken eine wichtige Rolle (vgl. Reckwitz 2008): Sind Diskurse als primäre Sinngeneratoren zu verstehen? Sind also Praktiken immer bereits »diskursiv imprägniert« (Reckwitz 2008: 193)? Oder »kommen Diskurse [...] immer schon zu spät, da sie an ein Reich des Impliziten anknüpfen« (Reckwitz 2008: 191)? Handelt es sich also bei Praktiken um ein Wissen, das den Diskursen vorgängig ist, da es nicht verbalisiert werden muss und in den Körpern verankert ist? Oder müssen Diskurse und Praktiken weniger als zwei unabhängige Gegenstände und vielmehr »als zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen« begriffen werden (Reckwitz 2008: 202)?

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DISKURS UND SUBJEKT

jekt zu fassen. Stuart Hall hat sich vor allem ab Beginn der 1990er Jahre mit Fragen der (kulturellen) Identität4 auseinandergesetzt (vgl. Kap. 2.4.1) und hierbei ein Subjektverständnis entwickelt, das es ermöglicht, Subjekte nicht nur als Effekte von Diskursen zu verstehen, aber dennoch Diskurse in der Subjektkonzeption zu berücksichtigen. Er wurde im deutschsprachigen Raum bisher sowohl in der Biographie- als auch in der Diskursforschung wenig rezipiert, doch sein Konzept der Artikulation könnte möglicherweise eine Brücke von der Diskurs- zur Biographieforschung schlagen und auch für empirische Arbeiten anschlussfähig gemacht werden; auch wenn Hall – ebenso wie Foucault – selbst nicht empirisch gearbeitet hat.5 Ich möchte mich also in diesem Kapitel zunächst theoretisch mit Halls Subjektverständnis auseinandersetzen, das – beeinflusst durch die Diskurstheorien Foucaults sowie Laclaus und Mouffes – eng verknüpft mit Diskursen ist. Im Anschluss daran (Kap. 5.1) soll es dann aus methodisch-methodologischer Perspektive darum gehen, wie Halls theoretischer Ansatz für die Biographieforschung fruchtbar gemacht werden kann. Beginnen möchte ich dieses Kapitel mit einer Auseinandersetzung mit dem Subjektbegriff in der Biographieforschung (Kap. 4.1), um dann zu Halls Überlegungen zur Dezentrierung des Subjekts überzuleiten, die in gewisser Weise den Ausgangspunkt für seine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Diskurs und Subjekt bilden (Kap. 4.2). Hierauf Bezug nehmend werde ich auf den diskurstheoretischen Kontext eingehen (Kap. 4.3), der Halls Überlegungen beeinflusst hat und die Sprachtheorie de Saussures (Kap. 4.3.1), die Diskurstheorie Foucaults (Kap. 4.3.2) sowie die Diskurstheorie und Subjektkonzeption bei Laclau und Mouffe (Kap. 4.3.3) vorstellen. Anschließend werde ich mich mit Halls Begriff der Artikulation auseinandersetzen und dessen Anschlussfähigkeit für eine konzeptionelle Verknüpfung von Biographie- und Diskursforschung herausarbeiten (Kap. 4.4). In dem darauf folgenden kurzen Resümee (Kap. 4.5) wird es dann um die Frage gehen, welche Bedeutung Halls Überlegungen für die hier vorliegende Arbeit haben können.

4

5

Für Hall gibt es kein Verständnis von Identität außerhalb von Kultur und Repräsentation, was er zum Teil durch die Bezeichnung ›kulturelle Identität‹ verdeutlicht (vgl. Procter 2004: 125). Er unterscheidet sich hierin deutlich von einem Kultur- und Identitätsbegriff wie er in der deutschsprachigen Forschung üblich ist. Hall bezieht sich in seinen Arbeiten – die im Kontext der Cultural Studies entstanden sind – meist auf Bücher, Filme und Ausstellungen. Darüber hinaus spielen seine eigenen biographischen Erfahrungen – und in diesem Kontext auch die Schwarzenbewegung innerhalb Großbritanniens – eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner theoretischen Konzepte (vgl. Kap. 4.4.1). 111

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

4.1 Individuum, Subjekt und Biographie Ein zentrales Problem bei der Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung stellt das jeweilige Subjektverständnis dar. Denn in der Diskursforschung wird von einem nicht-identischen, dezentrierten oder fragmentierten Subjekt ausgegangen (vgl. Kap. 4.2), während der Biographieforschung zum Teil vorgeworfen wird, sie produziere mithilfe des narrativ-biographischen Interviews »eine (potentiell) fixierbare Identität, eine vermeintlich ›tiefe Wahrheit des Selbst‹« (Schäfer/Völter 2005: 170). Thomas Schäfer und Bettina Völter haben sich in ihrem Aufsatz SubjektPositionen. Michel Foucault und die Biographieforschung (2005) mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Hierin kommen sie zu dem Schluss, dass die Behauptung einer identitätsfixierenden Wirkung biographischer Erzählungen so nicht zu halten sei, da sich das Interview in einem Prozess vollziehe und in der Regel nicht als Fixierung erlebt werde. Darüber hinaus führten gerade die narrativen Nachfragen dazu, dass Interviewte zuvor Gesagtes relativieren, differenzierter ausführen und zum Teil auch konterkarieren. Eine erzählte Lebensgeschichte sei daher als »biographische Arbeit« zu verstehen, »die gerade nicht zu Identitätsfixierungen führt, sondern im besten Fall sogar zu mehr Selbstreflexivität und Perspektivenwandel« (Schäfer/Völter 2005: 170). Als problematisch führen Schäfer & Völter jedoch an, dass z.B. Gabriele Rosenthal von einem »mit sich selbst identischen Subjekt« (Rosenthal 1995: 133) ausgeht. Rosenthal verwerfe zwar die Vorstellung eines inneren Kerns des Subjekts bzw. eines Subjekts, das im Verlauf des Lebens der/die Gleiche bleibt, halte aber an der Idee der biographischen bzw. generativen Strukturen fest (vgl. Kap. 3.3). Diese verstehe sie zwar »als solche, die sich im Prozess herausbilden und immer wieder (re-)produzieren oder transformieren«; dennoch zeige sich hier eine Tendenz, das Subjekt als »übergreifende Einheit mit einer bestimmten (strukturalen) Identitäts- und Handlungslogik zu konzipieren« (Schäfer/Völter 2005: 175).6 Auch Wolfram Fischer spricht von der Existenz generativer Strukturen, die verstanden werden können »as principles that organise emergent events in the individual’s life in order to enable him or her to achieve a consistent orientation« (Fischer-Rosenthal 2000a: 119; vgl. Schäfer/Völter 2005: 174 ff.). Bis zur Adoleszenz und dem frühen Erwachsenenalter würde sich eine 6

Armin Nassehi (2002) fordert dementsprechend, dass die Suche nach einer authentischen biographischen Struktur in der Biographieforschung unterbunden werden müsse und spricht sich für eine Sparsamkeitsregel in der qualitativen Forschung aus: »Sie verbürgt nicht, an eine wirkliche Bedeutung des Textes heranzukommen, sondern begnügt sich damit, die Selbstkonstitution von Inhalten, von Bedeutung, von Sinn nachzuvollziehen und nach den sozialen Erwartungs- und Darstellungsformen zu fragen [...].« (Herv. i.O.; vgl. Tuider 2007)

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Gestalt und operationale biographische Struktur aufbauen, die im weiteren Verlauf des Lebens nicht wesentlich variiere. Als konsistente biographische Strukturierung setze sie sich nach dem frühen Erwachsenenalter ähnlich fort und bestimme Erfahrungs- und Handlungsstile; mache auf Dauer unser Selbst aus (vgl. Fischer 2006: 329; Kap. 3.1.1). Dies bedeutet für Wolfram Fischer jedoch nicht, dass das Selbst von Innen kommt. Stattdessen geht er davon aus, dass das Selbst in Interaktionen entsteht, »in denen es qua Positionierungen konstruiert wird und deren Anmutungen wir in der Beobachtung der anderen und von uns selbst in uns aufnehmen und im Laufe der Zeit daraus und in neuen Interaktionen das machen, wer wir selbst sind« (Fischer 2006: 316). Bereits Mitte der 1990er Jahre konstatierte er: »A straightforward ›identity‹ in the sense of being able to identify one’s self as ›This-is-who-I-am-and-this-is-who-I-am-not‹ are hopelessly inadequate. Identity is decentered [...]. What a person refers to as his or her ›identity‹ invariably belongs to myriad selves lost in the past as well as to the ›strange other‹.« (Fischer-Rosenthal 1995: 253)

In diesem Zusammenhang forderte Wolfram Fischer auch von ›Biographie‹ statt von ›Identität‹ zu sprechen, da »der Identitätsbegriff als normativer, sinnund einheitsstiftender Begriff« (Fischer-Rosenthal 1999: 155) seine Funktion nicht halten könne und wissenschaftlich angemessenere und komplexere Konzepte benötigt würden. Das Konzept der Biographie bringe den Vorteil, dass es gleichzeitig gesellschaftlich gegebene und präskriptive, selbst-erlebte und eigen-leibliche Beschreibungen ex-post und orientierend zusammenfassen und dabei Zeit verarbeiten sowie Temporalstrukturen produzieren und kommunizieren könne (vgl. Fischer-Rosenthal 1999: 158 ff.). Der Begriff der ›Biographie‹ verweise auf einen interpretativen, offenen Prozess des Werdens, wohingegen ›Identität‹ einen fixierten Status des Seins bzw. Habens fokussiere (vgl. Fischer-Rosenthal 1995: 258). Ein solcher Ansatz ist – so denke ich – fruchtbar für die Verknüpfung mit diskurstheoretischen Überlegungen zur Subjektkonzeption, wie ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch ausführen werde. Ungeklärt bleibt damit jedoch die Frage, in welchem Verhältnis Individuum, Subjekt und Biographie eigentlich stehen. Denn die Missverständnisse und die scheinbare Unvereinbarkeit unterschiedlicher Positionen und Forschungstraditionen resultieren m.E. zumindest zum Teil auch aus einer ungenauen Verwendung dieser Begriffe.

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Im Feld diskurstheoretischer Ansätze7 ist der Begriff des ›Individuums‹ oder auch der ›Person‹ zunächst einmal nicht gleichzusetzen mit dem Begriff des ›Subjekts‹. Hierauf hat vor allem Judith Butler sehr dezidiert hingewiesen (vgl. auch Villa 2005: 48; Villa 2006: 228): »Die Genealogie des Subjekts als kritischer Kategorie verweist [...] darauf, dass das Subjekt nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in der Sprache eingeführt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit. Kein Individuum wird Subjekt, ohne zuvor unterworfen/subjektiviert zu werden [...].« (Butler 2001: 15 f.)

Stuart Hall verwendet in seinen Arbeiten die Begriffe Individuum und Subjekt hingegen durchaus synonym, unterscheidet jedoch zwischen Individuum und Subjektpositionen. Das Verhältnis zwischen Individuum und Subjektposition wiederum definiert er sehr ähnlich wie Judith Butler das Verhältnis zwischen Individuum und Subjekt:8 Subjektpositionen (bei Hall) bzw. der Ort des Subjekts (bei Butler) müssen – hierauf werde ich im Folgenden noch ausführlicher eingehen – von Individuen eingenommen werden, um sprechen zu können. Doch Individuen sind keine Subjekte bzw. gehen nicht in den Subjektpositionen auf, sondern konstruieren sich im Rahmen noch näher zu definierender Konstitutionsprozesse eine Identität oder – um in der Terminologie Wolfram Fischers zu bleiben – eine Biographie. Diese Identität oder Biographie zeichnet sich durch ein beständiges Werden aus; sie ist im Fluss, wobei dieser Fluss keinesfalls als beliebig zu verstehen ist: »denn auch wenn er situativ konstruiert ist, so wird er konstituiert von Strukturen, die die jeweilige biographische und situative Interaktion übersteigen« (Villa 2005: 51). Biographieforschung und Diskursforschung scheinen also in ihrem jeweiligen Verständnis von Identität oder Biographie durchaus anschlussfähig zu sein. Gleichzeitig lässt sich jedoch durch die Diskursforschung die Perspektive der Biographieforschung erweitern (vgl. Kap. 3.5). Denn eine Biographie wird eben nicht nur durch die individuelle Erfahrungsgeschichte und durch si-

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Ebenso wenig wie von ›der‹ biographischen Methode gesprochen werden kann, lässt sich von ›dem‹ diskurstheoretischen oder -analytischen Ansatz sprechen (vgl. Keller et al. 2001). Ich rechne hier z.B. auch die Arbeiten Stuart Halls aus dem Bereich der Cultural Studies den diskurstheoretischen Ansätzen zu. Es wäre spannend, die Parallelen in den Arbeiten Butlers und Halls ausführlich herauszuarbeiten, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einige wichtige Hinweise finden sich aber in Arbeiten von Paula Villa (2005; 2006).

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tuative und kommunikative Bedingungen strukturiert, sondern auch durch Diskurse, die quer zu den übrigen Konstitutionsprozessen liegen. So bleiben am Ende lediglich die so genannten generativen oder biographischen Strukturen, die mit einer diskurstheoretischen Perspektive schwer vereinbar scheinen; zumindest dann, wenn man der Biographieforschung vorwirft, dass sie einheitsstiftende Sinnlogiken unterstelle und von einem »semantische[n] Netz logischer Beziehungen« ausgehe, »in dem sich alle Handlungen, Gedanken oder Gefühle des/r BiographIn ›verfangen‹« (Schäfer/ Völter 2005: 178).9 Schäfer & Völter schlagen daher eine Prämisse für die Biographieforschung vor. Sie plädieren dafür, zunächst einmal davon auszugehen, »dass es bei den BiographInnen eine – je empirisch zu rekonstruierende – Vielfalt von subjektiven Handlungs- und Deutungsstrukturen bzw. von lebensgeschichtlichen oder biographischen Elementen und Diskursen geben kann, die punktuell ineinander fließen, strukturell, systematisch und regelhaft verbunden sein [können], die aber auch nebeneinander unverbunden existieren können« (Schäfer/Völter 2005: 177, Herv. i.O.).

Auf diese Weise würden identitätslogische Zuschreibungen durch die Forschung vermieden und es ließe sich tatsächlich eine diskurstheoretische Perspektive in die Biographieforschung integrieren. Wie diese konkret aussehen kann und vor allem wie das Verhältnis zwischen Identität bzw. Biographie, Subjekt und Diskurs gedacht werden kann, soll nun im Folgenden diskutiert werden.

4.2 Dezentrierung des Subjekts Ausgangspunkt von Halls Überlegungen zur (kulturellen) Identität ist die Dekonstruktion des souveränen Subjekts der Moderne. Dabei geht es um die Infragestellung der Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit eines auf der Philosophie René Descartes beruhenden Subjektmodells, das sich mit der Aufklärung durchgesetzt hatte (vgl. Dietrich 2000: 11; Spies 2004; Supik 2005). Dieses ›Cartesianische Subjekt‹ beschreibt – von Descartes Grundsatz Cogito, 9

So beschreibt bspw. Monika Wohlrab-Sahr (2006: 88 f.) Identität als »Organisation von Erfahrung«, durch die eine Struktur hervorgebracht werde, und die »die Einheit der Person« repräsentiere. Durch Veränderungsprozesse und Instabilitäten im Verlauf gesellschaftlichen Wandels könne es bisweilen zu Strukturwandel kommen. Doch »auch in Zeiten massiver äußerer Veränderungen [greifen] einmal aufgebaute Formen der Strukturierung«, so dass »ab einem bestimmten Punkt der Stabilisierung [...] eine unhintergehbare biographische ›Realität‹« entstehe. 115

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ergo sum ausgehend – den Menschen als vollkommen zentriertes und vereinheitlichtes Individuum, das mit den Vermögen der Vernunft, des Bewusstseins und der Handlungsfähigkeit ausgestattet ist (vgl. Hall 1994b: 181, 189). Es wird davon ausgegangen, dass das Subjekt der Aufklärung, wie Hall es nennt, aus einem inneren Kern besteht, der mit der Geburt des Subjekts entsteht und sich mit ihm entfaltet, aber im wesentlichen während der ganzen Existenz des Individuums derselbe bleibt. Die Identität einer Person ist dieses essentielle Zentrum des Ichs (vgl. Hall 1994b: 181). Dabei wird von einem ›wahren Ich‹ ausgegangen, einem »wirklichen Ich, das in uns vorhanden und in den Schalen all der zahlreichen falschen Ichs verborgen ist, die wir dem Rest der Welt präsentieren« (Hall 1994a: 67; vgl. auch Grossberg 2002). Vom ›Subjekt der Aufklärung‹ unterscheidet Hall das soziologische Subjekt, das eine Art Dezentrierung des Cartesianischen Subjekts darstellt. Das ›soziologische Subjekt‹ beruht auf der Wahrnehmung, dass der innere Kern des Subjekts nicht autonom ist und sich selbst genügt, sondern im Verhältnis zu ›bedeutenden Anderen‹ geformt wird (vgl. Hall 1994b: 182). Diese Sicht, die u.a. von Georg Herbert Mead und ganz allgemein im Symbolischen Interaktionismus seit den 1930er Jahren entwickelt wurde, ist zur klassischen soziologischen Konzeption von Identität geworden. Sie geht davon aus, dass Identität in der Interaktion zwischen einem Ich und der Gesellschaft gebildet wird, wobei das Subjekt – auch nach dieser Vorstellung noch – einen inneren Kern hat, der ›das wirkliche Ich‹ ist. Allerdings steht dieses ›Ich‹ in einem kontinuierlichen Dialog mit den kulturellen Welten ›außerhalb‹ und wird dadurch gebildet und modifiziert. Die Kluft zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ wird so überbrückt, das Subjekt mit der Struktur verklammert (vgl. Hall 1994b: 182, 191 f.). Die endgültige Dezentrierung des Cartesianischen Subjekts erfolgte – nach Hall – jedoch erst in der Spätmoderne:10 »Gegenüber dem Versprechen der Modernität von der großen Zukunft: ›Ich bin, ich bin der westliche Mensch, also weiß ich alles. Alles beginnt mit mir‹, sagt der Modernismus: ›Immer langsam. Was ist mit der Vergangenheit? Was ist mit den Sprachen, die du sprichst? Was ist mit dem unbewussten Leben, über das du nichts weißt? Was ist mit all den anderen Dingen, die dich sprechen?‹« (Hall 1999: 86)11

10 Hall konzentriert sich hierbei auf die »Dezentrierungen im intellektuellen Leben und im westlichen Denken«, wobei er einräumt, dass »historisch gesehen vieles die stabile Bedeutung von Identität […] verschoben oder dezentriert hat« (Hall 1999: 84). 11 ›Modernität‹ steht in der hier zitierten deutschen Übersetzung für ›modernity‹, ›Modernismus‹ für ›modernism‹. Üblicherweise wird ›modernity‹ im Deutschen jedoch mit ›Moderne‹ übersetzt und ›modernism‹ mit ›Spätmoderne‹ (vgl. Supik 2005: 18). 116

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Hall spielt mit diesen Fragen auf Marx, Freud und de Saussure an, deren Beiträge zur Gesellschaftstheorie und den Wissenschaften vom Menschen er als Dezentrierungen des modernen Subjekts bezeichnet. Der erste Anstoß zur Dezentrierung kam – so Hall – durch die Wiederentdeckung von Karl Marx’ Werk in den 1960er Jahren. Besonders das Argument, dass Menschen zwar ›Geschichte machen‹, aber unter Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben, erschütterte die gesellschaftliche Praxis. Denn dies wurde nun so interpretiert, dass individuelles Handeln unmöglich sei, da Individuen auf keine wirkliche Weise ›Autoren‹ der Geschichte sein könnten (vgl. Hall 1994a: 67 f.; Hall 1994b: 193 f.). Die zweite große Dezentrierung folgte Hall zufolge mit Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten: »Wenn uns Marx von der Vergangenheit verdrängt hat, so hat uns Freud von unten her verdrängt.« (Hall 1999: 85) Freuds Theorie, dass Identitäten, Sexualität und die Strukturen des Begehrens auf der Grundlage der psychischen und symbolischen Prozesse des Unbewussten gebildet werden, die nach einer anderen ›Logik‹ als der der Vernunft funktionieren, wirkte vernichtend auf das Konzept des wissenden und vernünftigen Subjekts mit seiner gesicherten und vereinheitlichten Identität (vgl. Hall 1994b: 194). Die dritte Dezentrierung geht auf den Linguisten Ferdinand de Saussure zurück. Er hat – so Hall – mit unserem common-sense-Verständnis gebrochen, nach dem Sprache ›aus uns heraus‹ kommt, und das sprechende bzw. schreibende Subjekt Autor/-in des Gesagten ist. Nach de Saussure können wir Bedeutungen nur produzieren, indem wir uns nach den Regeln der Sprache und den Bedeutungen unserer Kultur positionieren. Eine Sprache zu sprechen, beinhaltet demnach nicht nur, die eigenen Gedanken auszudrücken, sondern auch, »den weiten Spielraum an Bedeutungen zu aktivieren, die bereits in unseren sprachlichen und kulturellen Systemen eingebettet sind« (Hall 1994b: 196). Der bzw. die Autor/-in entscheidet zwar, was er/sie sagen möchte, aber er/sie kann nicht entscheiden, ob er/sie die Regeln der Sprache benutzen möchte oder nicht (Hall 1997d: 30 ff.; vgl. auch Kap. 3.2.1).12 Im Gegensatz zu anderen spricht Hall aufgrund dieser Dezentrierungen jedoch nicht vom ›Tod des Subjekts‹: »[D]er alte Diskurs des Subjekts [wurde] abgeschafft, in einen riesigen Container gesteckt und mit Beton übergossen, der eine Zerfallszeit von einer Million Jahren hat. Nie wieder wollen wir einen Blick an ihn verschwenden, und dann plötzlich, 12 Hall benennt darüber hinaus meist eine vierte und fünfte Dezentrierung, die er Foucault (vgl. Hall 1994b: 197 f.) bzw. der »Relativierung der westlichen Narration« (Hall 1994a: 69) und dem Einfluss des Feminismus (vgl. Hall 1994b: 198 f.) zuschreibt. Ähnliche Dezentrierungen beschreibt z.B. auch Floya Anthias (2002: 495). 117

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Teufel auch, innerhalb von fünf Minuten reden wir über Subjektivität und das Subjekt des Diskurses, und der Begriff ist mit Triumphgeheul zurückgekehrt.« (Hall 1994a: 72)

Es sei durch die diskursive Perspektive geradezu zwingend »die subjektive Dimension in einer nicht-holistischen, nicht-einheitlichen Weise wieder einzuführen« (Hall 2000b: 70). Hall macht sich daher an die Arbeit, das Subjekt neu zu konzeptualisieren. Eine erste Definition dessen, was nach den Dezentrierungen des Subjekts unter ›Identität‹ verstanden werden kann, gibt Hall in Who needs Identity? (1996). Er beschreibt hier Identität als einen Treffpunkt (meeting point) oder eine Nahtstelle (point of suture) zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen und Subjektivierungsprozessen auf der anderen Seite. Es handle sich um temporäre Verbindungen mit Subjektpositionen, die aus diskursiven Praktiken hervorgehen (Hall 1996: 5 f.; vgl. Supik 2005: 45): »Identities are, as it were, the positions which the subject is obliged to take up while always ›knowing‹ […] that they are representations, that representation is always constructed across a ›lack‹, across a division, from the place of the Other, and thus can never be adequate – identical – to the subject processes which are invested in them.« (Hall 1996: 6)13

Dabei erfordere das Vernähen eines Subjekts in eine Subjektposition nicht nur, dass das Subjekt hineingerufen werde, sondern dass das Subjekt auch in die Subjektposition investiere. Das Vernähen müsse als Artikulation verstanden werden und nicht als einseitiger Prozess (Hall 1996: 6). Es lässt sich hier bereits erkennen, dass Halls Vorstellung von ›Identität‹ aus einem diskurstheoretischen Kontext heraus entstanden ist. Foucaults Schriften haben ihn stark beeinflusst, aber auch der Einfluss von Laclaus und Mouffes Diskurstheorie ist hier ersichtlich. Ich möchte daher im Folgenden zunächst näher auf Foucaults Diskurstheorie sowie die Subjektvorstellungen von Laclau und Mouffe eingehen; zumindest insoweit sich Hall mit ihnen in der Konzeptualisierung seines Subjektbegriffes auseinandergesetzt hat. Hierzu werde ich einleitend auch kurz auf de Saussures Sprachmodell eingehen, da dieses – sowohl für Foucaults als auch für Laclaus und Mouffes Diskurstheorien – eine wichtige Grundlage darstellt.

13 Bereits in einer früheren Diskussion mit Homi K. Bhabha und Jacqueline Rose sprach Hall von Identitäten als »the forms in which we are obliged to act, while always knowing that they are representations which can never be adequate to the subject processes that are temporarily invested in them« (Hall 1995a: 65). 118

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4.3 Diskurstheoretischer Kontext 4.3.1 De Saussure Im Anschluss an die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures entwickelte sich seit Mitte der 1950er Jahre in Frankreich ein Ensemble von Theorien und Forschungen, das als Strukturalismus bezeichnet wird. Vor allem de Saussures Vorlesungsmitschriften von 1907 bis 1911, die unter dem Titel »Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaften« erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden,14 avancierten in den 1960er Jahren zum ›Gründungstext‹ für ein neues differenztheoretisches Denken, das in verallgemeinerter Form in unterschiedlichen Disziplinen aufgegriffen wurde. Für die sich im bzw. im Anschluss an den (Post-)Strukturalismus entwickelnden Diskurstheorien lassen sich aus de Saussures Sprachmodell insgesamt drei wichtige Grundprinzipien ableiten, die – auch für Hall – von zentraler Bedeutung sind (vgl. Stäheli 2000: 17 ff.): Erstens: Sprache wird als Differenzsystem verstanden. Die einzelnen Elemente erhalten erst durch ihre Stellung im Beziehungsgeflecht ihre Bedeutung. Zweitens: Zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat kann keine notwendige Beziehung hergestellt werden; die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat ist grundsätzlich arbiträr.15 Drittens: Es wird strikt zwischen Sprache als System (langue) und individueller Sprachverwendung (parole) unterschieden, wobei das eigentliche Interesse den abstrakten Regelstrukturen der langue gilt. Die einzelnen Sprechakte der parole werden lediglich insofern analysiert, als man hier hofft, die Regeln der langue ableiten zu können. De Saussure unterscheidet zunächst einmal zwischen Sprache (langue) und Sprechen (parole), also der Sprache als System und dem Sprechen als aktiver Akt: »Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert […]. Das Sprechen ist im Gegensatz dazu ein individueller Akt des Willens und der Intelligenz […].« (Saussure 2001: 16) Dies hat zur Konsequenz, dass bei der »Erforschung der menschlichen Rede« unterschieden werden muss zwischen der Erforschung der Sprache, »die ihrer Wesenheit nach sozial und unabhängig vom Individuum ist«, und 14 Auf Deutsch erschienen die Vorlesungsmitschriften in der ersten Auflage 1931, wobei erst die zweite Auflage von 1967 die intensive Saussure-Rezeption im deutschsprachigen Raum einleitete. 15 In den Gesellschaftswissenschaften lässt sich diese Position unter dem Etikett des Konstruktivismus wieder finden, bei dem ebenfalls davon ausgegangen wird, dass soziale Konstruktionen nicht durch eine gegebene ›objektive‹ Wirklichkeit, wie z.B. das biologische Geschlecht, vorgegeben sind (vgl. Stäheli 2000: 19). 119

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der Erforschung des Sprechens, dem »individuellen Teil der menschlichen Rede« (Saussure 2001: 22; vgl. Fietz 1998: 21). Sprache ist also – nach de Saussure – dem Sprechen vorgängig: »[Sprache] ist der soziale Teil der menschlichen Rede und ist unabhängig vom Einzelnen, welcher für sich sie weder schaffen noch umgestalten kann; sie besteht nur kraft einem Kontrakt zwischen den Gliedern der Sprachgemeinschaft.« (Saussure 2001: 17) Sprache existiert nur in der Masse. Die einzelnen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft benutzen zwar die Sprache, sie können sie aber nicht nach ihrem Belieben verändern. Das heißt jedoch nicht, dass Sprache unveränderlich sei, doch können Veränderungen nicht auf die Intentionen von einzelnen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zurückgeführt werden. Sprache entsteht dadurch, dass alle Individuen einer Sprachgemeinschaft (annähernd) dieselben Zeichen reproduzieren, die an dieselben Vorstellungen geknüpft sind. Sprache ist also – so de Saussure – ein ›System von Zeichen‹. Zeichen wiederum bestehen aus einem Signifikat (dem Bedeuteten) und einem Signifikanten (dem Bedeutenden). De Saussures These beruht nun auf der Annahme, dass kein notwendiger Zusammenhang zwischen Signifikat und Signifikant besteht. Es handele sich vielmehr um eine beliebige Beziehung. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft einen Signifikanten beliebig interpretieren kann. Denn es gelten gesellschaftliche Konventionen, die den Zeichengebrauch regulieren (vgl. Stäheli 2000: 17 f.). Nach de Saussure ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens durch die Differenzbeziehung zu den anderen Zeichen im System (vgl. Barker/Galasiski 2001: 4; Keller 2004: 15 f.; Hall 1994d: 140). Er vergleicht dies mit einem Schachspiel, bei dem es nicht auf die besondere Beschaffenheit der einzelnen Figur ankomme (z.B. Holz oder Elfenbein), sondern nur auf ihre Position innerhalb des Systems: »Der Wert der einzelnen Figur hängt von ihrer jeweiligen Stellung auf dem Schachbrett ab, ebenso wie in der Sprache jedes Glied seinen Wert durch sein Stellungsverhältnis zu anderen Gliedern hat.« (Saussure 1967; zit. bei Stäheli 2000: 18) Ein Schachspieler kann unterschiedliche Spielzüge kombinieren und dadurch seinen Gegner besiegen. Beide müssen sich jedoch an die Spielregeln halten, da sie diese nicht verändern oder neu interpretieren können. Ebenso kann ein Sprecher die Sprache benutzen, indem er unterschiedliche Zeichen (mehr oder weniger) frei kombiniert. Die Regeln, nach denen bestimmte Kombinationen im Differenzsystem Sprache möglich und andere unmöglich sind, kann er jedoch nicht verändern (vgl. Stäheli 2000: 18).

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4.3.2 Foucault Subjekte als Effekte von Diskursen Im Unterschied zu Ferdinand de Saussure gilt Michel Foucaults Interesse nicht der Sprache, sondern den Diskursen. Foucault geht davon aus, dass – so wie die langue der parole zugrunde liegt – jede Zeit ihr spezifisches Wissen habe, Strukturen des Erkennens, die beeinflussen, was zu einer bestimmten Zeit erforscht und sprachlich fixiert werden kann (vgl. Keller 2004: 16). Von beobachtbaren Regelmäßigkeiten in (wissenschaftlichen) Texten schließt Foucault auf eine zugrunde liegende Regelstruktur. Er gräbt die Wissensordnungen vergangener Zeitalter aus und untersucht die materiale Existenz von Diskursen in Gestalt seriöser Sprechakte. Dabei versteht er in Archäologie des Wissens Diskurse als »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (Foucault 1981: 156) und geht davon aus, dass zu einer bestimmten Zeit immer nur eine begrenzte Menge an Aussagen möglich ist. Seine Frage lautet daher: »Wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?« (Foucault 1981: 42)16 Es geht ihm darum, die in einem Aussagenkorpus enthaltenen Denkkategorien und die im Diskurs errichtete ›Ordnung der Dinge‹ sowie die zu einer bestimmten Zeit akzeptablen Sprechweisen zu rekonstruieren (vgl. Diaz-Bone 2003; Hall 1997d: 44). Dabei interessiert ihn »nicht das endlose ›Spiel‹ (Derrida) des Verweises von einem Signifikanten auf einen anderen und der nie abschließbare Sinn, sondern die historische Begrenztheit, die faktische ›Knappheit‹ einzelner existierender Aussagen und Aussageserien« (Sarasin 2001: 61; vgl. auch Deleuze 1987: 12). Es beschäftigt ihn die Frage, warum eine bestimmte Aussage zu einer bestimmten Zeit auftauchte und nicht eine andere an ihrer Stelle. Foucaults frühe materiale Analysen wie Wahnsinn und Gesellschaft (1999b, Orig. 1961), Die Geburt der Klinik (1999b, Orig. 1963) oder Die Ordnung der Dinge (1974, Orig. 1966) sind von dieser archäologischen Fragestellung geprägt. Seine Forschungsgegenstände betrachtet er nicht als selbstverständliche, ahistorische Gegebenheiten, sondern als kontingente Erscheinungen, die durch unterschiedliche Wissens- und Praxisformationen bedingt werden. Er geht davon aus, dass Diskurse zwar aus Zeichen bestehen,

16 Foucaults Interesse geht also über das der reinen Sprachanalyse hinaus. Für ihn bildet die Sprache ein System für mögliche Aussagen, wobei »eine endliche Menge von Regeln, […] eine unendliche Zahl von Performanzen gestattet. Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen«. Daher frage auch die Sprachanalyse lediglich, gemäß welchen Regeln eine bestimmte Aussage konstruiert worden ist (Foucault 1981: 42). 121

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aber dass diese Zeichen innerhalb eines Diskurses nicht nur auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen. Diskurse sind ihm zufolge »Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). So gibt es beispielsweise keinen ›Wahnsinn‹ an sich, sondern nur historisch unterschiedliche Formen des Wissens, die ein bestimmtes Verhalten als ›Wahnsinn‹ definieren und daraus resultierende Praktiken des Umgangs mit von ›Wahnsinn‹ Betroffenen (vgl. Barker/Galasiski 2001: 12; Hall 1997d: 44 ff.; Keller 2004: 42 f.; Weedon 1990: 138 f.).17 Auch Subjekte sind für Foucault demnach Effekte von Diskursen. Um sprechen zu können, muss innerhalb eines Diskurses eine Subjektposition eingenommen werden, die wiederum mithilfe von Formationsregeln und Äußerungsmodalitäten konstruiert wird (vgl. Barker/Galasiski 2001: 13; Hall 1996: 10; Hall 1997d: 56). In diesem Zusammenhang ist der von Althusser geprägte Begriff der Anrufung (interpellation) zentral: Das Subjekt findet ›seine‹ Subjektposition, indem es sich von einem diskursiven Ereignis anrufen lässt (vgl. Angermüller 2005: 77). Althusser (1977: 142 f.) verdeutlicht dies am Beispiel eines Polizisten, der »He, Sie da!« ruft und dadurch den Ruf des Gesetzes verkörpert. In dem Moment, in dem der angesprochene Passant sich umdreht, also auf die Anrufung reagiert, wird er zu dem, der angerufen wurde. Er wird zu einem gesetzmäßigen Subjekt. Das Subjekt ist also dem Diskurs nicht vorgängig, sondern wird erst durch diesen hervorgebracht (vgl. auch Butler 1997: 173 ff.; Butler 1998: 42 f.; Phoenix 2009a: 103 f.; Villa 2003: 46 f.). Für Halls Subjektbegriff sind diese Überlegungen zentral. Auch Hall geht – beeinflusst durch Foucault – davon aus, dass das Subjekt nicht sein Denken und Handeln bestimmt, sondern dass es vorher immer bereits Diskurse gibt, die das Subjekt in einem Subjektivierungsprozess erzeugen. Allerdings wirft Hall – wie andere Kritiker/-innen auch18 – Foucault einen zu weit gehenden Formalismus vor. Vor allem die Frage, wie es dazu kommt, dass Individuen auch tatsächlich die durch Diskurse vorgesehenen Subjektpositionen einnehmen, bleibt für ihn offen (vgl. Supik 2005: 22): »[Foucault is] revealing little about why it is that certain individuals occupy some subject positions rather than others. By neglecting to analyse how the social posi17 Übertragen auf das Thema dieser Arbeit bedeutet dies, dass es auch keine Kriminalität an sich gibt, sondern nur historisch bedingte Formen des Wissens, die ein bestimmtes Verhalten als kriminell definieren. 18 Philipp Sarasin (2001: 71) kritisiert bspw., dass das Subjekt in der ›Archäologie‹ seinen Platz legitimen Sprechens allein vom Diskurs zugewiesen bekam. Johannes Angermüller (2007) konstatiert, dass Foucault nicht die diskursive Organisation von Subjektivität, also die Stellung des Individuums im Diskurs näher untersucht hat. Stuart Hall selbst bezieht sich vor allem auf die Kritik von Lois McNay (1994). 122

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tions of individuals interact with the construction of certain ›empty‹ discursive subject positions, Foucault reinscribes an antinomy between subject positions and the individuals who occupy them. Thus his archaeology provides a critical, but onedimensional, formal account of the subject of discourse. Discursive subject positions become a priori categories which individuals seem to occupy in an unproblematic fashion.« (Hall 1996: 10)

Macht und Wissen Zu Beginn der 1970er Jahre verschiebt sich Foucaults – zunächst noch stark strukturalistisch geprägtes – Analyseinteresse zugunsten einer genealogischen Perspektive.19 Er beschäftigt sich nun vermehrt mit den Regeln, Zwängen und Einflussmechanismen, die das, was gesagt wird und was sagbar ist, begrenzen und bedingen. So bemerkt Foucault zu Beginn seiner Antrittsvorlesung am Collège de France:20 »Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« (Foucault 2003: 10 f.)

Macht21 wird zum zentralen Explikationsbegriff in Foucaults genealogischen Studien. Er geht davon aus, dass Macht Elemente des sozialen Feldes nicht nur beeinflusst, sondern auch hervorbringt. Dies untersucht er in Überwachen und Strafen (Foucault 1991) und in Der Wille zum Wissen (Foucault 1997) am Beispiel des Körpers, des Wissens und des Subjekts, und es gelingt ihm die drei – im Alltagsverständnis meist als natürlich gegeben erscheinenden – Gegenstände als Effekte realer, symbolischer und imaginärer Macht darzustellen (vgl. Saar 2007: 214 ff.). 19 So schreibt Foucault bspw. in Archäologie des Wissens (2003: 33): »Zwar bestehen […] Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen.« (Foucault 1981: 74) In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France wird er noch deutlicher und fordert die Aufhebung der »Souveränität des Signifikanten« (vgl. auch Sarasin 2006: 98 f.). 20 Diese Inauguralvorlesung vom 2. Dezember 1970 wird in der Sekundärliteratur meist als Beginn von Foucaults genealogischer Phase gehandelt. Foucault unternimmt allerdings nicht mehr den Versuch einer systematischen und methodischen Grundlegung seiner Vorgehensweise, der mit der ›Archäologie‹ vergleichbar wäre (vgl. Keller 2004: 48). 21 Das Thema der Macht tauchte bereits in Foucaults früheren Schriften auf (z.B. in Wahnsinn und Gesellschaft (1999b) und in Die Geburt der Klinik (1999a)), doch ging es hier hauptsächlich um Äußerungen und deren Effekte, während die Umwelt der Äußerungen weitgehend ausgeblendet blieb (vgl. Saar 2007: 187). 123

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Für Hall ist dies ein wichtiger Schritt in den Arbeiten Foucaults. Dennoch hat er auch weiterhin Probleme mit der Vorstellung eines sich selbst regulierenden Subjekts, das durch Machtformen des Überwachens und Strafens hervorgebracht wird. Er sieht in Foucaults Überlegung, dass die »Seele […] der aktuelle Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht über den Körper« ist (Foucault 1991: 41), einen spannenden Ansatz, um die so genannte ›Materialität‹ des Körpers zu überdenken. Doch er kritisiert, dass die derart konstruierten Subjekte bei Foucault dennoch als ›fügsame Körper‹ (docile bodies) dargestellt werden, ohne zu berücksichtigen, was in irgendeiner Weise das reibungslose Einfügen des Individuums in die durch Diskurse konstruierten Subjektpositionen unterbrechen, verhindern oder stören könne (vgl. Hall 1996: 11 f.; McNay 1994: 76 f.): »[T]here is no theorization of the psychic mechanism or interior processes by which these automatic ›interpellations‹ might be produced, or – more significantly – fail or be resisted or negotiated.« (Hall 1996: 12)

Macht, Wissen und Subjekt Tatsächlich schien Foucaults Beschreibung des Subjekts als ›Effekt‹ von Wissen und Macht zu suggerieren, dass vom Subjekt selbst kein Widerstand ausgehen könne. In seinem ersten Band zu Sexualität und Wahrheit (1997, Orig. 1976) räumt Foucault daher selbst ein, dass es dort, wo es Macht gibt, auch Widerstand gebe, wobei der Widerstand niemals außerhalb der Macht liege (vgl. Foucault 1997: 116). Doch erst im zweiten und dritten Band, Der Gebrauch der Lüste (Foucault 1986a) und Die Sorge um sich (Foucault 1986b), die acht Jahre nach dem ersten Band veröffentlicht wurden, geht es nun nicht mehr nur um das ›Gemachtsein‹ des Subjekts, sondern zum ersten Mal auch um die Frage der aktiven Beteiligung des Subjekts an seiner eigenen Subjektivierung. Es sind also nun nicht mehr nur Macht und Wissen, die Subjektivierungen hervorbringen, sondern Subjektivierungen können auch vom Individuum selbst ausgehen (vgl. Saar 2007: 249 f.): »Was vorher aufgrund der methodischen Vorentscheidung, Sexualität nur als ›Effekt‹ der Macht zu begreifen, nicht erfassbar war, war das subjektive Moment der sozialen Realitäten, d.h. die Tatsache, dass soziale Rollen mehr oder weniger bewusst von Individuen übernommen, dass Normen von Subjekten freiwillig befolgt und Wissen aktiv angeeignet wird.« (Saar 2007: 251 f.)

Die Freiheit des Subjekts zur Veränderung und Gestaltung seines Selbst wird nun von Foucault als Gegenpol zum Einfluss der Macht auf das Subjekt herausgearbeitet. Damit verschiebt sich – fast unmerklich – auch Foucaults Begriff der Macht (vgl. Saar 2007: 276). Denn Macht – so wie sie von Foucault 124

DISKURS UND SUBJEKT

in seinen Werken der 1970er Jahre verstanden wurde – hatte bisher keinen Raum für die Beteiligung und Eigeninitiative der Subjekte gelassen. Nun aber heißt es bei Foucault: »Macht wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur sofern diese ›frei‹ sind.« (Foucault 1994: 255) Dabei versteht er unter ›freien Subjekten‹ »individuelle oder kollektive Subjekte […], vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere ›Führungen‹, mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können.« Das Subjekt ist also nun bei Foucault nicht mehr nur als Ort der Unterwerfung zu verstehen, sondern muss auch als Ort der Widerständigkeit begriffen werden. Hall nimmt diese Verschiebung in Foucaults Spätwerk zur Kenntnis und begrüßt, dass Foucault nun die Existenz einer »inneren Landschaft« erwähne (Hall 1996: 12 f.; vgl. auch Hall 1997d: 55). Dennoch – so die Kritik Halls – fehle Foucaults Subjektbegriff immer noch eine Vorstellung von Intentionalität und Handlungsmacht (agency) (vgl. Supik 2005: 23 f.): »The question which remains is […] what the mechanisms are by which individuals as subjects identify (or do not identify) with the ›positions‹ to which they are summoned; as well as how they fashion, stylize, produce and ›perform‹ these positions, and why they never do so completely, for once and all time, and some never do, or are in a constant, agonistic process of struggling with, resisting, negotiating and accommodating the normative or regulative rules with which they confront and regulate themselves. In short, what remains is the requirement to think this relation of subject to discoursive formations as an articulation […].« (Hall 1996: 13 f., Herv. i.O.)22

Stuart Hall beanstandet also die Leerstelle, die trotz der Verschiebungen in Foucaults Spätwerk – die von Kritiker/-innen teilweise als überraschende Rückkehr des totgesagten Subjekts wahrgenommen wurde – bleibt: nämlich die Frage, wie Widerstand funktionieren kann. Das Problem sieht Hall vor allem darin, dass Foucault die Beziehung zwischen Subjekt und diskursiven Formationen nicht als Artikulation betrachtet. Dabei verwendet Hall den Begriff der Artikulation in Anlehnung an Althusser und verweist damit auf die Doppelbedeutung, die der Begriff im Englischen hat (vgl. Karvonen/Koivisto 2001; Davis 2004: 169). Zum einen bedeutet er – ähnlich wie im Deutschen – »ausdrücken, Sprache formen« (Hall 2000b: 65), zum anderen wird der Begriff im Englischen aber auch für einen verkoppelten (articulated) Lastwagen verwendet, dessen Führerhaus mit einem Anhänger verbunden sein kann, aber nicht muss: »Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit 22 Hall steht mit dieser Kritik keinesfalls allein. Auch andere Theoretiker/-innen kritisieren die mangelnde Handlungsmacht (agency) in Foucaults Subjektkonzeption (vgl. Barker/Galasiski 2001: 45 f.). 125

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist.« (Hall 2000b: 65) Hall versteht Subjekte als mit Diskursen verknüpft, aber als nicht für alle Zeiten mit diesen verbunden. Ebenso versteht er auch die ›Einheit‹ eines Diskurses als »Artikulation verschiedener, unterschiedlicher Elemente, die in sehr unterschiedlicher Weise reartikuliert werden können, weil sie keine notwendige ›Zugehörigkeit‹ haben« (Hall 2000b: 65). Damit knüpft er an die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe an, die ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf Halls Arbeiten hat.

4.3.3 Laclau und Mouffe Praxis der Artikulation Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, beide aus der Politikwissenschaft kommend, haben seit Mitte der 1980er Jahre verschiedene Beiträge zu einer postmarxistischen und poststrukturalistischen Diskurstheorie vorgelegt. Dabei stehen sie in einer ähnlichen Theorietradition wie Stuart Hall und knüpfen an Foucaults Diskursbegriff, Althussers Ideologietheorie, Gramscis Hegemoniekonzept, die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein sowie an Lacans Subjekttheorie und deren Weiterführung durch Žižek an (vgl. u.a. Keller 2004: 52; Stäheli 1999: 145).23 Für Laclau und Mouffe ist das, was in der modernen Sozialtheorie meist als das ›Soziale‹ oder die ›Gesellschaft‹ bezeichnet wird, nichts anderes als eine Agglomeration von Diskursen (vgl. Reckwitz 2006b: 341). Sie definieren Diskurse als »strukturierte, partiell geschlossene Formationen, die aus artikulatorischen Praktiken hervorgehen« (Moebius 2003; vgl. Laclau/Mouffe 2006: 141; Marchart 1998: 8). Dabei verstehen sie die Praxis der Artikulation als Fixierung eines Systems von Differenzen, also von internen und außenbezogenen Abgrenzungen, die vorübergehend gesellschaftlichinstitutionell stabilisiert werden (vgl. Keller 2004: 52 f.; Stäheli 1999: 146). Ein Diskurs ist somit als Bedeutungs- und Signifikationssystem zu betrachten (vgl. Bruell 2006: 4). Die differentiellen Positionen bzw. ›flottierenden Signifikanten‹ (vgl. Marchart 1998: 19), die innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen Laclau und Mouffe Momente; differentielle Positionen, 23 Reckwitz ordnet Laclau einem »dekonstruktive[n] Poststrukturalismus« zu; im Gegensatz zu einem – in Deutschland vor allem durch die Rezeption der frühen Arbeiten Foucaults geprägten – »strukturalistischen Poststrukturalismus«: »Die Leitidee einer solchen dekonstruktiv-poststrukturalistisch informierten Sozialwissenschaft […] lautet, dass die Wissensordnungen, die Codes der Kultur, statt jene Eindeutigkeit und reproduzierte Routine zu schaffen, die sie intendieren, regelmäßig und unintendiert kulturelle Instabilität hervorbringen, Instabilitäten, die sich aus mehrdeutigen, paradoxen und selbstwidersprüchlichen Konstellationen der Differenz ergeben.« (Reckwitz 2006a) 126

DISKURS UND SUBJEKT

die nicht diskursiv artikuliert werden, nennen sie Elemente (Laclau/Mouffe 2006: 141). Dabei gehen sie davon aus, dass der Übergang von den Elementen zu den Momenten niemals gänzlich vollzogen ist: »Es gibt kein einfaches Grundprinzip, das das ganze Feld der Differenzen fixiert und deshalb konstituiert. Die unauflösliche Spannung zwischen Interiorität und Exteriorität ist die Bedingung jeder sozialen Praxis: Notwendigkeit besteht nur als partielle Beschränkung des Feldes der Kontingenz.« (Laclau/Mouffe 2006: 148)

Interne Abgrenzungen erfolgen – Laclau und Mouffe zufolge – nach der Logik der Differenz, wobei die einzelnen Elemente nicht von sich aus eine Bedeutung tragen, sondern sich diese erst durch die Beziehung zu anderen Elementen innerhalb des Diskurses konstituiert (vgl. Stäheli 1999: 146 f.; Keller 2004: 53). Innerhalb eines nationalistischen Diskurses wird beispielsweise zwischen ›Rechten‹ und ›Linken‹, ›Armen‹ und ›Reichen‹, ›Ossis‹ und ›Wessis‹ unterschieden. Abgrenzungen nach Außen hingegen erfolgen nach der Logik der Äquivalenz. Klassen- und Geschlechterunterschiede, der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten sowie regionale Differenzen spielen dann keine Rolle mehr (vgl. Hall 1994e: 204 ff.; Räthzel 1997: 78).24 Durch diese Abgrenzung nach Außen wird der Diskurs konstituiert, oder – mit anderen Worten – »ein Diskurs ›kann nur die Bedingungen der Denkbarkeit bestimmter Objekte konstituieren durch die Konstruktion der Undenkbarkeit anderer Objekte‹« (Marchart 1998: 14). Judith Butler beschreibt dies in einer Diskussion via Email mit Ernesto Laclau folgendermaßen: Es gibt »keine politische Ordnung, keine Gesellschaftlichkeit, kein Feld des Politischen […], ohne dass bereits bestimmte Arten von Ausschließung getroffen wurden – konstitutive Ausschließungen, die ein konstitutives Äußeres gegenüber jedem Ideal von Inklusivität produzieren« (Butler/Laclau 1998: 240). Jeder Diskurs besteht also aus einer Vielzahl miteinander verwobener Unterscheidungen. Diese werden in dem Moment obsolet, in dem sich der Diskurs nach Außen hin abgrenzen muss. Die Differenzen werden dann durch eine übergreifende, notwendigerweise auch vereinfachende Identifizierung überformt, die wiederum nur durch die Konstruktion eines Außen ermöglicht wird (vgl. Reckwitz 2006b: 344).25

24 Andere Nationalstaaten dienen in diesem Zusammenhang als Spiegel, in dem die Nation ihr umgekehrtes Bild betrachten kann. Sie ist nicht das, was diese Anderen sind, oder als was sie dargestellt werden (vgl. Terkessidis 1998: 213; Terkessidis 1995: 68; Torfing 1999: 193 f.). 25 Laclau und Mouffe gehen also davon aus, dass Bedeutungen nur in konstitutiven Verweisungszusammenhängen und durch eine Beziehung zum konstitutiven Außen erzeugt werden. Für Moebius (2003) ist dies eine präzisere Ausarbeitung des Foucaultschen Diskursbegriffes (vgl. Viehöver 2004). 127

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass die Fixierung eines Systems von Differenzen durch die Praxis der Artikulation nicht bloß rein sprachliche Phänomene betrifft, sondern auch Institutionen, Rituale und Praxen durchdringt (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 146). Entgegen der Annahme eines geistigen Charakters des Diskurses bekräftigen sie also den materiellen Charakter jeder diskursiven Struktur (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 145). Sie verstehen unter einem ›Diskurs‹ »nicht einfach eine Zusammenstellung von Gesprochenem und Geschriebenem […], sondern ein Ensemble, das in sich das Sprachliche und das Nicht-Sprachliche enthält« (Mouffe 2001: 13). In Anlehnung an Wittgensteins Konzept des Sprachspiels nehmen sie an, dass ein physisches Objekt immer in gesellschaftlich erzeugte Regeln eingebettet ist. So könne ein Stein beispielsweise – je nachdem innerhalb welcher diskursiven Konfiguration er betrachtet wird – ein Geschoss, ein Objekt künstlerischer Betrachtung oder aber auch ein religiöses Symbol sein (vgl. Mouffe 2001: 13). Dies bedeutet allerdings nicht, dass »die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens« bestritten wird, sondern es wird bestritten, dass sich die Gegenstände »außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten« (Laclau/Mouffe 2006: 144). Für Laclau und Mouffe umfasst der Diskursbegriff also nicht nur sprachliche Elemente, sondern gründet auch den Charakter eines so genannten ›natürlichen‹ Objekts sowie die Subjektposition des gesellschaftlich Handelnden.26

Knotenpunkte Laclau und Mouffe zufolge konstituiert sich jeder Diskurs »als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren« (Laclau/Mouffe 2006: 150). Die diskursiven Punkte einer solchen partiellen Fixierung nennen Laclau und Mouffe in Anlehnung an Lacan Knotenpunkte (point de capiton). Ein solcher Knotenpunkt hat die Funktion einer zeitweisen Schließung des Diskurses, indem durch ihn die Bedeutung einer Signifikantenkette teilweise fixiert wird (Laclau/Mouffe 2006: 150; vgl. Marchart 1998: 18 f.; Torfing 1999: 98). Dadurch bestimmen Knotenpunkte eine spezifische Definition der Realität mit dem ihr entsprechenden common sense (vgl. Mouffe 2001: 16). Dies bedeutet jedoch, Žižek zufolge, nicht »that it is simply the ›richest‹ word, the word in which is condensed all the richness of meaning of the field it ›quilts‹: the point de capiton is rather the word which, as a 26 Laclau und Mouffe gehen insofern in ihrem diskurstheoretischen Ansatz über Foucault hinaus und heben die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auf (vgl. Moebius 2003; Reckwitz 2006b: 341 f.; Torfing 1999: 90, 94). 128

DISKURS UND SUBJEKT

word, on the level of the signifier itself, unifies a given field, constitutes its identity: it is, so speak, the word to which ›things‹ themselves refer to recognize themselves in their unity« (Žižek 1989: 95 f., Herv. i.O.).

Knotenpunkte sind Signifikanten, die sozusagen über sich hinausweisen. Sie symbolisieren die Äquivalenz der unterschiedlichen diskursiven Momente (vgl. Stäheli 1999: 149 f.). Es sind leere Signifikanten, da sie ihrer Bedeutung entleert wurden und kein fixes Signifikat bezeichnen. Dadurch können sie als Platzhalter fungieren und für eine Fülle an Bedeutungen stehen, sozusagen »das reine Sein des Systems« repräsentieren (Laclau 1994: 159; Laclau 1996; vgl. auch Brodocz 2000; Bruell 2006: 6; Reckwitz 2006b: 344). Welcher Signifikant für eine bestimmte Zeit die Rolle des leeren Signifikanten übernimmt und einen bestimmten Diskurs repräsentiert, ist immer Gegenstand hegemonieller Auseinandersetzung (Marchart 1998: 11; vgl. Laclau 1994: 162 ff.; Moebius 2003). D.h. die Institutionalisierung einer bestimmten Artikulation kann nur durch gewaltsame Unterdrückung erreicht werden. Dabei verdecken habituelle Wiederholungen die Spuren dieser Unterdrückung: »Hegemonie hängt nicht von Popularität ab, sie hängt von der Normalisierung der Idee ab, es gäbe keine Alternativen.« (Smith 1998: 232) Ein Beispiel für einen leeren Signifikanten, der (u.a.) im nationalistischen Diskurs als Knotenpunkt fungiert, ist der Begriff Nation, denn er vereint unterschiedlichste und auch widersprüchliche Bedeutungen. Er steht für eine »vorgestellte politische Gemeinschaft« (Anderson 1996: 15), die – obwohl eine recht junge Erscheinung – so behandelt wird, als hätte es sie schon immer gegeben (vgl. z.B. Wallerstein 1990). Er beinhaltet bestimmte Traditionen, geschichtliche Ereignisse, Rituale sowie nationale Symbole und präsentiert das, was eigentlich ein ethnisches Durcheinander moderner Nationalitäten ist als die urgeschichtliche Einheit ›eines Volkes‹ (vgl. Hall 1995b: 33): »The homogenization and substantialization of the empty signifier of the nation, which is a defining feature of nationalist discourse, undoubtedly invokes a totalitarian closure, a violent reduction of difference to sameness.« (Torfing 1999: 194) Ein weiteres Beispiel für einen leeren Signifikanten wäre der Begriff Integration. Dieser fungiert innerhalb eines nationalistischen oder auch kulturalistischen Diskurses und steht als Metapher für soziale Inklusion, ist jedoch häufig mit der Forderung nach Assimilation und Unterwerfung verknüpft (vgl. Kap. 2.4.1). Bezeichnungen wie ›Integrationsgipfel‹ oder ›Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration‹ erwecken darüber hinaus den Eindruck, dass Integration nur Migrant/-innen betreffe bzw. dass der Begriff Integration zunehmend synonym für Migration gebraucht wird (vgl. Hess/Moser 2009).

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Subjektive Aneignung und Veränderung diskursiver Strukturen Wenn Laclau und Mouffe von Subjekten sprechen, tun sie dies in Hegemonie und radikale Demokratie »im Sinne von ›Subjektpositionen‹ innerhalb einer diskursiven Struktur« (Laclau/Mouffe 2006: 153). Sie verstehen Subjekte als die Artikulation einer Gesamtheit von Subjektpositionen, die innerhalb bestimmter Diskurse hergestellt werden (vgl. Mouffe 1993). Subjektpositionen sind dabei diskursive Positionen, Effekte von Artikulationen (Laclau/Mouffe 2006: 153; vgl. auch Smith 1998: 228; Stäheli 1999: 146). Ähnlich wie Judith Butler sehen Laclau und Mouffe Identitäten nicht »als Ausdruck eines zeitlosen Mechanismus oder Prinzips, sondern als Produkte der Einsetzung kontingenter Normen« (Laclau 1998: 258).27 Dabei kann kein Subjekt auf eine einzige Subjektposition reduziert werden. Der Vielfalt unterschiedlicher Diskurse entspricht eine mannigfaltige Anzahl an Subjektpositionen, wobei sich die einzelnen Positionen durchaus auch widersprechen können (vgl. Angus 1998): »[…] erst wenn die Sicht aufgegeben wird, dass das Subjekt sich nur als rein rational handelndes einbringt und sich dabei selbst völlig transparent ist, und wenn auch nicht mehr an der vermeintlichen Einheit und Homogenität der Gesamtheit seiner Positionen festgehalten wird, kann die Vielfalt der Beziehungen theoretisch analysiert werden, welche als Ein- und Unterordnungsformen die Position eines jeden einzelnen Individuums vielschichtig charakterisieren, und nur so ist es möglich, die Tatsache zu erfassen, dass ein Individuum in der einen Beziehung eine herrschende Position einnehmen kann, in einer anderen aber der Herrschaft unterworfen ist.« (Mouffe 2001: 18 f.)

Die Vorstellung eines einheitlichen Subjektes wird zugunsten einer fragmentierten Identität aufgegeben, wobei – wie Laclau und Mouffe zurecht bemerken – Identitäten nur durch den Gegensatz zu einem ihre Einheit postulierenden Diskurs als fragmentiert erscheinen (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 131). Der Einzelne kann sich innerhalb eines bestimmten Diskurses z.B. als ›muslimischer Mann‹ bezeichnen, innerhalb eines anderen Diskurses sich jedoch einer solchen Positionierung verweigern (vgl. Kap. 6; Spies 2009b); oder anders ausgedrückt: Die Selbstverortung als ›muslimischer Mann‹ bedeutet nicht, »dass man nur bezeichnet, was man ist, sondern dass man sich mit etwas identifiziert, obwohl man sich auch mit etwas anderem identifizieren könnte« 27 Für Judith Butler existieren Subjekte nicht als historisches Apriori, sondern werden erst über die Anrufungspraktiken des Staates als solche erschaffen. Sie entstehen durch einen performativen Akt, »Formen autoritativen Sprechens« (Butler 1997: 309), die durch Wiederholungen (iteration) gekennzeichnet sind. Veränderungen sind nur durch diskursive Verschiebungen möglich (vgl. Butler 1998; Gutiérrez Rodríguez 2001). 130

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(Brodocz 2000: 38). Dabei ist jedoch nicht davon auszugehen, dass ein jedes partiell geschlossenes und fixiertes Differenzsystem seine jeweils eigenen Subjektpositionen produzieren würde, die unbeeinflusst von anderen Diskursen wären. Denn jede einzelne Subjektposition ist als Übereinanderschichtung von mehreren Signifikationssequenzen zu verstehen, die sich gegenseitig verstärken oder in Konkurrenz zueinander treten können und letztendlich jedem eindeutigen Sinn seine Beständigkeit nehmen (vgl. Reckwitz 2006b: 343). Im Gegensatz zu Foucault sehen Laclau und Mouffe die Beziehung zwischen Subjekt und diskursiven Formationen als Artikulation. Sie liefern somit einen theoretischen Rahmen, mit dem unterschiedliche Positionierungen innerhalb einer biographischen Erzählung erklärt werden können. Allerdings wird auch mit dieser Vorstellung vom Subjekt einseitig davon ausgegangen, dass Diskurse die Selbstverortungen beeinflussen. Einen Spielraum, wie der/die Einzelne sich mit der Subjektposition, in die er/sie hineingerufen wurde, identifiziert, wie er/sie sie ›performt‹ oder produziert, bzw. warum manche Subjektpositionen bekämpft oder niemals komplett übernommen werden, scheint es nicht zu geben. Dies hatte Hall bereits bei Foucault kritisiert (Hall 1996: 13), und auch Laclau und Mouffe bieten – zumindest in Hegemonie und radikale Demokratie (2006, Orig. 1985) – hierfür (noch) keine Lösung. Das Subjekt wird »ausschließlich als Moment der diskursiven Struktur gedacht« (Stäheli 1999: 155); als »historisch-spezifisches Produkt der ›Subjektivation‹ durch den Diskurs« (Reckwitz 2006b: 341). Doch in Laclaus späteren Arbeiten – vor allem in New reflections on the revolution of our time (1990) – erfolgt eine Präzisierung und Erweiterung seines Subjektbegriffes hin zu einer Konzeption des Subjekts als Handelnder (agent). Laclau orientiert sich nun – vor allem in Reaktion auf eine durch Slavoj Žižek (1989) an ihn herangetragene Kritik – verstärkt an Lacans psychoanalytischer Subjekttheorie. So geht Laclau nun – Lacan folgend – davon aus, dass ein Subjekt nicht erst dadurch entsteht, dass es in eine Subjektposition hineingerufen wird, sondern dass es schon vor dieser Anrufung existiert.28 Dieses (primordiale) Subjekt besteht jedoch aus einem Mangel, der vom Subjekt zu füllen versucht wird, indem es sich (hegemonialen) Diskursen unterwirft (vgl. Reckwitz 2006b: 346): »Wenn ich mich mit etwas identifizieren muss, dann deshalb, weil ich von Anfang an keine volle Identität besitze.« (Laclau 2002: 135)29 28 Wohingegen es eine Subjektposition – in der Argumentation von Slavoj Žižek – ohne Aneignung nicht geben kann, sie existiert also nicht bereits vor ihrer Aneignung durch ein Individuum im Diskurs (vgl. Angermüller 2005: 77). 29 Paul Mecheril (2006: 122 ff.) weist in diesem Zusammenhang auf zwei Verkürzungen hin, mit denen seines Erachtens Subjekttheorien, die von der Lacan’schen Psychoanalyse inspiriert wurden, operieren: Sie würden erstens ein Bedürfnis nach Komplettierung unterstellen, das »den Drang nach Kompensie131

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Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich nun auch eine andere Sicht auf die Funktion bzw. den ›Nutzen‹ hegemonialer Diskurse: »Sie stellen sich als kulturelle Versuche dar, die Identitätshoffnungen des Subjekts zu befriedigen, sie stülpen dem Einzelnen nicht nur gesellschaftliche Subjektivationszumutungen über, sondern erweisen sich als attraktive, psychisch positiv aufgeladene, am Ende libidinös besetzte Projektionsflächen von Subjekten, als eine Serie ›ideologischer Fantasien‹ (Žižek), von Formen eines mythischen ›sozialen Imaginären‹. Umgekehrt wird nun deutlich, dass die Abgrenzung von einem Außen, einem Anderen außerhalb der diskursiven Ordnung mit Ausschlussfantasien – bis hin zu Vernichtungsfantasien – verknüpft ist, da dieses Andere die Komplettierung der eigenen geschlossenen Identität zu bedrohen scheint.« (Reckwitz 2006b: 347)

Laclau und Mouffe gingen jedoch bereits in Hegemonie und radikale Demokratie auch davon aus, dass Diskurse nie geschlossen sind. Durch diese Unabschließbarkeit entstehen immer wieder Situationen, in denen das Außen des Diskurses in Form von Unentscheidbarkeiten auftaucht. Selbst äußerst rigide Diskurse produzieren solche Situationen der Unentscheidbarkeit. So gibt es im Apartheidsdiskurs beispielsweise Entscheidungsprobleme bei der Zuteilung Einzelner in bestimmte ethnische Kategorien, was gleichzeitig den konstruierten Charakter dieser Kategorien aufzeigt (vgl. Stäheli 1999: 152). Laclau nennt solche Situationen der Unentscheidbarkeit, in denen Identitäten durch ein Außen zerrüttet werden, Dislokationen (Laclau 1990: 39; vgl. Stäheli 1999: 152; Bruell 2006: 6): »From the point of view of the subject, ›the structure cannot ensure its own structurality‹ […], i.e. doesn’t hold itself together giving its components a necessary meaning.« (Hudson 2006: 306) Wenn nun aber die Struktur nicht vollständig geschlossen ist und es so etwas wie Kontingenz gibt, dann kann auch ein Subjekt nicht nur »eine bloße Subjektposition in der Struktur« sein (Laclau 2002: 134). Vielmehr handelt es sich um ein Wechselspiel: In einer Situation der Unentscheidbarkeit steht ein Subjekt, das aus einem Mangel besteht, zwischen einem Diskurs und seinem Außen. Es muss die Unentscheidbarkeit durch eine Entscheidung auflösen und sich mit einem bestimmten Inhalt identifizieren, um wieder zu einem Moment des Diskurses zu werden (vgl. Laclau 2002: 134 f.; Moebius 2003). Erst durch diese Identifizierung kommt es wieder zu einer Verfestigung der Subjektposition.

rung des Mangels ubiquitär geltend« mache. Und zweitens würden sie mit einer unzureichenden Differenzierung arbeiten: »Durch das Wissen, ein ›Anderer‹ zu sein, werde ich dem Wissen und der affektgenerativen Struktur produktiv unterworfen, die mich zum Anderen macht – dieser Andere ist in der rassistischen Figuration aber ein spezifischer Anderer, der einen spezifischen unmöglichen Traum einer postrassistischen Identität träumt.« 132

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»[…] if dislocations disrupt identities and discourses, they also create a lack at the level of meaning that stimulates new discursive constructions, which attempt to suture the dislocated structure. In short, it is the ›failure‹ of the structure, and […] of those subject positions which are part of such a structure, that ›compels‹ the subject to act, to assert anew its subjectivity.« (Howarth/Stavrakakis 2000: 13)

Indem Laclau in seinen Überlegungen die Unabgeschlossenheit von Diskursen berücksichtigt und Artikulationen als kontingent denkt, kann er eine Vorstellung vom Subjekt entwickeln, das die Möglichkeit der Handlungsmacht (agency) besitzt. Dabei ist völlig klar, dass das Subjekt nicht außerhalb der Differenzstruktur existieren kann. Es ist abhängig von der Struktur und der ihm darin gegebenen Möglichkeiten der Identifikation (vgl. Hudson 2006: 307).

4.4 Stuart Hall: Das Konzept der Artikulation Das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt lässt sich mit Bezug auf Foucaults Diskurstheorie und vor allem mit Bezug auf die Überlegungen zur Subjektkonzeption von Laclau und auch Mouffe bereits näher bestimmen. Ein Teil der eingangs aufgeworfenen Fragen kann nun schon beantwortet werden. Innerhalb eines Diskurses entstehen unterschiedliche Subjektpositionen, in die das Subjekt hineingerufen wird. Diese Positionierungen bleiben jedoch nicht ein für alle Mal bestehen, denn durch die Unabschließbarkeit von Diskursen entstehen Dislokationen, wodurch Subjekte ihren Moment-Charakter verlieren können und zu Elementen werden, die innerhalb (neu) artikulierter Diskurse (neue) Subjektpositionen einnehmen. Dies bedeutet übertragen auf meine Arbeit, dass straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie z.B. innerhalb eines kulturalisierenden und ethnisierenden Diskurses (vgl. Kap. 2.4.1) in die Position des ›Anderen‹ hineingerufen werden. Kommt es jedoch zu Verschiebungen innerhalb des Diskurses, kann sich das Subjekt auch mit einer anderen Position identifizieren. Gleichzeitig verortet sich ein Subjekt nicht nur innerhalb eines Diskurses, sondern es nimmt unterschiedliche Subjektpositionen innerhalb verschiedener, intersektionell verschränkter Diskurse (vgl. Tuider 2007; Kap. 2.4.3) an, wobei diese sich gegenseitig verstärken oder auch in Konkurrenz zueinander treten können. Mit dem Konzept der Artikulation wird eine solche Beziehung von Diskurs und Subjekt auf den Punkt gebracht. Es beschreibt eine Möglichkeit der Verknüpfung, die aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann; aber auch eine Verbindung, die nicht über alle Zeiten hinweg bestehen bleiben muss bzw. die sich auch verändern kann. Mithilfe des Konzeptes der 133

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Artikulation lässt sich jedoch nicht nur die Beziehung zwischen Subjekt und Diskurs denken, sondern auch die Möglichkeit der Handlungsmacht.

4.4.1 Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht Hall versteht Identität als das Vernähen des diskursiven ›Außen‹ mit den ›inneren‹ Prozessen von Subjektivität (vgl. Barker/Galasiski 2001: 36): »[…] I understand identities as points of suture, points of temporary attachment, as a way of understanding the constant transformations of who one is or as Foucault put it, ›who one is to become‹. You only discover who you are because of the identities you are required to take on, into which you are interpellated: but you must take up those positionalities, however temporarily, in order to act at all.« (Hall 1995a: 65)

Ebenso wie Laclau und Mouffe spricht auch Hall von Identität als einem Prozess der Identifizierung. Dabei geht er davon aus, dass Identifizierung sich nicht ein für alle Mal ereignet, sondern abhängig ist von den Diskursen, die uns umgeben und die sich im Laufe der Zeit verändern.30 Identität wird darüber hinaus durch das Andere bzw. die Anderen konstituiert; durch das, was sie unterscheidet.31 Sie ist in den Blick des oder der Anderen eingeschrieben. Dadurch wird der/die Andere ein Teil von uns selbst (vgl. Hall 1994a: 73). Identität kann nur in Relation zu dem, was man nicht ist, dem constitutive outside konstruiert werden (vgl. Hall 1996: 4). Sie »entsteht aus dem Mangel an Ganzheit, der in den Formen, in denen wir uns vorstellen, wie wir von anderen gesehen werden, von Außen erfüllt wird« (Hall 1994b: 196). Dadurch zerreißt die Grenze zwischen Innen und Außen. Halls Vorstellung vom Subjekt ist also ebenso wie die von Laclau und Mouffe ohne eine gesicherte, wesentliche oder lang anhaltende Identität konzipiert (vgl. Hess/Linder 1997: 37). Wir werden – so Hall – »mit einer verwirrenden, fließenden Vielfalt möglicher Identitäten konfrontiert, von denen wir uns zumindest zeitweilig mit jeder identifizieren könnten« (Hall 1994b: 30 Auch Homi K. Bhabha lehnt die Vorstellung abgeschlossener Identitäten ab und favorisiert stattdessen eine ›Politik der Identifikation‹, die auf nicht überbrückbaren Zwischenräumen aufbaut. Dabei geht er – ähnlich wie Hall – davon aus, dass ein Subjekt sich zwischen verschiedenen Identitäten bewegt, wobei er betont, dass auch diese verschiedenen Identitäten eines Subjekts nie bereits als solche oder ›essentiell‹ gegeben sind (vgl. Höller 1998: 37; Papastergiadis 2000: 277). 31 Hall bezieht sich hier auf Lacan, der davon ausgeht, dass sich die disparate Identität eines Kleinkindes durch den Eintritt in das Spiegelstadium als Ganzes konstituiert. Die Wahrnehmung eines eigenen Ich wird durch das Andere im Spiegel ermöglicht. Das Spiegelstadium kann so als Identifikation verstanden werden, das durch die Aufnahme des Bildes eine Verwandlung des Subjekts auslöst (vgl. Lacan 1991; s. auch Kap. 4.3.3). 134

DISKURS UND SUBJEKT

183).32 Die vereinheitlichte, kohärente Identität sei daher eine Illusion: »Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ›Erzählung unseres Ich‹ über uns selbst konstruieren.« (Hall 1994b: 183) Hall veranschaulicht dies am Beispiel seiner eigenen Biographie.33 So erzählt er, dass er sich selbst lange nicht als Immigranten bezeichnete, obwohl er von Jamaika nach Großbritannien immigriert war und von den Engländern so genannt wurde. Erst als er in den frühen 1960er Jahren nach Jamaika zurückkehrte, wurde ihm bewusst, dass die Bezeichnung ›Immigrant‹ genau das ausdrückte, was er war; jemand der seine Heimat für immer verlassen hatte: »Ich ging nach England zurück und wurde, was man mich nannte. Sie hatten mich als Immigranten begrüßt. Jetzt hatte ich endlich entdeckt, wer ich war. Ich begann, mir die Geschichte meiner Migration zu erzählen.« (Hall 1994a: 81) Doch für Hall war das ›Immigrant-Sein‹ keine Bezeichnung, mit der er lange leben konnte. Es war für ihn kein ›haltbarer‹ Platz zum Sein (vgl. Hall 1997a: 135). Bzw. – wie Hall an anderer Stelle zu bedenken gibt – ist jede Identität, die er im Laufe seines Lebens hatte, eine Identität ›nach dem Event‹. Denn meist sei es so, dass man schon lange im Namen einer bestimmten Identität gehandelt habe, bevor jemand sagt: ›Das ist es, was du bist.‹ Und man denkt: ›Mein Gott, das ist es, was ich bin.‹ Genau in diesem Moment aber könne man ziemlich sicher sein, dass man etwas anderes wird (vgl. Hall 1995a: 66). Hall blieb also nicht lange bei der Selbstbeschreibung als ›Immigrant‹. Schon wenig später begann für ihn eine neue Identifikationsphase: der Weg durch die – wie er sie selbst nennt – lange, wichtige, politische Erziehung, durch die er herausfand, dass er ›Schwarzer‹ sei (vgl. Hall 1997a: 135 f.).34 32 Dies entspricht z.B. auch der Vorstellung Étienne Balibars, dass wir »nie ›eine‹ Person, sondern ›mehrere in einer‹ Person« sind (Balibar 2003: 55). 33 Für Hall spielen seine eigenen biographischen Erfahrungen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner theoretischen Konzepte. In der deutschsprachigen Forschung ist dies eher unüblich und würde vermutlich auch schnell mit dem Vorwurf mangelnder Objektivität konfrontiert werden. Im Bereich der Cultural, Postcolonial und auch Gender Studies ist solch ein Vorgehen jedoch durchaus üblich bzw. auch bewusst gewählt, da davon ausgegangen wird, dass es kein Wissen aus dem ›Off‹ gibt, jedes Wissen also mit der eigenen Biographie verknüpft ist. Donna Haraway spricht in diesem Zusammenhang von ›situiertem Wissen‹ (vgl. Haraway 1995). 34 In dieser Phase, deren Verlauf Hall – im Nachhinein – als Identitätspolitik ersten Grades bezeichnet, ging es darum, sich selbst zu repräsentieren, anstatt immer nur durch den Anderen als Objekt repräsentiert zu werden. Hall spricht in diesem Zusammenhang von einem »gewaltige[n] Akt von […] imaginärer politischer Neu-Identifikation und Neu-Territorialisierung« (Hall 1994a: 78): Immigranten und Immigrantinnen begannen »die Sprache ihrer ursprünglichen Heimat zu sprechen« und verlorene Geschichten wieder zu entdecken (Hall 1994a: 78). Dabei entstand eine Einheit, die allen oberflächlicheren Differenzen trotzt 135

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Hall beschreibt also hier – am Beispiel seiner eigenen Biographie – wie ein Subjekt in eine Position hineingerufen wird. Dies geschieht – unter Umständen – ohne dass der/die Einzelne sich dieser Positionierung bewusst ist. Denn es handelt sich hierbei nicht um einen willentlichen ›Selbst-Anschluss‹ eines überlegten und überlegenden Subjekts (vgl. Mecheril 2006: 125). Dennoch darf die Verbindung, die zustande kommt, auch »nicht als einseitiger Prozess des Ergriffen- oder Angesprochenwerdens des Individuums verstanden werden« (Mecheril 2006: 126 f.). Denn Hall denkt sein Subjekt nicht ohne Handlungsmacht. Es kann in die Positionierung investieren, indem es sich z.B. die Geschichte der eigenen Migration erzählt und so seine Positionierung festigt. Durch die Unabgeschlossenheit des Diskurses – hier durch den Einfluss des amerikanischen ›Black is beautiful‹-Diskurses markiert – können darüber hinaus auch neue Subjektpositionen entstehen, die vom Subjekt eingenommen werden. Dies bedeutet nicht, dass die Subjektposition ›Immigrant‹ gänzlich verschwinden würde oder in keiner Weise mehr eingenommen werden könnte. Denn neben der Verortung als ›Schwarzer‹ ist auch immer noch eine Verortung als ›Immigrant‹ möglich, wobei beide Positionierungen innerhalb unterschiedlicher Diskurse von einem einzigen Subjekt eingenommen werden können. Das Einnehmen einer Subjektposition erfordert also – Hall zufolge – nicht nur, dass das Subjekt innerhalb eines Diskurses in die Subjektposition hineingerufen wird, sondern dass es auch in die Position investiert. Dies kann durch ein einfaches sich Hineinfügen geschehen, aber auch durch eine kreative Ausgestaltung oder Veränderung der Position bzw. durch einen anhaltenden Kampf gegen die Position. Halls entscheidende Ergänzung zum Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt ist die der Handlungsmacht. Diese wiederum ist nur denkbar, wenn das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt als Artikulation verstanden wird. Das Konzept der Artikulation kann als Versuch verstanden werden, Identität in einer nicht-essentialistischen Weise zu fassen. Dies heißt jedoch nicht, dass es nicht auch Einschränkungen gebe (vgl. Mecheril 2006: 127). Hall grenzt sich hierbei von Laclau und Mouffe ab, wenn er betont, dass »nicht al-

und die unabhängig von äußeren Einflüssen einen stabilen Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellte (vgl. Hall 1994c: 27). Dies gelang zunächst einmal dadurch, dass man sich einen Namen gab: ›Schwarz‹. Hierzu musste ein ganzes System an Bedeutungen verdrängt werden, das bereits in die Bezeichnung eingeschrieben war (vgl. Hall 1999: 86). Indem der Signifikant ›schwarz‹ von seinen ursprünglichen Bedeutungen gelöst wurde, konnte er zu einem ›leeren Signifikanten‹ (vgl. Kap. 4.3.3) werden; zu einem Knotenpunkt, durch den diejenigen sich selbst repräsentieren konnten, über die bisher immer nur gesprochen wurde. 136

DISKURS UND SUBJEKT

les potenziell mit allem artikulierbar ist« (Hall 2000b: 71).35 Die Wahl der aktiven Positionierungsmöglichkeiten der dezentrierten Subjekte sei immer eingeschränkt durch historische und kulturelle Bedingungen (vgl. Supik 2005: 112). So beschreibt Hall (1994c: 29) z.B. »[d]ie verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden« als »Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung«. Jedes Repräsentationsregime sei ein Machtregime, das durch Macht und Wissen geformt sei. Das Wissen sei dabei jedoch nicht (nur) äußerlich, sondern würde internalisiert: »Wir wurden durch jene Regimes nicht nur im Sinne von Saids ›Orientalism‹ innerhalb der Wissenskategorie des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als ›Andere‹ wahrnahmen und erfuhren.« (Hall 1994c: 29 f., Herv. i.O.)

4.4.2 Positioniert sein Identitäten stellen sich Hall zufolge zwar als Einheit dar, sind aber Fragmentierungen, die sich aus mehreren, zum Teil widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammensetzen (vgl. Lutz 2001b: 253). Sie sind mit Herrschaftsinteressen und sozialen Interessen unterschiedlicher subordinierter Gruppen verbunden und sind das Ergebnis eines naturalisierten Prozesses der Vereinheitlichung (vgl. Hall 1996: 5; ders. 2002: 36). Differenz36 ist daher – für Hall 35 In einem Interview mit Lawrence Großberg von 1985 kritisiert Hall an dem damals neuen Buch von Laclau & Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie (2006, Orig. 1985), dass Laclau & Mouffe »die Frage der historischen Kräfte, die die Gegenwart produziert haben und die nach wie vor als Schranken und Determinanten einer diskursiven Artikulation fungieren, nicht berücksichtigt« haben (Hall 2000b: 73). 36 Halls Verständnis von Differenz wurde u.a. von Derridas Begriff der différance beeinflusst. Différance verweist durch das Austauschen eines einzelnen Buchstabens (différance statt différence) darauf, dass Differenz nicht nur für ›Unterschied‹ steht, sondern (im Französischen) auch für ›Aufschub‹ bzw. ›aufschieben‹. Das gewohnte Verständnis von Differenz wird von Derrida durch das regelwidrige ›a‹ durcheinander gebracht (vgl. Hall 1994a: 75). »Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt.« (Derrida 1991: 88) Bedeutungen können daher – Derrida zufolge – nie endgültig und abschließend fixiert werden. Während im Strukturalismus die einzelnen Elemente durch ihre Stellung im Beziehungsgeflecht eine Bedeutung erhalten (vgl. Kap. 4.3.1), lässt sich für Derrida Bedeutung nicht fassen. Das endgültige Signifikat wird nie erreicht, da dieses fortwährend aufgeschoben und verzögert wird (vgl. Procter 2004: 120). 137

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

– nicht das Gegenteil von Identität, sondern ihr essentieller Bestandteil (vgl. Hall/Maharaj 2001: 41; Hall 2002: 36). Mit Bezug auf Derrida verabschiedet sich Hall von einem Identitätsverständnis, das Identität als abgeschlossene Einheit fasst. Allerdings distanziert sich Hall auch von Derridas Vorstellung der différance und vor allem von deren Fortführung in der Literaturwissenschaft und Philosophie, die er als »ausgesprochen verfeinerten, verspielten Dekonstruktivismus, der nur noch ein endloses akademisches Spiel ist«, bezeichnet (Hall 1994a: 76). So grenzt sich Hall zwar einerseits von der Vorstellung fixierter Identitäten ab, wehrt sich aber auch gegen eine Vorstellung absoluter Nicht-Fixiertheit. Er tritt dafür ein, die Spannung zwischen dem auszuhalten, was platziert aber dennoch nicht an seinem Platz festgeschrieben ist. »Wir müssen daher über eine derartige Spielerei hinaus denken und uns der wirklich harten Aufgabe widmen, die das Spiel der Differenz für uns geschichtlich bedeutet. Denn wenn Sinnproduktion von der ständigen Neupositionierung ihrer differentiellen Ausdrücke abhängt, hängt auch die Bedeutung in jedem spezifischen Fall von einem kontingenten und arbiträren Punkt, einer notwendigen Unterbrechung ab.« (Hall 1994a: 76)

Mit der Vorstellung einer solchen ›Unterbrechung‹, durch die Bedeutung hergestellt werden kann, knüpft Hall wiederum an die Diskurstheorie Laclaus und Mouffes an (vgl. Kap. 3.2.3). Er geht davon aus, dass die Bedeutung einer Signifikantenkette teilweise fixiert werden muss, um überhaupt etwas sagen zu können. Die Unentscheidbarkeit muss durch eine Entscheidung aufgelöst werden. Das Subjekt muss sich mit einem bestimmten Inhalt identifizieren (vgl. Laclau/Zac 1994: 31 ff.; Laclau 1996): »[…] to say anything at all in particular, you do have to stop talking. Of course every full stop is provisional. […] It is not forever, not totally universally true. It’s not underpinned by any infinite guarantees. But just now, this is what I mean; this is who I am. […] Full stop. OK.« (Hall 1997a: 136) Ein solcher ›full stop‹ ist – so Hall – keineswegs natürlich und dauerhaft. Er widerspreche daher auch nicht dem ursprünglichen Verständnis von différance. Jede Positionierung ist für Hall (1994c: 34) »›strategisch‹ und arbiträr«, aber – und das ist für Hall zentral – wir müssen positioniert sein, um etwas sagen zu können. In diesem Zusammenhang vergleicht Hall Identität mit einem Bus. Man könne nur irgendwo ankommen, indem man in den Bus einsteige. Dabei sei völlig klar, dass das Ticket, das man hierzu brauche, niemals die ganze Person verkörpere; dennoch müsse man ein Ticket kaufen, um den Bus benutzen zu können. In gleicher Weise müsse man eine Position einnehmen, um etwas sagen zu können (vgl. Hall 1995a: 65 f.). Selbst wenn wir uns

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DISKURS UND SUBJEKT

nur positionieren, um diese Position später wieder aufzugeben, müssen wir »in die Sprache eintreten, um aus ihr herauszukommen« (Hall 1994a: 77). Als Beispiel hierfür kann ein Zeitungsinterview aus dem Jahr 1995 mit dem Leichtathleten Linford Christie dienen, das Hall in seinem für eine Seminarreihe an der Open University aufbereiteten Lehrbuch Representation. Cultural representations and signifying practices (1997b) zitiert. Christie kommentiert hierin die an ihn gestellte Frage nach seiner kulturellen Identität und berichtet von seinen Kindheitserinnerungen an Jamaika, wo er bis zu seinem achten Lebensjahr lebte. Dennoch folgert er: »I’ve lived here [in the UK] for 28 [years]. I can’t be anything other than British.« (zit. n. Hall 1997c: 230) Mit dieser Aussage positioniert sich Christie als Brite, obwohl durchaus auch andere Positionierungen denkbar und möglich gewesen wären. Die Formulierung: ›Ich kann nichts anderes sein‹, deutet auf eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Frage hin. Christie setzt für sich einen Punkt. Er trifft eine eindeutige Entscheidung, mit der er gleichzeitig deutlich macht, dass es sich nicht um eine selbstverständliche ›Wahrheit‹ handelt (vgl. Supik 2005: 87 f.). Es wird eine Subjektposition eingenommen, aber dabei die Möglichkeit anderer Positionierungen nicht ›vergessen‹. Hall geht davon aus, dass wir die Spuren einer Vergangenheit in uns tragen, wobei es sich bei dieser Vergangenheit nicht um eine reine Tatsache handle. Sie müsse wieder entdeckt, neu erfunden und in Erzählungen verwandelt werden (vgl. Hall 1994a: 84f.). Kulturelle Identität sei daher nicht fixiert, sondern immer hybrid (vgl. Kap. 2.4.1). Doch sie könne »eine ›Positionalität‹ konstituieren, die wir vorläufig Identität nennen« (Hall 2000a: 32). Ausschlaggebend sei hierbei, welche Geschichten wir uns vom eigenen Ich erzählen. »Identität ist innerhalb des Diskurses, innerhalb der Repräsentation. Sie wird zum Teil durch die Repräsentation konstruiert. Identität ist eine Erzählung (narrative) vom Selbst; sie ist die Geschichte (story), die wir uns vom Selbst erzählen, um zu erfahren, wer wir sind. Wir zwängen ihr eine Struktur auf.« (Hall 1999: 94)

4.5 Zwischenresümee Hall betont in seinen Arbeiten die Hybridität kultureller Identitäten, die uneindeutig, ambivalent und kontingent sind. Sie sind Bestandteil von Diskursen und werden durch Diskurse konstruiert (vgl. Lutter/Reisenleitner 2002: 84 f.; Winter 2005: 275). Subjekt und Diskurs sind also in Halls Subjektkonzeption – so wie bereits bei Foucault (vgl. Kap. 3.2.2) – eng miteinander verknüpft. Im Unterschied zu Foucault betont Hall jedoch hierüber hinaus die Möglichkeit von Handlungsmacht (agency). Er geht – Laclau und Mouffe folgend – 139

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

davon aus, dass ein Subjekt in verschiedenen diskursiven Kontexten unterschiedliche Identitäten annimmt. Insofern versteht er jede kulturelle Identität als Artikulation (vgl. Hepp 1999: 55); als (zeitweilige oder mögliche) Identifikation mit einer bestimmten Position. Das Subjekt müsse nicht nur in eine Subjektposition hineingerufen werden, sondern auch in diese investieren. Dabei sei jede Positionierung als strategisch zu verstehen. Sie ist eine bewusste Entscheidung gegen frei flottierende Signifikanten und endgültige Schließungen. Sie ist eine Intervention, eine Unterbrechung des diskursiven Flusses (vgl. Davis 2004: 186). Die Unentscheidbarkeit wird durch eine Entscheidung aufgelöst (vgl. auch Winter 2001: 321 f.). Folgt man den geschilderten Überlegungen, so müssten sich die Möglichkeiten der Artikulation auch oder sogar insbesondere in biographischen Erzählungen widerspiegeln. Denn beim Sprechen müssen Positionierungen eingenommen werden, wobei von Diskursen abhängig ist, welche Positionierungen zur Verfügung stehen. Werden Biographien nun als Artikulationen analysiert (vgl. Lutz/Schwalgin 2006; Lutz 2010), müssten diese Positionierungen herausgearbeitet werden können. Gleichzeitig könnten hier Verortungen sichtbar werden, die den Artikulationscharakter des Zusammenhangs zwischen Diskurs und Subjekt aufzeigen, wenn also z.B. eine Positionierung eingenommen, gleichzeitig jedoch auch auf die Möglichkeit alternativer Positionierungen verwiesen wird. Es ließe sich dann nicht nur rekonstruieren, welche Positionierungen eingenommen werden, sondern auch, auf welche Art und Weise dies geschieht. Dies würde bedeuten, dass gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen der Produktion von Biographien dann tatsächlich aus den Biographien heraus »mit Hilfe biographischer Einzelfallanalysen strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können« (Dausien et al. 2005: 7f.). Jede Biographieanalyse wäre dann als Diskursanalyse zu verstehen. Mit dem Konzept der Artikulation ließe sich also eine Brücke von der Diskurs- zur Biographieforschung schlagen. Dies gelingt jedoch nur, wenn – aus theoretischer Perspektive – von einem nicht-identischen, dezentrierten oder fragmentierten Subjekt und von einer Vielfalt an Handlungs- und Deutungsstrukturen ausgegangen wird, die verwoben, aber auch unverbunden existieren können (vgl. Kap. 4.1). Werden diese Prämissen beachtet, werden identitätslogische Zuschreibungen durch die Forschung vermieden. Es lassen sich dann Verortungen im Interview als Subjektpositionen im Diskurs fassen. Eine solche Perspektive wiederum ist anschlussfähig für eine intersektionelle Analyse von Biographien (vgl. Kap. 2.4.3). Denn wenn das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt als Artikulation verstanden wird; als eine Möglichkeit der Verknüpfung, die auch wieder gelöst und neu verbunden werden kann (dis-articulation und re-articulation), so lassen sich auf diese Weise

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DISKURS UND SUBJEKT

auch intersektionelle Verortungen innerhalb unterschiedlicher Differenzlinien fassen (vgl. Lutz/Schwalgin 2006: 108). So könnte z.B. eine Selbstpositionierung als ›Türke‹ bzw. ›Türkin‹ im Interview als das Einnehmen einer Subjektposition innerhalb eines kulturalisierenden und ethnisierenden Diskurses verstanden werden. Die Position wird eingenommen, um sprechen zu können. Dies heißt jedoch nicht, dass der/die Interviewte sich ausschließlich als ›Türke‹ bzw. ›Türkin‹ verortet. Denn innerhalb eines anderen Diskurses können andere Subjektpositionen eingenommen werden, die möglicherweise sogar einer Positionierung als ›Türke‹ bzw. ›Türkin‹ widersprechen. Eine Analyse von Biographien als Artikulationen öffnet also den Blick für eine hybride Perspektive. Auf diese Weise lassen sich antagonistische Positionierungen sowie deren Modalitäten innerhalb eines Interviews beschreiben. Es kann danach gefragt werden, wann welche Position eingenommen – oder auch wieder verlassen wird. Und innerhalb welches gesellschaftlichen (Teil-)Diskurses37 eine solche Position eingenommen wird. Darüber hinaus kann nach den Möglichkeiten von Handlungsmacht gefragt werden: In welchem Zusammenhang wird eine Position auf welche Art und Weise gefüllt? Was versteht, der/die Jugendliche darunter, wenn er/sie von sich als ›Türke‹ bzw. ›Türkin‹ spricht? Reproduziert er/sie damit das öffentliche Bild oder versteht er/sie unter der Bezeichnung etwas ganz anderes? Möglicherweise wird das Anderssein umgewertet zum Besonderssein oder die eigene Gruppe wird lediglich zugunsten einer Abgrenzung gegenüber anderen vereinheitlicht. Diese Fragen lassen sich auf theoretischer Ebene nicht beantworten. Doch bevor es gelingen kann, ihnen in der Empirie nachzugehen, wird es zunächst darum gehen, ein methodisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich Biographien als Artikulationen intersektionell analysieren lassen.

37 Ob es sich hierbei um unterschiedliche Diskurse oder um verschiedene Teildiskurse innerhalb eines Diskurses handelt, hängt davon ab, wie weit oder eng der Diskursbegriff in Bezug auf das Thema gefasst wird. Letztlich ließe sich diese Frage nur empirisch mithilfe einer eigenständigen Diskursanalyse beantworten. Da ich diese im Rahmen der Arbeit nicht durchgeführt und stattdessen (vereinfachend) mich mit den Themen Migration, Männlichkeit und Kriminalität im gesellschaftlichen Diskurs auseinandergesetzt habe (vgl. Kap. 2), kann ich hierzu keine genauen Aussagen machen. Ich spreche daher von Subjektpositionen innerhalb unterschiedlicher Diskurse – wohl wissend dass es sich hierbei möglicherweise lediglich um Teildiskurse innerhalb eines größeren Diskurses handeln könnte. 141

5. Methodische Modifikationen und Forschungsprozess

Wie lassen sich nun die theoretischen Implikationen in der Forschungspraxis umsetzen? Wie können Halls Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Diskurs und Subjekt für die Analyse fruchtbar gemacht werden? Und wie können gleichzeitig verschiedene Differenzlinien in ihrem Zusammenhang betrachtet werden, um die Beziehung zwischen Migration, Männlichkeit und Kriminalität zu beschreiben und sich den Lebenserfahrungen der Jugendlichen anzunähern, ohne auf skandalisierende Verkürzungen zurückzugreifen? Wie lassen sich also Biographien als Artikulationen intersektionell analysieren? Diese Fragen möchte ich im Folgenden diskutieren und gleichzeitig mein methodisches Vorgehen vorstellen. Die Analyseschritte der biographischen Fallrekonstruktion habe ich – so wie sie in dieser Arbeit verwendet wurden – bereits in Kap. 3.3 vorgestellt. Hier soll es nun um die methodischen Modifikationen bzw. Ergänzungen gehen, die nötig sind, um die v.a. in Kap. 2 und 4 aufgeworfenen Fragen und Überlegungen in die Analyse integrieren zu können. Hierzu werde ich in zwei Schritten vorgehen und zunächst die Positionierungsanalyse (Kap. 5.1.1) vorstellen, mit deren Hilfe eine diskurstheoretische Perspektive in die Analyse aufgenommen werden soll. Anschließend möchte ich auf die Intersektionalitätsanalyse eingehen (Kap. 5.1.2) und darstellen, wie diese ebenfalls in die biographische Fallrekonstruktion einbezogen werden kann. Hierüber hinaus werde ich in diesem Kapitel (5.2) den Forschungsprozess beschreiben und auf die spezifischen Bedingungen der Kontaktaufnahme und der Interviewführung sowie auf die Rolle der Akten, die Transkription, Anonymisierung, Ansprache und die Auswahl der Fälle eingehen. Zum Schluss werde ich die einzelnen Schritte der Analyse nochmals benennen und mein konkretes Vorgehen darstellen.

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

5.1 Erweiterung des methodischen Repertoires Das Ziel einer intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen besteht in der Rekonstruktion von Lebensgeschichten mit dem Fokus, das Gewordensein und Werden unter dem Einfluss intersektionell verschränkter Diskurse zu analysieren. Dabei gehe ich davon aus, dass Biographien aus einer Vielzahl verschiedener Diskurse konstruiert werden (vgl. Kap. 4). Um sprechen zu können, muss jedoch eine bestimmte Subjektposition im Diskurs eingenommen werden. Eine solche Positionierung ist weder als natürlich, noch als dauerhaft zu verstehen. So können in verschiedenen diskursiven Kontexten unterschiedliche Subjektpositionen angenommen werden. Dies bedeutet, dass Biographien abhängig vom situativen und kommunikativen Kontext sind (vgl. Kap. 3.2.3), da hier – je nach Gegenüber, institutionellem Setting oder Zeit – unterschiedliche Diskurse dominant sein können. Doch auch innerhalb eines Diskurses genügt es nicht, dass ein Subjekt in eine Subjektposition hineingerufen wird, sondern es muss auch in diese investieren. Biographische Lebenserzählungen lassen sich dementsprechend verstehen als Artikulationen, als intersektionelle Verortungen innerhalb unterschiedlicher Differenzlinien, die gekennzeichnet sind durch einen »Dialog von Macht und Widerstand, von Verweigerung und Anerkennung« (Hall 1994c: 38).

5.1.1 Analyse von Positionierungen im Diskurs Ein erster Schritt bei der intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen besteht daher darin, Positionierungen herauszuarbeiten, die der/die Einzelne innerhalb seiner/ihrer biographischen Erzählung einnimmt. Ein solches Instrumentarium wurde von Michael Bamberg (1999b; 2003; Talbot et al. 1997) entwickelt, der sich hierbei auf Ansätze der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (vgl. z.B. Bergmann 1988; Ayaß 2005) und der Discursive Psychology (vgl. z.B. Harré/van Langenhove 1999; Davies/Harré 1990/ 2001) stützt.1 Eine Positionierung bezeichnet – zurückgehend auf das von Hollway (1984) eingeführte Konzept des positioning – in diesen Forschungstraditionen zunächst einmal »ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen als Personen her- und darstellen« (Lucius-Hoene/Depper1

Das Potential von Bambergs Positionierungsanalyse, die im deutschsprachigen Raum vor allem von Gabriele Lucius-Hoene & Arnulf Deppermann (2004a; 2004b) aufgegriffen und weiter entwickelt wurde, wurde auch von anderen Autoren und Autorinnen bereits beschrieben. So sieht Neill Korobov (2001) in Bambergs Positionierungsanalyse eine Möglichkeit, Konversationsanalyse und Kritische Diskursanalyse miteinander zu verknüpfen, und Martina Goblirsch (2010) nutzt die Positionierungsanalyse, um Interaktionen in narrativ-biographischen Interviews mit Jugendlichen zu analysieren.

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METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

mann 2004a: 168). Interviewte positionieren sich im Erzählen »zu den Handlungsträgern, die im Dort und Dann der Erzählung konstruiert werden«, und gleichzeitig gegenüber dem/der Interviewenden (Bamberg 1999a: 52). Denn durch das Einnehmen einer Position werden auch alle anderen, die an der Erzählung bzw. dem Gespräch beteiligt sind, positioniert. Jede Selbstpositionierung enthält also eine Fremdpositionierung, die unterschiedliche Reaktionen oder ›Ko-Narrationen‹ der Zuhörer evozieren kann: Sie können die ihnen zugewiesene Position annehmen oder ihr widersprechen, sie können die Positionierungs-Berechtigung des Erzählers bzw. der Erzählerin in Frage stellen oder mit kritischen Bemerkungen und Gegengeschichten antworten. Jede Fremdpositionierung sagt hierbei etwas über das Fremdbild des Positionierers aus, jede (Selbst-)Positionierung vermittelt, wie der-/diejenige, der/die spricht, gesehen werden möchte bzw. sich selbst sieht (vgl. z.B. Brockmeier/Harré 2005; Fischer 2006).2 Positionierungen werden im Gespräch eingenommen, sind jedoch abhängig von Diskursen. Bamberg unterscheidet hierbei zwei Sichtweisen: Die traditionellere Sichtweise im Anschluss an Foucault beschreibe Positionierungen »as grounded in discourses [...] which are viewed as providing the meanings and values within which subjects are ›positioned‹« (Bamberg 2003: 1; vgl. auch Korobov/Bamberg 2007). Die andere Sichtweise widme sich dem Problem der Handlungsmacht (agency) und verstehe Diskurse als widerstreitend und in Konkurrenz zueinander, so dass Subjekte gezwungen sind, zu entscheiden, welche Position sie unter den verfügbaren Positionen wählen wollen. Bamberg (2003) unterscheidet also zwischen einer eher determinierenden Sichtweise des ›positioniert Werdens‹ und einer mehr handlungsorientierten Sichtweise des ›sich selbst Positionierens‹. Letztere Sichtweise ist innerhalb der Discursive Psychology weit verbreitet. So schreiben z.B. auch Bronwyn Davies & Rom Harré (1999: 35): »Once having taken up a particular position as one’s own, a person inevitably sees the world from the vantage point of that position and in terms of the particular images, metaphors, storylines and concepts which are made relevant within the particular discursive practice in which they are positioned. At least a possibility of notional choice is inevitably involved because there are many and contradictory discursive practices that each person could engage in. […] An individual emerges through the 2

Für Rom Harré & Luk van Langenhove (1999) stellt das Konzept der Positionierung eine Alternative zum Goffmanschen Rollenkonzept dar, da es vor allem dem Prozess der Identitätsentwicklung und -zuweisung in der Interaktion Rechnung trägt. Positionen transportieren meist einen hohen Bedeutungsüberschuss und erschöpfen sich häufig nicht in den manifesten sprachlichen Zuschreibungen, sondern verweisen darüber hinaus auch auf den jeweiligen autobiographischen Erfahrungshintergrund eines Sprechers (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 201 f.). 145

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

processes of social interaction, not as a relatively fixed end product but as one who is constituted and reconstituted through the various discursive practices in which they participate. Accordingly, who one is, […] is always an open question with a shifting answer depending upon the positions made available within one’s own and others’ discursive practices and within those practices, the stories through which we make sense of our own and others’ lives. Stories are located within a number of different discourses, and thus vary dramatically in terms of the language used, the concepts, issues and moral judgements made relevant, and the subject positions made available within them. In this way, poststructuralism shades into narratology.«

Diese Überlegungen gehen – meiner Meinung nach – in eine ähnliche Richtung wie Halls Überlegungen, auch wenn bei Hall kein Verweis auf Hollway oder Davies & Harré zu finden ist, und Bamberg sich explizit auf Butler bezieht3 und – im Anschluss an Harré – v.a. den Einfluss interaktiver bzw. kommunikativer Aspekte stark macht (vgl. Bamberg 2003; Korobov 2001; Korobov/Bamberg 2007). Doch sowohl Hall als auch Bamberg geht es auf theoretischer Ebene um die Integration von Handlungsmacht; und beide kritisieren bei Foucault, dass genau dies fehle. Insofern scheint mir die von Bamberg entwickelte Positionierungsanalyse ein geeignetes Instrumentarium, um das, was Hall auf theoretischer Ebene beschreibt, empirisch untersuchen zu können. Bamberg definiert seine Positionierungsanalyse als »[...] empirically grounded analysis of how subjects construct themselves by analyzing the positions that are actively and agentively taken in their narratives vis-à-vis normative discourses« (Bamberg 2003: 10). Methodisch geht er hierbei in drei Schritten vor: Zunächst wird mit der Analyse von Erzählungen4 begonnen. Es wird danach gefragt, wie der/die Akteur/-in bzw. die Akteure innerhalb einer Erzählung in das zeitliche und räumliche Arrangement eingebunden ist bzw. sind; wie sie also innerhalb einer Erzählung positioniert werden (Positioning Analysis Level 1). Im zweiten Auswertungsschritt wird das interaktive Setting analysiert, innerhalb dessen die spezifischen Positionierungen einer Erzählung erst möglich wurden. Hierzu werden die »conversational bids« (Bamberg 2003: 9), die eine Erzählung rahmen, analysiert und nach deren Funktion gefragt, die sie auf die Positionierungen innerhalb der Erzählung haben (Positioning Analysis Level 2). Schließlich wird im letzten Auswertungsschritt analysiert, wie Sprecher/-in und Zuhörer/-in sich durch die Art und Weise, wie die Akteure in der Erzählung positioniert werden bzw. wie sie durch die Inter-

3 4

Zu den Parallelen in den Arbeiten Butlers und Halls vgl. Kap. 4.1. Bamberg definiert Erzählungen in Anlehnung an Labov & Waletzky (vgl. Kap. 3.2.1), wobei er die Positionierungsanalyse zum Teil auch anwendet, wenn nicht explizit erzählt, sondern z.B. diskutiert oder argumentiert wird (vgl. Korobov/ Bamberg 2007; Talbot et al. 1997).

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aktion Einfluss nehmen auf die Erzählung, sich selbst und gegenseitig positionieren (Positioning Analysis Level 3). Bambergs hauptsächliches Analyseinteresse liegt meist auf der Rekonstruktion narrativer Identitäten und deren Beeinflussung durch die Kommunikation.5 In ihrem Aufsatz Affirmation and resistance of dominant discourses (Talbot et al. 1997) haben Bamberg et al. jedoch ganz konkret untersucht, wie dominante Diskurse das, was in einem Interview erzählt (bzw. – im konkreten Fall eher – wie in einem Interview argumentiert) wird, beeinflussen und inwiefern aber auch diesen Diskursen Widerstand geleistet werden kann. Hierzu haben sie zwei Interviews mit jeweils einer schwangeren Frau analysiert, deren Schwangerschaft als Risiko eingestuft wurde. Aus diesen Interviews wurden Textstellen herausgesucht, in denen (a) sich die Frauen und andere in aufeinander bezogenen Aktionen befinden, (b) konkrete Aktionen bzw. Beschreibungen von Aktivitäten genutzt wurden, um Anspruch darauf zu erheben, was ›wahr‹ oder wie etwas ›wirklich‹ ist, und die (c) Anspruch auf Wissen und Autorität enthalten. Anschließend wurden diese Textstellen dann auf ihre diskursiven Implikationen hin befragt und es wurden – nach den Schritten der Positionierungsanalyse – Positionierungen im Interview herausgearbeitet (vgl. Talbot et al. 1997). Für das Anliegen dieser Arbeit stellt eine solche Herangehensweise in Anlehnung an Talbot et al. (1997) eine sinnvolle Ergänzung zur biographischen Fallrekonstruktion dar. Ich werde daher bei der Auswertung der Interviews Textstellen aus dem Material heraussuchen, in denen Positionierungen aktiv verhandelt oder eingenommen werden. Dies können Textstellen (v. a. Argumentationen) sein, in denen Bezug genommen wird auf normative und/oder moralische Regeln; in denen also z.B. dargestellt wird, wie etwas ›wirklich‹ ist, was ›wahr‹ oder ›richtig‹ ist bzw. wie etwas sein sollte. Es können aber auch Textstellen (v. a. Erzählungen und Beschreibungen) sein, in denen (explizit oder implizit) konkrete Positionen (z.B. als Türke oder Anderer) bezogen werden. Diese Textstellen werde ich zunächst einer Feinanalyse unterziehen (vgl. Kap. 3.3.3), d.h. ohne Kontextwissen sequentiell analysieren. Anschließend 5

Meist analysiert Bamberg ›natürliche‹ Interaktionen, d.h. solche, die nicht innerhalb einer Forschungsinteraktion entstanden sind. In seinem Aufsatz Positioning with Davie Hogan (2003) untersucht er bspw. einen Ausschnitt aus dem Film Stand By Me (1986), in dem vier 12-jährige Jungen um ein Lagerfeuer sitzen und einen der Jungen, Gordie, dazu auffordern, ihnen eine Geschichte zu erzählen. Dabei geht es Bamberg darum zu zeigen, dass Subjekte in Erzählungen nicht einfach ihr bereits bestehendes Selbst vorführen und dass Identitäten auch nicht aus der Schublade bereits existierender normativer Diskurse gezogen werden. Vielmehr würden Subjekte »agentively construct their situated positions, and in this process both normative discourses as well as their individual sense of self are called into existence« (Bamberg 2003: 10). 147

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

werden – den Auswertungsschritten von Bambergs Positionierungsanalyse folgend – diese Textsellen weiter untersucht. Hierbei werde ich erstens danach fragen, wie die Akteure6 innerhalb des beschriebenen Ereignisses positioniert werden und wie sie sich selbst (gegenüber anderen) innerhalb des Ereignisses positionieren. Anschließend werde ich zweitens das interaktive Setting analysieren, also nach der Funktion fragen, die die jeweiligen kommunikativen Rahmungen auf die Positionierungen innerhalb des Geschilderten haben (könnten). Dabei geht es auch um die Frage, wie sich meine Interviewpartner gegenüber mir als Interviewerin bzw. gegenüber einem imaginierten Publikum positionieren bzw. präsentieren. Schließlich werde ich drittens analysieren, wie Interviewter und Interviewerin sich durch die Art und Weise, wie die Akteure in der jeweiligen Textstelle positioniert werden und/oder wie sie durch die Interaktion Einfluss nehmen auf die Erzählung bzw. das Gesagte, sich selbst und gegenseitig positionieren. Dabei geht es mir vor allem um die Frage, wie die Interviewten sich gegenüber sich selbst positionieren, wie sie sich also im Interview ihrer selbst und dem, was ihnen wichtig ist, versichern (vgl. Talbot et al. 1997). Mithilfe einer solchen Vorgehensweise lassen sich Fremd- und Selbstpositionierungen innerhalb einer erzählten Lebensgeschichte analysieren und hierdurch die situativen und kommunikativen Bedingungen, unter denen ein Interview stattfindet und die das Interview beeinflussen (vgl. Kap. 3.2.3), berücksichtigen (vgl. hierzu auch Goblirsch 2010: 92 ff.). Daneben lässt sich – natürlich nicht unabhängig von diesen Bedingungen – der Einfluss gesellschaftlicher Diskurse herausarbeiten. Dies gelingt, wenn nicht nur rekonstruiert wird, wie die Interaktanten eines Interviews ihre jeweiligen Positionen im sozialen Raum festlegen, beanspruchen, zuweisen und aushandeln (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 196), sondern – hierüber hinausgehend – bei jedem Auswertungsschritt auch danach gefragt wird, innerhalb welchen Diskurses eine bestimmte Position eingenommen wird; welche Subjektposition also im konkreten Fall gefüllt wird (vgl. hierzu auch Anthias 2002). Schließlich können – davon gehe ich aus, auch wenn dies von Bamberg so nicht intendiert wird – »Erbschaften des Gebrauchs« (Reh 2003: 84) analysiert werden. Es kann – ganz im Sinne Halls – danach gefragt werden, inwiefern eine Subjektposition tatsächlich eingenommen wird; ob sie lediglich strategisch gefüllt, ironisch gebraucht oder zitiert wird oder ob eine Positionierung nur innerhalb eines bestimmten Zusammenhangs von Gültigkeit ist, innerhalb eines anderen Zusammenhangs aber dieser Positionierung widersprochen wird.

6

Ich spreche hier vereinfachend von Akteuren im Plural, wobei es natürlich auch möglich ist, dass innerhalb eines beschriebenen Ereignisses nur ein/-e Akteur/-in auftritt.

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5.1.2 Intersektionalitätsanalyse Mithilfe von Bambergs Positionierungsanalyse kann also nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf empirischer Ebene eine diskurstheoretische Perspektive in die Arbeit mit einbezogen werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Biographien als Artikulationen zu analysieren und z.B. eine Positionierung als Türke hinterfragen zu können: Wann wird eine solche Positionierung eingenommen? In welchem Zusammenhang und wie wird sie verwendet? Innerhalb welcher Diskurse wird auf eine solche Positionierung zurückgegriffen? Welchen Einfluss hat hierauf auch die Interviewsituation und die Zeit, in der das Interview stattfindet? Solche Fragen wirken bereits präventiv auf eindimensionale Zuschreibungen durch die Forschung und öffnen den Blick für subversive bzw. widerständige Verortungen innerhalb des Materials. Doch Biographien werden aus einer Vielzahl intersektionell verschränkter Diskurse konstruiert. Um die unterschiedlichen Verortungen innerhalb eines Interviews analysieren zu können, bedarf es daher eines zusätzlichen Instrumentariums, mit dessen Hilfe nicht nur Positionierungen, sondern auch die Komplexität des Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren (z.B. Ethnizität, Geschlecht und sozialstrukturelle Benachteiligung) berücksichtigt werden kann. Es geht darum, »die Stoßkraft einer Interpretation zu bremsen, abzulenken und zu verkomplizieren« (Bal 2002: 18) und auf diese Weise zuschreibende Differenzvorstellungen – auch innerhalb der eigenen Forschung – in Frage zu stellen. Eine weitere methodische Modifikation besteht daher darin, die Biographien intersektionell zu analysieren. Die Grundidee der Intersektionalitätsanalyse basiert darauf, »dass es notwendig und möglich ist, Gender, ›Rasse‹/ Ethnizität, Klasse, Sexualität und Nationalität in ihrem Zusammenspiel und in Bezug auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkung auf Identitätskonstruktionen zu untersuchen, ohne dabei eine analytische Kategorie zu bevorzugen« (Lutz/Davis 2005: 231; vgl. auch Lutz 2001a: 222; Anthias 2002). Es geht nicht darum, verschiedene Identitäten unter einer zu finden; denn dies würde dem Ansatz der ›triple-oppression-theory‹ entsprechen, der gerade durch die Intersektionalitätsanalyse überwunden werden sollte (vgl. Kap. 2.4.3). Stattdessen soll es darum gehen, die verschiedenen Weisen, in denen Differenzlinien miteinander verwoben sind und sich gegenseitig überlagern, zu analysieren und zu untersuchen, wie diese mit politischen und subjektiven Identitätskonstruktionen sowie dem (nicht vorhandenen) Zugang zu Macht und sozialen Ressourcen zusammenhängen (vgl. Riegel/Geisen 2007: 14). Zum Teil wird jedoch kritisiert, dass Veröffentlichungen, die unter dem Label ›Intersektionalitätsanalyse‹ laufen, doch wieder in eine additive Form zurückfallen. Dies führe zum Ausschluss mehrfach Minorisierter: Homosexuelle ohne Migrationshintergrund und heterosexuelle Migrant/-innen teilten 149

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sich die »Diskursmacht auf Kosten von ethnisierten Schwulen, Lesben und Bisexuellen« (Erel et al. 2007: 243; vgl. auch Yuval-Davis 2006: 197). Auch wird kritisiert, dass viele Intersektionalitätsanalysen lediglich die Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität und Sexualität berücksichtigten, andere hingegen unsichtbar blieben. Darüber hinaus wird auch der Begriff intersectionality selbst kritisiert, da »damit die Vorstellung einer Kreuzung nahe gelegt wird, an der unterschiedliche Machtachsen zusammentreffen« und es klinge, als ob »Machtverhältnisse jenseits der Kreuzung scheinbar unbeeinflusst voneinander existieren« (Dietze et al. 2007: 9, Herv. i.O.; vgl. auch Winker/Degele 2009: 13). Auch sei zu beobachten, dass es zu einer unkritischen Betrachtung der Wirkungsweise unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, durch die das Subjekt strukturiert wird, komme, die daraus resultierenden asymmetrischen Machtbeziehungen jedoch aus dem Blick gerieten (vgl. Erel et al. 2007: 245). Gegen diese Kritik ist einzuwenden, dass aus theoretischer Perspektive immer wieder sehr dezidiert darauf verwiesen wird, dass neben Geschlecht, Ethnizität und Sexualität auch andere Differenzlinien zu berücksichtigen seien (vgl. z.B. Lutz 2002) und dass die Stärke des Konzepts (und auch des Begriffes ›intersectionality‹) »gerade im Hinweis auf ein je spezifisches Zusammenwirken verschiedener Machtverhältnisse liegt« (Karakayal 2010: 66, Herv. i.O.). Dieses Machtverhältnis gilt es für jede einzelne Situation zu analysieren und auf diese Weise die Komplexität des alltäglichen Lebens in einer nicht-essentialistischen Weise zu beschreiben. Gelingen kann dies vor allem dann, wenn im Zusammenhang mit Intersektionalitätsanalysen immer auch die – von Mari J. Matsuda (1991) so bezeichnete – ›andere Frage‹ gestellt wird (vgl. Lutz 2002): »The way I try to understand the interconnection of all forms of subordination is through a method I call ›ask the other question‹. When I see something that looks racist, I ask, ›Where is the patriarchy in this?‹ When I see something that looks sexist, I ask, ›Where is the heterosexism in this?‹ When I see something that looks homophobic, I ask, ›Where are the class interests in this?‹ Working in coalition forces us to look for both the obvious and non-obvious relationships of domination, helping us to realize that no form of subordination ever stands alone.« (Matsuda 1991: 1189)

Für die Analyse bedeutet dies, dass immer auch die Möglichkeit einer anderen Lesart berücksichtigt werden muss. Selbst wenn sehr offensichtlich das Thema Ethnizität bzw. Nationalität im Vordergrund zu stehen scheint, muss geprüft werden, ob nicht auch z.B. das Thema Männlichkeit oder ›Klasse‹ – im Sinne von sozialstruktureller Benachteiligung – eine Rolle spielen. Darüber hinaus ist bei der Intersektionalitätsanalyse – wie auch bei der biographischen Fallrekonstruktion und der Positionierungsanalyse – zum einen der (diskursi150

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ve) Kontext, in dem eine Subjektposition eingenommen wird, von großer Bedeutung; zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass jede Positionierung auch einen strategischen Charakter annehmen und dass eine Positionierung nie als repräsentativ für eine bestimmte soziale Gruppe gelten kann (vgl. Yuval-Davis 2006: 205; Anthias 2002: 500). In Bezug auf Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie bemerken Christine Riegel und Thomas Geisen z.B.: »Gerade in Reaktion auf ethnisierte Zuschreibungen oder auf Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen zeigt sich, dass ihre Selbstpositionierung im sozialen Raum nicht zwingend allein identifikatorischen Charakter hat, sondern auch ein strategisches und widerständiges Moment der Verortung enthält, um sich gegen die ihnen zugewiesene soziale Positionierung oder gegen (ethnisierte) Zuschreibungen (zum Beispiel als ›Türkin‹, als ›Aussiedler‹) und damit verbundenen Aussonderungen als Andere zu wehren und abzugrenzen [...].« (Riegel/Geisen 2007: 12)

Nicht zuletzt muss hierüber hinaus berücksichtigt werden, dass Differenzlinien »komplementär scheinen, aber hierarchisch funktionieren« (Lutz/Wenning 2001a: 20, Herv. i.O.). Sie »folgen der Logik hierarchischer Grunddualismen, die als Norm bzw. als Abweichung von der Norm funktionalisiert werden« (Lutz 2001a: 227). Um dies zu veranschaulichen haben Helma Lutz und Norbert Wenning in ihrer Einführung zum Sammelband Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft (2001b) eine Tabelle erstellt, in der sie 13 Kategorien aufzählen und den jeweiligen Grunddualismus benennen. Später wurde diese Liste von Helma Lutz auf 15 bipolare hierarchische Differenzlinien erweitert (vgl. Leiprecht/Lutz 2006: 220). Die links aufgeführte Seite gilt jeweils als Norm und die rechts aufgeführte Seite als Abweichung. Als Beispiel seien hier Kategorien aufgeführt, die innerhalb der gesellschaftlichen Diskurse über straffällige junge Männer mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie immer wieder auftauchen (vgl. Kap. 2): Tabelle 3: Differenzlinien Geschlecht:

männlich – weiblich

Ethnizität:

nicht ethnisch – ethnisch

Nation/Staat:

Angehörige – Nicht-Angehörige

Klasse/Sozialstatus:

etabliert – nicht etabliert

Kultur:

›zivilisiert‹ – ›unzivilisiert‹

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Religion:

säkular – religiös7

Besitz:

reich/wohlhabend – arm

Gesellschaftlicher Entwicklungsstand:

modern/fortschrittlich – traditionell/rückständig

(vgl. Leiprecht/Lutz 2006: 220) Eine solche Liste ist keinesfalls als abschließend zu verstehen (vgl. auch Kap. 2.4.3). Denn durch die Unabgeschlossenheit von Diskursen können andere Linien hervortreten und Positionierungen beeinflussen (vgl. Kap. 4.3.3).8 Gleichzeitig müssen in einem Interviewausschnitt nicht alle Linien explizit anwesend sein. Vor allem dann, wenn es um Positionierungen geht, die der Norm entsprechen, wird diese meist nicht explizit formuliert.9 Dennoch ist die Differenzlinie auch unausgesprochen wirksam (vgl. Lutz 2001a: 227f). Bei der Analyse müssen daher »offenkundige, auf den ersten Blick sichtbare Differenzerklärungen hinterfragt« (Lutz/Davis 2005: 231) und es muss danach gefragt werden, ob neben der/den offensichtlich sichtbaren Differenzlinie/n auch noch andere Linien wirksam sind (vgl. auch Erel et al. 2007: 247f). Dies bringt natürlich ein empirisches Problem mit sich. Denn innerhalb einer Analyse können niemals alle Differenzkategorien gleichermaßen einbezogen werden (vgl. z.B. Winker/Degele 2009: 15 ff.). Es kann daher nur darum gehen, für die Untersuchungsgruppe augenscheinlich relevante Differenzkategorien zu fokussieren und gleichzeitig offen zu bleiben, für Kategorien, die möglicherweise bei (alternativen) Positionierungen ebenfalls eine Rolle spielen. Für die hier vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass v.a. die in den dominanten Erklärungsansätzen immer wieder vorkommenden Kategorien (Ethnizität, Kultur, Geschlecht und Sozialstatus) in den Blick genommen werden. 7

8

9

Bezogen auf Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund ließe sich hier der Grunddualismus sicherlich auch beschreiben als säkular/christlich – muslimisch. Das in der Literatur in diesem Zusammenhang häufig verwendete ›etc.‹ wurde v.a. von Judith Butler kritisiert. Ihrer Meinung nach ginge es darum, ein »situiertes Subjekt« zu beschreiben, was jedoch nicht gelingen könne. Dem entsprechend sei das ›etc.‹ »ebenso ein Zeichen der Erschöpfung wie ein Zeichen für den unbegrenzbaren Bezeichnungsprozess selbst« (Butler 1991: 210). Von Nira Yuval-Davis (2006: 202 f.) wird diese Kritik jedoch weitgehend zurückgewiesen. Denn es sei wichtig die Differenzkategorien, die in bestimmten historischen Situationen konstruiert werden, zu unterscheiden und danach zu fragen, welchen Einfluss sie auf die Konstruktion spezifischer Positionierungen haben (vgl. auch Phoenix/Pattynama 2006: 188; Karakayal 2010: 68 ff.). Dies entspricht auch den Beobachtungen von Sylka Scholz (2004) und Michael Meuser (1998), die darauf hinweisen, dass Männlichkeit in ihren Interviews bzw. Gruppendiskussionen nicht thematisiert wird, obwohl es explizit Teil der Untersuchung war (vgl. Kap. 2.4.3).

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METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

Es geht darum zu fragen, wie sich die Jugendlichen bezüglich dieser Kategorien im Interview positionieren. Doch auch alternative Positionierungen sollen in den Blick genommen werden, was dann gelingen kann, wenn mithilfe der Positionierungsanalyse Textstellen untersucht werden, in denen Positionierungen aktiv verhandelt werden (vgl. Kap. 5.1.1). Darüber hinaus muss es darum gehen, bei der biographischen Fallrekonstruktion das Spektrum der Lesarten bewusst zu erweitern und immer auch ›die andere Frage‹ (Matsuda) zu stellen. Bei der Analyse der Interviews wurden in der Interpretationsgruppe z.B. zum Teil sehr schnell Hypothesen gebildet, die auf die ›andere‹ Kultur meiner Interviewpartner/-innen abzielten. Es wurde dann jedoch bewusst danach gefragt, was das im Interview Geschilderte auch mit Geschlecht oder sozial-struktureller Benachteiligung zu tun haben könnte bzw. welche Differenzlinien im Text außerdem von Bedeutung sein könnten. Auch wurde darüber reflektiert, inwiefern die eigenen Lesarten im Zusammenhang mit bestimmten Diskursen stehen, da Diskurse eben nicht nur eine biographische Erzählung, sondern auch die Auswertung biographischen Materials beeinflussen (vgl. Kap. 3.4; Bukow/Spindler 2006).

5.2 Der Forschungsprozess 5.2.1 Forschung in einem umstrittenen Feld Arbeiten, die sich mit den Themen ›Migration‹ und ›Kriminalität‹ beschäftigen, bewegen sich traditionell auf einem politischen und ideologischen Minenfeld. Häufig werden Forschungen zu diesem Thema mit der Begründung abgelehnt, dass Migrant/-innen »seit jeher argwöhnisch beobachtetes Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung seien« (Eisner 1998: 11) und dass die Thematisierung von ›kriminellen Migrant/-innen‹ dazu führe, dass ein kohärenter Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migration unterstellt werde. Auch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ganz ›normale‹ Migrant/innen, »die weder so defizitär sind, dass sie zum Gegenstand pädagogischer Maßnahmen gemacht werden müssen, noch so kulturell anders, dass sie als Produkte ihrer kulturellen Prägung ›uns‹ immer fremd bleiben müssen« (Sökefeld 2004: 22), in Forschungen meist nicht vorkommen. Eine Weigerung, sich mit dem Thema zu beschäftigen, kann jedoch zum einen dazu führen, dass die in den Kriminalitätsstatistiken vorliegenden Zahlen zu ›nichtdeutschen‹ Tatverdächtigen (vgl. Kap. 2.2) im gesellschaftlichen Diskurs polemisiert werden. Zum anderen liegt dadurch der Umkehrschluss nahe, dass z.B. keine besonderen Kriminalitätsprobleme unter jungen Migrant/-innen existieren, was m. E. nicht weniger problematisch ist, da hierdurch die spezifischen Lebenserfahrungen von Jugendlichen mit eigener oder 153

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

familiärer Migrationsbiographie unsichtbar gemacht werden. Es muss jedoch auch gesehen werden, dass sozialwissenschaftliche Forschung nicht nur der Analyse sozialer Differenz dient, sondern diese zugleich (re-)produziert und aktualisiert: Sie ist an der Konstruktion und Fortschreibung sozialer Differenz beteiligt (vgl. Mecheril et al. 2003). Ich habe mich dennoch – trotz anfänglicher Bedenken – dafür entschlossen, Interviews mit jungen Straffälligen zu führen, die eigene oder familiäre Migrationsbiographien haben, um den Zusammenhang zwischen biographischen Erzählungen und gesellschaftlichen Diskursen untersuchen zu können. Hierbei spielte sicherlich auch meine eigene Biographie eine wichtige Rolle. Zum einen habe ich mich seit 1998 intensiv mit dem Fall ›Mehmet‹ und den gesellschaftlichen Diskussionen um diesen Fall (vgl. Kap. 2) beschäftigt, zum anderen begleitete ich noch vor Studienbeginn eine Gruppe straffälliger Jugendlicher bei einer Präventionsmaßnahme und entschied mich aufgrund dieser Erfahrungen Kriminologie im Nebenfach zu studieren. Während meines Studiums beschäftigte ich mich dann intensiv mit den Themen Migration, Ethnizität und Kultur (vgl. Spies 2004) und absolvierte ein Praktikum bei der Bewährungshilfe. Durch dieses Praktikum (und eine weitere Begleitung einer Präventionsmaßnahme) hatte ich Zugang zum Feld, der mir letztendlich auch den Kontakt zu meinen Interviewpartner/-innen ermöglichte, wobei ich keine/n der Interviewten vor dem Interviewtermin kannte. Doch ein (persönliches) Interesse am und ein leichter Zugang zum Feld, sind natürlich noch keine Kriterien für eine Forschung, die potentiell Gefahr läuft, alienierende Zuschreibungen zu wiederholen und den gesellschaftlichen Diskurs über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund als anders oder speziell im Unterschied zu ›normalen‹ straffälligen Jugendliche zu reproduzieren (vgl. Kap. 2). Gleichzeitig befinde ich mich mit meinem Anliegen in einer Zwickmühle: Denn es geht mir mit meiner Forschung ja gerade um die Auswirkungen, die solche Diskurse und Zuschreibungen auf die Jugendlichen haben, und daher sehe ich mich in gewisser Weise mehr oder weniger gezwungen, dieses ›Spiel‹ auf einer bestimmten Ebene mitzuspielen. Durch die Integration einer intersektionellen Perspektive (vgl. Kap. 5.1.2), möchte ich jedoch versuchen, das was Mecheril et al. (2003: 107 ff.) als »Produktivität« und »zyklopische Tendenz« beschreiben, zu vermeiden: Es soll weder eine Perspektive fundiert werden, die Andere naturalisierend als Andere erkennt, noch sollen durch den Bezug auf ›ethnische Differenz‹ andere Differenzlinien (wie z.B. ›Klasse‹ oder ›Geschlecht‹) außer Acht gelassen werden. Dabei kann es nicht darum gehen, die Reproduktion und Aktualisierung sozialer Differenz gänzlich zu vermeiden. Denn – so schreiben auch Mecheril et al. – qualitative Forschung ist ein Medium der Wiederholung. Es muss jedoch »um die Reflexion der Frage [gehen], wie wiederholt wird« (Mecheril et al. 2003: 109; vgl. auch Reh 2001). 154

METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

5.2.2 Sample und Setting Zunächst hatte ich vor, Interviews mit Jugendlichen zu führen, die eigene oder familiäre Migrationsbiographien haben – ganz egal aus welchem Land sie oder ihre Eltern migriert sind. Ich bat also – nach vorheriger Genehmigung durch das zuständige Justizministerium – den Bewährungshelfer, bei dem ich sechs Jahre zuvor mein Praktikum absolviert hatte, mir bei der Kontaktaufnahme zu straffälligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu helfen. Als ›jugendlich‹ sollte hierbei gelten, wer nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurde. Das Jugendstrafrecht kommt zur Anwendung, »wenn ein Jugendlicher oder Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist« (§1 Abs. 1 JGG). Hierbei wird als Jugendliche/-r definiert, wer zum Tatzeitpunkt vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. Als Heranwachsende/-r gilt, »wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist« (§1 Abs. 2 JGG). Das Jugendstrafrecht wird für Heranwachsende dann angewendet, wenn »die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand« (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG) oder wenn »es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt« (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG). Eine Jugendstrafe bedeutet »Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt« (§ 17 JGG). Sie wird dann verhängt, wenn Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung (Verwarnung, Erteilung von Auflagen oder Jugendarrest) nicht ausreichen, oder wenn die Schwere der Schuld eine Strafe erforderlich macht (§ 17 Abs. 2 JGG). Dies heißt jedoch nicht, dass alle Jugendlichen, die einem/einer Bewährungshelfer/in unterstellt sind, Hafterfahrung haben. Denn die Vollstreckung oder Verhängung der Jugendstrafe kann nach § 21 bzw. § 27 JGG ausgesetzt werden. Die Jugendlichen bekommen dann zwischen einem Jahr und drei Jahren Bewährungszeit (§ 22 bzw. § 28 JGG), in der sie für höchstens zwei Jahre einem bzw. einer Bewährungshelfer/-in unterstellt sind (§ 24 bzw. § 29 JGG). Dieser bzw. diese steht dem bzw. der Jugendlichen »helfend und betreuend zur Seite« und überwacht die Erfüllung von Weisungen, Auflagen oder Zusagen des bzw. der Jugendlichen über seine bzw. ihre künftige Lebensführung (§ 24 Abs. 3 JGG). Die ersten Interviews habe ich im Februar und Mai 2006 geführt. 14 Tage nach meiner ersten Kontaktaufnahme zur Bewährungshilfe Ende Januar 2006

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bekam ich einen Rückruf aus der Bewährungshilfe. Das Telefon wurde an Tatjana10 weitergereicht: »Herr F. sagte mir, dass du dich mit mir unterhalten willst, ein langes Gespräch haben willst, und dass ich dir bei deiner Doktorarbeit helfen kann – und du mir bestimmt auch.«

So oder auf ähnliche Weise verlief der erste Kontakt zu einigen meiner Interviewpartner/-innen, wobei ich mich während dieses Gesprächs meist nur kurz mit Namen vorstellte und fragte, ob ich sie in nächster Zeit anrufen dürfe und wann ihnen ein Anruf passen würde. Häufig bekam ich von der Bewährungshilfe jedoch auch einfach nur einen Namen und eine Handynummer vermittelt, nachdem die Bewährungshelfer/-innen11 ›ihre‹ Probanden bzw. Probandinnen gefragt hatten, ob ich mit ihnen Kontakt aufnehmen dürfe. Dabei erklärten sie wohl den Jugendlichen – obwohl dies von mir so nicht intendiert war – dass ich eine Doktorarbeit schreibe und herausfinden möchte, ob Jugendliche mit einer anderen Sozialisation benachteiligt sind.12 Beim ersten Anruf stellte ich mich jeweils mit Namen vor und erklärte den Jugendlichen, dass ich im Rahmen meiner Doktorarbeit Interviews mit Jugendlichen führe, die einem bzw. einer Bewährungshelfer/-in unterstellt sind. Mein Interesse an ihrer eigenen oder familialen Migrationserfahrung ließ ich außen vor, um die Jugendlichen nicht von vornherein zum ›Anderen‹ zu machen oder zur Reproduktion spezifischer Diskurse zu animieren. Tatsächlich war ich ja auch nicht an ihrer Migrationsgeschichte, sondern ganz allgemein an ihrer Familien- und Lebensgeschichte interessiert (vgl. Kap. 3.2.2). Ich bedankte mich für den ersten Kontakt und fragte, ob sie bereit seien, sich auf ein Interview mit mir einzulassen. Dabei wies ich darauf hin, dass das Interview nichts mit der Bewährungshilfe zu tun habe, sondern anonymisiert werde und lediglich meiner eigenen Arbeit diene. Weitere Angaben zu Methode oder Hintergrund meiner Forschung machte ich nicht, und die Jugendlichen fragten auch nicht weiter nach. Dies hängt womöglich mit den Erklärungen zusammen, die die Jugendlichen bereits von ihrem bzw. ihrer Bewährungshelfer/-in bekommen haben. Es kann jedoch auch als erstes Anzeichen für das Machtverhältnis interpretiert werden, in dem das Interview von Anfang an stand: Die Jugendlichen fragten nicht weiter nach, da sie davon aus-

10 Bei allen hier verwendeten Namen handelt es sich bereits um anonymisierte Namen. 11 Insgesamt bekam ich von zwei Bewährungshelfern und einer Bewährungshelferin aus einer Stadt in Südwestdeutschland Kontakte vermittelt. 12 Auch dies ist sicherlich – neben den kommunikativen und situativen Bedingungen des Interviews (vgl. Kap. 3.2.3) – ein Faktor, der Einfluss auf die Interviews genommen hat und bei der Analyse berücksichtigt werden muss. 156

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gingen, sowieso kein Mitsprache- und Entscheidungsrecht zu haben. Die meisten Jugendlichen schienen darüber hinaus schlicht auch alltagsweltliche Vorstellungen darüber zu haben, wie solch ein Interview abläuft, was sich spätestens an ihren Nachfragen zu Beginn des Interviews zeigte (vgl. z.B. das Interview mit Murat, Kap. 7). Auf meine kurze Vorstellung hin, erhielt ich von keinem bzw. keiner der Jugendlichen eine Absage. Alle willigten ein, mit mir ein Interview zu führen. Auch dies kann zum einen damit zusammen hängen, dass sie bereits vorab ihr Einverständnis gegeben hatten und ich nur deshalb ihre Telefonnummer erhalten habe. Eine andere Erklärung wäre jedoch auch hier, dass der Kontakt über die Bewährungshilfe zustande kam und die Jugendlichen sich von daher verpflichtet fühlten, einzuwilligen. Die (Un-)Möglichkeit einer Absage könnte also wiederum als typisch für den Machtkontext interpretiert werden, innerhalb dessen die Kontaktaufnahme und auch das Interview stattfanden (vgl. Kap. 3.2.3). Auch wenn die erste Kontaktaufnahme also relativ einfach war, gestaltete sich alles weitere dann zumeist eher schwierig. Häufig bekam ich von den Jugendlichen erzählt, dass sie in nächster Zeit erst einmal keine Zeit hätten, sie in Urlaub fahren würden, viel arbeiten, zur Schule oder Sozialstunden ableisten müssten. Zum Teil baten sie mich, sie zu einem späteren Zeitpunkt nochmals anzurufen oder verabredeten mit mir einen Termin, der noch mehrere Wochen entfernt lag. Wenn ich dann kurz vor diesem Termin erneut anrief, hatten sie ihn häufig vergessen, und das Aushandeln begann von vorn. Dies alles kann als (legitime) Abwehrstrategie gelesen werden, als eine im Rahmen der Bewährungshilfe erlaubte bzw. übliche Form des Widerstands.13 Möglicherweise trauten sich die Jugendlichen – wegen der Verbindung zur Bewährungshilfe – nicht, mir direkt abzusagen und vertrösteten mich daher immer wieder auf später. Insgesamt habe ich über die Bewährungshilfe den Kontakt zu acht Jugendlichen vermittelt bekommen, wobei das Alter der Jugendlichen zwischen 17 und 25 Jahren lag.14 Sechs Interviews sind auch tatsächlich zustande gekommen. Einem Jugendlichen (Karl) fiel zu Beginn des Interviews ein, dass er eigentlich gerade einen Zahnarzttermin habe. Er verabredete mit mir, dass er diesen kurz absagen wolle, kam jedoch anschließend nicht wieder. Ein an13 Unter Umständen wendeten die Jugendlichen hier die gleiche Strategie an, die sie auch verwenden, wenn sie zu einem Termin mit ihrem bzw. ihrer Bewährungshelfer/-in erscheinen sollen. 14 Es ist bei einer solchen Altersspanne eigentlich nicht gerechtfertigt, von Jugendlichen zu sprechen. Da ich jedoch auch andere Bezeichnungen wie z.B. junge Erwachsene oder Heranwachsende nicht besonders geglückt finde, habe ich mich entschlossen, zumindest in diesem Kapitel den Begriff Jugendliche zu verwenden mit dem Vermerk, dass hiermit weniger auf ein spezifisches Alter als vielmehr auf die Verurteilung nach Jugendstrafrecht verwiesen werden soll. 157

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derer Jugendlicher verabredete regelmäßig mit mir Termine am Telefon, die er dann per SMS wieder absagte. Ein weiteres Problem stellte der Ort des Interviews dar. Eigentlich wollte ich die Interviews gerne bei den Jugendlichen zu Hause führen. Das Interview sollte in einer für die Jugendlichen möglichst vertrauten Umgebung stattfinden. Gleichzeitig erhoffte ich mir hierdurch einen ersten Einblick in ihre Lebenswelt. Es zeigte sich jedoch, dass sich einige Jugendliche nicht mit mir bei sich zu Hause treffen wollten. Sie äußerten dies zwar meist nicht explizit, schlugen mir aber vor, dass ich ihnen lieber ein Café nennen solle, in das sie dann kommen würden. Ich hatte jedoch Bedenken, die Interviews in einem Café zu führen, da ich befürchtete, andere Gäste könnten zuhören und würden hierdurch eine vertrauensvolle Atmosphäre stören. Hinzu kam, dass ich meine ersten Interviews noch mit Minidisc-Player und externem Mikrofon führte, das in einem Café sicherlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Auch fürchtete ich störende Hintergrundgeräusche bei der Aufnahme, die eine Transkription erschweren würden. Ich traf mich daher mit den Jugendlichen, die nicht von mir bei sich zu Hause interviewt werden wollten (Murat, Erich und Karl) in der Bewährungshilfe, wo ich das Büro einer Mitarbeiterin zur Verfügung gestellt bekam, die zu dieser Zeit in Urlaub war. Bei einem Interviewtermin hatte die Schlüsselübergabe zu den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe jedoch nicht funktioniert. Ich traf den Jugendlichen (Serdar) daher vor verschlossenen Türen und wir beschlossen in ein Café zu gehen. Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits mit einem kleinen digitalen Aufnahmegerät, das ich unauffällig auf den Tisch legen konnte. Wir tranken Kaffee und Serdar rauchte ununterbrochen. Hierdurch entstand eine wesentlich entspanntere Atmosphäre, als dies in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe möglich war, und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sich die Anwesenheit der anderen Gäste negativ auf das Gespräch auswirkte (vgl. Kap. 8). Die übrigen Interviews führte ich bei den Jugendlichen zu Hause, wobei zwei Jugendliche noch bei ihren Eltern bzw. einem Elternteil wohnten (Ahmet und Metin) und eine Jugendliche gerade in eine eigene Wohnung gezogen war (Tatjana). Die Interviews dauerten – unabhängig vom Ort des Interviews – zwischen 40 Minuten und drei Stunden: So fiel ein Interview in der Bewährungshilfe – entgegen meiner Erwartungen – sehr ausführlich und intensiv aus (Murat; vgl. Kap. 7), wohingegen eines im eigenen Zimmer eines Jugendlichen sehr kurz war (Metin). Insgesamt gestaltete sich ein vertrauensvoller Zugang in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe jedoch eher als

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schwierig, was aber auch mit den jeweiligen Gesprächspartner/-innen zusammen hängen könnte.15 Die Jugendlichen, die ich nach meiner ersten Kontaktaufnahme mit der Bewährungshilfe 2006 vermittelt bekam, hatten entweder einen russlanddeutschen oder einen türkischen Migrationshintergrund. Zunächst wollte ich daher mein Sample auf jeden Fall erweitern und versuchte über eine neuerliche Präventionsmaßnahme, Kontakt zu einem Jugendlichen mit italienischem und einer Jugendlichen mit ghanaischem Migrationshintergrund herzustellen. Die Präventionsmaßnahme wurde jedoch mangels Beteiligung abgesagt und ein direkter Kontakt zu den Jugendlichen kam nicht zustande. So hatte ich Ende 2006 jeweils ein Interview mit einer jungen Frau (Tatjana) und einem jungen Mann (Erich) geführt, die beide 1990/91 aus Kasachstan migriert waren, und mit zwei jungen Männern (Murat und Ahmet), deren Eltern vor ihrer Geburt aus der Türkei nach Deutschland migriert waren. Diese Interviews habe ich transkribiert und ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass es große Unterschiede zwischen den ›russlanddeutschen‹ und den ›türkischen‹ Jugendlichen gibt, die schon allein aus den unterschiedlichen Migrationsgeschichten und -hintergründen resultierten, aber auch aus den unterschiedlichen Staatszugehörigkeiten und dem Aufenthaltsstatus der Jugendlichen.16 Daneben waren die Jugendlichen aus Kasachstan wegen Drogenmissbrauchs und Drogenhandel, gemeinschaftlicher Sachbeschädigung in Tateinheit mit Diebstahl und Hausfriedensbruch sowie vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr verurteilt, während Murat und Ahmet sich wegen Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigung, Diebstahl und räuberischer Erpressung bzw. gemeinschaftlichen Raubs zu verantworten hatten. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen konfrontiert werden (vgl. Kap. 2), was sich auch in den Interviews widerspiegelte. Die Arbeit drohte daher, viel größer zu werden als geplant, was sich spätestens bei der Auseinandersetzung mit den dominanten Erklärungsansätzen (Kap. 2.3) zeigte. Ich entschied mich daher, sowohl den empirischen Teil der Arbeit (Kap. 6-8) als auch die Kontextbeschreibungen (Kap. 2) auf männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund17 zu beschränken, und suchte 2007 gezielt den Kontakt zu 15 Außer Murat interviewte ich Erich und Karl in der Bewährungshilfe, wobei das Interview mit Karl sofort zum Abbruch kam, und das Interview mit Erich 40 Minuten dauerte. Erich erzählte anschließend seinem Bewährungshelfer, dass das Gespräch super verlaufen sei. Er habe alle Fragen beantworten können. 16 Meine Interviewpartner/-innen, die aus Kasachstan migriert waren, sind deutsche Staatsbürger, während meine Interviewpartner mit türkischem Migrationshintergrund alle die türkische Staatsbürgerschaft und damit häufig auch einen unsicheren Aufenthaltsstatus hatten. 17 Zunächst lag der Grund dafür, warum ich keine weiblichen Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund interviewte darin, dass zu dieser Zeit von keinem/keiner der Bewährungshelfer/-innen eine weibliche Jugendliche mit tür159

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Jugendlichen, die dieses Kriterium erfüllten. Im September 2007 konnte ich dann – ebenfalls vermittelt über die Bewährungshilfe – zwei weitere Interviews mit Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund (Serdar und Metin) führen.

5.2.3 Transkription, Anonymisierung und Ansprache Die Interviews wurden verschriftlicht und anonymisiert. Hierbei wurde nach der hörbaren Gestalt wortwörtlich transkribiert, und so wenig wie möglich geglättet oder verbessert (vgl. Kap. 3.3). Helma Lutz hat in Bezug auf Interviews im Migrationskontext darauf hingewiesen, dass die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache im Migrationsdiskurs als Zeichen für Integrationsbereitschaft gelesen werde, wohingegen »die nicht perfekte Beherrschung der deutschen Sprache [...] zur Markierung einer gesellschaftlich schwachen, untergeordneten Position« werde (Lutz 2007: 57). In einer wörtlichen Transkription, welche die Fehler und sprachlichen Ungenauigkeiten wiedergebe, bestehe daher die Gefahr, eine solche Positionierung zu verfestigen. Auf die Interviews, die ich im Rahmen dieser Arbeit geführt habe, trifft dies jedoch nur bedingt zu. Die Jugendlichen sind in Deutschland aufgewachsen bzw. leben schon sehr lange hier, und die von ihnen verwendete Sprache ist weniger durch ihren Migrationshintergrund als vielmehr durch die Verwendung des lokalen Dialekts geprägt. Dennoch ›switchen‹ sie zum Teil in so genanntes ›Türkendeutsch‹, was jedoch weniger als sprachlicher Mangel, sondern als Einnehmen einer bestimmten Position verstanden werden kann (vgl. Spies 2009b). Um genau dies analysieren zu können, habe ich mich für eine möglichst genaue Transkription entschieden. Zur Anonymisierung wandelte ich die Orte und Städte, an bzw. in denen sich die Jugendlichen bewegen, nicht einfach in A-Stadt oder B-Platz um, sondern wählte Synonyme, die den eigentlichen Angaben ähneln. Hierdurch versprach ich mir, eine bessere Rekonstruktion der Lebensbedingungen der Jugendlichen, als dies mit wahllosen Anonyma möglich gewesen wäre. Die Jugendlichen leben alle im Rhein-Main- bzw. Rhein-Neckar-Gebiet. Ich habe daher Städte gewählt, die in dieser Region angesiedelt sind und in der Größe ungefähr den eigentlichen Wohnorten der Jugendlichen ähneln. Kommt ein Jugendlicher aus einem Struktur schwachen Stadtteil, so habe ich versucht, ihn in der anonymisierten Version ebenfalls in einer Region anzusiedeln, die diesen Kriterien entspricht. Hält sich ein Jugendlicher häufig auf bestimmten Plätzen einer Stadt auf, habe ich versucht in der anonymisierten Stadt ähnliche Plätze zu finden. Das gleiche gilt für die Angabe von Schulen, Firmen etc. kischem Migrationshintergrund betreut wurde. Letztlich hat sich jedoch eine Fokussierung auf männliche Jugendliche als sinnvoll erwiesen, da hierdurch das Thema Männlichkeit ausführlich untersucht werden konnte. 160

METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

Die Namen von großen Städten wie Frankfurt am Main oder Mannheim habe ich belassen. Das gleiche gilt für größere Städte in der Türkei, da ich davon ausgehe, dass diese Angaben wenig Rückschlüsse auf die jeweilige Person zulassen und eine Stadt wie z.B. Diyarbakr mit ihren spezifischen Eigenschaften schlecht durch eine andere Stadt ersetzt werden kann (vgl. das Interview mit Serdar, Kap. 8). Den Jugendlichen habe ich bei der Anonymisierung nur Vornamen gegeben. Dies hängt damit zusammen, dass ich die Jugendlichen während des Interviews auch nur mit Vornamen angesprochen habe und mir auch lediglich die Vornamen in Erinnerung geblieben sind, während die Nachnamen – im Gegensatz zur Bewährungshilfe, wo die Jugendlichen meist nur unter ihrem Nachnamen verhandelt werden – im Gespräch und auch danach keine Rolle spielten. Die Namen der Jugendliche habe ich durch Namen ersetzt, die ähnliche ›Assoziationen‹ hervorrufen. So hatten die beiden Jugendlichen Karl und Erich z.B. tatsächlich so genannte ›alte deutsche‹ Namen, während ich die türkisch klingenden Namen durch andere türkisch klingende Namen ersetzt habe.18 Zu Beginn jedes Interviews habe ich die Jugendlichen gefragt, ob es für sie in Ordnung sei, wenn wir uns duzen. Dies kannte ich so aus meinem Praktikum und auch von den Präventionsmaßnahmen, die ich begleitet hatte. Hierbei habe ich mir jedoch nicht bewusst gemacht, dass ich nun in einer anderen Rolle auf die Jugendlichen zukomme. Die Jugendlichen haben zwar alle in das ›Du‹ eingewilligt. Im Laufe des Gesprächs – und zum Teil auch schon während der ersten Rückfragen – haben einige jedoch wieder das ›Sie‹ gebraucht (meist in Kombination mit der Verwendung meines Vornamens). Um den Gesprächsfluss nicht zu unterbrechen, habe ich hierauf meist nicht reagiert, wodurch die Gesprächssituation eine zusätzliche Dimension der Asymmetrie erhielt: Ich habe die Jugendlichen geduzt, während sie mich gesiezt haben (vgl. Kap. 3.2.3). Bei der Auswertung stellte es sich jedoch als recht spannend heraus, welche Jugendlichen mich geduzt und welche mich gesiezt haben, wann sich dies verändert hat, und unter welchen Umständen sie zum Teil auch zum ›Du‹ zurückgekehrt sind (vgl. Kap. 6-8). Ich habe daher – trotz der beschriebenen Problematik – auch bei den 2007 geführten Interviews weiterhin versucht, mich mit den Jugendlichen zu duzen.

18 Ich habe die Jugendlichen meist am Ende des Interviews gefragt, welchen Namen sie sich selbst zur Anonymisierung geben würden. Die meisten Jugendlichen entgegneten jedoch, dass ich ruhig ihren Namen nennen könnte oder nannten mir den Namen von ihren Idolen (vgl. Kap. 8). 161

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

5.2.4 Rolle der Akten Vor den Interviews habe ich mir bewusst keine weiteren Informationen über die Jugendlichen von ihrem bzw. ihrer Bewährungshelfer/-in geben lassen (vgl. hierzu auch Kap. 3.2.3). Nachdem ich ein oder mehrer Interview/s geführt habe, habe ich jedoch Expertengespräche mit einem Bewährungshelfer geführt und mich mit ihm über die Jugendlichen unterhalten. Dabei hat er mir auch Passagen aus der Akte vorgelesen, die ich notiert habe. Wegen rechtlicher Bedenken Seitens der Bewährungshilfe war es mir nicht möglich, selbst in die Akten einzusehen oder Seiten daraus zu kopieren. Aus diesem Grund habe ich die Akten und die Informationen aus dem Expertengespräch lediglich zur Ergänzung der biographischen Daten genutzt (vgl. Kap. 3.3.1).19 Dies war insofern wichtig, da meine Interviewpartner/-innen häufig im Interview gar nicht über ihre Verurteilungen oder das, was konkret zur Verurteilung führte, gesprochen haben. Für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte waren dies jedoch wichtige Informationen. Das Expertengespräch diente dem entsprechend nicht zur Überprüfung der Authentizität meiner Interviewpartner/-innen, sondern als zusätzliche Informationsquelle, wobei ich mich bei widersprüchlichen Angaben nie für eine Version entschieden, sondern beide Möglichkeiten bei der Auswertung berücksichtigt habe (vgl. Kap. 3.3.1). Darüber hinaus habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, warum bestimmte Informationen, die ich von den Jugendlichen erhalten habe, nicht in der Akte auftauchen20 bzw. umgekehrt: Warum bestimmte Angaben aus der Akte von den Jugendlichen im Interview unerwähnt bleiben.

5.2.5 Auswertung und Auswahl der Fälle Bei der Auswertung der Interviews habe ich mich weitestgehend an den Auswertungsschritten der strukturalen biographischen Fallrekonstruktion orientiert, wie ich sie in Kap. 3.3 beschrieben habe. Für mein Anliegen habe ich jedoch einige Modifikationen vorgenommen, die aus der beschriebenen Kritik an der Methode resultieren (vgl. v.a. Kap. 3.2.3 & Kap. 3.4), und mein methodisches Repertoire erweitert, um Biographien als Artikulationen intersektionell analysieren zu können. Die einzelnen Auswertungsschritte sollen hier nun noch einmal kurz vorgestellt werden.21 Auf diese Weise möchte ich mein

19 Zu Beginn der Arbeit hatte ich überlegt, die Akten eventuell diskursanalytisch zu untersuchen, was sich jedoch dann als nicht möglich erwies. 20 So war in Serdars Akte z.B. kein Verweis darauf zu finden, dass seine Eltern als politische Flüchtlinge nach Deutschland kamen und Serdar als Kind Ermordungen, Haft und Folter innerhalb der Familie miterlebt hat (vgl. Kap. 8). Auch sein Bewährungshelfer schien hiervon nichts zu wissen. 21 Zur ausführlichen Darstellung vgl. Kap. 3.3 und Kap. 5.1. 162

METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

Vorgehen transparent und die unterschiedlichen Abschnitte der Interviewauswertung nachvollziehbar machen.

1.) Kontaktaufnahme und Interviewsituation Bei diesem Auswertungsschritt geht es um eine Beschreibung der Kontextbedingungen des Interviews, die weitestgehend auf dem nach dem Interview verfassten Memo beruhen. Ich werde hier jeweils aufführen, wie der Kontakt mit dem Jugendlichen zustande gekommen ist, wann und wo das Interview geführt wurde und unter welchen Umständen dies geschah. Hierbei werde ich auf die jeweils spezifischen Probleme und Bedingungen eingehen, die das Interview gerahmt haben. Es geht mir darum, auf diese Weise einen ersten Eindruck der situativen und kommunikativen Bedingungen zu vermitteln, unter denen das Interview geführt wurde und die bei der Auswertung berücksichtigt werden müssen (vgl. Kap. 3.2.3).

2.) Biographische Datenanalyse Beim zweiten Auswertungsschritt geht es um die Rekonstruktion des gelebten Lebens. Dies ist natürlich immer nur bedingt möglich. Denn die Daten, die mir in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehen, stammen größtenteils aus dem Interview und können keinesfalls tatsächlich als ›objektive‹ Daten gelten. Doch auch bei der Ergänzung der Daten durch zusätzliches Material ergeben sich Probleme, da z.B. die Angaben aus der Akte der Bewährungshilfe oder auch andere sozialhistorische Dokumente keineswegs weniger ›subjektiv‹ sind als die erzählte Lebensgeschichte. Darüber hinaus fehlen mir – gerade im Kontext von Migrationsbiographien – zum Teil regionale und kollektive Bezüge sowie gesellschaftspolitische Kenntnisse, die für die Analyse nötig wären (vgl. Kap. 3.3.1). Zum Teil wird daher (aus diesem und anderen Gründen) der Auswertungsschritt der biographischen Datenanalyse durch das Erstellen eines Kurzlebenslaufs ersetzt. Ein solches Vorgehen birgt jedoch meines Erachtens die Gefahr, zu vereindeutigen und die Kenntnis von ›objektiven‹ Daten vorzutäuschen. Aber auch eine ›klassische‹ biographische Datenanalyse (vgl. Kap. 3.3.1) hat ihre Fallstricke. So besteht z.B. – neben dem bereits angesprochenen Problem der Generierung ›objektiver‹ Daten – die Gefahr, alltagsweltliche Normalitätsvorstellungen bei der Analyse zu reproduzieren (vgl. Kap. 3.4) oder nach einheitsstiftenden Sinnlogiken zu suchen (vgl. Kap. 4.1). Ich habe mich daher für einen Kompromiss entschieden. Dabei handelt es sich – wenn man so möchte – um einen erweiterten ›Kurzlebenslauf‹ oder eine verschmälerte biographische Datenanalyse. Denn es geht mir nicht um die

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Frage, warum meine Interviewpartner22 kriminell wurden. Von daher interessiere ich mich auch nur bedingt für die Handlungs- und Deutungsstrukturen der Biographen, deren Rekonstruktion auch immer mit der Gefahr einhergeht, alltagsweltliche Normalitätsvorstellungen zu reproduzieren. Es geht mir darum, die biographischen Daten (auch und gerade) in ihrer Widersprüchlichkeit zu analysieren und unterschiedliche Lesarten aufzuzeigen. Dabei gehe ich davon aus, dass Identitäten immer fragmentiert und gebrochen sind und es daher auch eine Vielfalt von subjektiven Handlungs- und Deutungsstrukturen gibt, die punktuell, strukturell oder auch regelhaft verwoben sein können, aber auch unverbunden nebeneinander existieren können (vgl. Schäfer/Völter 2005: 177). Ich verstehe meine biographische Datenanalyse daher als einen ersten Schritt in der Analyse, um die spezifischen Bedingungen des Gewordenseins und Werdens am Schnittpunkt von Institutionen, sozialen Praktiken und Diskursen aufzuzeigen. Die ausführliche Interpretation einzelner Ereignisse (bzw. ›Daten‹) erfolgt dann mithilfe der Feinanalysen.

3.) Text- und thematische Feldanalyse Beim dritten Auswertungsschritt steht die Frage nach der Selbstpräsentation im Mittelpunkt der Analyse. In diesem Zusammenhang wird der Aufbau der Haupterzählung und die Art der Darstellung analysiert: Welche Themen werden angesprochen, welche nicht? Weshalb wird dieses Thema an der Stelle in dieser Ausführlichkeit bzw. Kürze dargestellt? Warum wird hierbei diese Textsorte gewählt? Was bedeutet die Art der Darstellung für den Sprecher bzw. die Zuhörerin, was bedeutet es für die Selbstpräsentation? Hiervon ausgehend wird dann nach den thematischen Feldern gefragt, in die sich die Wahl der Themen und die Art der Darstellung einfügen. Dabei geht es darum, das Hauptpräsentationsinteresse des Biographen herauszuarbeiten (vgl. Kap. 3.3.2). In diesem Zusammenhang spielen sowohl der situative als auch der kommunikative Kontext eine wichtige Rolle: Die Geschlechterdifferenz, eine Wahrnehmung als ›kulturell anders‹, die (hierarchische) Beziehungsstruktur zwischen Forscherin und Biographen, die jeweiligen Vorannahmen und Erwartungen sowie die Gesprächsdynamik beeinflussen was und wie etwas erzählt wird (vgl. Kap. 3.2.3). Die Kontextbedingungen müssen daher systematisch in die Analyse mit einbezogen werden. Darüber hinaus lassen sich erste Hypothesen zum Einfluss gesellschaftlicher Diskurse bilden. Denn was und wie etwas erzählt wird, ist nicht nur abhängig von den situativen und kommu22 Ich verwende hier – in Bezug auf meine Interviepartner – wieder nur die männliche Form, da ich mich im Rahmen dieser Arbeit lediglich auf die Interviews beziehe, die ich mit jungen Männern geführt habe (vgl. Kap. 3.3, Fn. 33). 164

METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

nikativen Bedingungen, sondern auch von intersektionell verschränkten Diskursen. Sie bestimmen die Regeln, wie etwas erzählt wird und was, wann, wo etwas thematisiert werden darf oder auch nicht (vgl. Kap. 3.5). Die ausführliche Analyse unterschiedlicher Positionierungen und Selbstpräsentationen erfolgt dann jedoch in den Feinanalysen.

4.) Feinanalysen Das Kernstück der Auswertung bilden die Feinanalysen. Hier werden nun Textstellen herausgesucht, in denen (neue) Positionierungen aktiv verhandelt oder eingenommen werden. Zunächst werde ich hierbei jeweils die Anfangssequenz des Interviews analysieren, da davon auszugehen ist, dass hier eine erste Positionierung gegenüber mir als Interviewerin eingenommen wird, die sich im gesellschaftlichen Diskurs verorten lässt. Anschließend werden Textstellen zu Themen herausgesucht, die sich bei der bisherigen Analyse als wichtig herausstellten, aber noch nicht ausreichend untersucht werden konnten (vgl. 2. & 3.). Dies können Textstellen sein, die im Zusammenhang mit bestimmten Positionierungen stehen und möglicherweise einen Hinweis darauf geben können, in welchem Zusammenhang welche Positionierung eingenommen wird. So werde ich z.B. systematisch bei allen Interviews Textstellen analysieren, in denen sich die jungen Männer mit ihrer eigenen Straffälligkeit auseinandersetzen. Die Wahl weiterer Textstellen hängt dann von der jeweiligen biographischen Erzählung ab. Hierbei liegt ein besonderes Augenmerk auf Textstellen, in denen explizit oder implizit konkrete Positionen gefüllt, strategisch eingenommen oder auch verweigert werden. Dies ist vor allen Dingen bei Erzählungen aber auch bei Beschreibungen von verdichteten Situationen zu erwarten. Daneben spielen Argumentationen eine wichtige Rolle, da hier erwartet werden kann, dass Bezug genommen wird auf normative und/oder moralische Regeln, die ebenfalls auf bestimmte Diskurse verweisen. Ziel der Analyse ist es, sich den Lebenserfahrungen und -deutungen der Jugendlichen anzunähern und gleichzeitig nach dem Einfluss gesellschaftlicher Diskurse und den Möglichkeiten von Handlungsmacht zu fragen. Dem entsprechend stehen die Präsentation des Biographen und seine Verortungen bzw. Positionierungen in der Interviewsituation und im gesellschaftlichen Diskurs im Zentrum der Analyse. Die einzelnen Textstellen werden hierzu zunächst ohne Kontextwissen sequentiell analysiert (vgl. Kap. 3.3.3). Anschließend werden die Textstellen – in Anlehnung an die Auswertungsschritte von Bambergs Positionierungsanalyse – weiter untersucht (vgl. Kap. 5.1.1). Dabei werden folgende Fragen an das Material gestellt:

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• •





Einbindung in das zeitliche und räumliche Arrangement: Wie werden die Akteure innerhalb des beschriebenen Ereignisses positioniert? Bzw. wie positioniert sich der Biograph innerhalb der Erzählung? Interaktives Setting: Welchen Einfluss haben situative und kommunikative Bedingungen auf die Positionierungen des Biographen (in der Erzählung)? Wie positioniert sich der Biograph gegenüber mir als Interviewerin bzw. gegenüber einem imaginierten Publikum? Fremd- und Selbstpositionierungen: Wie positionieren Interviewter und Interviewerin sich selbst und gegenseitig durch die Art und Weise, wie die Akteure in der Erzählung positioniert werden bzw. wie sie durch die Interaktion Einfluss nehmen auf die Erzählung? Subjektpositionen im Diskurs: Innerhalb welchen Diskurses werden die jeweiligen Positionierungen eingenommen? Wie werden sie gefüllt?

5.) Positionierungen Zum Abschluss werden die verschiedenen Positionierungen im Interview in ihrem Zusammenhang betrachtet. Dabei geht es vor allen Dingen noch einmal explizit um die Frage, innerhalb welchen Diskurses welche Positionen eingenommen werden und wie diese gefüllt, bekämpft oder auch verändert werden. Ziel ist es, die verschiedenen Positionierungen zwischen Diskurs- und Handlungsmacht herauszuarbeiten und die Verortungen der Jugendlichen innerhalb intersektionell verschränkter Diskurse zu beschreiben. Insgesamt steht bei der Auswertung der Interviews die Frage nach dem Einfluss gesellschaftlicher Diskurse im Kontext von Migration, Männlichkeit und Kriminalität auf die biographischen Erzählungen von straffälligen Jugendlichen mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie im Vordergrund. Es geht mir darum, mich den Lebenserfahrungen und -deutungen der jungen Männer anzunähern, ihre Positionierungen im Interview herauszuarbeiten und deren Verstrickung und Einbettung in dominante Diskurse, Kategorien der Ungleichheit und Herrschaftsdimensionen aufzuzeigen. Hierzu habe ich drei Interviews ausgewählt, die ich im Folgenden nach der hier vorgestellten und entwickelten Methode auswerten möchte. Dabei geht es mir vor allen Dingen auch darum, exemplarisch mein Vorgehen zu demonstrieren und zu veranschaulichen, inwiefern mit dieser Methode der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Diskursen und biographischen Erzählungen rekonstruiert werden kann. Sicherlich wäre es spannend, das Sample nach den Kriterien des Theoretical Sampling zu erweitern und systematisch zu untersuchen, in welchem Zu166

METHODISCHE MODIFIKATIONEN UND FORSCHUNGSPROZESS

sammenhang Bezug auf welchen Diskurs genommen wird, wann eine Subjektposition eingenommen und wann sie wieder verlassen wird und wie das Einnehmen einer Subjektposition gestaltet wird. Dies war im Rahmen dieser Arbeit, in der es zunächst darum ging Diskurs und Subjekt theoretisch zusammen zu denken und hiervon ausgehend ein Instrumentarium zur Verknüpfung von Diskurs- und Biographienanalyse zu entwickeln, nicht möglich. Dennoch denke ich, dass ich bereits auf der Basis der vorliegenden Auswertungen Überlegungen hierzu anstellen kann, die über die von mir analysierten und exemplarisch hier vorgestellten Biographien hinausgehen (vgl. Kap. 9). Ich werde also nun in den empirischen Teil der Arbeit einsteigen und die Interviews mit Ahmet (Kap. 6), Murat (Kap. 7) und Serdar (Kap. 8) auswerten. Im Schlusskapitel wird es dann darum gehen, die Auswertungen miteinander zu vergleichen und zusammenfassend die Positionierungen der Jugendlichen bzw. jungen Männer im Kontext Migration, Männlichkeit und Kriminalität darzustellen.

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Teil III Intersektionelle Analyse von Biographien als Artikulationen

6. »Ich hab meine Jugend ordentlich gelebt« – AHMET

6.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation Das Interview mit Ahmet findet im Mai 2006 statt. Von einem Bewährungshelfer habe ich Ahmets Handynummer erhalten. Das Handy ist jedoch abgeschaltet, weshalb mir sein Bewährungshelfer bei unserem folgenden Gespräch Ahmets Festnetznummer gibt. Ich rufe an einem Mittwochmorgen bei Ahmet zu Hause an. Eine junge Frau geht ans Telefon. Als ich sie frage, ob ich Ahmet sprechen könne, fragt sie zunächst zurück: »Für was?« Ich erkläre ihr daraufhin, dass ich die Telefonnummer von Herrn B.1 erhalten habe und ein Interview mit Ahmet führen wolle. Sie antwortet: »Ach so.« Anschließend höre ich Stimmen im Hintergrund flüstern. Schließlich kommt Ahmet an den Apparat und ich frage ihn, ob er bereit sei, ein Interview mit mir zu führen. Er willigt sofort ein (»ja, warum nicht«) und ich frage ihn, wann es ihm passe. »Eigentlich im Moment immer«, lautet seine Antwort, doch als ich ihm vorschlage, uns spontan am Nachmittag zu treffen, wehrt er ab. Ich schlage daraufhin Freitag Vormittag vor, was jedoch bei Ahmet nicht geht »wegen der Moschee«. Wir verabreden uns schließlich für Samstag, 11 Uhr, bei ihm zu Hause. Zum verabredeten Termin klingle ich am Gartentor des zweistöckigen Familienhauses. Es dauert etwas, bis ein Fenster geöffnet wird, und eine Frau »Moment« ruft. Ich warte. Schließlich kommt Ahmets Mutter mit Kopftuch, das sie beim Gehen noch hastig zuschnürt, aus dem Haus und schließt mir das Gartentor auf. Sie entschuldigt sich, dass das Tor noch nicht offen war. Ich stelle mich mit Namen vor. Im Haus nimmt Murats Mutter das Kopftuch sofort wieder ab. Sie gibt mir Hausschuhe und bittet mich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Entschuldigend erklärt sie mir in leicht gebrochenem, aber gut verständlichem Deutsch, dass die Familie samstags immer etwas länger schlafe, aber Ahmet gleich komme. Ihr Mann sei jedoch noch im Bett, da er in der letzten Nacht Schicht gearbeitet habe. Schließlich möchte Ahmets Mut1

Name des Bewährungshelfers. 171

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ter von mir wissen, warum ich zu ihnen nach Hause gekommen sei. Ich erkläre ihr, dass ich Ahmet gerne interviewen würde und wir dies so am Telefon vereinbart hätten. In diesem Moment kommt Ahmet zur Tür herein. Er ist schlank, etwa 1,70 m groß, hat kurze braune Haare, die mit Gel gestylt sind und trägt einen schmalen, ausrasierten Schnurrbart. Er nimmt auf einem zweiten Sofa rechts von mir Platz. Ich erkläre – nach einer kurzen Begrüßung – mein Vorhaben und erkundige mich, wo wir das Interview am besten führen können. Ahmets Mutter fragt mich daraufhin, ob sie den Raum verlassen solle, worauf ich ihr antworte, dass ich sie zwar nicht herausschmeißen wolle, aber dass ich eigentlich gerne mit Ahmet alleine sprechen möchte. Erst als Ahmets Mutter den Raum verlassen hat, baue ich mein Tonbandgerät und das Mikrofon auf. Ich versichere mich bei Ahmet, dass es für ihn okay ist, wenn ich das Gespräch aufzeichne und erkläre, dass ich am Ende alles anonymisiere. Ahmet erkundigt sich, was das heißt, und willigt ein. Gerade als wir das Interview begonnen haben, klopft es an der Tür und Ahmets Mutter fragt, ob wir Kaffee oder Tee möchten. Ich verneine und sie verlässt das Wohnzimmer wieder. Anschließend können Ahmet und ich ungestört das Interview führen. Es sind immer wieder Stimmen vor der Wohnzimmertür zu hören, aber niemand kommt herein. Erst eineinhalb Stunden später klopft erneut Ahmets Mutter. Sie ist sichtlich aufgebracht und fragt, ob es nicht besser sei, wenn sie und ihr Mann bei dem Gespräch dabei seien. Ich erkläre ihr, dass ich gerne zunächst mit Ahmet alleine sprechen möchte, aber dass wir im Anschluss auch noch alle miteinander reden könnten. Ahmet schaltet sich daraufhin in das Gespräch ein:2 B: M: I: M: I: M:

(1) meine Eltern die=sind neugierig die haben ((I. lacht kurz))

2

B steht hier für Biograph, I für Interviewerin und M für Mutter.

nein nein nein #nein nein# #(das ja meine)# das äh: es=ist, verstehen Sie mich? ja ja klar natürlich, natürlich ä: ä: (1) sie sollte ja nicht ä nur-, er ä- ä-, ä: spreche hören /ja/ gemeinsam hab=ich- /ja/ das ist besser I: ja, also könn=wir vielleicht /ja/ im Anschluss einfach machen da machen wir jetzt erst mal fertig weiß nicht ob Sie Zeit haben dann M: okay wie lang dauert noch? I: würd sagen noch ne halbe Stunde ungefähr, M: noch halbe Stunde?

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»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

I:

na ja nicht ganz wahrscheinlich wir sind ziemlich am Ende ((Lachen (1))

M: I:

(Mann hat auch schon gewacht) ja? ach so okay ja gut prima ((Lächeln (1)) ((Türe wird geschlossen))

B:

I:

so: meine Family die ((I. lächelt kurz)) reinste Hölle ((I. lächelt (1)) die wollen dann immer alles mitkriegen und ach (1) nee, denken dann es geht wieder bestimmt um irgend n Strafverfahren oder so ((I. lächelt kurz)), oh riecht gut nach Essen ((I. lächelt (1)) (3) wo waren wir stehnge- ach so, bei dem- beim Heinerfest (22/50-23/22)

Obwohl Ahmets Mutter das Wohnzimmer verlässt, scheint ihr meine Lösung nicht zu behagen. Nur wenige Sekunden später klopft es erneut an der Tür und Ahmets Schwester kommt herein. Sie stellt sich freundlich vor und spricht dann mit Ahmet auf Türkisch:3 Hallo /I: hallo/ ich bin die Schwester vom Ahmet hallo /bin Tina/ ((B. und S. unterhalten sich auf Türkisch)) Sach mal, annee- will annem4 will’s wissen ((unterhalten sich weiter auf Türkisch)) ah, okay ((Türe wird geschlossen)) (23/27-23/30)

Auf Türkisch fragt sie Ahmet, was »hier auf Kassette aufgenommen« wird. Die Mutter wolle es wissen. Ahmet antwortet ihr nicht, sondern schickt sie – ebenfalls türkisch sprechend – aus dem Wohnzimmer, woraufhin Ahmets Schwester erklärt, dass »nicht[s] aufgenommen werden« solle, da »die Sachen [...] alle an das Gericht geschickt« würden. Doch Ahmet lässt sich von seiner Schwester nicht bevormunden: »Einen Scheiß geben die weiter«, erklärt er ihr auf Türkisch, woraufhin sie freundlich auf Deutsch antwortet (»ah okay«), als sei nun tatsächlich alles in Ordnung. Ich habe das Gespräch, das zwischen Ahmet und seiner Schwester stattgefunden hat, in der Interviewsituation nicht verstanden. Ich merke jedoch, dass sowohl Ahmets Mutter als auch Ahmets Schwester Bedenken haben, dass ich Ahmet interviewe und dass Ahmet unser Gespräch ihnen gegenüber verteidigt. Es verstärkt sich bei mir der Eindruck, den ich bereits beim ersten Telefongespräch bekommen habe: die Frauen des Hauses scheinen Ahmet zu schützen. Ahmet hingegen wehrt diesen Schutz ab. Als seine Schwester das Wohnzimmer verlassen hat, fährt er unbeirrt genau an der Stelle fort, an der er unterbrochen wurde. Nach zwei Stunden ist das Interview beendet. Ich packe das Aufnahmegerät weg und erkläre Ahmet, dass ich nun gerne noch mit seinen Eltern spre3 4

S steht hier für Schwester, B wieder für Biograph und I für Interviewerin. Türk.: meine Mutter. 173

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chen könne, wenn sie das wollen. Ahmet lehnt dies zwar ab (»Lieber nicht, die erzählen nur Mist«), ruft aber dennoch seine Eltern. Diese warten bereits im Nebenzimmer. Sie sind sichtbar aufgebracht und wollen von mir wissen, ob ich vom Jugendamt sei, warum ich die Aufnahme gemacht hätte und ob das Ahmet schaden könne. Ich erkläre ihnen, dass ich an der Universität arbeite und die Aufnahme lediglich in anonymisierter Version für meine Dissertation verwenden werde. Ahmet vermittelt auf Türkisch, doch seine Eltern sind nicht zu beruhigen. Der Vater spricht sehr laut und stellt mir weitere Fragen. Sie seien eine ganz normale Familie, sagt er immer wieder. Ich bekomme langsam Angst, dass er mir die Aufnahme wegnimmt. Erst nachdem ich sehr ausführlich von meiner Arbeit berichtet und genau erklärt habe, warum ich die Interviews führe und was ich mit ihnen mache, scheinen sich die Eltern zu beruhigen. Ahmets Vater – der zuvor mir gegenüber stand – setzt sich zu mir aufs Sofa und fragt, ob ich Tee wolle. Ahmets Schwester bringt daraufhin Tee – für den Vater ein kleines Glas, für mich eine große Tasse. Als die Eltern fragen, warum sie mir nicht auch ein Glas gebe, erklärt sie, dass die Deutschen keinen Tee aus Gläsern kennen würden. Auch die Schwester setzt sich nun zu uns. Mit dem Tee wird langsam ein Gespräch möglich. Es stellt sich heraus, dass Ahmets Eltern dachten, ich sei vom Jugendamt. Offenbar kam vor einigen Jahren eine junge Frau vom Jugendamt ins Haus, die sich mit Ahmets Bruder allein unterhalten wollte, und kurz darauf wurde er abgeschoben. Langsam verstehe ich die Reaktion von Ahmets Eltern. Und auch sie scheinen Vertrauen zu mir zu fassen. Ausführlich beginnen sie nun, über ihre Probleme mit Ahmet zu erzählen. Dabei betonen sie immer wieder, dass sie eine ganz normale Familie seien, und nicht wüssten, was sie falsch gemacht haben. Ahmet hört sich das alles an, ohne etwas zu erwidern. So erzählt Ahmets Mutter z.B., dass Ahmet täglich mehr als acht Stunden auf der Straße sei und sie immer Angst habe, dass etwas passiere und er wieder beschuldigt würde. Vor einiger Zeit hätten sie Ahmet sogar einen Computer gekauft, weil sie hofften, dass er dann mehr Zeit zu Hause verbringen würde; aber ohne Erfolg. Ahmets Vater lässt seine Frau reden. Er hat sich auf dem Sofa zurückgelehnt und raucht. Nur manchmal nimmt er Ahmet in Schutz. Ich habe den Eindruck, dass auch er sich Sorgen macht, aber dass er vieles für ›normales Jungen-Verhalten‹ hält. Beide Eltern sind sich jedoch darin einig, dass ihr Sohn nicht brav sei, aber dass er auch nicht immer an allem Schuld sei. Wenn irgendwo etwas in der Nähe passiere, hieße es immer gleich, Ahmet sei es gewesen. Ahmets Mutter erzählt auch, dass sie häufig in der Schule gewesen sei, und sich einmal sogar den Unterricht angeschaut habe. Es sei dort sehr chaotisch zugegangen und am Ende habe es wieder geheißen, dass Ahmet Schuld ist. Letztlich sei Ahmet in der 8. Klasse von der Schule geflogen, ob174

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

wohl doch eigentlich Schulpflicht besteht. Sie habe mit den Lehrern reden wollen, aber keiner habe ihr zugehört. Ich höre Ahmets Eltern lange zu und sie bitten mich immer wieder, ihnen noch mehr Fragen zu stellen. Sie scheinen es sichtlich zu genießen, endlich mit jemandem über Ahmet reden zu können. Ich halte mich weitgehend zurück. Es ist mir unangenehm, dass wir über Ahmet sprechen, während er daneben sitzt und sich nicht am Gespräch beteiligt. Am Ende fragt mich Ahmets Mutter, ob sie mir noch das Haus zeigen dürfe. Sie führt mich in jedes Zimmer. Ahmet folgt uns und zeigt mir stolz sein Zimmer sowie die von ihm gebaute Terrasse, von der er mir zuvor im Interview berichtet hat. Im Dachgeschoß, das Ahmets Schwester bewohnt, steht eine Art kleiner Alter mit Blumen, über dem ein Foto von Ahmets ältestem, verunglückten Bruder hängt. Ahmets Mutter nimmt das Foto von der Wand, streichelt und küsst es. Von dem abgeschobenen Bruder ist kein Foto zu sehen. Als mich Ahmets Eltern schließlich noch zum Essen einladen möchten, verabschiede ich mich. Ich wäre gerne geblieben und hätte mich weiter mit ihnen unterhalten, gleichzeitig habe ich das Gefühl, die Gastfreundschaft auszunutzen. Ahmets Eltern erzählen mir so viel, und ich werde ihnen nicht helfen können. Ich fühle mich unwohl in meiner Rolle als Forscherin. Einerseits hatte ich mit meinem Anliegen, die Jugendlichen zu Hause zu interviewen, gehofft, einen Einblick in ihre Lebenswelt zu erhalten. Nun habe ich jedoch das Gefühl, innerhalb kürzester Zeit zu einem Teil ihrer Lebenswelt geworden zu sein.

6.2 Biographische Datenanalyse 6.2.1 Familiengeschichte Ahmets Großeltern kommen sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits aus Sakarya, einer Provinzhauptstadt in der Nähe Istanbuls. Ahmets Vater wurde 1951 geboren. Er hat mehrere Geschwister.5 Zusammen mit seinen Eltern kommt er 1966, also zur Hauptanwerbezeit, nach Darmstadt, wo sein Vater und evtl. auch seine Mutter6 als Gastarbeiter arbeiten. Im darauf folgenden Jahr wird Ahmets Vater zunächst in die Türkei zurückgeschickt, um die Schu5 6

Ahmet spricht im Interview von zwölf Geschwistern; ist sich aber nicht ganz sicher. Ahmet erwähnt im Interview lediglich die Erwerbstätigkeit seines Großvaters, was jedoch nicht heißen muss, dass nicht auch seine Großmutter neben der Reproduktionsarbeit im eigenen Haushalt gearbeitet hat. Denn Männer werden im gesellschaftlichen Diskurs meist als erwerbstätig dargestellt, während bei Frauen dies keine Rolle zu spielen scheint (vgl. hierzu auch die Biographische Datenanalyse zum Interview mit Serdar, Kap. 8.2). 175

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

le zu beenden. 1968 kommt er nach Deutschland zurück und findet – so wie bereits Ahmets Großvater – Arbeit in Darmstadt. Ahmets Mutter wurde zwischen 1950 und 1955 geboren und hat neun Geschwister. 1972 kommt sie nach Deutschland, um ihre Schwester in Darmstadt zu besuchen, deren Mann dort arbeitet. Bei diesem Besuch lernt Ahmets Mutter die Familie ihres zukünftigen Mannes kennen. Ahmets Familiengeschichte ist eine Gastarbeitergeschichte Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre. Auffallend ist jedoch, dass in Ahmets Familie die Männer nicht allein nach Deutschland gehen. Sowohl Ahmets Großmutter väterlicherseits als auch die Schwester seiner Mutter sind mit ihren Männern zusammen migriert, und haben – zumindest im Falle der Großeltern – auch (einen Teil) ihre(r) Kinder mitgebracht. Außerdem wurde Ahmets Vater in die Türkei zurückgeschickt, um dort die Schule zu absolvieren. Er hätte ebenso gut gleich in Deutschland anfangen können zu arbeiten. Bildung scheint jedoch in seiner Familie wichtig zu sein. 1974 heiraten Ahmets Eltern. Vermutlich haben sie sich nicht zufällig kennen gelernt. Auch wenn es keine arrangierte Hochzeit war, so war die Verbindung wahrscheinlich zumindest gern gesehen. Beide Familien kommen aus der gleichen Stadt in der Türkei und aus beiden Familien arbeiten Familienmitglieder in Darmstadt. Im Jahr darauf bekommen Ahmets Eltern ihren ersten Sohn. Die junge Familie lebt zu dieser Zeit in einer Mietwohnung im Stadtteil Darmstadt-Eberstadt. 1978 kehren Ahmets Großeltern, die Eltern seines Vaters, zurück in die Türkei. Im Jahr darauf bekommen Ahmets Eltern ihren zweiten Sohn. Zwischen der Geburt des ersten und des zweiten Sohnes liegen also vier Jahre. Dies könnte damit zusammen hängen, dass es zwischen 1974 und 1978 immer wieder Überlegungen in Ahmets Familie gab, in die Türkei zurückzukehren. Zumindest deutet die Migration der Großeltern 1978 auf solche Gedanken hin. Möglicherweise entscheiden sich Ahmets Eltern nun bewusst, in Deutschland zu bleiben, und bekommen dann ihr zweites Kind. In den folgenden Jahren lebt die Familie weiterhin in ihrer Mietwohnung in Darmstadt-Eberstadt. 1986 wechselt Ahmets Vater seinen Arbeitsplatz. 1988 wird das dritte Kind der Familie, eine Tochter, geboren. Ein Jahr später kommt Ahmet zur Welt.7 Dieser zeitliche Abstand zu den beiden älteren Söhnen legt die Vermutung nahe, dass die Entscheidung für weitere Kinder mit dem Arbeitsplatzwechsel des Vaters in Zusammenhang steht. Möglicherweise hat er nun einen sicheren, unbefristeten Vertrag, weshalb sich Ahmets Eltern

7

Im Interview sagt Ahmet, dass er bereits 1988 geboren wurde. Seine Eltern sprechen jedoch von 1989 und dieses Datum steht auch in der Akte der Bewährungshilfe. Vermutlich wollte sich Ahmet mir gegenüber im Interview ein Jahr älter machen, da er dann bereits volljährig gewesen wäre.

176

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erst jetzt für weitere Kinder entscheiden. Der Vater arbeitet Schichtdienst in einer Firma, die Mutter ist zu Hause bei den Kindern.

6.2.2 Lebensgeschichte Ahmet ist der jüngste der vier Kinder. Vor allem sein ältester Bruder, der zwei Jahre nach Ahmets Geburt bereits die 10. Klasse beendet und eine Ausbildung beginnt, dürfte in Ahmets Augen mehr Erwachsener bzw. ErsatzVater sein denn (ebenbürtiger) Bruder. 1994 zieht die Familie in ein eigenes, zweistöckiges Haus mit Terrasse, Garten und ausgebautem Dachboden, das in der gleichen Straße wie die Mietwohnung liegt. Vermutlich bestand schon lange der Wunsch, die beengten Wohnverhältnisse zu verlassen, doch erst nach dem Ende der Ausbildung des ältesten Sohnes scheint sich die Familie diesen Schritt auch zuzutrauen. Es liegt nahe, dass der älteste Sohn an der Finanzierung beteiligt bzw. dass zumindest sein Gehalt mit in die Planung einbezogen wurde. Darüber hinaus verkaufen Ahmets Eltern mehrere Häuser in der Türkei und nehmen Schulden auf, um das neue Haus zu finanzieren. Spätestens zu diesem Zeitpunkt scheint Ahmets Familie also klar entschieden zu haben, dass sie in Deutschland bleibt. Die Rücklagen in der Türkei werden zugunsten eines Lebens in Deutschland aufgegeben. Der Umzug innerhalb des gleichen Stadtteils und sogar innerhalb der gleichen Straße deutet darauf hin, dass sich die Familie dort wohl fühlt. Es ist eine Straße, in der hauptsächlich Arbeiter leben, sowohl deutscher als auch anderer Herkunft. 1995 wird Ahmet eingeschult. Sein zweitältester Bruder beendet im gleichen Jahr die 10. Klasse. Das was für Ahmet nun neu und aufregend ist, haben seine Brüder bereits hinter sich. Bis zu diesem Zeitpunkt scheinen Ahmet und seine Familie ein recht ›normales‹ (Gastarbeiter-)Leben zu führen, das dem Leben vieler anderer Familien ähneln dürfte, die ebenfalls Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland kamen. 1998 – Ahmet ist neun Jahre alt und geht bzw. kommt in die vierte Klasse der Grundschule – wird diese ›Normal‹-Struktur jedoch unterbrochen. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, in der Ahmets zweitältester Bruder angeklagt wird, in Frankfurt mit Drogen gedealt zu haben. Dieses Ereignis beherrscht(e) vermutlich über einen längeren Zeitraum hinweg die Familiensituation und belastet diese. Die Eltern schämen sich wahrscheinlich für ihren Sohn, machen sich um ihn Sorgen und suchen möglicherweise auch die Schuld bei sich selbst. Ahmets Vater wird aktiv, indem er einen Ausbildungsplatz für seinen Sohn sucht. Für Ahmet bleibt in dieser Zeit wohl wenig Raum; alle Gedanken, Ängste und Sorgen kreisen um den Bruder. Möglicherweise wird Ahmet nun bzw. in Zukunft auch stärker kontrolliert; aus Angst, er könne einen ähnlichen Weg einschlagen wie sein Bruder. Gleichzeitig könnte diese Zeit aber auch eine positive Erfahrung für Ah177

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

met bedeuten: Sein Bruder wird nicht verstoßen, sondern die Eltern versuchen ihm zu helfen. Hierbei scheint die Strategie des Vaters aufzugehen: Noch im gleichen Jahr beginnt der zweitälteste Sohn eine Ausbildung, während der älteste Sohn eine Weiterbildung zum Meister beginnt. Offenbar kehrt also wieder Ruhe im Familiensystem ein. 1999 kommt Ahmet – so wie bereits auch seine Brüder vor ihm – in die Hauptschule. Es scheint wieder alles ›in ruhigen Bahnen‹ zu verlaufen. Ende 1999 trifft die Familie jedoch erneut ein schwerer Schicksalsschlag. Ahmets ältester Bruder stirbt mit 23 Jahren bei einem Verkehrsunfall auf glatter Fahrbahn. Dadurch gerät das Familiensystem (erneut) durcheinander. Die Eltern verlieren ihren erstgeborenen Sohn, Ahmet vermutlich seinen ErsatzVater und vielleicht auch sein großes Vorbild. Es entsteht eine Lücke, die der zweitälteste Sohn voraussichtlich nur schwer füllen kann. Die Familie trauert. Gleichzeitig muss sie sich jedoch auch mit erneuten Problemen auseinandersetzen. Der zweitälteste Sohn wird wiederholt vor Gericht angeklagt. Ein Jahr später wird er – sechs Monate vor dem Ende seiner Ausbildung – wegen Drogenhandels in die Türkei abgeschoben. Die Familie verliert ihren zweiten Sohn, Ahmet vermutlich eine zweite Bezugsperson. Schon kurz darauf fällt Ahmet in der Schule wegen aggressiven Verhaltens auf. Er hat Schulprobleme und bekommt Nachhilfeunterricht. Die Vermutung liegt nahe, dass sich hier in direkter Weise der Verlust der beiden Brüder widerspiegelt. Ahmet trauert, und diese Trauer schlägt bei ihm – so scheint es zumindest – in aggressives Verhalten um. Wahrscheinlich erfährt er zu dieser Zeit auch wenig Aufmerksamkeit innerhalb der Familie, so dass er sich – bewusst oder unbewusst – einen anderen Weg sucht, um gesehen zu werden. In der Schule wird dieser Zusammenhang aber offensichtlich nicht erkannt oder zumindest nicht berücksichtigt. Ahmet erhält – wie bei Schwierigkeiten in der Schule nun einmal üblich – Nachhilfeunterricht. Seine Probleme werden als individuelle Lernprobleme definiert und nicht als Ausdruck der schwierigen Familiensituation. Dass sich sein Verhalten hierdurch nicht ändert, scheint – aus dieser Perspektive betrachtet – wenig überraschend. So fällt Ahmet auch in den folgenden Jahren immer wieder wegen verschiedener ›Streiche‹ in der Schule auf. Einen Lehrer, der Ahmets Familiensituation kennt und in irgendeiner Weise auf ihn eingehen könnte, scheint es nicht zu geben. Stattdessen greift das reguläre Bestrafungssystem der Institution Schule. Ahmet wird häufig zum Direktor bestellt. Am 24. September 2003, also knapp vier Jahre nach dem Tod seines ältesten Bruders und drei Jahre nach der Abschiebung seines zweiten Bruders, kommt es zu einer ersten Gerichtsverhandlung. Ahmet wird wegen Bedrohung in zwei Fällen angeklagt. Von Strafverfolgung wird jedoch abgesehen (§ 45 II JGG). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dieser Gerichtsverhandlung um eine Steigerung der Reaktion seitens der Schulleitung handelt. Die Gespräche 178

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beim Direktor scheinen nicht zu helfen, so dass nun – wie in solchen Fällen durchaus üblich – härter durchgegriffen wird. Ahmet wird zwar nicht bestraft, aber es kann davon ausgegangen werden, dass die Gerichtsverhandlung bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hat. Womöglich folgen auch Sanktionen durch die Eltern, für die Ahmet spätestens zu diesem Zeitpunkt zum neuen Sorgenkind geworden sein dürfte, das offensichtlich in die Fußstapfen seines abgeschobenen Bruders tritt. Vielleicht ist Ahmet nach der Gerichtsverhandlung froh, dass er noch einmal davon gekommen ist und verhält sich in Zukunft unauffällig. Sehr viel wahrscheinlicher scheint jedoch, dass sich an seinem Verhalten nichts ändert. Es zeichnet sich bereits ab, dass Bestrafungen bei Ahmet keine Wirkung zeigen: Gewalt erzeugt (institutionelle) Gegengewalt, auf die Ahmet mit erneuter Gewalt reagiert. Es hätte wahrscheinlich jemandes bedurft, der sich Ahmet annimmt; der die sich hier abzeichnende Struktur durchbricht. So aber bleibt die Struktur bestehen. Im darauf folgenden Jahr brennt vor der Schule das Auto einer Lehrerin. Nachdem das Feuer erloschen ist, treten Ahmet und ein paar Freunde ein, was von dem Auto übrig geblieben ist. Es kommt zu einer Anzeige wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung. Noch im gleichen Jahr (2004) – Ahmet ist nun 15 Jahre alt – wird Ahmet nach Beendigung der achten Klasse von der Schule verwiesen. Ahmet muss ohne Abschluss die Schule verlassen. Das, was ihm unter Umständen bisher wie ein Spiel erschien, hat plötzlich reale Konsequenzen: Er ist gescheitert im System Schule. Gleichzeitig gerät er erneut ins Blickfeld der Behörden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er dieses Mal nicht so leicht davon kommt. Er ist nun nicht nur strafmündig, sondern auch bereits zum zweiten Mal auffällig geworden. Seine Familie übt zusätzlichen Druck auf ihn aus. Er bekommt Hausarrest und sein Vater droht ihm, ihn in die Türkei zu schicken. Nach den Ferien beginnt Ahmet in der Lackiererei eines Onkels zu arbeiten. Sein Vater scheint also – wie bereits bei seinem älteren Bruder – wieder aktiv geworden zu sein und bringt Ahmet innerhalb der Familie unter. Damit bewegt sich Ahmet zwar auf dem Weg eines ungelernten Arbeiters, der keinen Schulabschluss und keine Ausbildung hat, folgt aber gleichzeitig einem geregelten Tagesablauf und verdient eigenes Geld. Sein Vater geht vermutlich davon aus, dass ihn dies auf die ›rechte‹ Bahn bringen wird. Sein Plan scheint allerdings nicht aufzugehen. Ende August 2004 ist Ahmet bei einer Kirmes in eine Schlägerei verwickelt. Er gerät also erneut in eine schwierige Situation, die – da er inzwischen bekannt ist bei den Behörden – weit reichende Konsequenzen für ihn haben könnte. Es könnte sein, dass Ahmet hier Opfer wurde und die Schlägerei nicht von ihm ausging. Wahrscheinlicher scheint aber, dass sich an seiner Aggressivität nichts geändert hat. Möglicherweise diente ihm die Schlägerei auch als Ventil, da er sich sonst unter den Augen seiner Familie bewegen muss. 179

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Im September 2004 wird Ahmet wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung – vermutlich geht es um das verbrannte Auto der Lehrerin – vor Gericht angeklagt. Er wird verwarnt, kommt also auch hier wieder ›mit einem blauen Auge‹ davon. Dies könnte für ihn bedeuten, dass Ahmet glaubt, er könne sich alles erlauben und genau so weitermacht wie bisher. Möglicherweise weiß er aber auch, dass dies sozusagen eine letzte Verwarnung war, und wird nun tatsächlich sein Verhalten ändern. Im Herbst 2004 arbeitet Ahmet bei Bekannten in einem Laden und beginnt im Rahmen einer Bildungsmaßnahme seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Es beginnt somit ein neuer Lebensabschnitt für ihn. In der Bildungsmaßnahme bekommt er neue Lehrer/-innen und lernt vermutlich neue Leute kennen, die seinen bisherigen Lebensweg nicht kennen. Für Ahmet könnte dies die Chance für einen Neuanfang bedeuten. Schon im Februar 2005 kommt es jedoch zu einer erneuten Gerichtsverhandlung, bei der Ahmet wegen vorsätzlicher Körperverletzung angeklagt wird. Möglicherweise war er erneut in eine Schlägerei verwickelt, eventuell wurde jedoch auch im vergangenen Sommer bei der Kirmes-Schlägerei Anzeige gegen ihn erstattet, die nun erst verhandelt wird. Vielleicht hat die Verwarnung ihre Wirkung gezeigt und Ahmet war ein halbes Jahr lang unauffällig, wird aber nun von der Vergangenheit eingeholt. Ahmet muss zwei bzw. vier Wochen8 in Jugendarrest und wird darüber hinaus zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Zum ersten Mal hat eine Gerichtsverhandlung reale Konsequenzen für ihn. Die Zeit des Verwarnens ist vorbei. Für Ahmet könnte dies bedeuten, dass er nun mit einer Institution in Kontakt kommt, in der ihm klar wird, dass es so für ihn nicht weiter gehen soll. Allerdings bleibt auch hier – sogar in verstärkter Form – die Struktur Gewalt vs. (institutionelle) Gegengewalt bestehen, so dass eine Änderung recht unwahrscheinlich erscheint. Im Juni 2005 wird Ahmet vor Gericht wegen Körperverletzung angeklagt. Er habe – laut Akte der Bewährungshilfe – einer Frau das Fahrrad aus der Hand gerissen und sie dabei verletzt. Ahmet scheint also die Bildungsmaßnahme tatsächlich nicht als Neustart genutzt zu haben. Er fällt weiterhin durch aggressives Verhalten und Distanzlosigkeit auf; scheint sich zu nehmen, was er möchte. Direkter Kontakt mit seinem Opfer schreckt ihn offensichtlich nicht. Im Sommer 2005 kommt Ahmet eine Woche in Dauerarrest.9 Er ist in

8

9

In der Akte der Bewährungshilfe steht, er sei zwei Wochen in Jugendarrest gewesen; im Interview sagt Ahmet jedoch, er habe vier Wochen Jugendarrest bekommen. Möglicherweise übertreibt er hier, um mir gegenüber deutlich zu machen, dass es eine lange Zeit für ihn war. Im Interview sagt Ahmet, er sei zwei bis drei Wochen in Jugendarrest gewesen, was möglicherweise wieder als Hinweis gelesen werden kann, dass diese Zeit für Ahmet subjektiv sehr lang erschien. Vielleicht will er sich mithilfe dieser Übertreibung jedoch auch ›gefährlicher‹ machen als er ist (vgl. Kap. 6.4).

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einer Zelle eingesperrt und darf täglich nur eine Stunde auf den Hof. Die Maßnahmen werden härter. Es werden ihm massiv Grenzen aufgezeigt. Auch hier gäbe es nun wieder die Möglichkeit, dass die abschreckende Wirkung erfolgreich ist und Ahmet sein Verhalten ändert. Es scheint jedoch recht unwahrscheinlich, dass sich zu diesem Zeitpunkt bzw. bedingt durch die institutionellen Maßnahmen etwas ändert, da diese schon früher keine Wirkung auf Ahmets Verhalten zeigten, und auch hier nur wieder die schon bekannte Struktur reproduziert wird. Tatsächlich kommt es im September 2005 zu einer erneuten Gerichtsverhandlung. Ahmet wird wegen Diebstahls angeklagt. Er wird zu einer Woche Dauerarrest und zwei Jahren Bewährung verurteilt (§ 27 JGG). Die beiden vorherigen Straftaten von 2005 werden in das Urteil einbezogen. Weitere Auflagen sind ein sozialer Trainingskurs und 70 Stunden gemeinnützige Arbeit. Ende November wird Ahmet darüber hinaus wegen Rauferei und Störung im Unterricht aus der Bildungsmaßnahme verwiesen. Damit endet zunächst einmal die Chance, doch noch einen Schulabschluss zu erlangen und sein Leben in ›geregelte Bahnen‹ zu lenken. Auch hier fällt Ahmet wieder durch aggressives Verhalten auf. Er scheint nicht über legitime Konfliktlösungsstrategien zu verfügen und hat gleichzeitig keine Angst vor gewaltsamem Körperkontakt. Darüber hinaus scheint es für ihn wichtig zu sein, Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn er diese nicht erhält, erzwingt er sie sich durch Stören. Im Grunde ist dieses Verhaltensrepertoire Ahmets bekannt seit er 14 Jahre alt ist, doch mithilfe der institutionellen Maßnahmen ist es nicht gelungen, dieses zu durchbrechen. Das einzige, was sich geändert hat, sind die Konsequenzen seines Verhaltens. Er ist nicht mehr 14 und inzwischen ein ›beschriebenes Blatt‹, so dass scheinbar kleine Dinge weit reichende Konsequenzen für sein Leben haben. Ahmet erledigt seine gemeinnützige Arbeit und bekommt auch die Teilnahme am sozialen Trainingskurs bescheinigt. Er scheint insofern nicht zu rebellieren und die Auflagen selbstverständlich zu befolgen. Im April 2006 verliebt er sich und kommt mit einer Freundin zusammen, die sich allerdings schon wenig später von ihm trennt. Dabei kommt es zu einer Rangelei, bei der Ahmet »aus Versehen« einer Freundin der Freundin ins Gesicht schlägt. Auch hier zeigt sich wieder Ahmets aggressives Verhalten. Er kann sich im Konfliktfall nicht anders helfen, kennt keine Grenzen und reagiert so sehr im Affekt, dass er sich nicht mehr kontrollieren kann. Zum Zeitpunkt des Interviews im Mai 2006 hat Ahmet noch über ein Jahr Bewährungszeit. Er versucht eine Stelle zu finden. Sein Vater kann ihn evtl. nach dem Ende der Bewährungszeit in der Firma unterbringen, in der er arbeitet und wo er dem Betriebsrat angehört. Er ist also weiterhin für Ahmet da, kann ihm jedoch nur dann helfen, wenn dieser nicht mehr unter Bewährung steht. Doch ob Ahmets Bewährungszeit tatsächlich in einem Jahr beendet sein 181

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

wird, ist fraglich. Eventuell könnte bereits die handgreifliche Auseinandersetzung mit seiner Exfreundin und deren Freundin wieder zu einer Anzeige führen. Aber auch sonst scheint es sehr wahrscheinlich, dass Ahmet auch in Zukunft wieder in Schwierigkeiten geraten wird. Es gab kein Ereignis, das darauf hindeuten würde, dass die Struktur Gewalt – (institutionelle) Gegengewalt, die bisher Ahmets Leben bestimmte und auf die er immer wieder mit erneuter Gewalt reagierte, durchbrochen wurde, oder dass sich neben dieser eine andere Struktur abzeichnen würde.10

6.3 Text- und thematische Feldanalyse Auf meine Eingangsfrage, »also, ich hätt gern dass du mir deine, Familien und Lebensgeschichte erzählst (1)«, reagiert Ahmet mit einer Gegenfrage: »das heißt?« Er signalisiert damit, dass ihn die offene Eingangsfrage verunsichert und er lieber reagieren möchte, anstatt von sich aus etwas preisgeben zu müssen. Da ich hierauf nicht in der gewünschten Form reagiere, sondern lediglich erkläre, dass Ahmet anfangen könne, wo auch immer er möchte, fragt er erneut nach: »ja was soll=ich Ihnen erzählen? (1)« Er möchte es also genau wissen und versucht möglicherweise auf diese Weise abzuschätzen, was er erzählen kann und was er lieber weglassen sollte. Gleichzeitig wird auf diese Weise die asymmetrische Forschungsbeziehung zwischen ihm und mir geschwächt, da Ahmet mir fast ebenso viele Fragen stellt wie ich ihm (vgl. Kap. 3.2.3). Auffällig ist, dass Ahmet mich hierbei siezt, obwohl ich ihn zuvor geduzt habe. Er scheint sich auf meine Kommunikationsebene nicht einlassen zu wollen oder zu können, möchte mich möglicherweise durch das ›Sie‹ auf Distanz halten. Vielleicht ist es für ihn aber auch einfach ungewohnt, in einer solchen Situation sein Gegenüber, das älter ist als er und von dem er weiß, dass es in irgendeiner Weise von der Bewährungshilfe kommt, zu duzen. Da ich auch nun nicht konkreter werde, fordert Ahmet mich direkt auf, ihm Fragen zu stellen. Er präsentiert sich damit als jemand, der mit der Situation zwar überfordert ist, gleichzeitig jedoch aktiv wird und eine Lösung anbietet: »stellen Sie mir Fragen ich geb Ihnen ne Antwort«. Ich reagiere jedoch nicht auf sein Anliegen, sondern thematisiere stattdessen die gegenseitige Anrede. Ahmet lässt sich daraufhin scheinbar auf das ›Du‹ ein. Bereits nach dem Ende der Haupterzählung siezt er mich jedoch erneut und behält dieses ›Sie‹ auch im weiteren Verlauf des Interviews bei, während ich ihn weiterhin duze. Anschließend wiederhole ich noch einmal mein Anliegen: 10 Bei einem Gespräch mit Ahmets Bewährungshelfer im August 2007 stellte sich jedoch heraus, dass Ahmet seine Bewährungszeit gut überstanden und hinter sich gebracht hat. Möglicherweise steht diese positive Entwicklung in Zusammenhang mit seinen neuen Freunden (vgl. Kap. 6.4.4). 182

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»also (1) mm was dir zu deiner, Familien, Lebensgeschichte (2) einfällt«, woraufhin Ahmet erneut nachfragt: »zu meiner Familie? (1)« Es klingt, als habe er verstanden, dass ich ihm keine Fragen stellen werde. Trotzdem möchte er sich noch einmal vergewissern, ob er tatsächlich (auch) über seine Familie sprechen soll; ob er mich richtig verstanden hat, und nicht möglicherweise etwas preisgibt, was er nicht hätte preisgeben müssen. Auch hier antworte ich ihm wieder nicht direkt (»und zu deinem Leben«), woraufhin Ahmet jedoch nun zu erzählen bzw. – genauer gesagt – zu argumentieren beginnt; und diese Textsorte behält er auch während der gesamten Eingangserzählung bei. zu meiner Familie und zu meinem Leben /m/ ja, mein Leben ging ja nicht grade grad- /´bisschen nach vorne noch´/ grad mal so (1) ((Bewegung (1)) /´super ja´/ grad mal nicht so grade oder=so aber (2) na ja muss das Beste draus machen meine Familie:- (1) ((Räuspern (1)) ich weiß nicht (2) meine Familie ist gut (2) mit meiner Familie komm=ich eigentlich ganz gut zurecht (1) ja (1) u:nd ja Leben ging halt nicht so (1) wie man=s will (1) oder, wie ich=es wollte (1) gab viele, Sachen die so schief gegangen sind (2) wo jetzt nicht grad für extra waren oder so aber (2) ´na ja´ (1) was war das war (4) ich weiß nicht (5) Leben und=ich (2) ((kurzes Räuspern)) ging viel schief in meinem Leben (3) ´mm´ sehr viel Mist gebaut (6) (1/21-1/30)11

Ahmet erfüllt genau das, wozu ich ihn aufgefordert habe. Er spricht über sein Leben und über seine Familie, bzw. er bewertet sein Leben und seine Familie: Sein Leben ging »nicht grade grad-«, seine »Familie ist gut«. Damit präsentiert sich Ahmet gleich zu Beginn mithilfe einer Differenzlinie ›normal‹ vs. ›abweichend‹. Er ist jemand, der von der Norm abgewichen ist. Sein Leben verlief nicht gerade – so wie es scheinbar hätte sein sollen bzw. ›normal‹ gewesen wäre – sondern schief. Auffällig ist hierbei, dass er sein Leben wie einen Rivalen oder Gegner darstellt, gegen den er im Kampf oder Spiel antreten musste: (5) Leben und=ich (2) ((kurzes Räuspern)) ging viel schief in meinem Leben (3) ´mm´ sehr viel Mist gebaut (6) (1/29-1/30)

Gleichzeitig präsentiert sich Ahmet als jemand, der schon viel erlebt hat und auf einiges zurückschauen kann. Seine Familie scheint er von diesem Erlebten klar abzugrenzen. Sie hat nichts damit zu tun, dass sein Leben schief ging. Vielleicht schämt er sich vor seiner Familie, möglicherweise ist diese Darstellung aber auch von der Anwesenheit der Familie vor der Wohnzimmertür geprägt (vgl. Kap. 6.1). Das thematische Feld, das sich innerhalb dieser ersten

11 Vgl. zu den Regeln der Transkription Kap. 3.3 und Kap. 5.2.3. Die verwendeten Transkriptionszeichen sind im Anhang aufgeführt. 183

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

zehn Zeilen des Interviews abzeichnet, ließe sich beschreiben als: Ich bin jemand, der schon viel mitgemacht hat. In der darauf folgenden Sequenz (1/30-1/35) präsentiert sich Ahmet in erster Linie als Mitläufer: irgendwie fing das auch alles (1) damit an, mit der Schule weil=ich hab anfangs der Schule (1) ´wo=ich in die: Hauptisch- in die Hauptschule da angefan- angefangen= hab und so (1) da fing=s schon=an mit meinen Klassenkameraden und so und=ä: (1) ja die=ham dann schon so (1) bisschen mitgemacht und angefangen und ei mach dies doch und mach jenes doch (1) na ja dann hat man so gerne mal Spaßchen mitgemacht (1) (1/30-1/35)

Seine Mitschüler in der Hauptschule haben ihn angestachelt, er selbst ist unschuldig bzw. hat nur mitgemacht. Dennoch präsentiert er sich auch als jemand, der gerne unvernünftig ist und der es genießt, dazuzugehören; zwar nicht als Anführer, aber als angesehenes Mitglied der Gruppe. Das, was er zuvor noch als »Mist« bezeichnet hat, benennt er nun als »Spaßchen«. Das thematische Feld aus der ersten Sequenz erhält eine erweiternde bzw. erklärende Komponente: Ich bin jemand, der schon viel mitgemacht hat, weil ich mich mitreißen lasse und gern ein bisschen Spaß habe. In der nächsten Sequenz wird Ahmet konkreter: u:nd=es hat dann irgendwann im- in dem Sinne geführt dass, irgendjemand dann am Ende, n Auto in die Luft gejagt=hat (2) u:nd=ä:m (1) wir dann hinterher noch=mal hingegangen=sind ham das Auto zusammen getreten (1) das war Auto war n- von Lehrer das Auto (1) ´na ja´ und so fing=s dann=halt, hier mit der ganzen Geschichte=an (1/36-1/40)

Ahmet präsentiert sich nun als jemand, für den Gewalt selbstverständlich ist, der keinen Respekt vor dem Besitz anderer hat. Er präsentiert sich als ein beschriebenes Blatt bei der Polizei; als von der Norm abweichend. Er ist jemand, der sich von juristischen Interventionen bzw. Maßnahmen von Außen nicht stoppen lässt: dann ging=s immer so weiter kam die, (Anzeige) und=dann kommt noch ne andere Anzeige (1) dann noch die Anzeige und=dann gab=s noch Jugendarrest und danach gab=s die Anzeige und dies und jenes (2) ´ja´ (2) ich weiß=jetzt auch gar nicht was=ich Ihnen \((klatscht leicht in die Hand o.ä.)) dazu\ hauptsächlich sagen soll (2) fällt nichts=ein (5) (1/40-1/44)

Das thematische Feld: Ich bin jemand, der schon viel mitgemacht hat, bleibt also bestehen. Es ließe sich nun allerdings konkreter formulieren: Ich bin jemand, der immer wieder in brenzlige Situationen hineinschlittert und von der 184

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Norm abweicht. Doch es deutet sich in dieser Sequenz bereits eine neue Komponente an. Ahmet präsentiert sich hier auch als resigniert und gleichgültig. Er stellt sich als Opfer dar bzw. als unschuldig und passiv, was dann vor allem in der darauf folgenden Sequenz der Eingangserzählung deutlich wird: (2) das=waren aber alles immer so Schlägereien (1) die=ich im Endeffekt gar nicht haben wollte oder die ich im Endeffekt gar nicht machen wollte sondern=n, ´es´ kam immer urplötzlich (1) weil da waren wir mal da und hat man ne Beleidigung abbekommen, und dann fing=s an so mit Schubsereien ´dann´ ging=s schon rüber auf ne Schlägerei ´dann´, eskalierte die ganze Geschichte und so (1) und=am Ende hab=ich da nur noch dagestanden (1) ((Schnalzen)) (1) ´ja´ (2) die Hände so dick mit den Handschellen unten dran ((leises kurzes Schmunzeln)) (5) (2/01-2/08)

Ahmet bestätigt hier das von ihm bereits konstruierte Bild, dass er jemand ist, der schon viel mitgemacht hat. Er weicht von der Norm ab und gerät immer wieder in brenzlige Situationen. Gleichzeitig präsentiert sich Ahmet jedoch auch als jemand, der für die Situationen nichts kann; hineingeschlittert ist, obwohl er das nicht wollte; unschuldig ist. Er präsentiert sich als unfair behandelt und auch als jemand, dem Gewalt angetan wird, indem er von der Polizei verhaftet wird. Das thematische Feld, das sich hier nun neben dem bereits bekannten abzeichnet, könnte man bezeichnen als: Ich bin jemand, der nichts dazu kann, dass er immer wieder in Konflikte gerät. Ahmet verortet sich also bei seiner Selbstpräsentation innerhalb zweier thematischer Felder. Das eine Feld wird bestimmt von dem Thema Norm bzw. von den Normen abweichen und in brenzlige Situationen geraten, das andere ließe sich mit dem Thema Schuld überschreiben: Ich kann nichts dazu, dass ich in Konflikte gerate; ich bin nicht schuld. In der darauf folgenden Sequenz beschreibt Ahmet seine Zeit im Jugendarrest. Dabei kommt es zu folgender Argumentation: Jugendarrestanstalt ham=wir dann damals als immer- also=es wird=ja hauptsächlich JA: genannt ne? dann ham=wir damals halt immer den Jugend(herbergemitglied ) gesagt, weil=es-, da drin ist auch kein- (1) kein Knast und gar nichts das ist=auch kein Vorblick vom Kna-, vom Knast wie die hauptsächlich so sagen weil (1) das=ist einfach (1) reinste (1) Tod da drin, also stirbt man von alleine ich würd da keine sechs Wochen drin aushalten (3) ´und so=n´ echten Knast (1) den find=ich was anderes das sollte eher so ä angsteinflößend sein so dass man sagen kann na ja da war=ich jetzt einmal drin und geh da nie wieder rein (1) aber das=ss-, (dagegen) die JA ist total anders da, also i- (1) ´m´ ist abnormal (2) weil=ich ´mein´ im Gegenteil vom JA zur JVA oder so (1) hat man ja noch wenigstens so freizeitmeni- mäßig irgendwas zu tun oder Arbeit oder keine Ahnung was ´noch´ (1) je länger da du bist ((Gähnen (1)) ist=es nicht normal (1) da: hat man gar nichts da, darf man morgens um, neun Uhr mal ne Stunde raus, in n Hof und=das war=s dann auch schon wieder ab rein damit (4) ´ja´ (3) (2/10-2/24) 185

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Ahmet argumentiert hier, dass Jugendarrest schlimmer sei als »Knast«. Damit präsentiert er sich zunächst einmal als »Knast«-Experte. Er ist jemand, der sich auskennt. Das thematische Feld, ich bin jemand, der von der Norm abweicht, lässt sich hier wieder erkennen. Gleichzeitig präsentiert sich Ahmet aber auch als jemand, der eine sehr schreckliche Zeit erlebt hat. Möglicherweise veranlasst ihn dies auch dazu, die Zeit im Jugendarrest schlimmer als den »Knast« zu beschreiben, da seine Sicht sehr stark vom Heute und Jetzt geprägt wird. Er scheint jemand zu sein, bei dem immer etwas los sein muss und der nicht mit sich allein sein kann. Zumindest präsentiert er sich als jemand, der immer in Bewegung sein muss und ›stirbt‹, wenn er nichts tun kann.12 Indirekt konstruiert Ahmet mit dieser Selbstpräsentation eine Entschuldigung für sein Verhalten. Er ist jemand, der von der Norm abweicht, aber eigentlich nichts dazu kann, denn er muss immer in Bewegung bleiben. Insofern ist er zwar Täter aber gleichzeitig auch Opfer. Ahmets Selbstbeschreibung ist also ambivalent. Einerseits ist er Opfer bzw. unschuldig, weil er nichts für sein Verhalten kann. Er wird mit hineingezogen, von anderen angestachelt; muss immer in Bewegung sein. Andererseits weicht er von den Normen ab und gerät immer wieder in brenzlige Situationen. Insofern ist er also auch Täter bzw. schuldig. Interessanterweise schafft es Ahmet in der hierauf folgenden Sequenz, die gleichzeitig die Eingangserzählung abschließt, diese Ambivalenz wieder zurückzunehmen: ich hab nichts mehr zu erzählen ((I. lächelt kurz)) (1) fällt da großartig auch nichts mehr=ein weil ich wollt so gut wie möglich alles, vergessen (1) ((Räuspern (1)) ich mein mir fällt da schon viel=ein aber (2) ´das sind´ alles Geschichten (1) oh oh (3) wo=ich nicht grad stolz drauf bin oder so (4) Sie sind sicher dass Sie keinen Kaffee oder Tee wollen? (2/24-2/29) 12 Auch an anderer Stelle präsentiert sich Ahmet als jemand, der immer in Bewegung sein muss. Er berichtet z.B. von dem Sommer 2004, in dem er von der Schule geflogen ist und von seinem Vater Hausarrest bekam. Der Hausarrest war für ihn zwar nicht der »Tod«, aber die »reinste Hölle«: »u:nd da hat der gemeint=gehabt (1) du bleibst daheim und machst hier daheim irgendwas Schönes (1) na ja und=ich wusst nicht was ich machen sollte un=nd ist eigentlich jede Erlebnis, die reinste Hölle also wenn man hier zu=Hause wohnt ist, reinste Hölle (1) ich mein man kann Fernseh gucken wir=haben oben noch en Fernseher oder, ja PC oder Internet- keine Ahnung, kann man alle möglichen Sachen machen (1) aber trotzdem irgendwann wird=s langweilig (1) u:nd (1) auf jeden Fall, ich hab=mir überlegt was=ich machen kann und=ich hab, mir ist eigentlich, nicht- nichts Großa- Großartiges eingefallen (1) dann lag=ich irgendwann im Bett (1) und da ist=mir irgendwie aus-, aus welchen Grund auch immer ist mir die Terrasse eingefallen (1) [...] ´da hab=ich´ überlegt da könnt=ich doch irgendwas dran machen (1) werden Sie vielleicht gesehen haben die Terrasse? (1) /(verneinend:) mm/ kann=ich Ihnen später zeigen=also ich hab=jetzt so=n, Dach drüber gemacht /m/, ´m´ un=nd (1) das hab=ich ganz alleine gemacht (1)« (4/49-5/14). 186

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Er präsentiert sich nun wieder einfach als jemand, der viel erlebt hat. Gleichzeitig macht er jedoch deutlich, dass er noch mehr zu erzählen hätte. Indirekt wiederholt er damit die bereits zu Beginn an mich gestellte Aufforderung: Wenn du noch mehr wissen möchtest, stell mir konkrete Fragen. Damit macht er deutlich, dass er bereit (und auch fähig) war zu kooperieren, aber dass er – seiner Meinung nach – nun erst einmal genug von sich gezeigt hat. Geschickt leitet er in eine Interaktion über, mit der er scheinbar lediglich gesellschaftliche Konventionen befolgt, mich aber gleichzeitig zwingt, mit ihm zu interagieren. Vorher aber gibt er doch noch etwas von sich preis: Er präsentiert sich als jemand, der nicht stolz auf sich sein kann oder nicht stolz auf sich sein darf, weil er Normen verletzt hat. Dennoch ist er jemand, der Geschichten zu erzählen hat, und das scheint etwas zu sein, worüber er sich definiert; was ihn doch auch wiederum stolz macht. Ahmets Selbstpräsentation changiert also zwischen Heteronomie und Autonomie. Einerseits ist er Handlungssubjekt im Wünschen und ›Mist bauen‹, andererseits präsentiert er sich als Opfer, das einfach mitgemacht hat, angestachelt und letztlich ungerecht behandelt wurde. »Leben und ich«, wie Ahmet es treffend auf den Punkt bringt, sind die beiden Pole, die sich gegenüber stehen, letztlich jedoch in der Selbstpräsentation als von der Norm abweichend ineinander übergehen.

6.4 Feinanalysen 6.4.1 Anfangssequenz Ahmet beginnt – nach mehreren Nachfragen (vgl. Kap. 6.3) – das Interview mit einer Bewertung seines bisherigen Lebens. Es klingt fast so, als schaue er – als alter Mann – auf sein Leben zurück und müsse feststellen, dass da einiges schief gelaufen ist; zumindest so schief, dass er im Nachhinein behaupten kann oder muss, dass sein Leben nicht so lief, wie er das gern wollte. Er präsentiert sich als jemand, der mit vielen Dingen kämpfen musste, dessen Leben nicht einfach war. Dabei scheint er bestimmte Vorstellungen zu haben, wie ein Leben ›normal‹ verläuft: nämlich gerade. Sein eigenes Leben definiert er als abweichend: als nicht gerade verlaufen.13 Bereits zu Beginn des Interviews gibt Ahmet mit der Globalevaluation, »ja, mein Leben ging ja nicht grade grad- /cbisschen nach vorne nochc/ grad mal so (1) ((Bewegung)) /csuper jac/ grad mal nicht so grade oder=so aber (2)« (1/22-1/24), schon ziemlich viel von sich preis. Er präsentiert sich in einem relativ schlechten Licht, weckt aber auch Interesse an seinem Leben, 13 Vgl. zur (Re-)Produktion von Normalität im Interview auch Kap. 3.4. 187

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denn es stellt sich die Frage, warum sein Leben nicht gerade verlaufen ist; was schief lief. Gleichzeitig präsentiert er sich als jemand, der nichts schön redet; der die Dinge beim Namen nennt und genau weiß, wo es gehapert hat. Dadurch weckt er den Eindruck, sein Leben reflektiert betrachten zu können. Es könnte sein, dass Ahmet gleich zu Beginn das sagt, von dem er denkt, dass ich als Interviewerin es sowieso weiß. Vielleicht glaubt er auch, dass ich genau so eine Geschichte von ihm erwarte; schließlich weiß er, dass ich Interesse an ihm habe, weil er unter Bewährung steht. So könnte es sein, dass er den unangenehmen Teil seiner Lebensgeschichte gleich zu Anfang benennt, um es hinter sich zu bringen. Es scheint ihm trotzdem schwer zu fallen, darüber zu sprechen. Er gebraucht Ironie bzw. spielt mit den Worten (»nicht grade grad-«) und rettet sich in Floskeln (»grad mal nicht so grade oder=so«), um nicht konkret(er) werden zu müssen. Dennoch scheint es ihm wichtig zu sein, über dieses Thema zu sprechen und sich in dieser Weise darzustellen. Ich unterbreche ihn mehrmals,14 aber Ahmet nutzt diese Gelegenheit nicht, das Thema zu wechseln oder noch einmal neu anzusetzen, um seine Selbstpräsentation zu ändern. Um so überraschender ist es, dass Ahmet dann doch relativ schnell das Thema »mein Leben« beendet: na ja muss das Beste draus machen (1/24)

Es scheint fast, als habe er plötzlich Angst bekommen, zu viel von sich preiszugeben. Er will sich nicht weiter öffnen, will nicht konkreter werden. Auch hier benutzt er wieder Floskeln, die nun seine Gesprächspartnerin und vielleicht ihn selbst beruhigen sollen, und präsentiert sich an einem Punkt im Leben, an dem sich noch vieles ändern kann. Gleichzeitig klingt es, als habe Ahmet in gewisser Weise aber auch schon resigniert. Er plappert nach, was man eben so sagt, um die Schwere zu nehmen, glaubt aber selbst nicht daran. Es ist schon (zu) viel passiert und Ahmet muss nun sehen, wie er mit den Konsequenzen zurecht kommt. Es könnte sich jedoch hierbei auch um eine gezielte Selbstpräsentation handeln, denn aus den biographischen Daten wurde ersichtlich, dass Ahmet schon einige Erfahrung in Gesprächen mit Schulleitern, Polizisten und Sozialarbeitern hat, und er daher gelernt hat, dass es nicht schaden kann, sich reumütig und resigniert zu präsentieren (vgl. Kap. 3.2.3; Spindler 2006: 121). Jedenfalls wechselt er das Thema und beginnt nun über seine Familie zu sprechen. Er befolgt also genau, worum ich ihn gebeten habe, und spricht über sein Leben und seine Familie (vgl. Kap. 6.3): meine Familie:- (1) ((Räuspern (1)) ich weiß nicht (2) meine Familie ist gut (2) mit meiner Familie komm=ich eigentlich ganz gut zurecht (1) (1/24-1/26) 14 Ahmet saß zu Beginn des Interviews sehr weit zurückgelehnt auf dem Sofa, weshalb ich ihn bat, etwas näher an das Mikrophon zu rücken. 188

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Die Pausen, das Räuspern und auch das eingeschobene »ich weiß nicht« deuten darauf hin, dass er hierbei genau zu überlegen scheint, was er über seine Familie sagen kann, darf oder sollte. Er ist vorsichtig gegenüber der Interviewerin und möchte seine Familie im rechten Licht präsentieren. Seine Familie hat mit seinem nicht gerade verlaufenen Leben nichts zu tun. Er allein ist schuld daran. Möglicherweise hat er auch Angst, etwas über seine Familie preiszugeben und täuscht lieber Unwissenheit vor bzw. rettet sich in Floskeln, um sich und seine Familie zu schützen. Wenn er mehr sagen bzw. auch über einzelne Familienmitglieder sprechen würde, könnte er möglicherweise seine Familie nicht mehr (nur) als »gut« bezeichnen. Er möchte daher nicht weiter differenzieren. Vielleicht hängt die Präsentation seiner Familie auch mit der Interviewsituation zusammen (vgl. Kap. 6.1), da Ahmet befürchten muss, dass seine Mutter oder auch andere Familienmitglieder jederzeit hereinkommen kann/können bzw. dass man von draußen hören kann, was im Wohnzimmer gesprochen wird. Unter Umständen ist Ahmet aber auch einfach überfordert mit der Interviewsituation. Er ist es nicht gewohnt, ohne konkrete Fragen über sich und sein Leben zu sprechen. Und vielleicht zeigt sich hier auch sprachliche Unbeholfenheit. Möglicherweise kann er auch nicht weiter differenzieren. Dennoch deutet einiges darauf hin, dass es womöglich auch Probleme innerhalb bzw. mit der Familie gibt. Durch das »eigentlich« und »ganz« wird das »gut« abgeschwächt, was darauf hinweisen könnte, dass er mit seiner Familie nicht immer gut zurecht kommt und es auch Probleme gibt (vgl. hierzu auch Kap. 6.4.3 & Kap. 6.4.5). Nach dieser kurzen Sequenz scheint das Thema Familie jedenfalls für ihn abgehandelt zu sein. Ahmet kommt nun wieder auf das Leben zurück: ja (1) u:nd ja Leben ging halt nicht so (1) wie man=s will (1) oder, wie ich=es wollte (1) gab viele, Sachen die so schief gegangen sind (2) wo jetzt nicht grad für extra waren oder so aber (2) ´na ja´ (1) was war das war (4) ich weiß nicht (5) Leben und=ich (2) ((kurzes Räuspern)) ging viel schief in meinem Leben (3) ´mm´ sehr viel Mist gebaut (6) (1/26-1/30)

Dabei personifiziert er das Leben (»Leben und=ich«) und präsentiert sich mithilfe dieser heteronomen Konstruktion gleichzeitig als passiv und unschuldig: Das Leben ging seinen eigenen Weg (vgl. auch Kap. 6.3). Er nimmt sich aus dem, was passiert ist, als Person heraus. Er kann nichts dazu, dass vieles schief ging. Gleichzeitig scheint er den Verlauf seines Lebens auch nicht wirklich schlimm zu finden. Die »Sachen« an sich werden nicht von ihm in Frage gestellt, problematisch und vielleicht auch überraschend ist für ihn offenbar nur, dass sie »schief gegangen sind«. Er scheint keine Schuld zu empfinden. Dennoch orientiert er sich bei seiner Präsentation auch weiterhin an Normvorstellungen. Er scheint ein gewisses Bild vor Augen zu haben, wie ein 189

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Leben ›normalerweise‹ abläuft und ist sich dessen bewusst, dass er dieses Bild nicht erfüllen kann; zumindest scheint es wichtige Punkte in seinem Leben zu geben, die von der Norm abgewichen sind, »schief« gelaufen sind: Er hat »sehr viel Mist gebaut«. Auch hier rettet sich Ahmet also wieder in Floskeln, um nicht konkreter werden zu müssen. Er versucht die Erwartungen der Interviewerin zu erfüllen, ohne tatsächlich etwas preisgeben zu müssen und präsentiert sich als guter Interviewpartner. Am Ende wird er immer einsilbiger und die Pausen werden länger. Vermutlich ist er irritiert, dass ich noch immer nichts sage, obwohl er bereits sowohl über sein Leben als auch über seine Familie gesprochen hat.

6.4.2 ›Streiche‹ in der Schule Nachdem Ahmet seine Haupterzählung beendet und in eine Interaktion übergeleitet hat (vgl. Kap. 6.3), beginnt der Nachfrageteil des Interviews. Dabei ist vor allen Dingen der Beginn des Nachfrageteils von zum Teil sehr ausführlichen Erzählungen geprägt. Ahmet nutzt hier jede sich bietende Gelegenheit, um mir ausführlich seine ›Abenteuer‹ und ›Streiche‹ aus der Schulzeit zu erzählen bzw. diese mithilfe verdichteter Situationen zu beschreiben. Auch wenn ich dies mit meinen Nachfragen nicht fokussiere, fühlt sich Ahmet möglicherweise durch meine parasprachlichen Rezeptionssignale animiert, die er als Zustimmung interpretiert. Seine Schulzeit scheint ihm jedenfalls biographisch noch sehr nahe zu sein, obwohl er bereits zwei Jahre vor dem Interview von der Schule verwiesen wurde (vgl. hierzu auch Spindler 2006: 161). Fast entsteht ein Eindruck, als habe Ahmet in mir nun endlich ein Publikum gefunden, vor dem er all diese ›Späße‹ in ihrer ganzen Ausführlichkeit darstellen kann. Einige dieser Erzählungen sollen im Folgenden analysiert werden, denn es scheint recht offensichtlich, dass Ahmet hier das Interview als ›Bühne‹ nutzt, um sich in einer bestimmten Art und Weise mir gegenüber zu präsentieren und zu positionieren.

Lehrer ›drauf schicken‹ (2/36-3/02) Meine erste Nachfrage bezieht sich auf Ahmets Formulierung, dass sein Leben »nicht grade grad-« (1/22) verlaufen sei (vgl. Kap. 6.3 & 6.4.1): I:

[...] ä:m, du=hast gesagt dass dein Leben nicht so grade verlaufen ist /((zustimmend:)) mm/ (1) kannst du mir da noch n bisschen mehr zu, erzählen? (2/33-2/35)

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»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Ahmet beginnt daraufhin direkt und ohne eine Sekunde zu zögern von der Schule zu sprechen. Offenbar bezog sich seine Aussage zu Beginn des Interviews weniger auf sein »Leben« im allgemeinen als auf seine Schulzeit, die nicht der Norm entsprechend verlaufen ist: B: ah ja klar die Schu:le- (2) voll in der Schule abgekackt (2/36-2/37)

Möglicherweise markiert Ahmet hier jedoch auch lediglich den Zeitpunkt, ab wann sein Leben nicht mehr »grade« verlaufen ist (vgl. Kap. 6.2), wobei unklar bleibt, ab welchem Schuljahr dies so war. Er hat jedenfalls in der Schule »abgekackt«, was vermutlich heißen soll, dass er in der Schule nicht gut war bzw. immer schlechter wurde und seinen Abschluss nicht geschafft hat. Doch Ahmet gibt sich hierfür nicht selbst die Schuld, sondern sucht diese bei seinen Freunden: \((Papierrascheln:)), ´und´=es\ ist eigentlich meistens immer nur wegen den Freunden, immer nur Freundesbereich (1) da haben dann die Freunde blau gemacht haben dann gemeint=gehabt ach komm mach mit blau und-, (2/37-2/39)

Ahmet berichtet hier in einer verdichteten Situation von seinen Freunden, die »blau« gemacht haben und Ahmet dazu verleiten wollten, ebenfalls dem Unterricht fern zu bleiben. Sich selbst präsentiert Ahmet als unschuldig und passiv. Seine Freunde haben ihn angestachelt. Diese Präsentation wird von Ahmet aufrecht erhalten, auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass es nicht bei dieser Aufforderung geblieben ist. Doch Ahmet bricht an dieser Stelle ab (»und-«) und betont, dass er selbst nie »blau gemacht« habe: also was heißt blau ich=hab noch nie, in der Schule blau gemacht also=ich bin immer gern in die Schule=gegangen aber /m/ um-, nicht um zu lernen oder so einfach um meinen Spaß zu haben ((leises kurzes Schmunzeln)) ((I. schmunzelt ebenfalls kurz)) (vielleicht) bin ich halt einfach in die Schule gegangen um die Lehrer mal so=n bisschen drauf zu schicken (1) ´na ja so, keine Ahnung (2) (2/39-2/44)

Ahmet präsentiert sich nun als jemand, der gern zur Schule gegangen ist; doch nicht etwa um zu lernen, sondern um Spaß zu haben. Dies wird von Ahmet besonders betont. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass er keinerlei Bildungsambitionen hatte, sondern die Schule nur als Ort besucht hat, um seinen ›Schabernack‹ zu treiben; »die Lehrer mal so=n bisschen drauf zu schicken«. Was er hiermit genau meint, illustriert Ahmet anhand eines Beispiels: wie soll=ich sagen?´ wir hatten zum Beispiel=jetzt-, ich geb mal n Beispiel hatten wir mal n Lehrer gehabt (1) der=hat die ganze=Zeit gelispelt und wenn der gelispelt hat hat man den so, schwer verstanden da=hat=der irgendwas gesagt dann hab=ich 191

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jedes Mal gesagt was? was? was? was? die ganze=Zeit was was was gesagt, das hat den=halt total aufgeregt und=alles ((kurzes Rascheln)) (2/44-2/49)

Ahmet positioniert sich in dieser verdichteten Situation als Schüler, der die Schwäche seiner Lehrer/-innen ausnutzt, und sich über sie lustig macht. In seinem Beispiel geht es um einen Lehrer, der gelispelt und den die Klasse aufgrund dessen offenbar schlecht verstanden hat. Der Lehrer bietet durch diese Sprachschwäche einen Angriffpunkt für Ahmet, den dieser sofort nutzt. Es scheint ihm darum zu gehen, den Lehrer bloßzustellen. Doch warum tut Ahmet dies? Denkbar wäre beispielsweise, dass Ahmet von dem Lehrer schlechte Noten erhalten hat, er also von seinem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt wurde, und Ahmet sich nun ›rächt‹. Doch dies scheint nicht der Fall zu sein oder zumindest präsentiert Ahmet hier nicht solch eine Vergeltungsgeschichte, denn er geht gar nicht weiter auf die spezifische Situation ein, sondern beschreibt stattdessen die Reaktion der Klasse, die scheinbar gewöhnlich auf solche ›Aktionen‹ folgte: all so Sachen halt ham=wir halt so immer in der Schule gemacht ´u:nd´, ja: die andern fanden=s lustig (2/49-2/50)

Dabei wird deutlich, dass es wohl gar nicht immer nur Ahmet allein war, der seine ›Späße‹ auf Kosten der Lehrer/-innen betrieben hat. Ahmet spricht hier von »wir«. Möglicherweise bezieht er sich dabei auf seine Freunde, denen er schon zu Beginn der Textstelle die Schuld daran gegeben hat, dass sein Leben nicht gerade verlaufen ist. Dieses »wir« steht jedenfalls konträr zu den »andern«, die offenbar das, was Ahmet (und seine Freunde) anstellte(n), lustig fanden. Die Reaktion der »andern«, also der peergroup, zeugt von Anerkennung für Ahmet (und seine Freunde). Durch sein bzw. ihr Agieren gegen die Lehrer/-innen – bzw. in diesem Fall gegen einen männlichen Lehrer – wird von Ahmet (und seinen Freunden) das hierarchische System der Schule zum Wanken gebracht. Darüber hinaus wird von Ahmet in einer Art »ernsten Spiel des Wettbewerbs« (Bourdieu 1997; Meuser 2005; vgl. Kap. 2.4.2) Macht und auch Männlichkeit hergestellt, indem er sich seinem Lehrer widersetzt bzw. diesen angreift und seine Schwäche vorführt. Doch dies hat seinen Preis: und im Endeffekt bin ich dann immer der gewesen der dann beim Rektor gehockt= hat- ((Rascheln (1)) (1) ich mein der Rektor wusste schon genau wenn ich (1) schon=n in der ersten, großen Pause bei dem an ne Tür geklopft=hab hat der schon direkt gesagt komm rein Ahmet und ä- (2) (2/50-3/02)

Letzten Endes hält Ahmets ›Sieg‹ nicht lange an. Er wird zum Direktor bestellt. Und da solche Situationen scheinbar häufig vorkommen, weiß der Di192

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rektor schon genau, wer vor der Tür steht, wenn Ahmet in der ersten Pause klopft. Aus dem ›wir‹ in Ahmets Darstellung ist nun wieder ein ›ich‹ geworden. Dadurch klingt es, als ob durchaus auch andere (vermutlich Ahmets Freunde) während des Unterrichts auffallen, doch letztlich wird nur Ahmet für die ›Aktionen‹ bestraft. In gewisser Weise präsentiert sich Ahmet hier als ungerecht behandelt, aber er scheint auch sichtlich stolz zu sein, dass gerade er immer wieder zum Direktor gerufen wird. Vermutlich gehört es eben dazu, auch die Konsequenzen hinzunehmen. Es ist der Preis, den er für die ›Lacher‹ bezahlt; und wenn er diesen nicht zahlen müsste, würde die Anerkennung durch seine Mitschüler/-innen vermutlich wesentlich geringer ausfallen.

Lehrern drohen (3/02-3/23) Doch scheinbar führt Ahmets Verhalten in der Schule nicht nur dazu, dass er beim Direktor erscheinen muss. In der folgenden Textstelle, die unmittelbar auf die zuvor analysierte folgt, erzählt Ahmet von seinem (vermutlich) ersten Kontakt mit der Polizei: ´ja´ na in der Schule fing=s dann auch halt=an mit dem-, mit den Bullen und=so weil=ä (1) da war mal so ne kleine Geschichte un=nd ´mm´ der Herr Werner also mein alter Konrektor der hat-, ich hab in der Schule Streit gehabt und=da hab=ich, jemanden geschlagen da hat der Werni mir n Verweis gegeben, (3/02-3/06)

Ahmet berichtet hier von einem Streit, bei dem Ahmet scheinbar einen Mitschüler in der Schule geschlagen hat. Wodurch dieser Streit ausgelöst wurde, wer angefangen hat, Schuld ist oder warum Ahmet sich hier offenbar nicht verbal wehren konnte, wird von Ahmet nicht berichtet. Dies und die Tatsache, dass Ahmet diesen Konflikt als »kleine Geschichte« einführt, legt die Vermutung nahe, dass Ahmet sich in der Schule häufig mit anderen gestritten und er wahrscheinlich auch nicht nur in dieser Situation mit körperlicher Gewalt reagiert hat. Möglicherweise (wobei sich die unterschiedlichen Lesarten nicht ausschließen) geht er jedoch auch nicht näher auf die Situation ein, da es ihm eigentlich um die Geschehnisse des darauf folgenden Tages geht, und der von ihm beschriebene Streit lediglich die eigentliche Erzählung einleitet. Ahmet hat jedenfalls wegen dieses Streits einen Verweis vom Konrektor (Herr Werner) erhalten. Am nächsten Tag sitzt er wieder im Unterricht, der offenbar in einem Raum mit Glasfront (»Glassaal«) stattfindet, von dem aus man den Flur überblicken kann. Ahmet sieht von dort aus Herrn Werner vorbeigehen und fühlt sich durch dessen Anblick augenscheinlich provoziert: und da hab=ich am nächsten Morgen hab=ich dort da in meinem Klassensaal gehockt der ist da grad vorbei gelaufen ja? wir ham im Glassaal gehockt, ´un=nd´ ja 193

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der hat mich dann so angeguckt- so dumm angeguckt und gelacht, un=nd=da hab=ich mir auch gedacht ach warum verreckt der bloß nicht, und=da hab=ich das auch, wortwörtlich gesagt also ich=hab gesagt warum verreckt der bloß nicht, (3/063/11)

Es wird hier deutlich, dass Ahmet die Bestrafung(en) durch den (Kon-)Rektor scheinbar doch nicht so leicht wegsteckt, wie in der zuvor analysierten Textstelle implizit noch von ihm präsentiert. Ahmet reagiert auf den Anblick des Konrektors sehr emotional. Möglicherweise hat dieser beim Vorbeigehen tatsächlich Blickkontakt mit Ahmet gehabt und durch seine Mimik Ahmet zu verstehen gegeben, wer ›am längeren Hebel sitzt‹.15 Vielleicht aber hat auch allein sein Anblick Ahmet dermaßen wütend gemacht, dass er sich zu einer Aussage hinreißen lässt, mit der er dem Konrektor – zumindest indirekt – den Tod wünscht. Hierauf wiederum reagiert Ahmets Lehrerin. Sie nimmt offenbar Ahmets Drohung ernst und versteht diese wörtlich. Scheinbar hat Ahmet an der Schule bereits ein solches Image aufgebaut, dass ihm seine Lehrerin alles zutrauen würde. Möglicherweise möchte die Lehrerin Ahmets Aussage, die offenbar laut genug war, dass sie sie hören konnte, auch einfach nicht so stehen lassen und/oder ein Exempel statuieren. und da=hat meine: Lehrerin ist dann halt nächste Pause zu dem gerannt und hat gemeint gehabt, ich hätt doch angeblich gesagt dass ä: ich ihn umbringen hätt wolle und so=n Scheiß, ja un=nd der hat dann die Bullen gerufen die Bullen \((Türklopfen:)) sind dann\ gekommen (3/11-3/14)

Ahmet präsentiert die Reaktion der Lehrerin in seiner Erzählung als völlig übertrieben. Aus dem Ausspruch »warum verreckt der bloß nicht« wird in den Worten der Lehrerin eine konkrete Morddrohung. Hierdurch wird deutlich, dass Ahmet sich ungerecht behandelt fühlt. Er hat – seiner Darstellung zufolge – lediglich seiner Wut bzw. seinem Unmut Platz gemacht, und nun wird direkt die Polizei gerufen. Es zeigt sich jedoch auch, dass Ahmet von seinen Lehrer/-innen als ›gefährlich‹ wahrgenommen wird. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Obwohl an dieser Stelle des Interviews Ahmets Mutter herein kommt und fragt, ob wir Kaffee möchten (vgl. Kap. 6.1), fährt Ahmet fort, sobald seine Mutter wieder den Raum verlassen hat:

15 Dies wäre ein Hinweis darauf, dass auch die (männlichen) Lehrer sich an den »ernsten Spielen des Wettbewerbs« beteiligen; sie also auf gleiche Weise wie die Schüler Männlichkeit und damit verbundene Macht auf homosozialer Ebene herstellen. 194

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ä:m, mm ja ´un=nd´ haben halt einfach die Bullen vor der Tür gestanden (1) und=da haben sie gemeint=gehabt ich würd den doch mit irgendwas umbringen wollen haben meine ganzen Taschen durchsucht mich gegen die Wand geklatscht und ach was noch (1) vor den ganzen Augen meiner Freunden dann (2) ´na´, dann wurd=ich von den Pennern auch noch nach Hause gefahren (3) und=das soll Polizei sein angeblich ist das die Polizei (8) (3/17-3/23)

Es zeigt sich hier, dass Ahmet sich scheinbar weniger von seinen Lehrern und Lehrerinnen als von der Polizei ungerecht behandelt fühlt. Möglicherweise gehören die Konsequenzen der Lehrer für ihn zum ›Spiel‹ und werden von ihm einkalkuliert. Auf diese Weise positioniert sich Ahmet als Schüler, der im hierarchischen System Schule durch Stören, Auffallen und (körperliche) Auseinandersetzungen Macht und damit verknüpft auch Männlichkeit herstellt. Mit dem Auftauchen der Polizei hat er jedoch nicht gerechnet. Er präsentiert sich als wehrlos und der Gewalt durch die Polizei hilflos ausgeliefert. Seine Taschen wurden nach möglichen ›Mordwaffen‹ durchsucht und er selbst wird »gegen die Wand geklatscht«. Am Ende wird er sogar von der Polizei nach Hause gebracht. Doch Ahmet scheint in dieser Situation weniger die Konsequenzen seiner Familie zu fürchten. Denn offenbar ist es ihm wesentlich peinlicher, dass seine Freunde ihn so sehen können. Seine Lehrer/-innen scheint er als Gegner zu kennen und einschätzen zu können. Er kann auf ihre Kosten seinen Mut und seine Macht demonstrieren. Die Polizei ist jedoch ein Gegner, gegen den er – zumindest in dieser Situation – nicht ankommt, und durch die seine Macht und Männlichkeit in Frage gestellt werden.

Leute blamieren (8/24-8/43) Dieses Herstellen von Männlichkeit und Macht an der Schule, wird in anderen Textstellen noch wesentlich deutlicher. So reagiert Ahmet beispielsweise auf meine Frage nach seiner Zeit in der Hauptschule, mit der Kurzzusammenfassung: ou=ou: /m:/ Zeit von=ner Hauptschule halt (1) das war, meine Jugendzeit /m/ ´also´ das war echt (1) n Kracher von allen (1) bow was ich dort geschafft hab=ich in meinem ganzen Leben nicht geschafft (1) da ham wir Leuten so blamiert und=alles, weil, ich weiß nicht mit allen möglichen- (8/21-8/24)

Ahmet setzt hier die Zeit in der Hauptschule mit seiner Jugendzeit gleich, was bedeutet, dass er seine Jugendzeit offenbar – obwohl erst 17 Jahre alt – seiner Wahrnehmung nach hinter sich hat.16 Sichtlich stolz blickt er auf diese Zeit 16 Dem entspricht auch, dass Ahmet sich mir gegenüber ein Jahr älter und damit als volljährig präsentiert hat (vgl. Kap. 6.2). 195

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zurück. Im Anschluss daran erzählt er dann von verschiedenen ›Streichen‹, die er und seine Freunde an der Schule ›angestellt‹ haben: Sie haben Kondome mit Wasser gefüllt und diese vom Dach der Schule geworfen, den Direktor angeblich beim Onanieren fotografiert, mit einem Motorrad die Abschlussfeier der Absolventen gestört, heimlich auf der Toilette geraucht. Zum Teil sind es recht banale Geschichten, mit deren Hilfe Ahmet aber dennoch sich und seine Freunde als anders als die anderen, aufregend und mutig präsentiert. Im Folgenden soll nur eine Erzählung aus dieser ›Erzählserie‹ analysiert werden. Denn letztlich laufen alle Erzählungen über die ›Streiche‹ an der Schule nach einem ähnlichen Schema ab. Es handelt sich hierbei um die erste Erzählung, die unmittelbar auf die zusammenfassende Einleitung (8/21-8/24) hin folgt. also wir ham=mal zum Beispiel- ich geb Ihnen mal n Beispiel, wir ham mal mit so nem Mädchen (1) ´nn´- die sah nicht so grad so süß aus und=so ne? (1) na ja und=da ham=wir- n Freund von mir ham- hat- der hat die dann halt so angemacht und so (1) und die waren dann=auch schon ne längere Zeit zusammen keiner hat was davon gewusst (1) also außer unsere Freunde und=so ((zieht kurz die Nase hoch)) (1) (8/24-8/29)

Obwohl Ahmet hier ankündigt, dass er ein Beispiel geben möchte, und zwar offenbar eines, das sich darauf bezieht, wie er und seine Freunde Leute blamiert haben, weist der Anfang der Erzählung erst einmal in eine andere Richtung. Ein Freund von Ahmet war offenbar mit einem Mädchen zusammen, das (in den Augen der anderen) »nicht so grad so süß aus[sah]«. Der Freund scheint sich daher heimlich mit dem Mädchen zu treffen bzw. nur seine engen Freunde wissen von der Beziehung. Es könnte sich hier um eine Erzählung über erste sexuelle Kontakte handeln bzw. über Schwierigkeiten, wenn die Freundin nicht von den Freunden akzeptiert wird. Doch dann wendet sich die Erzählung: es war ja eigentlich so=n Plan (1) so=n Racheplan weil die wollte uns nicht abgucken lassen im Test, /m/ also beziehungsweise in ner Arbeit (1) (8/29-8/31)

Denn laut Ahmet war sein Freund (natürlich) nicht wirklich mit dem »nicht so grad so süß« aussehenden Mädchen zusammen, sondern es handelt sich um einen »Racheplan«. Ahmet und seine Freunde scheinen also in einem Alter zu sein, in dem Beziehungen zu Mädchen durchaus eine Rolle spielen. Doch eine ernsthafte Beziehung zu einem Mädchen ist – nach dieser Logik – nur möglich, wenn das Mädchen »süß« aussieht (und auch die Freunde dieser

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Meinung sind). So aber scheint es tatsächlich darum zu gehen, das Mädchen zu blamieren. ja und dann hocken sie sich irgendwann in n Wohnmobil rein und machen dann so=n bisschen rum und na=ja ziehen sich so aus und so ne?, mein Freund, der=wartet dann nur noch bis=sie komplett nackig ist- dann ist sie komplett nackig dann macht=der grad n Foto, knipst=er grad n \((schmunzelnd:)) Foto, und ist vom Körper von oben bis unten (fett), oh je er ist- jetzt hörn=Sie mal zu jetzt kommt der Hammer,\ dann ham wir so kleine Bilder- erst das kleine Bild gehabt ((I. schmunzelt leise kurz)) ne? dann ham=wir=uns überlegt was können wir damit machen? (1) und vom Freund von mir der Vater der=ist=n-, der hat so ne Druckfirma (1) ja=und dann sind=wir hingegangen \((schmunzelnd:)) und ham so große Dinger ausgedruckt ja? (1)\ ((lacht)) und dann ham=wir die immer an den Schulen so aufgehangen (1) o: je, seitdem hat sich das Mädchen nie wieder auf der Schule \((etwas schmunzelnd:)) blicken lassen (1)\ (8/31-8/43)

Und dies gelingt auch. Ahmets Erzählung zufolge »hat sich das Mädchen nie wieder auf der Schule [...] blicken lassen«. Sie hat also den Preis dafür zahlen müssen, dass sie Ahmet und seine Freunde in einer Arbeit nicht hat abgucken lassen. Was dies für das Mädchen bedeutet, darüber scheinen sich weder Ahmet noch seine Freunde Gedanken zu machen. Ihrer Wahrnehmung zufolge haben sie offensichtlich völlig zurecht gehandelt; das Mädchen ist selbst Schuld an dem, was ihr widerfahren ist. Ahmet positioniert sich und seine Freunde in dieser Erzählung als gerechte Rächer. Sie sind eine Gruppe mit Zusammenhalt, vor der man sich fürchten sollte, wenn man ihr in die Quere kommt. Sie haben Macht; und diese Macht spielen sie offenbar nicht nur gegenüber Lehrer/-innen, sondern auch gegenüber Mitschüler/-innen aus. Männlichkeit wird sowohl auf homosozialer Ebene als auch gegenüber Frauen hergestellt. Gleichzeitig positioniert Ahmet hier sich und seine Freunde als (potente) Männer, die jede Frau ins Bett bekommen würden, aber denen längst nicht jede Frau vom Aussehen her genügen kann. Am Ende der gesamtem ›Erzählserie‹ beendet Ahmet schließlich das Thema »Jugendzeit« mithilfe einer Coda: (4) es kommen so manche Sachen- kommen so wahrscheinlich rüber so wie als wär=ich stolz drauf (2) un=nd ich sag mal so ich bin auf die Anzeigen überhaupt kein bisschen stolz drauf, /m/ ich find=s behindert dass=ich=s gemacht hab (1) aber auf den Scheiß was=ich in der Schule gemacht=hab bin ich, hundertprozent stolz drauf (1) also tausendprozentig stolz drauf weil ich kann sagen ich hab meine Jugend ordentlich gelebt (12/12-12/17)

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Ahmet positioniert sich hier noch einmal in Bezug auf das, was er ›angestellt‹ hat. Er stellt klar, dass er »auf die Anzeigen überhaupt kein bisschen stolz« ist, wobei er es offen lässt, weswegen er angezeigt wurde bzw. welche Taten in einem konkreten Zusammenhang mit den Anzeigen stehen (vgl. 6.4.3 – Jugendarrest). Ahmet scheint zu wissen, dass er sich nicht als stolz auf sein abweichendes Verhalten präsentieren sollte. Möglicherweise hat er dies bereits durch den Kontakt zu Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, zu Richtern und Richterinnen sowie zu anderen professionellen Helfern und Helferinnen gelernt (vgl. Kap. 3.2.3 & Kap. 6.3). Aber er präsentiert sich als stolz auf den »Scheiß«, den er in der Schule gemacht hat. Dies könnte bedeuten, dass es nicht wegen der ›Streiche‹ in der Schule zu Anzeigen kam, was jedoch den Angaben in der Akte der Bewährungshilfe widerspricht (vgl. Kap. 6.2). Sehr viel wahrscheinlicher scheint daher, dass Ahmet zwar nicht stolz darauf ist, dass sein Verhalten zu Anzeigen führte, aber dass er sich letztlich immer wieder auf diese Weise verhalten würde. Es ist ihm wichtig, dass er seine »Jugend ordentlich gelebt« hat. Dies scheint vor allen Dingen zu bedeuten, dass es ihm (und seinen Freunden) gelungen ist, männliche Hegemonie zu markieren. Und hierzu gehört eben auch, hin und wieder gegen das Gesetz zu verstoßen.

6.4.3 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit Jugendarrest (13/44-14/04) Neben den Erzählungen von ›Streichen‹ in der Schule wird das Interview mit Ahmet von Berichten, Beschreibungen und zum Teil auch Erzählungen über Auseinandersetzungen außerhalb der Schule geprägt. Diese scheinen – ebenso wie der »Scheiß«, den Ahmet in der Schule gemacht hat – zu seiner »Jugendzeit« zu gehören. Ahmet erzählt Anekdoten von Schlägereien, in die er verwickelt war oder zeigt mir auch mit dem Handy aufgezeichnete Videos von Auseinandersetzungen mit der Polizei oder Überfällen auf andere Jugendliche. Doch in welchem Zusammenhang es letztlich zu Anzeigen gekommen ist und weshalb Ahmet verurteilt wurde, bleibt im Interview völlig unklar (vgl. Kap. 6.4.2). Möglicherweise ist für Ahmet tatsächlich nie ersichtlich gewesen, für was er nun eigentlich verurteilt wurde; in welchem Zusammenhang also seine konkreten Taten, die Anzeigen und Gerichtsverhandlungen standen. Denn bei der Biographischen Datenanalyse (Kap. 6.2) zeigte sich, dass Ahmet zum Teil erst spät für etwas verurteilt wurde, was er schon zu einem viel früheren Zeitpunkt begangen hatte. Es könnte jedoch auch sein, dass Ahmet einen solchen Zusammenhang einfach nicht im Interview herstellen möchte. Er möchte sich nicht als jemand präsentieren, der so etwas getan hat (vgl.

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hierzu auch Böttger 1998; Weyers 2005). Als ich ihn nach seinen Anzeigen frage, weicht er mir aus: I: und von den Anzeigen kannst du mir da noch n bisschen was erzählen? B: (1) was soll=ich da erzählen? (1) ´kann=ich Ihnen erzählen´ aber was? (2) was ne Anzeige ist? das geht über die Polizei \((Lächeln:)) I: ach ja? danke ((gemeinsames Lachen (1)) ((I. lächelt kurz weiter)) (13/19-13/24)

Schließlich erzählt er mir von einem konkreten Fall: ich weiß nicht (2) a=ich=hatt schon mal eine Anzeige=gehabt, die war=auch vor kurzem irgendwann (1) da=hat=s-, da haben wir uns mit so Kollegen in so ner Gruppe geschlagen und=so /m/ (1) beziehungsweise mit ner Gang /m/ ham wir=uns da geschlagen (1) ging halt auch über so über (oft) Messer und, Waffen und so (1) (13/24-13/28)

Doch als ich ihn frage, ob er daraufhin Jugendarrest bekommen habe, positioniert er sich als Zeuge: I:

(2) und, daraufhin oder dann hast du Jugendarrest bekommen (1) irgendwie oderB: ´mmmmmm´ nein dafür hab=ich nichts bekommen da war=ich ja nur Zeuge /ach so ja okay/ obwohl=ich zwar mitgeschlagen hab \((B. lächelt:)) (1) /okay/\ wurd=ich nur als Zeuge ´eingeladen´ (1) (13/38-13/43)

Ahmet verweigert also meine Fremdpositionierung als jemand, der straffällig wurde, obwohl er in seiner Haupterzählung selbst den Jugendarrest erwähnt hat (vgl. Kap. 6.3). Interessanterweise nimmt er jedoch meine Fremdpositionierung als Täter an. Doch er ist ein Täter, der nicht angezeigt und verurteilt wurde. Schließlich frage ich Ahmet konkret nach dem Jugendarrest, und er berichtet mir daraufhin tatsächlich das, was ich offensichtlich hören wollte. I:

aber du hast erzählt dass du dann Jugendarrest bekommen hast irgendwann auch, /ja ja klar/ (1) kannst mir davon noch n bisschen was erzählen? B: Jugendarrest hab=ich bis jetzt, zweimal bekommen /m/ das waren, einmal vier Wochen /m/ wegen schwerer Körperverletzung /m/ (1) und einmal wegen gefährlicher Körperverletzung drei Wochen oder zwei Wochen ´oder so´ /m/ (1) ´ja´ (1) also ist=schon n Aggro da drin (1) ((I. lächelt kurz etwas)) ´echt´ (2) un:d in den Hofstunden (1) das find=ich so die Krönung haben=sie noch nicht mal zwei drei Euro für=n Basketball zu kaufen, die kri- da kriegste so=n Basketball ne?, und der=ist \((klatscht in die Hände:)) platt\ /m/ mit dem darfste dann schön spielen ne?, mit=nem Basketball der platt ist (1) dann kriegste 199

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Tischtennis-, kannste spielen, mit Tischtennis, Dingern wo dann, unten der Griff fehlt und so=ne? (2) ((zieht die Nase hoch)) ´net normal´ /m/ (13/4414/04)

Doch auch hier spricht Ahmet nicht über seine eigentlichen Taten. Er bestätigt lediglich, dass er wegen schwerer und wegen gefährlicher Körperverletzung in Jugendarrest war. Er offenbart mir also lediglich das, was ich auch in den Akten nachlesen könnte17 und bestätigt, was er zu Beginn des Interviews bereits erwähnt hat (vgl. Kap. 6.3). Die einzige Zusatzinformation, die er gibt, lautet: »ist=schon n Aggro da drin«. Doch ausführlicher wird er nicht. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Erfahrungen, die er im Jugendarrest gemacht hat, durchaus nicht positiv waren. Möglicherweise vermeidet es Ahmet daher auch weiter über das Thema zu sprechen. Stattdessen berichtet er über die Hofstunden, wobei der Jugendarrest den Anschein einer (nicht besonders gut ausgestatteten) Freizeitanstalt bekommt. So wie Ahmet erzählt, könnte er auch über einen Jugendtreff sprechen, in dem er und seine Freunde sich regelmäßig getroffen haben. Ahmet lässt sich also auch in dieser Situation nur bedingt von mir als kriminell positionieren; d.h. er nimmt die Position nur insofern an, als er bestätigt, wegen Körperverletzung in Jugendarrest gewesen zu sein. Dem entgegen setzt er jedoch eine Positionierung als Jugendlicher, der sich wegen Geldmangels in öffentlichen Einrichtungen mit beschädigtem Equipment zufrieden geben muss.

Frau Bauer (14/04-15/17) Diese Verweigerung einer Fremdpositionierung als kriminell setzt sich auch in der unmittelbar darauf folgenden Textstelle fort.18 ich=hab=dann=noch-, da war auch eine- (1) Einschließerin die war so korrekt, /m/ ich hab=die, gemocht und ge:leidet über alles \((Rascheln:)) also die war\ ((klatscht in die Hände oder schnipst)), so im Gegenteil von den=andern war die total korrekt 17 Laut den Angaben in der Akte der Bewährungshilfe war Ahmet nicht nur wegen Körperverletzung sondern auch wegen Diebstahls in Jugendarrest (vgl. Kap. 6.2). Möglicherweise wird dies von Ahmet jedoch verschwiegen, da er sich mir gegenüber als erfolgreicher Schläger positioniert (vgl. auch 6.4.3 – Gerechte Rächer?), in eine Positionierung als Dieb jedoch nicht investiert (vgl. hierzu auch Kap. 8). 18 Es handelt sich hierbei um eine längere Erzählung, bei der es mir wichtig war, nicht nur – wie bei der strukturalen Fallrekonstruktion eigentlich üblich – das Erleben herauszuarbeiten, sondern vor allem auch Ahmets Selbstpräsentation und Positionierung. Die Textstelle wurde hierzu – wie bei Feinanalysen üblich – in kürzere Sequenzen unterteilt und innerhalb einer Interpretationsgruppe analysiert. Vgl. zum methodischen Vorgehen auch Kap. 5.2.5 sowie z.B. die Feinanalyse Schlägerei II (Kap. 7.4.2) aus dem Interview mit Murat. 200

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

/m/ die ist=dann immer- (1) ((zieht die Nase hoch)) ´hat mich-´, die war dann=halt immer, ä:m (1) wenn jeder schlafen war und so, un=nd, dann die Wächter auch schlafen gegangen=sind das war halt die einzigste Wächterin die Nachtdienst hatte, /m/, und die=ist dann immer-, um ein Uhr ist die dann immer zu mir ins Zimmer hoch und hat bei mir=s Licht angemacht (1) o: das war schön und=dann ist die Zeit immer Sau schnell rumgegangen (1) (14/04-14/13)

Ahmet beschreibt hier mithilfe einer verdichteten Situation sein Verhältnis zu einer »Einschließerin«. Diese war – im Gegensatz zu den anderen Einschließer/-innen oder sonstigen Mitarbeiter/-innen in der Jugendarrestanstalt – in Ahmets Wahrnehmung »total korrekt«, wobei Ahmet dieses Urteil nicht begründet. Er beschreibt lediglich, dass er diese Einschließerin mochte und »über alles« leiden konnte. Es scheint also eine Beziehung zu sein, die zumindest von Ahmets Seite aus vor allem emotional begründet ist. Ahmets Darstellung zufolge beruhte dies auch auf Gegenseitigkeit. Denn er erzählt hier, dass die Einschließerin nachts immer zu ihm ins Zimmer gekommen sei. Sie hat also ihn auserwählt, um mit ihm die Zeit, wenn alle anderen schlafen (und sie eigentlich Nachtdienst hat), zu verbringen. Auf diese Weise positioniert sich Ahmet als besonders und interessant. Er ist kein Gefangener, der bewacht werden muss, sondern einer, mit dem eine Wächterin gerne ihre Zeit verbringt. Dabei lässt Ahmet – möglicherweise bewusst – offen, was passiert ist, wenn diese Frau zu ihm »ins Zimmer hoch« kam. Auf diese Weise schafft er ein (sexuelles) (Wunsch-)Szenario, in dem eine ältere, sexuell erfahrene Frau einen jungen Burschen aufsucht, um mit diesem die Nacht zu verbringen. Dieses Szenario wird von Ahmet auch in der Folge aufrecht erhalten: doch ist die Zeit-, ä da hab=ich immer=gedacht och Scheiße warum ist jetzt nicht ein Uhr ((leises kurzes Lächeln)) weil man=hat hat gehockt und geraucht und geredet und- ´ach´ was noch (Mamuli)19 ((I. lächelt (1)) das war schön ja? das war die Frau Bauer die war- (1) das=sind=auch- ist auch einer der, meisten Menschen die=ich über alles mag also /m/ ich hab=die dort im-, echt im, Knast kennen gelernt (1) ((kurzes Räuspern)), ja und da hab=ich die kennen gelernt un=nd (1) ja die war korrekt zu mir ich war korrekt zu dere? /m/ und dadurch hat=sich das einfach entwickelt /m/ und irgendwann hat sie dann gemeint=gehabt ´a ja ich komm heut 19 Der Ausdruck »Mamuli« wird von Ahmet im Interview immer dann verwendet, wenn etwas besonders schön war; z.B. wenn er davon erzählt, wie er gemeinsam mit seinen Freunden auf dem Dach eines Parkhauses ›chillt‹: »und dann waren wir im Park- also wir haben=hier n Parkhaus, /m/ da sind=wir sauoft mit Freunden /m/ ganz oben, weil dann wenn da die Sonne drauf scheint oder=so ist es sauschön da oben dann gehen wir hoch und trinken Jim Beam oder=so, und noch, bisschen was essen kleines bisschen naschen oder so und=dann, chillen=wir da oben (1) eine rauchen ´und´ ach noch, Mamuli, das ist sauschön da oben ohne Scheiß« (16/25-16/30). Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen für seine Clique spezifischen Ausdruck. 201

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Abend zu dir´ hoch dann könn=wir reden und so, ´und ja okay machen=Sie gern´ und dann ist=sie=halt hoch gekommen da haben=wir immer dort=gehockt und geraucht und wir wollten- (14/13-14/23)

Ahmet beschreibt nun zwar, dass sie wohl (meistens) einfach in seinem Zimmer »gehockt und geraucht und geredet« haben, lässt aber weiterhin offen, ob vielleicht auch noch mehr passiert ist, ob es also auch zu sexuellem Kontakt zwischen den beiden gekommen ist: »´a ja ich komm heut Abend zu dir´ hoch dann könn=wir reden und so«. Auf diese Weise positioniert sich Ahmet als erwachsener Mann, zu dem die Frauen gerne kommen (vgl. 6.4.2 – Leute blamieren). Doch nicht nur auf einer vergeschlechtlichten Beziehungsebene wird von Ahmet Gleichheit hergestellt. Denn obwohl die Einschließerin älter ist als Ahmet und in der hierarchischen Struktur des Gefängnisses die Aufgabe hat, Ahmet zu bewachen, zeichnet sich die Beziehung zwischen ihr und Ahmet durch gegenseitig entgegengebrachtes Vertrauen bzw. Respekt aus: »die war korrekt zu mir ich war korrekt zu dere«. Ahmet positioniert sich hier also nicht als gewöhnlicher Gefangener, sondern als erwachsener (potenter) Mann, der im Gefängnis gleichberechtigt und freundschaftlich behandelt wird. Dies geht so weit, dass sich am Ende das Verhältnis zwischen ihm und der Einschließerin sogar umkehrt. Sie (die Wächterin) beichtet ihm (dem Bewachten), dass sie gegen die (gemeinsam ausgehandelten) Regeln verstoßen hat: wir waren die einzigsten Personen die wollten wir wollten aufhören zu rauchen ((Lächeln (1)) ja halt-, ich hab=dann ne Woche ausgehalten sie dann leider nur vier Tage ((I. lächelt (1)) ((B. lächelt kurz mit)) da kommt=sie so und da meint=sie so (1) zieht=sie so=n Gesicht und=ich=so ja was ist? (1) sie=so, ich=hab was getan (1) ich sag hä? ich=so was denn? (1) ich hab wieder geraucht ich so oh Frau Bauer ((gemeinsames Lachen (1)) (14/23-14/29)

Doch damit noch nicht genug. Im weiteren Verlauf der verdichteten Situation, die nun immer mehr zu einer Erzählung wird, beschreibt Ahmet, wie er Frau Bauer beim Bräunen »oben=und=unten ohne« zugesehen hat: B: und=die Härte ist die Frau Bauer wohnt nicht weit weg (1) /aha/ die wohnt gleich da hinten /m/ und=ich bin der noch nie begegnet ((I. lächelt kurz)) aber die Frau Bauer die ist voll cool die=ist immer ganz locker drauf und=alles die ist Sommer ist die oben=und=unten ohne, da liegt die da und bräunt sie sich, die ist, also hammerhart ist die Frau I: in der Jugendarrestanstalt? B: nein nein \((I. lacht:)) na Quatsch\ ((gemeinsames Lachen (1)) da würd=doch jeder Junge

202

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

\((I. lacht und B. schmunzelt:)) da unten stehen und runtergucken\ (14/29-14/ 35)

Geschickt und von mir scheinbar unbemerkt verlässt er hierbei beim Erzählen die Jugendarrestanstalt. Auf diese Weise entkommt Ahmet endgültig einer Positionierung als kriminell. Gleichzeitig entwickelt sich die Geschichte immer mehr zu einer sexuellen Jungenphantasie und Frau Bauer wird von der »korrekten« Einschließerin zu einer Art femme fatale; einer Frau, die mit den sexuellen Begierden der Jungen spielt: nee die ist=auch-das ist auch eine die ist richtig schön also hü-, bildhübsche Frau und=alles (1) die ist zwar bestimmt schon an die dreißig oder=so /m/ aber die sieht aus wie neunzehn /m/ die sieht aus wirklich wie neunzehn /m/ und=die=hockt= dann (halt)- wir=ham da so=n Sportplatz (1) und=auf dem Sportplatz da wohnt die halt /m/ und da hockt die dann=halt als=mal oben und=unten ohne ne? und wir=dann die ganzen Jungs am Zaun so gestanden so ou ou \((I. lächelt:)) ou ou\ ((gemeinsames Lächeln (1)) oder wir ham dann=halt so=n Basketball rüber- rüber geworfen \((gemeinsames Lächeln:)) und so (1)\ ich hol jetzt nein- ich hol ((I. lächelt noch weiter (1)), ´ja Frau Bauer´ (1) ((zieht die Nase hoch)) dann sind=wir rüber gegangen Ball holen und=so (1) \((schmunzelnd:)) so ((B. lächelt (1)) und die Frau Bauer Mensch ihr Jugendlichen\ seid doch nicht mehr normal \((I. schmunzelt:)) heutzutage\ die=hat=dann=aber- die=hat das au- (1) also die=hat=dann schon bisschen gemerkt- also der=nächste dann- hingegangen (1) dann hat sie=uns- wie sie geguckt hat der Ball ist rüber gekommen hat sie=dann immer die Beine so zusammen gemacht so also ist klar man, schämt sich schon so=n bisschen ((leises kurzes Schmunzeln)) (1) ´ja´ (2) einmal war=s sogar=so hab ich n Ball rüber geworfen dann wollt=ich so extra noch mal rüber laufen lauf=ich so rüber (1) und hat=sie so \((Rascheln:)) zugehalten macht sie so ((öffnet kurz seine Beine)) und=dann wieder zu\ ne? ((schließt seine Beine wieder eng zusammen)) (1) und=hat-, macht sie=so- hat sie ä:- die hat- also die nennt mich- die nennen mich alle Öztürk ne? /m/ \((lächelnd:)) und die so Öztürk?\ und=ich=so nein ich guck jetzt nicht hin ((gemeinsames Schmunzeln (1)) und=ich- und=die hat dann nur noch so gemeint= gehabt jetzt hasche aber was verpasst ich so warum macht=sie- ich hab grad meine Beine auseinander gemacht ich so machen Sie \((lachend:)) noch mal\ ((gemeinsames Lachen (1)) ((I. lacht noch kurz weiter)) also es war echt- die Frau Bauer is=st richtig, Hammer ((I. lächelt kurz)) echt die ist auch klein /m/ die=ist auch wirklich klein, und die geht (1) jeden-, jede Woche geht die zum Frisör und=alles und die=hat, richtig schön-, schönes Gesicht und=alles also, für jeden ne \((Rascheln:)) Traumfrau /m/ ist wirklich /m/ ohne Scheiß ne Traumfrau\ /m/ echt süß ist die (2) ((leises kurzes Lächeln)) und=das Geilste dran=ist die ist nicht verheiratet und gar nichts (1) solo ((kurzes Lächeln)) keine Kinder und=gar nichts (2) aber die=ist korrekt die Frau Bauer bo:w die ist hammerhart (2) ´jo´ (3) ((gähnt)) (14/35-15/17)

203

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Ahmet positioniert sich hier als Junge, der mit seinen Freunden Ball spielt und dem eine Frau »an die dreißig« ganz schön alt erscheint. Gleichzeitig betont er jedoch auch seine Identität als heterosexueller Mann, der sich vom Anblick des nackten Körpers einer Frau verführen lässt. Sehr deutlich wird hierbei die – von Vera King (2002: 221) für die Phase der Adoleszenz als typisch beschriebene – »Spannung zwischen kindlichen und sexuellen Sehnsüchten«. Es ist eine Darstellung, die Ahmets Alter entspricht, und die auf diese Weise weder bei Murat noch bei Serdar zu finden ist, die beide älter als Ahmet sind (vgl. Kap. 7 & 8). Doch warum erzählt Ahmet diese (vermutlich zumindest zum Teil erfundene) Geschichte? Die Tatsache, dass Ahmet (in der zuvor analysierten Textstelle) von mir als kriminell positioniert wird und er daraufhin mit dieser adoleszenten Überakzentuierung von Männlichkeit reagiert, legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine ›Reparaturhandlung‹ handelt. Möglicherweise stellte meine Frage nach der Zeit im Jugendarrest einen Angriff auf Ahmets Männlichkeit dar, den er mithilfe dieser Erzählung abzuwehren versucht. Er rekurriert auf übersteigerte Männlichkeitsklischees und reagiert hiermit auf Marginalisierung. Insofern könnte seine Inszenierung von (Hyper-) Maskulinität und die Darstellung des Interesses an Mädchen und Frauen mit dem Ziel verbunden sein, an männlicher Überlegenheit zu partizipieren (vgl. auch Spindler 2007b: 127).20

Don Corleone I (17/03-17/15) Auch wenn von Ahmet eine Fremdpositionierung als kriminell verweigert oder mithilfe einer adoleszenten Inszenierung von »protestierende[r] Männlichkeit« (Connell 2006: 132 ff.) zurückgewiesen wird, so finden sich im Interview zahlreiche Stellen, in denen er von Schlägereien berichtet oder erzählt. Doch seine Selbstpositionierung unterscheidet sich hierbei deutlich von meiner zuvor vorgenommenen Fremdpositionierung. ich sag=mal=so ich bin hier in Darmstadt, sehr berühmt also jeder kennt meinen Namen hier (1) ich werd=auch von voll vielen Leuten halt `Speedy genannt und=so na ja-, auf jeden Fall´ (1) ((zieht kurz die Nase hoch)) sehr viele Leute kennen=mich in Darmstadt /m/ (1) und sehr viele Leute wo-, wissen auch dass=ich gern hilfsbereit bin also=ich helf gerne andern Leuten und na=ja (1) da kommen halt=auch sehr viele Leute zu mir und meinen hä bist du der und der? und ich so ja und, ´kannst du mir helfen?´ ich hab=da Probleme und so und=da hilft man gern und=so hab=ich den auch kennen gelernt /m/ der=hat auch gemeint=gehabt ah=ja ich hab Probleme 20 Auch an anderen Stellen im Interview finden sich solche Inszenierungen adoleszenter Männlichkeit. Ich werde hierauf in Kap. 6.4.6 noch ausführlicher eingehen. 204

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

und so der, schlägt mich immer und will Geld von mir und=so (1) und=irgendwann sind=wir halt mal hingefahren (1) mit, Freunden- haben Freunde von mir im Auto gehockt (1) und=dann bin=ich ausgestiegen wollten meine Freunde auch aussteigen hab=ich=gesagt nee bleibt hocken und=ich weil ich regel das alleine ´und=so´ ((zieht die Nase hoch)) (17/03-17/15)

Ahmet präsentiert sich in der Beschreibung dieser verdichteten Situation, die am Ende in eine Erzählung mündet, sehr selbstbewusst. Er hebt sich von der Masse ab, ist berühmt, jeder kennt seinen Namen. Dabei verortet er sich klar in Darmstadt. Das ist die Stadt, in der er bekannt ist. Es ist sein ›Kiez‹, in dem er sich bewegt; die Stadt, in der er jemand ist bzw. die ihn zu jemandem macht. Seine Stärke ist ganz klar mit dieser Stadt verbunden. Innerhalb dieser Stadt präsentiert sich Ahmet als jemand, der im Mittelpunkt steht und das auch genießt. Er stellt sich als die zentrale Figur seines ›Kiezes‹ dar. Gleichzeitig präsentiert er sich als kriminell. Obwohl es anfangs noch klingt, als sei er einfach nur der nette Junge von nebenan, so wird schnell klar, dass Ahmet sich in einem kriminellen Milieu bewegt, in dem die »Leute« Probleme mit Schlägereien und Bestechungen haben. Aber – und hierauf scheint es Ahmet anzukommen – er ist ein ›guter Krimineller‹. Folgt man seiner Präsentation, so gerät Ahmet lediglich aus edlen Motiven in Konflikte, denn eigentlich geht es ihm nur darum, anderen zu helfen. Seine Freunde unterstützen ihn bei dieser ›Arbeit‹. Wie schon in einer der zuvor analysierten Erzählungen positioniert Ahmet sich und seine Freunde als gerechte Rächer (vgl. 6.4.2 – Leute blamieren). Doch wenn es brenzlig wird, ›regelt‹ Ahmet die ›Sachen‹ allein. Er genießt offenbar Ansehen innerhalb der Gruppe; scheint so etwas wie ein Alpha-Tier zu sein. Seine Männlichkeit muss Ahmet hier nicht mehr verteidigen. Sie ist gesichert und anerkannt. In Anlehnung an den Film bzw. das Buch Der Pate21 ließe sich Ahmets Selbstpositionierung an dieser Stelle als eine Art Darmstädter Don Corleone verstehen, der die Macht hat, denjenigen seines ›Kiezes‹ zu helfen, die Probleme haben, aber auch anderen schaden kann.

Don Corleone II (17/41-18/02) Eine solche Positionierung wird auch in anderen Textstellen sichtbar. Kurz nach der soeben analysierten Textstelle habe ich Ahmet nach einer Situation gefragt, in der es zu einer Schlägerei kam, die er »gar nicht machen« wollte. I:

m (3) du hast gesagt es gab dann oft auch Schlägereien die du gar nicht machen wolltest kannst mir so ne Situation mal erzählen?

21 Der Pate wurde 1972 von Francis Ford Coppola verfilmt und basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Mario Puzo (1969/2001). 205

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

B:

(2) ja gab=s halt, weil ä (1) ((macht Quietschgeräusch)) kommt halt vor wenn n Freund von mir sich schlägt oder so und=ich dann mal grad vorbei laufe oder so und guck da mischen sich andere Leute auch noch mit=ein /m/ dann schlag=ich mich auch /m/ (17/36-17/41)

Mit der Beschreibung dieser verdichteten Situation belegt Ahmet das zuvor gezeichnete Bild von ihm. Er hat ein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein und hilft seinen Freunden, wenn sie Probleme haben. Auch hier positioniert sich Ahmet als eine Art Don Corleone, was auf eine Vermischung der biographischen Erzählung bzw. Selbstpräsentation mit filmischen bzw. fiktiven Elementen hindeuten könnte.22 Ahmets Verhalten ist ehrenhaft und gleichzeitig brutal. Schlägereien sind für ihn offensichtlich völlig normal. Dabei scheint es einen Ehrenkodex zu geben, der für Ahmet gilt und von dem er auch erwartet, dass die anderen ihn befolgen.23 Seiner Darstellung zufolge schreitet er nur ein, wenn dieser nicht eingehalten wird: also wenn mein Freund, alleine ist, schlägt sich nicht eins gegen eins sondern mehrere Leute gehen auf den drauf, dann hau=ich mich auch, dann hau=ich auch drauf /m/, und=deshalb hab=ich dann auch draufgehauen (17/41-17/44)

Ahmet beteiligt sich an Prügeleien, wenn die Ausgangssituation unfair ist; wenn sich mehrere Leute auf einen seiner Freunde stürzen. Er haut drauf – und das anscheinend ziemlich wahllos. Wenn er sich einmischt, so klingt es zumindest, verändert das die Situation. Als Don Corleone verteidigt er die ungerecht Behandelten. Doch die dreimalige Wiederholung des ›Draufhauens‹ und die mehrfache Nennung und Betonung des Wortes ›auch‹, lassen ein Bild von Ahmet entstehen, das in gewisser Weise das Bild des Don Corleone einschränkt bzw. diesem sogar widerspricht. Denn es klingt fast, als müsse Ahmet sich selbst beruhigen bzw. zusprechen, dass es richtig war, wie er gehandelt hat. Gleichzeitig deutet das ›auch‹ darauf hin, dass er lediglich mitgemacht hat und nicht der Anführer war. Diese Beschreibung erinnert an seine Präsentation in der Haupterzählung des Interviews, in der er sich ebenfalls als Mitläufer darstellte 22 Dies könnte als Hinweis darauf gelesen werden, welch großen Einfluss Filme auf das Erleben, Erinnern und/oder Erzählen Jugendlicher haben. Möglicherweise vermischen sich in der Erinnerung auch erlebte Situation und filmische Fiktion (vgl. hierzu auch Kap. 8.4.3). 23 Einen solchen Ehrenkodex bzw. eine »Art Ethik« in Bezug auf Gewalthandeln wird auch von Connell (2006: 123) beschrieben. Allerdings besteht diese/r bei den von ihm interviewten jungen Männern darin, dass »Gewalt in Ordnung ist, wenn sie gerechtfertigt ist, und gerechtfertigt ist sie immer dann, wenn der andere damit anfängt«. 206

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

(vgl. Kap. 6.3).24 Vielleicht hängt diese Art der Selbstdarstellung bzw. dieser Wandel in der Präsentation aber auch damit zusammen, dass wieder etwas passiert ist, das Ahmet »nicht wollte«: dann gang-, endete das halt so dass-, wie=ich=s nicht wollte (17/44-17/45)

Ahmet scheint zu bedauern, was passiert ist. Er präsentiert sich als (eigentlich) vernünftig und versucht hierdurch seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Das thematische Feld, ich bin jemand, der nichts dazu kann, dass er immer wieder in Konflikte gerät (vgl. Kap. 6.3), taucht hier wieder auf. Möglicherweise versucht er sich durch diese Art der Präsentation aber auch selbst zu schützen bzw. mir gegenüber den Eindruck zu vermitteln, dass er so schlimm doch gar nicht ist; dass es ihm leid tut. Die weitere dramatische bzw. auch dramatisierte Schilderung der Lage deutet jedoch darauf hin, dass Ahmet hier tatsächlich Entsetzen erlebte: ´und=so´ /m/ (1) anderen Leute aufm Boden gelegen und, voll mit Blut und-, da war=die ganze Straße voll mit- voll mit Blut und=so /m/ durch die ganze Straße war mitgeschliffen und=so, (17/45-17/47)

Die Situation scheint zu eskalieren und es wird eine Grenze überschritten, die auch für Ahmet nicht mehr in das Bild einer regulären Schlägerei passt. Hierdurch wird bei ihm – so stellt er es zumindest dar – ein Automatismus ausgelöst. Er verliert die Kontrolle über sich: also bei mir ist auch so=n Punkt ä:m (1) ich kann=mich bis zu nem bestimmten (1) Ding kann=ich mich einhalten /m/ (1) abe:r nach diesem bestimmten Punkt dann wenn=s bei mir klick macht dann-, \((verneinend:)) mm\ dann, gibt=s bei mir kein Zurück mehr /m/ dann muss=ich so lang draufhauen bis der auf=m Boden liegt (1) also was=heißt bis der auf=m Boden liegt? bis=ich merk (1) jetzt hatt=er das erst ergriffen oder jetzt weiß=er, bis hier her und nicht weiter (1) ´ja´ (4) ((lautes Ausatmen (1)) (4) (17/47-18/02)

Ahmet scheint diesen Punkt zu kennen, an dem eine Grenze überschritten wird. Es scheint ein Erfahrungswert zu sein. Wenn die Schlägerei ein gewisses Maß an Brutalität erreicht hat, handelt er im Affekt. Er präsentiert sich als Opfer seiner selbst und beschreibt einen inneren Zwang, der sein Handeln möglicherweise entschuldigen soll. Zumindest ist es eine Schuld mindernde Präsentation, die Ahmet hier wählt. Gleichzeitig vermittelt er das Bild einer 24 Stefan Weyers (2005: 260) hat darauf hingewiesen, dass bei biographischen Interviews mit inhaftierten Jugendlichen gerade »der Beginn der Delinquenz [...] häufig als ›Mitmachen‹ beschrieben« wird. 207

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

brutalen ›Kampfmaschine‹. Er präsentiert sich als gewalttätig und scheint Spaß am »[D]raufhauen« zu haben. Er schlägt brutal zu ohne nachzudenken. Erst wenn sein Gegenüber um Gnade winselt, ihm sozusagen seine Kehle hinhält, hört Ahmet auf zu schlagen. Hier kommt nun wieder das Bild des Don Corleone durch, der die Macht hat, Gnade walten zu lassen. Er präsentiert sich als fair und stellt sein Opfer als den eigentlichen Täter dar. Der andere hat eine Grenze überschritten, die Ahmet dazu zwang, brutal zu handeln. Wenn der andere verstanden hat, dass er zu weit gegangen ist, hört Ahmet auch wieder auf mit dem »[D]raufhauen«. Er positioniert sich also auch hier wieder als Rächer, dem es lediglich darum geht, Gerechtigkeit herzustellen und das Gesetz der Straße zu verteidigen.

Gerechte Rächer? (20/43-21/12) Doch ein solches Bild von sich und seinen Freunden wird von Ahmet vor allem gegen Ende des Interviews auch wieder demontiert. Sehr häufig spricht Ahmet hier von Schlägereien, ohne sich beim Erzählen die Mühe zu machen, diese als gerechte Racheakte zu präsentieren. Zum Teil werden Situationen von Ahmet auch eingeleitet mit den Worten: »ä:m das war (1) da hab=ich mich grad mit jemandem geschlagen« (18/32), um dann von etwas anderem zu berichten (vgl. auch 6.4.2 – Lehrern drohen) oder – wie in dem hier zitierten Fall – mir ein Video auf seinem Handy zu zeigen, in dem Ahmet und seine Freunde vermutlich wegen der vorangegangenen Schlägerei von der Polizei angesprochen werden, und sie sich offensichtlich einen Spaß daraus machen, ein »Päckchen« vor den Polizisten zu verheimlichen; bis diese merken, dass das »Päckchen« ohne Inhalt ist.25 Wenn es Ahmet zu Beginn des Interviews noch darum ging, sich innerhalb eines thematischen Feldes, »ich bin jemand, der nichts dazu kann, dass er immer wieder in Konflikte gerät« (vgl. Kap. 6.3), zu verorten, so scheint dies nun immer weniger wichtig zu sein. Stattdessen überwiegt eine Positionierung 25 Ahmet und seine Freunde scheinen hier die Konfrontation mit der Polizei bewusst zu suchen. Ähnliche Erzählungen finden sich auch in Interviews mit Jugendlichen und Heranwachsenden mit Hafterfahrung, die im Rahmen eines Forschungsprojektes von Susanne Spindler, Uur Tekin u.a. durchgeführt wurden (vgl. z.B. Bukow et al. 2003; Tekin 2007; Spindler 2006; Spindler/Tekin 2000). Susanne Spindler geht davon aus, dass die Polizei von den Jugendlichen als Repräsentant staatlicher Macht und hegemonialer Männlichkeit gesehen wird. Auseinandersetzungen mit der Polizei müssten daher als Versuch gesehen werden, sich hegemonialer Männlichkeit anzunähern (vgl. Spindler 2007c: 263). Eine ähnliche Auseinandersetzung mit der Polizei, die durchaus den Charakter eines Spiels aufweist, findet sich auch im Interview mit Murat (vgl. Kap. 7.4.2 – Kräftemessen mit der Polizei). Ich werde an dieser Stelle noch einmal ausführlicher auf die Rolle der Polizei als »würdige[r] Gegner« (Spindler 2007b: 124) eingehen. 208

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

als machtvoll und stark innerhalb der eigenen Gruppe (und auch gegenüber der Polizei). Besonders deutlich wird dieses offensichtlich veränderte Präsentationsinteresse Ahmets in einer Textstelle, in der er mir wiederum ein Video auf seinem Handy zeigt. Eigentlich hatte ich Ahmet an dieser Stelle des Interviews nach seinem Vater gefragt. Ahmet reagiert hierauf sehr ausweichend und beschreibt seinen Vater lediglich anhand äußerlicher Merkmale: das ist=n Dicker ((I. lächelt (1)) der ist voll fett (1) \((I. lächelt:)) könn=Sie auch bestimmt gleich sehen wenn Sie, rausgehen oder so könn Sie auch bestimmt sehen (1) ss so mehr so, Bomber ((Lächeln (1)) halt obwohl der=hat abgespeckt der=hat nicht mehr so viel auf den Rippen /m/ der hat schon abgespeckt (1) (20/21-20/24)

Anschließend beschwert sich Ahmet bei mir, dass sein Vater ihn – seitdem er auf Bewährung verurteilt wurde – abends nicht mehr herauslasse. Immer müsse er um acht Uhr zu Hause sein und könne nicht mehr tanzen gehen. Schließlich kramt er sein Handy hervor und zeigt mir das Video. mein Vater /m/ der kam auch=so von der Zeit von ganz früher und=so (1) der kennt das halt nicht so mit Tanzen und dies und jenes (1) und=dann- dann- der meint=dann=halt so: ich so he Papa ich tanz und=so ne? ´meint=er so´ o: was willst du damit und so geh weg ((gemeinsames leises Schmunzeln (1)) ((B. schmunzelt kurz weiter)) ja der kennt das halt net so /m/ (2) \((gähnend:)) ja\ (3) \((spielt mit Gegenstand:)) (2) ich hab so viele Sachen (1) ich glaub sogar ich müsste- (5)\ na könn=Sie auch=mal gucken \((Rascheln:)) genauso ne Situation\ ((Video läuft, (3) jemand lacht sehr laut)) ja sind alles so Situationen das ist, Hammer (1) #das=war-# (20/34-20/42)

Auf dem Video, das nur wenige Sekunden dauert, ist ein Jugendlicher bzw. junger Mann zu sehen, der an einem Busbahnhof die Tabelle der Abfahrtszeiten studiert. Plötzlich kommt jemand von hinten, packt den Jugendlichen und wirft ihn auf den Boden, so dass sein Kopf schwer aufschlägt. Der Jugendliche bleibt regungslos liegen, doch sein Angreifer holt erneut aus und schmettert seinen Kopf erneut mit voller Wucht auf den Boden. I: #wer hat da# geschlagen jetzt grade? B: a das=ss war n Freund=von mir /m/ der hat den geschlagen weil (1) der, seiner-, also von dem Freund von mir /m/ der seiner Mutter an den Arsch geschlagen /m/ der ist=dann hingegangen hat den dann irgendwann wieder getroffen hat den (danach) geschlagen /m/ (1) ´ja´ /m/ der hat=dann=auch ä: Gehirnbasisbruch gehabt (1) I: von dem Schlag? /ja/ bow heftig 209

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B:

na=ja der Schlag der war ja auch heftig ne ((I. schnaubt (1)) der war=auch- (1) also #weil-# (20/43-20/50)

Ich bin sichtlich geschockt von diesem Video. Ohne die Erklärung Ahmets abzuwarten (#das=war-#), falle ich ihm ins Wort und stelle Fragen zu dem, was ich gesehen habe. Ahmet gibt bereitwillig Auskunft, zögert jedoch bei der Begründung, warum sein Freund den Jugendlichen im Busbahnhof »geschlagen« hat (»weil (1) der, seiner-, also«). Schließlich behauptet er, der Jugendliche habe der Mutter seines Freundes »an den Arsch geschlagen« und daher habe sein Freund ihn – als er ihn das nächste Mal getroffen hat – angegriffen. Auch hier geht es also scheinbar wieder um Rache. Doch im Gegensatz zu den zuvor erzählten Geschichten, klingt dieser »Racheakt« äußerst konstruiert. Ahmet verortet die Tat seines Freundes innerhalb einer ›Kultur der Ehre‹ (vgl. Kap. 2.3.4) und markiert damit ethnische Differenz. Auf diese Weise positioniert er seinen Freund und in gewisser Weise auch sich selbst innerhalb eines kulturalisierenden und ethnisierenden Diskurses als Anderer. Der Jugendliche hat die Familienehre von Ahmets Freund angegriffen und dieser musste nun – ganz im Sinne eines traditionellen türkischen Ehrkonzeptes (vgl. z.B. Schiffauer 1983; Tertilt 1996) – die männliche Ehre wieder herstellen, wobei die Anwendung von Gewalt durch die Verteidigung der Familienehre legitimiert wird (vgl. auch Bereswill 2003c: 130). Doch warum liefert mir Ahmet hier diese Begründung und positioniert sich und seinen Freund innerhalb eines solchen Diskurses? Denn im weiteren Verlauf des Interviews wird eine solche Positionierung von Ahmet sehr klar abgelehnt und zurückgewiesen (vgl. Kap. 6.4.6). An dieser Stelle aber investiert er bereitwillig in sie. Möglicherweise gibt Ahmet hier genau die Erklärung wieder, die sein Freund ihm gegeben hat, um ihn zum Mitmachen (zumindest in Form des Aufzeichnens mithilfe der Handykamera) zu bewegen. Vielleicht zögert Ahmet daher, diese Begründung vor mir hervorzubringen, da sie für ihn ausreichte, um mitzumachen, er sich aber eigentlich nicht in einer solchen Form vor mir präsentieren möchte. Vielleicht gibt es aber auch einfach keine (vordergründige) Erklärung für das Handeln von Ahmet und seinem Freund. Vielleicht haben sie tatsächlich willkürlich einen fremden Jugendlichen von hinten angegriffen. Möglicherweise ging es dabei um die Demonstration von Männlichkeit und Macht innerhalb der eigenen peergroup, denn es könnte durchaus sein, dass auch noch andere das Geschehen verfolgt haben bzw. dass die Aufzeichnung per Handykamera dazu diente, die Tat den übrigen Freunden zu zeigen und vor ihnen damit zu prahlen. Es könnte daher sein, dass Ahmet hier das Konzept der Ehre als Vorwand und Entschuldigung heranzieht (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.3.), da er das Geschehen mir gegenüber

210

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

im Interview rechtfertigen möchte, und ihn eine solche im gesellschaftlichen Diskurs dominante Erklärung vor weiteren Nachfragen schützen soll. Tatsächlich scheine ich im Interview diese Argumentation auch zu akzeptieren und stelle lediglich weitere Fragen zur Situation: I:

#und# der hat=auch gar nicht mit gerechnet oder? der hat euch gar nicht kommen sehen #oder?# B: #nein# das war der hat- das war so ne Bustabelle, das war am Bahnhof das war ne Bustabelle /ja/ und da hat=der grad gelesen /ja/ (1) ´ja´ und da hat=der eine bekommen dann ist=der mit=m Kopf- und der ist=er=halt noch mal auf der anderen Seite draufgeknallt, /m/ auf beiden Seiten, Schädelbasisbruch /pfff/ (1) das ist=auch der der geschlagen hat ist auch nicht so:- (1) so=n Magersüchtiger oder so de:r bow (1) das ist=n Klotz I: ((schmunzelt leise kurz)) (1) n Freund von dir B: (1) was heißt n Freund von mir nicht n direkter Freund von mir so, (1) sondern (1) so frühere Geschichten ´oder´ was=ich so früher mal alles abgezogen hab ´und so´ das=ss war=halt einer der Leuten die so immer gern mitgemacht haben ´und so´ /m/ (1) /ja/ (3) ((zieht kurz die Nase hoch)) ´war=schon heftig´ (12) (20/51-21/12)

Sichtlich stolz erzählt mir Ahmet, dass der Jugendliche am Busbahnhof nicht mit einem Angriff gerechnet hat. Und die Konsequenz des Angriffes, »Schädelbasisbruch«, klingt wie ein Erfolg auf ganzer Linie. Dies legt die Vermutung nahe, dass es hier tatsächlich darum ging, eine Ordnung (wieder-)herzustellen; sei es innerhalb der eigenen peergroup oder auch gegenüber einer anderen (verfeindeten) Gruppe. Als ich Ahmet frage, ob der »Klotz«, den er zuvor als »Freund« bezeichnet hat, ein »Freund« von ihm sei, distanziert sich Ahmet jedoch etwas von diesem Freund und damit auch von dem Vorfall. Denn nun stellt Ahmet es so dar, dass es zumindest kein »direkter Freund« war bzw. dass dieser Freund wohl einer Gruppe angehörte, zu der auch Ahmet früher zählte.26 Interessanterweise charakterisiert er die Mitglieder dieser Gruppe als »Leute[n] die so immer gern mitgemacht haben«, was letztlich auch Ahmets anfängliche Selbstpräsentation als einer, der nur Mitläufer war, relativiert (vgl. Kap. 6.3): denn wenn alle nur ›mitmachen‹, gibt es keinen, der schuldiger ist und somit auch keinen, der weniger Schuld ist als die anderen. Ahmet präsentiert sich hier als jemand, der einer gewalttätigen Gruppe angehört(e). Gewalthandeln scheint – darauf deutet zumindest die Aufzeichnung per Handy hin – für Anerkennung innerhalb der Gruppe zu sorgen. Dem entsprechend ließe sich der hier geschilderte bzw. aufgezeichnete Vorfall – 26 An anderen Stellen im Interview betont Ahmet, dass er nun – im Gegensatz zu früher – »korrekte Freunde« habe (vgl. 6.4.6 – Deutsche vs. Nicht-Deutsche). 211

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ganz im Sinne Meusers (2002; 2005; 2006; vgl. auch Bereswill 2006) – als Herstellen eines männlichen Habitus auf homosozialer Ebene verstehen, wobei der Körper als Spieleinsatz fungiert und die Gruppe als Anerkennung verschaffendes Publikum dient (vgl. Kap. 2.4.2). Ein solches Handeln ist entwicklungsphasentypisch und der Hinweis Ahmets, dass er nun dieser Gruppe nicht mehr (direkt) angehört, könnte darauf hindeuten, dass Ahmet diese Phase bereits hinter sich hat. Doch auch wenn dies von Ahmet so verbalisiert wird, deuten der Interviewausschnitt und auch die zuvor analysierten Textstellen darauf hin, dass sich Ahmet (noch immer) mit einer Rolle als erfolgreicher Schläger identifiziert. Denn es stellt sich natürlich auch die Frage, warum Ahmet mir dieses Video zeigt, das seinen Freund und auch ihn als äußerst brutal und gewalttätig erscheinen lässt und Ahmet zudem wegen Mittäterschaft oder Beihilfe bei gefährlicher oder auch schwerer Körperverletzung belastet. Möglicherweise geht es Ahmet darum, sich mir gegenüber als gefährlich darzustellen. Ich soll nicht denken, dass er lediglich ein Junge sei, der an der Schule ›Streiche‹ gespielt hat. Und er möchte einen Beweis dafür liefern, dass er ganz und gar nicht harmlos ist. Es könnte also sein, dass es hier um die Themen Adoleszenz und Männlichkeit geht. Ahmet möchte von mir als erwachsener, ernst zu nehmender Mann gesehen werden. Doch das erklärt noch nicht, warum Ahmet mir das Video gerade an dieser Stelle des Interviews zeigt. Möglicherweise hat er seit dem Zeigen des Polizeivideos das Handy nicht mehr aus der Hand gelegt und zufällig gerade jetzt diesen Clip entdeckt. In meinen Aufzeichnungen zum Interview finden sich hierzu leider keine Informationen. Doch die Transkription des Interviews deutet darauf hin, dass Ahmet erst mit dem Handy zu spielen beginnt, als er seinen Vater beschreibt bzw. bereits am Ende seiner Ausführungen über den Vater angekommen ist: ja der kennt das halt net so /m/ (2) \((gähnend:)) ja\ (3) \((spielt mit Gegenstand:)) (20/38-20/39)

Dem entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass es Ahmet hier – bewusst oder unbewusst – darum geht, von dem Thema Vater abzulenken. Auch im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich, dass Ahmet bei Fragen nach seinen übrigen (lebenden und im Haus anwesenden) Familienmitgliedern immer sehr ausweichend reagiert und auch bei ihnen hauptsächlich äußerliche Merkmale oder harmlose Situationen beschreibt (vgl. Kap. 6.4.4). Dies könnte damit zusammen hängen, dass die Familie während des Interviews sehr präsent ist und möglicherweise auch das Gespräch vor der geschlossenen Wohnzimmertür mitverfolgt (vgl. Kap. 6.1). Denkbar wäre jedoch auch, dass es innerhalb der Familie oder eng verknüpft mit der Familie Probleme gibt, die 212

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Ahmet während des Interviews nicht ansprechen möchte (vgl. Kap. 6.3). Er bleibt daher möglicherweise lieber bei sich und Geschichten von seinen Freunden, um seine Familie zu schützen. Vielleicht verdeckt auch bei Ahmet – wie dies Mechthild Bereswill (2003c: 133) am Beispiel eines Interviews herausgearbeitet hat – »seine Identifikation als erfolgreicher Schläger ein Bündel biografischer Konflikte, die mit Überforderungen und Verlusten zu tun haben«. Es wird daher darum gehen, das Thema Familie noch ausführlicher zu untersuchen (vgl. Kap. 6.4.5).

6.4.4 Die eigene Gruppe vs. Andere27 »… ich sag Ihnen jetzt mal was …« (5/39-5/49) Zunächst sollen jedoch Ahmets Positionierungen in Beug auf seine eigene Straffälligkeit noch weiter analysiert werden. Denn in diesem Kontext sind im Interview nicht nur die bereits genannten Positionierungen als guter Krimineller bzw. gerechter Rächer, Beschützer und erfolgreicher Schläger zu finden. Relativ früh im Interview gibt es eine Alternativerzählung, die eine andere Geschichte erzählt als die bislang konstruierte. Ahmet versucht hier eine Erklärung dafür zu geben, warum er straffällig wurde. Die Erzählung beginnt nach einer sehr langen Pause,28 die bereits darauf hindeuten könnte, dass Ahmet einen gewissen Anlauf braucht, um das sagen zu können, was er jetzt sagen möchte: (12) wissen=se, ich sag Ihnen jetzt mal was also (1) eigentlich fing dieses-, diese Anzeigen und=so fingen eigentlich aus=m-, denk=ich mal aus m andern Grund=an, (5/39-5/41)

Es scheint eine Geschichte zu sein, die eine andere Wahrheit erzählt als die, die bereits bekannt ist. Womöglich grenzt sich Ahmet hier gegenüber etwas ab, was er zuvor selbst behauptet hat oder aber was normalerweise fälschlicherweise über ihn angenommen wird, vielleicht in seinen Akten steht. Jedenfalls scheint es sich um eine Gegenerzählung zu handeln, in der es darum geht, warum es dazu kam, dass gegen Ahmet Anzeigen erstattet wurden.29 Ahmets Geschichte spielt in der Grundschulzeit. Doch bevor er erzählt, was 27 Die Feinanalysen dieses Unterkapitels wurden – in etwas anderer Form – bereits veröffentlicht in Spies (2009b). 28 Zuvor hat Ahmet recht ausführlich darüber berichtet, wie er ein neues Dach für die Terrasse seiner Eltern gebaut hat (vgl. Kap. 6.3, Fn 12). 29 Auch hier fällt wieder auf, dass Ahmet von den Anzeigen spricht, und nicht von dem, was er getan hat. Seine Formulierung, dass die Anzeigen anfingen, klingt so, als könne er überhaupt nichts dazu; als sei er völlig passiv gewesen (vgl. Kap. 6.3). 213

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

damals in der Grundschule passiert ist, spricht er mich als Interviewerin erneut direkt an: damals wie ich in der Grundschule=war (1) und Sie wissen ja bestimmt bei=uns in=n- (1) Intimbereich wird dieses-, diese Vorhaut=abgeschitten (1) /((bejahend)) m/ kennen Sie bestimmt auch ne? /((bejahend)) m/ (5/41-5/44)

Ahmet konstruiert durch die direkte Adressierung der Interviewerin und durch das »bei=uns« zwei unterschiedliche Gruppen, wobei er sich zu der einen Gruppe und mich zu der anderen Gruppe zählt. Bei der einen Gruppe handelt es sich um beschnittene bzw. muslimische Männer, bei der anderen um (nicht-muslimische) Frauen.30 Auf diese Weise wird von Ahmet eine männliche (muslimische) Identität hergestellt, mit der er sich von mir als Interviewerin abgrenzt. Durch das wiederholte Nachfragen »kennen Sie bestimmt auch ne?« wird diese Abgrenzung nochmals bestätigt.31 Das Verwenden von medizinisch-hygienischem Vokabular wie Intimbereich und Vorhaut, das direkt aus dem Aufklärungsunterricht bzw. dem Krankenhaus übernommen scheint, deutet darauf hin, dass es Ahmet unangenehm ist, über dieses Thema zu sprechen, und er sich mithilfe von Fachvokabular zu distanzieren versucht. Das wiederholte direkte Ansprechen der Interviewerin könnte dem entsprechend dazu dienen, Vertrauen herzustellen und sich immer wieder zu versichern, dass ich ihm noch zuhöre, ihn verstehe. Es geht also um Ahmets Beschneidung bzw. um die Verletzung, die Ahmet in Folge der Beschneidung hatte. un=nd das hab=ich damals frisch=gehabt und da bin=ich vom Krankenhaus raus bin in die Schule (1) ((kurzes Räuspern)) (5/44-5/46)

Ahmet präsentiert seine Beschneidung als eine Krankheitsgeschichte. Es geht ihm um die Verletzung, die er damals frisch hatte und die ihm vermutlich Schmerzen bereitet hat. Von einem anschließenden Fest, das normalerweise nach der Beschneidung üblich ist, spricht er nicht.32 Seiner Schilderung zufolge ist er direkt nach der Beschneidung wieder zur Schule gegangen, wo er Streit mit jemandem bekommt. Dies scheint für ihn zunächst einmal nichts Ungewöhnliches zu sein. Die Formulierung »und=da hab ich direkt auch 30 Bzw. könnten zu dieser Gruppe auch nicht beschnittene bzw. nicht muslimische Männer gezählt werden. 31 Gleichzeitig macht er hierdurch deutlich, dass er davon ausgeht, dass ich mich auskenne. 32 Dies muss nicht heißen, dass es ein solches Fest nicht gab. Möglicherweise ist es lediglich für diese Schilderung nicht wichtig, was dafür sprechen würde, dass Ahmet besonders betonen möchte, dass seine Wunden noch nicht verheilt waren. 214

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

schon Streit=gehabt mit jemandem« klingt fast, als habe Ahmet nichts anderes erwartet. Infolge des Streits wird Ahmet jedoch »unten reingetreten«: un=nd das hab=ich damals frisch=gehabt und da bin=ich vom Krankenhaus raus bin in die Schule (1) ((kurzes Räuspern)) und=da hab ich direkt auch schon Streit=gehabt mit jemandem der hat mir unten reingetreten, und=dann sind die ganzen Narben aufgegangen /m/ (1) so (1) (5/44-5/48)

Hierdurch bekommt der ›normale‹ Streit eine besondere Bedeutung für ihn. Im Gegensatz zu der von ihm als »uns« konstruierten Gruppe, in der die Beschneidung als natürlich gilt und Anlass für ein Fest ist, wird ihm und seiner rituellen Verletzung in der Schule keine Achtung entgegengebracht. Ahmet erlebt hierdurch eine doppelte Verletzung: zum einen durch die Beschneidung, die – seiner Erzählung zufolge – noch nicht einmal mithilfe eines Festes kompensiert wurde, und zum anderen durch den Tritt, der einen direkten Angriff auf seine (aktuell verletzte) Männlichkeit darstellt. Es ist eine Geschichte über Verletzlichkeit und Verletzbarkeit, die Ahmet hier erzählt und durch die seine Männlichkeit in Frage gestellt wird. Er präsentiert sich mir gegenüber als schwach und beschreibt eine Situation der absoluten Niederlage. Die Textsorte Erzählung deutet darauf hin, wie nah ihm das Erlebte geht und wie sehr es ihn auch heute noch berührt. Normalerweise scheint diese Geschichte keinen Platz in seiner Selbstpräsentation zu haben. Er erzählt nicht routiniert, beginnt sehr langsam und vorsichtig, verwendet Vokabular, das nicht in seine Alltagssprache passt und vergewissert sich immer wieder, dass ich ihm zuhöre. Er hofft auf meine Empathie und möchte mich auf seine Seite ziehen. Möglicherweise dramatisiert er deshalb auch das Erlebte. Gleichzeitig ist es eine Geschichte, mit der Ahmet versucht sein Gewalthandeln zu rechtfertigen. und irgendwie seit dem Tag an ist=es bei mir so- also (1) dass=ich einfach zu schlag bevor ich zu-, bevor ich, geschlagen werde (5/48-5/49)

Der Tritt wird von Ahmet als Entschuldigungsmatrix konstruiert, um sein Verhalten, das immer wieder zu Anzeigen führt, erklären zu können. Er schildert ein Initiationserlebnis für sein Gewalthandeln und präsentiert sich als jemand, der seine (verletzte) Männlichkeit (wieder-)herstellen und gewalttätig aufrechterhalten muss. Er wurde zum Opfer und reinstalliert sich nun als Handelnder. Insofern handelt es sich um eine Erzählung über Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit (vgl. Bereswill 2006; 2007a; Scholz 2008), die Ahmet jedoch ganz klar mit seiner Beschneidung in Verbindung bringt. Auf diese Weise positioniert er sich als muslimischer Mann, der zum Opfer wurde und sich nun legitim wehrt. Die Tatsache, dass es durchaus ver215

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

breitet ist, sich in einem bestimmten Alter gegenseitig ›unten rein zu treten‹, lässt Ahmet außen vor. Stattdessen konstruiert er eine Geschichte, mit der er seine kulturelle und religiöse Andersartigkeit betont und sie für sein Gewalthandeln verantwortlich macht. Auf diese Weise reproduziert er die Diskurse, die in der Öffentlichkeit an ihn herangetragen werden bzw. er nimmt – um mit Hall zu sprechen – die Position des muslimischen bzw. ›anderen‹ Mannes an und investiert in diese.

Wir vs. nicht-wir (27/03-27/24) An anderen Stellen im Interview verweigert sich Ahmet jedoch genau diesen Diskursen. Er spricht zwar von verschiedenen ›Gangs‹ in seiner Heimatstadt, die sich nach nationaler Zugehörigkeit unterscheiden: das Auto hab=ich nicht in die Luft=gejagt (1) das ham wir nicht in die Luft gejagt das haben irgendwelche andern gemacht /ach so/ also ich weiß=nicht wer das war (1) ich denk=mal das war auch die Russenbande also wir ham hier hinten Darmstadt ham wir so (Bosgutt)gang und- /was für ne Gang?/ Bosgut Gang /Bos-/ das ist türkisch Gang /ach so/ und Russen Gang und (1) Wodka Gang also viele mögliche Gangs haben=wir hier (1) (12/27-12/33)

Die externen Zuschreibungen bzw. Ethnisierungen scheinen also von den Jugendlichen übernommen zu werden, und auch für Ahmet scheinen sie nicht ganz bedeutungslos zu sein, da er der »Russenbande« die Schuld zuweist. Sich selbst ordnet er jedoch keiner dieser Gruppen ausdrücklich zu. Im Unterschied zu Murat oder auch Serdar (vgl. Kap. 7 & 8), verortet er sich nicht mithilfe seiner Nationalität. Stattdessen scheint für ihn und sein direktes Umfeld lediglich die Unterscheidung ›wir‹ (also die Gruppe) vs. ›nicht-wir‹ von Bedeutung zu sein. Am Ende des Interviews frage ich Ahmet daher, wer zu diesem ›wir‹ zählt: I:

((schmunzelt)) und wenn du sagst du sagst immer so wi:r und das und das gemacht was weiß ich als wir das Auto eingetreten haben und so (1) wa- was waren das für für Leute? B: Das waren bestimmte Leute /aha/ das wa:r einfach ne bestimmte Gruppe I: (2) und was waren da für Leute drin? B: Hu, heftige Leute, ((I. schnauft)) derbst verkommene Leute im Kopf, also die nur so Schlägereien Drogen was weiß ich was im Kopf haben, so Leute war’n das (27/03-27/11)

Mit dieser Antwort bin ich – als Interviewerin – jedoch offensichtlich noch nicht zufrieden. Ich möchte ein genaueres Bild davon bekommen, wer zu der 216

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Gruppe gehört und wer nicht. Da das Interview fast beendet ist,33 beschränke ich mich nicht mehr auf erzählgenerierende Nachfragen, sondern hake nochmals konkreter nach: I:

bei dir von der Schule? (2) /auch ja/ mm (3) und ist das dann irgendwie getrennt was weiß ich Russen Türken oder was weiß ich oder #ist das# B: #alles# mögliche, Remix ((schmunzelt)) jeder (von) Türke Marokkaner außer Deutsche /m/ außer Deutsche, Deutsche (haben=wir=net), aber Deutsche ähm ich sag mal so das soll keine Beleidigung oder so sein aber (1) Deutsche sind und bleiben rein prinzipiell Schisser ((I. schnaubt)) ist wirklich so ((I. schmunzelt kurz)) ich hab nix gegen Deutsche oder so aber (trotzdem) äh: ich kenn keinen einzigen Deutschen der mal ordentlich drauf hauen kann /m/ kenn ich keinen /m/ ohne Scheiß kenn ich ehrlich keinen (1) doch ich kenn einen, der (Schapur) (1) der kann ordentlich drauf hauen aber das ist trotzdem halb Türke halb Deutscher /m/ (2) deshalb, ich kenn keinen ordentlichen Deutschen de:r richtig drauf haut außer die Nazis halt /m/ (3) (27/12-27/24)

Erst jetzt liefert mir Ahmet das, was ich offensichtlich hören wollte. Er benennt – vermutlich gezwungen durch meine direkte Frage nach Nationalitäten – nationale Zugehörigkeiten. Doch auch hier verortet er sich und seine Gruppe nicht eindeutig. Er spricht von einem »Remix«, von Türken und Marokkanern, und reproduziert auf diese Weise gesellschaftliche Diskurse über gefährliche Jugendgangs, bei denen ebenfalls nicht klar nach Nationalitäten unterschieden wird, die aber dennoch auf bestimmte Nationalitäten (z.B. Türken, Araber, Osteuropäer) abzielen. Die einzige Zugehörigkeit, von der er sich und seine Gruppe eindeutig abgrenzt, sind die Deutschen.

Deutsche vs. Nicht-Deutsche (28/12-28/21) Wenig später wiederholt sich dieses Spiel. Ich frage Ahmet nun nach seinen jetzigen Freunden, von denen er zuvor im Interview erzählt hatte, dass diese sich von der früheren ›Gruppe‹ unterscheiden: I:

Du sagtest dass du jetzt korrekte Freunde hast /ja=ja/ was sind das jetzt für Leute? B: Ja das sind jetzt einfach andere Leute weißt=de so: wie soll ich sagen so Freunde und (3) ja einfach korrekt sind die einfach für einen da ist wenn’s /m/ wirklich auf hart und hart kommt (28/01-28/06) 33 Ich habe Ahmet bereits zum Abschluss des Interviews nach der schwierigsten und der schönsten Situation seines Lebens gefragt und bin nun dabei, noch einige biographische Daten abzufragen (vgl. zum methodischen Vorgehen auch Kap. 3.2.2). 217

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Auch hier weigert sich Ahmet nationale Zugehörigkeiten zu benennen. Sie scheinen für ihn keine Rolle zu spielen. Es geht für ihn lediglich darum, dass es seine Freunde sind, die zu ihm halten. Doch ich habe offensichtlich wiederum eine andere Antwort erwartet, denn ich hake nochmals nach; möchte nun endlich eindeutige, nach Nationen differenzierte Zuordnungen von Ahmet erfahren: I: (sind das dann) (1) auch Deutsche oder? Ist das wieder (meinetwegen) (1) B: `keine Deutsche´ I: (keine) Deutsche? ((schmunzelt)) (28/12-28/14)

Ahmet tut mir diesen Gefallen jedoch nicht. Die einzige Unterscheidung, die er – möglicherweise lediglich mir zuliebe – vornimmt, ist wiederum die zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Es folgt eine Argumentation, in der Ahmet mir erklärt, warum er keinen »so großen Kontakt […] mit Deutschen« hat: ich weiß nicht so großen Kontakt hab ich nicht mit Deutschen /m/ (1) ich mein ich(1) ich kenn viele Deutsche, ich kann auch viele gu- viele Deutsche gut leiden, /m/ es gibt auch Deutsche die Arsch- die Arschlöcher sind /m/ (1) es gibt auch Türken die Arschlöcher sind (1) gibt überall Arschlöcher (3) aber trotzdem /m/ ich mein ich hab nix gegen Deutsche=ich werd auch nichts gegen Deutsche haben, /m/ im Endeffekt leb ich hier /ja/ (28/15-28/21)

Es wird deutlich, dass die eigentlich wichtige Unterscheidung für Ahmet weniger die zwischen Deutschen und Nichtdeutschen ist, als die zwischen »Arschlöchern« und Leuten, die er gut leiden kann. Dies entspricht der vorherigen Argumentation insofern, als auch dort die Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen nebensächlich zu sein schien, und es eher um die Frage ging, wer »mal ordentlich drauf hauen kann« und wer ein »Schisser« ist. Ahmet unterläuft in beiden Argumentationen beharrlich die Frage nach Zugehörigkeiten. Er weigert sich, sich eindeutig zu verorten und widersetzt sich den gesellschaftlichen Diskursen, die in diesem Fall sogar von mir als Interviewerin machtvoll an ihn herangetragen werden. Ahmet kämpft hier also genau gegen die Position, in die er in der zuvor analysierten Textstelle noch investiert hat. Dieser ›Kampf‹ drückt sich so aus, dass er zwar die Position des ›Nichtdeutschen‹ scheinbar einnimmt, sie jedoch insofern verändert als er gleichzeitig deutlich macht, dass die in den gesellschaftlichen Diskursen und von mir als Interviewerin (re-)produzierte Position für ihn nicht von Bedeutung ist.

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»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

»Einmal hab ich=en Nazi getroffen« (28/21-28/31) Im Anschluss an diese (zweite) Argumentation Deutsche vs. Nichtdeutsche beginnt Ahmet zu erzählen: aber wissen=se (2) einmal hab ich=en Nazi getroffen (2) meint so zu mir du Scheiß Ausländer und keine Ahnung was noch (hab=ich=gesagt) du sagst zu mir Ausländer? dann sag ich dir mal was mein Freund (1) ich tu für eu- ich tu wahrscheinlich (2) Entschuldigung, ich tu wahrscheinlich deine Frau ficken, ich tu wahrscheinlich dein Essen essen, ich tu in deinem Land leben (1) ja? Dann sagst du zu mir Scheiß Ausländer, was=was soll ich=en in meinem Land wenn ich da nix krieg wenn ich hier alles krieg (1) warum soll ich dann in mein Land gehen da alles: verschenken? Kann ich doch alles hier /m/ (1) ich hab dei- Frau ich hab dei- Esse ich hab deiTrinke ich hab deine Wohnung und ich hab dein Land, was soll ich mehr ham? Gehn=se ja doch gehn=se mal nach Mannheim gucken=se mal, das=ist MiniIstanbul ((I. schmunzelt kurz)) das ist Klein-Istanbul ohne Scheiß so viel Türken sind da /m/ schon heftig (28/21-28/32)

Es handelt sich hierbei – sehr wahrscheinlich – nicht um eine Erzählung über ein Erlebnis, das Ahmet tatsächlich erlebt hat. Die Geschichte klingt konstruiert. Wenn Ahmet tatsächlich einen »Nazi getroffen« haben sollte, hätte dieser vermutlich nicht einfach zu Ahmet »du Scheiß Ausländer« gesagt und dann geduldig abgewartet, was Ahmet ihm zu erwidern hatte. Außerdem scheint es recht unwahrscheinlich, dass Ahmet sich in dieser Situation nur mit Worten gewehrt hätte, wenn er sonst sofort mit Schlägen reagiert. Doch warum erzählt Ahmet diese Geschichte? Rein sprachlich bzw. vom Rhythmus her erinnert die Erzählung an einen Rap. Die sprachliche Konstruktion »ich tu […] deine Frau ficken, ich tu […] dein Essen essen, ich tu in deinem Land leben« ist keineswegs typisch für Ahmet, bei dem im bisherigen Interview eher der souveräne Wechsel zwischen verschiedenen Sprachebenen sowie seine gewählte und korrekte Ausdrucksweise auffiel, die lediglich durch Dialekt und Jugendslang eingefärbt wurde. Ahmet scheint sich hier an bestimmte Formen kultureller Repräsentation anzulehnen bzw. diese zu übernehmen und sich eine bestimmte Sprachform anzueignen, um sich selbst zu inszenieren und gleichzeitig abzugrenzen.34 Möglicherweise hat sich Ahmet durch mein wiederholtes Nachhaken provozieren lassen, durch das ich ihn als Deutsche zum Ausländer gemacht habe. Er schlägt nun mit seiner Antwort zurück bzw. spielt bewusst mit dem Bild, das ich ihm vorgegeben habe. Er spricht von »deinem« und von »meinem 34 So erinnert das von Ahmet Gesagte nicht nur an einen Rap, sondern z.B. auch an »Kanak Sprak« (Zaimoglu 1995). 219

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Land« und reproduziert damit – das wäre zumindest eine Lesart – rechte ausländerfeindliche Diskurse. Mit der klaren Benennung von ›dein‹ und ›mein‹ positioniert sich Ahmet gleichzeitig jedoch ganz klar in Deutschland, was er mit der verwendeten Kriegs- und Eroberungsmetaphorik, »ich tu wahrscheinlich deine Frau ficken, ich tu wahrscheinlich dein Essen essen, ich tu in deinem Land leben« unterstützt. Er nimmt die Positionierung als ›Ausländer‹ strategisch ein und macht hierdurch (und nochmals unterstützt durch das Beispiel Mannheim) deutlich, wie absurd die Unterscheidung ist. Ahmet scheint sich innerhalb des dominanten Diskurses zu verorten, wenn es darum geht, sein eigenes Gewalthandeln zu erklären. Es wird ihm hier eine Entschuldigungsmatrix angeboten, die er für sich nutzen kann: Als muslimischer Mann muss er sich gegen andere Männer wehren; er muss seine ›Kultur‹ und Männlichkeit gegenüber der der anderen schützen. Im Unterschied zu Murat positioniert sich Ahmet hierbei jedoch nicht als Türke (vgl. Kap. 7), sondern als Muslim. Auf diese Weise gelingt es ihm, Alterität zu betonen und trotzdem sein Recht als Inländer geltend zu machen (vgl. Tietze 2009).35 Wenn es jedoch um die Beschreibung seiner peergroup geht, verweigert Ahmet eine solche Positionierung. Er kämpft gegen die – auch von mir als Interviewerin – machtvoll an ihn herangetragene Position des ›Anderen‹ bzw. nimmt sie nur strategisch und unterstützt durch eine Kriegs- und Eroberungsmetaphorik im Rhythmus des Rap an. Hierdurch macht er deutlich, dass die im Diskurs herrschenden Unterscheidungen für ihn nicht gelten bzw. nicht relevant sind.

6.4.5 Familie Mein Bruder I (4/13-4/20) In der Anfangssequenz spricht Ahmet nur sehr kurz und wenig differenziert über seine Familie (vgl. Kap. 6.3, Kap. 6.4.1). Zu Beginn des Nachfrageteil bitte ich ihn daher, mir noch mehr von seiner Familie zu erzählen. Ahmet scheint hierzu jedoch nicht bereit zu sein und zählt seine Familiemitglieder lediglich der Reihe nach auf: ´Was soll=ich=denn erzählen?´ (2) ich hab ne Mama ((I. schmunzelt kurz etwas)) ich=hab Papa /m/ ich hab ne Schwester /m/ (1) (4/05-4/06)

35 Dies könnte unter Umständen damit zusammen hängen, dass Ahmets eigenständiges, unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland – im Unterschied zu Murat und Serdar – bislang nicht gefährdet ist, da Ahmets Jugendstrafe insgesamt weit unter sechs Monaten liegt (vgl. § 35 AufenthG). 220

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Was anfangs wie ein Witz klingt, nimmt jedoch – für mich recht unvermittelt – eine ernste Wendung: ich hatte einen Bruder einen- also n ältesten Bruder hatt=ich gehabt der ist gestorben (2) un=ich hab noch n andern Bruder und der=ist in der Türkei (2) (4/06-4/08)

Ahmet spricht nun von seinen beiden Brüdern, die für ihn offenbar selbstverständlich mit in die Aufzählung gehören. Er erwähnt, dass einer seiner Brüder gestorben ist und der andere in der Türkei lebt. Doch ganz so nebensächlich wie er es mir hier gerne präsentieren möchte, scheint das Thema für ihn nicht zu sein. Er gerät ins Stocken und versucht die Aufzählung schnell wieder ins Lächerliche zu ziehen: B: ´ja´, soll ich Ihnen den Rest noch aufzählen? so meine Cousins und \((etwas lächelnd:)) so-\ I: von mir aus #((Lächeln (1))# B: #nee danke# ich glaub da wird die: (1) Zeit wird heute Abend noch nicht enden da müssen Sie wahrscheinlich hier übernachten ((I. lächelt kurz)) ((B. lächelt kurz)) (4/08-4/13)

Nach zehn Sekunden Pause setzt Ahmet dann jedoch erneut an und spricht zumindest über einen der beiden Brüder: (10) und mein Bruder (2) der ist=auch in die Türkei abgeschieben wurden, abgeschoben worden /m/ aber bei dem waren=s halt andere Sachen, bei dem ging=s nicht so-, also gut der hat auch Anzeigen wegen Körperverletzung und so gehabt aber, bei dem ging=s um Drogendelikte ´und dann´- /m/ also der hat dann Drogen verkauft und Drogen vercheckt ´und so´ (1) ich mein auch wenn er sie nicht eingenommen hat, ´ä:´ hat der=se immer, verkauft und so ´und´ groß Geld damit ´gemacht´ dies jenes hat=er gemacht, ham=sie=n dann mit Kilos erwischt ne? (2) ´ ja´ /m/ (5) ´na ja´ (6) (4/13-4/20)

Ahmet scheint lange überlegt zu haben, ob er über seine Brüder noch etwas hinzufügen bzw. wie er über seinen Bruder sprechen soll; was er sagen kann. Letztlich fällt er ziemlich mit der Tür ins Haus, denn zuvor hatte er nur ganz neutral formuliert, dass sein Bruder in der Türkei sei. Nun aber bricht es förmlich aus ihm heraus: Es ist etwas Schlimmes passiert. Sein Bruder wurde abgeschoben; und zwar scheinbar nicht (allein) wegen seiner Staatsangehörigkeit, sondern wegen »Sachen« – »andere[r] Sachen«. Sein Bruder hat also etwas getan, das zur Abschiebung führte. Indirekt spricht Ahmet hier auch über sich selbst und grenzt sich bzw. das, was er getan hat von seinem Bruder bzw. dessen Tun ab, wobei – zumindest zu Beginn – nicht deutlich wird, ob auch Ahmet von einer Abschiebung bedroht ist. 221

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Auffällig an Ahmets Formulierungen ist, wie stark er das kriminelle Verhalten seines Bruders und damit indirekt auch sein eigenes Handeln bagatellisiert. Abweichung scheint – so stellt Ahmet es hier zumindest dar – für ihn normal zu sein. Gleichzeitig schiebt er die Verantwortung für das, was sein Bruder und vielleicht auch er selbst getan hat bzw. tut, weit von sich: Es geht um »Sachen« und die passieren »halt«. Ahmet präsentiert sich – am Beispiel seines Bruders – als jemand, für den ein Konflikt mit dem Gesetz vertraut ist. Auch er wurde wegen Körperverletzung angezeigt. Mit Drogendelikten, die sein Bruder begangen hat, hat er aber – so stellt er es zumindest dar – nichts zu tun. Unklar bleibt hierbei bzw. womöglich lässt es Ahmet auch bewusst in der Schwebe, ob er selbst Drogen nimmt oder möglicherweise auch mit Drogen handelt. Er präsentiert sich jedenfalls auch auf diesem Gebiet als Experte und erklärt mir – als Laien – die ›Arbeit‹ seines Bruders: also der hat dann Drogen verkauft und Drogen vercheckt ´und so´ (1) (4/17)

Gleichzeitig unterstreicht er mit dieser Beschreibung die Normalität dessen, was sein Bruder getan hat. Aus Ahmets Mund klingt der Verkauf von Drogen fast wie ein Job wie jeder andere.36 Es scheint ihm daher auch wichtig zu sein, seinen Bruder als professionellen Verkäufer zu präsentieren, der nicht süchtig war. ich mein auch wenn er sie nicht eingenommen hat, ´ä:´ hat der=se immer, verkauft und so ´und´ groß Geld damit ´gemacht´ (4/17-4/19)

Ahmet ist sichtlich stolz auf seinen Bruder, der mit dem Verkauf von Drogen »groß Geld […] gemacht« hat. Dennoch scheint er die Abschiebung seines Bruders nicht in Frage zu stellen. Vielleicht ist Ahmet der Meinung, dass er sich nicht hätte erwischen lassen dürfen oder dass er es mit dem Verkauf von »Kilos« übertrieben hat; was unter Umständen ein Hinweis darauf sein könnte, dass Ahmet selbst mit kleineren Mengen dealt. Möglicherweise differenziert Ahmet aber auch zwischen »Anzeigen wegen Körperverletzung« und »Drogendelikte[n]«. Für ihn gehört beides zur Normalität, aber er weiß, dass die Reaktion des Staates unterschiedlich ausfällt.37 Anzeigen wegen Körper36 Dies ist insofern interessant, als auch Ahmet seine Beteiligung an Schlägereien als eine Art Arbeit beschreibt (vgl. 6.4.3 – Don Corleone I). 37 Nach § 54 AufenthG wird »[e]in Ausländer [...] in der Regel ausgewiesen, wenn [...] er den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zuwider ohne Erlaubnis Betäubungsmittel anbaut, herstellt, einführt, durchführt oder ausführt, veräußert, an einen anderen abgibt oder in sonstiger Weise in Verkehr bringt oder mit ihnen handelt oder wenn er zu einer solchen Handlung anstiftet oder Beihilfe leistet«. Bei sonstigen Delikten wird »[e]in Ausländer [...] in der Regel ausgewiesen, wenn [...] er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechts222

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

verletzung scheinen in gewisser Weise harmlos und auch ohne Konsequenzen für ihn zu sein (vgl. Kap. 6.2), aber wer (große) Geschäfte mit Drogen macht, begibt sich auf ein gefährliches Terrain und muss damit rechnen, aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Interessanterweise schafft es Ahmet mit dieser Beschreibung von dem von mir angesprochenen Thema Familie wegzukommen. Er positioniert sich – wie bereits in der zuvor analysierten Textstelle über seinen Vater (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?) – als gewalttätig und kriminell. Möglicherweise möchte er mit dieser Strategie tatsächlich etwas verdecken, was mit seiner Familie zusammenhängt und ihm – in welcher Weise auch immer – gefährlich werden könnte.

Meine Schwester (4/23-4/39) Dieses Spiel wiederholt sich – in leicht abgeänderter Form – direkt im Anschluss an diese Textstelle noch einmal. Denn obwohl Ahmet nun wieder beim Thema Kriminalität angekommen ist, halte ich am Thema Familie fest, und frage Ahmet, ob er mir von seiner Schwester noch etwas erzählen könne. Daraufhin beschreibt Ahmet mithilfe einer verdichteten Situation sein Verhältnis zu seiner Schwester: (1) och die ist ganz locker drauf ((I. lächelt (1)) die ist ganz gut die beschützt mich immer vor meinen Eltern ((I. lächelt (1)) die sagt dann als Mal der hat nichts gemacht und so ((B. lächelt)) ((gemeinsames Lächeln (1)) dann geh ich in die Stadt bin mit ungefähr vierzig Leuten unterwegs un=n, dann fragt mein Vater=so ey=haste jemand gesehen? ich=so ja (den Ali),38 mit wem war=er? Ja ganz alleine (irgendwie) ((gemeinsames Lächeln (1)) (4/23-4/29)

Obwohl Ahmet auf meine Frage eingeht, kommt er indirekt wieder auf das Thema zurück, über das er offensichtlich eigentlich sprechen möchte. Denn auch hier geht es um Ahmets abweichendes Verhalten, das dazu führt, dass die Eltern sich scheinbar Sorgen machen und nicht wollen, dass Ahmet sich in der Stadt mit seiner Clique trifft. Ahmet positioniert sich also auch hier wieder – zumindest indirekt – als gewalttätig und kriminell. Doch damit nicht genug, denn auch seine Schwester wird von ihm in gleicher Weise positioniert: meine=Schwester ist ganz locker drauf ja (2) na ja abgesehen davon dass sie mir immer meine Schuhe klaut aber- (1) ((I. lächelt (1)) (2) ´ja sonst ist=sie ganz okay

kräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist«. 38 Name eines Freundes von Ahmet. 223

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

drauf´ (2) ich mein meine=Schwester-, ich weiß nicht das hat wahrscheinlich so=n Familientick dass irgendwie- (1) so jeder- irgendwie was auf=m Kasten hat weil meine Schwester ist genauso eine, also wenn die=sich-, wenn die sich schlägt dann wirklich heftig (1) ich mein ich weiß nicht gegen mich- gegen n Jungen oder=so hätt=sie vielleicht net so ne Chance oder so (1) aber wenn die sich mit m Mädchen schlägt dann kloppt sie auch mal richtig drauf ne? ((kurzes leises Schmunzeln von I.)) (1) ((I. schmunzelt nochmals kurz leise)) und=meine Schwester hockt sich auch immer=abends hin und macht Bodybuilding ((Rascheln (1)) (5) n=ja das ist meine Schwester (1) klein aber fein (4/29-4/39)

Sichtlich stolz erzählt Ahmet von seiner Schwester, dass auch sie in Schlägereien verwickelt ist. Und so wie sich selbst positioniert Ahmet auch seine Schwester als erfolgreiche Schlägerin: »wenn die sich schlägt dann wirklich heftig«. Dies heißt jedoch – Ahmets Darstellung zufolge – nicht, dass sie gegen Ahmet oder generell gegen Jungen eine Chance hätte. Denn letztlich würde das wieder einen Angriff auf Ahmets Männlichkeit darstellen. Aber Gewalthandeln scheint auch für sie zum Alltag zu gehören.39 Ahmet spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem »Familientick«, wobei nicht ganz klar wird, was er hiermit genau meint. In Bezug auf seine Schwester scheint es um das Schlagen zu gehen, doch ob dies auch auf andere Familienmitglieder zutrifft oder Ahmet hier möglicherweise auf elterliche Gewalt anspielt, lässt sich nicht sagen. Denn im Anschluss an diese Sequenz wechselt Ahmet (wieder) das Thema und berichtet über den Sommer, in dem er – wegen der »ganze[n] Polizeigeschichte« (4/43) Hausarrest hatte und ein Dach für die Terrasse gebaut hat (vgl. Kap. 6.2 & Kap. 6.3 Fn 12).

Mein Bruder II Im weiteren Verlauf des Interviews wird das Thema Familie weder von mir noch von Ahmet erneut angesprochen. Erst gegen Ende frage ich Ahmet noch einmal nach seinem Bruder, der in die Türkei abgeschoben wurde: dein Bru- \((B. hustet:)) (1) der je- ((Hüsteln von B. (1)) hopsa ((B. räuspert sich kurz)) dein Bruder der jetzt in der Türkei lebt kannst du mir von dem noch=en bisschen was erzählen? (19/10-19/12)

39 Auch wenn Gewalt im gesellschaftlichen Diskurs nach wie vor als männlich gilt (vgl. Kap. 2.3.4), hat die Gewaltbereitschaft bei Mädchen laut Polizeilicher Kriminalstatistik in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen (vgl. z.B. Bundesministerium des Innern 2009: 11). Am deutschen Jugendinstitut wurde bereits 1998 bis 2001 ein Projekt zum Thema Mädchen und Gewalt durchgeführt, bei dem es u. a. um die Bedeutung weiblicher Geschlechtskonzepte im Kontext gruppendynamischer Prozesse ging (vgl. Bruhns/Wittmann 2002; Bruhns 2003). 224

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Ahmet reagiert hierauf – noch bevor er eigentlich wissen kann, worauf ich hinaus möchte – mit körperlichen Reaktionen. Dies ist insofern auffällig als er in den vorgehenden Sequenzen weder husten, noch ›hüsteln‹ oder sich räuspern musste. Unter Umständen lässt sich daher seine Reaktion als Entgegnung auf das erneute Ansprechen des Themas Familie interpretieren. Schließlich antwortet Ahmet auf meine Frage ausweichend, betont, dass er »nicht so viel« über seinen Bruder wisse und wiederholt, was er mir schon zu Beginn des Nachfrageteils berichtet hat: mein Bruder der=in der Türkei lebt ä:m (1) über den weiß=ich selber nicht so viel (1) weil der ist=auch damals wie=ich klein war ist der abgeschoben=worden /m/ (1) der hat=dann auch so drogenmäßig und so /m/ der ist dann in Frankfurt gewesen und=hat in Frankfurt groß Kilos ausgeteilt und=so /m/ ´deshalb-´ (19/13-19/17)

Auch eine erneute Nachfrage meinerseits, bringt Ahmet nicht dazu, mehr zu erzählen.40 So wechsle ich das Thema und frage ihn nach seinem anderen Bruder. Über diesen fällt es Ahmet sichtlich leichter zu sprechen: der ist neunundneunzig gestorben /m/ (1) ´der ist wegen Autounfall gestorben´ /m/ (1) das war=auch=einer, der einzigsten, in der Familie der, was aus seinem Leben gemacht hat, /m/ der hat ne Ausbildung hinter sich gehabt (1) ´un=nd´ (1) also=ich weiß nicht der hat einfach alles gehabt, Arbeit gehabt einfach alles=gehabt der wollt sogar seinen Meisterbrief machen /m/ der war=grad auf dem Weg von Darmstadt, nach Bad Homburg um den Meisterbrief zu machen /m/(1) hat=dann=halt den Unfall=gehabt /m/ dem sind die Frauen hinterher gerannt bow ((gemeinsames kurzes leises Lächeln)) das glauben Sie mir aber ((gemeinsames kurzes leises Lächeln)) der hat=auch schon=immer=was auf dem Kasten=gehabt und=so der hat auch schön trainiert und=alles, war schön braun, ne? ((kurzes leises Lächeln)), ´ja´ /m/ und=nicht so wie man sich halt so=n Türken vorstellt so, komplett behaart und= alles ((I. lächelt (1)) nee nee schön alles rasiert ((I. lächelt kurz)) (7) Sie werden auch=so- ich weiß nicht (4) ä:m ich sag mal so, er hat immer, so Weiber gehabt die so entweder Schlampen waren oder (1) keine=Ahnung, sonst irgend=was /m/ (1) der=hatte=halt einfach immer andere Mädchen gesucht der=hat einfach n Mädchen gesucht der-, was zu ihm passt /m/ (1) und alles (2) un=nd ich weiß=nicht (1) Sie ich sag=mal so (1) ä:m (1) beispielsweise Sie hätten ihm gefallen ((I. schmunzelt kurz)) doch weil=er e-, auch irgendwie immer gemeint=gehabt ä blonde Haare und nicht=so braun gebräunt so von wegen Solarium dies und jenes (2) ((zieht kurz die Nase hoch)) (2) /m/ (2) so war der, /m/ das war ´mein Bruder´ (1) \((gähnend)) ja\ (3) (19/24-19/45)

40 Allerdings habe ich Ahmet an dieser Stelle auch keine narrative Nachfrage gestellt, sondern ihn lediglich nach seinem damaligen Alter gefragt. Wahrscheinlich war dies während des Interviews für mich die nahe liegende Erklärung, warum Ahmet nicht mehr erzählen kann. 225

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Es wird hier deutlich, wie sehr Ahmet seinen Bruder bewundert haben muss. Er scheint all dies zu verkörpern, was für Ahmet von Bedeutung ist: er hat »Arbeit gehabt«, ihm »sind die Frauen hinterher gerannt«, er hat »was auf dem Kasten=gehabt«, hat »schön trainiert« und »war schön braun«. Darüber hinaus war er »nicht so wie man sich halt so=n Türken vorstellt«, wobei Ahmet hier lediglich darauf hinaus möchte, dass sein Bruder nicht »komplett behaart« war. Es scheint sein persönliches Bild hegemonialer Männlichkeit zu sein, das Ahmet hier beschreibt. Die nationale oder ethnische Zugehörigkeit spielt hierbei für ihn scheinbar nur eine untergeordnete Rolle, wobei ein ›Türke‹ dieses Bild unter Umständen nur verkörpern kann, wenn er nicht so aussieht wie ein ›Türke‹. Eine erstrebenswerte und damit für ihn in gewisser Weise auch hegemoniale Männlichkeit bedeutet für Ahmet dementsprechend, (erfolgreich) erwerbstätig, intelligent, heterosexuell und körperbewusst bzw. körperlich anziehend zu sein. Damit beschreibt er ein Bild von Männlichkeit, das gesellschaftlich breit akzeptiert ist, mit dem er sich also innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses als ›normaler‹ Mann verorten kann.41 Interessanterweise spricht Ahmet in diesem Zusammenhang mich als Frau an; und zwar als Frau, die zu seinem Bruder und damit zu diesem von Ahmet konstruierten Bild hegemonialer Männlichkeit passen würde. Es ist keinesfalls das einzige Mal, dass er mich während des Interviews als Frau anspricht und er sich auf diese Weise als Mann positioniert (vgl. Kap. 6.4.5). Hier jedoch werde ich von Ahmet nicht nur als Frau, sondern auch als potentielle Freundin seines (verstorbenen) Bruders angesprochen. Auf diese Weise gerät die Forschungsbeziehung zwischen Ahmet und mir ins Wanken: Ich werde von ihm an dieser Stelle nicht mehr – oder zumindest nicht vordergründig – in meiner Expertenposition als Interviewerin wahrgenommen, sondern als Frau. Dem entspricht auch, dass plötzlich nicht mehr das kulturelle Kapital zählt, das ich als Forscherin mitbringe (vgl. Kap. 3.2.3), sondern lediglich mein Äußeres: »blonde Haare und nicht=so braun gebräunt«. Die Beziehungsebene zwischen Ahmet und mir verschiebt sich also von der zwischen Forscherin und Interviewtem hin zu einer Beziehung zwischen Frau und Mann. Damit einher geht jedoch keinesfalls eine Abwertung: Denn ich werde von Ahmet als Frau positioniert, die er weder den »Weiber[n]« noch den

41 Michael Meuser und Sylka Scholz (2005) haben die Frage aufgeworfen, ob es in einer Gesellschaft nur eine hegemoniale Männlichkeit geben kann. Und bei Susanne Spindler (2006) und Martina Weber (2007) finden sich Hinweise, dass Jugendliche in sozialer Randständigkeit sich nicht versuchen, dem hegemonialen Bild von Männlichkeit anzunähern, sondern dieses auf ihre eigene Weise interpretieren (vgl. Kap. 2.4.2). Auf einen ähnlichen Schluss deuten auch die von mir geführten Interviews hin, worauf ich in meiner Schlussbetrachtung noch ausführlicher eingehen werde (vgl. Kap. 9.2.3). 226

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

»Schlampen« zurechnet, sondern die zu den »Mädchen«42 zählt, die seinem Bruder gefallen hätten und nach denen er bis zu seinem Tod vergeblich gesucht hat. Ich werde also von Ahmet als Frau positioniert, die ein Mitglied seiner Familie hätte werden können. Wenn ich darüber hinaus davon ausgehe, dass sein Bruder für Ahmet ein Bild hegemonialer Männlichkeit verkörpert, das auch Ahmet anstrebt, so folgt daraus, dass er mich als Frau positioniert, die zur Zeit für ihn zwar noch unerreichbar ist, aber die einem Bild von einem »Mädchen« entspricht, mit dem er sich durchaus eine Beziehung vorstellen könnte. Das interaktive Herstellen von Männlichkeit im Interview scheint an dieser Stelle mit dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung verbunden zu sein. Indem Ahmet mich zu einem »Mädchen« macht, das seinem Bruder gefallen hätte, wird von ihm zwar die Geschlechterdifferenz zwischen uns betont, gleichzeitig jedoch die Differenz zwischen sozial privilegierter Forscherin und deviantem Forschungsobjekt zu überwinden versucht. Es geht also weniger – und zu diesem Schluss kommt auch Mechthild Bereswill (2005: 132) in Bezug auf ein von ihr durchgeführtes Interview – um die »Restauration von Hierarchien zwischen den Geschlechtern«, sondern um »die kontextspezifische Relativierung eines sozialen Gefälles [...], das die Geschlechterhierarchie überlagert«. Eine ähnliche Strategie hat Ahmet bereits in seiner Erzählung über Frau Bauer angewandt. Auch dort ging es ihm darum, sich als erwachsener (potenter) Mann zu positionieren, der im Gefängnis gleichberechtigt und freundschaftlich behandelt wird (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer). Ich gehe an dieser Stelle auf die Bemerkung Ahmets nicht ein und nehme hierdurch auch seine Fremdpositionierung als Frau und potentielle Freundin nicht an. Stattdessen positioniere ich mich wieder als Forscherin, die Fragen stellt, und versuche auf diese Weise auch wieder das hierarchische Verhältnis zwischen Ahmet und mir herzustellen: I:

und von der Zeit als er den Unfall hatte kannst=du ´mir=da noch n bisschen was´ erzählen? (1) B: von der Zeit wo er den Unfall=hatte ´was soll=ich denn da erzählen?´ I: ´na ja (zum) war ja=auch die Zeit als dein anderer Bruder dann abgeschoben wurde´ (19/46-19/50)

Dies gelingt jedoch nur bedingt. Denn anstatt auf meine Frage zu antworten, stellt Ahmet eine Gegenfrage und relativiert auf diese Weise wiederum die 42 Auch die Bezeichnung »Mädchen« könnte als abwertend gegenüber einer Frau interpretiert werden, steht jedoch im Kontext des Interviews vermutlich eher für Reinheit und sexuelle Unerfahrenheit und ist im Gegensatz zu den »Weiber[n]« und »Schlampen« scheinbar positiv konnotiert. 227

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

hierarchische Beziehung zwischen uns, ohne jedoch meine Positionierung als Interviewerin infrage zu stellen. Dies scheint allerdings zu genügen, um mich vom weiteren Fragenstellen abzubringen. Stattdessen beginne ich eine Interaktion, wie sie für ein Interview eher unüblich ist, durch die ich jedoch Ahmet als gleichberechtigten Interaktionspartner positioniere. Auf diese Weise scheint es mir zu gelingen, Ahmet wieder zur Kooperation zu bringen, denn er beginnt daraufhin zu argumentieren: ja so ungefähr war=das dann die Zeit /m/, na ja klar (1) war=halt auch nicht grad so schön ne? /m/ wie: wenn mein Bruder- einer stirbt und der=andere dann in die Türkei geht ne? /m/ ist /m/ auch grad nicht schön /m/ (1) ´na ja´ (2) war schon heftig (1) (19/51-20/02)

Ahmet beschreibt hier die Zeit, als sein ältester Bruder gestorben ist und der andere abgeschoben wurde, recht pauschal als »nicht grad so schön« und »heftig«. Wie es ihm in dieser Situation ging, lässt sich hierbei nur erahnen. Denn ausführlicher wird Ahmet diesbezüglich nicht. Stattdessen beschreibt er im Folgenden sehr detailliert und ausführlich den Vorgang des Unfalls. Im Anschluss folgt dann die Sequenz, in der ich Ahmet nach seinem Vater frage und er mir das kurze Video von der Schlägerei an der Bushaltestelle zeigt (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?). Es liegt die Vermutung nahe, dass Ahmet – zumindest mir gegenüber im Interview – nicht über die Zeit sprechen will oder kann, in der er seine beiden Brüder verloren hat. Stattdessen positioniert er sich lieber als gewalttätig und kriminell und identifiziert sich mit einer Rolle als gewalttätiger Schläger. Insofern lässt sich jedoch Ahmets Selbstpositionierung nicht allein mit dem Herstellen von Männlichkeit erklären. Denn bei der biographischen Datenanalyse zeigte sich, dass Ahmet zu der Zeit, als er seine beiden Brüder verloren hat, in der Schule auffällig und bald darauf auch straffällig wurde. Biographisch gibt es also einen engen Zusammenhang zwischen Ahmets Gewalthandeln und den erfahrenen Verlusten innerhalb der Familie. »Es ist nicht« – wie dies Mechthild Bereswill (2003c: 134) in Bezug auf eines ihrer Interviews formuliert hat – »seine soziale Lage allein, die den Heranwachsenden auf ein Auslaufmodell von Männlichkeit und die Ressource Gewalt Bezug nehmen lässt« (vgl. Kap. 2.4.2). Im Falle Ahmets scheinen in diesem Zusammenhang vor allem die erfahrenen Verluste und vielleicht auch Gewalt innerhalb der Familie eine wichtige Rolle zu spielen.43 Möglicherweise hat er sich 43 Ein (sehr vager) Hinweis auf familiäre Gewalt findet sich lediglich in der Textstelle, in der Ahmet über seine Schwester spricht (vgl. 6.4.4 – Meine Schwester). Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass es im Zusammenhang mit seiner Familie für Ahmet auch noch andere problematische Themen gibt, über die er im Interview jedoch nicht spricht. 228

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

erst aufgrund dieser Erfahrungskonstellation einer Gruppe angeschlossen, die sich über Gewalthandeln definiert. Und möglicherweise positioniert er sich deshalb als erfolgreicher Schläger und Beschützer (Don Corleone). Es geht darum die Unsicherheit und Ambivalenz hinsichtlich des eigenen Lebensentwurfs als heranwachsender Mann mit wenig sozialen Chancen zu überdecken (vgl. hierzu ebenfalls Bereswill 2003c: 134).

6.4.6 Exfreundinnen und Interaktionen im Interview Neben dieser Positionierung als erfolgreicher Schläger und Beschützer scheinen Positionierungen als heterosexueller Mann im Interview mit Ahmet eine wichtige Rolle zu spielen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Jugendlichen, deren Interviews ich im Rahmen dieser Arbeit ausgewertet habe, spricht Ahmet ausführlich über seine ersten sexuellen Erfahrungen und darüber, dass er als Mann begehrt wird (vgl. auch 6.4.2 – Leute blamieren; 6.4.3 – Frau Bauer). So antwortet er beispielsweise auf die Frage nach der schönsten Situation in seinem Leben:44 »mein erstes Mal« (23/36). Gleichzeitig finden sich zahlreiche Stellen im Interview, in denen mich Ahmet – so wie auch in der zuvor analysierten Textstelle – in direkter Weise als Frau anspricht. Im Folgenden möchte ich diese Positionierungen als Mann genauer untersuchen und hierbei vor allem der Frage nachgehen, wann eine solche Position von Ahmet eingenommen, wie diese gefüllt wird und welche Funktion sie möglicherweise hat.

Ähnlichkeit mit Freundin I (6/07-6/15) Bereits relativ früh im Interview werde ich von Ahmet zum ersten Mal als Frau angesprochen: wissen Sie Sie sehen- (1) ich hab ne Freundin von mir Sie sehen dere voll=ähnlich /ja?/ Ihr Lachen und alles das ist /echt?/ total Hammer ((I. lächelt (1)) erst wie=ich hier reingekommen bin hab Sie angeguckt und=dann=hab=ich gedacht hä? ((I. lächelt (1)) (6/07-6/10)

Ahmet macht mich hier darauf aufmerksam, dass ich einer Freundin von ihm sehr ähnlich sehe. Bereits beim Hereinkommen sei ihm diese Ähnlichkeit aufgefallen. Hierdurch positioniert mich Ahmet als jemand, mit dem er befreundet sein könnte. Auf diese Weise wird von ihm das soziale Gefälle zwischen uns relativiert. Denn er scheint mich weniger in meiner Expertenrolle als Interviewerin wahrzunehmen, denn als potentielle Freundin (vgl. auch 6.4.5 – Mein Bruder II). Gleichzeitig positioniert er mich als Frau, was zu44 Diese Frage habe ich allen meinen Interviewpartner/-innen am Ende des Interviews gestellt; vgl. zum methodischen Vorgehen auch Kap. 3.2.2. 229

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

sätzlich dadurch verstärkt wird, dass er mich auf mein Äußeres und auf mein Lachen anspricht – beides Merkmale, die beim Flirten mit einer Frau wichtig sind. Sich selbst positioniert er hierdurch als Mann, und zwar als Mann, der das Recht hat, über mein Äußeres und mein Lachen zu sprechen. Auf diese Weise wird das asymmetrische Verhältnis zwischen uns nivelliert oder sogar umgekehrt: Denn bislang habe ich Ahmet zwar Fragen gestellt und er musste antworten, aber ich habe nicht über ihn gesprochen oder sein Verhalten in irgendeiner Form bewertet – zumindest nicht in sprachlicher Form. Ich reagiere auf diese Positionierung Seitens Ahmet interessiert (»ja?«, »echt?«) und animiere ihn dadurch zum Weitersprechen. Es folgt also keine Intervention meinerseits. Schließlich biete ich ihm eine mögliche Erklärung für diese Ähnlichkeit an: I: vielleicht entfernte Verwandte wer weiß? ((I. lächelt (1)) B: aber Hammer, ((I. lächelt kurz)) genau wie sie /ja?/ ((zustimmend:)) mm ((I. lächelt kurz)) die spricht genau wie Sie die lacht genau wie Sie ((I. lächelt kurz)) versteh=ich net (6/11-6/15)

Hierdurch mache ich deutlich, dass es für die Ähnlichkeit eine ganz einfache Erklärung geben kann, die durchaus im Rahmen des Möglichen liegt. Gleichzeitig bestätige ich Ahmets Fremdpositionierung bzw. verstärke diese noch. Denn ich mache mich nun zu einer Frau, die nicht nur einer Freundin Ahmets ähnlich sieht, sondern auch mit dieser Freundin verwandt sein könnte. Es kann dies als Versuch gelesen werden, das tatsächliche Gefälle, das allein schon durch die Interviewsituation entstanden ist (vgl. Kap. 3.2.3), im Dialog zu nivellieren und so Gleichrangigkeit herzustellen bzw. zu bestätigen. Möglicherweise wittere ich hier die Möglichkeit, das Vertrauensverhältnis weiter auszubauen: Denn wenn Ahmet mich als ähnlich wie seine Freundin wahrnimmt, bedeutet dies unter Umständen, dass er sich mir gegenüber in einer Weise öffnet, wie er das sonst vielleicht nicht tun würde. Um die Interaktion zwischen Ahmet und mir jedoch verstehen zu können, muss an dieser Stelle auch der weitere Kontext mit einbezogen werden. Denn Ahmet hat mir zuvor im Interview die Geschichte seiner Beschneidung erzählt, die den – seiner Meinung nach – ›wahren‹ Grund für sein eigenes Gewalthandeln beinhaltet (vgl. 6.4.4 – »...ich sag Ihnen jetzt mal was...«). Diesen ›wahren‹ Grund hat Ahmet jedoch nie den Richtern erzählt: ich hab das- ich mein ich hab das auch nie den Richtern gesagt dass seitdem-, seitdem so ist oder so (1) die würden dann auch denken ich bin so=n Psycho oder so ((I. schmunzelt kurz)) hab=ich denen nie gesagt ´und werd‹s denen auch nie sagen´ /m/ (5) ´ja´(6) ((Papierrascheln (1)) (6/03-6/07) 230

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Er begründet dies damit, dass diese ihn dann für einen »Psycho oder so« halten würden. Mir gegenüber riskiert er es jedoch, diese Geschichte zu erzählen und damit auch, von mir für einen »Psycho« gehalten zu werden. In diesem Zusammenhang rückt die darauf folgende Interaktion, in der Ahmet mich auf die Ähnlichkeit mit seiner Freundin hinweist, in ein anderes Licht. Denn scheinbar sucht er hier nach einer Erklärung dafür, warum er sich mir gegenüber in dieser Weise geöffnet hat. Und die einzige Erklärung, die ihm in diesem Zusammenhang plausibel erscheint, ist die, dass ich seiner Freundin ähnlich sehe. Dies wiederum sagt viel über Ahmets Verortung innerhalb bzw. gegenüber staatlichen Institutionen: Auf der einen Seite stehen die Richter/ -innen und womöglich auch die Sozialarbeiter/-innen und Bewährungshelfer/ -innen, auf der anderen Seite stehen er und seine Freunde und Freundinnen. Während des Interviews bin ich nun von der einen auf die andere Seite gerutscht. Insofern ist Ahmets Positionierung als Mann an dieser Stelle, die dadurch entsteht, dass er mich als Frau anspricht, weniger als ein Herstellen von Geschlechterhierarchie zu verstehen, als vielmehr als Wiederherstellen eines Systems sozialer Ordnung, durch das ich hindurchgerutscht bin. Und dies gelingt durch das Nivellieren bzw. Relativieren der sozialen Hierarchie.

Ähnlichkeit mit Freundin II (18/32-18/47) Dieser Verweis auf die Ähnlichkeit mit seiner Freundin wird von Ahmet erneut aktualisiert, als er mir das Video von der Auseinandersetzung mit der Polizei zeigt (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?). Womöglich hat er auch hier wieder mehr von sich preisgegeben als er eigentlich wollte.45 Ich frage Ahmet an dieser Stelle, was das für eine Situation war, die er mir auf dem Handy gezeigt hat. Er antwortet darauf nur sehr kurz und wechselt dann das Thema: B: ä:m das war (1) da hab=ich mich grad mit jemandem geschlagen /m/ (2) un=nd das ham=wir=dann=auch, so intregriert als wär=das nur Spaß gewesen /m/ also wir /m/ ham=dann gesagt das ist Spaß und so (2) I: m (1) na ja gut B: (4) ich könnt= mir glatt denken dass die Kati vor mir hockt nicht normal (1) I: was? noch mal (1) 45 Am Ende des Interviews kommt Ahmet jedenfalls zu dem Schluss, dass er mir so viel erzählt haben muss, weil ich seiner Freundin Kati ähnlich sehe: »ich glaub ich hab mich Ihnen nur so offenbart wegen einer Person=des wird die Kati sein=weil=sie der Kati so ähnlich seh’n /((I. lächelt))/ doch ehrlich das ist mein Ernst jetzt (1) ich weiß nicht (2) nur deswegen werd=ich=mich wahrscheinlich so- weil ich mich einfach bei Ihne so (1) wie soll ich sagen? wie bei=bei ihr gefühlt hab einfach ga:nz locker (1) wie als wär’n Sie: (1) die Kati /((I. lächelt))/ (1)« (30/44-30/49). 231

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

B: ich denk ich könnt glatt denken dass Sie wirklich die Freundin von mir sind, \((I. lacht:)) (1) Hammer ey (1)\ I: ((etwas lächelnd:)) nur n paar Jahre älter wahrscheinlich [...] B: na ja, paar Jahre \((I. lächelt:)) älter,\ aber trotzdem Hammer ey Sie sind genau wie die genau /ja?/ ja genau ((I. lächelt kurz)) ich versteh das nicht ((I. lächelt kurz)) (1) /na/ ((I. lächelt kurz)) Ihre Spitze- Ihre- Ihre Nase geht so=n bisschen ´spitzer als ihre´ /ja?/ die hat=da ´kleine süße´ ((kurzes gemeinsames Lächeln)) aber Hammer der Rest ist alles wie Sie also die macht auch=immer an den Haaren rum und so (1) also, ich weiß nicht (1) Hammer ey ((I. lächelt kurz)) also ich glaube wenn ich=euch hier nebeneinander stellen würde ich wüsst nicht mehr wer \((I. lächelt:)) wer ist (1)\ Sie lachen auch genau wie die doch ist wirklich so (1) die=ist- ist genau wie Sie genau wie Sie (18/32-18/47)

Von diesem Themenwechsel bin ich sichtlich überrascht. Doch ich lasse mich auf die Interaktion ein und nehme dadurch erneut Ahmets Fremdpositionierung als Frau und seiner Freundin ähnlich an. Ahmet geht nun noch einen Schritt weiter und beschreibt nicht nur mein Äußeres, sondern auch mein Verhalten als ähnlich wie das seiner Freundin Kati. Interessanterweise spielt er hierbei darauf an, dass ich wohl während des Interviews mit meinen Haaren gespielt habe, was in seinen Augen möglicherweise als typisch weibliches Verhalten gegenüber einem Mann, dem die Frau gefallen möchte, interpretiert werden kann. Doch so weit geht Ahmet dann doch nicht. Er lässt es bei dieser Anspielung und schafft es auch so, mich aus dem Konzept zu bringen. Denn im Anschluss an diese Interaktion, die noch einige Zeilen andauert, frage ich nicht erneut nach dem Video, sondern wechsle das Thema. Auch diese Interaktion lässt sich interpretieren als Wiederherstellung eines Systems sozialer Ordnung, das dadurch ins Wanken geraten ist, dass Ahmet mir das Video von der Auseinandersetzung mit der Polizei gezeigt hat. Vermutlich war das Video eigentlich dazu bestimmt, unter seinen Freunden mit dieser ›Aktion‹ anzugeben, und auf diese Weise Männlichkeit innerhalb der peergroup herzustellen (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?). Nun aber hat er mir das Video gezeigt, ich bin ihm also erneut von der Seite der Erwachsenen und derjenigen, die soziale Kontrolle ausüben, auf die Seite der Gleichaltrigen und Freunde bzw. Freundinnen gerutscht. Indem er mich als Frau und seiner Freundin ähnlich positioniert, stellt er diese Ordnung wieder her. Darüber hinaus schafft er es hierdurch, mich auf seine Seite zu ziehen. Denn ich nehme seine Fremdpositionierung zumindest insoweit an, als dass ich nicht weiter nachhake.

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»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

»Wissen Sie was ich bei Ihnen bewunder?« (8/05-8/18) Auch eine weitere Interaktion während des Interviews läuft nach diesem Muster ab. Allerdings spielt Ahmet hier nicht auf meine Ähnlichkeit mit seiner Freundin Kati, sondern auf mein Alter an. Auch hier schafft er es, auf diese Weise erneut das Thema zu wechseln. I:

(3) wenn du sagst dein Leben ging nicht so wie du das wolltest? (1) fällt dir da irgend ne Situation ein? B: (1) mein Leben-, mein Leben ging nicht so wie ich=s wollte wei:l, ich weiß nicht ich hätt mir mein Leben andersder vorgestellt (1) so von wegen Schule fertig und (1) dies jenes Ausbildung ja (1) ´und so´ (1) Family (1) (8/03-8/08)

Ich habe Ahmet an dieser Stelle nach einer Situation in seinem Leben gefragt, in der sein Leben nicht so ging wie er das wollte.46 Anstatt jedoch als Antwort auf diese Frage von einer bestimmten Situation zu sprechen, zählt Ahmet (noch einmal) die Gründe auf, warum seiner Meinung nach sein Leben nicht so ging wie er das wollte. Dabei nennt er lediglich Stichpunkte, mithilfe derer er beschreibt, wie er sich ein ›erfolgreiches‹ Leben vorgestellt hätte, vermeidet es jedoch in irgendeiner Weise konkreter zu werden: »Schule fertig [...] Ausbildung [...] Family«. Ahmet scheint sich hierbei an einem traditionellen Männlichkeitsbild zu orientieren: Nach dem Schulabschluss folgt die Ausbildung, nach abgeschlossener Ausbildung erfolgt die Familiengründung.47 Anschließend wiederholt Ahmet noch einmal die verschiedenen Felder, wobei er nun nicht beschreibt, wie es erfolgreich hätte laufen können, sondern was alles schief gelaufen ist: ja vieles davon ging halt schief Schule ging schief, Ausbildung ging schief, Hauptschulabschluss ging schief (2) Job geht immer noch schief /m/ (8/08-8/10)

Interessanterweise dehnt er hierbei das Feld Schule durch den nicht vorhandenen Hauptschulabschluss aus und das Feld Ausbildung durch den nicht vorhandenen Job. Das Feld Familie lässt er jedoch aus. Dies könnte damit zusammen hängen, dass das Thema (eigene) Familie(ngründung) gerade noch nicht ansteht, und es erst einmal darum geht, Arbeit zu finden. Möglicherweise vermeidet es Ahmet hier jedoch auch erneut, von den Problemen inner-

46 Diese Formulierung stammt aus Ahmets Haupterzählung (vgl. Kap. 6.3) und wird von mir an dieser Stelle im Nachfragteil noch einmal aufgegriffen. 47 Ähnliche Zukunftsvisionen finden sich auch in den Interviews mit Murat (Kap. 7.4.5) und Serdar (Kap. 8.4.5). Ich werde hierauf im Schlusskapitel noch ausführlicher eingehen (Kap. 9.2.3). 233

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

halb bzw. mit seiner Familie zu sprechen oder zumindest zu benennen, dass auch mit der Familie etwas »schief läuft«. Es folgt eine lange Pause, in der weder Ahmet noch ich etwas sagen. Schließlich ergreift Ahmet das Wort und stellt mir eine Frage: B: (10) wissen Sie was ich bei Ihnen bewunder? I: was denn? B: (1) ich find=s cool dass=ich endlich ne- (1) mit so:, ner jüngeren- also nicht so, älteren Frau=halt, irgendwie ´reden kann oder so also´ was heißt reden? (1) im Endeffekt so (1) keine=Ahnung so Themas oder so (ausgleichen) also ich hätt mir jetzt gedacht da kommt jetzt irgend so ne alte Eule rein oder so ((I. lächelt)) ((gemeinsames Lächeln (1)) ((I. lächelt noch kurz weiter)) (3) aber hatt=schon die Stimme oben-, ich war schon oben und=war schon wach und=so (1) ´und dann die Stimme gehört hab ich mir gedacht oh:´ (1) I: ((I. schmunzelt:)) okay ((gemeinsames Lächeln (1)) ((I. lächelt noch kurz weiter)) m (8/10-8/18)

Ahmet leitet die Interaktion mit einer (rhetorischen) Frage ein und kehrt dadurch die Beziehung zwischen mir als Interviewerin und ihm als Interviewten (erneut) um. Doch eigentlich ging es ihm gar nicht darum, mir eine Frage zu stellen, denn er möchte auf etwas Bestimmtes hinaus. Allerdings weiß er nicht so recht, wie er es formulieren soll, und dem entsprechend stockend bringt er sein Kompliment für mich hervor. Er findet es »cool«, dass er endlich mit einer jüngeren Frau reden kann. Was er hiermit meint, bleibt offen. Möglicherweise hatte Ahmet bislang im Gericht und/oder der Bewährungshilfe immer nur mit älteren Frauen zu tun und musste ihnen seine Geschichte erzählen. Auch hier werde ich von Ahmet erneut als Frau angesprochen. Und zwar nun nicht als eine, die seine Freundin sein könnte, die also in gewisser Weise auf gleicher Ebene mit ihm steht, sondern als eine, die von ihm klar dem System der Betreuung bzw. dem sozialpädagogischen Hilfesystem zugerechnet wird. Es scheint hier also nicht darum zu gehen, Differenzen in Bezug auf unsere jeweilige soziale Position zu nivellieren. Gleichzeitig versucht Ahmet auch nicht, sich als Mann mir überzuordnen, indem er mich auf eine Position als Frau verweist. Doch auch hier zieht mich Ahmet wieder auf seine Seite. Denn indem er betont, dass ich jünger bin (als erwartet), und indem er mich nicht den »alte[n] Eule[n]« zurechnet, gelingt es ihm erneut, von dem eigentlichen Thema, nämlich eine Situation zu beschreiben, in der sein Leben nicht so verlief, wie er das wollte, und möglicherweise auch vom Thema Familie abzulenken (vgl. Kap. 6.4.5). Ahmet scheint mich also immer dann im Interview als Frau anzusprechen, wenn es um Themen geht, die ihm bedrohlich werden können. Interaktiv wird 234

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

dann von ihm Männlichkeit produziert, indem er die Geschlechterdifferenz betont, gleichzeitig jedoch auf anderer Ebene Gleichheit herstellt. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine biographische Struktur, die nicht nur während des Interviews greift. Denn auch an anderen Stellen im Interview wurde deutlich, dass Ahmet in Konfliktsituationen sich offenbar auf eine Positionierung als Mann zurückzieht. Dies kann – wie im Interview an verschiedenen Stellen geschehen – durch eine adoleszente Überakzentuierung von Männlichkeit geschehen (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer), dies kann jedoch auch zur Anwendung von Gewalt führen. Gewalt wäre dem entsprechend bei Ahmet als letzte Ressource zu verstehen, und wird vor allen Dingen dann eingesetzt, wenn die eigene Männlichkeit akut bedroht oder verletzt wird. Diesen Thesen soll im Folgenden am Beispiel zweier Textstellen weiter nachgegangen werden. Bei beiden Textstellen beschreibt Ahmet einen Angriff auf seine Männlichkeit. Während er in der ersten Textstelle diesen jedoch durch seine Überlegenheit gegenüber Frauen abwehren kann, greift Ahmet in der zweiten Textstelle zu Gewalt.

Exfreundin(nen) I (6/30-6/52) Nachdem Ahmet zum ersten Mal im Interview Ähnlichkeit zwischen mir und seiner Freundin Kati festgestellt hat, bitte ich ihn mir mehr von dieser Freundin zu erzählen. Dabei wird deutlich, dass es sich bei der Freundin um eine Freundin von Ahmets Exfreundin handelt, mit der er jedoch ebenfalls ein (kurzes) Verhältnis hatte. Durch diesen Umstand rückt die vorangegangene Interaktion zwischen Ahmet und mir in ein neues Licht. Wenn Ahmet mit dieser Freundin ein (kurzes) Verhältnis hatte, bedeutet dies, dass ich jemandem ähnlich sehe, mit der er sexuellen Kontakt hatte. Auf diese Weise wird von Ahmet – sozusagen im Nachgang – doch noch ein asymmetrisches Verhältnis hergestellt bzw. zusätzlich verstärkt, denn implizit spricht er auch mich mit dieser Bemerkung als Frau an, mit der er – zumindest vom Aussehen her – ein Verhältnis haben könnte. Ich gehe hierauf jedoch nicht ein und frage Ahmet stattdessen nach seiner Exfreundin: I: erzähl mal noch n bisschen mehr von deiner, Exfreundin B: (1) von meiner Exfreundin? (1) o: hatt=ich genug, da hab ich (immer=noch) genug (1) Exfreundinnen hab=ich genug ´gehabt´ also ich=war auch damals so=n Typ so (1) ich weiß nicht wo=ich einfach nur so=n Spaß haben wollte ne? (1) und=dann bin ich von dem Mädchen, bin=ich zu dem einen Mädchen gegangen (1) auch n bisschen was gemacht dann, zu dem andern Mädchen ((I. schmunzelt kurz etwas)) und die dann wirklich so, Arm umgelegt und Schatz und dies und jenes, und=ich mir dachte=hä? ich hab jetzt keine Lust bitte lass mich doch

235

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

((Schmunzeln (1)) \((etwas lächelnd:)) und die=so Schatz mit dir ist irgendwas\ ´schon Wochen macht sie-´ schon seit Wochen kommst du \((lächelnd:)) und du sagt du hast keine Lust\ (1) (6/29-6/40)

Diese Gelegenheit wird von Ahmet nun genutzt, um sich als Mann bzw. ›Macho‹ zu positionieren. Ahmet präsentiert sich hier als jemand, der begehrt ist bei den Frauen (vgl. auch 6.4.2 – Leute blamieren; 6.4.3 – Frau Bauer). Er hat nicht nur eine Exfreundin, sondern gleich mehrere, und beschreibt sich als Typ, der »einfach nur so=n Spaß haben wollte«. Gleichzeitig prahlt er mit seinen sexuellen Erfahrungen: Seine Lust reicht gar nicht aus, um mit allen Mädchen ins Bett zu gehen. Auffallend ist hierbei jedoch, dass Ahmet über Sex zumindest direkt gar nicht spricht. Er inszeniert sich zwar als potenter Mann, bleibt jedoch – wenn es konkret wird – sehr vage. Dabei klingt die Formulierung »auch n bisschen was gemacht dann« eher nach einer ersten vorsichtigen, sexuellen Annäherung denn nach wildem Sex-Leben. Ahmet nutzt also die ihm von mir angebotene Bühne für eine Inszenierung adoleszenter Männlichkeit. Hierbei kann die Darstellung seines Interesses an Mädchen als Versuch verstanden werden, an anerkannter Männlichkeit zu partizipieren (vgl. Spindler 2007b: 127). Denn innerhalb des gesellschaftlich dominanten Diskurses der Heteronormativität verortet sich Ahmet als der Norm entsprechend und grenzt sich damit von untergeordneter Männlichkeit – im Sinne Connells – ab (vgl. Kap. 2.4.2 & Kap. 2.4.3). Doch die Geschichte geht noch weiter: und=jetzt hör mir mal zu, der Kracher ist ja, ich war mit vier Mädchen zusammen ((I. schmunzelt kurz)) Moment, es kommt noch viel besser (1) und alle vier Mädchen waren die besten Freundinnen, ((I. schmunzelt (1)) ((B. schmunzelt auch kurz)) o:h je (1) und=da hat die eine gemeint gehabt ö:: ich muss euch was gestehen und ich bin mit=m Ahmet zusammen und=so (1) und die andern gemeint=gehabt ((I. schmunzelt kurz)) was? willst=du mich verarschen? oder- es ging dann halt immer so weiter (1) und=irgenwann ham sie=s klug gemacht da ham=sie mich angerufen eine von denen macht=sie \((mit höherer Stimme)) Schatz kommst du gleich in=den Mac Donalds ich wart hier auf dich\ (1) ich=sage ja okay ich \((etwas lächelnd:)) komm\ geh hin lauf die Treppen hoch und da guck=ich so alle vier Freundinnen da und=ich so hey! ((Lachen (2)) der Oberkracher war dann ich hab dann allen vier Mädchen noch n Kuss gegeben ((B. lacht und I. stimmt ein (1)) (6/40-6/52)

Ahmet überschlägt sich förmlich beim Erzählen. Er kündigt die nun kommende Pointe zweimal an, wobei er mich an dieser Stelle sogar duzt, während er mich im sonstigen Nachfrageteil siezt (vgl. Kap. 6.3). Auf diese Weise macht mich Ahmet zu seiner Komplizin und Mitwisserin und stellt mich erneut auf die gleiche Ebene wie sich selbst. Denn obwohl ich eine Frau bin – und Ahmet mich auch zuvor als Frau angesprochen hat – geht er nun davon 236

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

aus, dass ich mich beim Zuhören nicht mit seinen Exfreundinnen solidarisieren, sondern auf seiner Seite sein werde, und die Geschichte – so wie er – für einen »Kracher« halten werde. Was nun folgt, kann wieder als adoleszente Überakzentuierung von Männlichkeit bzw. »übersteigerte Markierung männlicher Hegemonie« (Meuser/Scholz 2005: 220) gelesen werden (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer). Ahmet hatte – seiner Darstellung zufolge – zur gleichen Zeit ein Verhältnis mit vier Frauen, die darüber hinaus alle untereinander befreundet waren. Er präsentiert sich also wieder als potenter Mann, der bei den Frauen begehrt ist. Interessanterweise verzichtet er in der weiteren Darstellung jedoch darauf, seine logistische Kompetenz hervorzuheben, mit der er es geschafft hat, all diese (angeblichen) Beziehungen unter einen Hut zu bringen. Stattdessen beschreibt er die Frauen als »klug«. Sie stellen Ahmet eine Falle, in die er auch tatsächlich tappt und dadurch seiner Polygamie und Untreue überführt wird. Doch letztlich geht Ahmet – zumindest seiner Darstellung zufolge – als Gewinner hervor: Anstatt sich von seinen Freundinnen Vorhaltungen machen zu lassen, geht er auf sie zu und gibt jeder einen Kuss. Ahmet inszeniert hier also eine Geschichte, mit der er durch seine Überlegenheit gegenüber Frauen Männlichkeit herstellt. Diese wird dadurch verstärkt, dass die von ihm beschriebenen Mädchen nicht dumm sind, es jedoch nicht schaffen, Ahmet ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen. Hierdurch geht Ahmet als gestärkt in seiner (hyper-)maskulinen Identität aus der Geschichte hervor.

Exfreundin(nen) II (15/29-16/19) Doch nicht immer gelingt es Ahmet, auf solch harmlose Weise seine Männlichkeit wiederherzustellen. In der folgenden Textstelle geht es darum, dass seine Exfreundin mit ihm Schluss macht (vgl. Kap. 6.2). Der Vorfall ist erst wenige Tage her und dem entsprechend emotional erzählt Ahmet auch die Geschichte: vor zwei oder drei Tagen bin=ich einfach explodiert /m/ (1) und=da ist \((I. blättert)) das passiert dass meine Freundin (1)\ mir eiskalt ins Gesicht sagt ah ja ich will nicht mit dir zusammen sein (1) ´und=ich´ sage ja jetzt hör zu- jetzt hör mal zu ´wir sind schon seit mindestens vier Wochen zusammen und dann willst du- jetzt kommst du=mir und sagst du willst mit- du willst nicht mit mir zusammen sein, (macht=se) du warst am Anfang die die zu mir gekommen=ist und wollt mich kennen lernen und so ((I. lächelt kurz)) \((mit verstellter Stimme:)) a ja und=da hab=ich dich ja noch geliebt und so und keine Ahnung\ und=ich bin=eigentlich so ein- (1) Mensch, wie soll=ich sagen? (2) ich kann, einem Menschen nie so Sachen ins Gesicht sagen, so von wegen na ja, du bist schön oder du bist die Schönste auf der Welt oder keine Ahnung was noch, /m/ aber im Gegenteil kann=ich das alles 237

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

schreiben, /m/ und ich=hab für die hab=ich mich immer abends ans PC=gehockt und=hab immer vier Stunden lang ne Diskette geschrieben, ne Diskette vollgeschrieben /m/ also komplett vollgeschrieben /m/ da hat, gar nichts mehr drauf gepasst (1) ich hab meistens dann nur=noch sogar ne zweite Diskette anfangen müssen oder=so ((I. lächelt kurz)) (1) und=äm (1) ich glaub sie sind ((Poltern (1)) wenn=ich mich \((kramt in einer Kiste:)) nicht irre (2) hab=ich sogar noch viele hier (10) ´ja´ ja das ist Anfang ((I. lächelt kurz)) (4) ´das gehört nicht dazu´ (2) ´das müsste dann da weitergehen´ (1) in den vier Wochen hab=ich das alles hier geschrieben ((I. lächelt kurz)) und hab noch viele andere Disketten=gehabt die hat=sie dann alle behalten\ wei:l ä ich hab=dann=auch auf Disketten so Bilder drauf gemacht und so /m/ \((kramt in einer Kiste)) (2) ´ja´ hab ja=dann ((sehr lautes Geräusch)) hab ihr dann auch noch sauviel geschrieben und so (5) da hat=die gemeint=gehabt so (6)\ ((atmet hörbar ein und aus)) hat=die irgendwie so noch gemeint=gehabt von wegen (1) nimmt sie so eine Diskette von mir in die Hand (1) nimmt sie so bricht sie, schmeißt mir ins Gesicht und=sagt so mach=ich mit deinen Disketten /ffff-/ (1) ((atmet hörbar aus)) (15/29-16/04)

Ahmet präsentiert sich hier nun von einer ganz anderen Seite. Im Gegensatz zu der zuvor analysierten Textstelle scheint ihm der Verlust seiner Freundin, mit der er »schon seit mindestens vier Wochen zusammen« war, sehr nahe zu gehen. Er beschreibt seine verletzten Gefühle und auch sein Unverständnis gegenüber der Freundin. Denn schließlich war sie es, die am Anfang zu Ahmet gekommen ist und ihn kennen lernen wollte. Gleichzeitig präsentiert sich Ahmet als gefühlvoller und sensibler Mann. Er schafft es zwar nicht, seiner Freundin Komplimente direkt ins Gesicht zu sagen, aber schreibt ihr lange Briefe, die er auf Diskette abspeichert und ihr überreicht. Auf diese Weise öffnet sich Ahmet gegenüber seiner Freundin. Um so schmerzlicher scheint es für ihn zu sein, dass seine Freundin ihn nun genau an dieser Stelle angreift: Sie nimmt eine Diskette und zerbricht sie vor seinen Augen. Doch anstatt hierauf – wie in der vorherigen Textstelle – mit einem ›coolen‹ Spruch oder einer lässigen Geste zu antworten, reagiert Ahmet nun mit körperlicher Gewalt. Dies scheint für ihn die letzte Ressource zu sein, um seine Männlichkeit wiederherzustellen (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.2): und ich mir gedacht sag=mal Mädchen was bildest du dir eigentlich ein? /m/ hab=sie=dann so an den Armen genommen hab sie so hoch=gehoben aber ich hab=ne Wut gehabt /m/ (1) und die wiegt vielleicht sechzig siebzig Kilo oder=so hab=ich sie so genommen hab=ich sie so hochgedrückt und=hab=ich=gesagt ja Mädchen wer bist du eigentlich? /m/ und=da kam von ihrer Freundin- kommt- kam von der Seite nimmt mich hier so, zieht=sie mich zurück, macht sie ey du fässt die nicht an gä? (1) und ich dreh mich um wollt die eigentlich so mit der Hand wegschubsen (1) aber komm mit m Ellenbogen ihr ins Gesicht ((leises Schmunzeln)) /mm/ ich bin=ihr ins Gesicht dann so gekommen (1) und=dann dreh ich mich um 238

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

und guck zu ihr und die=ist dann nach hinten gefallen und n Freund von mir hat sie dann aufgefangen ne? /m/ die guckt mich dann nur noch so an und (1) macht sie so mit den Augen und=ich so oh je (1) ich so mm-, ich so ich wollt es=nicht ehrlich /ja/ ich wollt=s wirklich nicht /m/ ich wollt sie /m/ eigentlich nur so wegdrücken wollt sagen geh jetzt weg weisste? aber die ist dann in dem Moment voll in den \((klatscht mit der Hand:)) Ellenbogen\ reingerast /m m/, ((klatscht mit der Hand (1)) (16/04-16/19)

Ahmet präsentiert sich hierbei als jemand, der die Anwendung körperlicher Gewalt eigentlich nicht wollte (vgl. Kap. 6.3). Wie im Affekt scheint er seine Freundin hochzuheben und dabei – aus Versehen – die Freundin der Freundin, die zur Hilfe eilt, im Gesicht zu treffen. Insofern erinnert die Darstellung an die blutige Schlägerei (vgl. 6.4.3 – Don Corleone II), bei der auch eine Grenze überschritten wurde und Ahmet sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Seiner Darstellung zufolge trifft ihn jedoch – auch hier – eigentlich keine Schuld. Denn er wollte die Freundin lediglich »wegdrücken« bzw. ihr sogar nur sagen, dass sie weggehen soll. Und sie ist dann in seinen »Ellenbogen\ reingerast«.

6.5 Positionierungen Das Thema Männlichkeit nimmt im Interview mit Ahmet eine zentrale Rolle ein. Sowohl auf inhaltlicher als auch auf interaktiver Ebene bzw. mithilfe von Positionierungen als (potenter/auserwählter/gleichberechtigter) Mann oder auch als (erfolgreicher/gewalttätiger) Schläger wird von Ahmet im Interview Männlichkeit hergestellt. Dies mag mit seinem Alter zu tun haben. Denn so zentral ist das Thema Männlichkeit weder im Interview mit Murat (vgl. Kap. 7) noch im Interview mit Serdar (vgl. Kap. 8). Von Vera King (2002: 67) wird die Adoleszenz als »heiße Phase der Produktion der Geschlechtlichkeit« bezeichnet (vgl. auch Kap. 2.4.3); und genau dies scheint auch für Ahmet zuzutreffen. »Die Konstruktion von Männlichkeit folgt« – darauf haben u.a. Michael Meuser und Sylka Scholz (2005: 218) hingewiesen – »einer doppelten Distinktions- und Dominanzlogik«. Sie wird sowohl gegenüber Männern als auch gegenüber Frauen hergestellt (vgl. Kap. 2.4.2), wobei sich im Falle Ahmets ergänzen ließe, dass dies sowohl gegenüber gleichaltrigen als auch gegenüber älteren geschieht. Von Ahmet (und seinen Freunden) wird ein männlicher Habitus mithilfe von ›Streichen‹ oder ›Späßen‹ auf homosozialer Ebene hergestellt, wobei die Lehrer/-innen (und auch die Polizei) als Gegner fungieren (vgl. 6.4.2 – Lehrer ›drauf schicken‹ & Lehrern drohen). Auf gleiche Weise wird Männlichkeit auf heterosozialer Ebene geschaffen, wobei dies hier auf 239

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Kosten von Mitschülerinnen geschieht, die sich Ahmet und seinen Freunden widersetzen (vgl. 6.4.2 – Leute blamieren). Die Positionierungen, die in diesem Zusammenhang von Ahmet eingenommen werden, sind die eines Schülers, der für ›Spaß‹ in der Schule sorgt bzw. die eines gerechten Rächers. Eine weitere Möglichkeit Männlichkeit herzustellen besteht für Ahmet darin, sich als erfolgreich gegenüber Frauen zu präsentieren. Im Interview prahlt er hier sowohl mit seinen sexuellen Erfahrungen und seiner Überlegenheit gegenüber Gleichaltrigen (vgl. 6.4.6 – Exfreundin(nen) I) als auch damit, dass er von einer älteren Frau auserwählt und (angeblich) sexuell verführt wurde (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer). Die Positionierungen, die er in diesem Zusammenhang einnimmt, sind die eines potenten, hypermaskulinen bzw. gleichberechtigten Mannes. Die letzte und – in gewissen Zusammenhängen – auch dominierende Möglichkeit, Männlichkeit herzustellen, besteht für Ahmet schließlich in der Anwendung von Gewalt. Auf homosozialer Ebene scheint er es hierbei bereits zu einer gewissen Art von Erfolg gebracht zu haben. So wird Ahmet gerufen, wenn andere Probleme haben und er schreitet ein, wenn bei Schlägereien der Ehrenkodex missachtet wird (vgl. 6.4.3 – Don Corleone I & II). In diesem Zusammenhang positioniert sich Ahmet als gerechter Rächer und Beschützer. Er scheint Gewalt gezielt einzusetzen, um zu Anerkennung innerhalb der peergroup zu gelangen und seinen Ruf aufrechtzuerhalten (vgl. auch 6.4.3 – Gerechte Rächer?). Interessanterweise liegt eine solche Positionierung quer zur Differenzlinie ›normal‹ vs. abweichend, die von Ahmet vor allem in seiner Haupterzählung (re-)produziert wird (vgl. Kap. 6.3). Denn das Gewalthandeln eines gerechten Rächers lässt sich nicht mit der Unterscheidung ›normal‹ vs. abweichend fassen. Gewalt ist darüber hinaus für Ahmet eine Möglichkeit, Männlichkeit wiederherzustellen, wenn diese verletzt wurde. In diesem Zusammenhang lässt sich letztlich auch die Erzählung »...ich sag Ihnen jetzt mal was...« (6.4.4) interpretieren. Obwohl hier eine Positionierung als ›anderer‹ bzw. muslimischer Mann im Vordergrund steht, geht es doch eigentlich darum, die aktuell verletzte Männlichkeit wiederherzustellen und gewalttätig aufrechtzuerhalten. Gewalt ist offenbar für Ahmet eine der letzten Handlungsressourcen, wenn er sich anders nicht mehr zu verteidigen weiß. Interessanterweise positioniert er sich dann nicht mehr als gerechter Rächer – wobei sicherlich auch die in diesem Zusammenhang beschriebene Gewalt als Reaktion auf verletzte Männlichkeit interpretiert werden könnte (vgl. 6.4.2 – Leute blamieren; 6.4.3 – Don Corleone I & II), sondern als muslimischer Mann, der zum Opfer wurde und sich legitim wehrt bzw. als einer, der die Schlägerei, in die er hineingeraten ist, eigentlich gar nicht wollte (vgl. 6.4.6 – Exfreundin(nen) II; 6.4.3 – Don Corleone II; Kap. 6.3).

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»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

Der peergroup kommt bei all diesen Möglichkeiten der Darstellung und Aneignung von Männlichkeit eine wichtige Rolle zu. Sie dient – ganz wie von Bourdieu beschrieben – als Anerkennung verschaffendes Publikum (vgl. Kap. 2.4.2). Dieses Publikum muss nicht immer anwesend sein. Die Aufzeichnungen per Handykamera von Auseinandersetzungen mit der Polizei und gewalttätigen Übergriffen deuten darauf hin, dass auch durch das nachträgliche Zeigen (und Prahlen) mit diesen Geschichten, Männlichkeit hergestellt werden kann. Möglicherweise ist dies auch eine Erklärung dafür, warum Ahmet ein so geübter Erzähler ist, und im Interview teilweise eine Erzählung nach der anderen produziert. Denn es wäre durchaus vorstellbar, dass diese Geschichten auch innerhalb der peergroup ständig aufs Neue erzählt werden und auf diese Weise Männlichkeit immer wieder aktualisiert werden kann. In gleicher Weise wird das Interview von Ahmet als eine Art Bühne genutzt, um auf inhaltlicher und interaktiver Ebene Männlichkeit herzustellen. Als Interviewerin kommt mir in diesem Zusammenhang die Rolle des anerkennenden Publikums zu, die ich durch mein parasprachliches Phrasieren, aber auch durch Lachen und erstaunte Nachfragen (»echt?«) erfülle. Auch dies ist möglicherweise ein Grund, warum Ahmet hier ganze ›Erzählserien‹ produziert. Doch das Interview ist für Ahmet nicht nur eine Bühne, auf der er Männlichkeit herstellen kann, sondern auch ein Ort, an dem er Männlichkeit als Ressource nutzt bzw. nutzen muss. Dabei wird deutlich, dass Männlichkeit für Ahmet nicht nur eine Ressource der Selbstdarstellung, sondern auch eine Ressource der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung ist (vgl. hierzu auch Bereswill 2005; Bereswill 2003c). Indem er mich im Interview als Frau anspricht und auf diese Weise Geschlechterdifferenz herstellt, gelingt es ihm das soziale Gefälle zwischen mir als Forscherin und ihm als deviantes Forschungsobjekt zu relativieren, (s)ein System sozialer Ordnung wiederherzustellen und mich auf seine Seite zu ziehen (vgl. Kap. 6.4.6). Eine ähnliche Funktion haben auch seine Positionierungen als gleichberechtigter, auserwählter Mann (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer) sowie als erfolgreicher Schläger (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?; Kap. 6.4.5). Sie werden von ihm genutzt, um biographische Konflikte zu verdecken; sei es im Zusammenhang mit dem Thema Jugendarrest und einer damit verbundenen Fremdpositionierung meinerseits als kriminell, sei es im Zusammenhang mit dem Thema Familie, das für ihn eng mit Verlusten und Verletzung verknüpft scheint. Bei allen Positionierungen, die Ahmet während des Interviews oder auch innerhalb des Erzählten einnimmt, geht es also um das Thema Männlichkeit. Dabei erfolgt die Konstruktion von Männlichkeit in spezifischen sozialen Praxen (mithilfe von ›Streichen‹, der Darstellung des Interesses an bzw. Erfolges bei Frauen oder mithilfe von Gewalt) und wird beeinflusst durch das, was innerhalb von Ahmets Umfeld als ›männlich‹ gilt (vgl. Meuser/Scholz 241

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

2005: 213).48 Hegemoniale Männlichkeit spielt hierbei eine zentrale Rolle, was nicht implizieren soll, dass es nur eine hegemoniale Männlichkeit geben kann oder muss. Doch der Konstruktion von Männlichkeit liegt – darauf haben Meuser & Scholz (2005: 220) verwiesen – »hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip zugrunde«. Sie wird durch das Streben nach Dominanz gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern in einem hegemonialen Modus hergestellt. Das Ergebnis ist hierbei – auch darauf verweisen Meuser & Scholz (2005: 218) – nicht unbedingt die Konstitution hegemonialer Männlichkeit, doch auch die Herstellung untergeordneter Männlichkeiten erfolge nach dem gleichen generativen Prinzip (vgl. Kap. 2.4.2 & Kap. 9.2.3). Doch was bedeutet dies nun für die von Ahmet eingenommenen Subjektpositionierungen? Wetherell & Edley (1999) haben vorgeschlagen, hegemoniale Männlichkeit als eine Subjektposition im Diskurs zu verstehen, die strategisch eingenommen werden kann (vgl. Kap. 2.4.2). Folgt man dieser Überlegung, so ließen sich möglicherweise Ahmets Positionierungen auf einen Nenner bringen. Denn dann könnten all seine Positionierungen als Positionierungen innerhalb eines Männlichkeitsdiskurses gelesen werden, mit deren Hilfe Ahmet die Position hegemonialer Männlichkeit zu füllen versucht. Zumindest scheint es darum zu gehen, eine für sein Alter entsprechende Position hegemonialer Männlichkeit einzunehmen. Und dass ihm dies auch gelungen ist, davon scheint Ahmet überzeugt: Er ist ein Mann, der anerkannt ist innerhalb seiner peergroup und dem Stärkere (Lehrer/-innen & Polizisten) nichts anhaben können. Seine Macht beruht auf seinem Mut (gegenüber Stärkeren) sowie auf seiner körperlichen Stärke (»wenn=ich [...] zuschlag dann richtig heftig«) bzw. darauf, schneller zu sein als die anderen (»dass=ich einfach zuschlag bevor ich [...] geschlagen werde«). Darüber hinaus hat er Erfolg bei (gleichaltrigen) Frauen und wird von älteren Frauen als gleichberechtigt wahrgenommen. »Ich hab meine Jugend ordentlich gelebt«, lautet eine zentrale Aussage Ahmets, die sich in diesem Zusammenhang auch umdeuten ließe: Ich habe die Position hegemonialer Männlichkeit meinem Alter entsprechend so gut es ging ausgefüllt. Dass diese Versuche, die Position hegemonialer (adoleszenter) Männlichkeit zu füllen, gesellschaftlich nicht anerkannt sind, scheint Ahmet hierbei zu ignorieren. Vielleicht ist dies auch ein möglicher Grund dafür, dass er das, was er getan hat, in keinerlei Zusammenhang mit den Anzeigen bzw. Tatbeständen wegen der er verurteilt wurde, bringt. Die Position hegemonialer Männlichkeit ist für Ahmet sowohl Selbstverständnis als auch Ressource. Daher investiert er in diese Position und versucht sie zu füllen; auch wenn er merkt, dass ihm zentrale Komponenten (Haupt48 Sabine Hark (1999: 70) spricht in diesem Zusammenhang von einem »regulatorische[n] Ideal«, das innerhalb der jeweiligen sozialen Praxen von den männlichen Akteuren entworfen und von weiblichen Akteuren meist getragen und mitkonstruiert wird (vgl. Meuser/Scholz 2005: 213). 242

»ICH HAB MEINE JUGEND ORDENTLICH GELEBT« – AHMET

schulabschluss, Ausbildung und Job) hierbei fehlen. Andere Positionierungen werden hingegen von Ahmet nur strategisch angenommen. So investiert er in die Position des Anderen, um sein Gewalthandeln zu erklären (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?, 6.4.4 »...ich sag Ihnen jetzt mal was...«). Wenn es jedoch um die Beschreibung seiner peergroup geht, verweigert Ahmet eine Positionierung innerhalb dieses dominanten Diskurses bzw. kämpft gegen die – auch von mir als Interviewerin – machtvoll an ihn herangetragene Position an. Das gleiche gilt für eine Positionierung als kriminell. Auch sie wird von Ahmet – obwohl von mir an ihn herangetragen – im Interview verweigert (vgl. 6.4.3 – Frau Bauer). Er nimmt sie jedoch strategisch ein, um von anderen Themen abzulenken (vgl. 6.4.3 – Gerechte Rächer?, 6.4.5) oder mir seine Macht (und die seiner Freunde) zu demonstrieren, was dann jedoch auch wieder als Investition in eine Position hegemonialer Männlichkeit gelesen werden kann.

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7. »Du bist doch n Türk« – M U R A T

7.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation Das Interview mit Murat findet – ebenso wie das mit Ahmet – im Mai 2006 statt. Von einem Bewährungshelfer habe ich Murats Kontaktdaten (Adresse, Alter und Handynummer) erhalten, die dieser wiederum von einer Kollegin bekommen hat. Daraufhin melde ich mich bei Murat mit meinem Namen und erkläre ihm, woher ich seine Nummer habe. Murat weiß sofort, um was es geht (»Ach so, du bist die Studentin.«) und ist bereit, sich von mir interviewen zu lassen (»Klar, wenn ich damit helfen kann.«). Ich frage ihn, wann es ihm zeitlich passen würde, woraufhin er vorschlägt, dass wir uns am nächsten Tag treffen könnten – egal zu welcher Uhrzeit. Wir verabreden uns für 14 Uhr und ich frage Murat, ob ich zu ihm nach Hause kommen könne. Murat erwidert daraufhin, dass wir uns auch einfach in einem Café treffen könnten. Da ich jedoch Bedenken habe, mit dem Aufnahmegerät im Café zu sehr aufzufallen (vgl. Kap. 5.2.2), einigen wir uns darauf, uns in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe zu treffen. Am nächsten Tag wartet Murat schon vor der Zeit im Wartezimmer auf mich. Wir gehen in das Büro seiner Bewährungshelferin, da diese im Urlaub ist. Das Büro ist recht klein und stickig. Während des Interviews öffne ich hin und wieder das Fenster, schließe es aber schnell wieder, da der Verkehrslärm von draußen sehr laut ist und die Aufnahme zu übertönen droht. Das Interview wird einmal kurz unterbrochen, da ein Bewährungshelfer anklopft, um mir einen weiteren Interviewpartner zu vermitteln. Außerdem klingelt während des Interviews mehrmals das Telefon der Bewährungshelferin, in deren Büro wir sitzen, und da der Anrufbeantworter auf laut geschaltet ist, können bzw. müssen Murat und ich die Nachrichten der verschiedenen Anrufer mithören. Trotz dieser Störungen bzw. Unannehmlichkeiten ist Murat mir gegen-

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

über sehr offen und nutzt keine dieser Gelegenheiten das Gespräch frühzeitig zu beenden, so dass das Interview am Ende zweieinhalb Stunden dauert.1 Murat ist ungefähr 1,70 m groß, hat eine drahtige, muskulöse Statur und lange schwarze Locken, die er zurück gegelt und mit einem breiten Haarband locker zusammengefasst hat. Er trägt eine enge Jeans und ein enges Shirt, darüber ein offenes schwarzes Hemd und eine lange, dicke Silberkette. Er gestikuliert viel beim Sprechen und zum Teil ersetzen Gesten auch einzelne Worte. Zu Beginn des Interviews äußert Murat, wie stolz er darauf sei, dass seine Bewährungshelferin gerade ihn für ein Gespräch empfohlen habe. Das sei eine Ehre für ihn. Obwohl mich Murat bei unserem ersten Telefongespräch bereits geduzt hat und ich ihn darüber hinaus vor Beginn der Aufnahme gefragt habe, ob es okay sei, wenn wir uns duzen, beginnt Murat – nachdem ich ihm die Eingangsfrage gestellt habe und das Aufnahmegerät eingeschaltet ist – mich zu siezen. Hierdurch erhält die Beziehung zwischen uns eine zusätzliche Dimension der Asymmetrie (vgl. Kap. 5.2.3). Denn ich duze Murat weiterhin, während er – zumindest anfänglich – beim ›Sie‹ bleibt. Im weiteren Verlauf des Interviews vermeidet er es zunächst, mich direkt anzusprechen, bis er es schließlich schafft, vom ›Sie‹ zum ›Du‹ zu wechseln: Sie wissen ja-, ´m´ du weißt ja ((kurzes Lachen)) ja ((I. lächelt, B. stimmt ein)) (4/42-4/43)

Doch obwohl meine Reaktion hierauf positiv ist, siezt mich Murat in der Folge wieder bzw. vermeidet es meist, mich direkt anzusprechen. Erst viel später gelingt es ihm wieder, mich zu duzen, wobei jedem ›Du‹ ein ›Sie‹ vorgelagert ist und von einem gemeinsamen ›Schmunzeln‹2 begleitet wird: ham=Sie schon mal davon=gehört? /m/ hast du schon mal davon gehört? ((beginnt zu schmunzeln, I. stimmt ein (1)) (12/34-12/35)

Doch auch hier werden Phasen der ›Sie-Du-Kombination‹ wieder von Phasen abgelöst, in denen Murat mich ausschließlich siezt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn er über seine Zeit im Gefängnis spricht (»das kann=ich Ihnen auch erzählen wo=ich in den Knast gekommen bin« (18/42-18/43)), lässt sich jedoch thematisch nicht hierauf beschränken. Es zeigt sich sehr deutlich, 1

2

Zu Beginn des Interviews klingelt einmal auch Murats Handy und er verabredet sich für den Abend zum Training. Als das Handy später ein zweites Mal klingelt, nimmt er nicht mehr ab. Bei der Transkription wurde zwischen Lachen, Schmunzeln und Lächeln unterschieden. ›Schmunzeln‹ stellt dabei eine Zwischenform dar zwischen einem lauten ›Lachen‹ und einem leisen bzw. nur angedeuteten, kaum hörbaren ›Lächeln‹; vgl. auch Kap. 8, Fn 1.

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»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

dass es Murat schwer fällt, mich zu duzen. Er nimmt mich in meiner Rolle als Interviewerin wahr und ordnet mich wahrscheinlich dem System der Betreuung und sozialpädagogischen Disziplinierung zu (vgl. Kap. 3.2.3). Möglicherweise spielt auch das Alter hier eine Rolle (vgl. auch Kap. 6.3). Nur an einer Stelle schafft es Murat, mich zu duzen, ohne ein ›Sie‹ vorwegzuschicken. Er lädt mich hier zu einem Barbecue ein, das er veranstalten möchte, wenn seine Eltern im Sommer in der Türkei sind. Dabei positioniert er sich als (männlichen) Gastgeber und mich nicht als Interviewerin, sondern als potentiellen (weiblichen) Gast: aber bin, dafür sechs Wochen alleine daheim, kannst ruhig kommen ich mach n Barbecue ist jeder eingeladen ((I. beginnt zu schmunzeln B. stimmt ein (1)) /danke danke/ ((B. schmunzelt kurz)) ((I. schmunzelt kurz)) da ham=wir n eigenes Haus und wenn=meine Eltern weg sind- /m/ ich mein ich hab meinen eigenen Stock mein Bruder=ist, dritten Stock meine Eltern mittleren /ah ja/ ´ich=hab´ Bad Telefon alles ich will nichts- lasst mich alleine \((schmunzelnd:)) hier\ ((I. schmunzelt kurz)) (23/07-23/14)

Am Ende des Interviews möchte Murat von mir wissen, ob er mir weiterhelfen konnte und ob ich die Schule jetzt gut abschließen könne. Wenn er selbst schon seinen Abschluss nicht geschafft habe, wolle er wenigstens anderen helfen. Ich erwidere, dass ich mit der Schule schon fertig sei, woraufhin Murat einfällt, dass ich ja Studentin bin. Ich erkläre ihm, dass auch dies nicht ganz zutreffe, da ich mit dem Studium ebenfalls bereits fertig sei, gehe jedoch nicht weiter auf das Thema ein. Ich habe das Gefühl, dass es für Murat wichtig war, mir bei einem Bildungsabschluss zu helfen; welcher dies nun ist, ist dabei wahrscheinlich eher nebensächlich.

7.2 Biographische Datenanalyse 7.2.1 Familiengeschichte Murats Familie kommt aus (der Nähe von) Yozgat, einer Provinzhauptstadt in Mittelanatolien. Die Familie von Murats Mutter lebt auf dem Land und betreibt dort Landwirtschaft, die Familie von Murats Vater lebt in der Stadt selbst. Murats Mutter wurde 1963 geboren. Sie hat eine ältere Schwester und zwei jüngere Geschwister. Murats Vater wurde 1959 geboren. Er stammt aus zweiter Ehe und hat neben vier Geschwistern auch noch fünf ältere Halbgeschwister. Murats Eltern heiraten 1980, nachdem der Vater traditionell um die Hand seiner zukünftigen Frau angehalten hat. Murats Vater ist zu diesem Zeitpunkt 247

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21 Jahre alt, seine Mutter ist 17. Noch im gleichen Jahr gehen die Eltern nach Oldenburg, wo Murats Vater in einer Metallfirma zu arbeiten beginnt. Murats Familie kommt also erst nach dem offiziellen Anwerbestopp von 1973 nach Deutschland (vgl. z.B. Terkessidis 2000: 25 f.). Zu einer Zeit, in der schon viele ›Gastarbeiter‹ über eine Rückkehr nachdachten bzw. (ab 1983) eine Rückkehr (mit dem Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern) gezielt von der Bundesregierung gefördert wurde (vgl. z.B. Flam 2007), entscheiden sich Murats Eltern nach Deutschland zu gehen. Möglicherweise leben bereits Ahmets Großvater väterlicherseits und ein Bruder des Vaters sowie unter Umständen auch dessen Familie in Deutschland, so dass Murats Eltern lediglich nachgekommen sind bzw. nachkommen konnten. Genaue Aussagen, wann wer nach Deutschland gekommen ist, gibt es im Interview nicht.3 Klar scheint zumindest zu sein, dass Murats Eltern gemeinsam nach Deutschland gekommen sind, und dass auch Murats Onkel und Großvater in der Metallfirma in Oldenburg gearbeitet haben. Schon kurze Zeit nach der Migration bekommen Murats Eltern ihr erstes Kind: Fatih wird im Juli 1981 in Oldenburg geboren.

7.2.2 Lebensgeschichte Drei Jahre später, im September 1984, kommt Murat in Oldenburg zur Welt. Sein Vater arbeitet noch immer in der Metallfirma, seine Mutter ist zu Hause bei den beiden Kindern. Als Murat drei Jahre alt ist (1988), schließt die Metallfirma in Oldenburg, bei der Murats Vater, Onkel und Großvater gearbeitet haben. Murats Eltern ziehen mit ihren Kindern nach Mannheim, da der Vater hier Arbeit bei einem Kunststoffwerk findet. Der Bruder des Vaters bleibt mit seiner Familie in Oldenburg, der Großvater kehrt zu dieser Zeit vermutlich zurück in die Türkei. Die (›Groß-‹)Familie trennt sich also. 1990 bekommen Murats Eltern einen weiteren Sohn. Murat geht inzwischen seit zwei Jahren in Mannheim in den Kindergarten, Fatih zur Schule. 1991 kommt auch Murat zur Schule. Er besucht eine Grundschule, in der auch Türkisch unterrichtet wird. Etwa zur gleichen Zeit beginnt er zusammen mit seinem Freund Mustafa, den er aus der Grundschule kennt, in die Moschee zu gehen. Seine Eltern scheinen Wert darauf zu legen, dass Murat ihre Sprache und den muslimischen Glauben (besser) kennen lernt. Vielleicht spielen hier auch Rückkehrgedanken eine Rolle. Murat soll so erzogen werden, 3

Murat ist sich im Interview bezüglich seiner Familiengeschichte sehr unsicher: »#irgendwie- mein Opa-# mein Opa hat mein, Vater und meine Mutter, irgendich weiß wirklich nicht wie /ja/ aber die sind mit=m Auto haben- sind sie hier her gefahren und, mit m Bus oder wie auch=immer halt und, hätten sie Visum gekriegt, ´pf´ (1) ehrlich gesagt, alles was=ich sag ist vielleicht gelogen« (39/2039/23).

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dass er auch in der Türkei zurecht kommen würde. Möglicherweise schicken Murats Eltern ihren Sohn aber auch nur auf diese Schule und in die Moschee, weil dort eben alle anderen Kinder ihres Umfeldes hingehen. 1995 wechselt Murat von der Grundschule auf die Hauptschule. Dass er den Sprung auf eine höhere Schule nicht schafft, scheint – zumindest statistisch gesehen (vgl. Kap. 2.3.2) – nicht weiter verwunderlich. Bemerkenswert ist jedoch, dass er nicht wie sein Freund Mustafa und seine anderen Freunde auf die näher am Wohnort gelegene Hauptschule wechselt, sondern stattdessen eine andere – etwas weiter entfernte – Hauptschule besucht, die keinen Türkischunterricht anbietet. Murats Eltern scheinen sich mit der Entscheidung für diese Schule von der restlichen (türkischen) Community abzusetzen. Vielleicht geht bereits Murats älterer Bruder auf diese Schule und hat dort gute Erfahrungen gemacht. Möglicherweise besucht jedoch Fatih auch die näher gelegene Schule und Murats Eltern möchten daher nicht, dass Murat ebenfalls dort hingeht. Die Entscheidung scheint sich jedenfalls positiv auf Murats weitere Entwicklung auszuwirken bzw. diese zumindest nicht zu beeinträchtigen. Er besucht in Englisch und Mathe den A-Kurs, der auf einen Wechsel zur Realschule vorbereitet, und verbringt seine Freizeit vor allem mit Fußballspielen. Dennoch schafft Murat den Sprung auf die Realschule nicht. Ab der siebten Klasse beginnt stattdessen eine Entwicklung in Murats Lebensgeschichte, die als kontinuierliche Abwärtsspirale bezeichnet werden kann (vgl. Feinanalysen, Kap. 7.4.2): Murat fängt an, regelmäßig die Schule zu schwänzen und geht nur noch selten in die Moschee. Er ist in Schlägereien verwickelt und ›rippt‹ regelmäßig andere Jugendliche ›ab‹. Zunächst fordert er hierbei fünf bis zehn Mark, später bis zu 100 Mark. Schon bald folgt eine erste Anzeige wegen einer Schlägerei auf dem Schulhof, die letztlich jedoch fallen gelassen wird, da Murat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Am Ende des Schuljahres muss Murat die siebte Klasse wiederholen. Im Juli 1999 – also nachdem Murat zum zweiten Mal die siebte Klasse durchlaufen hat – kommt es zu einer ersten Gerichtsverhandlung gegen Murat. Zusammen mit einem Freund wurde er erwischt, als sie auf Mülltonnen eingetreten haben. Sein Klassenlehrer sagt gegen ihn aus und Murat wird infolge dessen wegen Sachbeschädigung angeklagt. Von Strafverfolgung wird zwar abgesehen (§ 45 II JGG), doch die beiden Jugendlichen müssen zwei Sozialstunden ableisten und dabei Mülltonnen reinigen. Murat lebt seine Aggressivität offenbar wahllos aus und ordnet sich mithilfe der Schlägereien und des ›Abrippens‹ andere Schüler unter. Konsequenzen scheinen ihm egal zu sein. Dementsprechend hilflos reagieren auch die Lehrer/-innen: Ihre letzte Hoffnung – darauf deuten zumindest die Aussage des Klassenlehrers gegen Murat und auch die vorhergehende Anzeige wegen der Schlägerei hin – scheint in den Institutionen der Strafverfolgung zu liegen. 249

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Doch diese haben auf Murat offensichtlich nicht die erwünschte abschreckende Wirkung. Obwohl er nach den Sommerferien in die achte Klasse versetzt wird, was durchaus als Chance interpretiert werden kann, schwänzt Murat auch weiterhin die Schule und setzt seinen Hauptschulabschluss leichtfertig aufs Spiel. An seinem Verhalten scheint sich nichts geändert zu haben. Im Mai 2000 kommt es dann zu einer erneuten Gerichtsverhandlung. Murat wird wegen Diebstahls angeklagt und nun auch zum ersten Mal verurteilt: Er bekommt ein Wochenende Freizeitarrest und muss erneut gemeinnützige Arbeit verrichten. Im folgenden Sommer verlässt Murat die Hauptschule ohne Abschluss und beginnt ein Berufsvorbereitungsjahr. Doch auch hier erscheint er nur unregelmäßig zum Unterricht und im Dezember 2000 muss er sich erneut vor Gericht verantworten. Dabei geht es nun nicht mehr nur um Diebstahl oder Sachbeschädigung, sondern um räuberische Erpressung und Körperverletzung. Dementsprechend härter fällt jetzt auch das Urteil aus: Murat wird zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt. Noch bevor er diese antreten kann, kommt es im Januar 2001 zu einer erneuten Verhandlung, bei der Murat wegen gemeinschaftlichen Raubes angeklagt wird. Die Strafe vom Dezember wird in das Urteil einbezogen und Murat wird letztlich zu eineinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Mit diesem Urteil wird Murat zunächst einmal ›aus dem Verkehr gezogen‹. Im Februar 2001, also mit 16 Jahren, kommt er in die Jugendstrafanstalt. Er muss also seine gewohnte Umgebung verlassen und sich nun in neuen Strukturen anpassen. Dies scheint sich für Murat zunächst einmal positiv auszuwirken. Er beginnt seinen Hauptschulabschluss nachzuholen, besucht die Volleyball-AG, die Fußball-AG und die Theater-AG der Strafanstalt und macht einen Metalllehrgang – wählt also einen Berufszweig, in dem bereits sein Großvater, sein Onkel und sein Vater gearbeitet haben. Murat scheint nahtlos an seine Stärken und Interessen anknüpfen zu können, die er vor der Pubertät hatte. Nach 17 Monaten hat er seinen Hauptschulabschluss mit einem Durchschnitt von 2,0 nachgeholt und es wird ihm angeboten, die Haftanstalt früher zu verlassen und seine Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt zu bekommen. Dies wird von Murat jedoch abgelehnt. Möglicherweise möchte er die Strafe komplett ›absitzen‹, um danach ein neues Leben ohne Bewährungsauflagen beginnen zu können. Murats Bruder Fatih, der ebenfalls die Schule ohne Abschluss verlassen hat, arbeitet inzwischen bei dem Kunststoffwerk, bei dem auch sein Vater arbeitet, und unter Umständen hofft Murat nach dem Gefängnisaufenthalt dort ebenfalls als ungelernter Arbeiter unterkommen zu können. Schließlich kommt Murat am 8. August 2002 aus dem Gefängnis frei. Dabei stellt sich heraus, dass er seit zwei Jahren illegal in Deutschland gelebt hat, da seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wurde. Dies wird zwar nun 250

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nachgeholt (vgl. § 21 AuslG), aber er bekommt keine (dauerhafte) Aufenthaltsberechtigung mehr (vgl. § 27 AuslG). Obwohl Murat in Deutschland geboren wurde, wird er in Zukunft seine Aufenthaltserlaubnis immer wieder in regelmäßigen Abständen verlängern müssen, was letztlich – vor allen Dingen nach seiner Haftstrafe – auch bedeutet, dass die Möglichkeit, eventuell aus Deutschland abgeschoben zu werden, vermutlich ständig für ihn präsent ist. Vermittelt von einer Sozialarbeiterin der Jugendstrafanstalt, beginnt Murat nach seinem Gefängnisaufenthalt eine überbetriebliche Ausbildung des Arbeitsamtes zum Teilezurichter. Murat scheint also das, was er im Gefängnis erlernt und erworben hat, auch weiterhin für sich nutzen zu können. Doch im Februar 2003 bricht er die Ausbildung ab, obwohl er die Zwischenprüfung bereits bestanden hat. Im Interview verweist er zur Begründung für diese Entscheidung darauf, dass die Arbeit schlecht bezahlt gewesen sei und es ihm nicht gefallen habe, immer nur Werkstücke herzustellen und diese dann wegzuwerfen.4 In der Akte der Bewährungshilfe hingegen steht, dass Murat die Ausbildung wegen eines Streits mit seinem Vorgesetzten abgebrochen habe. Unabhängig davon, was letztlich zum Abbruch der Ausbildung geführt hat, wobei die eine Erklärung die andere ja auch nicht ausschließt, ist Murat in der Folge arbeitslos. Das was Murat durch seinen Gefängnisaufenthalt mit auf den Weg bekommen hat, ist also innerhalb kürzester Zeit verwirkt. Murat hat zwar nun einen Hauptschulabschluss, doch in Bezug auf mögliche Zukunftsperspektiven und wahrscheinlich auch in Bezug auf sein soziales Umfeld hat sich wenig verändert. Bereits im August 2003 – also ein Jahr nach seiner Haftentlassung – kommt es zu einer erneuten Gerichtsverhandlung, bei der Murat wegen Diebstahls angeklagt wird. Zusammen mit zwei anderen Jugendlichen5 ist Murat in ein Autohaus eingebrochen, wobei ein Schaden von 800 Euro entstanden ist. Murat wird erneut zu sechs Monaten Jugendstrafe sowie 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Die Strafe wird jedoch zur Bewährung ausgesetzt, so dass Murat nicht erneut in Haft muss. 4

5

Die Ausrichtung männlicher Identifikation an Arbeit entspricht zumindest (immer noch) gesellschaftlichen Vorgaben, auch wenn das »Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters« (Bereswill 2007b: 93) im Widerspruch zu beständig steigenden Arbeitslosenzahlen und Lehrstellenmangel steht (vgl. auch 7.4.5 – Zukunftsvisionen). Doch die überbetriebliche Ausbildung des Arbeitsamtes bietet nur scheinbar einen Weg der Integration in Arbeit, denn häufig münden solche Maßnahmen letztlich doch auch wieder in Arbeitslosigkeit, da es keine Betriebe gibt, die diese Jugendlichen übernehmen würden. – Das Problem wird daher nur nach hinten verschoben, aber nicht gelöst. So bemerkt bspw. auch Susanne Spindler (2007a: 296), dass Jugendliche in solchen Maßnahmen oft keinen Sinn für ihre eigene Zukunft sehen und mit den häufig dort herrschenden Disziplinierungen nicht klarkommen. Vermutlich ist auch Mustafa an diesem Einbruch beteiligt; zumindest wird er zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls von Murats Bewährungshelferin betreut. 251

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Murat wird nun für drei Jahre einer Bewährungshelferin unterstellt. Mit ihrer Hilfe versucht Murat erneut einen Weg zur Integration in Arbeit anzutreten. Er beginnt zwar keine neue Ausbildung, arbeitet jedoch ab Ende 2003 bei einer Leihfirma, bei der er mit dem Verpacken von Monitoren 1.200 Euro im Monat verdient. Anfang 2004 wird er sogar gefragt, ob er sich bei dieser Firma direkt bewerben möchte, was jedoch daran scheitert, dass Murat ein Führungszeugnis vorlegen muss. Ihm wird gekündigt, und in der Folge ist Murat wieder arbeitslos. Dieses Mal bleibt es jedoch – vielleicht auch durch Unterstützung seiner Bewährungshelferin – nicht lange dabei. Zwei Monate später kommt Murat bei einer Leihfirma unter, die ihn an verschiedene Firmen vermittelt, bei denen er dann jeweils Akkordarbeit leistet. Auch zwei Jahre später – zum Zeitpunkt des Interviews im Mai 2006 – hat sich hieran nichts geändert. Murat arbeitet weiterhin über die Leihfirma vermittelt, hat aber gerade einen Jahresvertrag bei dem Kunststoffwerk bekommen, bei dem auch sein Vater arbeitet und wo sein Bruder inzwischen einen Festvertrag als Staplerfahrer hat. Seine Freizeit verbringt Murat vor allem im Fitnessstudio. Freitags geht er wieder regelmäßig zur Moschee.

7.3 Text- und thematische Feldanalyse Auf meine Eingangsfrage reagiert Murat sehr verunsichert. Er fragt mehrmals nach, um herauszufinden, ob er mich auch tatsächlich richtig verstanden hat:6 I: also ich hätte gern dass du mir deine Familien und Lebensgeschichte erzählst B: meine Lebensgeschichte I: ja deine Familien und Lebensgeschichte und ich hör einfach erst mal nur zu stell auch gar keine Fragen mach mir n paar Notizen undB: von Grundschule auf an bisI: fang einfach an wo immer du auch möchtest und, erzähl so lange wie du willst ich- also #keine Zeit- kein gar nichts((Lächeln (1))# B: #also ich komm nicht=so ins Gespräch# wenn Sie mich fragen dann komm=ich ins Gespräch (1/1-1/8)

Auf diese Weise versucht Murat meine weiten Vorgaben einzugrenzen und präsentiert sich hierdurch als jemand, der klare Vorgaben präferiert. Ich soll ihn fragen und er antwortet. Wahrscheinlich hat sich Murat genau dies unter

6

Auch hier steht wieder I für Interviewerin und B für Biograph (vgl. Kap. 6).

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einem Interview vorgestellt und meine offene Fragestellung verunsichert ihn. Möglicherweise ist er es auch nicht gewohnt, über sich selbst zu sprechen. Interessant ist, dass Murat mich hier siezt, obwohl er mich während des Telefongespräches am Tag zuvor bereits geduzt hatte (vgl. Kap. 7.1) und ich ihn in meiner Frage mit ›du‹ angesprochen habe. Auch dies könnte ein Hinweis darauf sein, wie sehr ihn die Situation verunsichert bzw. wie stark er die asymmetrische Beziehung bzw. Hierarchie zwischen ihm und mir hier wahrnimmt. In der folgenden Sequenz versucht Murat sein Bedürfnis nach klaren Fragen zu erklären bzw. er entschuldigt sein Anliegen: I: ja okay dass mal allesB: ist was Neues wieder jetzt für mich ne? undI: fang-, fang einfach mal an wie du /ja/ denkst (1/09-1/12)

Murat präsentiert sich als jemand, der Unsicherheit nicht verbergen muss. Er kann Schwäche zulassen und einen Schutzraum herstellen, indem er um Geduld bzw. Rücksichtnahme bittet. Gleichzeitig präsentiert er sich als jemand, der schon häufiger mit neuen Situationen konfrontiert wurde, und der von sich weiß, dass es ihm schwer fällt mit diesen umzugehen. Obwohl ich als Interviewerin auf Murats Vorschlag nicht eingehe, beginnt er in der folgenden Sequenz zu erzählen; genauer gesagt, er stellt sich förmlich vor und nennt – ähnlich einem tabellarischen Lebenslauf – einige Eckdaten zu seiner Lebensgeschichte: ich=heiß Murat Yilmaz (1) bin=in Oldenburg geboren (1) zweiundzwanzigster neunter vierundachtzig (1) u:nd ich=leb seit meinem vierten Lebensjahr hier in Mannheim (1) ja und, hab die Johannes Kepler Schule besucht, hier=in Mannheim und danach die Hilda Hauptschule war bis zur achten Klasse dann (1) Abgangszeugnis (1/13-1/17)

Er präsentiert sich also knapp, karg und sachlich und gibt so wenig wie nötig von sich preis. Möglicherweise lässt er sich überhaupt nur auf dieses – für ihn ungewohnt ablaufende – Interview ein, da das Gespräch im Büro seiner Bewährungshelferin stattfindet, und Murat nicht recht einschätzen kann, ob ich nicht doch in irgendeiner Weise auf der Seite der Institution stehe, er also vorsichtshalber kooperieren sollte.7 Es könnte jedoch auch sein, dass sich Murat 7

Ich habe allen meinen Interviewpartnern und -partnerinnen vor Beginn des Gesprächs versichert, dass mir die Bewährungshilfe zwar bei der Kontaktaufnahme geholfen hat, dass ich aber sonst keine Verbindung zur Bewährungshilfe habe und auch nichts aus dem Interview weitergeben werde. Dennoch hatte ich gerade bei dem Interview mit Murat, das als einziges der drei hier ausgewerteten Interviews in den Räumen der Bewährungshilfe stattfand (vgl. Kap. 5.2.2), das 253

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als jemand präsentieren möchte, der seine eigene Lebensgeschichte für nicht besonders bedeutsam hält und sie daher nicht ausschmückt, bzw. der es nicht gewohnt ist, über sich zu sprechen. Möglicherweise spielt auch Scham eine Rolle, die er mit knappen Fakten zu verbergen versucht. Murat präsentiert sich hier als Hauptschüler, der die Schule nach der achten Klasse verlassen hat. Dass dies bedeutet, dass Murat die Schule ohne Abschluss verlassen hat, erwähnt er nicht. Stattdessen spricht er von einem »Abgangszeugnis«, wodurch er möglicherweise Normalität suggerieren möchte. Denn die Darstellung ist geprägt von der Auseinandersetzung mit biographischen Normalitätserwartungen, die Murat nicht erfüllen kann, an denen er sich aber dennoch abarbeitet (vgl. hierzu auch Kap. 3.4). Ein mögliches thematisches Feld, das sich hier bereits abzeichnet, könnte lauten: Ich bin jemand, der keine Erfolgsgeschichte zu erzählen hat (und dies möglichst zu verbergen versucht). In der darauf folgenden Sequenz berichtet Murat sehr kurz, dass er nach der Schulzeit bzw. »nach ner, gewissen Zeit« (1/18) inhaftiert wurde und nun seit knapp vier Jahren wieder draußen ist. Er präsentiert sich mithilfe von Stationen, die auch in der Akte der Bewährungshilfe – von der er wahrscheinlich denkt, dass ich sie kenne8 – nachzulesen wären, gibt also auch weiterhin so wenig wie möglich von sich preis. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Murat sich für seine Lebensgeschichte schämt und daher nur Fakten und keine Emotionen präsentiert. Möglicherweise – und das könnte wiederum durch den Ort des Interviews (mit) bedingt sein – vertraut er mir (noch) nicht. Vielleicht nimmt er daher einfach seine gewohnte Rolle als Proband in der Bewährungshilfe ein und präsentiert sich als ›Ex-Knacki‹, von dem nicht erwartet wird, dass er Emotionen preisgibt oder diese überhaupt erst empfindet. Auffallend ist jedoch, dass es ihm in keiner Weise darum zu gehen scheint, sich in ein positives Licht zu rücken oder bei mir Verständnis hervorzurufen, indem er z. B. ausführt, warum er inhaftiert wurde und wie es dazu kam. Wichtig scheint für ihn lediglich zu sein, dass er die Zeit im Gefängnis schon lange hinter sich hat.9 Das thematische Feld, ich bin jemand, der keine Erfolgsgeschichte zu erzählen hat, bleibt bestehen. Daneben zeichnet sich jedoch bereits ein neues Feld ab: Ich bin jemand, der den Normalitätserwartungen nicht entsprochen hat, aber der das alles schon lange hinter sich hat.

8

9

Gefühl, dass Murat mir gegenüber zunächst sehr vorsichtig war und genau überlegte, was er mir erzählen kann. Tatsächlich wusste ich vor dem Interview meist nur den Namen, das Geburtsdatum und die Adresse meiner Interviewpartner/-innen. Die Akten habe ich mir bewusst immer erst nach dem Gespräch angesehen bzw. vorlesen lassen (vgl. Kap. 5.2.2. & 5.2.4). Für diese Vermutung spricht auch, dass es Murat sehr wichtig ist, auf den Monat genau festzulegen, wie lange er nun schon »draußen« ist: »so und jetzt bin=ich seit vier Jahren wieder draußen (2) /m/ (2) knapp vier Jahre sagen=wir ´mal so na in zwei=Monaten sind=s vier Jahre´ (2)« (1/18-1/20).

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Diese thematischen Felder bleiben auch in der nächsten Sequenz bestehen, obwohl Murat hier die Art seiner Selbstpräsentation ändert und – recht unerwartet – zu argumentieren beginnt: und ja, darauf bin=ich stolz (1) wenigstens hab=ich=s geschafft ich hab viele gesehn die waren schon drei vier Mal drin vier fünf Mal (1) nein ist nichts für mich ((kurzes Lächeln)) ((I. lächelt auch kurz)) ja ich bin dadurch=jetzt ziemlich froh so dass=ich alles hinter mir=hab weil=ich=hab zu Hause viele Probleme gehabt, meine Mutter hat mehr gelitten wahrscheinlich wie ich (1) das tut mir am meisten weh ja? desdeswegen das darf nicht mehr vorkommen (1) (1/20-1/26)

Murat präsentiert sich hier als jemand, der seine schlimmen Jahre bereits hinter sich hat. Seine Mutter hat wegen ihm sehr gelitten, und er wurde seiner Verantwortung als guter Sohn nicht gerecht. Das soll sich jetzt jedoch ändern und so präsentiert sich Murat als jemand, der aus Fehlern gelernt hat und nun vor einem Neuanfang steht. Er präsentiert sich als stolz darauf, dass er seine kriminelle Karriere hinter sich und den Absprung geschafft hat. Die Textsorte der Argumentation zeigt, wie wichtig es ihm ist, dass ich als Interviewerin diesen Wandel in seinem Leben wahrnehme. Diese Selbstpräsentation untermauert Murat auch in der nächsten Sequenz, wenn er in einer Mischung aus Bericht und Argumentation fortfährt: von=meiner Jugend war, eigentlich kriminelle Zeit sag=ich mal so (1) Pubertät ((haut auf den Tisch)) wo man, ´nit´ weiß was man will (2) ´ja´ (2) /m/ (1) ((B. lächelt (1)) ((gemeinsames Schmunzeln (1)) und=jetzt-, im Knast hab=ich gearbeitet im Gefängnis- in Ju- ä: Justiz ä Vollzugsan- Jugendstrafanstalt genau jetzt ham wir=s \((I. schmunzelt:)) da hab=ich\ mein Abschluss nachgeholt wenigstens ja /m/ hab=ich Zweikommanull Durchschnitt gehabt (1) also da bin=ich sehr froh dass=ich das gepackt hab weil und=ich denk auch mal so wenn=ich nicht reingekommen wär wär=s vielleicht schlimmer geendet (1) /m/ höchstwahrscheinlich (1) sag=ich mal so rum Abschluss hätt=ich niemals gepackt ich war nie in der Schule (1) nur Schwachsinn gemacht und (1) wenigstens hab ich das in der Hand (1) /m/ (1/26-1/36)

Murat greift hierbei auf verschiedene Diskurse zurück, die diese Art der Selbstpräsentation unterstützen: Zum einen spricht er von der Pubertät als einer Zeit, in der »man, cnitc weiß was man will«. Auf diese Weise entschuldigt er indirekt sein kriminelles Verhalten, das ihn letztlich ins Gefängnis gebracht hat. Unser gemeinsames Schmunzeln kann er hierbei als Bestätigung lesen, dass ich seiner Argumentation gefolgt bin und anerkenne, dass die Pubertät eben nicht einfach ist, aber dass er diese nun auch hinter sich hat. Zum anderen präsentiert er die Zeit im Gefängnis als einen Wendepunkt in seinem Leben. Auch dies ist ein gesellschaftlich anerkannter Diskurs, auf dem letztlich auch das Strafrecht gründet. Es wird davon ausgegangen, dass das Gefängnis 255

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eine Resozialisierungsinstanz darstellt, die dem/der Einzelnen dabei helfen kann, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Murat präsentiert sich hier als jemand, der die Pubertät nun hinter sich und die Zeit im Gefängnis gut für sich genutzt hat. Denn dank seines Gefängnisaufenthaltes ist er nicht weiter abgerutscht und konnte seinen Schulabschluss nachholen. Er präsentiert sich also als jemand, der im Gefängnis das nachgeholt hat, was er vorher nicht geschafft hat. Das Gefängnis wird als Ort des Lernens dargestellt. Damit bedient er ein Deutungsmuster, bei dem vor allem die fördernde Wirkung des institutionellen Rahmens betont wird (vgl. Bereswill/Rieker 2008: 406). Er ist jemand, der doch noch auf den rechten Weg zurückgefunden hat; der weiß, was eigentlich ›richtig‹ bzw. ›gut‹ ist. Der von ihm bereits in der vorherigen Sequenz präsentierte Neuanfang begann also nicht erst mit der Entlassung, sondern schon mit der Inhaftierung. Das Gefängnis hat Murat verändert, und daher – so stellt er es zumindest dar – zählt auch die Zeit vor dem Gefängnis nicht mehr, sondern wird pauschal als »kriminelle Zeit« abgetan. Dass er auch nach seinem Gefängnisaufenthalt nochmals straffällig und erneut verurteilt wurde (vgl. Kap. 7.2), erwähnt Murat hierbei nicht. In der darauf folgenden Sequenz bleibt diese Art der Selbstpräsentation ebenfalls bestehen, auch wenn Murat nun nicht mehr über sein Leben berichtet, sondern in Interaktion mit der Interviewerin tritt: (9) ja, und jetzt sitz=ich hier und red mit ner schöne Frau ((gemeinsames Schmunzeln (1)) /danke danke ((kurzes Lächeln))/ ja m, ich weiß=nicht was=ich erzählen soll ehrlich jetzt Sie müssen mich fragen wenn schon (1) was Neues ((kurzes Schmunzeln)) (( I. lächelt kurz)) (1/36-1/40)

Murat präsentiert sich am Ende seiner Haupterzählung als jemand, der zwar kooperieren kann, aber der letztendlich die Regeln bestimmt und die Interviewerin dazu auffordern kann, ihm Fragen zu stellen, wenn sie noch mehr wissen möchte. Dennoch ist es ihm auch hier wichtig, dass ich als Interviewerin ein positives Bild von ihm bekommen habe, und er versucht dies zu verstärken, indem er mir schmeichelt. Er präsentiert sich hierdurch selbstbewusst als Mann und als Charmeur. Durch das direkte Ansprechen der Interviewerin als Frau stellt Murat auf interaktiver Ebene Männlichkeit her (vgl. Scholz 2003: 145). Gleichzeitig betont er noch einmal, dass er zwar keine Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat, aber dass nun alles gut wird. Denn die Tatsache, dass er jetzt hier sitzt und »mit ner schöne Frau« redet, symbolisiert in Murats Selbstpräsentation unter Umständen ebenso die positive Kehrtwende in seinem Leben wie der gute Schulabschluss, den er im Gefängnis nachgeholt hat.

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7.4 Feinanalysen 7.4.1 Anfangssequenz ich=heiß Murat Yilmaz (1) bin=in Oldenburg geboren (1) neunundzwanzigster neunter vierundachtzig (1) u:nd ich=leb seit meinem vierten Lebensjahr hier in Mannheim (1) ja und, hab die Johannes Kepler Schule besucht, hier=in Mannheim und danach die Hilda Hauptschule war bis zur achten Klasse dann (1) Abgangszeugnis ´m´ na ja danach wurd=ich inhaftiert, nach ner, gewissen Zeit (1) so und jetzt bin=ich seit vier Jahren wieder draußen (2) /m/ (2) knapp vier Jahre sagen=wir ´mal so na in zwei=Monaten sind=s vier Jahre´ (2) und ja, darauf bin=ich stolz (1) wenigstens hab=ich=s geschafft ich hab viele gesehn die waren schon drei vier Mal drin vier fünf Mal (1) nein ist nichts für mich ((kurzes Lächeln)) ((I. lächelt auch kurz)) ja ich bin dadurch=jetzt ziemlich froh so dass=ich alles hinter mir=hab weil=ich=hab zu Hause viele Probleme gehabt, meine Mutter hat mehr gelitten wahrscheinlich wie ich (1) das tut mir am meisten weh ja? des- deswegen das darf nicht mehr vorkommen (1) (1/13-1/26)

Murat beginnt die Haupterzählung des Interviews mit einer formalen Vorstellung: er nennt seinen vollständigen Namen und sein Geburtsdatum, den Geburtsort sowie die Schulen, die er besucht hat. Er kennzeichnet also formale Eckdaten, um sich zu verorten. Hierbei fällt zunächst einmal sein Sprachstil auf, der zwar durch Jugendslang (»wenigstens hab=ich=s geschafft«, »ist nichts für mich«) und Mannheimer Dialekt (»ich heiß«, »ich leb«, »ich hab«) eingefärbt ist, der aber ansonsten von einer fließenden und sehr gewählten Sprache (»seit meinem vierten Lebensjahr«, »die Johannes Kepler Schule besucht«) bestimmt wird. Durch die genaue Bezeichnung der Schulen und das Nennen exakter Daten macht er seine Darstellung glaubwürdig. Gleichzeitig gibt er so wenig wie möglich von sich preis, denn das, was er sagt, ließe sich auch in der Akte der Bewährungshilfe nachlesen (vgl. Kap. 7.3). Auffallend ist, dass Murat kein einziges ›ähm‹ und auch fast kein sonstiges Füllwort in dieser Anfangssequenz verwendet. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um einen geübten Text handelt, der von Murat gekonnt und – mithilfe der kurzen Pausen – wohl überlegt vorgetragen wird. Möglicherweise kennt er solche Situationen, in denen er sich vorstellen soll, bereits gut aus dem Kontext der Bewährungshilfe oder auch im Zusammenhang mit anderen Einrichtungen, so dass Murat hier auf ein bewährtes Muster zurückgreifen kann.10 Er scheint da10 Auch von anderen Autoren und Autorinnen (z.B. Bereswill/Rieker 2008; Phoenix et al. 2003; Spindler 2006; Thielen 2009) wird beschrieben, dass Interviewpartner/-innen – gerade im Kontakt mit Behörden – ihre ›Geschichte‹ zum Teil schon häufig erzählt haben und daher ziemlich genaue Vorstellungen davon haben, was von ihnen vermeintlich erwartet wird (vgl. hierzu auch Kap. 3.2.3). 257

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

rin geübt zu sein, sich in dieser Form zu präsentieren, auch wenn er zu Beginn des Interviews durch die offene Fragestellung verunsichert war, ob dieses ›Programm‹ hier das richtige sei (vgl. Kap. 7.3). Murat versucht sich in einem guten Licht zu präsentieren. Dies gelingt ihm dadurch, dass er zunächst einmal einen scheinbar völlig problemlosen Lebensverlauf beschreibt: ja und, hab die Johannes Kepler Schule besucht, hier=in Mannheim und danach die Hilda Hauptschule war bis zur achten Klasse dann (1) Abgangszeugnis (1/15-1/17)

In Murats Präsentation scheint es ›normal‹ zu sein, die Hauptschule nach der achten Klasse mit einem Abgangszeugnis zu beenden. Jedenfalls erwähnt Murat mit keinem Wort, dass er sitzen geblieben ist und dann die Schule ohne Abschluss verlassen hat (vgl. Kap. 7.2). Auch als Murat im Anschluss von seiner Inhaftierung spricht, klingt das, als sei er möglicherweise nur kurz und vielleicht auch unschuldig festgenommen, aber nicht zwangsläufig verurteilt worden, bzw. als könne er nichts dazu, dass er inhaftiert wurde. Die Verwendung der kleinen Füllworte »‹m‹ na ja« – die einzigen in dieser Anfangsequenz – deuten darauf hin, dass Murat hier sehr genau überlegt, wie er seine Inhaftierung präsentieren soll. Und tatsächlich gelingt es ihm, vor allem dadurch, dass er seine Zeit im Gefängnis mit keinem weiteren Wort erwähnt, sondern nur betont, dass er nun wieder draußen ist, diesen Bruch als kurzen und einmaligen Ausrutscher darzustellen: ´m´ na ja danach wurd=ich inhaftiert, nach ner, gewissen Zeit (1) so und jetzt bin=ich seit vier Jahren wieder draußen (2) /m/ (2) knapp vier Jahre sagen=wir ´mal so na in zwei=Monaten sind=s vier Jahre´ (2) (1/18-1/20)

Murat verheimlicht also nicht, dass er im Gefängnis war. Dennoch präsentiert er seine Lebensgeschichte mithilfe der bedachten Wortwahl und gezielten Auslassungen so positiv wie möglich, ohne lügen zu müssen. Er hat zwar keine Erfolgsgeschichte vorzuweisen, aber das was er getan hat, war nicht so schlimm und liegt weit zurück. Er ist jemand, der den Absprung geschafft hat (vgl. Kap. 7.3). Gleichzeitig scheint es Murat wichtig zu sein, sich als besonders darzustellen; als jemand, der nicht einfach in eine Schublade gesteckt werden kann: Er hat zwar einen türkischen Namen, ist aber in Oldenburg geboren. Er ist zwar in Oldenburg geboren, lebt aber seit seinem vierten Lebensjahr in Mannheim. Hierdurch gelingt es Murat, sich in sehr differenzierter Weise darzustellen und zu verorten. Er hat einen türkisch-deutschen Hintergrund, ist aber kein typischer ›Mannheimer Türke‹. Mannheim scheint ihm zwar wichtiger zu sein als Oldenburg, aber er kennt eben mehr als diejenigen, die immer 258

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

nur in Mannheim gelebt haben. Das gleiche gilt für das Gefängnis: Er war zwar einmal im Gefängnis, aber er kam danach nicht wieder rein. Er ist also kein typischer Insasse, sondern einer, dem Familie wichtig ist und bei dem daher so etwas nicht mehr vorkommen darf.

7.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit Murat spricht bereits zu Beginn des Interviews von seiner Jugend als »kriminelle Zeit« (vgl. Kap. 7.3). Dabei macht er immer wieder deutlich, dass er bis zur sechsten Klasse eher unauffällig oder sogar schüchtern war und sich dies in der siebten Klasse plötzlich geändert habe: #ich=hab=mich nie# getraut mit Mädchen zu \((etwas schmunzelnd:)) unterhalten ich bin immer weggerannt\ ehrlich jetzt ich weiß=nit ( ) warum, ich bin immer weggerannt, ich hab da- in der Grundschule hab=ich Mädchen gehasst und dann die fünfte sechste Klasse und, hab=ich gesehen ja die Mädchen sind, älter geworden und so aber, dann ich=weiß=nicht- halt ich hab=auch viele Pickeln gehabt sag=ich mal so /m/ der Arzt hat=mich auch immer so was von geärgert dass=ich so Eier da hängen hab ((kurzes Lächeln)) das war=halt da- da sag=ich=mal deswegen hab=ich mich vielleicht geschämt oder so /m/ ne? und das-, siebte Klasse, ist alles- andersder geworden ((Lächeln)) für=n halbes Jahr, war=ich n ganz anderer Mensch dann (5/41-5/50)

Murat bringt diese Veränderung in Zusammenhang mit seiner Pubertät (vgl. auch Kap. 7.3). Plötzlich »ist alles- andersder geworden« und er war ein »ganz anderer Mensch«. Er bedient sich also eines allgemein anerkannten Deutungsmusters, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Seine Kriminalität erklärt er hiermit jedoch nicht. Stattdessen verweist er darauf, dass er ab der siebten Klasse immer wieder in Situationen geraten ist, in denen er – mehr oder weniger – unschuldig in etwas hineingeraten ist; in denen niemand eingegriffen oder ihn zur Vernunft gebracht hat; und er es letztlich so weit treiben konnte, bis er verurteilt wurde.

Schneeballschlacht (7/10-7/20) In der nachstehenden Erzählung geht es um eine Schlägerei, in deren Folge zum ersten Mal Anzeige gegen Murat erstattet wird (vgl. Kap. 7.2).11 Murat konstruiert aus diesem Vorfall in seiner biographischen Erzählung einen ›Ent-

11 Die Erzählung ist entstanden, nachdem ich Murat im immanenten Nachfrageteil nach seiner ersten Schlägerei gefragt habe: »(1) ä:m (1) du hast gesagt in der siebten, Klasse gab=s dann die erste Schlägerei, kannst du mir von der Situation noch mal was #erzählen?#« (7/07-7/09) 259

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stehungsmythos‹; aus einer (harmlosen) Schneeballschlacht wird der Beginn von Murats krimineller Karriere: in der siebten Klasse das war son-, Po- Pole war das, der hat Michael Tatrowski gehießen, das war damals halt mein bester Freund weil wir in=der- von der fünften Klasse aus, die ganze=Zeit zusammen in=der Klasse waren /m/ da hab=ich mal so=n Eisklumpen hat mir jemand auf den Kopf geworfen /m/ so als=ich=da- wir ham Schneeballschlacht gemacht /m/ und der wirft mir so Eis auf der Kopf ich=hab hier voll geblutet (1) ich wollt erst keine Schlägerei machen macht=der macht der Michael zu mir hey du bist doch n Türk, zeig dem wo=s lang geht und=so und irgendwie hab=ich den geschlagen (1) irgendwie, und dann war=ich beim Rektor und, Anzeige gekriegt damals war ich noch minderjährig war=ich dreizehn, ist fallengelassen worden, /m/ ja=und seit- seitdem, angefangen erst mit Schwänzen und danach, Raub räuberische Erpressung (1) (7/10-7/20)

Murat spricht in dieser Textstelle von einem Polen und markiert damit gleich zu Beginn der Erzählung, dass die Nationalität seines besten Freundes hier von Bedeutung für ihn ist bzw. war. Die Beschreibung »das war son-, Po- Pole war das« klingt abwertend; vielleicht handelt es sich jedoch auch einfach um den ›Spitznamen‹ seines besten Freundes: Er wurde innerhalb der Klasse als ›Pole‹ angerufen und Murat vielleicht als ›Türke‹. Warum Murat seinen damaligen besten Freund, den er in der Folge auch noch ganz formal mit Vorund Zunamen vorstellen wird, hier jedoch (immer noch) als Polen einführt, bleibt zunächst einmal unklar. Möglicherweise ist für Murat eine Freundschaft mit Polen oder überhaupt mit Jugendlichen, die einen anderen Migrationshintergrund haben, eher ungewöhnlich. Dies würde zumindest erklären, warum sich Murat genötigt fühlt, seine Freundschaft zu Michael Tatrowski argumentativ zu begründen: das war damals halt mein bester Freund weil wir in=der- von der fünften Klasse aus, die ganze=Zeit zusammen in=der Klasse waren (7/11-7/12)

In der Folge beschreibt Murat eine Schneeballschlacht wie sie unter Jungen in der siebten Klasse durchaus üblich ist. Allerdings wird Murat hierbei am Kopf von einem »Eisklumpen« getroffen. Die Bezeichnung »Eisklumpen« soll vermutlich verdeutlichen, dass hier jemand die Regeln verletzt hat und statt weichem Schnee hartes Eis geworfen hat. Aus der harmlosen Balgerei wurde dadurch eine bedrohliche Situation, bei der Blut geflossen ist: da hab=ich mal so=n Eisklumpen hat mir jemand auf den Kopf geworfen /m/ so als=ich=da- wir ham Schneeballschlacht gemacht /m/ und der wirft mir so Eis auf der Kopf ich=hab hier voll geblutet (1) (7/12-7/15)

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Murat scheint bei dieser Erzählung nicht sicher zu sein, wie er sich präsentieren möchte. Der Beginn »da hab ich mal« deutet darauf hin, dass Murat hier der Aktive war bzw. dass er sich eigentlich gern als Handelnder präsentieren möchte. Er verbessert bzw. präzisiert sich jedoch, um zu betonen, dass ihm ein Eisklumpen auf den Kopf geworfen wurde. Diese Strategie wird von Murat vermutlich gewählt, um sich als unschuldig darstellen zu können. Wenn er der Handelnde gewesen wäre, so hätte er (zumindest) auch (Teil-)Schuld. So aber zieht Murat es vor, sich als passiv zu präsentieren; als derjenige, der verletzt wurde.12 Möglicherweise wählt er diese Präsentation auch, um sich gegenüber mir als Interviewerin wichtig zu machen. Ich soll Mitleid mit ihm haben, ihn bedauern. Gleichzeitig scheint diese Darstellung auch dazu zu dienen, vorab eine Entschuldigung zu konstruieren, auf deren Basis alles weitere, was Murat nun erzählen wird, relativiert wird. Denn Murat fährt fort: ich wollt erst keine Schlägerei machen (7/15)

Es kam also zu einer Schlägerei, bei der Murat aktiv beteiligt war bzw. die er womöglich sogar begonnen hat. Dennoch stellt er es so dar, als sei er das Opfer; als habe er lediglich re-aktiv gehandelt bzw. nicht anders handeln können, weil er keine andere Wahl hatte und seinen Affekten hilflos ausgeliefert war. Dabei wird trotzdem deutlich, dass Murat – zumindest zum Zeitpunkt des Interviews – Erfahrung mit Schlägereien hat. Sie gehören für ihn zum Alltag, sind zumindest eine Möglichkeit, die in Betracht zu ziehen ist. Hier jedoch stellt es Murat so dar, dass für die Schlägerei ein weiterer Auslöser wichtig war. Als dieser Auslöser bzw. Anstifter fungiert Michael, denn er sagt: hey du bist doch n Türk, zeig dem wo=s lang geht und=so (7/16-7/17)

Michael packt Murat bei seiner männlichen nationalen Ehre. Die beiden Jungen scheinen eine klare Vorstellung davon zu haben, wie sich ein Türke zu verhalten hat. Es scheint so etwas wie einen nationalen Ehrenkodex zu geben, den Murat einhalten muss. Aus Murats (heutiger) Perspektive forcierte Michael auf diese Weise Murats Kampfeslust und Murat bekommt einen Grund geliefert, nicht vernünftig sein zu müssen: und irgendwie hab=ich den geschlagen (1) irgendwie, (7/17)

Auch hier betont Murat wieder seine passive Rolle, obwohl er augenscheinlich aktiv zugeschlagen hat. Doch das Schlagen wird von Murat durch das 12 Vgl. zu diesen beiden Möglichkeiten der Positionierung mithilfe unterschiedlicher Beschreibungs- bzw. Ordnungsmittel auch Bamberg (1999a: 49 f.). 261

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zweimalige »irgendwie« relativiert, denn so klingt es, als sei Murat seinen Affekten ausgeliefert gewesen; als habe er ausschließlich auf den Reiz, den Michael ihm geliefert hat, reagiert. Der Eisklumpen bzw. das Blut scheinen inzwischen völlig unwichtig geworden zu sein. Es geht nur noch um die türkische Ehrenrettung und dieser Grund scheint Murat auch heute noch als nachvollziehbare Entschuldigung zu dienen. Darüber hinaus geht es sicherlich auch um die Rettung seiner Männlichkeit. Denn Murat setzt in dieser Schneeballschlacht bzw. – wie Bourdieu (1997: 203) es ausdrücken würde – in diesem »ernsten Spiel[e] des Wettbewerbs« seinen Körper ein und ist bereit, diesen zu riskieren. Michael Meuser hat dies als doing gender bezeichnet; als »Mittel der Aneignung und Darstellung von Männlichkeit« (Meuser 2005: 313; vgl. auch Kap. 2.4.2). Doch von Murat selbst wird diese Inszenierung adoleszenter Männlichkeit als ›typisch türkisch‹ bzw. im Zusammenhang mit einer ›Kultur der Ehre‹ interpretiert. Auf diese Weise positioniert er sich innerhalb eines Diskurses, in dem ›Ehre‹ als ein ethnisch spezifischer kultureller Faktor gilt, mit dessen Hilfe Gewalt legitimiert werden kann (vgl. auch Kap. 2.3.4 & 2.4.3). Der Schlägerei folgt – zumindest laut Murats Erzählung – unmittelbar ein Gespräch beim Direktor, das in einer Anzeige mündet: und dann war=ich beim Rektor und, Anzeige gekriegt damals war ich noch minderjährig war=ich dreizehn, ist fallengelassen worden, /m/ (7/17-7/19)

Murat geht also in seiner Erzählung gar nicht weiter auf die Kampfesszene ein, und auch weitere Entschuldigungen, warum er letztendlich zugeschlagen hat, was also z.B. die Anrufung als Türke bei ihm ausgelöst hat, scheinen aus seiner Sicht nicht erforderlich zu sein. Offensichtlich geht es ihm bei der Erzählung um etwas anderes, das nun mit dieser Coda verdeutlicht werden soll. Zum einen zeigt sich hier, dass Anzeigen für Murat zumindest aus heutiger Sicht normal sind bzw. dass er dieses Muster kennt: Er schlägt zu und schon folgt eine Anzeige. Aber möglicherweise soll diese Erzählung auch als Beleg dafür dienen, dass Murat meist Anzeigen bekommen hat, obwohl er nicht Schuld war; obwohl er lediglich in etwas hinein geraten ist. Er fühlt sich ungerecht behandelt, denn eigentlich war er das Opfer und wollte keine Schlägerei, aber dann wurde er angestachelt und musste einfach zuschlagen. Insofern erlebte er sich möglicherweise als doppeltes Opfer: bei der Schneeballschlacht als derjenige, der schwer getroffen wurde, und dann beim Direktor als der einzige, der für das was vorgefallen ist, gerade stehen muss. Das Resümee, »ja=und seit- seitdem, angefangen erst mit Schwänzen und danach, Raub räuberische Erpressung (1)« (7/19-7/20), deutet darauf hin, dass Murat dieses Muster auch in Bezug auf andere kriminelle Handlungen von sich kennt. Vielleicht gab es immer Reize, die so stark waren, dass Murat nicht anders handeln konnte bzw. es gab immer jemanden, der ihn angesta262

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chelt hat. Letztendlich musste er jedoch alleine für das, was er getan hat, büßen. Fast klingt es, als würde es sich bei der geschilderten Situation um eine Schlüsselszene handeln: Wenn es hier anders gelaufen wäre, hätte auch Murats Leben anders verlaufen können. Wenn er hier nicht so ungerecht behandelt worden wäre, hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass es letztlich egal ist, was er tut oder warum er es tut. Wenn hier anders geurteilt worden wäre, hätte er vielleicht ein anderes Verhältnis zu Schule gehabt, die Schule weniger häufig geschwänzt und auch später keinen Raub und keine räuberische Erpressung begangen.

Schlägerei I – wahre Freunde gibt es nicht (19/06-19/18) Viel später im Interview findet sich eine Belegerzählung zu den soeben formulierten Hypothesen. Es geht hierbei um Murats Freunde Mustafa und Mehmet, die Murat bereits aus der Grundschulzeit kennt. Murat beschwert sich in dieser Textstelle, dass diese ihm, als er im Gefängnis war, erst nach über einem Jahr einen Brief geschrieben haben: die könne mich alle mal-, mal kreuzweise (1) weil=ich hab=auch wegen Mustafa wegen Mehmet, die ham mal Schlägerei gehabt gegen nur einen damals war=ich fünfzehn sechzehn fünfzehn Jahr, oder sechzehn wie=auch immer, ham sie Krach gehabt und, da ham sie sich irgendwie nit getraut und die an- der hat-, der andere Typ hat die voll runter(geschickt) das hat=mir net gepasst, da hab=ich dann für die geschlagen /m/ und ich krieg Anzeige (1) die sagen nicht mal für mich aus (1) bow meine Mutter bringt mich um mein Vater bringt mich um was deine Mutter? was dein Va-? ich hab=die Anzeige gekriegt (1) ich- sag wenigstens bei der Verhandlung dass der angefangen hat auch wenn=s Lüge ist aber, normalerweise sagt das als Freund, hilft man seinem Freund /m/ weil=ich=da=auch immer wegen denen die Scheiße gemacht hab /m/ pf was ist? nichts /m/ voll weggerannt und=ich hab immer noch=nichts gesagt damals /m/ bis die mir, der Arschtritt verpasst haben (1) na (2) na ja und deswegen gibt=s keine wahren Freunde (1) (19/06-19/18)

Murat präsentiert sich in dieser Argumentation, die in eine fragmentarische Erzählung eingebettet ist, als Helfer in der Not.13 Seine Freunde sind in eine Schlägerei verwickelt, doch obwohl sie zu zweit gegen einen kämpfen, haben sie keine Chance. Murat sieht dies und greift in die Situation ein. – Offenbar mit ›Erfolg‹, denn am Ende wird gegen Murat Anzeige erstattet. Er muss nun für diese Schlägerei gerade stehen, während seine Freunde scheinbar ungestraft davon gekommen sind. Auch hier muss sich Murat also letztlich alleine 13 Murats Darstellung erinnert hier an Ahmets Positionierung als Darmstädter Don Corleone (vgl. Kap. 6.4.3), wobei Murat hier nicht eingreift, weil die Ausgangsverhältnisse unfair sind, sondern weil er – ohne nachzudenken – seinen Freunden beisteht. 263

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für etwas verantworten, woran eigentlich noch andere beteiligt waren. Doch damit nicht genug: Murat erwartet offenbar, dass seine Freunde nun wenigstens bei der Verhandlung für ihn Stellung beziehen. Doch auch dies tun sie nicht, obwohl man – so Murat – als Freund seinem Freund hilft. Murat positioniert sich hier als Mann mit Prinzipien: Man(n) hilft seinen Freunden, wenn diese in der Klemme stecken. Und das gleiche erwartet er auch von seinen Freunden. Gleichzeitig positioniert sich Murat als jemand, der im Stich gelassen wurde und sehr enttäuscht worden ist. Dementsprechend fatalistisch fällt auch sein Resümee aus: »und deswegen gibt=s keine wahren Freunde«.

Schule schwänzen (9/32-9/38 & 10/10-10/22) Wenn Murat von dem Tag erzählt, an dem er zum ersten Mal die Schule geschwänzt hat,14 so passt diese Erzählung genau in die bereits herausgearbeitete Struktur. Auch hier wird Murat von anderen – an dieser Stelle wieder Michael Tatrowski, dem »Polen« – angestachelt: ich hab in der siebten Klasse, erste Mal blau gemacht mit=dem Michael das war auch der denn der hat=gesagt komm machen=wir-, ich=hab Angst gehabt normalerweise hab=ich bei so was damals, Todangst gehabt wegen meinem Vater wegen meiner Mutter und so, /m/ der hat=mich irgendwie dazu gebracht und nächsten Tags gehen wir hin ich hab meine Entschuldigung geschrieben, huch nichts passiert? korrekt ((kurzes Schmunzeln)) /m/ und dann wieder geschwänzt ja (1) (9/329/38)

Obwohl Murat Angst hat, bringt ihn Michael doch dazu mitzumachen. Murat konstruiert sich also auch hier wieder als derjenige, der eigentlich unschuldig war, aber dem Reiz nicht widerstehen konnte. Vielleicht rührte die Angst daher, dass Murat zuvor die Erfahrung mit der Schneeballschlacht und der Anzeige gemacht hat, und nun befürchtet, wieder (als einziger) bestraft zu werden. Vielleicht fürchtet er auch die Konsequenzen, die sein Handeln womöglich zu Hause mit sich bringen, wenn seine Eltern erfahren, was vorgefallen ist (vgl. Kap. 7.4.3). Doch er macht mit. Und überraschender Weise (»huch nichts passiert? korrekt«) hat das Schwänzen keine Konsequenzen. Es gibt niemanden, der Murat Einhalt gebietet und ihm Grenzen aufzeigt. Den Lehrern scheint Murats Fehlen – nach seinem Empfinden – egal zu sein.15 Und

14 Ich habe Murat konkret hiernach gefragt: »m (5) du hast gesagt du hast ein halbes Jahr ungefähr die Schule geschwänzt oder, bist da nie zur Schule gegangen« (9/29-9/31). 15 An anderer Stelle bemerkt Murat hierzu: »und die Lehrer, nit diszipliniert- rufen nie zu Hause an wenn jemand fehlt, ich=hab über halbes Jahr geschwänzt keiner hat angerufen, nicht mal die Zeit mit vierzehn fünfzehn oder so denk=ich 264

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auch die Eltern bekommen offensichtlich von dem Schwänzen nichts mit (vgl. auch 7.4.3 – Schuldzuweisung). Es scheint niemanden zu geben, der Murat Grenzen aufzeigt bzw. bei dem sein Handeln überhaupt nur Aufmerksamkeit erregt. Und so macht Murat weiter (vgl. auch Kap. 7.2): bei uns bei den Türken sagt man ä:m, Lehrer ist s-, so wie deine Mutter wie dein Vater /m/ sollte man sehn und, pf die scheißen=nur auf mich, \((etwas schmunzelnd:)) m was soll=ich dazu noch sagen?\ /m/ na ich mein natürlich ich bin auch selbst dran Schuld (1) natürlich aber, hätten sich ruhig mal bisschen mehr anstrengen können (2) hätt=ich vielleicht Angst gekriegt dann wär=ich nicht mehr-, hätt= ich nicht mehr blau- blau gemacht, so ist mir alles leicht gefallen ((kurzes Schmunzeln)) /m/ dann mein erster Abripper ja genau wo=ich=den ersten Mal, abgerippt hab ´das war´, fünf Mark oder so irgendwas war da und der hat=mich dumm angemacht und=ich=hab den, geohrfeigt und ja das war meine erste Abrippung und da kam- dann kam immer- das Erste kann=ich=mich noch=erinnern meine erste Schlägerei, ((I. lächelt kurz etwas)) \((etwas schmunzelnd:)) mein erste Raub\ ich=meine ich kann auch Ihnen viele auf-, erzählen ja? (10/10-10/22)

Offensichtlich hat Murat erwartet, dass sein Verhalten irgendwann einmal Konsequenzen haben würde. Doch da diese nicht folgen, steigert er sein Verhalten immer mehr: auf das »blau« machen, folgt ein »erster Abripper«, auf das ›Abrippen‹ folgt eine Schlägerei, dann kommt der erste Raub. Es ist ihm »alles leicht gefallen« und offensichtlich gab es niemanden, der sich ihm in den Weg gestellt hätte.

Andere ›abrippen‹ (15/16-15/32) Im weiteren Verlauf des Interviews frage ich Murat nach seinem ersten »Abripper«, den er in der oben zitierten Textstelle erwähnt hat. Murat erzählt mir daraufhin, dass er beim ersten Mal zehn Mark »abgerippt« und sich davon Zigaretten gekauft und jemanden zum Essen eingeladen habe: das war zehn Mark oder so irgendwas war da und da hab=ich Zigaretten holen bin (ne Runde) raus gegangen, hab mich=auch voll gefreut hab jemanden gesehn hab gesagt ey ich hab jemanden abgerippt ((gemeinsames Schmunzeln (1)) komm, wir essen zusammen ich=hab kein Geld mehr aber komm kannste mitesse und so /m/ ja daran kann=ich=mich auch erinnern ja (2) (14/49-15/2)

Anschließend erklärt er mir, dass Alter beim »Abrippen« für ihn keine Rolle spiele und dass sein Rücken noch nie auf dem Boden gelegen habe; woraufhin

och, korrekt rufen nit an und so, ja hätten sie angerufen wär=ich vielleicht, nicht so gewesen« (3/27-3/30). 265

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er sich korrigiert und von einer Schlägerei berichtet, in die er wegen seiner Ex-Freundin geraten sei. Dann kommt er auf das Thema »Abrippen« zurück: ä:m ja wo war=ich stehen geblieben? (2) meine erste ´Abrippe´ /m/ ja genau ((kurzes Schmunzeln)) und dann (1) war=es zwanzig Mark dann fünfzig Mark und dann ich=hab auf einmal irgendwann nach halbes Jahr oder=so ich hab immer über hundert Mark gehabt /m/ immer jeden Tag ich bin=mir Klamotten holen gegangen immer im Keller gebunkert (1) \((leicht schmunzelnd:)) dass ja meine Eltern nit sehn ((I. schmunzelt (1)) damals ich=hab auch breite Hosen angezogen (1) meine Eltern waren dagegen /m/ ich=hab=sie immer im Keller versteckt bin raus bin in=der Keller hab=mich umgezogen bin weg\ ((gemeinsames Schmunzeln (1)) ich=hab viele Hosen=gehabt ich=hab gar nit gewusst wohin damit (1) weil=ich=hab immer Geld= gehabt und (1) wenn alles gut läuft mal ne Zeit lang sag=ich=mal mit Abripperei auch wenn=s nichts Schönes ist /m/ da macht man halt noch mehr Sachen /m/ irgendwann ist=es schief \((kurz schmunzelnd:)) gelaufen\ /m/ was=heißt schief gelaufen und=dann=halt, mein Alter war auch dementsprechend, näher gerückt und (1) ja, hätt=ich niemals damit- niemals damit gerechnet dass=ich ein Jahr krieg ((kurz etwas schmunzelnd)) /m/ niemals (2) na ja (2) aber da hab=ich=gesagt (1) mir ging=s eigentlich gut die Zeit ja? ((kurzes Auflachen)) (15/16-15/32)

Obwohl Murat den Faden verloren hatte, kehrt er wieder zum Thema »Abrippen« zurück. Es scheint ihm wichtig zu sein, das Thema noch weiter auszuführen, und er geht mit seiner fortgesetzten Beschreibung sogar über meine ursprüngliche Fragestellung hinaus. Möglicherweise scheint ihm das Thema geeignet, um sich mir gegenüber in angemessener Weise zu präsentieren, denn es klingt, als sei er zwar ein wenig verlegen, aber auch stolz auf seine erste »Abrippe«: meine erste ´Abrippe´ /m/ ja genau ((kurzes Schmunzeln)) (15/17)

In dieser Art bzw. mit einer solchen Formulierung hätte er auch über seinen ersten Schultag sprechen können. »Abrippen« scheinen für Murat völlig normal zu sein. Jedenfalls klingt es, als erlebe jede/r mal seine erste »Abrippe« und es ist bei dieser Art der Präsentation auch völlig klar, dass weitere »Abrippen« folgen werden. Tatsächlich spricht Murat in der Folge von seinen weiteren »Abrippen«: und dann (1) war=es zwanzig Mark dann fünfzig Mark und dann (15/17-15/18)

Hierbei ändert er jedoch seine Präsentationsstrategie: Statt liebevoll von »meine[r] erste[n] cAbrippec« zu sprechen, nennt er nun nur noch distanziert den ›Ertrag‹, den ihm diese »Abrippen« eingebracht haben. Die Darstellung wird also unpersönlich. Murat lässt keine Emotionen mehr zu. Möglicher266

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weise ist ihm klar, dass eine »Abrippe« als Fehltritt oder Jugendsünde interpretiert werden kann, regelmäßiges »Abrippen« aber eine klare kriminelle Handlung darstellt. Auch die hierauf folgende Formulierung »auf einmal irgendwann« deutet auf diese Lesart hin. Murat präsentiert sich überrascht von dieser Steigerung; so als habe er mit einem solchen Fortgang nichts zu tun gehabt: ich=hab auf einmal irgendwann nach halbes Jahr oder=so ich hab immer über hundert Mark gehabt /m/ immer jeden Tag (15/18-15/20)

Darüber hinaus suggeriert der Ausdruck ›Geld haben‹, dass es sich hierbei um etwas Legales handelt. Murat negiert bzw. verharmlost also auf diese Weise seine kriminelle Tat. Interessanterweise ändert sich hierbei auch seine Ausdrucksweise. Der grammatikalische Fehler »nach halbes Jahr« klingt nach ›Türkendeutsch‹ und deutet darauf hin, dass Murats Muttersprache nicht Deutsch ist, das wiederholte »und dann... und dann« lässt auf einen eingeschränkten Wortschatz schließen. – Wohingegen die Einleitung »wo war=ich stehen geblieben?« wohl formuliert ist und auch an anderen Stellen eher Murats eloquenter Sprachstil auffällt, der lediglich von einem Jugendslang durchmischt ist (vgl. Kap. 7.4.1). Geld scheint für Murat wichtig zu sein (vgl. hierzu auch 7.4.5 – Zukunftsvisionen). Er hat sich von dem Geld »Klamotten« gekauft, wobei die Formulierung »ich bin=mir Klamotten holen gegangen« auch darauf hindeuten könnte, dass er die Sachen geklaut hat. Die Sprechweise könnte jedoch auch Ausdruck einer bestimmten, männlich konnotierten Jugendsprache sein, mithilfe derer sich Murat vom weiblichen ›Shoppen gehen‹ abgrenzt, letztendlich also Männlichkeit in einem eher weiblich konnotierten Bereich herstellt. Möglicherweise kommt die Formulierung jedoch auch aus dem Türkischen, da ›almak‹ sowohl mit ›holen‹ als auch mit ›kaufen‹ übersetzt werden kann.16 Schließlich könnte »Klamotten holen gegangen« außerdem darauf verweisen, dass Murat die Kleidung nicht getragen hat. Es also – möglicherweise ebenso wie beim Geld – lediglich um das ›Haben‹, das Besitzen von Konsumgütern geht. Hierfür würde auch sprechen, dass Murat die Sachen »im Keller gebunkert« hat, wobei dies wiederum vor allem damit zusammenzuhängen scheint, dass Murats Eltern von seinem Besitz nichts mitbekommen dürfen: ich bin=mir Klamotten holen gegangen immer im Keller gebunkert (1) \((leicht schmunzelnd:)) dass ja meine Eltern nit sehn (15/20-15/21)

16 Serdar verwendet in seinem Interview eine ähnliche Sprechweise (vgl. Kap. 8.4.2). 267

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Murat scheint Angst vor seinen Eltern zu haben. Zumindest positioniert er sich hier als jemand, der eine Art Doppelleben führt: Gegenüber seinen Eltern ist er der brave Sohn, doch wenn er nach draußen geht, zieht er sich vorher um. damals ich=hab auch breite Hosen angezogen (1) meine Eltern waren dagegen /m/ ich=hab=sie immer im Keller versteckt bin raus bin in=der Keller hab=mich umgezogen bin weg\ (15/22-15/24)

Er ist also auf der Straße vermutlich eher der ›coole Held‹, dem sein Aussehen und auch die Anerkennung Gleichaltriger wichtig ist. Seinen Eltern gegenüber ordnet er sich jedoch unter; geht nicht auf Konfrontation zu ihnen. Murat möchte offenbar also allen gerecht werden und findet keinen Kompromiss für sich, wie er sein Leben draußen auf der Straße und sein Leben im Elternhaus miteinander vereinbaren kann. Scheinbar verortet er sich hier innerhalb des dominanten Migrationsdiskurses als typisches ›Gastarbeiterkind‹, das zerrissen ist zwischen den Ansprüchen des eher konservativen Elternhauses und dem Bedürfnis, bei seinen Freunden dazugehören zu wollen (vgl. Kap. 2.3.4). Bei genauerem Hinsehen hängt die von Murat hier beschriebene ›Zerrissenheit‹ sehr wahrscheinlich jedoch nicht mit der nationalen Herkunft seiner Eltern zusammen, denn Murats Freunde haben ebenfalls (zumindest zum Teil) türkischen Migrationshintergrund. Eher scheint es sich um einen Generationenkonflikt bzw. um ein sozialstrukturelles Problem zu handeln. Denn Murats Eltern hätten sicherlich nachgefragt, woher er das Geld hat, von dem er sich all die »Klamotten« kaufen konnte. Dieses Doppelleben geht lange Zeit gut: ich=hab viele Hosen=gehabt ich=hab gar nit gewusst wohin damit (1) weil=ich=hab immer Geld=gehabt und (1) (15/24-15/26)

Murat präsentiert hier eine Erfolgsgeschichte: Das »Abrippen« ist bestens gelaufen. Murat hatte so viele Hosen, dass er gar nicht mehr wusste, wohin damit.17 Und weil das »Abrippen« so gut gelaufen ist, beginnt Murat »noch mehr Sachen« zu machen: wenn alles gut läuft mal ne Zeit lang sag=ich=mal mit Abripperei auch wenn=s nichts Schönes ist /m/ da macht man halt noch mehr Sachen /m/ irgendwann ist=es schief \((kurz schmunzelnd:)) gelaufen\ (15/26-15/28)

17 Was wiederum darauf hindeutet, dass es doch vor allem um das Besitzen der Hosen ging und nur sekundär um das Tragen. 268

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Hierbei fällt vor allem die unpersönliche Formulierung auf, die an dieser Stelle die Ich-Erzählung ablöst, wobei »macht man halt noch mehr Sachen« (15/27-15/28) sehr geheimnisvoll klingt. Murat scheint es spannend machen zu wollen bzw. möchte es vielleicht auch bewusst im Unklaren lassen, was er nun konkret außer »Abrippen« noch getan hat. Gleichzeitig präsentiert er sich als passiv und damit auch als unschuldig oder zumindest weniger schuldig. Es lief einfach zu gut und daher ist er in etwas hineingeraten. Er hat es übertrieben, weil ihn keiner gestoppt hat. Von daher scheint es ihn auch nicht zu wundern, dass es irgendwann schief gelaufen ist. Doch »was heißt schief gelaufen«? Schon mit dem nächsten Halbsatz korrigiert Murat seine Aussage und schafft es so, auch hier noch sein erfolgreiches Bild aufrechtzuerhalten: Auf dem Gebiet läuft halt mal was schief; alles gar nicht so schlimm. Von daher scheint es Murat auch sehr überrascht zu haben, dass er zu einem Jahr Haftstrafe verurteilt wurde: und=dann=halt, mein Alter war auch dementsprechend, näher gerückt und (1) ja, hätt=ich niemals damit- niemals damit gerechnet dass=ich ein Jahr krieg ((kurz etwas schmunzelnd)) /m/ niemals (15/29-15/31)

Scheinbar hielt Murat sein Tun für harmlos. Das zweimal wiederholte »niemals« deutet auf seine völlige Überraschung zum damaligen Zeitpunkt hin und auch auf seine Naivität. Murat hat offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sein Handeln so weit reichende Konsequenzen haben würde. Denn bisher war er noch nicht strafmündig, und die Verhandlungen sind immer glimpflich ausgegangen bzw. die Anzeige wurde fallen gelassen (vgl. Kap. 7.2). Trotzdem scheint Murat sein Verhalten bzw. das, was er getan hat, nicht zu bereuen: (2) na ja (2) aber da hab=ich=gesagt (1) mir ging=s eigentlich gut die Zeit ja? ((kurzes Auflachen)) (15/31-15/32)

Wenn es Murat lediglich um das Geld bzw. die Klamotten gegangen wäre, hätte er diese(s) sicherlich auch auf andere Weise besorgen können. So aber entscheidet er sich für die Praxis des ›Abrippens‹. Diese bietet Abenteuer und Ablenkung vom Alltag, aber auch Erfolgserlebnisse und Momente der Macht (vgl. auch Weber 2007: 313; Tertilt 1996). Gleichzeitig gelangt er hierdurch zu materiellen (Geld und Klamotten) und symbolischen Ressourcen (Macht auf der Straße), wodurch es ihm letztlich gelingt, Männlichkeit herzustellen (vgl. auch Kap. 2.4.2). Durch den Gefängnisaufenthalt gerät diese in Gefahr. Seine Macht wird gebrochen und ihm werden die materiellen Ressourcen genommen. Unter diesem Aspekt lässt sich das Ende der Sequenz als ReInszenierung von Männlichkeit verstehen: Die Pausen und die Einleitung »na 269

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ja« könnten darauf verweisen, dass sich Murat nach seinem authentischen Ausbruch mit dem zweimal wiederholten »niemals« nun erst einmal wieder fangen muss, um dann bewusst – nicht zuletzt mithilfe des Auflachens am Ende der Sequenz – doch wieder eine Erfolgsgeschichte zu präsentieren: Es war zwar ärgerlich, dass er ins Gefängnis kam, aber letztlich hat es sich doch gelohnt, da er zuvor eine gute Zeit hatte.

Alkohol und Aggressivität (6/44-7/05 & 30/15-30/20) Doch Murat hat nicht nur andere ›abgerippt‹ und auf diese Weise Männlichkeit hergestellt, sondern war auch in zahlreiche Schlägereien verwickelt. Über diese spricht er zwar selten direkt oder ausführlich, aber an unterschiedlichen Stellen im Interview wird deutlich, mit wie viel Aggressivität Murat scheinbar aufgetreten ist. und dann, ist mein Name, rausgekommen in Mannheim oh Murat dies Murat das Murat aggressiv Murat schräger Typ (1) hat mich, ziemlich stolz gemacht damals ne? ´m´ (1) ja ((kurzes Schmunzeln)) /m/ jetzt krieg=ich den Ruf nicht mehr so schnell los ((I. lächelt kurz)) ich mein Gott sei dank hab=ich so viel Kraft oder, besitz ich so viel Kraft dass=ich mich selber verteidigen kann /m/ wenn=ich ne Freundin hab dass=ich meine Freundin verteidigen kann oder meine Familie /m/ aber so die Kraft für, ne andere Scheiße einzusetzen (1) ach was ne? /m/ nein danke (2) ´ne´ (1) ((kurzes Räuspern)) (15/46-16/02)18

Selbst seine Freundin wird gefragt, ob sie keine Angst vor Murat habe: meine Freundin wo=ich mit dere zusammen gekommen bin das=war- wann war das? sechste neunte (1) zweitausenddrei war das ja (1) da haben die- die Freunde von mir oder Freundinnen von dere wo mich gekannt haben, bo:w hast du keine Angst vor Murat dass er dich schlägt und so? ich war- ich hab die vergöttert ich hab die nie:- ich hab, dere alles gegeben was=sie haben- und=was=ich /ja/ hatte, die meint- die meint so ha wie=kannst=du so was über Murat sagen der ist total lieb keiner hat das geglaubt (1) (16/18-16/24)

Damals hätte er – so sagt er es selbst – vermutlich denjenigen, der dies zu seiner Freundin gesagt hat, geschlagen. Doch heute – das heißt zum Zeitpunkt des Interviews – ist Murat nicht mehr so. Er denkt nun anders und schützt sich vor seiner eigenen Aggressivität, indem er z.B. keinen oder zumindest weniger Alkohol trinkt:

18 Hier lassen sich ebenfalls Parallelen zum Interview mit Ahmet zeigen, denn auch Ahmet erzählt stolz davon, dass in Darmstadt jeder seinen Namen kennt (vgl. Kap. 6.4.3 – Don Corleone I). 270

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

und deswegen, bin ich froh dass=ich kein Alkohol trink /m/ ist=auch gut für mit Fitä für mein Training (3) Alkohol macht sehr aggressiv ((I. schmunzelt kurz etwas)) doch doch das macht sehr aggressiv /m/ wenn man=s in Maßen hält ja aber, die meisten halten das nicht in Maßen ((kurz etwas lächelnd)) /ja/ ich=meine ich geh jetzt immer noch weg und=ich trink Alkohol und da kommen Leute sind voll betrunken machen mich dumm an, ich hab Bewährung ich denke eh Mann geh doch, suchst du unbedingt Problem? ich hau von den Problemen ab die Probleme suchen mich /m/ und dann denk ich geh lieber und, Gott sei Dank, kann=ich das jetzt machen, geh du deinen Weg ich meinen Weg /m/ früher hätt=ich das nicht gemacht /m/ früher hätt jemand was zu mir gesagt gleich- egal ob äl- älter oder jünger (1) hätt gleich Schlägerei angefangen oder wie auch immer un pff-, und jetzt nie- nie wieder- /m/ niemand /m/ ist das Beste (6/44-7/05)

Murat positioniert sich hier als jemand, der Probleme anzieht; er wird von Leuten ›dumm angemacht‹. Warum dies so ist bzw. wie dies gekommen ist, beschreibt Murat nicht. In gewisser Weise scheint es normal zu sein, dumm angemacht zu werden, wenn Alkohol im Spiel ist. Scheinbar bewegt sich Murat (immer noch) in einem Umfeld, in dem Gewalt zum Alltag gehört. Der Körper dient als Ressource und über körperliche Gewalt wird Macht hergestellt (vgl. auch Spindler 2006: 275 f.). Hieran scheint sich auch heute – also zum Zeitpunkt des Interviews – wenig geändert zu haben. Murat beschreibt sich zwar nun als vernünftig; als einer, der an seine Bewährungsauflage denkt und seines Weges geht. Trotzdem empfindet er die Situation als »Problem« und bekennt an anderer Stelle auch, dass es ihm nicht immer gelingt, »von den Problemen ab[zuhauen]«: ich sag immer nur Schlägerei das kann immer wieder passieren ob du- ob=ich es will oder nicht /m/ ich mein wenn der mich schlägt ich kann ja nit zugucken in=ner Party wie=ich erzählt hab, Alkohol im Spiel der macht mich dumm an er will mich schlagen was soll ich machen? /m/ und=er will- versucht mich weiter zu schlagen da wehr ich=mich natürlich und dann schlag=ich ihn und dann heißt es warum hast du ihn geschlagen? /m/ (1) (30/15-30/20)

Offensichtlich weiß Murat auch heute noch keine andere Reaktion auf eine solche Provokation, die als Angriff auf seine Männlichkeit gelesen werden kann. Die einzige Möglichkeit besteht für ihn darin, sich mithilfe seines Körpers zu wehren und zuzuschlagen. Andere Ressourcen hat er nicht. Und ein anderes Verhalten scheint nicht in Frage zu kommen. Wenn er sich dann hierfür verantworten muss, so fühlt sich Murat offenbar auch heute noch ungerecht behandelt (vgl. 7.4.2 – Schneeballschlacht & Schlägerei I). Scheinbar hat er das Gefühl, für die Eskalation einer Situation gerade stehen zu müssen, in der es in seinen Augen keine andere Handlungsmöglichkeit gab.

271

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Schlägerei II – Kurdenangriff auf dem Marktplatz (31/10-32/08) Auch bei der nun folgenden Textstelle geht es um eine Schlägerei, die jedoch bereits vor der Inhaftierung stattfand. Murat war damals 16 Jahre alt. Ebenso wie meine anderen Interviewpartner/-innen habe ich Murat gegen Ende des Interviews nach seiner schwierigsten Lebenssituation gefragt (vgl. Kap. 3.2.2): was mich noch interessieren würde, was würdest du sagen, war die- (1) oder kannst du mir von der, schwierigsten Situation in deinem Leben erzählen? (30/49-31/01)

Murat reagiert auf diese Erzählaufforderung verunsichert. Aus der Frage nach der »schwierigsten Situation« wird für ihn eine Frage nach der »schlimmste[n] Situation«, wobei er das »schlimmste« sehr stark betont, als ob er sich vergewissern wolle, dass ich dies auch mit meiner Frage gemeint habe. Als ich hierauf nicht reagiere, fragt er nochmals nach, um sicher zu gehen, dass ich – ebenso wie zu Beginn des Interviews – meine Frage nicht weiter eingrenzen werde (vgl. Kap. 7.3). B: ((schmunzelt kurz etwas)) (1) meine schlimmste Situation (2) egal in was=für=ner Hinsicht I: ja was dir einfällt (5) (31/03-31/04)

Daraufhin überlegt Murat einige Sekunden lang und macht mir dann ein Erzählangebot, das er jedoch sofort wieder zurücknimmt, da es sich hierbei um »keine Situationen« handle. Murat nimmt also meine Frage sehr genau. Auch hier zeigt sich wieder sein ausgesprochen gutes und feines Sprachgefühl (vgl. u.a. Kap. 7.4.1). Da ihm dann nichts mehr einfällt, bittet er mich, wie schon zu Beginn des Interviews, ihm konkrete(re) Fragen zu stellen (vgl. Kap. 7.3). Auf diese Weise wird auch hier wieder die asymmetrische Interviewbeziehung durch ihn geschwächt; gleichzeitig jedoch – durch das damit verbundene kurzzeitige Siezen – die Hierarchie auch wieder hergestellt: schlimmste Situation, kann man viel drunter verstehn (1) ich sag=mal meine Verhandlungen waren meine schlimmste Sachen na- was heißt? das sind ja keine Situationen, ä: (3) mir fällt nichts ein, absolut nichts /m/ fragen Sie mich viellei-, frag mal mich mal vielleicht in irgend ne Richtung oder so vielleicht fällt mir was ein (1) ((kurzes Auflachen)) dir fällt auch \((I. schmunzelt:)) nichts ein\ ((gemeinsames Schmunzeln (1)) o: ich weiß=nicht meine schlimmste Situation (2) (31/04-31/10)

Murat möchte zwar kooperieren bzw. geht zumindest nicht auf direkten Konfrontationskurs, erwartet aber Hilfe von mir. Dieses Muster kristallisiert sich immer mehr als eine biographische Struktur heraus: Murat ist auf Hilfe von 272

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

außen angewiesen. Wenn er diese erhält, kann er auch den (Normalitäts-)Erwartungen entsprechen (vgl. auch Kap. 7.2). Auffallend ist hierbei, dass Murat – im Gegensatz zum Beginn des Gesprächs – es nun zumindest im zweiten Anlauf schafft, mich zu duzen. Und auch sonst scheint inzwischen eine gemeinsame Beziehungsebene hergestellt worden zu sein, was durch das ›Shakern‹ (»dir fällt auch [...] nichts ein«) und gemeinsame Schmunzeln deutlich wird. Schließlich erzählt Murat die Geschichte einer Schlägerei, wobei er Wert darauf legt, dass es sich nicht um eine ›einfache‹ Schlägerei gehandelt hat, sondern um einen gesellschaftlichen Konflikt, der auf dem Marktplatz ausgetragen wurde. Es ging um Kurden vs. Türken, wobei sich Murat hier klar als Türke verortet und sich qua seines Türkischseins als Experte in Kurdenfragen präsentiert: ja genau, ach ja genau da fällt mir schon noch was-, da war- wir ham mal-, da am Marktplatz ham wir mal ne Schlägerei gehabt /m/ waren das war so- das waren Kurden waren das (1) du weißt ja was Kurden sind /m/ ne? (1) u:nd das waren Kurden (31/10-31/13)

Das eigentliche Konfliktpotential bestand jedoch scheinbar nicht darin, dass hier Kurden und Türken aufeinander getroffen sind, sondern dass Murats Freund Gökhan zusammen mit seiner Freundin von deren Vater ›erwischt‹ wurde: der war, n Freund von mir halt, wir waren unterwegs und der war mit so=m Mädche zusammen und, das war- da war dann auf einmal irgendwie der Vater von dere da und so aber das sind so richtige PKK- (31/13-31/16)

Murat allerdings konstruiert aus dem familiären Konflikt Vater vs. Freund der Tochter einen ethnischen Konflikt. Möglicherweise möchte er auf diese Weise seiner Erzählung zusätzlich Gewicht verleihen, denn schließlich geht es darum, mir seine »schlimmste Situation« zu erzählen. Er macht seine Geschichte spannend. Der Vater des Mädchens taucht »auf einmal irgendwie« auf. Und er ist nicht einfach nur der Vater des Mädchens, sondern gehört der PKK an. Auch bezüglich der PKK präsentiert sich Murat nun wieder als Experte: weißt du was PKK ist so? /ach so, ja/ das sind, die Kurden wo im- St- m äm Stückchen von der Türkei haben wollen weil angeblich früher gab=s Kurdistan und, die führen ja mit uns Krieg über dreißig Jahre schon oder zwanzig Jahren, in der Türkei /m/ das waren halt solche Leute mit PKK, T Shirts und so (31/16-31/20)

Mit dem Verweis auf die PKK und seinem kurzen Abriss über die ›Kriegsgeschichte‹ zwischen Kurden und Türken, bedient sich Murat eines Diskurses, 273

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

durch den der Vater des Mädchens und die anderen »Leute«, die ihn offensichtlich begleiteten, allein schon durch ihre Verbindung zur PKK zu einer radikalen, verbotenen und auch gefährlichen Gruppe werden. Dieses Bild des gefährlichen Gegners wird von Murat zusätzlich bestärkt, indem er beschreibt, dass der Vater und seine Leute sogar PKK-T-Shirts getragen haben. Murat präsentiert sich hierbei als Türke, der – selbst auf dem Mannheimer Marktplatz – gegen die ›lächerlichen‹ Ansprüche der Kurden kämpfen muss. Auf diese Weise bereitet Murat eine Entschuldigungsmatrix vor, mithilfe derer die Schlägerei auf dem Marktplatz legitimiert werden und Murat sich als lediglich re-aktiv und unschuldig präsentieren kann (vgl. auch 7.4.2 – Schneeballschlacht & Alkohol und Aggressivität). Diese Präsentation als unschuldig wird von Murat auch in der Folge beibehalten. Er beschreibt eine ungerechte Situation, aus der er sich zunächst heraushalten wollte, aber in die er dann doch hineingezogen wird. Ältere kämpfen gegen Jüngere, es wird ein Messer gezückt und Murat soll als Geisel genommen werden: ´hab=ich=gesagt´ was geht hier ab? und das war=auch sechzehn war=ich da das war kurz bevor ich reingekommen bin genau, da waren=sie- da hat der Gökhan hat=er gehießen hat=er mit denen Krach angefangen weil=er=den total beschimpft hat /m/ und dafür hat- hat Gökhan so was geht mit dir=ab? lass mich in Ruhe oder ich, dreh gleich mal ( ) ab und dann, natürlich helf=ich auch, waren=sie- dann waren sie auf einmal zwei Ältere das waren Fünfzigjährige oder so /m/ ham wir=da uns geschlagen auf einmal kommt von hinten jemand, schlagt mir mit m Messerkante auf-, auf die Wange so ich mache das auf n Boden da hält er mir die Messer an die Kehle, ich ´was geht jetzt´ ab? ich wollt=mich bewegen da hat=er n bisschen fest gedrückt (1) (31/20-31/29)

Murat vergleicht die Situation, in die er geraten ist, mit einem Actionfilm: ´ich sag´- ey das ist Alptraum gewesen für mich ob=ich im Film wär /m/ ob mir hinterm Mars leben dass der, do mit so=m- so mit=m Messer bedroht mitten in der Stadt, dann macht der, a ja das Mädchen ist weg sag wo=ist die? du hast die entführt zu dem-, ä zu meinem Freund, und so oder ich nehm n halt mit der nimmt sogar, oder der nimmt mich als Geisel mit und so bis das Mädche ufftaucht ich sag was Geisel? wo lebscht du im Film oder was? Actionfilm ((haut mit der Hand auf seinen Oberschenkel)) Last action hero \((etwas schmunzelnd:)) oder so was da?\ (31/2931/36)

Gleichzeitig konstruiert er die Geschichte so, dass es tatsächlich klingt, als würde er eine Szene aus einem Actionfilm beschreiben. Er scheint sich selbst überbieten zu wollen und möchte mir eine wirklich schlimme Situation präsentieren. Möglicherweise hat Murat hier tatsächlich eine für ihn sehr schwierige Situation erlebt und möchte mithilfe des Actionfilm-Szenarios sicher ge274

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

hen, dass ich die volle Tragik des Geschehens auch verstehe. Vor allen Dingen aber scheint es eine Geschichte zu sein, mit der Murat mir noch einmal am Ende des Interviews verdeutlichen möchte, wie wenig er eigentlich dazu konnte, dass er in so eine Situation geraten ist: ja und dann, hat er dem andern n bisschen so reingeschnitten, dem Gökhan, der hat schon bisschen geblutet, und da sind noch mehr Leute gekommen Jugendliche, Ältere da waren ze- zehn Leute und wir waren zu zweit ((haut mit der Hand auf)) und da=haben=sie=uns, an Haaren gezerrt wie noch was und so und da hat Gökhan gesagt ey lasst n Murat gehn der hat nichts damit zu tun und=so /m/ nehmt mich mit, da wollten sie mich auch nit gehen lassen (1) na da haben- da haben- da haben die mich so hingestumpt und=da ich hab gesehen der hat Messer eingesteckt so, ich hab den von hinten getreten und die andern waren schon- der Gökhan und so (1) war schon mit den anderen- die ham den schon mitgenommen da waren noch zwei drei Leute die, da hab=ich die getreten und bin dann abgehauen was soll=ich sonst machen? /m/ sind zu viele, ja und dann sind die wieder in die Richtung gerannt bin=ich hinterher gerannt und=wollt gucken in was für=n Auto die einsteigen und so (1) ja und da hab=ich erst mal gedacht, na das kann nicht sein, war=ich jetzt in nem Film? oder- ((Husten (1)), oder bin=ich jetzt total (1) durchgedreht oder so weil das war für mich Alptraum weil so was hab=ich noch nie erlebt /ja ja/ hier in Deutschland (1) hier in Deutschland diese Bergkurden da machen hier den-, die Dicke, wäsche? verstehst du? aber das war sehr schlimme Situation weil ich=hab in dem Moment nicht gewusst was=ich machen sollte wo=ich Messer am Hals=hatt /m m/ und dann immer fester gedrückt immer fester, da hab=ich auch mal zwischenzeitlich mal so Stich in Rücken=gemerkt ich=glaub auch mit=m Messer oder so (1) aber stell dir mal vor ich war damals noch sechzehn oder so, wegen so ner Scheiße /m m/ (1) ´na´ (1) das war wirklich n sehr scheiß- (1) Tag war das ja (31/36-32/08)

So wie bei der Erzählung von der Schneeballschlacht auf dem Schulhof präsentiert sich Murat hier als unschuldig; als einer, der in etwas hineingeraten ist, der sich wehren musste, weil er als Türke angerufen wurde. Bei der Schneeballschlacht war es sein Freund Michael Tatrowski, der ihn daran erinnert hat, dass er sich als Türke verteidigen muss. Hier sind es nun die Männer in PKK-T-Shirts, deren Auftauchen und unfaires Angreifen in Überzahl Murat dazu bringen, sich – als Türke – zur Wehr zu setzen.

Kräftemessen mit der Polizei (13/15-13/47) Auch bei der folgenden Textstelle handelt es sich um eine längere Erzählung. Sie wird von Murat im Interview zunächst einmal als Beispiel angeführt, mit dem er mir zeigen möchte, dass es in Mannheim immer noch »alte Nazis«

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

gibt bzw. dass vor allem ältere Polizisten »Nazis« seien.19 Vordergründig geht es auch um dieses Thema, doch eigentlich ist es eine Erzählung, mit der Murat sich abgrenzt und selbst verortet. Es geht um Identität, Nationalität und Männlichkeit. Murat beginnt die Erzählung, indem er sie zunächst einmal zeitlich eindeutig lokalisiert und bestimmte Eckdaten nennt, mit deren Hilfe er versucht, mir als Interviewerin die Situation zu verdeutlichen: (1) oder zum Beispiel vor zwei Tagen (Galatasaray) hat Türkei, Champion gemacht Fußballmannschaft /m/ (13/15-13/16)

Scheinbar geht Murat davon aus, dass ich mit dem Namen der Mannschaft (Galatasaray Istanbul) nichts anfangen kann und vereinfacht daher den Sachverhalt für mich in: »hat Türkei, Champion gemacht«, wobei der Sieg von »Galatasaray« von Murat in einen nationalen Sieg für die ganze Türkei umgedeutet wird.20 Doch auch nun ist er sich offensichtlich noch nicht sicher, ob ich überhaupt verstanden habe, dass es um Fußball geht und er ergänzt daher: »Fußballmannschaft«. Er führt damit mich als weibliche Interviewerin in ein männlich dominiertes Themenfeld ein. Gegenüber einem Mann hätte er wahrscheinlich den Einstieg in die Geschichte anders gewählt, doch es scheint ihm wichtig zu sein, dass ich verstehe, um was es geht. Erst nachdem ich mit einem »m« mein Verständnis signalisiere, beginnt Murat mit der eigentlichen Geschichte: wir sind zum Wasserturm gefahrn /m/ mit=m-, hat noch n Freund sein, nagelneuen Benz geholt und Zehn- nein, irgend n cel- Ca- Cabrio war=das n gutes eigentlich sehr schön /m/ (13/16-13/18)

Doch auch hier sind – hiervon scheint Murat zumindest auszugehen – wieder einige Erklärungen nötig, damit ich als weibliche Interviewerin auch tatsäch19 Zuvor hat Murat berichtet, dass er bestimmte Weinfeste in der Gegend nicht besuche, da dort zu viele »Nazis« seien, wobei diese »neuen Nazis« nichts mit den »alten« zu tun hätten: »Gott sei=Dank gibt=s hier in Deu- hier in Mannheim keine Nazis /m/ (1) gibt=s hier? bestimmt alte Nazis diese neue Zeit ist ja diese Neonazis /m/ die wissen ja net was Sache ist, die hassen einfach alle Ausländer (1) ich=hab letztens ä: Hitlers- ä Aufstieg des Bösen geguckt /m/ da geht=s ja um was ganz Anderes wie die jetzt diskutieren /m/ komplett anders (1) ja=und da, frag=ich mich wie die noch sagen können \((etwas schmunzelnd:)) dass sie Nazis sind,\ ((I. schmunzelt auch kurz)) na ja die Nazis sag=ich=mal das sind die, Polizisten wo schon älter sind und so oder auch auch wo, keine Polizisten sind wo in der Wohnung hocken, gibt viele Nazis« (13/07-13/15). 20 In der Turkcell Süper Lig wurde Galatasaray Istanbul im Mai 2006 Türkischer Meister. Murat scheint sich auf dieses Ereignis zu beziehen, wobei er »Türkei« möglicherweise in diesem Zusammenhang auch als Synonym für den Namen der Istanbuler Mannschaft verwendet. 276

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

lich verstehe, was Murat mir erzählt. Denn nach dem Sieg von »Galatasaray« ist Murat zusammen mit (einem) Freund(en) in einem »nagelneuen Benz«, einem Mercedes CL, zum Wasserturm gefahren. Murat betont hier mehrfach die Besonderheit des Wagens und damit auch die Besonderheit seiner Freunde. Denn diese scheinen wohlhabend zu sein. Sie besitzen ein Cabrio der teuersten Modellklasse und damit finanzielle Potenz. Statussymbole und Geld sind offenbar in Murats Clique wichtig, und er möchte mich mit dem Verweis auf das CL Cabrio beeindrucken. Möglicherweise geht es hierbei auch – ähnlich wie beim ›Abrippen‹ und ›Klamotten holen‹ (vgl. Kap. 7.4.2) – um den Wunsch dazuzugehören bzw. sozial aufzusteigen. Doch ich reagiere in keiner Weise auf die Beschreibung dieses ›tollen‹ Autos, weshalb Murat noch einmal für mich zusammenfasst und damit erneut Männlichkeit herstellt: »Cabrio war=das n gutes eigentlich sehr schön«. In diesem Cabrio werden Murat und sein(e) Freund(e) von der Polizei angehalten: was=ist? Bullen halten uns sofort an nur weil=ich die Fahne in die Luft gehalten=hab und=ich=hab gehupt (1) (13/19-13/20)

Die Bezeichnung »Bullen« deutet bereits darauf hin, dass Murat und/oder sein(e) Freund(e) kein gutes Verhältnis zur Polizei hat bzw. haben. Sie fühlen sich durch das Anhalten ungerecht behandelt, scheinen gleichzeitig jedoch nicht sonderlich überrascht vom Verhalten der Polizei.21 Murat präsentiert sich hierbei wieder einmal als der Aktive und gleichzeitig ungerecht Behandelte (vgl. Kap. 7.4.2). Diese ungerechte Behandlung wird von Murat durch die Strafmaßnahme, die ihnen (angeblich) von der Polizei erteilt wird, und den Verweis, dass nur sie nicht am Wasserturm feiern dürfen, unterstrichen: Auto abstellen eine Stunde müsst ihr warten [...], hab=ich=gesagt die Bayern hatten letzte Woche gewonnen ich=war auch im- am Wasserturm ich=hab mit denen Fotos gemacht und so, warum tun sie=uns das nit gönnen? (13/20-13/23)

Durch das »uns« positioniert sich Murat als ›Galatasaray-Fan‹ bzw. dadurch dass er zu Beginn der Sequenz den Sieg der Istanbuler Mannschaft zu einem nationalen Sieg für die Türkei erklärt hat, eventuell auch als Türke. Gleichzeitig macht er jedoch deutlich, dass er auch mit den Bayern gefeiert hat; er sich also durchaus auch in Deutschland verortet.

21 Das Interview fand im Mai 2006 statt, also einen Monat vor der WM in Deutschland, bei der in allen Städten und von allen nationalen Gruppen AutoKorsos gefahren und Flaggen gehisst wurden. 277

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Die Polizisten scheint Murat – zumindest seiner Darstellung zufolge – mit dieser Argumentation beeindruckt zu haben. Sie sagen nichts und daher setzt Murat noch eines obendrauf: da ham sie nichts gesagt /m/ (1) also da ham=wir auch=gesagt zeigen Sie=uns das Gesetzbuch wo das drin steht dass man hupt dass man jubelt dass man das Auto abstellen muss (1) \((mit verstellter Stimme)) ho: wenn=de=nit hö:rst-\ was weiß=ich was (13/23-13/26)

Auch hier präsentiert sich Murat also wieder als der Aktive und mutig Handelnde, er akzeptiert aber gleichzeitig die Autorität der Polizei. Denn er und seine Freunde hätten sich theoretisch auch einfach über das Verbot hinwegsetzen und weiterfahren können. Murat aber lässt sich auf das (verbale) Kräftemessen mit der Polizei ein und versucht die Polizisten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Hierbei argumentiert er innerhalb des Systems, erkennt also dessen Gültigkeit an. Durch die Inszenierung der Interaktion,22 die dadurch den Charakter eines Kasperletheater bekommt (»\((mit verstellter Stimme)) ho: wenn=de=nit hö:rst-\«) überzeichnet er auf ironische Weise den Polizisten und unterstreicht hierdurch nochmals die ungerechte Behandlung, die ihm widerfahren ist. Gleichzeitig präsentiert er sich hierdurch jedoch auch – vermutlich eher unfreiwillig – als Junge bzw. Jugendlicher, dem gegenüber ein Erwachsener als Autoritätsperson auftreten kann. Doch dieses Bild wird von Murat sofort wieder zurecht gerückt: und, da hab=ich=gesagt Sie sind doch eh nur neidisch weil Sie kein Türke sind und so (13/26-13/27)

Mit dieser Aussage provoziert Murat den Polizisten und definiert gleichzeitig den Konflikt zwischen sich und dem Polizisten um: aus einer Auseinandersetzung zwischen Polizei und jugendlichen Fußballfans wird eine Auseinandersetzung Türken vs. Nicht-Türken. Murat unterstellt dem Polizisten, dass dieser ihn und seine(n) Freund(e) nur angehalten hat, weil sie Türken sind. Auf diese Weise konstruiert er sein Türkischsein zum Problem bzw. als Begründung dafür, warum er ungerecht behandelt wird. Er unterstellt dem Polizisten Vorurteile gegenüber Türken; ein anderer Grund für das Angehaltenwerden durch die Polizei ist für ihn offenbar nicht ersichtlich. Murat konstruiert sich also hier als jemand, der diskriminiert wird. Darüber hinaus wird erneut deutlich, welch große Bedeutung für Murat seine nationale Zugehörigkeit hat. Er scheint stolz darauf zu sein, Türke zu sein. – Zumindest tritt er so nach außen hin auf. 22 Murat spricht hier mit verstellter, tieferer Stimme, die – nicht zuletzt durch das »ho:« – an die Stimme des Weihnachtsmannes erinnert. 278

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

In der nun folgenden Sequenz unterbricht Murat seine Erzählung und entschuldigt sich mir gegenüber indirekt für sein Verhalten gegenüber der Polizei: normalerweise sag=ich so was net- niemals /m/ weil=ich bin kein Rassist Deutsche ist Deutsche Türke ist Türke Italiener ist Italiener von jedem Land gibt=s solche Leute solche Leute /m/ aber wenn solche Leute kommen? (13/28-13/30)

Murat präsentiert sich hier als jemand, der sich lediglich gegenüber der Polizei gezwungen sah, einen nationalistischen Diskurs zu bedienen, verstrickt sich dabei jedoch weiter in diesen. Gleichzeitig macht er deutlich, dass er niemand ist, der sich unterordnet. Wenn er von der Polizei ungerecht behandelt wird, und von ihnen – seiner Wahrnehmung nach – zum Türken gemacht wird, dann nimmt er diese Anrufung an und wendet sie zu seinen Gunsten bzw. nutzt sie für sich. Die Anrufung, die in diesem Fall sogar nur in Murats Vorstellung stattgefunden hat – wendet sich wie ein Bumerang und macht aus dem angerufenen Objekt ein handelndes Subjekt. In der Ethnographie von Hermann Tertilt (1996) wird ein vergleichbarer Prozess von einem Jugendlichen folgendermaßen beschrieben: »[...] Ich würde sagen, die Deutschen haben damit angefangen. Sagen wir vor zehn Jahren haben die Deutschen damit angefangen: ›Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg, unsere Wohnungen weg...‹ [...] So haben sie angefangen: ›Scheißtürken.‹ Das haben sie in die Welt gesetzt. Und die Türken haben dann angefangen: ›Ihr sagt zu uns Scheißtürken, so, dann machen wir jetzt auch Scheiße: Zieh mal deine Jacke aus!‹ So hat es angefangen.« (Tertilt 1996: 233)

Im Fall von Murat sieht dieses sich zur Wehr setzen so aus: (1) ja ich hab=hier ne Türkei- Türkeifahne tätowiert, hab=ich=s rausgeholt da: hab=ich gesagt guck \((schmunzelnd:)) schäm dich doch dass du=n Deutscher bist ((I. schmunzelt auch kurz)) (13/30-13/33)

Murat präsentiert sich in seiner Erzählung gegenüber dem Polizisten, aber auch beim Erzählen mir gegenüber als stolzer Türke. Er hat sogar eine Türkeifahne auf seinem Oberarm tätowiert, identifiziert sich also in so starkem Maße mit der Türkei, dass er diese Identifikation ein für alle mal in seine Haut einschreiben hat lassen. Gleichzeitig bestätigt der Ort der Tätowierung die vorangegangene These, dass Murat zwar die Anrufung als Türke annehmen kann und dann auch diese stolz, sozusagen als ›Waffenschild‹ vor sich herträgt, aber im Alltag ist die Tätowierung erst einmal nicht sichtbar. Es ist also ein Identitätsmerkmal, das in Abgrenzung zu anderen wichtig ist und mit dessen Hilfe sich Murat immer wieder seiner Zugehörigkeit vergewissern 279

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

kann. Aber es ist auch ein Identitätsmerkmal, das im Alltag nicht behindert: Er kann es herausholen, aber auch wieder verdecken. Darüber hinaus präsentiert sich Murat nun sowohl beim Erzählen mir gegenüber als auch in der Erzählung gegenüber dem Polizisten als erwachsener (und potenter) Mann. Wenn er sich zuvor noch (unfreiwillig) als jugendlicher Fußballfan präsentierte, der sich auf ein verbales Kräftemessen mit der Polizei einlässt, dabei aber die Autorität des erwachsenen Mannes anerkennt, so ändert sich dies nun mit der Enthüllung der Tätowierung auf seinem Oberarm. Im Interview wird dieses Herstellen von potenter Männlichkeit zusätzlich dadurch verstärkt, dass Murat an dieser Stelle tatsächlich seinen Oberarm frei macht und mir die Tätowierung auf seinem durchtrainierten Arm zeigt, während er gleichzeitig davon spricht, dass er seine Türkeifahne »rausgeholt« habe. Mit dem Ausruf, »schäm dich doch dass du=n Deutscher bist«, spielt Murat möglicherweise auf Deutschlands nationalsozialistische Vergangenheit an bzw. auf den – vor der WM in Deutschland – damit verbundenen nicht offen präsentierbaren Nationalstolz und eher distanzierten Umgang mit deutschen Fahnen und ähnlichem. Murat scheint also zu wissen, womit er den Polizisten treffen kann bzw. woher dessen vermeintliches Neidgefühl kommt, das hier im Anhalten von Murat und seinen Freunden resultiert. Er fordert den Polizisten bewusst heraus und streut – wie dies die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Zusammenhang mit dem hessischen Wahlkampfthema Jugendgewalt Ende 2007, Anfang 2008 reißerisch-provokativ formulierte – »eine handvoll Migranten-Salz in eine offene deutsche Wunde« (Lehnartz 2008).23 Susanne Spindler hat darauf verwiesen, dass die Polizei von männlichen Adoleszenten in sozialer Randständigkeit als »würdige[r] Gegner« (Spindler 2007b: 124) begriffen wird. Polizisten werden als Gegenbild konstruiert: Sie gelten als Repräsentanten staatlicher Macht und hegemonialer Männlichkeit, an der sich die Jugendlichen abarbeiten. Durch Auseinandersetzungen mit der Polizei »versuchen sie, sich überlegener Männlichkeit anzunähern« (Spindler 2007c: 263; vgl. auch Kersten 2003: 78 ff.). Hierdurch erkennen die Jugendlichen diese Form männlicher Macht an, »auch wenn sie das Abarbeiten daran zu Verlierern prädestiniert« (Spindler 2007a: 297; vgl. auch Kap. 2.4.2). Denn letztlich kann die Polizei weder mit gewalttätigen noch mit sprachlichen Mitteln angegriffen werden und die Auseinandersetzungen resultieren in Kriminalisierungsschüben, die Inhaftierungen zur Folge haben (vgl. Spindler 2006: 261 ff.; Tekin 2007: 292).

23 Die FAS verwies in diesem Zusammenhang auf sehr polemische Art und Weise auf das »fehlende Selbstwertgefühl« der Deutschen, das ihn »zum Lieblingsopfer« der Jugendlichen mit Migrationshintergrund mache. 280

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

Murats Provokation scheint jedoch – so präsentiert es zumindest Murat in seiner Erzählung mir gegenüber – Erfolg zu haben. Die Erzählung endet damit, dass Murat und sein(e) Freund(e) die Polizisten überlistet haben. Sie sind aus dem Auto ausgestiegen und zu Fuß mit der Türkeifahne um den Wasserturm gelaufen; zumindest ist dies Murats Interpretation. Denn aus Sicht der Polizisten ließe sich die Geschichte auch so auslegen, dass die Jungs der Polizei Folge geleistet und ihr Auto tatsächlich stehen gelassen haben. Murat aber überschlägt sich förmlich beim Erzählen, um mir den von ihm konstruierten Clou der Geschichte mitzuteilen: ham sie nichts gesagt, normalerweise die würden mir den Hals umdrehn, aber da sind zu viele Türken mit wem sollen sie sich kümmern? jeder hat geflucht ((I. schmunzelt kurz etwas)) ja aber was soll- mer- was erwarten die? /m/ wir waren sechs Autos ham die an-, ja sechs sieben Autos (1) alle sechs sieben Autos ob- obob das jetzt von dene sechs die im Auto abhängt, /m/ dass die Kon-, dass der Konvoi sich auflöst ob das nur von uns abhängt /m/ gönnen sie=uns den Spaß net, sind=wir ausgestiegen mit der Türkeifahne um=den Wasserturm ((schmunzelt, I. stimmt mit ein (1)) (13/33-13/40)

In der Coda seiner Erzählung setzt sich Murat dann noch einmal mit dem Thema nationale Zugehörigkeit auseinander: ich=meine ich hab=auch mit Deutschland gefeiert und so (1) ich bin ja=auch hier geboren und, ich=hab-, ich sag zwar ich hab türkisches Blut ja? aber, ich will auch irgendwie in=ner Hinsicht Deutscher sein ich mein ich hab mich hier an die Kultur angepasst /m/ ich weiß=nicht wie das, Leben in der Türkei so ist sag=ich mal /m/ ich=weiß nur dass halt schweres Leben ist (1) aber hier ist ganz andere Kultur und /m/ ja ich hab=mich auch dementsprechend angepasst ja, was ist?, ich hab ich hab jetzt zwei Jahre Aufenthalt, ich krieg nicht=mehr unbefristet /m/ (1) (13/40-13/47)

Anscheinend möchte er das Bild von sich, von dem er glaubt, dass es durch seine Erzählung entstanden ist, mir gegenüber nicht so stehen lassen. Es ist ihm wichtig, sich noch einmal differenzierter zu verorten (vgl. Kap. 7.4.1). Hierzu weist er zunächst einmal darauf hin, dass er auch mit Deutschland gefeiert hat, sich also auch mit Deutschland identifiziert. Sein Türkischsein ist für ihn nicht die einzige und ausschließliche Identifikationsmöglichkeit, was er damit erklärt, dass er in Deutschland geboren wurde und »auch irgendwie in=ner Hinsicht Deutscher sein« will. Murat positioniert sich hier als ›Anderer‹ bzw. ›Fremder‹, der »türkisches Blut« hat und sich an die deutsche Kultur anpassen musste. Auf diese Weise reproduziert er kulturalisierende und ethnisierende Diskurse, die sich sogar in seine Alltagssprache eingeschrieben haben. Denn im herrschenden Diskurs

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

wird Zugehörigkeit – trotz verändertem Staatsangehörigkeitsgesetz – noch immer über Blut (ius sanguinis) definiert. Gleichzeitig macht Murat hier auch deutlich, dass ihn außer seinem »Blut« nicht viel mehr mit der Türkei verbindet: er weiß lediglich, dass das Leben dort schwer und die Kultur ganz anders ist. Auf diese Weise nimmt er zwar die Positionierung als ›Anderer‹ bzw. ›Fremder‹ an, macht jedoch sehr dezidiert deutlich, dass er dies auch in der Türkei wäre. Und eigentlich möchte er »irgendwie in=ner Hinsicht Deutscher« sein. Diese Position jedoch wird ihm gesetzlich verwehrt und so schnell wird er noch nicht einmal eine unbefristete Aufenthalts- bzw. Niederlassungserlaubnis in Deutschland erhalten. Es bleibt ihm also gar nichts anderes übrig als die Position des ›Fremden‹ mit »türkische[m] Blut« anzunehmen (vgl. auch Kap. 7.4.3). Selbst sprachlich lassen sich diese gegenläufigen Verortungen nachzeichnen. So verwendet Murat an einigen Stellen in dieser Erzählung sehr gewählte Ausdrücke, die – durchmischt mit Jugendslang und Mannheimer Dialekt – auf sehr gute Sprachkenntnisse und einen geübten Umgang mit der Sprache verweisen (z.B. »ich hab=mich auch dementsprechend angepasst« (13/4513/46)). An anderen Stellen scheint er jedoch bewusst eine gebrochene Sprache einzusetzen, mit der er sich zusätzlich als Türke verortet. Er inszeniert sich also mithilfe des ›Türkenslangs‹ bzw. der »Kanak Sprak«, wie Zaimoglu (1995) sie nennt, als Türke in Deutschland; nimmt also auch sprachlich die Anrufung an (vgl. auch Kap. 7.4.1 & 7.4.2).

7.4.3 Selbstverortung als Türke? Diese ambivalente Verortung als Türke wird auch in anderen Textstellen deutlich. Auch hier nimmt Murat scheinbar die Position des Türken an, macht jedoch gleichzeitig deutlich, dass es sich dabei um eine Fremdpositionierung handelt bzw. er eben doch auch kein ›richtiger Türke‹ ist.

»Keiner soll meine Familie anfassen« (34/45-35/06) Die folgende Textstelle folgt auf eine Erzählung, in der es darum geht, dass Murats Eltern zusammen mit seinem jüngeren Bruder vor sieben Jahren einmal mit dem Zug nach Worms gefahren sind. An der Güterhalle in der Nähe des Hauptbahnhofes sind sie einem »Besoffene[n] [...] mit so ner Frau« (34/10) begegnet, von denen Murats Familie zunächst verbal (»scheiß Türke scheiß Türke« (34/14)) und schließlich tätlich angegriffen werden: »der zieht mein Vater an den Haaren die Frau springt auf meine Mutter« (34/2134/22). Murat setzt sich daraufhin mit der Frage auseinander, ob das »richtige Deutsche« (34/27) waren und wo »ihr Stolz« (34/28) geblieben ist. Schließlich mündet die Erzählung in folgender Argumentation: 282

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

keiner soll meine Familie anfassen das=ist wirklich /m/ Familie kommt an erster Stelle natürlich bring ich den nicht um oder so, umbringe dann komm=ich in der Knast was hab=ich davon? nichts, (34/45-34/47)

Murat präsentiert sich hier als jemand, dem seine Familie wichtiger als alles andere ist und der sie gegen mögliche Angreifer verteidigen würde. Provokativ spielt er hierbei mit Diskursen, die ›Türken‹ eine ›Kultur der Ehre‹ unterstellen, welche mit der Zustimmung zu Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen einhergeht (vgl. Kap. 2.3.4). Denn Murat würde einen solchen Angreifer – so zumindest seine Rhetorik – zwar nicht umbringen, aber er würde dies nur deshalb nicht tun, weil er nicht in den »Knast« möchte. Dann jedoch gibt er zu Bedenken, dass – egal was er auch tun würde – letztlich er derjenige wäre, der für schuldig erklärt wird: ich=mein wenn=ich den auch schlag- auch wenn der anfängt, ich verschlag ihn obwohl der angefangen hat (1) ich bin Schuld (1) verstehste was ich=meine? das=ist(1) m (1) mm das ist wirklich blöd ne? (34/47-34/50)

Hier geht es nun wieder um das Thema ungerechte Behandlung (vgl. 7.4.2 – Schneeballschlacht & Schlägerei I), wobei Murat diese damit erklärt, dass er nicht nachweisen könnte, wer angefangen hat: und dann kann=ich das=nit nachweisen und so und dann heißt es ja, /m/ ich sag dann immer wieder die denken dann a Türke Türke egal (1) weil (die sind- mit=de Re-) Gesetze ist noch schlimmer geworden (1) und (1) Abschiebung ist jetzt noch früher, und dies und das (1) und da sagen die Deutschland ist n freies Land, wo? ((schmunzelt (1)) ((Schnalzen)) /m/ (2) ´ich=meine´ ich kenne so viele Deutsche die sind so korrekt die sind (1) oberkorrekt (2) aber, warum sind nicht alle so? /m m/ Rassisten das=ist halt Diskriminierung /ja/ das=ist Scheiße (34/50-35/06)

Letztendlich würde es dann heißen »Türke Türke«, was für Murat offenbar impliziert, dass im Zweifelsfall ihm die Schuld gegeben wird. Er kann einer Positionierung als »Türke« nicht entkommen, selbst wenn es für ihn nur eine von mehreren möglichen Positionierungen ist. Und letztlich muss Murat auch immer Angst haben, auf eine Positionierung als Türke zurückgeworfen zu werden, da diese mit einer Bedrohung durch Abschiebung einhergeht.

Türke (mit Mangel) (43/02-43/18) Auch in einer Argumentation ganz am Ende des Interviews wird diese Selbstverortung noch einmal deutlich. Murat positioniert sich auch hier scheinbar eindeutig als Türke; allerdings als Türke mit einem Mangel:

283

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

stell dir mal=vor als Türke kann=ich nicht mal ne komplette Nationalhymne ne? ((I. lächelt (1)) na das=ist halt- das mein=ich damit /m/ so hab=ich nichts über meine Religion und über meine Kultur gelernt und über mein Land /m/ weil die so nachlässig sind, /m/ für was sind=die da? das die mir mein Land beibringen ä zeigen wie=das ist /m/ und so (1) ´war nichts Großartiges gewesen eigentlich´ /m/ aber trotzdem ich weiß von meinem Land eigentlich, das Wichtigste alles /m/ von meiner Religion auch, ich bin=auch früher nur in die Moschee gegangen mit sechs, bis=ich dreizehn war (1) war=ich nur in der Moschee jeden Tag hab Koran immer durchgelesen und=so, hab türkische Übersetzung durchgelesen (1) meine Kindheit war= eigentlich auch halt mit dem Mustafa (und mit ) mit meinen besten Kindheitsfreunden war auch, nur in der Moschee /m/ war immer in der Moschee, /m/ na (1) das war auch ne schöne Zeit und dann, fupp von einem Tag auf=n anderen wo=ich auf Hilda war nichts mehr Moschee (1) Geld abge- und dies was=auch immer /m/ bereu ich sehr dass=ich, die Moschee hingeschmisse hab /m/ (1) ich mein ´ich hätt=s n bisschen´ lockern- lockern können aber (1) komplett hinschmeißen ist=Scheiße gewesen /m/ (2) ´na ja´ (43/02-43/18)

Murat scheint ein bestimmtes Bild im Kopf zu haben, wie man »als Türke« sein sollte (vgl. 7.4.2 – Schneeballschlacht) bzw. was man »als Türke« können und wissen sollte. Er scheint sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt zu haben und erlebt sich als Türke mit einem Mangel, wobei das Stocken und mehrfache Ansetzen darauf hindeutet, dass das Thema für Murat nicht einfach oder zumindest mit Emotionen verbunden ist: na das=ist halt- das mein=ich damit /m/ so hab=ich nichts über meine Religion und über meine Kultur gelernt und über mein Land (43/03-43/05)

Dieser Mangel wird von Murat jedoch bereits in der nächsten Sequenz wieder relativiert, denn »das Wichtigste« weiß er doch. Er kann bzw. möchte das Bild von sich als Türke mit einem Mangel also nicht stehen lassen. Dabei wird nochmals deutlicher, was für Murat ›Türke sein‹ bedeutet: sein Land, seine Kultur und seine Religion zu kennen. Dabei scheint es für Murat keine Rolle zu spielen, dass er nie in ›seinem‹ Land gelebt hat. Er bewegt sich – so ließe sich folgern – innerhalb eines Diskurses, der z.B. auch vom türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan während seines Deutschlandbesuches im Februar 2008 und den Medien, die über diesen Besuch berichteten, (re-)produziert wurde. Erdogan hatte hier bei einer Rede in der Kölnarena »seine Landsleute« – wie die ca. 15.000 Zuhörer in den Medien genannt wurden – zur Integration aufgerufen, warnte sie aber vor Anpassung (vgl. z.B. Graalmann 2008), woraufhin u.a. der CSU-Vorsitzende Erwin Huber monierte, dass Erdogan »türkischen Nationalismus auf deutschem Boden« predige (Hermann 2008).

284

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

Murat präsentiert sich darüber hinaus auch in diesem Textausschnitt zunächst als passiv (vgl. Kap. 7.4.2); »weil die so nachlässig sind«, hat Murat nichts über sein Land gelernt.24 Er selbst konnte hierauf keinen Einfluss nehmen. Auch für sein Fernbleiben von der Moschee konnte Murat nichts: und dann, fupp von einem Tag auf=n anderen wo=ich auf Hilda war nichts mehr Moschee (43/14-43/15)

Es ist einfach so passiert, als er auf die Hauptschule kam. Doch dann ändert sich plötzlich seine Präsentation: bereu ich sehr dass=ich, die Moschee hingeschmisse hab (43/16-43/17)

Murat übernimmt hier zum ersten Mal Verantwortung für sein Tun. Er hat die Moschee »hingeschmisse[n]«, ist nicht mehr hin gegangen, und dies bereut er. Interessanterweise kann er in diesem Zusammenhang dann auch nicht mehr aussprechen, was er eigentlich getan hat (»Geld abge- und dies was=auch immer« (43/15-43/16)); denn dies hieße ja in der Konsequenz, dass er auch hierfür die Verantwortung übernehmen müsste.

7.4.4 Konflikte im Gefängnis Obwohl von Murat jeder Konflikt zu einem ethnischen Konflikt umgedeutet wird und er sich immer wieder als Türke positioniert bzw. von anderen so positioniert wird, spielen nationale bzw. ethnische Zugehörigkeiten im Gefängnis scheinbar keine Rolle. Als ich ihn im Interview direkt auf seine Zeit im Gefängnis anspreche, spricht er von seiner »Knast#zeit« als »schöne« bzw. »gute Zeit«: #ja meine Knast#zeit war eigentlich, ne schöne Zeit, ne gute Zeit /m/ also ´pf´ ich hab=mich mit jedem gut verstanden mit-, da gibt=s ja auch Cliquen da Cliquen da das- /m/ und das sind-, fünf Häuser sind das immer, die haben immer getrennt Hofstunde und so /m/ und ich=hab- ich hab mich mit jedem gut verstanden und da ham=wir-, von Haus zu Haus sieht man=sich immer nur wenn man Fußball AG hat, Volleyball AG, halt so AGs und dann /ja/ wird von ganzen Häusern die Gruppen ausgewählt und da treffen sich die halt (17/03-17/09)

24 Es ist unklar, wen Murat mit »die« gemeint hat. Es könnte sein, dass er von seinen Eltern oder auch von der Moschee spricht. Da es zuvor im Interview um den Türkischunterricht an der Grundschule ging, ist es jedoch wahrscheinlicher, dass Murat mit »die« seine Schule bzw. seine Lehrer/-innen gemeint hat. 285

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Murat betont hier mehrmals, dass er sich »mit jedem gut verstanden« hat, obwohl es Cliquen gab und die Insassen auf verschiedene Häuser verteilt waren. Doch scheinbar hat er sich ganz auf die verschiedenen Arbeitsgemeinschaften konzentriert und ist in den Angeboten des Gefängnisses förmlich aufgeblüht: ´und´, ich bin-, ich war Volleyball AG Fußball AG Theater AG wenn=Sie wollen ich geb mal Ihnen ne Videokassette, da ist ne Theateraufführung /aha/ halt hinten dran läuft die Musik und wir haben aufgeführt und so und A- /aha/ wir ham Abba nachgemacht und, die Titanic mit=m Schlauchboot und so unsere Sozialarbeiterin und so, das ging, drei vier Monate und, da ham=wir die Generalprobe aufgenommen /aha/ ja=und das=hab=ich noch zu=Hause da wo=ich=das geguckt weil meine Mutter das gu- ich=hab angefangen zu weinen, ne? ehrlich=jetzt weil=ich war stolz auf dass=ich=es so gut rumgekriegt hab (17/09-17/17)

Schlägerei (8/43-9/08) An anderen Stellen im Interview spricht Murat jedoch auch von Konflikten im Gefängnis: bei mir, in der WG war-, ich hab auch Schlägerei gehabt aber nur mit dem Vergewaltiger wo bei mir auf der WG war, (8/43-8/44)

Murat berichtet hier von einer Schlägerei bzw. von mehreren Schlägereien, die er in der Jugendstrafanstalt hatte. Dabei betont er jedoch, dass es nicht allgemein zu Schlägereien kam, sondern dass er lediglich mit einem anderen jungen Mann aneinander geraten ist, der offenbar wegen Vergewaltigung verurteilt worden ist. Fast klingt dies wie eine Entschuldigung: Ein »Vergewaltiger« hat nichts anderes verdient. In der Folge argumentiert Murat dementsprechend auch nicht über die Angemessenheit dieser Schlägerei, sondern über das Strafmaß bei Vergewaltigungen: die haben, Kinder vergewaltigt und=so kriegen nur ein Jahr die kriegen Personenschutz die kriegen das, ich hab nur jemand nit=mal geschlagen ich hab dem nur, das Geld weggenommen sag=ich mal so ((ein Telefon klingelt)) und ich krieg mehr wie der /m/ wo ist das? wo gibt’s so was? (8/44-8/48)

Murat fühlt sich offenbar ungerecht behandelt (vgl. auch 7.4.5 – ambivalente Vater-Sohn-Beziehung). Obwohl er »jemand nit=mal geschlagen« hat, wird er zu einer längeren Haftstrafe verurteilt als jemand, der »Kinder vergewaltigt«. Fast unmerklich ist aus dem »Vergewaltiger« in der Argumentation also jemand geworden, der »Kinder vergewaltigt«. Vielleicht war dies auch tatsächlich der Tatbestand, wegen dem derjenige, um den es hier geht, verurteilt 286

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

wurde. Möglicherweise möchte Murat jedoch auf diese Weise auch einfach sicher gehen, dass ich auf seiner Seite bin. Denn im gesellschaftlichen Diskurs gibt es wohl kaum etwas, das stärker geächtet wird als die Vergewaltigung von Kindern. Der Fortgang der Argumentation bestärkt diese Lesart: ((Telefon klingelt)) /m/ es könnte wohl- hoffentlich nicht- aber mein Kind sein ´das könnte Ihr Kind sein´ hoffentlich nicht /m/ und das ist=das Schlimmste /m/ und die kommen so noch davon davon /m/ das- das regt mich immer=noch auf, (8/48-8/51)

Indem Murat klar macht, dass es (rein fiktiv) auch sein Kind oder sogar mein Kind hätte sein können, das von diesem Typen vergewaltigt wurde, versucht er mich weiter auf seine Seite zu ziehen. Er wird zunehmend emotional und versucht diese Emotionalität auch bei mir hervorzurufen, wobei er mich als (potentielle) Mutter anspricht und an meine ›Mutterliebe‹ appelliert. Doch letztlich geht es Murat gar nicht um dieses Thema: ja und da sagen die Deutschen noch von wegen, oder beziehungsweise Deutschgesetz sag=ich mal nit Deutsche, von wegen alle Gleichberechtigung und dies und das ach wo? ((klatscht kurz in die Hände)) /m/ wo zählt das? nirgendswo /m/ ich sag=auch immer wieder ich kann wahrscheinlich neunzig Prozent, aller Deutschenich kann wahrscheinlich besser, die Muttersprache wie die, hundert Prozent ich hab ne Eins in Deutsch und ich war immer gut in der Schule Deu- Deutsch war=ich immer gut, die sollten mal erst ihre eigene Sprache lernen und dann können Sie mit mir (den Dicken machen) sag=ich mal ((kurzes Auflachen)) (8/51-9/08)

Das, worauf Murat hier scheinbar hinaus wollte, ist die ungerechte Behandlung, die ihm zuteil wurde. Angeblich seien alle vor dem deutschen Gesetz gleich, aber die Erfahrung, die er gemacht hat, ist eine andere. Gemeint ist vermutlich weiterhin die von Murat so empfundene, ungerechtfertigt lange Haftzeit, zu der er verurteilt wurde. Und diese ungerechte Verurteilung scheint Murat in den Zusammenhang damit zu bringen, dass er kein Deutscher ist. Denn plötzlich geht es nun darum, dass er »besser, die Muttersprache [kann] wie die« und die »erst ihre eigene Sprache lernen« sollten, bevor sie mit Murat »den Dicken machen«. – Was hiermit gemeint ist, darüber lässt sich nur spekulieren: Vermutlich geht es auch hier um die ungerechte Verurteilung, denn kurz nach dieser Textstelle beschreibt Murat, wie ihm der Richter »ins Gesicht gelächelt« (9/19) hat, als er das Urteil verkündete.25 Deutlich 25 »[I]ch=hab gleich ein Jahr gekriegt /m/ sofort /m/ ohne Wenn und Aber, und der Herr Wink hat mir noch \((klatscht in die Hände:)) hat\ mir noch ins Gesicht gelächelt wo=er gesagt hat ein Jahr aus=m Verkehr ziehn de- dem sein Blick vergess=ich niemals, /m/ (2) ich meine der tut ja auch=nur seinen Job und so dazu sag=ich ja nichts aber, so mit Grinsen ins Gesicht sagen noch ´oh´ das tut=weh ja, /ja/ und deswegen will ich mich nicht unterkriegen lassen von-, auch 287

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

wird jedoch, dass Murat sich auch hier wieder als ›Anderer‹ bzw. ›Fremder‹ positioniert, der zu hart bestraft wurde bzw. als einer, der zum ›Fremden‹ gemacht wird und als solcher ungerecht behandelt wird, obwohl er »die Muttersprache« – also offensichtlich auch seine Muttersprache – besser spricht als die »Deutschen«; es also eigentlich keinen Grund gibt, ihn zum ›Fremden‹ zu machen.

Drogen (11/21-11/39) Wenig später im Interview kommt Murat noch einmal auf das Thema »Knast« zurück. Auch hier beschreibt er in diesem Zusammenhang einen Konflikt, wobei dieser von Murat ganz anders präsentiert wird. Thematisch geht es in dem Interviewabschnitt um das Thema Drogen. Murat hat mir von seiner Nachbarin erzählt, um deren Kind er sich manchmal kümmert (»wie der eigene Vater« (11/04)), weil der Vater Drogen abhängig ist. Er regt sich darüber auf, dass der Vater des Kindes keine Verantwortung für das Kind übernimmt (»wie kann man, Kind machen wenn man nichts in der Hand hat?« (11/1011/11)) und spricht dann über seine eigenen Erfahrungen mit Drogen: ja und dann im Knast hat=s angefangen mit Kiffen im Knast, hab=ich auch eigentlich immer gesagt ach soll=ich jetzt kiffen oder nit? weil=ich weiß nicht wie das ist, da hab=ich mal geraucht oh, und=hab-, war vielleicht gekotzt \((schmunzelnd:)) ja?\ aber dann hat- wie soll=ich sagen? im Knast hat man so viele Möglichkeiten (1) und mein Zellenkollege der hat immer gekriegt irgendwie immer gekriegt, da hab=ich einmal mitgeraucht und da hat=s angefangen ´mit der´ Kifferei /m/ aber sonst so andere Drogen niemals /m m/ scheiß=ich drauf /m/ geh ich lieber in die Ecke (1) rauche nur ne Kippe, langweile mich statt so was zu machen /m/ da war das- die Leute die sinken, pfft- (11/21-11/29)

Murat berichtet hier, dass er »im Knast« angefangen hat zu »kiffen«. Zunächst hat er wohl noch überlegt, ob er es tatsächlich tun soll, denn offenbar hatte er mit dem Rauchen bisher keine so guten Erfahrungen gemacht. Doch letztlich entscheidet er sich – auch weil sein Zellenkollege wohl problemlos an ›Stoff‹ gekommen ist – einmal mitzurauchen. Und schließlich hat es so »angefangen cmit derc Kifferei«. Vom Konsum anderer Drogen distanziert sich Murat jedoch. Sehr bildlich beschreibt er hier, dass er sich lieber in eine Ecke stelle und sich langweile, »statt so was zu machen«. Dies wiederum hängt offenbar damit zusammen, dass »die Leute«, die Drogen nehmen, in

wenn=s n Richter ist der ist ja=auch=nichts Besseres wie ich, und, egal in was für ner Hinsicht will ich mich nie wieder unterkriegen lassen« (9/17-9/24); vgl. auch 7.4.5 – Ambivalente Vater-Sohn-Beziehung. 288

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

seinen Augen »sinken«. Um zu verdeutlichen, was Murat hiermit meint, führt er ein Beispiel an: und mein Kna- ä mein Zellenkollege damals Emre hat=der gehießen (1) (ich) kenn auch die Frau (Dünya) schon u:nd, der hat=schon im Knast gesagt dass er sich spritzen will, wie kann man so was sagen? ich hab mit immer Streit gehabt was wie kannst du so was sagen? und=so /m/ a: der erzählt mir so der erzählt mir so bin=ich zu denen hingerannt hab=gesagt ey was redet ihr denn uns ein? was redetund dann, der geht=sich bei jedem beschweren, der erste kommt zu mir macht mir Streit sag=ich=ey das ist doch alles nur für dich du Penner /ja ja/ ich tu- ich tu mich doch für=dich einsetzen macht der mit mir Streit, /m/ ich hab den sofort aus meiner Zelle rausholen lassen, /m/ ´m´ die Leute sind sehr undankbar ehrlich jetzt die sind, ´ach´ wie so falsche Schlangen sind das (11/30-11/39)

Emre, Murats »Zellenkollege«, mit dem er wohl auch zum ersten Mal gekifft hat, beschließt scheinbar im Gefängnis, dass er anfangen möchte, sich Heroin (oder andere Drogen) zu spritzen. So wie Murat offenbar überlegt hat, ob er nun ›kiffen‹ soll oder nicht, denkt Emre anscheinend über härtere Drogen nach, da ihm andere Insassen scheinbar vom »Spritzen« vorgeschwärmt haben (»a: der erzählt mir so der erzählt mir so«). Murat regt sich hierüber furchtbar auf (»ich hab mit immer Streit gehabt was wie kannst du so was sagen? und=so«) und beschwert sich offenbar auch bei denjenigen, die Emre Drogen angeboten haben (»bin=ich zu denen hingerannt hab=gesagt ey was redet ihr denn uns ein?«). Emre fängt darauf Streit mit Murat an, woraufhin Murat Emre aus seiner Zelle holen lässt. Schließlich beendet Murat die Erzählung mithilfe einer Coda: »die Leute sind sehr undankbar ehrlich jetzt die sind, ´ach´ wie so falsche Schlangen sind das«. Auf diese Weise positioniert sich Murat als einer, der seinem Zellenkollegen helfen wollte, aber letztlich deshalb Probleme bekommt. Ähnlich wie bei der Erzählung von der Schlägerei, bei der Murat für seine Freunde eingesprungen ist (vgl. 7.4.2 – Schlägerei I), bekommt er auch hier seinen Einsatz nicht gedankt. Letztlich bleibt Murat nichts anderes übrig als sich als den Guten darzustellen; die Enttäuschungen, die hiermit verbunden waren oder sind, können auf diese Weise aber nicht gänzlich überspielt werden. Murat positioniert sich also auch hier wieder als jemand, der (immer wieder) von Leuten, die ihm wichtig waren oder sind, enttäuscht wurde oder wird.

7.4.5 Murats Beziehung zum Vater Dieses Thema des Enttäuschtseins bzw. Enttäuschtwerdens spielt auch an anderen Stellen des Interviews eine große Rolle; nämlich dann, wenn Murat über seinen Vater spricht. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die – Murats Dar289

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

stellung zufolge – stets zu Murat gehalten hat, hat sich sein Vater enttäuscht von ihm abgewendet. Murat schämt sich gegenüber seiner Mutter, da es ihr sehr schlecht ging, während er im Gefängnis war, und Murat das Leiden seiner Mutter mit seinem eigenen Handeln in Verbindung bringt: meine Mutter ist die beste Mutter die kann super kochen sie=ist so lieb ((I. lächelt kurz)) ich hab von ihr noch nie- nicht mal mit einem Finger, mal-, sie hat mir nicht mal ein Haar gekrümmt, meine Mutter ist eigentlich ne ganz Liebe und deswegen es tut mir, wegen ihr noch mehr weh weil=ich drin gehockt hab ich hab alles mitgekriegt wie=sie da draußen, durchgestanden hat schlimme Zeit (1) und die war auch im Krankenhaus weil sie=s nicht mehr aushalten konnte und=so und das tut mir total weh=und, deswegen, so was darf nie wieder vorkommen /m/ (2) geregeltes Leben haben /m/ das ist mein Traum ja ((gemeinsames kurzes Lächeln)) (3/05-3/14)26

Auch gegenüber seinem Vater schämt sich Murat. Er weiß, dass er ihn enttäuscht hat, aber er weist ihm auch Schuld zu. Einige dieser – stets sehr emotionalen – Textstellen sollen im Folgenden analysiert werden.

Scham (2/48-3/05) so aber im allgemeinen ist mein Vater, bester Vater sag=ich mal ((gemeinsames kurzes Lächeln)) nein der hat viel durchgemacht wegen mir das, tu=ich auch nicht, verleugnen oder so=aber (1) es tut=mir auch im Inneren weh, ich sag=mal so äh ich bereu meine Fehler ja aber ich bin=auch froh dass=ich daraus gelernt hab weil aus Fehlern lernt man ja, und diese Fehler mach=ich ´nie wieder´ weil=ich kann ihn nimmer so sehen Weinen und, Stress zu Hause und, ich will=lieber mit meinem Vater eins sein oder so und, mit ihm unterhalten das hätt=ich früher niemals machen können, niemals /m/ aber jetzt, alles bestens ((kurzes gemeinsames Schmunzeln)) (2/48-3/05)

Murat weiß, dass auch sein Vater viel »durchgemacht« hat wegen ihm. Es tut ihm »im Inneren weh«, wenn er an diese Zeit zurück denkt. Er bereut seine Fehler und positioniert sich als jemand, der aus seinen Fehlern gelernt hat (vgl. Kap. 7.3). Dies begründet er damit, dass er seinen Vater nicht mehr so sehen möchte. Was er hiermit meint, wird nicht ganz klar. Murat spricht von »Weinen und, Stress zu Hause« (3/03). Möglicherweise hat Murats Vater 26 Auffallend ist, dass Murat hier seine Mutter mit ›klassischen‹ Attributen von Weiblichkeit versieht: Sie kann »super kochen« und ist »so lieb«. Auf ähnliche Weise wurden auch die Mütter in der Studie von Susanne Spindler dargestellt. Im Gegensatz zu den Vätern wurden mit den Müttern außerdem – auch in Susanne Spindlers Studie – weniger Kämpfe ausgefochten, was Susanne Spindler (2006: 159 f.) damit erklärt, dass sich die Jugendlichen der Liebe ihrer Mütter sicher waren. 290

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

geweint, weil er so enttäuscht von seinem Sohn war und/oder nicht mehr weiter wusste. Die Tränen seines Vaters sind offenbar etwas, was Murat in sehr starker Weise berührt hat. Womöglich hat er ihn noch nie zuvor weinen gesehen. Vielleicht war Murats Vater aber auch zornig und/oder hat Murat geschlagen, weshalb Murat derjenige war, der geweint hat. Dies würde zumindest mit der gegensätzlichen Darstellung seiner Mutter korrespondieren, die auf diese Textstelle hin folgt (s.o.): »ich hab von ihr noch nie- nicht mal mit einem Finger, mal-, sie hat mir nicht mal ein Haar gekrümmt« (3/07-3/08). Doch unabhängig davon, ob Murats Vater geweint hat oder Murat von seinem Vater geschlagen wurde – unter Umständen treffen ja auch beide Lesarten zu –, möchte Murat diese Erfahrung nicht noch einmal machen. Er möchte lieber mit seinem »Vater eins sein« (3/03), scheint also ein sehr großes Bedürfnis nach Nähe und Harmonie zu haben. Er möchte nicht mit seinem Vater streiten, keinen Stress haben und möchte nicht, dass Tränen fließen. Dies scheint früher nicht möglich gewesen sein. Murats Darstellung zufolge konnte er sich noch nicht einmal mit seinem Vater unterhalten. Offenbar hat es keine Verständigung zwischen Vater und Sohn und kein Verständnis füreinander gegeben.

Schuldzuweisung (5/02-5/13) Diese mangelnde Verständigung wird auch in der folgenden Textstelle deutlich. Murat beschreibt hier, dass seine Eltern nie zu einem Elternabend an der Schule gekommen sind. Seiner Mutter macht er hieraus keinen Vorwurf, da sie »nicht so besonders Deutsch« spricht, aber sein Vater hätte kommen können: (2) ´na ja´ (1) und=mein Vater ist nie in die Schule gekommen, genau das- das wollt=ich auch noch sagen ja? mein Vater (oder) meine Mutter kann nicht so besonders Deutsch und=deswegen verlang ich auch=net von dere dass sie in die Schule kommt /ja/ Elternabend oder so, da hätt mal ruhig mein Vater kommen- da könnt man reden über mich könnt sich mal über mich informieren wie=ich in der Schule bin und das hat mir immer weh getan weil=er nie gekommen ist /m/ da hab=ich immer gedacht warum kommt der net? der kann fließend Deutsch /m/ fließend, dann das war halt-, ja genau das war die Zeit wo=ich dann immer gedacht=hab was ist los mit dem hasst der mich oder was? (1) und das hat mir=auch-, vielleicht waren das die Auswirkung weil mein Vater nie, auf mich zu gekommen ist wegen Schule und so /m/ ich=weiß=es nicht /m/ halt so wie=s gekommen ist (1) ja (1) aber jetzt läuft alles bestens halt wie gesagt ((Lächeln (1)) (5/02-5/13)

Murat positioniert seinen Vater hier als jemanden, der sich nicht für ihn interessiert hat. Er hat sich nicht nur nicht mit Murat unterhalten (vgl. 7.4.3 – Scham), sondern ist auch nicht zu Elternabenden gekommen, um mit anderen 291

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

über Murat zu reden, sich über ihn zu informieren. Worüber Murats Vater sich hier hätte informieren sollen, bleibt offen. Denn Murat hat in der Textstelle zuvor sowohl über seine guten Noten in der fünften und sechsten Klasse gesprochen als auch über sein Abrutschen in der siebten Klasse.27 Insofern ist unklar, ob Murat von seinem Vater Lob oder Konsequenzen für sein Fernbleiben von der Schule erwartet hätte. Vielleicht ging es auch um beides: Murats Vater hat sich weder für Murat interessiert, als dieser gut in der Schule war, noch hat es ihn interessiert, als Murat die Schule immer häufiger geschwänzt hat. Weder das eine noch das andere Verhalten hat möglicherweise dazu führen können, dass Murat überhaupt von seinem Vater wahrgenommen wird. Murat scheint jedenfalls dieses Desinteresse seines Vaters auch heute noch sehr nahe zu gehen, auch wenn er betont, dass jetzt »alles bestens« läuft. Er wird sehr emotional an dieser Stelle: Es habe ihm »weh getan« und er hat sich sogar gefragt, ob sein Vater ihn hasst. Letztlich sieht er in dem mangelnden Interesse seines Vaters auch einen möglichen Grund, warum alles so »gekommen ist«. Murat formuliert hier zwar recht vage, »vielleicht waren das die Auswirkung[en]«, positioniert sich aber dennoch innerhalb eines Diskurses, in dem das deviante Verhalten von Kindern und Jugendlichen damit erklärt, dass sie Aufmerksamkeit erregen wollen, und sie ihr Verhalten kontinuierlich steigern, bis sie endlich wahrgenommen werden (vgl. auch 7.4.2 – Schule schwänzen).28

Vertrauen (5/50-6/10) Interessant ist nun, dass Murat nur einen kurzen Moment später im Interview indirekt eine andere Begründung für das mangelnde Interesse seines Vaters anführt bzw. dieses mangelnde Interesse auch relativiert:

27 »[J]a und dann (1) war=ich in der Fünften-, sechsten Klasse war=ich Englisch A Kurs und Mathe A Kurs ich war alles=eigentlich gut und danach von heute auf Morgen in der siebten Klasse war (1) Sense bei mir ich weiß=nicht warum ich bereu das so was von das ist- (1) ((kurz leise etwas seufzend)) weil ich kann=mich sehr gut daran=erinnern ich hab meine erste Schlägerei gehabt und, wupp (1) war=s geschehen um mich« (4/43-4/48). 28 Dieser Diskurs wird – in gewisser Weise – auch durch den Desintegrationsansatz bedient (vgl. Kap. 2.3.3). Im Alltag herrscht diesbezüglich jedoch ein stark vereinfachter Diskurs. So heißt es z.B. in einem Elternratgeber im Internet: »Viele Jugendliche begehen diverse strafbelangende Delikte, weil sie einfach abenteuerlustig sind, ihren Mut beweisen, in eine Clique aufgenommen oder Aufmerksamkeit erregen wollen.« (http://www.baby-zeit.de/service/sorgenkinder/kriminalitaet.php [08.06.2009]; vgl. auch http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at /PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Jugendkriminalitaet.shtml [08.06.2009]) 292

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

und mein Vater hat zu mir gesagt früher wenn=ich, gesagt hab, das war so und so er hat mir, bis aufs letzte Buchstabe hat=er mir geglaubt und=jetzt, macht=er nach=m Knast da=ist sag=ich mal so macht=er wie soll=ich dir jetzt noch vertrauen? ich mein wenn ich auch die Wahrheit sag er glaubt=es mir nit und dann tut mir weh aber=ich kann=ihn auch verstehn, weil=ich halt schon viel Scheiße gemacht hab und wie soll=der mir vertraun? /m/ der hat immer gesagt ah die Zeit, wo du immer die Scheiße gemacht hast- ich bin immer so gelaufen normalerweise muss ich so laufen und=sagen mein Sohn ist so und so, das hat=mir auch immer weh getan ja? aber=ich hab immer=noch weiter gemacht und jetzt (1) bis=ich rein gekommen bin, hab=ich viel an- ä sehr lange Zeit gehabt zum Nachdenken /m/ (2) ja (1) aber=ich bin sehr froh dass die Zeit vorbei ist ((I. lächelt kurz etwas)) (5/50-6/10)

Hier klingt es nun so, als habe sich Murats Vater früher durchaus mit Murat unterhalten (vgl. 7.4.3 – Scham), aber Murat hat ihm nicht die Wahrheit gesagt. Vielleicht hat sein Vater sich daher auch tatsächlich nicht bei anderen über Murat informiert, aber nicht aus mangelndem Interesse (vgl. 7.4.3 – Schuldzuweisung), sondern weil er Murat geglaubt und vertraut hat. Doch darum scheint es Murat an dieser Stelle auch nicht zu gehen. Denn er führt hier das Vertrauen seines Vaters nicht an, um das damalige Vater-Sohn-Verhältnis ins rechte Licht zu rücken, sondern es geht ihm um eine Kontrastfolie, um herausstellen zu können, dass auch heute das Verhältnis zwischen seinem Vater und ihm nicht einfach ist; auch wenn er immer wieder betont, dass jetzt »alles bestens« läuft (vgl. 7.4.3 – Schuldzuweisung). Murat positioniert seinen Vater in dieser Textstelle als jemanden, der sich für seinen Sohn schämt: der hat immer gesagt ah die Zeit, wo du immer die Scheiße gemacht hast- ich bin immer so gelaufen normalerweise muss ich so laufen und=sagen mein Sohn ist so und so (6/05-6/07)

Beim Sprechen zieht Murat hier den Kopf ein, um zu verdeutlichen, dass sein Vater mit gesenktem Kopf laufen musste. Sich selbst positioniert Murat hierbei als jemanden, der den Normvorstellungen des Vaters nicht entspricht. Sein Vater kann nicht mit erhobenem Haupt (auch dies stellt Murat pantomimisch beim Sprechen dar) durch die Gegend laufen und mit seinem Sohn prahlen. Murat scheint diese Normvorstellungen des Vaters zu akzeptieren. Denn er beteuert mehrmals, dass er seinen Vater verstehen kann: aber=ich kann=ihn auch verstehn, weil=ich halt schon viel Scheiße gemacht hab und wie soll=der mir vertraun? (6/03-6/05)

Er macht aber auch deutlich, dass das Verhalten des Vaters ihn verletzt (hat). Dennoch stellt er hier den Anspruch seines Vaters in keiner Weise in Frage: 293

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Väter sollten stolz auf ihre Söhne sein, und wenn Murat diesen Anspruch nicht erfüllen kann, so ist es nur richtig, dass sein Vater nun enttäuscht ist und ihm nicht mehr vertraut.

Ambivalente Vater-Sohn-Beziehung (7/20-7/45) Wesentlich deutlicher wird dieses ambivalente Verhältnis zum Vater, das sich zwischen Verletzung der eigenen Gefühle und Verständnis für den Vater bewegt, noch einmal in einer späteren Textstelle.29 Murat beschreibt hier den Tag seiner Verhandlung, an dem er zur Haftstrafe verurteilt wurde: ich mein bei meiner Verhandlung und hab gedacht ich krieg vier Wochen Jugendarrest /m/ und die fordern für mich ein Jahr drei Monate, meine Welt ist zusammen gebrochen ehrlich jetzt das=ist absolut wahr das war, mein schlimmster Tag /m/ (7/20-7/23)

Diesen Tag bezeichnet Murat als den »schlimmste[n] Tag«. Er begründet dies damit, dass er scheinbar von dem Strafmaß völlig überrascht war. Offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass sein Handeln solch weit reichende Konsequenzen haben könnte.30 Doch dies allein hat den schlimmsten Tag noch nicht ausgemacht, denn Murat fährt fort: weil mein Vater war auch noch da auf der Fahrt m (1) der hat noch-, der hat noch mit mir Stress angefangen so von wegen ja jetzt hast du=s davon und so, hat mich voll gedemütigt so vor den ganzen Leuten /m/ das vergess=ich=auch=nit (7/24-7/26)

29 Diese Textstelle folgt im Interview unmittelbar auf die Erzählung von der Schneeballschlacht auf dem Schulhof (vgl. 7.4.2 – Schneeballschlacht). 30 Wenig später im Interview greift Murat seine Verurteilung erneut auf, und es wird nochmals deutlicher, wie ungerecht er diese empfunden hat: »ich hab nicht mal Bewährung gehabt /m/ ich bin sofort in den Knast gekommen /m/ ´na ja´, da sieht man mal, da sagen=sie normalerweise kriegt man erst Bewährung und=ich hab ja=nit so viele Fälle=gehabt ich hab=nur drei, mein erster Fall und meinen zwei-, zwei Fälle waren=das glaub=ich (1) ja, ich=hab gleich ein Jahr gekriegt /m/ sofort /m/ ohne Wenn und Aber, und der Herr Wink hat mir noch \((klatscht in die Hände:)) hat\ mir noch ins Gesicht gelächelt wo=er gesagt hat ein Jahr aus=m Verkehr ziehn de- dem sein Blick vergess=ich niemals, /m/ (2) ich meine der tut ja auch=nur seinen Job und so dazu sag=ich ja nichts aber, so mit Grinsen ins Gesicht sagen noch ´oh´ das tut=weh ja, /ja/ und deswegen will ich mich nicht unterkriegen lassen von-, auch wenn=s n Richter ist der ist ja= auch=nichts Besseres wie ich, und, egal in was für ner Hinsicht will ich mich nie wieder unterkriegen lassen /m m/ ´ja´ (1) aber diesen Anblick vergess= ich=net, und dann noch mein Vater fängt mit mir Stress=an auf der Verhandlung ich bin da weggerannt, ich sag lass mich \((klatscht in die Hände:)) in Ruh\« (9/13-9/27); vgl. auch 7.4.4 – Schlägerei. 294

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

Offenbar hat auch das Verhalten seines Vaters einen guten Teil dazu beigetragen, dass Murat diesen Tag als »schlimmste[n]« bezeichnet. Murat positioniert sich hier als jemand, der nicht nur von institutioneller Seite bestraft wird, sondern der eine zusätzliche Strafe durch die Familie erhält. Sein Vater habe mit ihm »Stress angefangen« und ihn allein für sein Handeln verantwortlich gemacht (»jetzt hast du=s davon«). Darüber hinaus habe er Murat »voll gedemütigt so vor den ganzen Leuten«. Die Strafverfolgung hat also Konsequenzen. Sie bricht – so beschreiben dies Ralf Bohnsack und Arnd-Michael Nohl (2001: 81 f.) – in die »innere Sphäre« ein. Ob die dortigen Normalitätserwartungen und die Sozialität innerhalb von Familie und Clique von Murat als primordial zur äußeren, institutionellen Sphäre eingeordnet werden, wie dies Bohnsack & Nohl beschreiben, würde ich hier zwar bezweifeln. Deutlich wird jedoch, dass die Reaktionen seines Vaters und die damit einhergehende Demütigung für Murat mindestens ebenso schlimm sind wie das unerwartet hohe Strafmaß. Er wird also doppelt bestraft. Diese doppelte Bestrafung hält auch noch während der Zeit seines Gefängnisaufenthaltes an: und mein Vater war mich auch kein einziges Mal besuchen, /m/ aus Ehrgeiz sag=ich mal so, meine Mutter hat immer gesagt dein Vater seine Augen waren immer, knallrot vor allem wegen mir und=so aber der=ist mich kein einziges Mal besuchen gekommen /m/ ich=meine ich kann das auch verstehn bei ihm kann=ich=s verstehn weil=ich weiß wie der=ist (1) aber es wäre schön gewesen wenn=er gekommen ´wär´ /m/ wär ne Motivation gewesen /m/ (2) (7/26-7/32)

Sein Vater kommt ihn »kein einziges Mal besuchen«. Von seiner Mutter erfährt Murat zwar, dass sein Vater in der Zeit gelitten hat, er also nicht aus Desinteresse nicht ins Gefängnis kommt, trotzdem wäre es Murat wichtig gewesen, wenn sein Vater ihn besucht hätte. Doch obwohl Murat enttäuscht von seinem Vater ist, nimmt er ihn auch hier wieder in Schutz. Murat positioniert sich erneut als jemand, der Verständnis für das Verhalten seines Vaters hat: »ich=meine ich kann das auch verstehn bei ihm kann=ich=s verstehn weil=ich weiß wie der=ist (1)«. Er weiß, dass er den Normalitätserwartungen seines Vaters nicht entsprechen konnte und wie sehr dieser hierunter gelitten hat: ´ja´ so denk=ich dann war=ich doch kein ä: gute-, guter Sohn für ihn oder hab=ich=den- natürlich hab=ich den nicht stolz gemacht damals, er hat sich=dann in Gaststätten- in türkischen Gaststätten, kennt sich=ja jeder und, da wird rumerzählt o: dein Sohn, hat=er das und das gemacht ist im Knast und=so und, mein Vater hat dann immer Streit gehabt und, was sagst du über (unsern) Sohn? und guck dich selber an und /m/ guck die andern=an dann kannst du weiter reden /m/ das hat=er mir mal gesagt und macht=er wegen dir lauf=ich immer so und gleich aus der Gaststätte 295

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

raus, normalerweise muss=ich sagen, mein Sohn ist das mein Sohn ist das und so (1) ((I niest)) /entschuldigung/ Gesundheit, ja und, Gott sei=Dank hab=ich draus gelernt /m/ aber diese Worte sind mir fest im Kopf hängen geblieben, vielleicht sind=s nicht diese Worte (2) doch, ich meine ich bin ja auch n Mensch ich bin ja auch nicht so=n Tier oder so, ich mein damals auch wenn=ich schlimm war (7/20-7/45)

Murat stellt diese Normalitätserwartungen des Vaters auch hier nicht in Frage. Würde er dies tun, könnte er vermutlich wesentlich einfacher mit seiner Straffälligkeit umgehen. So aber positioniert sich Murat als jemand, der seinen Vater enttäuscht hat, und damit auch in gewisser Weise seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde. Denn Murat wäre gern ein »guter Sohn« gewesen und hätte seinen Vater »stolz gemacht«. Die Enttäuschung des Vaters ist Murat »fest im Kopf hängen geblieben«. Er betont zwar, dass er damals »ja auch [ei]n Mensch« war und kein »Tier«, doch scheint diese ›Erkenntnis‹ die Schuldgefühle dem Vater gegenüber nicht in Wut oder ähnliches umwandeln zu können. Die Ambivalenz zwischen Verletzung der eigenen Gefühle und Verständnis für den Vater bleibt auch weiterhin bestehen. Verkompliziert wird diese Beziehung dadurch, dass Murat die Normalitätserwartungen seines Vaters anerkennt und dessen Verhalten verstehen und für sich entschuldigen kann. Dadurch ist der Vater letztlich in einer stärkeren Position. Die einzige Möglichkeit für Murat aus diesem Dilemma herauszukommen, besteht darin, dass er seinen Vater nicht aus der Verantwortung entlässt. Und letztlich tut er genau dies, wenn er sich innerhalb eines Diskurses verortet, in dem das deviante Verhalten von Kindern und Jugendlichen damit erklärt wird, dass sie (gegenüber ihren Eltern) Aufmerksamkeit erregen wollen (vgl. 7.4.3 – Schuldzuweisung).

Zukunftsvisionen (3/47-4/06) Interessant ist nun, dass Murat – obwohl das Verhältnis zu seinem Vater so schwierig ist – genau in die Fußstapfen seines Vaters treten möchte. Bereits im Gefängnis hat Murat einen Metalllehrgang absolviert, also eine Ausbildung für einen Beruf begonnen, in dem bereits sein Vater, sein Onkel und auch sein Großvater in Oldenburg gearbeitet haben. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Murat nun kurz davor, bei dem Kunststoffwerk anfangen zu können, bei dem auch sein Vater und sein Bruder arbeiten. Zunächst hat er hier einen Jahresvertrag erhalten, hofft jedoch, dass er evtl. übernommen wird (vgl. Kap. 7.2).31 31 Dies ist zumindest insofern nicht ganz unwahrscheinlich, als auch sein Bruder als ungelernter Arbeiter bei diesem Werk unterkam und Murats bisherige Verurteilungen bis dahin aus seinem Führungszeugnis getilgt sein dürften (vgl. § 34 BZRG). 296

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

Murat orientiert sich also bei seiner Berufswahl auf Bereiche, die er von zu Hause kennt, und in denen bereits die anderen männlichen Mitglieder seiner Familie arbeiten. Und auch seine Vorstellungen über die Zukunft entsprechen genau dem, was er von den männlichen Mitgliedern seiner Familie vorgelebt bekommt: jetzt bei der Hema das ist meine, sehr große Hoffnung /m/ sag=ich mal vielleicht geht jetzt alles ((pfeift kurz leise)) aufwärts /m m/ weil wenn keine Kohle stimmt, stimmt gar nichts /m/ ich mein Kohle hat=man ja aber nicht so viel und, man will n Auto haben n Führerschein haben und (1) wenn das nicht geht wie soll=ich dann mein Leben planen? wie soll=ich meine Frau, versorgen mein Kind versorgen? /m/ weil ich mein, ich kenn jetzt mittlerweile paar Leute die haben Kinder keine Arbeit /m/ kein Auto kein Haus wohnen bei der Freundin ich mein, was trauen die dass die überhaupt n Kind machen? /m/ und deswegen, hoffentlich läuft alles gut /m/ ich will auch mal ne Familie haben sag=ich=mal=so ((ganz kurz etwas lächelnd)) /m/ na ja (1) (3/47-4/06)

Murat orientiert sich in Bezug auf seine Zukunftsvorstellungen am »Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters« (Bereswill 2007b: 93). Er möchte (mehr) Geld verdienen (als bisher) und von dem Geld den Führerschein machen und sich ein Auto kaufen. Nur so kann er sich dann auch eine Zukunft vorstellen: »wenn das nicht geht wie soll=ich dann mein Leben planen? wie soll=ich meine Frau, versorgen mein Kind versorgen?« Denn für Murat ist eines völlig klar: wenn er kein Auto und kein Haus hat, dann wird er auch keine Familie gründen. Murat orientiert sich also an gesellschaftlichen und familiären Vorgaben. Arbeit und eine Identität als Mann bzw. Familienvater sind für ihn eng miteinander verknüpft (vgl. hierzu auch Spindler 2007b: 120 f.). Dass ein solches Identifikationsangebot über Arbeit gesellschaftlich immer weniger abgefedert ist (vgl. Bereswill 2007b: 93) und dass es – zumal ohne abgeschlossene Ausbildung – schwierig werden könnte, dauerhaft Arbeit zu finden, scheint er in keiner Weise zu sehen bzw. sehen zu wollen. Denn eine Alternative wird von Murat nicht mitgedacht: Entweder es »läuft alles gut« oder ... – »na ja«.

7.5 Positionierungen Murat präsentiert sich zu Beginn des Interviews in sehr differenzierter Weise: Er hat zwar einen türkischen Namen, lebt aber in Deutschland. Er wohnt zwar in Mannheim, aber er kennt mehr als die ›normalen Mannheimer Türken‹, denn er ist in Oldenburg geboren worden (vgl. Kap. 7.4.1). Er lässt sich also nicht so einfach verorten und auf eine Position festschreiben. Dies wird auch an anderen Stellen im Interview deutlich, z.B. wenn er betont, dass er nicht 297

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

nur mit den Türken einen Fußballsieg feiert, sondern auch mit den Bayern; er sich also scheinbar nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit Deutschland identifiziert (vgl. 7.4.2 – Kräftemessen mit der Polizei). Eine solch differenzierte und manchmal auch ambivalente Positionierung (vgl. auch Kap. 7.4.3) steht im Kontrast zu Murats zum Teil sehr eindeutiger Positionierung als Türke – und nicht zuletzt zu seiner eintätowierten Türkeifahne. Doch wann wird die Subjektposition als Türke in Deutschland bzw. als Anderer eigentlich von Murat eingenommen? In welchen Situationen investiert Murat in diese Position? Was könnten mögliche Gründe hierfür sein? Und wie wird eine Positionierung als Türke von Murat gefüllt? Auffallend ist zunächst einmal, dass Murat im Zusammenhang mit Freundschaften Nationalitäten betont. Er spricht von seinem Freund, dem »Polen«, und wird von diesem wiederum als »Türke« angerufen: »du bist doch n Türk« (vgl. 7.4.2 – Schneeballschlacht). Möglicherweise bedeutet die Positionierung als Türke für Murat die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Und dass er jemand ist, der gerne dazugehören möchte, zeigt nicht zuletzt das Wechseln der Kleidung im Keller seiner Eltern, bevor er auf die Straße geht (vgl. 7.4.2 – Andere ›abrippen‹). Gleichzeitig scheint ihm diese Positionierung bzw. Zugehörigkeit zur Gruppe Stärke zu verleihen, ihn aber auch aggressiv zu machen. So beginnt er in dem Moment eine Schlägerei, in dem er von seinem Freund als Türke angerufen wird bzw. ›verteidigt‹ sich gegen die Männer in PKK-T-Shirts, weil diese ihn auf seine Positionierung als Türke verweisen (vgl. 7.4.2 – Kurdenangriff auf dem Marktplatz). Interessanterweise stellt Murat es bei all diesen Erzählungen so dar, dass er als Türke angerufen wird. Dass er diese Anrufung meist auch aktiv annimmt, aus der Fremdpositionierung also auch eine Selbstpositionierung wird, wird von Murat hierbei ausgeklammert. Auf diese Weise kann er seine eigene Straffälligkeit erklären und auch entschuldigen: Er kann sich auf diese Weise als unschuldig präsentieren; als einer der lediglich re-aktiv handelt und seinen Affekten ausgesetzt ist. Ebenso ausgeblendet bleibt das Thema Männlichkeit (vgl. hierzu auch Scholz 2004). Obwohl beispielsweise an verschiedenen Stellen im Interview deutlich wird, welch hohen Stellenwert materielle und symbolische Ressourcen für Murat haben (vgl. 7.4.2 – Andere ›abrippen‹ & Kräftemessen mit der Polizei), und dies durchaus als Inszenierung von Männlichkeit interpretiert werden könnte, werden diese Ausführungen von Murat in den Kontext sozialstruktureller Benachteiligung gestellt und seinem Wunsch nach Zugehörigkeit und sozialem Aufstieg zugeordnet. Ebenso ließe sich das von Murat beschriebene Gewalthandeln, das auf eine Anrufung als Türke hin folgt, als Inszenierung adoleszenter und/oder randständiger Männlichkeit interpretieren (vgl. Kap. 2.4.3; Weber 2007: 318). Doch eine solche Erklärung wird von Murat nicht herangezogen. In seinen Erzählungen über gewalttätige Auseinander298

»DU BIST DOCH N TÜRK« – MURAT

setzungen überlagert ethnische Differenz die Geschlechterdifferenz. Dem entsprechend werden Konflikte von Murat immer zu ethnischen Konflikten umdefiniert; sei es bei der Schneeballschlacht auf dem Schulhof, bei dem Kampf gegen die »Kurden« auf dem Mannheimer Marktplatz oder auch bei der Auseinandersetzung mit den Polizisten am Wasserturm (vgl. Kap. 7.4.2). Männlichkeit hingegen wird – auch in Bezug auf andere Themen – nicht problematisiert. Allerdings ist die Umdeutung von Konflikten zu ethnischen Konflikten im Interview stets mit einer (angeblichen) Fremdpositionierung als Türke verbunden. Es gibt immer jemanden (der Pole Michael Tatrowski oder auch der Polizeibeamte) oder etwas (die PKK-T-Shirts der Männer auf dem Marktplatz), der oder das Murat auf eine Position als Türke verweist. Wenn Murat sich hingegen im Interview ausdrücklich selbst als Türke positioniert, dann geschieht dies meist, um Ungerechtigkeiten zu benennen und umzudeuten: So wurde Murat – seiner Darstellung zufolge – z.B. nicht so lange inhaftiert, weil er sich so viel hat zuschulden kommen lassen, sondern weil er Türke ist und ungerecht verurteilt wurde (vgl. Kap. 7.4.4). Als Türke kann sich Murat von einem Staat abgrenzen, der ihn nicht nur stigmatisiert, sondern auch diskriminiert, was letztlich auch in der Erzählung ›Kräftemessen mit der Polizei‹ zum Ausdruck kommt (vgl. Kap. 7.4.2). In anderen Textstellen wird jedoch auch deutlich, dass Murat nicht nur dann in Schlägereien verwickelt ist oder Streit mit jemanden bekommt, wenn er als Türke angerufen wird, sondern z.B. auch wenn er seinen Freunden helfen möchte; sei es, weil diese sonst verprügelt werden (vgl. 7.4.2 – Schlägerei I) oder weil er sich Sorgen um sie macht (vgl. 7.4.4 – Drogen). Auch kann er seine eigene Straffälligkeit durchaus nicht nur damit erklären, dass er als Türke ungerecht behandelt wird bzw. sich wehren muss. Gerade im Zusammenhang mit seinem Vater geht Murat davon aus, dass er zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat; und schafft es auf diese Weise, die Schuld bzw. die Verantwortung für sein eigenes Tun von sich zu schieben (vgl. Kap. 7.4.5). Allerdings sind diese Positionierungen bzw. Erklärungsansätze immer auch eng verbunden mit Enttäuschungen und Verletzung. Insofern lässt sich Murats dominierende Positionierung als Türke unter Umständen auch als Selbstschutz oder Stabilisierungsstrategie interpretieren: Als Türke kann er Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen hinnehmen bzw. diese als Diskriminierung interpretieren, während jede andere Positionierung ihn persönlich angreifbar macht. Murats Positionierung als Türke ist also durchaus nicht ungebrochen, aber sie verleiht ihm Stärke und Macht. Sie kann als strategisches Annehmen einer (Fremd-)Positionierung interpretiert werden, die ihm sowohl von seinem sozialen Umfeld als auch vom deutschen Staat nahe gelegt wird. So präsentiert sich Murat als jemand, der zwar in Deutschland geboren wurde, aber »türki299

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

sches Blut« hat (vgl. 7.4.2 – Kräftemessen mit der Polizei), wobei selbst seine Alltagssprache hierbei von den normativen Diskursen geprägt ist, die ihn auf eine Position als Türke verweisen. Gleichzeitig macht Murat im Interview deutlich, dass eine solche Positionierung nur innerhalb Deutschlands gültig ist: In der Türkei wäre er ein Fremder, der das »Leben« und die »Kultur« nicht kennt. Ähnlich wie sein Tattoo auf dem Oberarm lässt sich seine Positionierung als Türke in Krisensituationen ›hervorholen‹ und hilft diese zu meistern. Selbst Murats Sprache erfährt in solchen Momenten einen ›Switch‹ und wird zu ›Türkendeutsch‹. Außerhalb solcher Krisensituationen aber ist er ein gut aussehender, durchtrainierter junger Mann mit langen schwarzen Haaren, der seine Tätowierung unter dem T-Shirt versteckt; und der mir am Ende des Interviews stolz verrät, dass er manchmal auf der Straße für einen Italiener gehalten wird.

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8. »Ohne Geld kannst du draußen nicht überleben« – S E R D A R

8.1 Kontaktaufnahme und Interviewsituation Nachdem ich mich im August 2007 bei der Bewährungshilfe gemeldet und angekündigt habe, dass ich weitere Interviews mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund führen möchte (vgl. Kap. 5.2.2), bekomme ich Anfang September einen Anruf von einem Bewährungshelfer, der mir mitteilt, dass er jemanden für mich habe; einen Frankenthaler, dessen Eltern aus der Türkei kommen. Er sei sprachlich sehr gewandt und eventuell könne ich auch einen Freund von ihm (Metin) interviewen. Zwei Tage später ruft er mich erneut an und reicht das Telefon an Serdar weiter. Ich spreche kurz mit ihm und erkläre, dass ich ihn gern interviewen wolle. Serdar willigt sofort ein und wir verabreden uns für den nächsten Tag um 14 Uhr in den Räumlichkeiten der Bewährungshilfe. Als ich am nächsten Tag zur vereinbarten Zeit zur Bewährungshilfe komme, ist weder Serdar, noch der Bewährungshelfer, der uns die Tür öffnen sollte, anwesend. Ich warte einige Minuten und rufe dann auf Serdars Handy an. Serdar entschuldigt sich, dass er noch nicht da ist und verspricht sofort zu kommen. Schon wenige Minuten später steht er vor mir. Er ist etwa 1,65 m groß, schmal und hat dunkle, kurze Haare, die er unter einer Baseball-Kappe versteckt. Dazu trägt er Jeans, Markenturnschuhe und ein schwarzes Langarm-Shirt. Es amüsiert ihn, dass der Bewährungshelfer uns versetzt hat. Wir beschließen, in ein Café zu gehen, um dort das Interview zu führen. Auf dem Weg dorthin frage ich Serdar, ob es okay für ihn sei, wenn wir uns duzen. Serdar willigt ein und fragt mich, wie viele Interviews ich bereits geführt habe. Ich berichte ihm von den bisherigen Interviews und betone, dass diese nichts mit der Bewährungshilfe zu tun haben. Alles, was er mir sage, bleibe unter uns. Daraufhin erzählt Serdar von der Maßnahme, die er gerade begonnen habe und die täglich bis um 12 Uhr gehe. Er habe sich nach der Maßnahme kurz hingelegt und sei deshalb zu spät gekommen.

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Im Café setzen wir uns an einen Tisch, der etwas abseits von den anderen Tischen direkt an einem Fenster steht. Ich lege mein Aufnahmegerät neben Serdars Handy auf den Tisch. Die beiden Geräte sehen fast identisch aus, was mich insofern beruhigt, als wahrscheinlich niemand von außen erkennen kann, dass wir gerade ein Interview führen. Wir bestellen Kaffee und ich beginne das Interview. Während des Gesprächs klingelt mehrmals Serdars Handy. Es ist immer ein Freund am Telefon, der offensichtlich auf das Ende des Interviews wartet, um mit Serdar trainieren zu gehen. Serdar erklärt ihm jedes Mal, dass er noch bei ›seinem Interview‹ sei. Er lässt sich weder von seinem Freund, noch von den gegen Nachmittag immer zahlreicher werdenden Gästen im Café aus der Ruhe bringen, sondern erzählt sehr ruhig und zum Teil auch sehr leise in aller Ausführlichkeit seine Lebensgeschichte. Unterbrochen wird das Gespräch nur von der Bedienung, die gelegentlich an den Tisch kommt. Als sie gegen Ende des Interviews abrechnen möchte, und ich die Rechnung übernehme, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Serdar und mir. Er ist offensichtlich gekränkt, dass ich bezahlt habe, und wiederholt mehrmals, dass ich das nicht hätte tun dürfen, dass ihm das peinlich sei. Ich entschuldige mich und erkläre, dass ich mich auf diese Art bei ihm hätte bedanken wollen. Dies scheint Serdar in gewisser Weise zu akzeptieren. Die Situation löst sich in gemeinsamem ›Lächeln‹1 auf und ich kann Serdar noch ein paar letzte Fragen zu seinen biographischen Daten stellen. Serdar positioniert sich in dieser Interaktion aktiv als höflicher Mann gegenüber einer Frau, der mir zuvor- bzw. entgegen kommen möchte (vgl. hierzu auch Kap. 9.2). Dabei greift er auf »Gesten der Ritterlichkeit zurück, die traditionell mit Abwertungen des Weiblichen durch das Männliche einhergehen: Frauen sind [...] versorgungsbedürftig, Männer hingegen rücksichtsvoll [...] und versorgend« (Bereswill 2005: 126). Der Konflikt, der daraus entsteht, dass ich diese »Gesten der Ritterlichkeit« durch mein vorschnelles Bezahlen unmöglich mache, lässt sich an dieser Stelle nur dadurch lösen, dass ich in der Interaktion Serdars Fremdpositionierung als Frau nicht oder nur bedingt annehme und ihm dafür eine andere Positionierung anbiete: die der Forscherin, die sich durch das Bezahlen der Rechnung für das Interview bedanken möchte. Auf diese Weise wird Serdars Positionierung als Mann nicht angegriffen und die Interaktion kann fortgesetzt werden. Mechthild Bereswill hat in ihrem Aufsatz Fragile Selbstverteidigung. Umkämpfte Männlichkeit im Spiegel einer ost-westdeutschen Forschungsbeziehung (2005) darauf hingewiesen, dass solche »altmodischen Kavaliersgesten« jedoch auch als Versuch interpretiert werden können, »Unterlegenheit zu 1

Ein ›Lächeln‹ ist eigentlich nicht hörbar. In der Transkription wurde die Bezeichnung ›Lächeln‹ jedoch immer dann verwendet, wenn nicht laut, sondern leise oder nur angedeutet gelacht bzw. geschmunzelt wird (vgl. Kap. 7, Fn 2).

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

überwinden und nach Gleichrangigkeit, gegenseitigem Respekt und Autonomie zu streben« (Bereswill 2005: 126). Dieser Lesart folgend wäre die hier stattgefundene Interaktion ein Hinweis darauf, dass Serdar »seinen Status als deviantes Forschungsobjekt nicht [akzeptiert] und [...] seine Vorstellungen von respektierlicher Männlichkeit und ordentlicher Weiblichkeit als Ressource zur Selbstdarstellung und Selbstbehauptung gegenüber einer sozial privilegierten Frau ein[setzt]« (Bereswill 2005: 126, Herv. i.O.). Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen müssten dann eher als »Selbstverteidigungsgesten gegenüber bereits erfahrener und weiterhin drohender Marginalisierung« aufgefasst werden (Bereswill 2005: 126). Auch dies wäre eine Lesart, mit deren Hilfe es jedoch schwieriger wird, die Lösung des Konflikts zu erklären. Denn mit meiner Aussage, die Rechnung übernehmen zu wollen, um mich bei Serdar zu bedanken, habe ich meine Position als sozial privilegierte Frau gefestigt und Serdar weiter in Richtung Marginalisierung gedrängt. Doch unabhängig davon, welche Lesart hier die wahrscheinlichere ist – und unter Umständen treffen ja auch beide Lesarten zu, zeigt sich in dieser Textstelle, dass die Interaktion dadurch beeinflusst wird, dass eine Frau einen Mann interviewt. Und dies muss bei der Analyse berücksichtigt werden. Serdar antwortet auf meine letzten Fragen bereitwillig und zum Teil auch nochmals sehr ausführlich. Das Interview endet mit sehr viel gemeinsamen Lachen und Serdar bietet mir an, dass ich jederzeit bei ihm anrufen könne: aber du=hast meine Nummer ne? \((lächelt:)) ja\ kannst gerne=haben \((I. lächelt und B. redet in spaßendem Tonfall)) wenn du was wissen willst=ey kannst du ruhig kommen wenn=du=nicht=mehr=weißt was war da los? helf=isch dir gerne weiter kein=Problem\ (46/10-46/14)

Auch dieses Gespräch lässt sich als Interaktion zwischen Mann und Frau interpretieren und erinnert an ein (erstes) Rendezvous, wobei ich hier nun von Serdar als Frau (»aber du=hast meine Nummer ne?«) und als Forscherin positioniert werde (»wenn du was wissen willst«). Möglicherweise birgt sich hinter diesem spaßend hervorgebrachten Angebot ein Bedürfnis auf Seiten Serdars, mit mir in Kontakt zu bleiben; das hergestellte Vertrauen nicht zu verlieren (vgl. Kap. 8.3). Ich bedanke mich daraufhin sehr ausführlich bei Serdar für die viele Zeit, die er sich genommen hat. Ein bisschen scheint es, als wollte auch ich das Gespräch noch nicht beenden. Schließlich fragt mich Serdar, ob er nun das Interview hinter sich gebracht habe:

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

I: \((gemeinsam lachend:)) du hast es hinter dich gebracht (3) ja (1)\ B: ´war n Spaß´ (1) hat=mir=auch Spaß gemacht da auch drüber zu reden und=so (1) ist auch wichtig weißt du? man fühlt=sisch jetzt-, man- also ich fühl mich jetzt irgendwie besser weißt du? (1) du hast jetzt hingehört und so /m/ du hast wenig dazu=gesagt wunderbar, isch=denke du=hast absolut intensiv zugehört ´(über mich) ne?´ /m/ (3) aber das war für misch- für misch=auch, anders=der weißt du? jemanden zu haben mit dem man auch, so (leicht) locker, reden kann einfach weißt=du? isch red nicht jeden Mensch wo=isch das einfach so kennen lern weißt du? \((mit verstellter Stimme)) hey alles klar und so \((I. lächelt:)) komm ich erzähl dir mal ne Geschichte,\ also voll net, da #bin=isch geehrt weißte?# I: #ist auch=nicht jeder# so neugierig ne? B: ja ((I. lacht, B. stimmt lachend ein:)) (46/24-46/35)

Auf diese Weise endet das Gespräch in recht lustigem und lockeren Tonfall. Dennoch bleibt bei mir ein Eindruck von Serdar als traurig und niedergeschlagen zurück; unter Umständen könnte man ihn vielleicht sogar als verängstigt beschreiben. Wesentlich stärker als bei meinen anderen Interviewpartner/-innen hinterlässt das Gespräch mit Serdar bei mir ein Gefühl der Hilflosigkeit und auch Zweifel an meiner Rolle als Forscherin.2 Denn Serdar hat sich mir gegenüber – so jedenfalls mein Eindruck nach dem Gespräch – sehr stark geöffnet. Und ich bin weder in der Lage, ihm in irgendeiner Weise zu helfen (was auch immer das heißen würde), noch habe ich ein Recht dazu, die Informationen an andere weiterzugeben, die ihm vielleicht helfen könnten.

8.2 Biographische Datenanalyse 8.2.1 Familiengeschichte Serdars Eltern wurden beide 1965 geboren. Sie sind Kurden, wobei die Familie von Serdars Vater (ausschließlich) kurdisch spricht, während die Familie von Serdars Mutter auch auf Türkisch kommuniziert. Seine Mutter kommt aus Diyarbakr, einer Stadt in Südostanatolien, die als Hauptstadt der Kurden gilt. Ihre Eltern haben dort ein Lokal. Sie hat sieben Schwestern und zwei Brüder und hat nur kurz eine Schule besucht, kann daher weder lesen noch

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Insofern könnte Serdars letztes Statement zur Interviewsituation (46/24-46/35) auch so gelesen werden, dass er mich auf diese Weise beruhigen wollte: Du hast mir intensiv zugehört und das Interview war auch gut für mich. Wir können es nun beenden.

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

schreiben. Serdars Vater kommt aus einer kleineren Kreisstadt3 in der Provinz Mardin in Südostanatolien. Er ist gelernter Elektriker und hat ebenfalls neun Geschwister, wobei er sieben Brüder und zwei Schwestern hat. Serdars Großvater väterlicherseits ist Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland gegangen und arbeitet in Köln als Staplerfahrer. Er hat dort eine deutsche Frau kennen gelernt, mit der er zusammen lebt. Serdars Großmutter väterlicherseits lebt weiterhin in der Kreisstadt, wo sie einen kleinen Hof mit Kühen, Hühnern und Tauben besitzt. Serdars Großvater kommt einmal im Jahr zu Besuch. Serdars Eltern heiraten 1986. Seine Mutter zieht zur Familie des Vaters in die Kreisstadt. Serdars Vater absolviert zu dieser Zeit noch seinen Wehrdienst. Im Herbst 1986 bekommt Serdars Großmutter – vermutlich nach einem Besuch des Großvaters – ihren jüngsten Sohn. Im gleichen Jahr geht ihr ältester Sohn, Serdars Onkel, nach Deutschland, um dort – wie bereits Serdars Großvater – zu arbeiten.

8.2.2 Lebensgeschichte Anfang 1987 wird Serdar geboren. Seine Mutter lebt zu dieser Zeit bei ihren Eltern in Diyarbakr, was damit zusammen hängen könnte, dass Serdars Vater noch seinen Wehrdienst absolviert und Serdars Großmutter väterlicherseits gerade selbst ein Kind bekommen hat. Tatsächlich ziehen Serdars Eltern zusammen mit ihrem Sohn ein Jahr später zurück in die Kreisstadt. Serdars Vater hat nun seinen Wehrdienst beendet und betreibt zusammen mit seinen Brüdern ein Teehaus in der Stadt. 1991 bekommen Serdars Eltern einen zweiten Sohn. Serdar wird also als Sohn kurdischer Eltern geboren, und da sein Großvater bereits in Deutschland lebt, könnte angenommen werden, dass auch Serdars Eltern bald nach Deutschland gehen, um dort zu arbeiten. Doch Serdar wächst nicht in Mittel-, sondern in Südostanatolien auf, und seine Familie bezeichnet sich nicht nur als Kurden, sondern ist auch – auf brutale Weise – in den Kurdenkonflikt verstrickt. Vermutlich schon seit Anfang der 1990er Jahre werden Serdars Vater und ein Bruder von ihm immer wieder verhaftet und in Haft gefoltert. Es wird ihnen vorgeworfen, mit der PKK zu kooperieren. 1993, Serdar wurde gerade zusammen mit seinem jüngsten Onkel eingeschult, werden Serdar und sein gleichaltriger Onkel von der Polizei ins Gefängnis gebracht, wo sie zusehen müssen, wie Serdars Vater und ein anderer Onkel gefoltert werden. Was dies für Serdar bedeutet, lässt sich – zumindest aus soziologischer Perspektive – nur schwer fassen. Er muss mit ansehen, wie sein Vater und 3

Serdar spricht meist vom »Dorf« seines Vaters, wenn er sich auf diese Kreisstadt bezieht (vgl. Kap. 8.4). Vermutlich markiert er hierdurch für sich den Unterschied zu Diyarbakr, da er von Diyarbakr immer als »Stadt« spricht. 305

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sein Onkel misshandelt und erniedrigt werden und erfährt sicherlich Gefühle von Ohmacht und Hilflosigkeit. Diejenigen, die für ein Kind zumeist als unverletzlich und stark gelten, werden gedemütigt und erniedrigt. Doch dies ist noch längst nicht alles. An Serdars siebtem Geburtstag, also 1994, wird ein jüngerer Bruder von Serdars Vater ermordet (vgl. Kap. 8.4.3). Er war gerade seit einem Jahr verheiratet und hinterlässt seine Frau mit ihrem neu geborenen Kind. Serdars Familie wird also massiv mit der Brutalität des politischen Kampfes konfrontiert. Und Serdar erlebt dies alles mit. Er erfährt die Angst, Trauer und Ohnmacht, vielleicht auch die Wut seiner Familie angesichts der staatlichen Gewalt. Vermutlich hat er Angst um seinen Vater, denn schließlich könnte dieser potentiell das nächste Opfer sein. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Erlebnisse bei Serdar zu einer Traumatisierung bzw. zu posttraumatischen Belastungsstörungen führten, die sich u.a. in Angstzuständen, Schlafstörungen, Depressionen, Aggressivität oder Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen ausdrücken können (vgl. Spindler 2006: 195; Weiss et al. 2001: 63). Noch im gleichen Jahr beschließen Serdars Eltern zur Familie von Serdars Mutter nach Diyarbakr zu ziehen. Serdar wechselt die Schule und kommt hier nun in die zweite Klasse. Vermutlich bedeutet dieser Umzug für ihn Geborgenheit und Schutz, doch verliert er gleichzeitig auch sein gewohntes Umfeld und seine Freunde. Serdars Vater arbeitet im Lokal seines Schwiegervaters. Ob Serdars Mutter auch in diesem Lokal mitgearbeitet hat, darüber sagt Serdar im Interview nichts. Er erwähnt lediglich die Berufstätigkeit des Vaters. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass die Mutter nicht ebenfalls – jenseits der Reproduktionsarbeit im eigenen Haushalt – gearbeitet hat, sondern kann auch als Merkmal für die enge Verknüpfung des Themas Erwerbsarbeit mit Geschlechterkonstruktionen gelesen werden: Väter werden als erwerbstätig dargestellt, während dies bei Müttern nicht thematisiert wird (vgl. Spindler 2006: 175 f.). Vermutlich versprechen sich Serdars Eltern von diesem Umzug vor allem Schutz und Sicherheit. Sie verlassen die Heimatstadt des Vaters, in der sich die Ereignisse zu dieser Zeit zu überstürzen scheinen. Aber auch in Diyarbakr ist die Situation nicht sicher. In einem Spiegel-Artikel aus dieser Zeit ist zu lesen: »Im ländlichen Raum des Kurdengebietes wird ein Dorf nach dem anderen gewaltsam geräumt und niedergebrannt, damit die PKK-Kämpfer keinen Unterschlupf mehr finden. Die älteren Bewohner der Dörfer ziehen in die Randgebiete der Städte oder wandern in den Westen des Landes weiter. Die Jungen flüchten in die Berge, wo sich die PKK ihrer annimmt. So sorgt die Armee dafür, daß die Aufständischen reichlich Nachwuchs bekommen. In den größeren Städten wird der Terror anders praktiziert. Anonyme Todesschwadronen, angeblich aus Polizisten rekrutiert, er306

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schießen ungehindert Journalisten, Anwälte, Parteifunktionäre und andere Intellektuelle, die sie für Parteigänger der PKK halten. Die Täter werden nie gefaßt.« (o.A. 1994: 22)

Im Dezember 1994 wird der älteste Bruder von Serdars Vater, der inzwischen aus Deutschland zurückgekehrt war und mit seiner Familie in Diyarbakr lebte, auf offener Straße vor den Augen seiner Frau erschossen (vgl. Kap. 8.4.3). Serdar verliert also wieder einen Onkel, die beiden Kinder des Onkels verlieren ihren Vater. Und Serdar hat vermutlich Angst, dass sein Vater der nächste sein könnte. Die Familie ist also auch weiterhin der Brutalität des politischen Kampfes ausgesetzt. Selbst der Umzug nach Diyarbakr konnte hiervor nicht schützen. Serdars Vater flieht daraufhin – Anfang 1995 – zusammen mit einem Bruder, der mit einer Schwester von Serdars Mutter verheiratet ist, nach Deutschland. Sie kommen nach Frankenthal, in der Nähe von Ludwigshafen, wo bereits ein anderer Bruder lebt. Serdars Vater und zwei seiner noch lebenden Brüder scheinen nun in Sicherheit zu sein. Die Frauen und Kinder sind zurückgeblieben. Vielleicht ist geplant, dass sie nachkommen sollen, sobald der Aufenthaltsstatus der Männer in Deutschland gesichert ist, und sie Arbeit gefunden haben. Vielleicht hofft die Familie aber auch, dass sich die politische Situation ändert und die Männer dann zurückkehren können. Doch letzteres ist nicht der Fall, und so geht Serdars Mutter 1996 ebenfalls nach Deutschland, wo Serdars Vater bereits Arbeit bei der BASF gefunden hat. Im Sommer – nach Beendigung der 3. Klasse – wird dann auch Serdar nachgeholt. Sein Großvater bringt ihn zusammen mit seinem Bruder und seinem Cousin, dessen Vater erschossen wurde, nach Köln, wo sie Serdars Vater abholt und nach Frankenthal bringt. Auch ein weiterer Onkel ist inzwischen in Frankenthal eingetroffen. Die Familie scheint sich also in der Stadt einzurichten. An einen Neuanfang bzw. politischen Umschwung in Diyarbakr und Umgebung scheinen sie nicht mehr zu glauben. Dass der Großvater die Kinder abholt, lässt sich vermutlich mit dessen gesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland erklären, wohingegen Serdars Eltern und Onkel – als politische Flüchtlinge – wahrscheinlich nicht in die Türkei zurückkehren können und (noch) einen unsicheren Status in Deutschland haben. Serdar wird in Frankenthal sofort wieder eingeschult. Er soll zunächst die dritte Klasse wiederholen, wird aber schon nach kurzer Zeit – wegen mangelnder Deutschkenntnisse – in die zweite Klasse zurückgestuft. Es scheint niemanden zu geben, der Serdar Nachhilfe in Deutsch gibt oder ihn bei der Verarbeitung seiner Erlebnisse unterstützt. Stattdessen wird er in eine Klasse gesetzt, in der er zwei Jahre ist älter als seine Mitschüler/-innen, und in die er Erfahrungen mitbringt, die er vermutlich selbst dann mit niemandem teilen

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kann, wenn es in der Klasse noch andere Kinder mit türkischem Migrationshintergrund gibt (vgl. Kap. 8.4.2). In den folgenden Jahren stabilisiert sich jedoch sowohl Serdars Familiensituation als auch seine Situation an der Schule. Im November 1996 – Serdar ist nun fast zehn Jahre alt – bekommen Serdars Eltern einen dritten Sohn, und 1998 migriert die Frau des in Diyarbakr erschossenen Onkels zusammen mit ihrer Tochter ebenfalls nach Deutschland. Sie zieht in die Nähe von Frankenthal und nimmt auch ihren Sohn, der bisher bei Serdars Eltern lebte, wieder zu sich. 1999 wechselt Serdar in die fünfte Klasse und kommt auf die Realschule. Er scheint also seine Sprachprobleme überwunden zu haben und ein guter Schüler zu sein, denn andernfalls hätte man ihn sicherlich auf die Hauptschule geschickt. Er spielt Fußball in einem Verein und hat eine Freundin aus Frankenthal. Im Jahr 2000 eröffnen die Brüder von Serdars Vater, die inzwischen fast alle in Deutschland leben, einen Dönerladen in Frankenthal. Auch Serdars Vater investiert in dieses Geschäft, arbeitet aber weiterhin bei der BASF. Doch diese positiven Entwicklungen halten nicht lange an. 2001 wechselt Serdar – er ist jetzt 14 Jahre alt – zur siebten Klasse auf die Hauptschule und beginnt zu kiffen. Im gleichen Jahr wird eine Anzeige wegen Hehlerei und Betrugs gegen ihn erhoben. Es kommt zu einem Täter-Opfer-Ausgleich. Die Schule scheint Serdar nun nicht mehr wichtig zu sein. Seine Leistungen sind offenbar eingebrochen, so dass er von der Realschule auf die Hauptschule geschickt wird. Und auch sonst scheint er sich in ›andere Welten‹ zu flüchten. Im folgenden Jahr wird Serdar ohne Schulabschluss aus der Hauptschule entlassen. Eine andere Reaktion kennt das Schulsystem offensichtlich nicht. Jedenfalls scheint es – zumindest außerhalb der Familie – niemanden zu geben, der/die mit Serdar jemals über seine Erlebnisse gesprochen hätte oder überhaupt erst gewusst hätte, was er und seine Familie in der Türkei erlebt haben. Die Familie ist mit der Verarbeitung ihrer Geschichte allein gelassen. Serdar beginnt nun ein Berufsvorbereitungsjahr, fehlt jedoch regelmäßig im Unterricht. Er kifft täglich und probiert auch andere Drogen aus. Doch nicht nur Serdars persönliche Situation, sondern auch die Familiensituation verschlechtert sich. 2002 kommt Serdars Großmutter, die Mutter seines Vaters, zusammen mit ihrem jüngsten Sohn und ihrer Enkeltochter, deren Vater ermordet wurde und deren Mutter inzwischen einen anderen Mann in der Türkei geheiratet hat, nach Deutschland. Sie zieht ebenfalls in die Nähe von Frankenthal. Gleichzeitig verliert Serdars Vater seine Arbeit bei der BASF. Er findet zwar eine Anstellung bei einer Leihfirma im Bereich Gartenund Landschaftsbau, doch die finanzielle Situation hat sich hierdurch sicherlich verschlechtert. Hinzu kommt, dass der von Serdars Onkeln betriebene Dönerladen ›bankrott‹ geht. Die Einnahmequellen werden also schlechter bzw. weniger, während gleichzeitig die Anzahl der zu versorgenden Familienmitglieder steigt. 308

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Für Serdar beginnt nun eine kontinuierliche Abwärtsspirale. Im März 2003 wird er zum ersten Mal verurteilt. Er wird wegen Diebstahls und Beleidigung verwarnt und bekommt zwei Wochen Dauerarrest. Ende 2003 muss er die Berufsschule verlassen. Er beginnt daraufhin eine Maßnahme zur Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss, an der er jedoch nicht lange teilnehmen wird. Denn bereits im Januar 2004 wird Serdar wegen Raubes in vier Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Vor Haftantritt lebt Serdar bei einem Freund und wird in dieser Zeit bei einem Einbruch mit 1,6 Promille, 700 Euro Beute und Drogenbesitz erwischt. Im Februar 2004 kommt Serdar in Untersuchungshaft. Im Mai 2004 wird er erneut angeklagt. Er wird nun wegen Raubes und Diebstahls in besonders schwerem Fall verurteilt. Die Strafe, die im Januar verhängt wurde, wird in das Urteil einbezogen, und Serdar wird zu zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Unter Umständen könnte Serdar aufgrund dieses Urteils nun auch in die Türkei ausgewiesen werden. Er steht zwar unter besonderem Ausweisungsschutz (vgl. § 48 AuslG), doch da seine Jugendstrafe mehr als zwei Jahre beträgt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde (vgl. § 47 II AuslG), liegt es im Ermessen der zuständigen Behörde, ob Serdars Aufenthaltstitel nach Ende seiner Bewährungszeit verlängert wird oder nicht. Serdar kommt in die Jugendstrafanstalt Schifferstadt. Hier verbringt er seinen 18. Geburtstag und auch die Geburt seines dritten Bruders, der im Februar 2005 zur Welt kommt, kann Serdar nur aus dem Gefängnis verfolgen. Serdar beginnt seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Im September 2005, also knapp 16 Monate nach seiner Inhaftierung, beendet er diesen mit einem Notendurchschnitt von 2,2. Er wird hieraufhin aus der Haft entlassen. Die restliche Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Für Serdar bedeutet dies einen Neuanfang. Er möchte nun auch noch die Mittlere Reife nachholen. Sein Bewährungshelfer unterstützt ihn dabei, eine Schule zu finden. Doch Serdar wird lediglich auf einer Privatschule angenommen, die knapp 2.000 Euro Schulgeld verlangt. Sein Bewährungshelfer hilft ihm, Fördergelder zu beantragen, was schließlich auch gelingt. Doch schon nach drei Monaten bricht Serdar die Schule und auch den Kontakt zu seinem Bewährungshelfer ab. Der Neuanfang ist offensichtlich gescheitert. Stattdessen bricht Serdar zusammen mit ehemaligen Mittätern im Dezember 2005 in einem Bürogebäude ein, wo sie in großem Umfang PCs stehlen. Serdar scheint also dort weiter zu machen, wo er vor dem Gefängnisaufenthalt aufgehört hat. Dennoch hat die Zeit in der Jugendstrafanstalt offensichtlich auch Spuren bei Serdar hinterlassen, denn er gesteht die Tat seiner Familie. Diese beschließt, ihn vor den Behörden zu schützen und vorübergehend bei einem Onkel in der Türkei unterzubringen. Sie fahren Serdar nach Straßburg, von wo aus er nach Paris reist, um schließlich von Paris aus in die Türkei zu fliegen. Hier lebt Serdar zunächst zwei Monate bei seiner Großmutter mütterlicherseits in Diyarbakr. 309

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Anschließend arbeitet er bei einem Onkel mütterlicherseits als Kellner in einer Bar in Izmir. Erst nach einem halben Jahr kehrt Serdar nach Deutschland zurück. Dort bittet er eine Rechtsanwältin um Rat und meldet sich bei seinem Bewährungshelfer. Es stellt sich heraus, dass Serdar in der Zwischenzeit als Zeuge, aber nicht als (Mit-)Täter gesucht wurde. Dennoch liegen nun ein Sicherungshaftbefehl und Bewährungswiderruf gegen ihn vor. Serdar beginnt eine Maßnahme »Fit für den Job«. Vermutlich rettet ihn diese vor der Sicherungshaft und auch vor dem Bewährungswiderruf. Im Februar 2007 kommt es jedoch zu einer erneuten Verurteilung wegen Diebstahls. Die Tat liegt schon drei Jahre zurück und wurde von Serdar vor seiner Verurteilung 2004 begangen. Die Strafe wird daher zur Bewährung ausgesetzt, Serdars Bewährungszeit also verlängert. Sie endet nun im Februar 2010, wobei er nur noch bis Anfang 2009 einem Bewährungshelfer unterstellt ist. Wäre es zu einer erneuten Haftstrafe gekommen, wäre Serdar mit Sicherheit ausgewiesen worden (vgl. § 53 I AufenthG).4 Doch auch so hat Serdar seinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verwirkt, und seine Aufenthaltserlaubnis gilt zunächst einmal nur bis zum Ablauf seiner Bewährungszeit (vgl. § 35 III AufenthG). Im Laufe des Jahres 2007 unterbricht Serdar die Maßnahme, die er gerade macht, um im Bereich Telefonmarketing zu arbeiten. Anschließend beginnt er ein Praktikum bei einem Handy-Anbieter. Er wird jedoch nicht übernommen und fängt daher am 1. September 2007 eine neue Ausbildungsmaßnahme an, die ihm sein Bewährungshelfer vermittelt hat. Fünf Tage später findet das Interview statt. Serdar ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt und lebt zusammen mit seinen Brüdern bei seinen Eltern in Frankenthal. Die beiden mittleren Brüder besuchen die Hauptschule, der jüngste Bruder ist gerade zweieinhalb Jahre alt. Serdars Vater ist seit zwei Jahren arbeitslos. Er hat starke gesundheitliche Probleme, die mit den Folgen der Folter zusammen hängen. Er wur4

Bis zum 31.12.2004 galt das Ausländergesetz (AuslG). Im Januar 2005 ist das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Artikel 1 des Zuwanderungsgesetzes), kurz: Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Kraft getreten. Nach diesem wird »[e]in »Ausländer [...] in der Regel ausgewiesen werden, wenn [...] er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist« (§ 54 I AufenthG). Ein »Ausländer« wird zwingend »ausgewiesen, wenn er [...] wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist« (§ 53 I AufenthG).

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de mehrmals am Rücken und am Ohr operiert und hat keinen Geschmackssinn mehr. Zum Zeitpunkt des Interviews macht er eine Maßnahme beim Arbeitsamt. Serdars Familie lebt von Arbeitslosengeld II. Seine Onkel arbeiten nach dem Bankrott des eigenen Dönerladens zum Teil in anderen Dönerläden der Stadt. Serdars Familiensituation ist – zumindest seit dem Bankrott des Dönerladens und der Entlassung seines Vaters bei der BASF – finanziell sehr prekär. Immer mehr Familienmitglieder kommen nach Frankenthal und müssen versorgt werden. Sie haben zum größten Teil die Gräueltaten in der Türkei miterlebt und ihre Söhne, Brüder bzw. Onkel und Väter verloren oder leiden selbst an den Folgen der Folter und Verfolgung. Doch das scheint in Deutschland niemanden zu interessieren. In Serdars Akte gibt es keinen Verweis auf seine Familiensituation oder Migrationsgeschichte. Er gilt als ›normaler‹ Gastarbeiter-Jugendlicher, der in Deutschland nicht zurecht kommt. Bei einem Telefongespräch mit Serdars Bewährungshelfer Ende Oktober 2007 erklärt mir dieser, dass er sich Sorgen um Serdar mache, da er viel kiffe und immer unpünktlich sei bzw. verschlafe.5 Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis er aus der neuen Maßnahme ausgeschlossen werde. Im Moment wohne Serdar noch bei seinen Eltern, wolle aber ausziehen, da ihn sein Vater zu sehr einschränke. Der Vater reagiere auf Serdars Verhalten mit einer sehr strengen Struktur. Er habe Angst, dass sein Sohn erneut ins Gefängnis komme. Serdar bräuchte – so sein Bewährungshelfer – dringend einen Ausbildungsplatz; eine Aufgabe.

8.3 Text- und thematische Feldanalyse Auf meine Eingangsfrage reagiert Serdar – im Gegensatz zu Ahmet und Murat – nur kurz verunsichert. Er vergewissert sich lediglich, ob ich wirklich »alles« von ihm wissen möchte und präsentiert sich auf diese Weise als jemand, der viel erlebt bzw. der viel zu erzählen hat, und der daher sicher gehen möchte, ob er wirklich alles erzählen soll. Er möchte scheinbar seine Aufgabe gut machen und den Anforderungen gerecht werden, vielleicht sich auch etwas wichtig machen. Womöglich lässt sich Serdars Nachfrage jedoch auch als ein Hinweis auf seine reichhaltigen (und brutalen) Lebenserfahrungen interpretieren. Dem entsprechend würde »also alles ja?« stellvertretend für die Frage stehen, ob ich als Interviewerin das auch wirklich aushalten werde. Darüber hinaus schwächt Serdar mit dieser Gegenfrage – ebenso wie Ahmet und Murat – das asymmetrische Verhältnis zwischen uns. Denn obwohl ich ihn interviewe, nimmt er sich das Recht, mir eine Frage zurückzustellen. Im Anschluss

5

Letztlich beschreibt er also genau die Erfahrungen, die auch ich bei meinem Treffen mit Serdar gemacht habe (vgl. Kap. 8.1). 311

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

hieran beginnt Serdar direkt mit seiner biographischen Erzählung. Weitere Nachfragen scheinen nicht nötig zu sein. ((kurzes Räuspern)) n=ja (2) ((leises kurzes Schmunzeln)) also (1) ich bin ja=nicht hier geborn ne? ich bin in Türkei geborn /m/ so Südanatolien (1) isch=bin eigentlich Kurde ja? /m/ äm komm aus Kurdistan (1) aber das=ist Gebiet, Türkei ne? isch bin türkischer Staatsbürger /ja/ ´und´ (1) na ja ´ä´ isch bin dort auf die Welt kommen war auch dort auf der Schule gewesen /m/ isch=hab die dritte Klasse fertig gemacht (2) (1/11-1/16)

Serdar positioniert sich hier – gleich zu Beginn des Interviews – sehr genau und differenziert. Er markiert die für ihn wichtigen Eckpfeiler, innerhalb derer er sich verortet; kreiert also einen »Identitätsaufhänger« (Goffman 1963/2005: 73; vgl. Schäfer/Völter 2005: 168). Gleichzeitig macht er deutlich, dass eine einfache Verortung bei ihm nicht möglich ist und er (daher) auch nicht in eine Schublade gesteckt werden kann: Er ist nicht »hier«, also in Deutschland, geboren, sondern in der Türkei. Doch er ist kein Türke, sondern ein Kurde. Da (dieses Gebiet) Kurdistan(s) jedoch zur Türkei gehört, hat er die türkische Staatsbürgerschaft. Er unterscheidet also zwischen einem »hier«, der Türkei und Kurdistan. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen ›Türke sein‹ und ›die türkische Staatsbürgerschaft haben‹. Serdar ist in der Türkei auf die Welt gekommen und auch bis zur dritten Klasse dort zur Schule gegangen. Er präsentiert sich also als jemand, der als Kurde in der Türkei aufgewachsen ist (vgl. auch Kap. 8.4.1). Nachdem sich Serdar auf diese Weise verortet und seine Position, von der aus er spricht, markiert hat, beginnt er mit der eigentlichen biographischen Erzählung. Diese fängt er mit seiner Schulzeit in Deutschland an. In einer Mischung aus Bericht und Argumentation spricht er über den Schulwechsel nach der dritten Klasse. Die ersten neun Jahre seiner Kindheit lässt er (zunächst) außen vor. Vielleicht geht er davon aus, dass mich sein vorheriges Leben in der Türkei nicht interessiert. Vielleicht nimmt er aber auch einfach mein »was du möchtest« wörtlich und spricht zunächst einmal über das, was ihm leicht fällt zu erzählen.6 Dabei stellt er die Migration nach Deutschland als gewöhnlichen Umzug dar, der gut geplant in den Sommerferien stattfindet. Für ihn bedeutet dieser Umzug jedoch, dass er die dritte Klasse wiederholen muss, obwohl er eigentlich ein gutes Zeugnis hatte, was er mit der Betonung »Abschluss sogar« offensichtlich zu unterstreichen versucht. Er präsentiert sich 6

Susanne Spindler beschreibt in ihrer Studie Corpus delicti eine Biographie eines kurdischen Jungen, dessen Kindheit durch ähnliche Erlebnisse wie die von Serdar geprägt wurde. Auch dieser Jugendliche beginnt – obwohl er nach seiner gesamten Lebensgeschichte und seiner ersten Erinnerung gefragt wurde – seine Haupterzählung mit der Migration nach Deutschland (vgl. Spindler 2006: 196).

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als guter Schüler, dessen Leistungen in Deutschland nicht wertgeschätzt werden; für den aber Veränderungen sonst kein Problem sind. In den beiden bisher analysierten Sequenzen zeichnet sich bereits ein erstes thematisches Feld ab: Ich bin jemand, der (als Kurde in der Türke) bzw. dessen Leistungen (als Schüler aus der Türkei in Deutschland) nicht anerkannt wird bzw. werden. Dieses thematische Feld bleibt auch in der folgenden Sequenz bestehen. Serdar beschreibt nun, wie er in der Schule »gemobbt« wurde, weil er kein Deutsch konnte. Selbst ein »Türke« aus der Klasse verbündet sich nicht mit Serdar, sondern »mit den Deutschen«. Serdar wird von den deutschen Schülern und Schülerinnen nicht anerkannt, weil er kein Deutsch spricht; und von dem einzigen Schüler, der ebenfalls kein Deutscher ist, wird er nicht anerkannt, weil er Kurde ist: ´und´ von ner dritten \((haut leicht auf den Tisch:)) Klasse\ (1) hab=isch erst=mal (2) ja so von ner Schule und so hab=ich halt Probleme gehabt ´und so´ /m/ ich wurde dort gemobbt und so ja? und also was heißt gemobbt ´weißte mi-´ (1) ja gemobbt so (1) so zum Beispiel immer alle zusammen gewesen und so und=ich konnt ja kein Deutsch ich hab Sprache ja=net gekonnt ne? (2) da war sogar ein Türke bei uns in der Klasse (1) der, der hat, der hat mit den Deutschen zusammengehangen so ja? /m/ hat=er zusammen ´ä:´ (1) gegen mich, also, sind=dann gegen mich gegangen ne? /m/ zu Sechst zu Siebt oder so, ham=misch dann so rumgeschmisse und so und=ich konnte kein Deutsch konnt mich ja ´nit wehren´ (1) und der Türke ä der Türke hat m mit denen, gesprochen also war mit denen eins weil ich Kurde war und so, /m/ und der hatte auch immer Stress (geschoben) (1/21-1/32)

Serdar präsentiert sich hier als Außenseiter, der ungerecht behandelt wird. Er ist jemand, der nicht nur von den Deutschen, sondern auch von jemandem, der eigentlich aus dem gleichen Land kommt wie er, wegen seiner Herkunft diskriminiert wird. Mit der Betonung, dass er sich nicht zu wehren wusste, weil er kein Deutsch konnte, präsentiert sich Serdar gleichzeitig als jemand, der Konflikte verbal, aber nicht körperlich lösen möchte. Darüber hinaus macht er mit der Wortwahl »gemobbt« deutlich, dass er heute diese Sprachprobleme nicht mehr hat, sondern sich gewählt ausdrücken kann und weiß, wie man ein solches Verhalten im Fachdiskurs bezeichnet. Das thematische Feld, das sich hier nun neben dem ersten thematischen Feld abzeichnet, ließe sich beschreiben als: Ich bin jemand, der intelligent und lernfähig ist. Diese Präsentation wird von Serdar auch in der folgenden Sequenz aufrechterhalten, wenn er berichtet bzw. argumentiert, dass er zunächst von der dritten in die zweite Klasse zurückgestuft wurde, schließlich jedoch auf die Realschule kam. Seine Noten seien immer gut gewesen und auch die Sprache habe er sehr schnell gelernt. Nur sein Verhalten sei nicht gut gewesen. Was er hiermit meint, lässt er jedoch erst einmal offen. Stattdessen nutzt er die Unterbrechung, die entsteht, als uns der bestellte Kaffee gebracht wird, um mit313

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hilfe einer verdichteten Situation zu beschreiben, wie er als kleiner Junge immer an die Tür gegangen sei, wenn der Elektriker geklingelt habe, da seine Eltern – obwohl länger in Deutschland – nicht so gut Deutsch sprachen wie er. Er präsentiert sich also als jemand, der seine Eltern in alltagspraktischen Dingen unterstützen musste, da diese nicht so schnell gelernt haben wie er. Auch in der folgenden Sequenz führt Serdar nicht weiter aus, was er zuvor angedeutet hat. Stattdessen fragt er mich, ob er mich duzen dürfe: B: \((Geschirrgeräusch)) kann dich auch duzen wegen\ wegenI: ja natürlich B: geht auch ja? I: ja ja klar ((Lächeln (1)) (2/10-2/13)

Eigentlich hatten wir uns bereits auf dem Weg zum Café über diese Frage verständigt (vgl. Kap. 8.1). Trotzdem scheint Serdar hier ein Bedürfnis zu haben, dies noch einmal zu klären, bevor er fortfährt. Vielleicht war er davon ausgegangen, dass ich ihn – wie ein Lehrer in der Schule – duzen würde, er mich aber siezen solle. Vielleicht möchte er mit seiner Frage (in der er mich bereits duzt) aber auch klarstellen, dass er und ich auf einer Ebene stehen; wir also gleichberechtigte Gesprächspartner sind. Es könnte daher sein, dass die Frage Vertrauen herstellen bzw. festigen sollte. Möglicherweise möchte er auch einfach nur irgendeine Reaktion von mir hervorlocken, da ich bisher auf das von ihm Gesagte – zumindest verbal – nur mit ›m‹ reagiert habe. Ich scheine jedenfalls von der Frage sichtlich überrascht zu sein und willige sofort in das ›Du‹ ein, ohne Serdars Begründung (»wegen-«) abzuwarten. Serdar scheint es schwer zu fallen, über sein negatives Verhalten zu sprechen. Er beginnt – möglicherweise ermutigt durch die kurze Interaktion – noch einmal von vorn bzw. fasst kurz zusammen, um dann bei der Realschulzeit wieder anzusetzen. Dabei präsentiert er sich als jemand, der in der Schule – zumindest ab der Realschulzeit – auffällig ist. Er stört den Unterricht und beginnt bereits in der fünften oder sechsten Klasse mit dem Rauchen, später ›kifft‹ er. Diese Präsentation wird von Serdar jedoch so nicht stehen gelassen, sondern sowohl auf sprachlicher als auch auf parasprachlicher Ebene bereinigt oder zumindest geschwächt: Denn Serdar beschreibt nicht einfach sein Verhalten, sondern versucht es auch direkt zu erklären. Er sei auffällig geworden, weil er Aufmerksamkeit gebraucht habe. Hierbei bedient er sich eines Sozialarbeiter-Jargons, der vordergründig zur Universalentschuldigung taugt.7 Vielleicht wurde Serdars Verhalten so bereits vor Gericht oder in der Bewährungshilfe von anderen erklärt; vielleicht hat er auch die Erfahrung gemacht, dass diese Erklärung Wirkung zeigt, wenn er sie selbst gebraucht.

7

Eines ähnlichen Erklärungsmusters bedient sich auch Murat; vgl. Kap. 7.4.5.

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Darüber hinaus rührt Serdar beim Sprechen immer wieder in seinem Latte Macchiato Glas, macht viele Pausen und wird beständig leiser. Am Ende bricht er das Thema sogar ab und verkündet, nun wieder lauter, dass er erst einmal über seine schulische Laufbahn sprechen wolle. Auf diese Weise präsentiert sich Serdar als jemand, dem es schwer fällt, so über sich zu sprechen; der sich vielleicht sogar – aus heutiger Perspektive oder mir gegenüber – für sein Verhalten schämt. Die thematischen Felder, innerhalb deren Serdar sich hier verortet, lauten nun: Ich bin jemand, der auffällig wurde, weil er Aufmerksamkeit brauchte; bzw.: Ich bin jemand, der auffällig wurde und sich hierfür schämt. Doch der – angekündigte – Themenwechsel gelingt Serdar nicht wirklich. Zumindest spricht er im Anschluss nicht von seiner »schulischen Laufbahn«,8 sondern leitet erneut in eine Interaktion über: B: es ist wirklich auch anders weißt du weil ((kurzes Räuspern)) isch=hab mir das anders=der vorgestellt isch hab gedacht ´du fragst misch irgendwas und dann muss isch´ bestimmte Frage muss=isch irgendwie beantworten /m/ aber so jetzt einfach ´so´ weißt du ((kurzes Lächeln)) I: ist ungewohnt ne? B: ja genau I: ja ja (2/24-2/31)

Möglicherweise merkt Serdar nun, dass es gar nicht so leicht ist, ohne Vorgaben über seine Familien- und Lebensgeschichte zu sprechen. Offensichtlich hat er zumindest eine andere Interviewform erwartet. Dass ihm dies jedoch gerade an dieser Stelle auffällt bzw. so sehr stört, dass er es verbalisieren muss, könnte auch mit dem Thema zusammen hängen, über das er gerade spricht. Er ist – obwohl das Interview erst begonnen hat – bereits dabei, über Dinge zu sprechen, die offensichtlich nicht in das Bild passen, das er gerne von sich vermittelt hätte. Möglicherweise ist Serdar davon ausgegangen, dass ich ihn interviewen wollte, um zu erfahren, wie bzw. warum er kriminell wurde. Dies könnte auch der Grund sein, warum er seine ersten Lebensjahre in der Türkei (zunächst) außen vor lässt und in der Erzählung direkt auf sein schlechtes Verhalten zusteuert. Die Interaktion dient ihm nun unter Umständen als ›Notbremse‹, um nicht zu schnell zu viel von sich preiszugeben. Vielleicht möchte er aber auch einfach alles richtig machen, und vergewissert sich auf diese Weise – und bevor er mehr von sich erzählt, ob ich dies überhaupt hören möchte.

8

Auch hier ist wieder Serdars gewählte Sprache auffällig, die ebenfalls aus dem Sozialarbeiter-Jargon entnommen sein könnte. 315

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Offensichtlich scheint ihm jedenfalls die Bestätigung meinerseits, dass es sich bei dem Interview um eine ungewohnte Situation handelt, auszureichen, um genau dort weiter zu machen, wo er aufgehört hat. Er berichtet von seiner schulischen Laufbahn und wiederholt, dass er in der sechsten Klasse auf die Hauptschule gewechselt habe. Doch auch diesmal geht Serdar auf den Schulwechsel oder die Gründe für diesen nicht näher ein, sondern spricht stattdessen über seine Schulnoten. Hierbei präsentiert sich Serdar als guter Schüler, der – obwohl »Ausländer« – im Deutschunterricht besser ist als die anderen. Ich bin intelligent und lernfähig, ist das thematische Feld, in das auch diese Präsentation sich einfügt. Doch schon damals sei Serdar aufgefallen, weil er immer »den Clown« (2/45) gespielt habe und als Kind »allen Scheiß« (2/47) gemacht habe. Sein schlechtes Verhalten, das Serdar zuvor angesprochen hat, wird von ihm nun bagatellisiert und als harmlos dargestellt. Er präsentiert sich als intelligenter Junge, dem man eigentlich nicht böse sein kann. Selbst auf der Hauptschule habe Serdar »nie die Schule geschwänzt« (3/01), sondern sei eben einfach aufgefallen, weil er »Scheiße gemacht« (3/03) habe. Eine Veränderung in der Präsentation zeichnet sich erst ab, als Serdar von seiner Zeit auf der Berufsschule spricht: (2) ja bin ich achte Klasse abgegangen (gewesen) war=isch in der Berufsschule gewesen (1) ´in der´ Berufsschule bin ich dann kriminell ä- (1) ´ne´? (1) da kam=es, erst erst, erst in der Berufsschule ist das gekommen (1) ((rührt im Glas (5)) in der Hauptschule hat=s auch angefangen mit dem Kiffen /m/ also in der Hauptschule angefangen /m/ (3) (3/4-3/8)

Serdar präsentiert sich nun nicht mehr als intelligent und lernfähig, sondern als einer, der kriminell wurde. Hierbei vermeidet er es jedoch, konkreter zu werden, sondern spricht stattdessen davon, dass »das« in der Berufsschule gekommen sei. Indirekt stellt er hierbei seine Kriminalität in den Zusammenhang mit dem ›Kiffen‹, mit dem er bereits in der Hauptschule begonnen hat. Er präsentiert sich nun wieder – unterstützt durch das Rühren im Latte Macchiato Glas – innerhalb des thematischen Feldes: Ich bin jemand, der auffällig wurde und sich hierfür schämt bzw. der auffällig wurde, weil er ›gekifft‹ hat. Diese Selbstpräsentation lässt Serdar jedoch nur für einen kurzen Moment stehen. Gleich im Anschluss beschreibt er seine Zeit auf der Realschule – springt also zeitlich noch einmal zurück – und präsentiert sich als stolz, dass er es als einer von wenigen »Türken« (3/12) auf die Realschule geschafft hat. Gleichzeitig präsentiert er sich jedoch auch als Außenseiter, da die anderen »Türken« nicht dem »Kanakenstyle« (3/15) entsprochen hätten, sondern aus reichen und modernen Elternhäusern kamen. Seinen Eltern hingegen sei das »Anpassen« (3/29) schwer gefallen; vor allem seine Mutter hätte als »Anal-

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

phabetin« (3/30) Probleme gehabt. Darüber hinaus sei er Kurde gewesen; »der Einzige der wo, von so ner Familie kam« (3/31-3/32). Mit dieser Argumentation bewegt sich Serdar innerhalb eines Integrationsdiskurses, bei dem davon ausgegangen wird, dass man sich nur anpassen müsse, um in der ›Aufnahmegesellschaft‹ erfolgreich zu sein (vgl. Kap. 2.4.1). Gleichzeitig dient ihm diese Argumentation, um zu erklären bzw. zu entschuldigen, warum er letztlich auf der Realschule gescheitert ist bzw. vielleicht auch, warum er auf der Hauptschule mit dem Kiffen begonnen hat. Er präsentiert sich als einer, der einfach anders ist als die anderen bzw. dessen Familie anders ist als ›normale‹ Gastarbeiter-Familien. Er ist jemand, der nicht nur wegen seiner Herkunft (als Kurde), sondern auch sozialstrukturell benachteiligt ist (weil seine Eltern sich nicht anpassen konnten); und letztlich daran scheitert. Serdar beginnt zu kiffen, und da das Kiffen finanziert werden muss, wird er kriminell. Er präsentiert sich als passiv: Er konnte nichts dazu, dass er kriminell wurde, das Kiffen hat dazu geführt. Diesen Zusammenhang betont Serdar immer wieder, ohne darauf einzugehen, was er eigentlich getan hat; warum er bzw. inwiefern er kriminell wurde. Stattdessen folgt eine weitere Argumentation, in der Serdar beschreibt, wie sehr seine Eltern und die Familie in der Türkei enttäuscht waren, als er auf die Hauptschule kommt. Diese Argumentation untermauert Serdar mit einem generellen Statement, in dem er für mich darstellt, welche Erwartungen und Hoffnungen die Familien in der Türkei auf ihre Verwandten in Deutschland setzen: weil das ist so Tina, Tina gä? /m/ (1) Familien ´ne´? die die hier leben die haben ja=auch Familien drüben in den, ((kurzes Räuspern)) da drüben, die Menschen die die die die die Türken ich rede jetzt mal von Türken ja? weil=isch weiß nicht /ja/ wie=s bei den anderen Ausländern ´ist´ /ja/ aber bei den meisten ist es so die mit selben Mentalität und Kultur kommen, ist es meistens so das gleiche (1) weißte? (2) äm wenn die wenn ne Familie hier ist ist die Familie ä da drüben, ist in einer Hoffnung so weißte? isch isch ä- was heißt n Hoffnung? in einer Erwartung so /m/ ah die sind, die sind=jetzt in Deutschland und so dene geht=s jetzt gut und=so /m/ besser wie=uns und=so (1) (3/44-4/02)

Serdar präsentiert sich hierbei als Experte, der sich auskennt mit Familien, die in unterschiedlichen Ländern leben bzw. eine transnationale Migrationsgeschichte haben. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass ich ihn verstehe und die Strukturen begreife, innerhalb derer er sich bewegt. Gleichzeitig verdeutlicht er auf diese Weise, wie sehr er nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Angehörigen in der Türkei enttäuscht hat. Er präsentiert sich als jemand, auf dem hohe Erwartungen gelastet haben. Indirekt erklärt Serdar auf diese Weise auch sein Kiffen bzw. warum er schließlich kriminell wurde. Dabei bedient er 317

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

sich eines Erklärungsmusters, nach dem Jugendliche einem besonderen Druck ausgesetzt sind, um den Erfolg des Migrationsprojekts der Eltern zu bestätigen (vgl. Kap. 2.4.3; King 2006). Das entsprechende thematische Feld ließe sich beschreiben als: Ich bin jemand, der die Erwartungen der Familie enttäuscht hat und daher zu Kiffen begonnen hat und kriminell wurde. Warum Serdar überhaupt erst von der Realschule auf die Hauptschule wechseln musste, erklärt er jedoch auch hier nicht. Wenn man diesen letzten Exkurs als eine weitere Entschuldigung interpretiert, so überrascht es nicht, dass Serdar nun auch tatsächlich darüber sprechen kann, was er eigentlich getan hat. Denn er hat nun ein wahres Netz an Entschuldigungen bzw. Erklärungen gesponnen, das ihn auffangen bzw. ihn dabei unterstützen kann, sich als jemand zu präsentieren, der nichts dafür konnte, dass er kriminell wurde. Denn Serdar ist – zumindest seiner Präsentation zufolge – jemand, der eigentlich intelligent und lernfähig ist, aber nicht anerkannt wurde; der auffällig wurde, weil er Aufmerksamkeit brauchte; und der schließlich kriminell wurde, weil er die Erwartungen seiner Familie nicht erfüllen konnte. In den beiden folgenden Sequenzen spricht Serdar dann auch tatsächlich darüber, was konkret vorgefallen ist. Zunächst berichtet er, wie er von der Berufsschule aus Gymnasiasten »abgezogen« hat, weil diese vor ihm, dem »Türke[n]«, Angst hatten, um dann mit dem Geld ›Party zu machen‹. Anschließend erzählt er eine Geschichte, in der sein Vater mit ihm los geht, um Schuhe zu kaufen. Doch die Schuhe, die Serdar gefallen, kann sein Vater sich nicht leisten. Sie gehen unverrichteter Dinge nach Hause und noch am gleichen Abend klaut Serdar Geld, um sich am nächsten Tag die Schuhe zu kaufen (vgl. Kap. 8.4.2). In beiden Sequenzen präsentiert sich Serdar in erster Linie als sozialstrukturell benachteiligt. Er ist jemand, der sich das, was er machen bzw. haben möchte, nicht leisten kann; und der es sich daher auf andere Weise besorgen muss. Er ist nicht etwa kriminell geworden, weil es ihm Spaß macht, andere Schüler ›abzuziehen‹ oder einzubrechen, sondern weil ihm – zumindest seiner Präsentation zufolge – keine andere Wahl blieb. Das thematische Feld, innerhalb dessen Serdar sich hier nun verortet, lautet: Ich bin jemand, der sich nimmt, was er braucht, weil er es sich auf legalem Weg nicht leisten kann. Daneben präsentiert er sich – zumindest in der ersten Sequenz – als »Türke« bzw. »Ausländer«; als einer, der von den Gymnasiasten als jemand angesehen wird, vor denen sie Angst haben. Und er präsentiert sich als schlau bzw. intelligent: Er ist zwar einer, der anders ist als die anderen (bzw. zum Anderen gemacht wird), aber der dieses Image für sich nutzen kann. Hierbei ist es ihm jedoch wichtig zu betonen, dass er keine Gewalt angewendet hat. Er möchte

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auf keinen Fall von mir als Schläger wahrgenommen werden (vgl. auch Kap. 8.4.2).9 Nach diesen beiden Sequenzen folgt wieder eine Interaktion: B: [...] (1) das war ä: ich, wie soll=isch sagen? ja (1) und dann war=halt Knast und so Scheiße ne? (2) isch, ich bestreite das isch isch komm- ich bin selbst durcheinander verstehen ´Sie´? Tina (1) ä ´alles dann-´ (1) isch weiß=nit wo ich anfangen \((schmunzelnd:)) soll /ja/ weil das so viel ist weißt du?\ I: kein Problem einfach was dir in n Kopf kommt ((Lächeln (1)) (5/23-5/28)

Thematisch ist Serdar nun bei seiner Jugendstrafe angekommen. Doch anstatt über seine Zeit im »Knast« zu berichten, unterbricht er seine biographische Erzählung. Er zieht (erneut) eine ›Notbremse‹ und erklärt dies damit, dass er »durcheinander« sei. Gleichzeitig verfällt er vom ›Du‹ ins ›Sie‹, was darauf hindeuten könnte, dass Serdar hier tatsächlich verwirrt, irritiert oder überfordert ist und den Faden verloren hat. Möglicherweise erscheint ihm auch seine aktuelle Präsentation nun doch als zu handlungsmächtig, weshalb er an dieser Stelle abbricht. Es gelingt ihm jedenfalls durch die Interaktion das Thema Gefängnis zu umgehen und auch seine Selbstpräsentation noch einmal komplett zu ändern. Denn obwohl Serdar in den folgenden Sequenzen in einer Mischung aus Beschreibung, Argumentation und Bericht erzählt, dass er wegen Raubes angeklagt wurde, Einbrüche begangen hat, von der Berufsschule und anschließend auch aus einer Maßnahme geflogen ist, »nur=noch Scheiße gebaut« (6/35) hat und schließlich vor Gericht zu einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde, gelingt es ihm, sich nun vor allem als unschuldig, naiv und ungerecht behandelt zu präsentieren. Er wusste nicht, dass man wegen des Klauens von drei oder vier Handys und wegen einer Beute von vielleicht 100 Euro wegen Raubes verurteilt werden kann. Er war damals noch jung und wurde – zumindest seiner Präsentation zufolge – für harmlose Sachen hart bestraft. Darüber hinaus präsentiert sich Serdar als reumütig und als jemand, der nun zur Vernunft gekommen ist: wenn=isch m-, wenn ich mir mich heute vorstelle (1) dann stell=isch mir, so=n Esel weißt du? (1) der hat=die Augen zugebunden und=sieht nur nach hinten (6/24-6/25)

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Es ist davon auszugehen, dass die ›Gymnasiasten‹, die von Serdar ›abgezogen‹ wurden, Serdars Handeln durchaus als gewalttätiges Handeln erlebt haben. Doch Serdar scheint dies nicht so zu sehen. Möglicherweise ist ›Gewalt‹ für Serdar eng verknüpft mit dem, was er in seiner Kindheit erlebt hat (vgl. Kap. 8.2), und er betont daher in solch starkem Maße die Gewaltlosigkeit seines eigenen Handelns. 319

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Thematisch zieht Serdar also eine Schleife: Er wiederholt das zuvor Gesagte, präsentiert sich dabei jedoch in einem anderen Licht. Schließlich gelangt er wieder dort an, wo er zuvor seine Präsentation unterbrochen hatte. Er berichtet von der Zeit vor dem Gefängnis: ((B. steckt sich Zigarette an (1)) (1) ein Jahr sechs Monate hab=isch bekommen /m/ (1) und die Zeit hab=isch aber m- war=isch ja nicht mal daheim oder so /m/ hab=isch hier bei \((etwas schmunzelnd:)) irgend nem Freund gewohnt oder so\ zwei drei Monate lang bin nie-, bin nur heimgegangen ganz kurz so wenn Vater nischt da war (3) (6/49-7/02)

Hierbei präsentiert sich Serdar als jemand, der zu Hause nicht mehr willkommen war. Zumindest seinem Vater musste oder wollte er aus dem Weg gehen. Doch anstatt im Folgenden von der Zeit im Gefängnis zu berichten bzw. zu erzählen oder das (schwierige) Verhältnis zu seinem Vater weiter auszuführen, folgt nun eine Sequenz, in der Serdar beteuert, dass seine Eltern »nichts dafür« konnten: die konnten ehrlich nichts dafür m isch weiß nicht ganz, mit fünfunddreißig sind=die hier her gekommen ne? /m/ vielleicht sogar noch jünger oder älter keine Ahnung so cirka ne? /m/ (2) da jetzt versuch mal in einem Land wo du keine Sprache kennst ne? /ja/ und und dies und das (2) irgendwas zu machen irgendwas auf die Beine zu stellen /m/ versuch das mal, also isch stell mir das jetzt so vor (1) isch isch hier so, isch steh irgendwo in Australien- Australien geht=s ja noch wegen Englisch weißt du? \((etwas schmunzelnd:)) isch kann ja Englisch bisschen und=so\ /m/ (1) irgendwo in Afrika in einem Land ne? /m/ und ich muss dort leben ne? /m/ (1) dann weiß=isch auch nit was abgeht dort und=so /m/ stell dir vor /m/ du kannst dir keine Witze also ((bewegt Löffel)) oder irgendwas weißt du du weißt nischt was abgeht da kannst kein Fernsehn gucken /ja/ (2) gar nichts /m/ ( ) schwer ´un´ (3) und=die Sachen die meine Eltern damals über mich gewusst haben, die weiß=isch jetzt /m/ die weiß sogar ich jetzt und, weißte? /m/ ´und´, und die lerne se jetzt erst noch dazu verstehst du? /m m/ aus den Fehlern genauso weißt du aus den Fehlern? /m/ (1) aber=isch find meine Eltern wa- die sind nicht schuldig weißt du? (1) (7/037/18)

Serdar präsentiert sich als jemand, der seinen Eltern keine Vorwürfe macht. Er versucht sich in ihre Lage hineinzuversetzen und hierdurch auch mir – als Interviewerin – deutlich zu machen, wie schwer es seine Eltern hatten. Er räumt jedoch auch ein, dass seine Eltern Fehler gemacht haben bzw. die damalige Situation nicht durchschaut hätten und erst jetzt aus den Fehlern lernen würden. Dennoch seien sie »nicht schuldig«. Um dies zu untermauern, kommt Serdar in den folgenden Sequenzen auf seinen Familienhintergrund zu sprechen. Er erklärt, dass sein Vater ein politi320

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

scher Flüchtling sei und erzählt mir nun – sehr ausführlich und zum Teil in Form von langen Erzählungen – seine Familien- und Lebensgeschichte, die er zuvor ausgespart hatte (vgl. Kap. 8.2). Hierbei präsentiert sich Serdar als Teil einer Familie, die in der Türkei bzw. »Kurdistan« (7/20) in guten Verhältnissen gelebt hat und nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kam. Er lebte geborgen im Kreise seiner Familie. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse: Serdars Onkel wurden ermordet und sein Vater immer wieder verhaftet. Noch heute leidet er unter den Folgen der Folter. Er musste fliehen und kam – nicht zuletzt wegen der Kinder – nach Deutschland. Serdar präsentiert sich als Teil einer Familie, die Gewalt, Ohnmacht und Willkür erlebt hat und massiv bedroht wurde. Er musste mit ansehen, wie sein Vater verhaftet wurde und an den Folgen der Folter gelitten hat. Einer seiner Onkel ist in Serdars Armen gestorben. Er ist also Teil einer Familie, deren männliche Angehörige ermordet oder verhaftet wurden; für die es keinen sicheren Ort in der Türkei gibt und die daher unfreiwillig ihre Heimat verlassen musste (vgl. Kap. 8.4.3). Serdar spricht nun über all das, was er zuvor ausgelassen hat. Doch warum ist es ihm gerade jetzt, an dieser Stelle wichtig, über seinen familiären Hintergrund und die brutalen Erlebnisse seiner Kindheit zu sprechen? Denn eigentlich hätte sich all das, was er nun erzählt, bestens geeignet, um sein Scheitern in der Schule, das Kiffen, die Einbrüche und das ›Abziehen‹ der Gymnasiasten zu erklären bzw. zu entschuldigen. Er ist jemand, der als Kind massive Gewalt erlebt hat, vielleicht sogar schwer traumatisiert ist, und sich daher nun mithilfe von Drogen in eine Scheinwelt flüchtet, zu deren Finanzierung er kriminell werden musste. Doch diese Geschichte erzählt Serdar nicht bzw. – um es anders auszudrücken – dieses Diskurses bedient er sich nicht. Er präsentiert sich nicht auf diese Art und Weise. Wenn er nun seinen familiären Hintergrund darlegt, dann lediglich deshalb, um hierdurch die Unschuld seiner Familie an seiner Straffälligkeit zu untermauern. Er scheint also genau den Diskurs, den er mit Leichtigkeit hätte bedienen können, abwehren zu wollen: Dass er kriminell wurde, liegt nicht an seiner Herkunft und auch seine Eltern können nichts für seine Taten. Möglicherweise möchte Serdar seine Eltern auf diese Weise schützen. Sie haben bereits genügend Opfer gebracht bzw. bringen müssen und sollen nun nicht auch noch für Serdars Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Argumentativ bewegt sich Serdar dabei innerhalb eines Diskurses, in dem Eltern für ihre Kinder haften; vielleicht sogar gerade migrierte Eltern eine besondere Verantwortung für ihre Kinder tragen. Vor diesem Diskurs möchte er sich und seine Eltern schützen, was jedoch zur Folge hat, dass die offiziellen Institutionen, mit denen er in Kontakt kam, offensichtlich auch nichts von seiner Migrationsgeschichte wissen und ihn als ›normalen‹ Gastarbeiterjungen behandeln (vgl. Kap. 8.2).

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Art und Weise, wie Serdar das Thema Familienhintergrund im Interview beendet. Eingeleitet mit der Ankündigung: »ja genau (1) das war=s auch über die Familie was=isch noch sagen wollte« (11/02-11/03) präsentiert er sich nun noch einmal sehr stark als jemand, auf dem die Hoffnungen und Erwartungen seiner Eltern lasten; für dessen Wohl die Eltern nach Deutschland gekommen sind. Das während seiner Kindheit Erlebte rückt hierbei in den Hintergrund: mein mein mein- meine Eltern sind, genau da drauf wollt=ich kommen gä? meine Eltern sind wegen (1) wegen uns hier her gekommen weißt du? /m/ er wollt seine Kinder und seine Familie, das (1) weißt du da-, um erst mal um sein Leben und zweitens nur wegen seine Kinder /m/ nichts wegen was anderes, weil das hier in, in Deutschland ist=es, ist es gut weißt du? die schulische Ausbildung dies das und=so, da gibt=es Möglichkeiten da kann- da kann man so viel machen wenn man will nur=will so viel (aber hinterher) kannst du machen wie du willst /m/ (1) schreibst du, d- dein ganze Leben hängt hängt von eine Stelle ab, kannst du im Leben deine Schule machen und dein ganze Leben dann hängt von eine Stunde Prüfung ab ne? /m/ die jeder ablegen muss und=dann so viel Druck und so noch ne? /m/ und dann noch bis- bis was du kriegst wie viel Punkte du kriegst und=so (2) ist ja nichts ä weißt du? /m/ in Deutschland alles diese- guck mal kann man sofort Ausbildung machen ´das oder dies oder was weiß=ich´ /ja/ (2) aber das hab=isch damals net gewusst /m/ da war ich jünger als jetzt /m/ da war=ich jünger (11/03-11/17)

Serdar ist nun wieder im Heute angelangt und spricht über die Möglichkeiten, die er nicht für sich genutzt hat. Dabei präsentiert er sich – wie schon zuvor – als ›normaler‹ Sohn von Gastarbeitern aus der Türkei und gleichzeitig als naiv und unwissend; in gewisser Weise auch als ungerecht behandelt: Man geht sein Leben lang zur Schule und am Ende hängt alles von einer Stunde Prüfung ab. Im Anschluss an diese Sequenz bricht Serdar ab und es kommt – wieder einmal – zu einer Interaktion, wobei ich diesmal nicht verbal reagiere, sondern lediglich ›lächle‹, was an dieser Stelle jedoch auszureichen scheint. Serdar zündet sich eine (weitere) Zigarette an und wartet mehrere Sekunden, bis er dann (wieder) bei seiner Verurteilung ansetzt, also dort beginnt, wo er zuvor bereits zweimal aufgehört hat. Doch auch jetzt spricht Serdar nicht über die Zeit im Gefängnis, sondern beschreibt eine verdichtete Situation vor seiner Inhaftierung, als er »nur Scheiße gebaut« (11/24) hat. Er ist einbrechen gegangen und hat das Geld in Discos ausgegeben, seine Freunde eingeladen, Alkohol gekauft, »Party gemacht« (11/38-11/39), seinen Freunden Geld oder »auch mal n bisschen Gras geschenkt« (12/3). Dabei präsentiert sich Serdar als jemand, der – nach seiner Verurteilung – nichts mehr zu verlieren hat bzw. dem alles egal ist. Gleichzeitig präsentiert er sich als jemand, der ein hohes Maß an Aufmerksamkeit oder Anerkennung braucht und sich diese erkauft. Ich bin jemand, der auffällig 322

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

wurde, weil er Anerkennung bzw. Aufmerksamkeit braucht, taucht nun wieder als thematisches Feld auf. Daneben präsentiert sich Serdar als jemand, der seiner Familie großen Schaden zugefügt hat: isch=hab meine Familie einfach so in Schwierigkeiten gebracht /m/ einfach so /m/ einfach so isch- (1) kaputt gemacht die ganze Familie weißt du? (1) die ganze Familie einfach so kaputt gemacht (1) (12/27-12/29)

Er schämt sich gegenüber seiner Familie und möchte das, was er ihr angetan hat, wieder gut machen. Das, was seiner Familie von anderen bereits angetan wurde, thematisiert er hier nicht mehr. Als Serdars Handy klingelt, nutzt er die entstandene Unterbrechung, um mich zunächst zu fragen, ob das, was er mir erzählt, auch tatsächlich nicht an seinen Bewährungshelfer weitergeleitet wird: B: wo waren wir stehen geblieben he? (1) ja I: (3) ist noch an ja ((kurzes Schmunzeln)) B: das kriegt nit- aber Herr F.10 kriegt das nicht mit oder? I: ne ne überhaupt nicht das ist wirklich nur für mich B: weil isch will dir was sagen weißt du weil, was=er nit unbedingt wissen muss weißt du? (2) (13/26-13/32)

Im Anschluss beginnt er von der Zeit nach dem Gefängnis zu berichten. Die Zeit im Gefängnis spart Serdar also auch weiterhin aus. Er thematisiert lediglich das Gefängnis als Ort des Lernens, betont also die fördernde Wirkung des institutionellen Rahmens. Bereswill & Rieker (2008: 406) beschreiben, dass sich eine solche Darstellung häufig in biographischen Erzählungen junger Männer finden lässt, »deren Lebensgeschichten durch ein hohes Maß an Diskontinuität und durch die Erfahrung der Abhängigkeit von anderen Menschen, aber auch von psychoaktiven Substanzen geprägt ist«. Ein Freiheitsentzug werde »in solchen Fällen als Autonomiezuwachs und nicht, wie aufgrund klassischer Studien und Theorien zum Gefängnis anzunehmen wäre [...], als Autonomiekrise erlebt«. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Serdar im Gefängnis nicht auch ganz andere Erfahrungen gemacht hätte. Dass er hierüber in der Haupterzählung nicht spricht, könnte auch heißen, dass er sich an bestimmte Erlebnisse nicht erinnern oder zumindest nicht darüber sprechen möchte.11 Vielleicht wäre dies zu 10 Name des Bewährungshelfers. 11 Ich habe Serdar an späterer Stelle noch einmal konkret nach der Zeit im Gefängnis gefragt; vgl. Feinanalysen, Kap. 8.4.4. 323

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

schmerzhaft oder würde auch einfach nicht in die von ihm gewählte Selbstpräsentation passen. Denn Serdar präsentiert sich nun als jemand, der sich im Gefängnis gut geführt hat und daher früher entlassen wird. Er ist jemand, der höhere Ziele hat und nach dem in Haft erreichten Hauptschulabschluss nun auch noch Mittlere Reife machen möchte. Die Zeit im Gefängnis wird also von Serdar als »äußerer biographischer Wendepunkt« (Bereswill/Rieker 2008: 410) beschrieben: die Qualifikationsprozesse stehen im Mittelpunkt seiner biographischen Erzählung über die Zeit in Haft, Konflikte werden nicht thematisiert. Doch Serdar präsentiert sich auch als jemand, dessen (Jugend-)Träume (Führerschein mit 18) durch die Haft zerstört wurden und der auch nach der Haft noch die Folgen seines Tuns zu spüren bekommt, da keine Schule ihn nehmen möchte. Die Zeit im Gefängnis steht einem (weiteren) Resozialisierungsprozess im Weg (vgl. hierzu auch Spindler 2006: 268). Die thematischen Felder, die schon zu Beginn des Interviews Serdars Präsentation bestimmt haben, zeichnen sich nun wieder ab: Ich bin jemand, der intelligent und lernfähig ist. Und: Ich bin jemand, dessen Leistung (Bildungsabschluss und Bildungswille unter widrigen Umständen) nicht anerkannt wird. Dennoch klingt es, als stehe nun ein Neuanfang bevor. Es folgen eine Argumentation und schließlich eine verdichtete Situation, in denen Serdar beschreibt, dass er das Geld, das er letztlich mithilfe seines Bewährungshelfers für die Schule auftreiben konnte, von der Bank genommen und »verballert« hat. Später war er mit »ehemalige[n] Mittäter[n]« (15/16) unterwegs und ist mit ihnen einbrechen gegangen. Hierbei präsentiert er sich zum einen als sozialstrukturell benachteiligt, denn er hat vom Arbeitsamt kein Geld bekommen und auch seine Eltern konnten ihn nicht unterstützen. Zum anderen präsentiert er sich aber auch wieder als naiv und ungerecht behandelt. Denn von dem Einbruch, den er zusammen mit seinen »ehemaligen Freunde[n]« (15/15) verübt hat, hat er – so präsentiert er es zumindest – am Ende nichts gehabt, da das Geld »irgendjemand genommen« habe. Der Neuanfang ist also nicht gelungen, und auch von seiner Präsentation her ist Serdar wieder dort gelandet, wo er auch schon zu Beginn des Interviews bzw. am Anfang seiner kriminellen Karriere stand: Ich bin jemand, der sich nimmt, was er braucht, weil er es sich auf legalem Weg nicht leisten kann. Und vielleicht auch: Ich bin jemand, der auffällig wurde, weil er Anerkennung bzw. ›Aufmerksamkeit‹ braucht; und diese von seinen Freunden nur erhält, wenn er mitmacht, also auch ›einbrechen geht‹. Würde Serdar nun an dieser Stelle seine Haupterzählung beenden, so könnte davon ausgegangen werden, dass dies noch längst nicht das Ende seiner kriminellen Karriere ist. Denn jemand, der sich – auch nach einem Gefängnisaufenthalt und erfolgreich absolviertem Schulabschluss – auf diese Weise präsentiert, wird wohl auch in Zukunft kein Leben ohne Kriminalität 324

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führen. Doch Serdar lässt seine Selbstpräsentation so nicht stehen. Es folgt eine lange Passage, in der er in einer Mischung aus verdichteten Situationen, Erzählungen und Argumentationen eine Kehrtwende in seinem Leben beschreibt. Serdar sitzt nach dem letzten Einbruch zu Hause und hat große Angst verhaftet zu werden. Als zwei Polizisten auftauchen, flieht er zunächst in die Stadt, kommt jedoch zurück, als seine Tante ihn anruft und erklärt, dass seine Mutter mit den Polizisten allein zu Hause sei und kein Deutsch könne: ´bin=isch angekommen zu Hause und so´ vor der Tür, war mein Onkel isch wollt ( ) er=hat=gesagt, ist alles klar und so? sagt er komm die sind weg sagt=er /m/ ´und=er sagt was hast du gemacht?´ (2) und da dann hab=isch erst mal geweint weißt du? hab=isch die Wahrheit gesagt ´hab=isch=gesagt´ ich hab des und des gemacht (1) isch will- ich geh nicht=mehr in den Knast hab=ich=gesagt ´ich gehe Flucht das ist´ /m/ (1) und dann war=isch noch, bei meiner Freundin weißt du? zwei Wochen /m/ meine ´Mutter hat gesagt okay´ weil ist=doch meine Familie die schickt mich doch nicht doch nit in den Knast oder? /m/ weißt du /m/ dann (1) irgend- keine Mutter hätte=das gemacht (1) weißt du? (1) und dann, bin=isch zu meiner Freundin (1) hab=isch mich zwei Wochen bei ihr \((bewegt Tasse:)) versteckt\ /m/ und die ham=dann entschlossen dass=ich zu meinem Onkel in die Türkei wieder gehe, der hat=ne Bar dort (16/50-17/19)

Serdars Familie bringt ihn nach Straßburg. Von dort aus geht es weiter nach Paris und von Paris aus fliegt er in die Türkei. Dort angekommen arbeitet Serdar bei seinem Onkel in einer Bar (vgl. Kap. 8.2). Serdar präsentiert sich hierbei als jemand, der Angst hat vor der Polizei bzw. Angst hat, wieder ins Gefängnis zu kommen. Gleichzeitig präsentiert er sich aber auch als jemand, der Verantwortung übernimmt. Er lässt seine Mutter nicht mit den Polizisten allein, sondern kehrt nach Hause zurück; auch wenn dies bedeutet, so glaubt er es zumindest, dass er dann verhaftet wird. Schließleich präsentiert sich Serdar als jemand, der eine Familie hat, die – auch in schwierigen Zeiten – für ihn da ist und ihm hilft. Er ist jemand, der seiner Familie bzw. der auf die Hilfe seiner Familie vertrauen kann; sei es in Deutschland oder in der Türkei. Doch damit nicht genug, denn das, worum es Serdar eigentlich geht, kommt erst noch: isch ha- isch hab mich erst in der Türkei ne? ´hab isch´ mich für die- für die Sachen wo=isch gemacht hab (1) geschämt weißt du? /m m/ isch=hab isch hab nicht andere Leute dort gesagt dass=ich wegen Diebstahl oder ´wegen Raub /m/ oder so /m/ so=dass die sagen dann Dieb weißt du? Dieb und=so weißt du? /m/ in Türkei ist=das=so, Ehre´ (1) isch=hab gesagt ich hab was anderes gemacht also isch=hab gelogen isch=hab=ge-sagt ich hab einen mit=m Messer gestochen oder so weißte? /m/ die haben mich mit Messer geschlagen und=so hab=isch gesagt und=irgendwas, 325

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

dann, kommst dir dann dumm vor /m/ wenn du so was sagst weißte dann stehst=du dumm da wirklich /m/ keine \((etwas schmunzelnd:)) keine (Freundin und=so)\ ((I. schmunzelt auch kurz)) so ne- aber, das hab=isch dort gemerkt das ist Scheiße so weißt du? (16/28-16/39)

Serdar präsentiert sich nun als jemand, der sich für das, was er getan hat, schämt. Er hat sich noch nicht einmal getraut, zuzugeben, dass er nicht in eine – wie er annimmt – akzeptierbare Messerstecherei verwickelt war, sondern Einbrüche begangen hat. Schließlich präsentiert sich Serdar als einer, der einen (langen) Prozess durchgemacht hat und am Ende merkt, wie dumm er war. Er ist geläutert und gereift; bereit für ein neues Leben. Und so beschließt Serdar, nach Hause zurückzukehren. Erst als Serdar an diesem Punkt seiner Geschichte ankommt, erkundigt er sich bei mir, ob ich überhaupt noch Zeit habe und fügt beruhigend hinzu: »isch bin, ich bin auch gleich fertig« (19/40). Es scheint ihm wichtig gewesen zu sein, all dies zu erzählen. Denn nur durch die Darstellung dieser Kehrtwende gelingt es Serdar, sich in einem anderen Licht zu präsentieren. Er ist nun einer, der die Dummheiten seiner Jugend hinter sich gelassen hat und endlich anfangen möchte, ein anderes Leben zu führen. Die darauf folgenden Sequenzen nutzt Serdar schließlich noch, um dieses Bild zu unterstreichen. Er spricht von den Maßnahmen, die er inzwischen durchlaufen hat, und betont, wie sehr ihm sein Bewährungshelfer und eine Rechtsanwältin, an die er sich gewandt hat, geholfen haben. Bei einer Gerichtsverhandlung, die noch ausstand, haben sich die Richterin und die Jugendgerichtshilfe darauf geeinigt, dass Serdar nicht nochmals in Jugendhaft muss, sondern dass er lieber Sozialstunden ableisten und seine Maßnahmen fertig machen solle. Wie prekär die Lage für Serdar tatsächlich war, thematisiert er nicht. Denn eine erneute Verurteilung hätte unter Umständen eine Ausweisung aus Deutschland bedeutet (vgl. Kap. 8.2). Er erwähnt lediglich – recht lapidar und nebenbei: »bei nächstem Fall werd=isch=ja abgeschoben direkt ist ja klar /m/ ‹ne?‹« (22/40) Doch dies scheint kein Problem zu sein, das ihn tatsächlich betrifft bzw. keine reale Gefahr.12 Serdar präsentiert sich optimistisch: Wenn nun alles klappe, könne er sogar in einer Firma, in der bereits ein Freund arbeitet, eine Ausbildung beginnen. Und dann sei er 23 und könne irgendwo fest eingestellt werden, Geld verdienen und seinen Eltern schließlich ein Haus kaufen (vgl. Kap. 8.4.5). 12 Am Ende des Interviews beschreibt Serdar jedoch – auf die Frage nach der schönsten Situation in seinem Leben – genau diese Gerichtsverhandlung als »schönste[n] Moment«. Er habe Angst gehabt, dass nun alles »kaputt geht« oder er nun wieder in den »Knast« muss (37/18-37/28). Unter Umständen hat Serdar also sehr wohl gewusst, was auf dem Spiel steht und hiervor Angst gehabt, möchte es sich jedoch im Interview nicht anmerken lassen. 326

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Zusammenfassung Im Gegensatz zum Interview mit Ahmet und auch Murat ist Serdars Haupterzählung sehr lang und sehr ausführlich. Serdar scheint genau zu wissen, was er mir erzählen möchte, und nutzt den ihm angebotenen Raum, um sich mir gegenüber in einer Weise zu präsentieren, die er für sich so stehen lassen kann. Im Folgenden sollen daher Serdars Selbstpräsentation sowie die thematischen Felder, innerhalb derer er sich verortet, noch einmal auf den Punkt gebracht und zusammengefasst werden, um bei den Feinanalysen hierauf Bezug nehmen zu können. Serdar verortet sich zunächst einmal zu Beginn des Interviews als Kurde. Dies ist sein ›Identitätsaufhänger‹, wobei er gleichzeitig deutlich macht, dass diese Zugehörigkeit keine einfache bzw. eindeutige ist und auch mit keiner Staatsbürgerschaft korrespondiert: Er lebt als Kurde in Deutschland mit türkischer Staatsbürgerschaft. Es lässt sich hierbei ein thematisches Feld erkennen, das in abgewandelter Form auch in der Folge bestehen bleibt: Ich bin jemand, der nicht anerkannt wird. Der zweite Strang, mit dessen Hilfe sich Serdar verortet, ist der der Intelligenz und Lernfähigkeit. Dieser Strang taucht immer wieder auf, wenn es um das Thema Bildung geht. Denn Bildung scheint Serdar wichtig zu sein und er präsentiert sich als jemand, der schnell Deutsch lernte, später auf die Realschule kam und im Gefängnis einen guten Hauptschulabschluss gemacht hat. Am Anfang des Interviews ist es Serdar wichtig zu betonen, dass er eigentlich gut war in der Schule, aber dass seine Noten in Deutschland nicht anerkannt wurden. Dabei taucht das erste thematische Feld wieder in Abwandlung auf: Ich bin jemand, dessen Leistungen nicht anerkannt wurden. In der Folge kommt Serdar sehr schnell darauf zu sprechen, dass seine Noten zwar gut waren und er schnell Deutsch gelernt hat, aber dass sein Verhalten nicht gut war. Er ›rennt‹ förmlich auf dieses Thema zu, beschreibt weder seine Kindheit in der Türkei noch sonstige Details seiner Migrationsgeschichte. Dann jedoch ›bremst‹ er ab und leitet in eine Interaktion über, um anschließend bei einem früheren Zeitpunkt seiner Lebensgeschichte nochmals anzusetzen. Dieses Muster strukturiert die gesamte Haupterzählung. Serdar scheint es sehr schwer zu fallen, über sein negatives bzw. kriminelles Verhalten zu sprechen. Zumindest möchte er vorher sicher sein, dass ich ihn verstehen und auf seiner Seite sein werde. Er konstruiert daher zahlreiche Entschuldigungen und setzt immer wieder – mithilfe von dazwischen geschobenen Interaktionen – neu an. Dabei präsentiert er sich alternativ als jemand, der auffällig wurde, weil er Aufmerksamkeit brauchte bzw. weil er die Erwartungen seiner Familie enttäuscht hat und (deshalb) angefangen hat zu ›kiffen‹. Ich bin jemand, der sich für sein Verhalten bzw. dafür, dass er auffällig wurde,

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

schämt, ist hierbei ein zentrales thematisches Feld, das in Kombination mit den verschiedenen Entschuldigungen immer wieder auftaucht. Erst als Serdar ein ganzes Netz an Entschuldigungen ›gesponnen‹ hat, das ihn ›auffangen‹ und bei seiner Präsentation als eigentlich unschuldig unterstützen kann, beginnt Serdar tatsächlich von einzelnen Taten zu erzählen. Dabei präsentiert er sich – entgegen der zuvor hervorgebrachten Begründungen – vor allem als sozialstrukturell benachteiligt: Ich bin jemand, der sich das, was er machen bzw. haben möchte, nicht leisten kann, und es sich daher auf andere Weise besorgen musste. Und er präsentiert sich – vor allen Dingen wenn es um die Konsequenzen seines Handelns geht – als unschuldig, naiv und ungerecht behandelt. Diese Möglichkeiten der Selbstpräsentation behält Serdar die gesamte Haupterzählung hinweg bei. Es scheint ihm äußerst wichtig zu sein, dass ich ihn nicht persönlich für sein Verhalten haftbar mache. Und er wechselt daher stetig zwischen einer Präsentation als sozialstrukturell benachteiligt, als jemand, der Aufmerksamkeit brauchte, als ungerecht behandelt und als eigentlich intelligent und lernfähig hin und her. Am Ende seiner Haupterzählung präsentiert sich Serdar dann schließlich als geläutert und gereift: Er ist jemand, der die Dummheiten seiner Jugend hinter sich gelassen hat und nun endlich ein neues Leben anfangen möchte. Auffallend bei Serdars Selbstpräsentation in der Haupterzählung ist, dass Serdar seine Familie bzw. seine Migrationsgeschichte außen vor lässt. Überspringt er zunächst noch einfach seine Kindheit in der Türkei, so erzählt und berichtet er später ausführlich von den Grausamkeiten, die ihm und seiner Familie im Kurdenkonflikt widerfahren sind. Aber er nutzt diese Geschichte(n) nicht, um seine eigene Straffälligkeit zu erklären oder zu rechtfertigen. Stattdessen beteuert er die Unschuld seiner Familie an seiner eigenen Entwicklung: Seine Eltern sind nach Deutschland gekommen, um ihm eine gute Zukunft zu ermöglichen und er hat diese Hoffnungen nicht umsetzen können. Damit präsentiert sich Serdar lieber als ›normaler‹ Sohn von Gastarbeitern als sein eigenes kriminelles Handeln in irgendeinen Zusammenhang mit seiner Familie oder seiner Herkunft zu stellen.

8.4 Feinanalysen 8.4.1 Anfangssequenz ((kurzes Räuspern)) n=ja (2) ((leises kurzes Schmunzeln)) also (1) ich bin ja=nicht hier geborn /ne?/ ich bin in Türkei geborn /m/ so Südanatolien (1) isch=bin eigentlich Kurde ja? /m/ äm komm aus Kurdistan (1) aber das=ist Gebiet, Türkei ne? isch bin türkischer Staatsbürger /ja/ ´und´ (1) na ja ´ä´ isch bin dort auf die Welt kom328

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

men war auch dort auf der Schule gewesen /m/ isch=hab die dritte Klasse fertig gemacht (2) Sommerferien bin isch dann, hier her gekommen /m/ nachdem isch die dritte Klasse- (1) mit n gutes Zeugnis- Abschluss sogar (1) bin=isch hier her gekommen ((kurzes Räuspern)) (1) dann war=ich hier äm (1) bin ich direkt auf die Schule gegangen, /m/ ´un´ dann=hab=isch wieder von der Dritten anfangen müssen /m/ (1) das war so ein Jahr dann erst mal zurück /m/ (2) ´und´ von ner dritten \((haut leicht auf den Tisch:)) Klasse\ (1) hab=isch erst=mal (2) ja so von ner Schule und so hab=ich halt Probleme gehabt ´und so´ /m/ ich wurde dort gemobbt und so ja? und also was heißt gemobbt ´weißte mi-´ (1) ja gemobbt so (1) (1/11-1/24)

Serdar beginnt seine Haupterzählung mit einem ›Identitätsaufhänger‹ (vgl. Kap. 8.3): Eigentlich bin ich Kurde. Gleichzeitig markiert er – auf unterschiedliche Weise und auf mehreren Ebenen zugleich – Differenz. Er ist »ja=nicht hier geborn«, sondern in der Türkei. Aber er ist kein Türke, sondern Kurde. Trotzdem hat er die türkische Staatsbürgerschaft. Auf diese Weise positioniert sich Serdar als Anderer bzw. macht sich selbst – aufgrund seiner Herkunft – zum Anderen. Das leise, kurze Schmunzeln zu Beginn des Interviews könnte darauf hindeuten, dass Serdar das, was er nun sagen wird, schon sehr oft erzählt hat; dass er sich immer wieder auf diese Art und Weise positionieren muss. Vielleicht geht er auch davon aus, dass das, was er mir nun sagen wird, selbstverständlich oder offensichtlich ist; sei es wegen seines Aussehens oder aber weil er bereits von mir bzw. seinem Bewährungshelfer weiß, dass ich für meine Interviews Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund gesucht habe. Möglicherweise ist das Schmunzeln aber auch einfach Ausdruck seiner Verlegenheit oder Unsicherheit bezüglich meiner offenen Fragestellung.13 Serdars ›Identitätsaufhänger‹ kreist um das Thema Zugehörigkeit. Dieses scheint – zumindest im Zusammenhang mit dem Interview – zentral für ihn zu sein. Serdar ist nicht nur »eigentlich Kurde«, sondern betont auch, dass er »aus Kurdistan« kommt. Diese (politische) Bezeichnung kann für vieles stehen: Vielleicht möchte Serdar hierdurch betonen, dass er anders ist als andere Türken (und Türkinnen) bzw. als meine bisherigen Interviewpartner/-innen, von denen ich ihm auf dem Weg zum Café erzählt habe (vgl. Kap. 8.1). Vielleicht steht »Kurdistan« für Serdar aber auch als Metapher, die für ihn mit den brutalen Erlebnissen seiner Kindheit verbunden ist (vgl. Kap. 8.2), ohne dies hier konkret benennen zu wollen oder zu können. Es ist jedenfalls eine Zugehörigkeit, die über Ländergrenzen hinweg geht und die eine einfache Positionierung z.B. als Türke unmöglich macht. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass

13 Zumindest thematisiert Serdar wenig später im Interview, dass er sich eigentlich eine andere Interviewform vorgestellt hätte (vgl. Kap. 8.3). 329

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ich als Interviewerin seine Zugehörigkeit(en) verstehe; und sei es vielleicht auch nur, um zu legitimieren, dass er in mein Sample passt.14 Nachdem dies geklärt und die Position, von der aus Serdar spricht, markiert ist, beginnt Serdar seine biographische Erzählung mit den Themen Schule und Migration. Er war »dort«15 ein guter Schüler, der die dritte Klasse beendet hat und mit einem guten (Abschluss-)Zeugnis16 nach Deutschland kam. Doch obwohl er – nach der Ankunft in Deutschland – direkt wieder zur Schule gegangen ist, musste Serdar die dritte Klasse in Deutschland wiederholen. Die Migration ist für Serdar also mit einer Nichtanerkennung seiner Leistungen verbunden. Im Interview präsentiert er sich als sichtlich überrascht von dieser Wendung. Er führt weder Sprachprobleme noch sonstige Gründe an, mit denen er (sich) die Zurückstufung erklären könnte. Stattdessen betont er, unterstützt durch das leichte Hauen auf den Tisch, dass hierdurch die Probleme erst angefangen haben: (2) ´und´ von ner dritten \((haut leicht auf den Tisch:)) Klasse\ (1) hab=isch erst=mal (2) ja so von ner Schule und so hab=ich halt Probleme gehabt ´und so´ /m/ ich wurde dort gemobbt und so ja? und also was heißt gemobbt ´weißte mi-´ (1) ja gemobbt so (1) (1/21-1/24)

Serdar hat nicht nur seine schulischen Leistungen nicht anerkannt bekommen, sondern wurde darüber hinaus auch noch »gemobbt«. Er wurde unschuldig zum Opfer bzw. Außenseiter. Was ihm tatsächlich widerfahren ist, kann Serdar gar nicht in Worte fassen. Er setzt zwar – sehr leise – zu einer Beschreibung an: »´weißte mi-´«, bricht diese jedoch ab und belässt es bei der Floskel ›Mobbing‹. Hierdurch markiert er zwar seine Unschuld; was tatsächlich vorgefallen ist, bleibt jedoch offen. Auffallend ist bei dieser Anfangssequenz, dass Serdar ausschließlich von sich allein spricht. Eltern oder Geschwister, Lehrer/-innen oder Mitschüler/ -innen tauchen nicht auf. Fast klingt es, als sei Serdar allein nach Deutschland gekommen, obwohl Serdars Eltern bei seiner Ankunft bereits in Frankenthal

14 Serdar war der einzige Interviewpartner, dem ich vor Beginn des Interviews von meinen bisherigen Interviewpartnern und -partnerinnen erzählt habe, was die Betonung seiner (nationalen) Zugehörigkeit(en) erklären könnte. 15 Dieses »dort« steht offensichtlich für »Kurdistan« und soll wahrscheinlich die Differenz zu dem am Anfang stehenden »hier«, also Deutschland, markieren. Es könnte gleichzeitig ein Hinweis darauf sein, dass Serdar nicht nur an einem Ort in der Türkei die Schule besucht hat (vgl. Kap. 8.2). 16 Ob es sich hierbei tatsächlich um ein Abschlusszeugnis handelte, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist es, dass Serdar mithilfe dieser Bezeichnung betonen möchte, dass er nicht ohne schulische Vorkenntnisse nach Deutschland kam, sondern bereits etwas geleistet hatte, das ihm aber in Deutschland nicht anerkannt wurde (vgl. Kap. 8.3). 330

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

wohnten (vgl. Kap. 8.2). Möglicherweise möchte sich Serdar auf diese Weise als erwachsen präsentieren. Er ist jemand, der allein Verantwortung übernehmen kann. Seine Eltern sind an dem, was ihm in der Kindheit bzw. bei der Ankunft in Deutschland widerfahren ist und was er später noch tun wird, ›nicht schuldig‹ (vgl. Kap. 8.3). Die Art der Darstellung könnte jedoch auch ein Hinweis darauf sein, wie einsam sich Serdar damals (und möglicherweise auch heute noch) fühlt(e). Es gibt bzw. gab niemanden, der sein Schicksal teilt bzw. geteilt hat oder für ihn da ist bzw. war, sondern er muss(te) sich allein durchboxen.

8.4.2 Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit Serdar spricht schon sehr früh im Interview darüber, dass sein Verhalten nicht gut war (1/38) und dass er »Auffälligkeit« (2/17) bzw. Aufmerksamkeit (2/19) brauchte und »Scheiße gemacht« (3/03) habe (vgl. Kap. 8.3). Erst im Zusammenhang mit der Berufsschule spricht er jedoch von Kriminalität: »und da bin=ich=dann kriminell geworden« (3/40). Diese Wendung erklärt er – zumindest zunächst – damit, dass er immer mehr ›gekifft‹ habe, und dass das ›Kiffen‹ finanziert werden musste. Er präsentiert sich als jemand, der eigentlich intelligent und lernfähig ist, aber nicht anerkannt wurde; der auffällig wurde, weil er Aufmerksamkeit brauchte; und der schließlich kriminell wurde, weil er die Erwartungen seiner Familie nicht erfüllen konnte (vgl. Kap. 8.3). Doch daneben gibt es für Serdar noch andere Gründe, mit denen er seine Straffälligkeit erklärt. Im Folgenden sollen nun verschiedene Textstellen analysiert werden, in denen Serdar zum einen sein kriminelles Handeln konkret beschreibt, und zum anderen versucht, hierfür Erklärungen zu finden. Ein besonderes Augenmerk soll hierbei auf die (unterschiedlichen) Positionierungen gerichtet werden, die Serdar innerhalb dieser Textstellen einnimmt.

Gymnasiasten ›abziehen‹, um ›Party machen‹ zu können (4/13-4/34) Obwohl Serdar bereits zu Beginn des Interviews einführt, dass sein Verhalten nicht gut war und er kriminell wurde, dauert es recht lange, bis er konkret davon berichtet, was er tatsächlich getan hat. Erst nachdem er ein ganzes Netz an Entschuldigungen und Erklärungen gesponnen hat, scheint er hierüber sprechen zu können (vgl. Kap. 8.3): (1) dann Berufsschule da bin=isch=dann kriminell geworden (1) ´ja´ (2) dadurch=das= Kiffen=halt immer mehr wurde ja? musst=ich das ja auch finanzieren /m/ (2) (4/13-4/16)

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Dabei zeigt sich, dass sein kriminelles Verhalten vielleicht räumlich oder zeitlich im Zusammenhang mit der Berufsschule steht, der Grund ist jedoch ein anderer. Serdar positioniert sich hier als ›kiffender‹ Berufsschüler, der kriminell wurde, weil er Geld brauchte. Mit wem er bzw. wann er ›gekifft‹ hat oder warum das ›Kiffen‹ immer mehr wurde, scheint für Serdar – im Gegensatz zum ›kriminell werden‹ – nicht erklärungsbedürftig zu sein. Stattdessen beschreibt er, wie er an Geld kam, um das ›Kiffen‹ finanzieren zu können: ich, ich sag=s mal so ja? (2) isch isch war ja Türke=gewesen ne? /m/ auf der Schule (1) nebendran ist n Gymnasium ne? /m/ (1) da haben die haben immer dann- die haben Angst gehabt von Leuten vom BBS17 ja? von der Berufsschule /m/ weil die Ausländer waren oder so ne? /m/ und das (2) das hab=isch dann halt damals da ausgenutzt ne? das, hab=ich die einfach (1) einfach abgezogen und so ne? /m/ (4/16-4/21)

Er nutzte die Angst der Gymnasiasten vor den Berufsschüler/-innen,18 um diese ›abzuziehen‹. Die Formulierung »isch war ja Türke=gewesen« deutet auf eine Fremdpositionierung hin bzw. auf eine Position, die Serdar damals eingenommen hat. Denn wenn Serdar sich selbst (auch heute noch) als Türke positionieren würde, würde dies zum einen seiner Positionierung »isch=bin eigentlich Kurde« (vgl. Anfangssequenz, Kap. 8.3 & 8.4.1) widersprechen, zum anderen wäre eine Formulierung wie z.B. ›ich bin ja Türke‹ wahrscheinlicher. So aber verweist Serdars Wortwahl auf eine damalige Positionierung, die er an- bzw. eingenommen hat. Serdars Bericht zufolge hatten die Schüler/-innen des Gymnasiums Angst vor den Berufsschüler/-innen, was sich Serdar nur damit erklären kann, dass sie »Ausländer waren oder so«. Dies impliziert zugleich, dass auf dem Gymnasium vermutlich keine ›Ausländer‹ waren – zumindest keine, die so bezeichnet worden wären. Denn ›Ausländer‹ bzw. ›Türke‹ scheint synonym für jemanden zu stehen, vor dem man Angst hat (und der kein Gymnasium besucht). Die Berufsschüler/-innen wurden von den Gymnasiasten zum ›gefährlichen Anderen‹, zu ›Ausländern‹ gemacht, und Serdar nutzte diese Positionierung, um die Schüler/-innen des Gymnasiums ›abzuziehen‹. Wie er hierbei vorgegangen ist, beschreibt Serdar nicht. Er betont lediglich, dass er keine Gewalt angewendet habe: hab isch, ich hab keinen geschlagen oder so ich hab nie Gewalt angewendet /m/ bei keinem einen Fall hab=ich Gewalt angewendet /m/ (1) keinem, kannst du der Herr

17 Abkürzung für Berufsbildende Schule. 18 Es bleibt in Serdars Darstellung unklar, ob sich diese Angst nur auf männliche Berufsschüler richtet, oder ob das gleiche auch für weibliche Berufsschülerinnen gilt. Möglicherweise wird hier das Geschlecht nicht markiert, da es Serdar selbstverständlich erscheint, dass die Gymnasiasten vor den weiblichen Berufsschülerinnen keine Angst haben. 332

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

F.19 fragen isch hab nie Gewalt angewendet /m/ isch=hab das einfach nur ausgenutzt weil die Angst hatten weißt du? /m/ und hab=isch das dann einfach ausgenutzt (4/21-4/25)

Hierbei scheint Serdar eine recht enge Vorstellung von Gewalt zu haben. Denn sicherlich ließe sich auch das Ausnutzen der Angst anderer als Gewalthandeln definieren, und Serdar wurde letztlich ja auch nicht nur wegen Diebstahls, sondern darüber hinaus wegen Raubes verurteilt (vgl. Kap. 8.2).20 Doch Serdar scheint es wichtig zu sein, sich nicht als jemand, der Gewalt anwendet, zu positionieren, und möchte auch von mir als Interviewerin nicht so wahrgenommen werden. Möglicherweise ist diese Präsentation an mich gerichtet, da Serdar wahrscheinlich davon ausgeht, dass ich als Frau und ehemalige Gymnasiastin Gewalt nicht gutheißen würde. Er beruft sich hierzu sogar auf seinen Bewährungshelfer, bei dem er davon ausgeht, dass ich diesem wohl eher glauben werde als ihm. Trotzdem ist es ein schmaler Grat, auf dem Serdar sich bewegt. Fast klingt es, als seien die Schüler/-innen des Gymnasiums selbst daran schuld gewesen, dass Serdar sie ›abgezogen‹ hat. Wenn sie ihn nicht zum ›gefährlichen Anderen‹ gemacht hätten, hätte es gar nicht so weit kommen können: das musst ja- das musste ja irgendwie kommen ne? /m/ das muss ja das das- (1) (4/25-2/26)

Connell (2006: 138) beschreibt eine solche Art der Inszenierung als »Kodex der Rache«. ›Außenseiter‹ versetzen die ›Etablierten‹ in Angst, indem sie physisch überlegen und gewaltbereit auftreten und hierdurch Macht ausüben. Auf diese Weise zahlen sie es denjenigen heim, die sie missachten und verschaffen sich mit Gewalt die Konsumgüter, die sie auf legalem Weg nicht erlangen können (vgl. auch Weber 2007: 313). Die von Serdar stockend hervorgebrachte Erklärung, die eher wie die Dokumentation seiner Erklärungsnot klingt, könnte jedoch auch so verstanden werden, dass es so weit kommen musste, weil er keine andere Wahl hatte: man man braucht Geld und man sieht, bei anderen Leuten und so bei älteren ne? ä die machen des einfach, des und so (1) und das Weggehn und \((rührt in seinem Glas:)) (1) und Party machen und Disco und das alles\ das muss ja alles, das geht ja ohne Geld alles gar nit /ja ja ja/ wie soll man das denn machen? in dem Alter? /m/ in 19 Name des Bewährungshelfers. 20 Raub wird laut § 249 I StGB folgendermaßen definiert: »Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.« 333

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

dem Alter war=isch f f- fünfzehn Jahre oder=so /m/ und bin schon in Discos und Partys machen /m/ (2) Vater nischt so viel Geld Mutter die war so und so /m/ Hausfrau /m/ (1) isch=hab=auch=nit viele Sachen leisten können und so weißte? /m/ (1) das wollt=isch mir da immer holen (1) (4/26-4/34)

Serdar brauchte das Geld, um wie die anderen »Party machen« und in die »Disco« gehen zu können. Seine Eltern konnten ihm hierzu nicht das Geld geben. Vielleicht hätte Serdar auch von seinen Eltern kein Geld bekommen, wenn sie es gehabt hätten. Denn es klingt ganz danach, als sei Serdar hier mit älteren Jugendlichen los gezogen, die Dinge taten, wofür er eigentlich noch zu jung war. Doch so stellt es Serdar nicht dar. Seiner Schilderung zufolge kommt er aus einem Elternhaus, in dem man sich vieles nicht leisten kann; und daher muss es Serdar sich auf andere Weise beschaffen. Interessanterweise spricht Serdar nun auch nicht mehr von den Drogen, die er mithilfe des Geldes beschaffen wollte. Stattdessen präsentiert er sich als frühreifer Jugendlicher,21 der einfach das tun wollte, was die anderen taten, und dem hierzu das Geld fehlte.

›Einbrechen gehen‹, um Schuhe zu kaufen (4/34-5/22) Diese Darstellung wird von Serdar in direktem Anschluss noch durch eine Erzählung unterstützt: ich geb=dir=mal n Beispiel ja? (1) ich bin mit meinem Vater in in so=n Laden gegangen wo man wo=man Schuh- Schuh holt ne? /m/ (1) ist=egal was für ne Marke das \((bewegt Löffel im Glas:)) war oder (1) und die Schuhe hatten ehrlich nur hundertachtzig Euro gekostet\ /m/ ich hab gewusst dass isch so und so nicht mit meinem Vater in so=n Geschäft rein kann ne? (1) aber=isch bin reingegangen hat mein Vater gesagt, das ist zu teuer ne? ´isch- isch hab, isch hab- isch hab nicht soviel Geld´ ((kurzes Räuspern)) (1) der Reiz ne? /m/ dass=isch, dass=isch mir die Schuhe nit holen konnte ne? /m/ und=wenn=isch jetzt drüber denk, ich koche ehrlich du weißte? wenn isch jetzt dadrüber denk /m/ und so (2) der konnt mir das nit holen (1) isch hab dann auch nit weiter gehakt oder so (1) isch=bin dann einfach auch rausgegangen ´oder so´ (1) und=dann bin=isch abends weggegangen (2) und dann (1) ohne Geld ne? ((kurzes Räuspern)) isch=hab kein Geld gehabt (1) ganz ehrlich mein Schuh war ehrlich kaputt ne? ich hab ehrlich ich hab neue Schuhe gebraucht ´ne´? mein Vater, und dann wollt=isch halt keine Schuhe haben bin=isch mit ihm nach Hause gegangen /m/ (1) den Abend ne? (2) bin isch rausgegangen (1) und=dann wollt=isch unbedingt diese Schuhe holen /m/ isch hab- isch hab- isch wollt Geld haben, isch hab kein Geld gehabt /m/ isch konnt ´gar nichts´ machen ohne Geld 21 Serdar betont hier, dass er erst 15 Jahre alt war. ›Öffentliche Tanzveranstaltungen‹ dürfen laut Jugendschutzgesetz jedoch erst ab 16 Jahren besucht werden (vgl. § 5 JuSchG). 334

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

kannst du- kannst du draußen nicht überleben, weißte? so auf die Art /m/ \((schmunzelnd:)) auf die ä das geht-\ /m/ (1) das ist kein ä irgend=so=n (Hollywood) Ghettofilm oder so weißte? das ist einfach so \((Handy klingelt)) ja? (1) ja? Ali (1) Ali?\ ´mein Freund weißte /ist-/ ist ist nicht schlimm22 ((I. lächelt kurz)) man kann=s sich=ja nit leisten /m/ wenn=isch kein Geld hab m \((rührt im Glas:)) lauf ich=hier draußen rum und (1) kann ich nit hier drin sitzen\ /m/ ´(hab=ich ) wenn isch kein Geld hab´ oder? /m/ (1) ´ja´ und dann bin=isch diese Abend weggegangen ´hab=Scheiße (gebaut) bin Einbrechen gegangen´ /m/ (1) und dann ja (3) wollt=isch mir das unbedingt hole dort, unbedingt ich wollt das hole (1) \((schiebt seine Tasse)) und dann ne? bin=isch nächste=Tag, in den Laden gegangen\ (2) die Schuhe=waren, ehrlich jetzt ne? (1) die Schuhe die=sind runter reduziert worden ne? /m/ haben nur noch achtzig Euro gekostet /m/ (2) und=isch=hab den die für achtzig Euro geholt /m/ die haben hundert hundert hundert- hundertachtzig oder= so=was damals gekostet /m/ (1) einen Tag später isch bin dahin gegangen- (1) ne Entschuldigung es waren, s- eine Wochenende war drüber /ja/ weil, weil=es zu=war, isch war Samstag oder freitags war=ich mit meinem Vater=da, und über=s Wochenende wo=ich das dann gemacht hatt ne? mein Geld=hatte, dann bin=isch dahin gegangen da war=s reduziert auf achtzig Euro /m/ isch=hab das geholt trotzdem (2) ´aber=isch weiß noch´ (2) ((schmunzelt kurz leise)) und=mit diesen Schuhen wurd=isch auch verhaftet ((schmunzelt, I. stimmt ein)) ehrlich /m/ mit diesen Schuhen wurd=isch auch verhaftet, die hab=isch dann auch im Knast gehabt also /m/ (2) (4/34-5/22)

Serdar positioniert sich hier als Junge, der mit seinem Vater Schuhe kaufen geht. Dies ist insofern ungewöhnlich, als er sich zuvor als recht erwachsen bzw. frühreif präsentierte; einer, der ›Party macht‹ und in die Disco geht. Doch vielleicht liegt das Ereignis, von dem er nun erzählt auch schon weiter zurück. Eine zeitliche Markierung gibt es nicht. Serdar geht mit seinem Vater in einen Laden, von dem er scheinbar von vornherein glaubt, dass dies nicht der richtige Ort ist, um mit dem Vater einkaufen zu gehen. Der Ausdruck, sich Schuhe zu ›holen‹ (anstatt Schuhe zu kaufen), könnte bereits ein Verweis darauf sein, dass Serdar die Schuhe, die es in diesem Laden gibt, nicht auf legalem Wege erwerben wollte bzw. konnte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Sprechweise entweder dem Jugendslang der Region entstammt23 oder aus dem Türkischen kommt24 (vgl. Interview Murat, Kap. 7.4.2 – Andere ›abrippen‹).

22 Der Freund hat offensichtlich aufgelegt, bevor Serdar abnehmen konnte; bzw. die Verbindung war schlecht, so dass ein Gespräch nicht zustande kam. 23 ›Ich bin mir am Wochenende Klamotten holen gegangen‹ ist unter Jugendlichen in der Region durchaus eine übliche Formulierung, um zu sagen, dass man am Wochenende einkaufen war. 24 ›Almak‹ kann sowohl mit ›holen‹, als auch mit ›kaufen‹ übersetzt werden. 335

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Serdar positioniert hier seinen Vater als jemanden, mit dem man nicht überall hin gehen kann. Eine Erklärung hierfür liefert Serdar sofort mit: Seinem Vater sind die Schuhe, die dort verkauft werden, zu teuer. Doch Serdar positioniert seinen Vater nicht als strengen Vater, der sich weigert, seinem Sohn teure Markenschuhe zu kaufen, sondern als armen Vater, der es sich nicht leisten kann, seinem Sohn einen Wunsch zu erfüllen. Dies scheint dem Vater sichtlich peinlich zu sein. Serdar zitiert ihn stotternd bzw. stockend mit den Worten: ´isch- isch hab, isch hab- isch hab nicht soviel Geld´ (4/40)

Serdar und sein Vater verlassen den Laden unverrichteter Dinge: (2) der konnt mir das nit holen (1) isch hab dann auch nit weiter gehakt oder so (1) isch=bin dann einfach auch rausgegangen ´oder so´ (4/43-4/44)

Sich selbst beschreibt Serdar in dieser Szene als innerlich kochend. Dabei ist nicht ganz klar, ob er damals ›gekocht‹ hat, weil sein Vater ihm die Schuhe nicht kaufen konnte. Oder ob er heute ›kocht‹, wenn er sich daran erinnert, dass er seinen Vater so vorgeführt hat bzw. wenn er jetzt darüber nachdenkt, was für einen Reiz es für ihn hatte, sich die Schuhe auf andere Weise zu besorgen. »[I]ch koche« könnte dem entsprechend als Synonym für ›ich schäme mich dafür‹ stehen. (1) der Reiz ne? /m/ dass=isch, dass=isch mir die Schuhe nit holen konnte ne? /m/ und=wenn=isch jetzt drüber denk, ich koche ehrlich du weißte? wenn isch jetzt dadrüber denk /m/ und so (4/40-4/43)

Es folgt eine Argumentation, in der Serdar sich als mittellos positioniert. Er wollte diese Schuhe unbedingt haben, hatte aber kein Geld; und ohne Geld – so scheint er es zumindest mir gegenüber im Interview darstellen zu wollen – kann man nichts machen, man kann »draußen nicht überleben«: und=dann wollt=isch unbedingt diese Schuhe holen /m/ isch hab- isch hab- isch wollt Geld haben, isch hab kein Geld gehabt /m/ isch konnt ´gar nichts´ machen ohne Geld kannst du- kannst du draußen nicht überleben, weißte? so auf die Art /m/ \((schmunzelnd:)) auf die ä das geht-\ /m/ (1) das ist kein ä irgend=so=n (Hollywood) Ghettofilm oder so weißte? das ist einfach so (4/49-5/03)

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Serdar positioniert sich hier als jemand, der von »draußen« kommt; der das ›harte‹ Leben auf der Straße kennt.25 Die Argumentation, die er anbringt, scheint an mich oder auch an ein imaginiertes Publikum gerichtet zu sein. Dabei positioniert er mich (bzw. sein imaginiertes Publikum) als jemanden, der vom Leben »draußen« keine Ahnung hat, dieses höchstens aus Hollywood-Ghettofilmen kennt. Doch Serdar kennt das ›reale Leben‹. Er sieht sich gezwungen, ›einbrechen zu gehen‹, um an Geld zu gelangen. Dies ist insofern verwunderlich, als Serdar ja auch in den Schuhladen hätte einbrechen und die Schuhe klauen können. Doch darum scheint es Serdar nicht zu gehen. Er möchte sich die Schuhe – wie scheinbar jede/r andere auch – auf legalem Weg kaufen.26 Der Einbruch dient ihm lediglich als Weg, um an ›sein Geld‹ zu gelangen. Daher scheint es ihn auch so zu ärgern, dass die Schuhe letztlich reduziert wurden. Denn er wollte jemand sein, der sich genau diese teuren Schuhe leisten kann. Serdar positioniert sich also auch in dieser Erzählung als jemand, der aus einer sozialstrukturell benachteiligten Familie kommt. Er empfindet dies als Ungerechtigkeit, die er nicht stehen lassen möchte. Er nimmt sich, was er braucht, um genau wie alle anderen, die von ihm begehrten Konsumgüter auf ›legalem Weg‹ erwerben zu können (vgl. Kap. 8.3). Letztlich führt dies dazu – und dies scheint die Moral der Geschichte zu sein – dass ihm die Schuhe auch bei der Verhaftung nicht weggenommen werden: Man kann ihn zwar wegen der Einbrüche einsperren, aber das, was er sich genommen hat, lässt er sich nicht mehr nehmen.

Geld klauen, um nicht gemobbt zu werden (28/32-28/46) Das Prinzip der nächsten Textstelle, die ich hier zum Thema eigene Straffälligkeit analysieren möchte, ist ähnlich: Auch hier klaut Serdar Geld, um anschließend etwas kaufen zu können. Doch Serdars Positionierung ist in diesem Zusammenhang eine andere. Thematisch geht es in dem Interviewausschnitt um Serdars Realschulzeit: 25 Die Unterscheidung zwischen ›draußen‹ und ›drinnen‹ wird in Interviews mit (jungen) Straffälligen häufig auch verwendet, um den Unterschied zwischen einem Leben in Freiheit (draußen) und im Gefängnis (drinnen) zu markieren (vgl. z.B. Bereswill 2006). An dieser Stelle im Interview wird ›draußen‹ jedoch im Unterscheid zu »hier drin sitzen« verwendet, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass es um eine Unterscheidung zwischen der Straße oder öffentlichen Plätzen vs. Cafés geht. 26 Es stellt sich hier die Frage, mit wem sich Serdar in Bezug auf solche Wünsche vergleicht. Denn 180 Euro für ein Paar Schuhe sind auch für jemanden, der nicht als sozialstrukturell benachteiligt gilt, viel Geld. Womöglich ist dies ein Hinweis darauf, dass Serdar gerne einer Gruppe angehören möchte bzw. angehört, in der teure Markenkleidung als Zugehörigkeitsmerkmal gilt. 337

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

I:

((lächelt (1)) (2) du bist dann in die Realschule gekommen ne? /m/ willst du, davon n bisschen was erzählen? von der Zeit in der Realschule? (28/11-28/13)

Serdar wiederholt auf meine Frage nach der Realschulzeit, dass er zu dieser Zeit gut in der Schule war und ein »gutes Zeugnis« (28/15) hatte (vgl. Kap. 8.3). Anschließend kommt er jedoch recht schnell darauf zu sprechen, dass er damals meist »bei den Älteren [...] gehockt« (28/17) habe. Diese haben – wie bereits in der zuvor analysierten Textstelle zur Berufsschule – offensichtlich keinen guten Einfluss auf ihn. Was er hiermit genau meint, verrät Serdar nicht, sondern resümiert lediglich: jetzt machst es einfach weil du das so siehst so bei den Älteren /m/ (2) ´das (1) (was war noch?)´ (2) ja, das war so ne Zeit ne? ((I. lächelt (1)) (1) ´was gibt=s da noch= zu sagen?´ (1) aber in der sechsten Klasse hat=s=angefangen mit, ´Scheiße baun und=so´ (4) (28/23-28/26)

Anschließend scheint für Serdar das Thema beendet. Ich bitte ihn daher, mir hiervon zu erzählen. Doch Serdar möchte offenbar nicht darüber reden. Er wiederholt lediglich, was er auch schon zu Beginn des Interviews angeführt hat: Er wurde auffällig, weil er Aufmerksamkeit brauchte (vgl. Kap. 8.3). I: erzähl mal B: (5) ja mit dem Auffallen und=so weißte? Aufmerksamkeit und so /m/ (1) hab=isch immer gebraucht I: (4) kannst du dich an irgend ne Situation erinnern oder irgendwas, was da vorgefallen #ist?# (28/27-28/31)

Erst auf mein wiederholtes Nachhaken beginnt Serdar ausführlicher zu werden. Er beschreibt eine verdichtete Situation, die sich allerdings nicht in der Realschulzeit, sondern in seiner Grundschulzeit ereignete. Serdar ist gerade in eine neue Klasse gekommen, da er das dritte Schuljahr wegen seiner Sprachprobleme wiederholen muss. In dieser Klasse wird Serdar ›gemobbt‹ (vgl. Kap. 8.3): #weißt du# wo=isch von der, dritten Klasse runter gegangen bin ne? /m/ (3) andere Klasse ne? /m/ da konnt=isch ja so=n, langsam langsam bisschen Deutsch /m/ hab=isch schon ´n bisschen mehr gewusst´ (3) weil dann hat=s auch so=n bisschen immer so mit n Mobben angefangen weißt du? weil=isch=net so gut alles konnte und=so (4) (28/32-28/36)

Serdar wird also zum Opfer. Das Wort ›Mobben‹ deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine einmalige Handlung handelt, sondern Serdar längerfristig von seinen Mitschülern und Mitschülerinnen gehänselt, gemieden, verprügelt 338

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

oder auf sonstige Weise ungerecht behandelt wurde. Was genau geschehen ist, sagt Serdar – wie schon zu Beginn des Interviews – nicht (vgl. Kap. 8.3). Die Pausen deuten lediglich darauf hin, dass es Serdar schwer fällt, hierüber zu sprechen. Die Begründung für dieses ›Mobben‹ liegt für Serdar auf der Hand. Er konnte zwar »langsam langsam bisschen Deutsch«, aber war nicht so gut wie die anderen in der Schule. Auf diese Weise positioniert sich Serdar als Schüler, der wegen seiner mangelnden Deutschkenntnisse bzw. wegen seiner schlechteren Leistungen diskriminiert wird. Doch Serdar weiß sich zu wehren: und da=hab=isch, hab=isch mal Geld von meiner Mutter geklaut ne? /m/ meinem=Vater seine Tasche /m/ (1) hab=isch beim Bäcker, einfach Schokolade Süßigkeiten irgendwas geholt und=so ne? (2) ja isch=hab mir die irgendwie so gekauft weißt du? (1) weil (1) sobald=isch was hatte so, waren alle ruhig so weißte? (28/3728/41)

Serdar klaut Geld von seinen Eltern, um beim Bäcker Süßigkeiten zu kaufen. Er spricht also offensichtlich nicht mit seinen Eltern oder den Lehrer/-innen über sein Problem, sondern hilft sich selbst.27 Möglicherweise waren die Eltern zu dieser Zeit mit anderen Dingen beschäftigt: Sie haben gerade einen dritten Sohn bekommen, mussten wahrscheinlich noch um ihren Aufenthaltsstatus kämpfen und haben gleichzeitig die Migration weiterer Familienmitglieder organisiert (vgl. Kap. 8.2). Vielleicht denkt Serdar auch, dass seine Eltern seine Probleme nicht verstehen würden. Denn im Gegensatz zu dem, was die Familie in der Türkei erlebt hat, erscheint ›Mobbing‹ in der Schule sicherlich eher belanglos. Doch offenbar gibt es auch keine Lehrer/-innen, denen sich Serdar anvertraut hätte bzw. die gegen das ›Mobbing‹, das sich vor ihren Augen oder zumindest im Umfeld der Schule abgespielt haben muss, von sich aus vorgegangen wären. Auch hier klaut Serdar wieder Geld, um etwas anderes zu kaufen. Doch im Gegensatz zu der zuvor analysierten Textstelle kann davon ausgegangen werden, dass es für Serdar nun weniger um das legale Erwerben des Gegenstandes ging, als darum, was einfacher war. Denn sicherlich war es für ihn nicht so schwer, seiner Mutter oder seinem Vater Geld aus der Tasche zu stehlen. Vielleicht hatte Serdar auch in gewisser Weise das Gefühl, dass ihm das Geld seiner Eltern zustand. Schließlich war er wegen ihnen nach Deutsch-

27 Auch dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Serdar sehr einsam war bzw. sich einsam fühlte in dieser Zeit. Er hatte niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können (vgl. Kap. 8.4.1). 339

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land gekommen, musste die Schulklasse wiederholen und wurde nun ›gemobbt‹.28 Die Süßigkeiten verteilt Serdar offensichtlich an seine Mitschüler/-innen, die sich auf diese Weise ›ruhig‹ stellen lassen. Er erkauft sich das Gefühl, dazu zu gehören oder zumindest die Sicherheit, nicht weiter ›gemobbt‹ zu werden. Denn die Wortwahl »waren alle ruhig so« deutet darauf hin, dass Serdar trotz der Geschenke nicht anerkannt wurde. Und tatsächlich: Wenn Serdar nichts mit in die Schule bringt, kommt immer »ein dummer Spruch«, so dass er schließlich regelmäßig Geld zu Hause klaut: sobald=isch=aber=nichts dabei hatte oder=so weißt du irgendwie (1) immer n dummer Spruch losgelassen oder so (1) deswegen=hab=isch oft Geld geklaut von zu Hause ja? (1) ´oft ja´ (1) isch=hab das einfach so morgens beim Bäcker hing alles voll (1) ä Schokolade Yestörtchen und was weiß=isch sogar Monceri=geholt für Lehrerin einfach so weißt du? /m/ weil=isch Geld=hatte ´und-´ (6) (28/41-28/46)

Serdar positioniert sich in dieser Textstelle also als jemand, der diskriminiert wird und letztlich klaut, um sich hiergegen zu wehren. Auch hier nimmt er sich, was er braucht; jedoch nicht, um sich Konsumgüter zu erwerben, sondern um sich Freundschaften oder zumindest Anerkennung zu erkaufen.

Hauptschule I: »es gibt kein Kurdistan« (29/46-30/15) Im Anschluss an diese Textstelle berichtet Serdar von seinem Drogenkonsum. Er habe »alles probiert« (29/18), sei aber nicht »hängen geblieben« (29/19). Nur ›kiffen‹ tue er noch, aber »nicht so übertrieben« (29/24). Darauf folgt eine längere Argumentation über das ›Kiffen‹, in der Serdar darüber sinniert, wie viel er früher ›gekifft‹ hat und wie viel er heute noch ›kifft‹; ob ›Kiffen‹ eine Einstiegsdroge ist und ob nicht alle, die »einmal auf den Geschmack gekommen« (29/34) sind, bis ins hohe Alter hinein immer wieder ›kiffen‹. Als Serdar das Thema schließlich beendet (»das wars« (29/43)), frage ich ihn nach seiner Hauptschulzeit: I:

und=dann von der Zeit in der- auf der Hauptschule? (1) willst du da noch was erzählen? B: (4) da hab=isch äm, äm dem Lehrer ne? /m/ (1) ((schmunzelt kurz leise)) (dem Schubert der ist so mit mir umgegangen) in der Schule ne? (2) schlimme Sachen ((I. schmunzelt kurz)) (1) aber

28 Interessanterweise formuliert Serdar dies nicht passiv als ›sitzen bleiben‹, sondern aktiv als »runter gegangen«; es scheint ihm wichtig zu sein, sich hier als selbstbestimmt handelnd darzustellen, während er die Situation damals sicherlich eher als fremdbestimmt erlebt hat. 340

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

weißt du warum? der wollt es mir abstreiten dass es keine Kurdistan gibt /m/ isch ha- isch hab mich aufgeregt das war so=n so=n so=n (1) so=n Futzi weißt du der wo, bei nem Hauptlehrer der da so da=ist /m/ der war nebendran als Praktikant oder=was das ist I: ach so so=n Referendariat oder so irgendwas B: ja so=n Hilfsschüler- /ja ja ja/ Hilfslehrer oder was=das ist ne? /m/ Mathelehrer /m/ der war immer /m/ nur bei Ding da (2) (29/44-30/05)

Serdar beginnt – nach kurzem Überlegen – mit der Beschreibung einer verdichteten Situation. Es gab an der Schule einen Lehrer – bzw. einen »Hilfslehrer«, der ein Praktikum oder sein Referendariat an der Schule absolviert hat – und dieser Lehrer ist mit Serdar offensichtlich nicht gut umgegangen. Was genau vorgefallen ist, erzählt Serdar nicht bzw. es lässt sich nicht rekonstruieren, da die Aufnahme an dieser Stelle von lauter Musik übertönt wird und Serdar sehr undeutlich spricht. Doch darum geht es hier auch nicht. Denn Serdar hält sich mit der Beschreibung dessen, was vorgefallen ist, nicht lange auf, sondern geht zu der Frage über, »warum« dies passiert ist. Hier wird aus der verdichteten Situation nun eine Erzählung von einem bestimmten Tag, an dem es offensichtlich eine Auseinandersetzung zwischen Serdar und diesem Lehrer gab, in deren Verlauf der Lehrer abstreitet, dass es Kurdistan oder Kurden gibt. der hat=mir=sagen=wollen das gibt es nit \((mit verstellter Stimme:)) es gibt kein Kurdistan es gibt kei- Kurde und so sag=ich das-\ oh ich bin durchgedreht wie \((haut leicht mit der Hand auf den Tisch)) kannst\ du so was sagen des geht net, (30/05-30/08)

Serdar ist daraufhin »durchgedreht«. Offensichtlich fühlt er sich von der Behauptung des Lehrers in starkem Maße angegriffen. Auf diese Weise positioniert sich Serdar auch in dieser Textstelle als Kurde (vgl. Kap. 8.3 & 8.4.1) oder zumindest als jemand, dem es wichtig ist, dass Kurden und Kurdistan anerkannt werden. Der Lehrer hingegen argumentiert innerhalb eines Diskurses, in dem die Grenzen eines Landes ein für allemal festgelegt sind und in dem die Zugehörigkeit der Bewohner durch die Grenzen eines Nationalstaates bestimmt wird: Staatlich anerkannt ist nur die Türkei und die Bewohner der Türkei sind Türken. Eine Positionierung als ›Kurde‹ oder ›aus Kurdistan kommend‹ ist innerhalb dieses Diskurses nicht möglich. Serdar reagiert hierauf mit massiver Gewalt: jetzt hab=isch Pistole mitgenommen in die Schule aber keine echte das war so, Software-, Softwarekugel weißte? (1) ((schmunzelt (1)) hab=isch=mitgenomme in die Schule, genau wo=der reingekommen=ist \((etwas schmunzelnd:)) hab=isch n hey (1) hab=isch so gehalten und=so weißt du?\ ((I. schmunzelt kurz)) guck mal wie 341

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krank muss man doch sein um so=was zu tun weißte? (1) heute bin=isch nicht mehr so \((I. schmunzelt:)) krank ehrlich nicht\ ganz bestimmt nit (1) aber=isch war mal so krank \(gemeinsam schmunzelnd:)) (in der Zeit)\ (30/08-30/15)

Er bringt eine (Spielzeug-)Pistole mit zur Schule und bedroht damit seinen Lehrer. Obwohl Serdar beteuert, dass es »keine echte« Waffe war, beschreibt er sein Verhalten als »krank«. Er weiß (heute), dass man so etwas nicht tun darf bzw. wundert sich selbst darüber, wie er so hat handeln können. Doch damals schien es für Serdar eine angemessene Reaktion zu sein bzw. vielleicht auch die einzige Möglichkeit, um überhaupt reagieren zu können. Denn das was der Lehrer sagte, stellte für Serdar offensichtlich eine massive Bedrohung dar. Es wurde ihm seine ›Identität‹ (vgl. Kap. 8.4.1), seine Herkunft und damit auch seine eigene Geschichte mit all dem Leid, das er in seiner Kindheit erfahren musste und mit dessen Folgen er noch heute täglich konfrontiert wird (vgl. Kap. 8.2 & 8.4.3), aberkannt. Es ist eine Diskriminierungserfahrung, von der Serdar hier erzählt. Und auch wenn er sein Handeln heute als »krank« beschreibt, legitimiert er es gleichzeitig (auch heute noch) mithilfe dieser Erzählung: Er wurde auffällig, weil er (als Kurde) nicht anerkannt wurde (vgl. Kap. 8.3).

Hauptschule II: »da liegt das größte Problem« (30/28-30/50) Serdar lässt diese Erzählung jedoch so nicht stehen. Gleich darauf spricht er über seine Klassenlehrerin, wegen der er »wieviel mal nicht von der Schule geflogen« (30/17) sei. Es scheint ihm wichtig zu sein, mir klar zu machen, dass es auch andere Lehrer/-innen gab, die sich für ihn eingesetzt haben. weil die=hat gewusst isch bin nicht so weißte? /m/ jeder Lehrer hat zu=mir gesagt du bist nicht dumm aber du, willst es nur nicht /m/ (1) (30/18-30/19)

Trotzdem können ihn diese Lehrer/-innen nicht vom ›Kiffen‹ abhalten: isch wollt=es nie weißte? das war des (2) Hauptschule hab=isch ja dann, ´mm´ acht siebte- siebte Klasse hab=isch schon gekifft weißte? /m/ ´siebte Klasse´ ((leises kurzes Schmunzeln)) (1) hab=isch schon angefangen so die erstes Mal und so (30/2030/23)

Es folgt eine lange Pause von ca. zwölf Sekunden, in der Serdar nicht weiter spricht. Möglicherweise ist er in seine Erinnerungen vertieft. Vielleicht ist das Thema für ihn aber auch hiermit beendet. Schließlich fange ich an zu sprechen: »die andern Leuten #warn#« (30/24). Was ich hiermit sagen oder ansprechen wollte, lässt sich aus heutiger Perspektive für mich nicht mehr re342

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

konstruieren. Es klingt jedenfalls nicht nach einer erzählgenerierenden Nachfrage. Möglicherweise wollte ich Serdar fragen, ob die anderen Leute auch ›gekifft‹ haben. Doch Serdar lässt mich gar nicht erst aussprechen. Er scheint genau zu wissen, welches Thema ich ansprechen möchte: I: (12) die andern Leuten #warn# B: #alles# Ausländer ja Ausländer, wollt=isch grad sagen alles Ausländer gewesen (1) ein zwei drei Türken /m/ äh Deutsche /m/ das war=s- isch schwör ganz ehrlich eins zwei drei Deutsche das war alles Ausländer (2) die ganze Klasse (30/24-30/28)

Serdar verortet meine angefangene Aussage direkt innerhalb eines bestimmten Diskurses. Er scheint davon auszugehen, dass ich auf die hohe Zahl an ›Ausländern‹ an den Hauptschulen zu sprechen kommen wollte, mit der im gesellschaftlichen Diskurs – vor allem nach dem Hilferuf der Rütli-Schule Anfang 2006 – häufig das Scheitern der Schulform Hauptschule erklärt wird.29 Dem entsprechend erläutert Serdar, dass in seiner Klasse höchstens »drei Deutsche« waren; alles andere waren »Ausländer«. Dann fährt er fort:

29 In diesem »Hilferuf«, den die Rektorin der Berliner Rütli-Schule an den Senat schickte, hieß es: »Wie in der Schulleitersitzung am 21.2.06 geschildert, hat sich die Zusammensetzung unserer Schülerschaft in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass der Anteil der Schüler/-innen mit arabischem Migrationshintergrund inzwischen am höchsten ist. Er beträgt zurzeit 34,9 %, gefolgt von 26,1 Prozent mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen n.d.H. (nicht deutscher Herkunft) beträgt 83,2 %. Die Statistik zeigt, dass an unserer Schule der Anteil der Schüler/-innen mit arabischem Migrationshintergrund in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. [....] In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen. Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. [...] Unsere Bemühungen die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand der Schüler/-innen. Diesen Widerstand zu überwinden wird immer schwieriger. In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. [...] Wir sind ratlos. Über das QM (Quartiersmanagement) haben wir zwei Sozialarbeiter/-innen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund beantragt, um vor allem mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Aber diese Maßnahme allein wird die Situation nicht deeskalieren. [...] Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. [...]« (Spiegel Online vom 30.03.2006, http://www.spiegel.de/schulspiegel/ 0,1518,408803,00.html [18.05.2009]) 343

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(5) isch denk man=muss an den Hauptschulen arbeiten weißt du? /m/ (1) da liegt das größte Problem von Deutschland /m/ glaub mir /m/ bin da ganz=ehrlich da liegt das größte Problem, das sind alles Ausländer ´un-´ (30/28-30/30)

Mit dieser Argumentation bestätigt Serdar den gesellschaftlichen Diskurs über das Scheitern der Hauptschulen. Für ihn liegt hier »das größte Problem von Deutschland«, und dieses hängt damit zusammen, dass Hauptschulen ein Sammelbecken für »Ausländer« sind. Doch dann verlässt er diesen Argumentationsstrang: (2) nicht nur Ausländer sind alles äm, von Familien ja? (2) wo du- (1) wo die Chancen nit so sind so wie bei anderen weißt du? /m/ (3) es gibt nicht mehr in Deutschland dieses- früher wo=isch da war- wo wir neu da waren gab es äm \((haut ganz leicht mit der Hand auf)) reich\ mittel und arm weißt du? /m/ es gab immer diese drei Schichten /m/ ((spricht leiser)) heute=ist=es nicht=mehr so, heute entweder hast du irgendwas, entweder bist du ´reich oder bist du arm weißte?´/m/ es gibt diese Mittelschicht nicht mehr so ´weißte?´ /m/ (2) also, find=isch gibt es nicht weißte es gibt nur noch arm und reich ´weißt du?´ un je mehr je mehr je, mehr Tag vergeht desto mehr wird=es so weißt du? desto mehr gibt es Arme und desto mehr gibt es Reiche /m/ (2) ´und´ mit- allein wie in den Hauptschulen geredet wird weißt du? wenn du in=der Realschule in der Pause reingehst (1) dann siehst du schon ganz anders=der (2) sie-, dann siehst du eher Leute weißt du? (30/31-30/43)

Das eigentliche Problem sieht Serdar nicht in der kulturellen oder ethnischen Herkunft der Schüler/-innen an Hauptschulen, sondern in der Frage, aus welcher Schicht sie kommen. Es ist für ihn also weniger ein »Ausländer«Problem, als ein sozialstrukturelles Problem. Diese Darstellung entspricht Serdars überwiegender Präsentation im Interview: Denn auch ›sein Problem‹ ist weniger eines der nationalen bzw. ethnischen Herkunft, sondern ein sozialstrukturelles.30

30 Im gesellschaftlichen Diskurs wird zum Teil ebenfalls auf die Durchmischung dieser beiden Problemstränge verwiesen. Dennoch wird zumeist am eigentlichen Problem ›Ausländeranteil‹ festgehalten. So heißt es beispielsweise in einem Artikel auf Spiegel Online: »Warum ist die einstige Musterschule so tief gefallen? Es gibt keinen bestimmten Punkt, kein Datum, an dem die Verhältnisse an der Rütli-Schule gekippt sind. [...] Hauptschullehrer Rogler sagt, seit den neunziger Jahren werde die Integration der ausländischen Schüler immer schwieriger, weil die Eltern als Vorbilder ausfielen. Seitdem gebe es das Phänomen ganzer Sozialhilfefamilien, in denen keiner mehr arbeiten gehe. Die Schüler seien die einzigen im Elternhaus, die morgens aufstünden. [...] Nun wird viel spekuliert, wieso offensichtlich die Ausländer die Gewalt an die Schule brachten. Ist es, weil sie von der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt besonders betroffen sind und keinen Anreiz haben, sich zusammen zu reißen? Liegt es daran, dass in türkischen und arabischen Familien die einzigen männlichen Vorbilder gewalt344

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Serdar geht davon aus, dass sich in Deutschland immer mehr eine sozialstrukturelle Spaltung vollzieht: Es gebe immer weniger Mittelschicht und »nur noch arm und reich«. So widerspricht er in gewisser Weise dem gängigen Diskurs über das Scheitern der Hauptschulen, reproduziert gleichzeitig jedoch einen anderen Diskurs, dem zufolge sich die Schere zwischen Arm und Reich seit Jahren weiter öffnet. Interessant ist, dass Serdar diesen Diskurs nun nutzt, um seine eigene Straffälligkeit zu legitimieren. (1) wenn- wenn=isch jemand abgeribbt hab oder so bin=isch immer Gymnasium gegangen=oder, Realschule weil=es immer Leute sind wo- (1) ä Eltern habn wo=s sehr gut geht weißt du? /m/ (1) was willst du von einem Hauptschüler sch- sch- (1) was willst=du von einem Hauptschüler abrippen was hat=der? ((schmunzelt kurz leise)) /m/ der hat ja kei- kein Geld oder so weißt du? (2) bei den Hauptschülern ist=das Problem weißt du die sind=da alles auf einem Fleck /m/ und das=ist falsch /m/ das das das das macht nur noch Katastrophe weißt du? (30/43-30/50)

Serdar präsentiert sich hier als eine Art moderner Robin Hood. Er hat nur die »abgeribbt«, die Geld haben bzw. die aus reichem Elternhaus kommen.31 Dies sind – seiner Argumentation folgend – alle, die ein Gymnasium oder eine Realschule besuchen. Sich selbst positioniert er hierbei als Hauptschüler und daher – zumindest innerhalb seiner Argumentation – als sozialstrukturell benachteiligt. Auf diese Weise positioniert er sich wieder innerhalb eines thematischen Feldes, in dem er sich das, was er machen bzw. haben möchte, nicht leisten kann; und er es sich daher auf anderem Wege besorgen muss (vgl. Kap. 8.3).

Jemanden ›abrippen‹, um mit Mädchen auszugehen (31/11-31/22) Nachdem ich Serdar nun nach seiner Hauptschul- und seiner Realschulzeit im Nachfrageteil gefragt habe, frage ich ihn – im Anschluss an diese Textstellen – (nochmals) nach einem Erlebnis aus der Zeit, in der er kriminell wurde. Serdar beginnt daraufhin – nach kurzem Überlegen – erneut zu erzählen: (5) weißt du wir=ham=mal äm-, von der BBS sind=wir rübergelaufen an die (Stadt) Alibaba’s32 ne? /m/ mein Freund hat ne Freundin gehabt ne? /m/ der wollte mit ihr, Chevy’s33 gehn Billard spielen /m/ ´die ham kein Geld gehabt´ /m/ (2) einfach so, zack zwanzig gefahrn und dann (ging gar nichts) isch=hab=gsagt-, ham=wir=gesagt tätige Männer sind? Keiner weiß die Antwort – aber die Indizien für einen Zusammenhang sind nicht zu übersehen.« (Musharbash/Volkery 2006) 31 Dieser ›Ehrenkodex‹ galt z.B. auch bei den von Hermann Tertilt beschriebenen Turkish Power Boys (vgl. Tertilt 1996: 30 ff.). 32 Name eines relativ bekannten und großen Dönerladens in der Stadt. 33 Name einer (anderen) Kneipe. 345

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komm wir ma-, komm wir machen mit und (gegenseitig dann später) mit, deiner Freundin noch mit so=m Mädchen gehen wir jetzt ins Chevy’s trinken was und so /m/ wir ham kein Geld gehabt weißt du? ohne Geld kannst nit nit mit so=m Mädchen weggehn oder so weißte? /m/ ((schmunzelt kurz leise)) ham wir einfach n Typ abgeribbt am- ham wir den direkt mit hintergenommen und haben so komm alles raus und=so Handy Mandy Geld mit, alles raus, genommen, und=sind=einfach gegangen (2) einfach so /m/ weil wir kein Geld hatten /m/ um wegzugehn ´so´ (1) (31/11-31/22)

Zunächst schildert Serdar die Rahmenbedingungen des Ereignisses, wobei er nur in Stichworten formuliert und sich die Situation hierdurch nicht wirklich nachvollziehen lässt. Ein mögliches Szenario könnte so ausgesehen haben, dass Serdar gemeinsam mit anderen von der Berufsschule zu einem Dönerladen (Alibaba’s) gelaufen ist. Dort treffen sie einen Freund von Serdar. Dieser Freund hat eine Freundin, mit der er später noch in eine Kneipe gehen möchte (Chevy’s), um Billard zu spielen. Das Problem ist jedoch, dass weder der Freund noch seine Freundin Geld haben. Was Serdar dann mit »zack zwanzig gefahrn« meint, lässt sich aus dem Kontext des Gesagten nicht rekonstruieren. Die Formulierung »zack« deutet jedoch darauf hin, dass etwas schnell ging. Möglicherweise wurde schnell eine Entscheidung getroffen oder es bot sich spontan eine Gelegenheit, da jemand, z.B. ein Radfahrer, langsam gefahren ist, und daher ein ›ideales Opfer‹ darstellte. Doch um die konkrete Situation scheint es auch nicht zu gehen. Es klingt eher, als wollte Serdar hier lediglich verdeutlichen, dass die Aktion nicht geplant war. Er und seine Freunde beschließen, ebenfalls ins Chevy’s zu gehen, und dorthin anscheinend auch noch (ein) weitere(s) Mädchen mitzunehmen. Da sie kein Geld haben, wird ein »Typ abgeribbt«.34 Die Formulierung hier deutet bereits darauf hin, dass sie dies bestimmt nicht zum ersten Mal getan haben. Denn es scheint als seien Serdar und sein(e) Freund(e) geübt hierin, und als würden sie sich auskennen, wo ein guter Platz ist, um jemandem Handy und Geld wegzunehmen: ((schmunzelt kurz leise)) ham wir einfach n Typ abgeribbt am- ham wir den direkt mit hintergenommen und haben so komm alles raus und=so Handy Mandy Geld mit, alles raus, genommen, und=sind=einfach gegangen (2) einfach so

Das Schmunzeln und die Wortspielerei »Handy Mandy Geld« klingt darüber hinaus, als sei es ein Spiel für sie; als handle es sich eigentlich nur um einen 34 Interessanterweise spricht Serdar hier nicht wie in den vorherigen Textstellen von ›abziehen‹, sondern von ›abrippen‹, was darauf hindeuten könnte, dass bei diesem Überfall bw. diesen Überfällen durchaus Gewalt angewendet wurde und dass unter Umständen nicht nur Geld und Handy, sondern auch Kleidungsstücke weggenommen wurden (vgl. hierzu auch Tertilt 1996). 346

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Streich. Doch Serdar und sein(e) Freund(e) nehmen routiniert ihrem Opfer alles weg und gehen dann »einfach so«. Ein Unrechtsbewusstsein oder Empathie für ihr Opfer scheinen sie nicht zu kennen. Sie nehmen sich einfach, was sie brauchen, um mit den Mädchen etwas trinken zu gehen. Denn sie möchten genau das tun, was sie bei anderen sehen und glauben, dass dies ohne Geld nicht möglich ist. Letztlich reiht sich daher auch diese Erzählung ein in die Schilderungen über sozialstrukturelle Benachteiligung, mithilfe derer Serdar sein kriminelles Handeln überwiegend erklärt: Er positioniert sich als sozialstrukturell benachteiligt und legitimiert hierdurch sein Handeln. Gleichzeitig geht es hier jedoch auch um das Thema (marginalisierte) Männlichkeit: Denn Serdar und sein(e) Freund(e) wollen den Mädchen etwas bieten. Da ihnen hierzu legal keine Ressourcen zur Verfügung stehen, müssen sie auf andere Mittel zurückgreifen (vgl. Kap. 2.4.2).

8.4.3 Morde, Verhaftungen und Folter in Serdars Kindheit Wenn Serdar über seine Kindheit in der Türkei spricht, so sind diese Erinnerungen stets eng verknüpft mit der Ermordung seiner beiden Onkel, Hausdurchsuchungen und Folter (vgl. Kap. 8.2). Dabei ist auffällig, dass er diese Geschehnisse – zumindest in der Haupterzählung – nicht anbringt, um seine eigene Kriminalität oder seinen Drogenkonsum zu erklären, sondern um seine Eltern vor dem Vorwurf zu schützen, sie hätten bei seiner Erziehung versagt (vgl. Kap. 8.3). Bei allen diesen Textstellen handelt es sich um – zum Teil sehr lange und ausführliche – Erzählungen35 bzw. die Beschreibung verdichteter Situationen. Da ich diese nicht auseinander reißen wollte, werden im Folgenden längere Textstellen analysiert, die aber dennoch – zumindest abschnittsweise – sequentiell innerhalb einer Interpretationsgruppe interpretiert wurden.

Ermordung des ersten Onkels (7/44-9/24) Die erste Textstelle, in der Serdar über seine Kindheit in der Türkei spricht, folgt auf eine längere Argumentation, innerhalb derer Serdar beteuert, dass seine Eltern »nicht schuldig« (7/19) sind an seiner Entwicklung bzw. dem, was er getan hat (vgl. Kap. 8.3). Er beschreibt daraufhin das Leben in »Kurdistan« (7/21): das »türkische Café«36 (7/23) seiner Familie, die Hochzeit sei35 Gemeint sind hier szenisch-episodische Erzählungen, also Erzählen im engeren Sinne (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 143 ff.). 36 Die Bezeichnung ›türkisches Café‹ sowie die Erklärungen, die Serdar hierzu anführt (»wo diese Ältere sitzen oder so und sch- Karten spielen oder /ja/ so Tee trinken« (7/24-7/25)) können als Markierung gelesen werden, für wen bzw. wo Serdar diese Geschichte erzählt. In der Türkei bzw. gegenüber jemandem, der 347

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ner Eltern, die Migration seines Großvaters und den »Bauernhof« (7/40) seiner Großmutter. Anschließend fängt er an zu erzählen: [...] (1) ja und, wir sind ja Kurden weißt du? /m/ (1) in dem Gebiet ´wo wir wohnen´ weißt du in diesem Dorf wo=ich lebe ne? wo mein Vater herkommt (1) in jedem, jede zweite Familie ä ist einer wo getötet ´worden ist oder so´ /m/ jeder (1) irgendwas einge(bockt) (1) ja ´und´ (1) zwei Stücke sind ´getötet worden von uns´, (7/447/48)

Serdar beginnt hierbei mit einer allgemeinen Einführung, mit der er sich und seine Familie erneut verortet (vgl. Anfangssequenz, Kap. 8.3 & 8.4.1): »wir sind ja Kurden weißt du?«. Anschließend nimmt er eine Standortbestimmung vor: »in dem Gebiet ´wo wir wohnen´ weißt du in diesem Dorf wo=ich lebe ne? wo mein Vater herkommt«. Hierbei fallen – gleich zu Beginn – zwei Dinge auf: Zum einen spricht Serdar im Präsens. Es klingt, als ob er und seine Familie immer noch in diesem Dorf leben, aus dem sein Vater kommt, und nicht bereits seit mehr als zehn Jahren in Frankenthal wohnen. Dies könnte zum einen damit zusammenhängen, dass Serdars Familie noch immer Besitz hat in diesem Dorf; die Migration also (noch) nicht abgeschlossen ist. Doch zum anderen vergewissert sich Serdar – durch das eingeflochtene »weißt du?« und »ne?« – auch immer wieder, dass ich ihm zuhöre, ihn verstehe, und stellt auf diese Weise Nähe her. Beides zusammen könnte daher auch als Hinweis gelesen werden, dass Serdar das, worüber er jetzt sprechen wird, noch immer sehr nahe geht – so als ob er noch immer dort leben würde bzw. die Ereignisse gerade erst geschehen sind – und er daher Nähe bei seinem Gegenüber sucht (vgl. hierzu auch Phoenix 2009b). Serdar beschreibt das Dorf, aus dem sein Vater kommt, als eines, wo sehr viele Menschen getötet wurden. Jede (zweite) Familie hat einen Angehörigen verloren, Serdars Familie sogar zwei.37 Nach dieser Einleitung beginnt die szenische Erzählung: in dem Lokal (2) isch- an meinem Geburtstag ne? ´m´ (1) haben wir gemein=Onkel der wo getötet worden ist und zwei andere Onkels (1) haben nachts um zwei drei Uhr isch war da fünf oder sechs Jahre /m/ fünf oder sechs Jahre war isch (1) bin=isch ä (1) genau mein Onkel der war ein Jahr verheiratet und hat ein Kind von einem Monat gehabt /m/ von einem Monat, und der=ist äm (1) an dem Tag ist n Film von Jean Claude van Damm gelaufen ne? /m/ (Leonhard) der Film äm (1) in Türkei war das n Highlight wenn so=n Film in so=m Kanal gekommen ist, außertürkisch spricht, hätte er vermutlich nicht diese Bezeichnung gewählt. Hier aber präsentiert er sich mir gegenüber als Experten und Übersetzer seiner ›Kultur‹. 37 Die Bezeichnung »zwei Stücke« klingt im Deutschen ungewöhnlich und fast herabwürdigend. Vermutlich wurde sie jedoch – in direkter Übersetzung – aus dem Türkischen übernommen: iki tane amcam öldürüldü. 348

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

dem so=n Highlight so=n Blockbuster, an meinem Geburtstag war das (1) wir haben den Geschäft von uns zugemacht, und wollten zu meiner Familie fahrn /m/ und wollten den Film alle dort gucken /m/ weil=die auf uns gewartet haben es war nachts zwei drei Uhr /m/ (4) (7/48-8/07)

Es ist Serdars Geburtstag und bereits Nacht. Die Familie hat das Lokal geschlossen und möchte nun in der Wohnung oder dem Haus von Serdars Familie noch einen Film schauen. Serdar ist gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt. Doch er scheint dabei zu sein. Bei dem Film, den die Familie sehen möchte, handelt es sich – nach Serdars Erzählung – um Lionheart (1990), ein »Blockbuster« mit Jean Claude van Damm, der in Deutschland erst ab 18 Jahren freigegeben wurde. Interessant ist, dass es zwischen diesem Film und dem, was Serdar im Folgenden erzählen wird, einige Parallelen gibt, was möglicherweise ein Hinweis darauf sein könnte, dass sich in Serdars Erinnerung Realität und (filmische) Fiktion vermischt haben. Denn in Lionheart wird der Bruder des Hauptdarstellers Leon (Jean Claude van Damm) von Drogendealern mit Benzin übergossen und angezündet. Er liegt im Sterben und möchte Leon ein letztes Mal sehen. Doch Leon schafft es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus. Sein Bruder stirbt und hinterlässt seine Frau mit der gemeinsamen Tochter.38 In Serdars Erzählung verabschiedet sich sein Onkel, noch bevor der Film beginnt. Er möchte nach Hause zu seiner Frau und seinem neugeborenen Kind. Kurz nachdem er los gegangen ist, hört der Rest der Familie Hunde jaulen: B: da bin=isch äm, da sind=wir rein hat mein Onkel gemeint ich geh heim sagt=er (1) meine Frau und Kin- Kind warten /ja/ ich geh heim (2) die=ham bestimmt noch nicht geschlafen die warten auf mich, das war mein Geburtstag der hat mir so=n Schein geschenkt den hab=isch heute immer noch I: (2) was hat er dir geschenkt? B: einen Schein /m/ ganz alte türkische Währung ist das /m/ (1) und= dann (2) ja, hat=er gesagt ich geh heim sagt=er (2) es war ne Entfernung von hier bis zum Herr F.39 ja? /m/ sogar bisschen noch weiter weg so ja? so diese die Entfernung /m/ da waren wir äm- (2) ist=er heimgegangen und dann ham wir so Hunde, jaulen gehört und der=hat Angst vor Hunde gehabt /m/ (1) ham wir uns kaputtgelacht ja der hat jetzt Angst und so ist das (2) (8/17-8/19)

38 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Leon_(Film) [14.05.2009]. 39 F. steht hier wieder für den Namen des Bewährungshelfers. Serdar meint vermutlich die Entfernung zwischen der Bewährungshilfe und dem Café, in dem das Interview stattfindet, also ca. 250 Meter. 349

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Dieses Jaulen könnte – in Serdars Erzählung – als erstes Zeichen gelesen werden, dass etwas nicht stimmt. Aber zur damaligen Zeit war das Jaulen der Hunde Anlass für Späße. Schon fünf Minuten später klopft es jedoch an der Tür: fünf Minuten später oder so ne? hat=s an die Tür geklopft so dreimal, so hintereinander so (1) so mit Pause weißt du? /m/ (1) und jeder war ist vertieft in n Film weschte? keine, keine Orientierung und=isch war der Kleinste, (Kleiner) geh die Tür aufmachen und so (2) ´na ja und war mein Onkel vor ja? auf Knien gegangen ist auf mich gefallen´ (2) den haben sie dreizehn Nägel ja? diese flachen Nägel da weißt du diese ganz großen /m/ haben sie ihm seinen ganzen Körper ´(reingehauen)´ (1) alles rein weißt du? ´und (so Metalle) diese (Nägel) haben sie ihm reingeschlagen ja? der ist auf misch gefallen und´ das war ja alles noch auf den so sein Körper war diese ganze (1) isch=war unter Schock (1) isch hab de- ich hab Panik gehabt und=so ne? /m/ ich=hab überhaupt nichts machen=können und nur seinen Kopf dahin gelegt halt also isch konnt nichts machen (1) und dann, schrei schrein ich schrei ja? aber kommt nichts raus /m/ isch hör mein Onkel und=so alle sagen, Serdar Serdar Serdar ne? wer ist gekommen ist ge-, ich rufe nach denen ihrem Namen aber die, die hörn mich nit äm, weißt du ich hab geschrien aber die haben mich nit gehört (2) kein Ton rausgekommen weißt du? (8/19-8/34)

Serdar wird – als der Jüngste der Familie – zur Tür geschickt. Was sich dann ereignet, klingt wie ein Albtraum. Vor der Tür kniet Serdars Onkel. Sein Körper ist mit Nägeln durchstoßen. Er fällt auf Serdar und Serdar kann nichts machen. Er schreit, ruft die Namen seiner Familienangehörigen, doch niemand hört ihn. Er bringt keinen Ton heraus. Bis ins kleinste Detail schildert Serdar die Erlebnisse dieser Nacht. Es sind traumatische Erlebnisse, die von Serdar bislang scheinbar in keiner Weise verarbeitet wurden. Denn Serdar gelingt es nicht, mit Abstand zu erzählen. Er wird in seiner Erinnerung in den Strudel dieser Ereignisse zurückgezogen. Dabei ist es unerheblich, ob sich diese Ereignisse tatsächlich so zugetragen haben oder ob sie – in Serdars Erinnerung – mit Elementen aus dem Film Lionheart vermischt wurden. Denn das, wovon er spricht, lastet offenbar schwer auf ihm. Was anschließend geschehen ist, scheint für Serdar nicht wirklich erinnerbar. Alles geht durcheinander. Die Bewohner des Dorfes werden geweckt, Frauen weinen. ´ja also ham=se- sind die dann gekommen (2) haben das dann gesehen und so (1) so in ganze Dorf, sind=die gerannt und so (2) haben die gesucht und=so (1) mei- mein mein Vater hat gestanden ne (verstehen Sie)?´ (2) jeder Dorf jedes ist gewacht worden und=so weißte haben jeden wachgemacht Weinen und die Frauen haben geweint ´und so´ meine Mutter und Oma (1) die Frau von ihm (1) /ja/ (8/34-8/39)

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Unklar ist hierbei vor allem, wer von wem gesucht wurde; und wo Serdars Vaters gestanden hat bzw. ob Serdar hier von einem Geständnis seines Vaters spricht. Möglicherweise hat das Militär nach PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten gesucht und Serdars Vater wurde in diesem Zusammenhang verhört. Denn Serdar fährt fort: ey die- ich schwör dir Tina wir haben nichts mit mit (1) mit PKK oder so was zu tun gehabt ne? /m/ aber das ist doch dene ihr Grund, ((spricht lauter und schneller)) seit Jahren schon von den Kurden und den Türken her von der Regierung ich sag nicht von den Türken ich sag nur der Regierung ja? weißt du (2) dass die den Grund haben ja? ihr seid Kurden ja? ihr unterstützt die PKK /m/ also die Terroristen besser gesagt ja? /m/ das heißt (1) du bist mein Feind /m/ du bist nicht mein Freund du bist mein Feind weil du die unterstützt weil du meinen Feind unterstützt /m/ auch wenn das nicht so ist die halten das aber so hoch weißt du? die sagen, doch du machst das /m/ die haben meinem Vater immer vorgehalten m der würd denen helfen und=so, den Leuten von n Bergen und so weißt du? /m/ die hatten meine Familie hat gar nichts damit zu tun gehabt die waren alle- (2) (8/39-8/50)

Serdar beteuert, dass seine Familie nichts mit der PKK zu tun hat. Dabei unterscheidet er zwischen Kurden und der PKK bzw. den »Terroristen« sowie zwischen Türken und der türkischen Regierung.40 Er scheint sehr viel Wert darauf zu legen, hier genau zu differenzieren. Die Erzählung wird hierdurch zu einer Geschichte, mit der Serdar bzw. seine Familie seine bzw. ihre Identität als Kurde(n) festigen kann bzw. können. Denn Serdar verortet sich selbst bzw. seine Familie hier als Kurden, die nicht die PKK unterstützen, aber dennoch von der türkischen Regierung als »Feind« bezeichnet werden. Sicherlich spielte diese Positionierung eine wichtige Rolle bei der Anerkennung des Vaters und seiner Brüder als politische Flüchtlinge in Deutschland. Es kann daher durchaus sein, dass diese Geschichte immer wieder innerhalb der Familie erzählt wird bzw. wurde, um sich zu versichern, wer man ist und woher man kommt. Dies könnte unter Umständen auch erklären, warum Serdar im Folgenden in andere (Familien-)Geschichten abschweift: weißt du der, der Onkel der hat mit gar nichts zu tun gehabt (1) er bis er seine Frau geheiratet hat ne? /m/ ich schwör dir du glaubst es mir nicht ich war so jung ich hab das gesehn (1) der ist aufs Dach gegangen ne? du lachst (1) vom Dach, hat die ä seine Frau ja weil (1) von von, Fenster ne? hat sie den gesehn hat die ganze Zeit \((zündet Feuerzeug:)) mit Feuerzeug so gemacht so\ Licht Licht an Licht aus und so der hat die für Licht an Licht aus gemacht \((I. schmunzelt kurz)) weißte?\ bis er 40 Diese letzte Unterscheidung könnte damit zusammenhängen, dass Serdar heute ›Türken‹ als Freunde hat. Es scheint ihm wichtig zu betonen, dass die türkische Regierung seine Familie als Feinde angesehen hat, aber dass dies nicht für alle Türken gilt. 351

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die geheiratet hat (1) der war so ein ruhiger Typ weißt du? mit gar nichts zu tun und so wenn jemand, alles sagt zu dem der hat nie was gesagt oder so /m/ (1) mein Vater hat jemanden gesehn mit Zigarette weißt du? die- im Dunkeln seine Zigarette hat der genommen (1) ist dem hinterher gerannt /m/ der ist auf die Berge aber der war weg, und (2) ((leises kurzes Schmunzeln)) (8/50-9/10)

Serdar beschreibt seinen Onkel als ruhig und besonnen; als einen Mann, dem es um Romantik und Liebe ging: »Licht an Licht aus« ist für den Onkel das (geheime) Zeichen zweier sich Liebender. Serdars Vater hingegen vermutet hinter dem gleichen Anblick (Licht an Licht aus) eine brennende Zigarette; eine potentielle Bedrohung durch PKK-Anhänger, die sich in den Bergen verstecken. Vermutlich gehören auch diese beiden Anekdoten zum Repertoire der Familiengeschichten, die immer wiederholt werden und die sich daher in Serdars Erinnerung miteinander vermischen. Sie verdeutlichen die Unschuld von Serdars Familie: Sein Onkel, der ermordet wurde, hat sich nicht für Politik interessiert, und sein Vater hat PKK-Anhänger verfolgt, aber nicht mit ihnen sympathisiert. Schließlich beendet Serdar seine Erzählung mit dem Tod des Onkels im Krankenhaus. Doch auch das Ende der Erzählung ist durchwoben von Beschreibungen und Argumentationen, mit denen Serdar deutlich macht, dass auch die Familie seiner Mutter »mit keinem Stress« hatte. Es war eine Familie »mit Ehre und Stolz«: ja mein Onkel ne? ihm durften- ist ja kein so großen Krankenhaus oder so (1) Polizeistation oder so, die waren zu, die haben zugemacht gehabt /m/ weißte? mussten wir meinen \((Geschirrgeräusch)) Onkel\ von (1) eineinhalb Stunden Weg in diese Stadt fahrn wo meine Mutter herkommt (5) meine Mutter hat bei ihre Familie (2) ging es ging es damals ja? jetzt vielleicht nicht mehr so aber, heut immer noch aber, nicht jeder (1) finanziell sehr gut damals weißt du? /m/ die haben, ä drei ä:: st- also die kennt auch=jeder aus m Dorf und=nicht und=nicht auf kriminelle Art und Weise oder so weil, weil=es Leute sind, mit Ehre und Stolz weißt du? /m/ die haben mit keinem Stress oder so oder, einfach beliebte Leute weißt du? /m/ kennt jeder so ne? /m/ (2) die ganze Familie hat dann erst mal-, weißt du war unter Schock war im Schock jeder hat n Kranken- diese Krankenhaus war alles voll /ja/ alles voll weißte? ((Geschirrgeräusch (1)) (2) isch=hab dann (2) äm Entschuldigung mein- (1) und war dann dort im Koma gewesen und=ist von Koma dort m gestorben in Koma ja? /m/ (2) (9/19-9/24)

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Ermordung des zweiten Onkels und Folterung des Vaters (9/47-10/31) Nach der soeben analysierten Erzählung folgt eine kurze verdichtete Situation, in der Serdar beschreibt, dass sein Vater – und wohl auch einer seiner Onkel – in der Zeit, als die Familie in dem Heimatdorf des Vaters lebte, immer wieder verhaftet und geschlagen wurde(n): die haben meinen Vater- (1) im Dorf wo die im Dorf gewohnt haben ne? /m/ hab=ich von Fotografien gesehn (2) da war immer oft verhaftet der war immer verhaftet /m/ den ham sie immer mitgenommen /m/ immer, immer mitgenommen immer mitgenommen immer geschlagen und=dann haben sie=ihn zurück gebracht die haben den immer, den, mein Onkel, den, mein Onkel /m/ (9/24-9/28)

Doch ausführlicher wird Serdar an dieser Stelle nicht. Stattdessen kommt er auf einen anderen Onkel zu sprechen, der in Diyarbakr lebte. Bevor er mir jedoch irgendetwas Näheres über den Onkel erzählt, erklärt mir Serdar zunächst den Kurdenkonflikt: der andere Onkel hat in diese Stadt in diese Diyarbakr gewohnt ja? /m/ (1) diese Diyarbakr ist äm von den Kurden so, die Hauptstadt so /m/ weißt du? die die sind, die nennen das als ihre Hauptstadt /m/ das heißt Ahmet Diyarbakr (3) die Türken haben das auch- die türkische Regierung hat das ja auch gemerkt weißt du? die- weil in Diyarbakr immer so, gib mal in Google Diyarbakr ein und so /m/ oder in Youtube irgendwo (1) wenn du mal- oder Wikipedia /m/ ganz kurz wenn du so mal drüber liest /m/ oder so die, die Regierung hat (1) hat jetzt gesehn dass da Aufstände waren und so dass die Leute- weil das sind alles kurdische Leute, das ganze Gebiet sind Kurden weißt du? /m m/ die Regierung kann nicht so vertuschen als ob es keine Kurden gibt oder so mit keiner eigenen Kultur, mit keiner eigenen Sprache (1) weißt du die Kurden wollen ja nur des haben, die wollen nur, die warn- wollen eigene Schulen haben /m/ die wollen dass ihre Sprache weiterentwickelt wird, die wollen die die wollen gar nicht alle peng machen Leute nur oder so warum denn? /m/ verstehst du? warum /m/ im Krieg oder so /m/ die kämpfen ja da dafür damit sie damit sie das erhalten können, ihre Sprache, die wollen die wollen Schulen haben die wollen eigenen Fernsehn haben (2) eigenen Anerkennung weißte? /m/ (1) ´m´ da waren Aufstände in Diyarbakr (1) ´un´ jetzt ist die Regierung auch bisschen lockerer weißt du? das Gebiet wird anerkannt das kurdische /ja/ Stadt weißt=du so? /ja/ (9/28-9/47)

Es ist eine sehr vereinfachte Darstellung. Möglicherweise hat Serdar auf diese Weise als Kind erklärt bekommen, warum seine Familie verfolgt wurde und fliehen musste. Fast scheint es, als würde heute in seiner Familie nicht mehr über dieses Thema gesprochen werden, denn Serdar hat seine Informationen offenbar aus dem Internet. Er nennt Google, Youtube und Wikipedia als Quel353

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

len, was möglicherweise verdeutlichen soll, dass er sich informiert hat. Denn Serdar präsentiert sich hier als Experte. Vielleicht ist die vereinfachte Darstellung jedoch auch an mich gerichtet: Serdar scheint nicht davon auszugehen, dass ich irgendetwas über die Problematik der Kurden in der Türkei weiß. Er nennt mir Quellen, mit deren Hilfe ich mich informieren kann und beschreibt mir gleichzeitig, worum es im Wesentlichen geht. Vielleicht hat Serdar die Erfahrung gemacht, dass in Deutschland niemand etwas damit anfangen kann, wenn er von sich als Kurden spricht (vgl. auch 8.4.2 – Hauptschule I). Niemand verbindet damit die brutalen Ereignisse, die Serdar erlebt hat.41 Doch er möchte, dass ich ihn verstehe; dass ich einordnen kann, wovon er spricht. Und erst jetzt – nachdem Serdar mich mit diesem Hintergrundwissen ausgestattet hat – beginnt er von der Ermordung seines zweiten Onkels zu erzählen: mein anderer Onkel hat dort gearbeitet in einer ä:m (1) Tekelfirma das=ist äm in Türkei die größte ä, Alkohol und ä, Tabak ä produzierende Firma /m/ Tekel ne? sehr bekannt /m/ ´mein Onkel´ hat dort gearbeitet zwei Kinder ´(gehabt)´ (1) auch ältere eine Toch- Tochter und ein Junge (1) und die=sind ´äm´ (1) der ist vor seiner Frau ´erschossen worden´ (1) die Frau ist von dem- (1) der geht jeden Morgen auf die Arbeit fährt mit dem, Bus ne mit m (Dolmusch) (1) fährt=er da hin und die Frau geht geht morgens mit (1) und die Frau will net weggehn weil der mit seinem Freund redet und noch=nisch in den Bus rein geht ja? /m/ (1) ((ein Telefon klingelt)) (nachdem) (1) ((klingelt erneut)) geht der rein und wird-, ((jemand beantwortet das Telefon: grüß dich)) sobald=er reingeht wird=er rausgeschossen mit ( Bus ) durch die Kugeln und so ne? (1) (9/47-10/07)

Serdar erzählt die Geschichte so, als sei sein Onkel vorsätzlich erschossen worden. Es könnte sich jedoch durchaus auch um einen Anschlag auf einen Bus handeln, bei dem der ganze Bus explodierte. Vielleicht war der Onkel zur falschen Zeit am falschen Ort. Doch Serdar scheint es hier um die Beschreibung der Ungerechtigkeit zu gehen, die seine Familie gezielt erfahren hat. Serdar positioniert seinen Onkel innerhalb der Erzählung als unschuldigen Familienvater, der morgens zur Arbeit fährt und vor den Augen seiner Frau auf brutale Weise ermordet wird. Fast klingt es, als sei Serdar selbst dabei gewesen, als sein Onkel in den Bus eingestiegen ist und seine Frau draußen wartete. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass auch diese Geschichte häufig in Serdars Familie erzählt wurde. Auch sie dient der Herstellung einer Familienidentität als unschuldig verfolgte Kurden und spielte aller

41 Dies könnte möglicherweise auch erklären, warum in seiner Akte dies alles nicht auftaucht. Denn Serdar wird als türkischer Staatsbürger und ›Gastarbeiter‹Sohn und nicht als Kurde und Sohn politischer Flüchtlinge gehandelt (vgl. Kap. 8.2). 354

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls eine zentrale Rolle im Anerkennungsprozess der Familie als politische Flüchtlinge in Deutschland. Für Serdar hat diese Geschichte aber noch eine andere Bedeutung. Sie weckt Erinnerungen an Gefühle von Verlassenheit, Einsamkeit und großer Angst: den Tag kann=isch mich auch ganz gut erinnern wir waren im Dorf ja? /m/ (1) ich weiß noch isch bin- ich bin (Nolle) weißt du ist egal wie du über mich denkst oder so was wenn- (1) verstehst=du was=isch mein? (1) normalerweise so, schämt man sich so was zu sagen oder so aber isch schäm mich das nicht weißt du ((leises kurzes Schmunzeln)) ich hab mir in die Hosen gemacht gehabt ja? /m/ und, jeder hat jeder hat ä- keiner war da ich bin=aufgestanden isch=war=da aber ich kann mich dran erinnern /m/ und keiner war da ne? (2) mit und=dann, hatt=isch groß den Hoftür aufgemacht, ich hab die Leut die ganzen Leute gehört weinen und so oben im oberen Haus (2) hab=isch mich erst schlafen gelegt /m/ bin ich gegangen, hab isch mich selbst ausgezogen und so, ´und tota- isch war noch müde weißt du? /m/ ja weil´ (3) ich hab noch n Bild m ((kurzes Schmunzeln)) (1) ja (1) ja (1) (10/07-10/18)

Niemand scheint da zu sein, der sich um Serdar kümmert oder ihm erklärt, was passiert ist. Doch anstatt die Nähe der anderen zu suchen, auf sich aufmerksam zu machen, erzählt Serdar, dass er sich wieder schlafen gelegt hat. Obwohl er offensichtlich noch klein ist, handelt er wie ein ›großer Junge‹ und zieht sich sogar selbst (wieder) aus. Er scheint zu spüren, dass seine Belange hier nicht wichtig sind, und nimmt sich daher selbst zurück. Begründen kann Serdar sein damaliges Verhalten nicht. Er bricht ab (»ja weil´ (3)«) und seine Gedanken schweifen von der konkreten Situation zu einem Bild, das er von sich als kleinen Jungen hat und das ihn zum Schmunzeln bringt; wobei dieses Schmunzeln ebenso als ein Zeichen von Verlegenheit interpretiert werden könnte. Auch im Anschluss spricht Serdar nicht weiter davon, was all diese Erlebnisse und Erzählungen für ihn als kleinen Jungen bedeutet haben bzw. heute immer noch bedeuten. Stattdessen beschreibt Serdar ausführlich das Leid, das seinem Vater zugefügt wurde: und dann, immer mein Vater verhaftet worden mein Onkel, mein Vater ist heim gekommen und so (1) ey Mann der war rot und so fast der ganze Körper war rot und so (1) da hatte ich auch mit so Probleme davon weißt du? /m/ der hat ä im Rücken ist=er wieviele Male operiert worden das fünfte Mal schon /m/ (1) durch die Schläge wo er bekommen hat weißt du? /m/ ist dem sein Rücken kaputt /m/ (1) die haben dem Stromschläge gegeben (1) ist ist dem sein (1) äm Ohr ne? (1) alle beide so in einer- in dieser Ohr wurd=er drei oder viermal operiert ne? und=das andere auch ist Geschmacks- Geschmackssinn und so (1) mit der Zunge und was weiß=isch ne? /m/ ist alles weg bei dem /m/ und sei- u:nd seine Haut (2) die ist auch so rötlich weißt 355

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

du? /m/ (1) durch die Schläge und und so /m/ so im Gesicht und so man merkt diese Kopf (1) sein Kopf weißt du? (2) er hat- Haare fallen aus und=so deswegen ist=es=auch schwer für ihn Arbeit zu finden und so (ist das) verstehst du? (2) er ist jetzt arbeitslos /m/ (10/18-10/31)

Es ist schrecklich, was Serdar hier erzählt. Sein Vater wurde auf brutale Weise gefoltert und ist heute – nach Serdars Beschreibung – ein gebrochener Mann, der mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben muss. Auch hier geht Serdar nicht darauf ein, was das alles für ihn bedeutet. Möglicherweise sind es traumatische Erlebnisse für ihn, über die er nicht reden kann. Stattdessen deutet Serdar lediglich an, dass es damals nicht einfach für ihn war: »da hatte ich auch mit so Probleme davon weißt du?« Doch seine eigenen Schwierigkeiten scheinen nicht weiter der Rede wert. Sie werden überschattet von dem, was der Vater erlebt hat, und wie dieser auch heute noch leidet.

Weniger Liebe (26/13-26/39) Im Anschluss an diese Sequenz spricht Serdar nicht weiter über das, was er in seiner Kindheit erlebt hat. Erst als ich ihn im Nachfrageteil darum bitte, mir »von der Zeit« zu erzählen, »als ihr in der Türkei gelebt habt« (25/15), beginnt Serdar direkt wieder von der Folterung seines Vaters und seiner Onkel zu sprechen. Er wechselt dann jedoch recht schnell das Thema und erzählt mir von einem türkischen Sänger, der aus der Türkei fliehen musste, weil er bei einer Preisverleihung verkündet hat, er habe kurdische Vorfahren und wolle daher auf seiner nächsten CD ein kurdisches Lied veröffentlichen. Seine eigenen Erfahrungen in der Türkei scheinen für Serdar sehr stark verknüpft zu sein mit den Erfahrungen der Kurden in der Türkei. Das, was seiner Familie widerfahren ist, haben auch andere erlebt bzw. umgekehrt: Die Geschichte der Kurden in der Türkei ist auch seine eigene Geschichte. Erst als ich Serdar auf seine Nachfrage hin (»was willst du denn ganz genau wissen?« (26/10)) darum bitte, mir eine konkrete Situation aus seiner Kindheit zu erzählen, spricht er wieder von sich selbst. Serdar erzählt nun von einer Situation, in der er als kleiner Junge geweint hat, weil er Tomaten wollte. Das Geschäft sei nicht weit weg gewesen, aber seine Mutter habe »kein Geld gefunden«. Seine Oma habe gefragt, »warum weint der [Junge]«, doch als seine Mutter sie gebeten hat, Serdar Tomaten zu kaufen, habe sie sich umgedreht und sei weggegangen: (1) im Dorf ne? /m/ (1) ha- (5) isch=wollt Tomaten essen ne? /m/ isch schwör=dir, ich war klein ne? isch=wollt Tomaten haben (1) mein=Vater war=nischt da, ´dann´ (1) meine Mutter hat kein Geld gehabt ne? /m/ und damals war Schwiegermutter 356

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

und und Schwiegertochter- ja diese Beziehung weißte so ((I. schmunzelt kurz etwas)) Eifersucht und so /ja/ weißt du? (1) hab=isch geweint weil=isch Tomaten wollte, und der Laden war grad zwei Meter von unserm Haus entfernt, isch=hab=immer geweint isch=hab=gesagt Mama bitte isch=will (dies haben) Tomaten und=so, die hat kein Geld gefunden die konnt es mir nicht kaufen /m/ die hat mir das erst später gesagt weißt du jetzt wo=ich bisschen älter=war (1) aber=isch kann=misch noch an den Tag erinnern weißt du? (1) dass meine=Oma (so-) warum weint der und so weißt du des des- (1) dann ist meine Mutter ausgerastet weißt du? gemeint kauf ihm doch Tomaten weißt du? (1) dei- dein dein dein dein Enkel liebt Tomaten jetzt kauf ihm doch mal Tomaten (2) hat sie nichts (gesagt) hat=sich rumgedreht ist weggegangen weißte? /((empört)) m/ (26/13-26/27)

Serdar beschreibt das Verhältnis zwischen seiner Oma und seiner Mutter als schwierig, wobei er sich eines Diskurses bedient, nach dem das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter generell von Eifersucht geprägt ist. Dass seine Oma Serdar jedoch die Tomaten nicht kauft, erklärt Serdar damit, dass er von der Familie seines Vaters nicht so viel Liebe bekommen hat: B: meine andere Oma ist nicht so /m/ ich bin für die, erste (Augapfel) isch bin ihr erste Enkelkind, /m/ die ham=misch auf Hände und Füße ge-, ä die ham misch auf Hände getragen weißt du? I: also die Mutter von deiner Mutter? B: ja und von= denen /m/ von denen hab=isch mehr Liebe gekommen und so weißt du? /m/ von meinem Vater von seiner Familie war net so /m/ weißt du? /m/ (2) ((Geräusch; vermutlich Feuerzeug, das bedient wird)) \((sehr leise)) ´ham wir=s jetzt?´\ ((I. lächelt (1)) (26/27-26/34)

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende: \((spricht langsamer und leise)) hat misch meine=Mutter geschlagen weißt du? aus Wut und dann=ist=sie- hat sie mich genommen (1) sind=mir- hat sie mich mit ins Haus, genommen, und hat mit mir zusammen geweint weißt du? /m/ (2) hat=misch auf der Arm genommen und geküsst und so das weiß- ((laute Musik setzt ein)) das weiß=isch noch\ /m/ (26/34-26/39)

Wie aus heiterem Himmel wird Serdar von seiner Mutter geschlagen; »aus Wut« – wie Serdar erklärt. Vielleicht hat Serdars Mutter geglaubt, dass sie so reagieren muss, da die Großmutter Serdars Verhalten offensichtlich nicht gebilligt hat. Möglicherweise entlädt sich die »Wut« der Mutter auch blindlings auf Serdar und war eigentlich gegen ihre Schwiegermutter gerichtet. Serdars Mutter scheint ihr Verhalten jedenfalls leid zu tun, denn gleich im Anschluss 357

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nimmt sie ihren Sohn und geht mit ihm nach Hause. Dort weint sie mit ihm gemeinsam, küsst ihn und nimmt ihn in den Arm. Es ist eine Szene aus dem Alltag, die Serdar hier beschreibt. Doch warum erzählt er diese Geschichte? Er überlegt recht lange, bevor er beginnt, und gleichzeitig ist es die erste Geschichte aus seiner Kindheit, in der niemand ermordet oder gefoltert wird. Auffallend ist, dass Serdar auch in dieser Erzählung – bzw. hier noch stärker als zuvor – mit keinem Wort erwähnt, wie es ihm in dieser Situation ergangen ist. Schließlich war er es doch, dem Unrecht widerfahren ist: Er wollte Tomaten und bekommt keine, obwohl das Geschäft direkt in der Nähe ist. Seine Mutter hat kein Geld, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen und seine Großmutter hat kein Verständnis für seine Bedürfnisse. Schließlich wird er auch noch von seiner Mutter geschlagen, obwohl diese offensichtlich nicht auf ihn, sondern auf die Großmutter wütend ist. Doch anstatt sich innerhalb der Erzählung zu beschweren oder durch die Erzählung Mitleid bei seiner Zuhörerin hervorlocken zu wollen, entschuldigt Serdar das Verhalten der Erwachsenen. Seine Großmutter hat ihm keine Tomaten gekauft, weil sie eifersüchtig auf die Mutter war, seine Mutter hat ihn geschlagen, weil sie wütend auf die Großmutter war. Und wenn jemand Schuld war an dieser ganzen Situation, dann vielleicht Serdar, weil er immer geweint hat und immer etwas haben wollte. Auch hier nimmt Serdar also seine Familie in Schutz und zeigt Verständnis für ihr (Fehl-)Verhalten (vgl. auch Kap. 8.3). Wie es ihm dabei ergeht, lässt er völlig außen vor. Wichtig ist nur, dass niemand seiner Familie Vorwürfe macht.

Verhaftung des Vaters und Hausdurchsuchung (26/39-26/47) Direkt im Anschluss an diese Geschichte folgt eine weitere Erzählung: (2) und dann morgens, bin=isch aufgestanden einmal (1) so, mach die Augen=auf Polizei kommt rein weißt du? im Dorf /m/ (2) mein Vater=ist=noch am schlafen ne? mit Kalaschnikow hinten und drei=Mann (ham=sen auf=den) Kopf geschlagen und so ne? (1) direkt mitgenomme ham=sen (1) nackig das kannste (mir) glauben (1) also mit Unterhemd und Hose /m/ (1) die ham Bilder durchsucht ge? meine Mutter hatte auf=einem Bild (1) rotgelbgrünes, Hemd gehabt ja? /m/ (1) und=das=ist ne kurdische, Flagge so ne? /ja/ (2) hat der Polizist meiner Mutter eine Ohrfeige gegeben (1) was=ist des? (1) zerrissen und so ´weißt=du´ /m/ das=hab=isch auch gesehn da (2) (26/39-26/47)

Serdar beschreibt hier, wie früh am Morgen die (türkische) Polizei in das Haus seiner Eltern kommt. Sein Vater ist noch am Schlafen. Er wird von drei Männern mit einer Waffe geschlagen und in Unterwäsche abgeführt. Anschließend durchsuchen die Männer die Wohnung bzw. das Haus. Sie finden 358

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

ein Foto, auf dem Serdars Mutter ein Hemd in den Farben rot, gelb und grün trägt. Diese Farben gelten als Farben Kurdistans und finden sich u.a. auf der Flagge der Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK). Serdars Mutter wird von den Männern geschlagen, das Foto zerrissen. Es ist wieder eine Szene massiver Gewalt, die Serdar hier beschreibt. Und auch hier geht es um die Unschuld von Serdars Familie. Serdar hat gerade erst die Augen aufgemacht, sein Vater schläft noch. Schon werden sie mit massiver Staatsgewalt konfrontiert, denn vor der Tür stehen nicht ein oder zwei Polizisten, sondern die »Polizei«. Serdars Vater wird von den Polizisten geschlagen, ohne dass er sich wehren könnte und »nackig« abgeführt. Serdars Mutter wird geohrfeigt, nur weil sie auf einem Foto ein buntes Hemd trägt. Es ist eine Situation der absoluten Hilf- und Schutzlosigkeit. Und auch hier ist wieder völlig unklar, wie Serdar diese erlebt. Denn er beschreibt sich selbst nur als Zuschauer (»das=hab=isch auch gesehn da«), was er fühlt, erwähnt er nicht. Er positioniert sich lediglich als jemand, der dies alles miterlebt hat; der gesehen hat, was seinen Eltern widerfahren ist. In all diesen Erzählungen und verdichteten Situationen aus seiner Kindheit positioniert Serdar sich und seine Familie als Kurden, die gut situiert und anerkannt waren und unschuldig zum Opfer der türkischen Regierung wurden. Sie waren keine Anhänger der PKK und wurden trotzdem als Feinde behandelt. Wahrscheinlich haben sich diese Geschichten im Laufe der Zeit durch wiederholtes Erzählen innerhalb der Familie und gegenüber Behörden mit anderen Ereignissen und unter Umständen auch mit fiktionalen Elementen aus Filmen vermischt. Doch für Serdars Selbstverständnis und vor allem für die Art und Weise, wie er seine Familie sieht, sind diese Geschichten zentral. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum er derart darauf achtet, dass seine Familie von niemanden in den Zusammenhang mit seiner Straffälligkeit gebracht wird. Denn bei all dem, was seine Familie erlebt hat, hat Serdar größtes Verständnis dafür, dass sie sich unter Umständen nicht so sehr um ihn gekümmert haben, wie er das vielleicht gebraucht hätte. Er weiß, was sie durchgemacht haben, und glaubt, kein Recht zu haben, sie mit seinen eigenen Bedürfnissen zu konfrontieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass Serdar nicht davon ausgeht, dass irgendjemand in Deutschland die Problematik der Kurden kennt. Um seine Straffälligkeit erklären zu können, positioniert er sich daher – das wäre zumindest eine These – als sozialstrukturell benachteiligt bzw. als in Deutschland nicht anerkannt, aber nicht als Kurde.

Kindererziehung (24/11-24/34) Dieses Verhältnis zu seiner Familie, deren Mitschuld an Serdars Entwicklung und das gleichzeitige Betonen ihrer Unschuld wird in der folgenden Textstelle, die am Ende der Haupterzählung steht, noch einmal sehr deutlich: 359

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ich will, alles anders=der machen wie meine Familie das gemacht hat wie=s üblich ist weißt=du? (24/11-24/12)

Serdar positioniert sich hier als Jugendlicher mit den typischen Vorstellungen, die ein Jugendlicher hat. Er möchte alles anders machen als seine Familie; anders als die anderen. Er ist sich bewusst darüber, dass dies »jeder« sagt, doch bei ihm hat diese Aussage – so glaubt er es zumindest – eine andere Bedeutung: das sagt jeder aber (2) ich glaub m bei mir wird sich das irgendwie-, hat=das irgendwie so=n anderen Sinn weißt du? (1) weil meine Familie konnt damals wirklich nichts dafür weißt du? die konnt- die konnten sich net so drum kümmern (2) (24/1224/15)

Dies begründet Serdar damit, dass seine Familie »damals wirklich nichts dafür« konnte; sie »konnten sich net so drum kümmern«. Was Serdar hiermit meint – und inwiefern diese Begründung erklären kann, warum die Bekundung, alles anders machen zu wollen, für ihn einen »anderen Sinn« hat (als für andere Jugendliche) – bleibt an dieser Stelle unklar. Wahrscheinlich bezieht sich diese Erklärung – gerade weil sie am Ende der Haupterzählung steht – auf Serdars Lebensgeschichte bzw. das, was er mir im bisherigen Interview hat vermitteln wollen: Seine Eltern konnten nichts dafür, dass Serdar straffällig wurde. Sie konnten sich nicht so um ihn kümmern (vgl. Kap. 8.3). Im Umkehrschluss heißt dies: Wenn sich Serdars Eltern mehr um ihn gekümmert hätten (bzw. hätten kümmern können), wäre er nicht straffällig geworden. Und genau das scheint Serdar mithilfe der anschließenden Argumentation sagen zu wollen: \((spricht mit verstellter Stimme, höher als zuvor)) ach hey Schatz a-\ ((I. schmunzelt kurz leise)) und wie war heut die Schule oder so weißt du? /m/ das konnten meine Eltern nicht /m/ (1) die wussten=halt Kinder gehen in die Schule kommen wieder heim und so weißt du? (1) weißte so so denken die weißte? (1) aber=da= gehört- da gehört wirklich viel mehr dazu so, irgendwie den Kind zu fragen wie war=s in der Schule? was habt ihr heute gemacht, auch- (1) (24/15-24/21)

Serdar wirft seinen Eltern vor, dass sie ihn nie gefragt haben, wie es in der Schule war. Für sie zählte offenbar nur, dass die Kinder zur Schule gehen und wieder nach Hause kommen. Was die Kinder in der Schule erlebt haben, ob sie erfolgreich waren oder wie ihr Tag war, scheint die Eltern nicht zu interessieren. Doch genau dies wäre für Serdar anscheinend wichtig gewesen. Darüber hinaus hätten sie auch mit Serdar für die Schule üben sollen:

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»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

nicht nur des des zu fragen oder=so (1) zum Beispiel, konnt=isch mit meiner, Mutter zum Beispiel kein Diktat üben oder so /m/ weißt du? oder n Aufsatz /m/ das konnt=isch mit meinem Vater auch nit /m/ (1) das fehlt dann auch=irgendwo /m/ wenn=isch heute n Kind hab weißt du? ´dann´ werd=isch das bei meinem Kind genau so machen /m/ dann, (24/21-25/25)

Serdars Eltern haben nicht mit ihm geübt, obwohl dies wichtig für Serdar gewesen wäre. Wenn er selbst einmal Kinder hat, wird er genau dies tun. Interessant ist, dass Serdar das Versäumnis seiner Eltern hier nicht mit deren Sprachproblemen erklärt oder zu entschuldigen versucht. Eher im Gegenteil: Diktate gibt es doch auch im Türkischen, so Serdar. Von daher hätten seine Eltern wissen müssen, wie wichtig es ist, zu üben. Dass seine Mutter Analphabetin ist und nicht gut Deutsch spricht, erwähnt Serdar in diesem Zusammenhang nicht. Stattdessen siedelt er das Problem auf einer anderen Ebene an: nicht das-, das Problem war ne? (1) dass die (1) Älteren das net verstehn /m/ verstehst=du? /m/ aber=isch weiß=nit wie soll man das sagen? das=ist kein Erziehungsfehler oder so oder- (1) das wär jetzt falsch wenn man so was sagen würde (rausreden) würde (2) ´komisch ne?´ man=muss=das verstehn was der Kind in der Schule macht verstehst du? /m/ und das ham die net verstanden (1) meine Eltern zumindestestens nicht (1) die ham nischt groß was=ä die- ä dass wir=s auf- hey Diktat gibt=s doch in Türkisch auch weißt du? aber, das sind Deutsch Rechtschreibung dies das (2) und Mathe oder irgendwas (1) /m/ ja das hat=halt gefehlt ne? /m/ (4) (24/2525/34)

Serdar glaubt scheinbar, dass es sich hier um ein Generationenproblem handelt: die Älteren verstehen das nicht. Er möchte zwar nicht von einem »Erziehungsfehler« sprechen, bleibt aber dabei: Man muss verstehen, was das Kind in der Schule macht. Serdar beurteilt das Verhalten seiner Eltern aus einer Perspektive, die offenbar einem Diskurs über Eltern-Kind-Beziehungen in westlichen Gesellschaften entstammt. Aus dieser Perspektive haben seine Eltern nicht genug für ihn getan; bzw. wie Serdar es entschuldigend formuliert: sie konnten es nicht. Dieses Versäumnis – also die Tatsache, dass Serdar nicht wie andere Kinder während der Schulzeit unterstützt wurde – wirft Serdar seinen Eltern vor. Er positioniert sich also als Kind bildungsferner Eltern und markiert dadurch einen Unterschied zwischen sich und seinen Eltern. Gleichzeitig dient das Versäumnis seiner Eltern ihm als Entschuldigungsmatrix: Seine Eltern konnten nicht anders handeln, aber wenn sie anders gehandelt hätten, wäre er vielleicht nicht straffällig geworden.

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

8.4.4 Zeit im Gefängnis Alltag im Knast (34/23-35/18) In Serdars Haupterzählung, die den größten Teil des Interviews ausmacht, vermeidet Serdar es, über die Zeit im Gefängnis zu sprechen. Er kommt zwar immer wieder bei dem Zeitpunkt an, an dem er inhaftiert wurde, bricht dann jedoch – meist mithilfe einer Interaktion – ab und beginnt nochmals an einer anderen Stelle. Wenn überhaupt spricht er über das Gefängnis lediglich als Ort, an dem er seinen Hauptschulabschluss nachgeholt hat (vgl. Kap. 8.3). Im Nachfrageteil frage ich Serdar dann jedoch noch einmal gezielt nach seiner Zeit im Gefängnis, woraufhin Serdar seinen Gefängnisalltag beschreibt. I: m (2) kannst mir von der Zeit im Gefängnis noch n bisschen was erzählen? B: (1) ´ja´ tagaus tagein ne? ((schmunzelt ganz kurz leise)) tagein tagaus, nur= immer jeden Tag dasselbe (34/22-34/24)

Serdar beschreibt diesen Alltag als gleichförmig und langweilig: »tagaus tagein [...] tagein tagaus« immer das gleiche. Es ist ein Bild vom Gefängnis, wie man sich – als Außenstehender – ein Gefängnis vorstellt. Serdar bedient dieses Bild – fast auf lyrische Weise mithilfe eines Chiasmus42 bzw. einer Alliteration (»tagaus tagein [...] tagein tagaus«) – und beantwortet meine Frage nach der Zeit im Gefängnis, ohne etwas von sich preis zu geben. Das zögerliche »ja« und das Schmunzeln am Beginn dieser Textstelle könnten als Zeichen gelesen werden, dass Serdar hier überlegt, welches Bild ich wohl vom Gefängnis habe, oder dass sich Serdar für diese Zeit schämt und/oder verlegen ist, hierüber sprechen zu müssen. Er nimmt daher meine Aufforderung wörtlich und erzählt – in recht standardisierter Form – nur »[ei]n bisschen«. Dann jedoch verlässt er diese allgemeine Ebene und spricht davon, wie es ihm im Gefängnis ergangen ist: (2) zum Glück war en Frankenthaler drin weißte? (34/24)

Im Gefängnis gab es jemanden, den Serdar offenbar kannte oder mit dem er sich zumindest angefreundet hat, da er ebenfalls aus Frankenthal kam. Serdar spricht jedenfalls von »Glück«, dass dieser Frankenthaler auch im Gefängnis war. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass jemand da ist, der aus der gleichen Stadt kommt. Doch nicht nur Serdars Frankenthaler Herkunft erweist sich als Vorteil im Gefängnis, sondern auch sein Status als »Ausländer«. Denn Serdar erklärt mir, dass es einem als »Ausländer« im Gefängnis immer gut geht: 42 Ein Chiasmus ist eine rhetorische Figur, bei der Satzglieder kreuzweise entgegengesetzt in ansonsten parallelen (Teil-)Sätzen angeordnet werden. 362

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

(1) denn=als Ausländern geht=s=dir im Knast immer=gut disch anzupassen weißt du? das fällt dir nicht schwer dich anzupassen (34/24-34/26)

Rein sprachlich ist hier zunächst einmal auffallend, dass Serdar mir mit »Knast« antwortet, obwohl ich ihn nach dem »Gefängnis« gefragt habe. Offensichtlich handelt es sich bei dem von mir verwendeten Ausdruck um ein ›Mittelschichts-Bias‹, der von Insidern so nicht gebraucht wird, und gleichzeitig klar macht, dass ich die Innenperspektive nicht kenne. Durch das Verwenden des Kolloquialismus »Knast« wird von Serdar deutlich diese Grenze zwischen Insidern und Outsidern, zwischen ihm und mir markiert. Sich selbst präsentiert er dabei als Experten, der mir das Leben »im Knast« erklären kann. Durch das »weißt du?« wird diese Grenze nochmals bestätigt. Er geht nicht davon aus, dass ich irgendetwas weiß; möchte gleichzeitig jedoch anscheinend auch, dass ich ihn verstehe. Serdar distanziert sich von dem, was er erlebt hat. Vielleicht schämt er sich auch, dass er auf einem solchen Gebiet Experte ist und verwendet daher eine sprachliche Konstruktion, mit der er einen imaginären ›Ausländer‹ anspricht: ›dir als Ausländer geht es gut im Knast‹. So vermeidet er es, sich selbst – in direkter Weise – als (ehemaligen) Häftling oder als ›Ausländer‹ zu positionieren. Gleichzeitig stellt er auf diese Weise noch einmal zusätzlich Distanz zu mir als Interviewerin her. Denn es ist klar, dass ich mit diesem ›du‹ nicht gemeint bin. Doch interessant ist nicht nur, wie Serdar hier vom Gefängnis spricht, sondern auch was er erzählt. Denn dass es »Ausländern« im Gefängnis gut geht, hängt offenbar damit zusammen, dass diese sich ›gut anpassen‹ können. Dies entspricht einem Diskurs, demzufolge sich Gefängnisinsassen einem Regime der Gewalt anpassen müssen. Anpassen wiederum ist eine Fähigkeit und Ressource im Kontext von Migration. Sie wird von »Ausländern« nicht nur im Gefängnis, sondern auch ›draußen‹ unter dem Stichwort ›Integration‹ erwartet (vgl. Kap. 2.4.1). Dies erklärt auch – zumindest innerhalb der von Serdar konstruieren Geschichte –, warum es »den Deutschen« im Gefängnis nicht so gut ergeht: (1) den Deutschen geht=s ä- eher bisschen anders=der weißt=du? viele könn=sisch da=nit- (2) die=haben nichts zu sagen so auf die Art weißt du? /m/ was heißt nichts zu sagen so? (2) es gibt- es gibt viele, Ausländer im Knast weißt=du die wo, den Dicken spielen weißt=du? /m/ den Harten spielen=so (1) ´un´ (1) es gibt Leute die wo immer zammen=sind und so (1) wo eine andere Klasse sind als andere, die wo da immer zamme=sind und=so weißt du? das sind=dann eher dann die Deutschen die wo dann immer- (2) weißt du die haben da ne- (1) jetzt net die werden=net misshan-

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

delt oder so irgendwas d- das geht net da drin weißt du? (1) aber halt so äm (34/2634/34)43

Der Vorteil der »Ausländer« besteht offenbar darin, dass sie als Gruppe auftreten. Zwar gibt es auch unter ihnen welche, die Serdar als »Ausländer«, die »den Dicken spielen« bezeichnet, aber die meisten scheinen zusammen zu halten. Serdar nennt diese Gruppe sogar »eine andere Klasse«. Sie scheinen mit den Auseinandersetzungen im Gefängnis nichts zu tun zu haben, sondern werden von Serdar als positiv konnotierte Wir-Gruppe beschrieben. Den »Deutschen« hingegen geht es ein »bisschen anders«; sie »haben nichts zu sagen«. Was dies genau bedeutet, lässt Serdar offen. Es wird lediglich klar, dass die »Deutschen« die Opfer sind. Vielleicht möchte Serdar mir gegenüber – als Frau oder auch als Deutsche – nicht darüber sprechen. Er macht lediglich Andeutungen (»die wo dann immer-« und »die haben da ne-«), die er nicht weiter ausführt und betont dafür – wahrscheinlich weil er vermutet, dass seine Andeutungen genau solche Assoziationen wecken –, dass sie nicht misshandelt würden. Indirekt verdeutlicht Serdar auf diese Weise, dass es ihm »im Knast« – zumindest auf eine bestimmte Art – gut ging. Er gehörte der Mehrheit oder zumindest einer Gruppe mit starkem Zusammenhalt an und musste deshalb nichts befürchten. Vielleicht war Serdars Aussage, »geht=s=dir im Knast immer=gut disch anzupassen weißt du? das fällt dir nicht schwer dich anzupassen«, daher auch auf ihn selbst bezogen: Er hat sich im Gefängnis angepasst, vielleicht sogar einer Gruppe untergeordnet und hatte deshalb keine Probleme. Im weiteren Verlauf dieser Textstelle wird klar, dass die Gruppenzugehörigkeiten – »Ausländer« vs. »Deutsche« – jedoch nicht ganz so einfach sind: (2) die korrekten Leute sind=eher die Ausländer weißt=du die, die sind=immer zusammen unter sich und=so, Türken sind bei Türken und so, Italiener bei Italiener, aber Italiener Türke und Araber die verstehn=sisch so gut, die Russe sind, ein Ding weißt du? /m/ die sind die Schlimmsten /m/ das sind=die eher die wo mit den-, die Deutschen sich=dann als Opfer aussuchen weißt du? /m/ (1) ´da ähm´ erpressen den Tabak und so weißt=du? /m/ (1) wenn=du=nicht=gibst schlag=isch=dich oder so weißte? so was gibt=s immer im Knast in jede Knast gibt=s das ´weißt=du´ (1) deswegen konnten=sie=sisch- konnten-können die Deutsche sich dann nit wehren weißte? weil wenn die dann Krach haben dann steht der alleine da weißt=du? /m/ echt die- diese Zu- Zusammenhalt die=gibt=s bei den Deutschen nicht /m/ das gibt=s bei den Ausländern daher ist- das mein=isch halt ´weißt=du?´ dieser Zusammenhalt genau der Punkt ist=es der Zammenhalt, die Russe sind=nicht mal mit Türken oder so=was die sind immer unter sich /m/ Türken Araber, An- Italiener, Al-

43 Eine ähnliche Interviewpassage findet sich auch in der Studie von Susanne Spindler (2006: 274). 364

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

baner also die verstehn=sisch alle /m/ sind=immer zammen an einem Fleck weißte? /m/ laufen zamme rum und=so /m/ (1) ´ne?´ (3) die Russe sind da eher anders=der ((I. schmunzelt kurz leise)) (34/34-34/50)

Serdar differenziert nun wesentlich genauer zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen und unterscheidet zwischen »Türken«, »Italiener[n]«, »Araber[n]«, »Albaner[n]«, »Russen« und »Deutschen«. Die zuerst genannten verstehen sich – laut Serdar – gut; sie sind immer zusammen »an einem Fleck«. Auch die »Russen« halten zusammen, bleiben jedoch unter sich. Nur die »Deutschen« sind offenbar Einzelgänger und bilden keine Gruppe. Dies führt dazu, dass die »Russen«, die Serdar als »die Schlimmsten« bezeichnet, sich »die Deutschen [...] als Opfer aussuchen«. Sie erpressen Tabak und drohen mit Gewalt. Von Serdar wird dies als ›normal‹ dargestellt: »so was gibt=s immer im Knast in jede Knast gibt=s das«. Auch hier präsentiert sich Serdar also als Experte, der die Ordnung des Gefängnisses verstanden hat und weiß, wie sie funktioniert. Er selbst ist innerhalb dieser Ordnung nicht gefährdet. Er positioniert sich hier als »Türke«, der nichts zu befürchten hat, da er einer großen Gruppe mit »Zusammenhalt« angehört. Hierdurch genießt er eine neutrale Position; er ist weder Opfer noch Täter.44 Serdar markiert mit dieser Beschreibung das Gefängnis als einen Ort, an dem sowohl nationale bzw. ethnische Zugehörigkeiten als auch Männlichkeiten produziert und reproduziert werden. Mithilfe der ethnischen Zugehörigkeiten wird eine Ordnung hergestellt, durch die klar definiert ist, wer (potentieller) Täter und wer (potentielles) Opfer ist. Gleichzeitig wird auf diese Weise auch eine Ordnung der Männlichkeiten produziert, denn es geht um die Unterdrückung von Männern durch Männer und um die Frage, wer Macht hat und wer nicht (vgl. Spindler 2006: 265). »Deutsche« stehen innerhalb dieser Hierarchie – im Gegensatz zu ›draußen‹ – ganz unten, da sie noch nicht einmal untereinander zusammenhalten. Sie verkörpern also eine untergeordnete Männlichkeit. »Türken«, »Italiener«, »Araber« und »Albaner« genießen hingegen einen recht hohen Status, da sie sich zu einem »Männerbund« (Spindler 2006: 273) zusammengeschlossen haben und nur innerhalb der Gruppe auftreten (»z[us]ammen an einem Fleck«). Durch diese Gruppenzugehörigkeiten wird das Gefängnis zu einem Ort, der eine Ethnisierungsdynamik evoziert 44 Eine solche Verortung wird von Anke Neuber, die im Rahmen einer Längsschnittstudie Interviews mit jungen Männern im Gefängnis geführt hat (vgl. u.a. Bereswill et al. 2008), als typisch beschrieben: »Obwohl Oben und Unten der Gefangenenhierarchie detailliert beschrieben werden, verortet sich kaum ein junger Mann in den Interviews dort. Die Inhaftierten entwerfen sich meist der Mitte zugehörig, beschreiben diese jedoch nicht näher.« (Neuber 2008: 208) Es könne daher davon ausgegangen werden, dass es in der Gefangenenhierarchie keine eindeutige vertikale Struktur gebe. Täter- und Opferpositionen seien keinesfalls so eindeutig verteilt, wie dies auf den ersten Blick meist erscheine. 365

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

(vgl. Spindler 2006: 274 f.). Denn alle diese Jugendlichen leben in Deutschland und sind zum (größten) Teil vermutlich auch in Deutschland geboren worden.45 Doch nur wer sich innerhalb des Gefängnisses als »Ausländer« positioniert bzw. wer von den anderen Insassen so positioniert wird, genießt offensichtlich den Schutz der Gruppe. Serdar muss also offenbar – so wie er es hier darstellt – als »Türke« keine Übergriffe von den »Russen« fürchten. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass auch innerhalb der verschiedenen Gruppen Auseinandersetzungen stattfinden, die die Rangfolge innerhalb der eigenen Gruppe regeln (vgl. Spindler 2006: 274 f.). Serdars Aussage, »immer=gut disch anzupassen«, könnte eventuell als Hinweis gelesen werden, dass er sich innerhalb seiner Gruppe angepasst bzw. sich hier anderen unterworfen hat. Doch sollte dem so sein, wird dies von Serdar nicht weiter thematisiert. Dies könnte damit zusammen hängen, dass er hierüber nicht sprechen möchte, da er sich dann nicht nur als stark durch die Gruppe, sondern auch als schwach innerhalb der Gruppe präsentieren müsste. Der weitere Verlauf des Interviews deutet jedoch eher darauf hin, dass für Serdar diese Gruppenkonflikte auch gar nicht das eigentliche Problem in Haft waren: Knast ist halt scheiße s-, ist klar weißte? (4) ´scheiße´, jeden Tag dasselbe weißt du? (1) du siehst Stein du riechst Stein, du fühlst sogar Stein weißt du? ((I. schnauft kurz leise)) (1) alles Stein in=den Trä- in- in inner- innerlich wirst du Stein weißt du? (1) ist so, man denkt man kriegt keine Luft ´oder=so´ /m/ weil=es so umranden ist so das=ist=ja umranden mit so Mauer weißte??? /m/ mit Zehnmetermauer /m/ (1) also isch zumindestens hab immer gedacht weißt du, dass da kein Wind kommt weißt du? dass da keine frische Luft reinkommt /m/ dass diese Luft immer da drin ist (1) so bin=isch mir immer vorgekommen da drin (2) \((spricht sehr leise und schnell)) aber diese frische- das ist diese Luft das- (2) komische (Eigenschaft) (1) komisch- (1)\ zum Glück sind=die Tage vorbei ((I. schmunzelt kurz)) ehrlich (3) man friert trotz der Decke ja? (1) ((I. schnauft kurz)) ehrlich, ist wirklich so man man ist nur frei wenn man die Augen zumacht /m/ dann bist du frei aber sobald du wieder aufmachst bist du wieder (1) back in the house ((gemeinsames kurzes Schmunzeln)) back in the jail ((B. schmunzelt leise, I. stimmt lächelnd ein (1)) der Alltag holt disch dann wieder ein ne? /m/ (6) aber isch=weiß=noch die viele Sport45 Genaue Zahlen gibt es hierzu nicht. In einer Veröffentlichung der JSA Schifferstadt aus dem Jahr 2001 ist lediglich die Zusammensetzung der Häftlinge nach Nationen zu finden. Demnach waren im ersten Halbjahr 2001 »[u]nter 265 Inhaftierten [...] insgesamt 24 Nationen vertreten, wobei die stärkste ausländische Gruppe die Türken mit 18 Gefangenen bilden, gefolgt von 13 jugoslawischen, albanischen und mazedonischen Häftlingen« (Gudel 2001: 4). Diese Zahlen sagen jedoch nichts darüber aus, wie viele dieser Jugendlichen in Deutschland geboren wurden bzw. wie viele der in der Statistik aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft als ›Deutsche‹ geführte Häftlinge unter den Insassen zu ›Ausländern‹ werden. 366

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

möglichkeiten- ´ja das fand=isch /m/ gut´ (11) ´Knast ach (1) ist n scheiß Thema weißt du Knast´ /m?/ Knast ist ein scheiß Thema weißt du das hat meine ganze Jugend genommen weißt du? (1) meine Jugend einfach hergegeben einfach so für nichts /m/ (1) (34/23-35/18)

Thematisch – und auch sprachlich – setzt Serdar in dieser Sequenz nun wieder dort ein, wo er zuvor aufgehört hatte. Er beschreibt – auf eindringliche Weise und wieder mit einer fast lyrischen Sprache – das »tagein tagaus« des Gefängnisses. Dabei wird sehr deutlich, wie sehr Serdar unter dem Alltag im Gefängnis leidet: Er riecht Stein, sieht Stein, fühlt Stein, wird innerlich zu Stein. Er hat das Gefühl, keine Luft zu bekommen und friert trotz Decke. Serdar spricht von sich und beschreibt, was er gefühlt hat. Doch auch hier fällt es ihm schwer von einem ›Ich‹ zu sprechen (vgl. Kap. 8.4.3). Stattdessen verwendet er ein unpersönliches »du« oder »man« und distanziert sich auf diese Weise. Vielleicht ist es für ihn aber auch die einzige Form, um über diese Erfahrungen sprechen zu können, und auch die lyrische Sprache – in Form von Klimax und Parallelismus – verschafft ihm unter Umständen zusätzliche Distanz. Denn die Langeweile und die Gleichförmigkeit der Tage scheinen ihm schwer zugesetzt zu haben. Unter Umständen waren für ihn die Auseinandersetzungen und Bedrohungen unter den Insassen, also das, was im gesellschaftlichen Diskurs immer als besonders problematisch innerhalb eines Gefängnisses beschrieben wird, gar nicht so schlimm. Denn seiner Darstellung zufolge hat er wesentlich stärker unter der Gleichförmigkeit der Tage und dem Eingesperrtsein zwischen Mauern, also der institutionellen Erfahrung von Geschlossenheit (vgl. Goffman 1961/2008), gelitten als unter seiner eigenen Verletzungsoffenheit im Gefängnis.46 Wobei, »das hat meine ganze Jugend genommen«, hier auch für (weitere) Ereignisse stehen könnte, über die Serdar nicht sprechen möchte oder kann.

Besuch der Eltern (36/30-36/37) Als ich Serdar am Ende des Interviews nach der schwierigsten Situation in seinem Leben frage, kommt er noch einmal auf das Thema Gefängnis zurück. Er spricht dabei von dem ersten Besuch seiner Eltern im Gefängnis und wie schlimm diese Situation damals für ihn war. Auch dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass Serdar im Hauptteil nicht über seine Zeit im Gefängnis gesprochen hat (vgl. Kap. 8.3). Die Erinnerungen scheinen zu schmerzhaft zu sein; sie gehören zum »Schlimmste[n]«, was Serdar erlebt hat. Die Themenwahl in Bezug auf die Frage nach der schwierigsten Situation ist möglicherweise aber auch durch den thematischen Kontext entstanden, in46 Zum Thema Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit vgl. auch Kap. 2.4.2. 367

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

nerhalb dessen ich Serdar die Frage gestellt habe. Denn Serdar hat zuvor im Interview mir seine derzeitige Familiensituation beschrieben: Sein Vater bekomme Arbeitslosengeld II und müsse noch Schulden abbezahlen, die Serdar verursacht hat. Daher ginge es der Familie finanziell »nicht so gut«. Trotzdem habe sie immer hinter ihm gestanden: meine Familie hat nie (1) ´aufgegeben oder so´ die hat immer hinter mir gestanden /m/ immer /m/ (2) ist=ja=bei vielen Ausländern so (1) ne obwohl, es gibt=auch viele die wo (1) anders=der denken weißt du a: Schande über Familie und so ´weißt du´, dumm eigentlich (1) zum Glück konnt isch=nicht- konnt=isch das=net von meiner Familie sagen (1) /ja/ (36/20-36/25)

Am Ende dieser Passage entsteht eine lange Pause, die schließlich von Serdar dadurch beendet wird, dass er mir einen Vorschlag macht, was ich ihn noch fragen könnte: B: [...] (8) ((I. räuspert sich (1)) (11) würdest du noch gerne wissen über Familie? I: ich überleg grade was ich noch wissen möchte (2) wenn- wenn ich dich nach der schwierigsten Situation in deinem Leben bisher fragen würde (1) würd dir was einfallen? (36/25-36/29)

Doch anstatt ihm eine weitere Frage zu seiner Familie zu stellen, frage ich Serdar nach der schwierigsten Situation in seinem Leben. Hierauf antwortet Serdar mit einer Situation, die thematisch im Zusammenhang mit dem vorherigen Thema steht, das für ihn möglicherweise noch nicht beendet war: (14) erste Mal wo=isch m beim Besuch meinen Eltern ´in die Augen geguckt hab´ das war schwierigste ´Situation für mich´ haben besucht, im Knast /m/ das war=s Schlimmste (2) isch musste weinen und so weißte ´und´, war schlimm (1) meine Mutter so zu=sehn mein Vater so zu=sehn weißte total kaputt weißt du? (2) das war schlimmste Situation für mi- /m/ (1) jeder- jeder Besuch war schlimm eigentlich weißt du? /m/ meine=Mutter hat=sisch immer Sorgen gemacht die Arme ´weißt du´, das hat man=auch am Gesicht gemerkt ´weißt du´ dass es der Frau nit gut geht /m/ (1) weißte was=isch mein? (1) (36/30-36/37)

Doch unabhängig davon, ob Serdar hier nun tatsächlich von der schwierigsten Situation in seinem Leben spricht oder ob er meine Frage in den Zusammenhang mit Familie stellt, beschreibt Serdar hier – nach langem Überlegen – eine Situation, die offensichtlich sehr schwierig für ihn war. Serdar wird von seinen Eltern zum ersten Mal im Gefängnis besucht. Es ist ein Moment absoluter Schwäche, den Serdar hier beschreibt. Er schämt sich vor seinen Eltern und kann ihnen – vielleicht auch vor dem Hintergrund, was seine Eltern schon alles mitmachen mussten und erlebt haben – kaum in die Augen schauen. Als 368

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

er es doch tut, beginnt er zu weinen. Er beschreibt seine Eltern – sowohl seinen Vater als auch seine Mutter – als »total kaputt«, und scheint sich diesen Zustand selbst zuzuschreiben. Er ist daran Schuld, dass seine Eltern so leiden müssen. Doch nicht nur der erste Besuch, sondern »jeder Besuch war schlimm« für Serdar. Seine Mutter habe sich »immer Sorgen gemacht« und ihr ging es »ni[ch]t gut«. Von seinem Vater spricht er nun nicht mehr. Dies könnte damit zusammen hängen, dass sein Vater ihn später nicht mehr besucht hat. Unter Umständen fühlt sich Serdar jedoch auch in besonderer Weise für seine Mutter verantwortlich, weshalb er vor allem betont, wie sehr sie unter seinem Gefängnisaufenthalt gelitten hat. Möglicherweise wird Serdars Ansehen innerhalb der eigenen Familie durch seinen Gefängnisaufenthalt gefährdet. Er schämt sich, weil er vor den Augen seiner Eltern durch die Institution gedemütigt wird bzw. weil er seine Eltern allein durch den Umstand, dass er inhaftiert wurde, beschämt (vgl. Bereswill 2003c: 131). Vielleicht beschreibt Serdar in dieser Textstelle aber – indirekt – auch sein eigenes Erleben. Es ist ihm nicht möglich darauf einzugehen, wie es ihm im Gefängnis ergangen ist und daher beschreibt er den Zustand seiner Eltern, der – dies wäre zumindest eine Lesart – seinen eigenen Zustand widerspiegelt. Vielleicht ist die Textstelle aber auch wörtlich zu verstehen. Denn eventuell war es für Serdar tatsächlich das »Schlimmste« seine Eltern so sehen zu müssen. Ihr Zustand – und insbesondere der seiner Mutter – wird von Serdar seinem eigenen Verhalten zugeschrieben. Er ist daran schuld, dass seine Eltern »total kaputt« sind. Unter Umständen verkörpern seine Eltern für Serdar auf diese Weise auch eine moralische Instanz; sie üben moralischen Druck auf ihn aus. Denn in den bisherigen Textstellen wurde immer sehr deutlich, dass sich Serdar wegen seiner sozialstrukturellen Benachteiligung oder aufgrund von Diskriminierungserfahrungen in gewisser Weise im Recht sah, wenn er andere ›abgerippt‹ hat oder ›einbrechen gegangen‹ ist (vgl. Kap. 8.3 & 8.4.2). Zumindest hat er auf diese Weise sein Verhalten erklärt. Gegenüber seinen Eltern scheint dieses ›Recht‹ bzw. diese Erklärung jedoch nicht mehr von Bedeutung zu sein. Serdar sieht, was er seinen Eltern angetan hat und hierfür gibt es für ihn keine Entschuldigung.

8.4.5 Zukunftsvisionen und Vorbilder Im Interview mit Serdar gibt es relativ viele Passagen, in denen Serdar darüber spricht, wie er sich seine Zukunft vorstellt. Bei diesen Textstellen handelt es sich um Argumentationen, in denen Serdar sich auf normative und/ oder moralische Regeln bezieht. Er demonstriert hier, wie er gesehen werden möchte oder was er erreichen möchte und positioniert sich innerhalb bestimmter Diskurse, die für ihn wichtig zu sein scheinen bzw. die für seine Sicht der Dinge bedeutend sind. Die erste Textstelle, die im Folgenden analy369

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

siert werden soll, steht am Ende von Serdars Haupterzählung. Serdar resümiert hier noch einmal über sein Leben und gibt einen Ausblick, wie er sich seine Zukunft vorstellt (vgl. Kap. 8.3). Die beiden anderen Textstellen (Vorbilder I & II) stammen aus dem Nachfrageteil.

Erwerbsarbeit (23/37-23/51) Am Ende der Haupterzählung geht es um das Thema Erwerbsarbeit. Auch Serdar hält – ebenso wie Ahmet und Murat – am »verblüffend ungebrochene[n] Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters« (Bereswill 2007b: 93) fest. Er möchte eine Ausbildung machen und »einen Beruf mit [...] Zukunft« erlernen: ich will ne Ausbildung machen /m/ so ne für Feinmechaniker oder Industriemechaniker Chemiekant (1) das=sind=alles Berufe wo gefragt sind weißt du? /ja/ und, isch will einen Beruf mit mit mit Zukunft /m/ (23/37-23/39)

Dass es sich bei diesem Modell »um ein institutionelles Identifikationsangebot [handelt], das gesellschaftlich immer weniger abgefedert wird« (Bereswill 2007b: 93), scheint für Serdar hierbei in keiner Weise problematisch. Seiner Vorstellung zufolge muss er nur einen Ausbildungsplatz finden47 und den richtigen Beruf wählen, einen der gefragt ist; alles andere ergibt sich dann von selbst: Zukunft für misch für meine Familie, und=später=auch (1) für meine Familie weißt du? /m/ isch=will=auch irgendwann Familie gründen und so /m/ (2) das geht nicht auf die ge- Art und Weise, man kommt nie an das große Geld ran auf die Art=und Weise /m/ (23/39-23/43)

Serdar erhofft sich von der Erwerbsarbeit eine »Zukunft«; sowohl für sich als auch für seine Familie. Offenbar möchte er mit dem Geld, das er einmal verdienen wird, auch seine Eltern und Geschwister unterstützen. Und er möchte eine eigene Familie gründen. Dies scheint für ihn völlig selbstverständlich, aber nur denkbar zu sein, wenn es eine Perspektive gibt; und dies heißt: erst Erwerbsarbeit, dann Familie. Serdar positioniert sich also innerhalb eines Diskurses, der am Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters festhält und davon ausgeht, dass ein Mann die 47 Serdar hat im Interview – unmittelbar vor dieser Textstelle – mir seine Noten des Abschlusszeugnisses genannt: »zwei Dreier und der Rest alle-, alles Zweier« (23/35-23/36). Es seien gute Noten und trotzdem nützten sie ihm nichts. Anschließend folgt die hier zitierte Textstelle, was den Schluss nahe legt, dass Serdar seine Noten als zu schlecht einschätzt, um mit diesen einen Ausbildungsplatz für einen »Beruf mit [...] Zukunft« zu finden. 370

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Familie ernährt. Die hohen Arbeitslosenzahlen und mangelnden Lehrstellen werden von Serdar ignoriert. Er wird es schon schaffen. Dabei distanziert er sich auch von (anderen) jungen »Ausländer[n]«, die neidisch seien, wenn sie einen »ältere[n] Deutsche[n] [...] mit dicken Benz« sehen: (1) das sind viel viel Ausländer ne? (1) ((schiebt Tasse und räuspert sich kurz)) grad Jugendliche ne? (2) die sehn zum Beispiel \((spielt mit Tasse:)) ältere, ältere Deutsche oder so ne? mit dicken Benz oder so ne? /m/ denken sich dann hey guckt mal du bist so alt\ was machst du mit dem Auto oder so ne? denken sich viele weißte? /m/ (2) ´m´ hab=isch mir auch früher gedacht (1) heute denk=isch der Mann hat=es zu irgendwas gebracht dass=er das fährt /m/ der fährt das nischt nur (2) ´m´ weil=das ä n Deutscher=ist und und was=weiß=isch (1) und der alles vom Staat kriegt oder was, der Mann hat=es zu irgendwas gebracht dass=er das fährt (2) ohne Fleiß kein Preis heißt es ja ((I. lächelt kurz)) (23/43-23/51)

Serdar grenzt sich von einem Diskurs, der die Benachteiligung von »Ausländern« betont, ab; auch wenn er einräumt, dass die Ausgangsbedingungen für jemanden der »Deutscher=ist« und »alles vom Staat kriegt«, besser sind. Zentral ist für ihn jedoch, dass ein Mann mit einem »dicken Benz« es zu etwas gebracht hat. Und genau dies möchte Serdar auch schaffen. »[O]hne Fleiß kein Preis«, lautet daher sein Motto. Dass dies jedoch nicht bedeutet, dass es für alle die gleichen Möglichkeiten gibt, um fleißig zu sein bzw. dass jeder der fleißig ist, auch einen Preis erhält, wird von Serdar hierbei ausgeblendet.

Vorbilder I (33/47-34/11) Auch in der folgenden Textstelle positioniert sich Serdar auf gleiche Weise. Ich habe Serdar an dieser Stelle im Nachfrageteil des Interviews nach seinen beiden Freunden gefragt, von denen Serdar zuvor erzählt hatte, dass er nun immer mit diesen ›herumhänge‹. Daraufhin berichtet mir Serdar, dass er nach seiner Zeit im Gefängnis zunächst nichts mit den beiden zu tun hatte: wo=isch vom Knast rausgekommen bin /m/ (2) bin=isch nicht zu denen=gegangen weißt du? /m/ die haben nischt mehr gekifft und so weißte? /m/ isch bin rausgekommen isch=wollt=weiterhin kiffen und=so weißte (1) das war für misch dann komisch die=haben=nischt gekifft die waren auf andere Level als isch weißte? (33/35-33/39)

Erst nach seiner »Flucht« in die Türkei (vgl. Kap. 8.2) habe er wieder Kontakt zu den beiden aufgenommen. Nun seien sie seine einzigen Freunde und gleichzeitig Vorbild für ihn:

371

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

das sind meine einzigen Freunde /m/ (1) die zähl=ich so (2) die nehm=isch mir als Vorbild weißt du? weil die haben Ausbildung und=so abgeschlossen /m/ der fährt auch n Mercedes weißt du? (1) (33/47-33/49)

Offenbar sieht Serdar bei diesen Freunden, was er sich für sich selbst erwünscht. Sie verkörpern für ihn das Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters. Und einer der beiden fährt sogar – ebenso wie der »ältere Deutsche« in der vorherigen Textstelle – einen Mercedes. Dieser Freund wird von Serdar als »Kanake« beschrieben, obwohl Serdar diesen Ausdruck im restlichen Interview eigentlich nicht verwendet. Nur an einer Stelle spricht er von »Kanakenstyle« (3/15), als er erklären möchte, dass die »Türken« auf der Realschule anders waren als die »Türken« auf der Haupt- und Berufsschule (vgl. Kap. 8.3). Möglicherweise möchte er durch die Bezeichnung »Kanake« hier an dieser Stelle verdeutlichen, dass sein Freund – ebenso wie er – auch nur einen Hauptschulabschluss hat und es trotzdem zu etwas gebracht hat. »Kanake« würde dementsprechend für eine bestimmte ›Klasse‹ bzw. Bildungsschicht stehen. Vielleicht aber gibt Serdar hier auch lediglich wider, wie sein(e) Freund(e) (und er) von anderen bezeichnet wird bzw. werden. »Kanake« würde dann für ein bestimmtes Bild stehen, das im gesellschaftlichen Diskurs über Türken vorherrscht. Denn genau darum scheint es im Folgenden zu gehen: okay der hat schwarze Haare ist=n Kanake sitzt in Limo und=so viele denken Vater bezahlt oder so (1) (33/50-33/51)

Wenn ein »Deutscher« also einen Mercedes fährt, dann deshalb weil er ein »Deutscher« ist und weil er »alles vom Staat kriegt«, wenn ein »Kanake« hingegen ein solches Auto fährt, dann nur deshalb, weil sein Vater es ihm bezahlt hat. Die Möglichkeit, dass einer der beiden gearbeitet hat und sich daher das Auto leisten konnte, gibt es scheinbar – Serdars Darstellung zufolge – in der öffentlichen Wahrnehmung nicht. Doch auch hier distanziert sich Serdar von einer solchen Sichtweise. Er bestreitet zwar nicht, dass sein Freund das Geld für den Mercedes aller Wahrscheinlichkeit nach von seinem Vater bekommen hat, stellt jedoch klar, dass dieser hierfür hart gearbeitet und es deshalb »zu irgendwas gebracht« hat: da haben sie auch nichts gesehn dem sein Vater hat zum Beispiel fünfundzwanzigder hat fünfunddreißig Jahre lang bei, BASF gearbeitet /m/ der hat ne=Auszeichnung Urkunde von Ludwigshafen weißte? (1) ´un´ der- so so einer hat es zu irgendwas gebracht weißt du? /m/ (33/51-34/03)

372

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

Darüber hinaus betont Serdar, dass sein Freund (nun) nicht (mehr) auf seinen Vater angewiesen sei: (1) ´und´ der ist=nicht=mehr auf seinen Vater angewiesen weißte? /m/ der hat seine /m/ Ausbildung abgeschlossen ist fest angestellt, kriegt seine Zweitausendsechs so weißt du? /m/ (1) hat ne sehr=gute Beruf weißt du? n gefragte Beruf (1) (34/0334/06)

Er habe seine Ausbildung abgeschlossen und sei fest angestellt. Und genau das möchte Serdar auch: deswegen nehm=isch mir das auch als Vorbild weißt du? /m/ isch=will genauso werden weißt du? /m/ (2) isch will mir=das- arbeiten weißt du so wie der sich sein Auto zum Beispiel erarbeitet ´oder=so´ /m/ (2) ist=mir egal was andere Leut denken oder so Vorurteile gibt=s immer weißt du? (1) gibt=s immer (2) das wars zu meine Freunde ne? ((schmunzelt kurz leise)) (34/06-34/11)

Vorbilder II (47/13-47/34) Seine Freunde sind also für Serdar ein Vorbild. Dies wird im Interview zumindest von Serdar so geschildert, wobei diese Darstellung sicherlich auch von Serdars Präsentationsinteresse beeinflusst wird. Denn auf diese Weise kann er sich als jemand verorten, der die Dummheiten seiner Jugend hinter sich gelassen hat und endlich anfangen möchte, ein anderes Leben zu führen (vgl. Kap. 8.3). Zumindest präsentiert sich Serdar nun nicht mehr als jemand, der sich nimmt, was er braucht, sondern der sich dies verdienen möchte. Doch unabhängig hiervon scheint es für Serdar auch noch ganz andere Vorbilder zu geben. Nach Beendigung des Interviews wünscht mir Serdar viel Erfolg für meine weitere Arbeit: B: ich drück dir die Daumen ne? I: ja danke ((lächelt (1)) B: hoffentlich schaffst du=s I: (1) ja ich drück dir genauso die Daumen mit deiner /ja/ Ausbildung /danke/ ((lacht (1)) B: dann- dann heißen=Sie dann Doktor Spies ja? ((lächelt kurz)) Spies gell? /m ja genau/ ´Frau Doktor Spies´ (46/39-46/45)48

48 In Kombination mit der Nennung des Doktortitels siezt mich Serdar plötzlich wieder, was darauf hindeuten könnte, wie viel Respekt er vor solch einem Titel hat. Gleich darauf wechselt er jedoch wieder zum ›du‹. 373

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Ich frage ihn daraufhin – möglicherweise um die Aufmerksamkeit wieder von mir abzulenken –, welchen Namen er nach der Anonymisierung des Interviews gerne hätte. I:

((lacht (2)) sag mir mal n Namen wenn=ich deinen Namen anonymisi- also wenn ich, dir n andern Namen gebe (2) ((lächelt (1)) was wär n guter Name? B: (1) isch weiß nicht, was Passendes nur, (also ich bin) Ausländer ((Lachen im Hintergrund)) keine Ahnung /ich weiß nicht/ ich weiß nit I: (1) nur wenn dir was einfällt ((lacht (1)) B: kannst=auch kannst gern Serdar49 sagen ja? isch=hab= nichts dagegen (46/46-47/02)

Serdar positioniert sich in dieser Interaktion als »Ausländer«. Gleichzeitig bietet er mir an, ruhig seinen tatsächlichen Namen zu verwenden. Dies könnte so gelesen werden, dass Serdar zwar durchaus bereit ist, eine (Fremd-)Positionierung als »Ausländer« anzunehmen, aber dass er in dieser Positionierung nicht aufgeht. Er ist nicht einfach nur ein »Ausländer« oder kein »Ausländer« wie alle anderen. Und dies drückt letztendlich nur sein eigener Name aus; nur durch ihn fühlt er sich möglicherweise tatsächlich repräsentiert. Als ich Serdar daraufhin zu verstehen gebe, dass dies nicht sein müsse, nennt er einen Namen, durch den er sich offensichtlich ebenfalls repräsentiert fühlen würde: I: (1) ja aber muss ja nicht sein B: ja muss ja nicht sein (1) aber=n gute Name? Azad /Azad?/ ja /okay/ find=isch guter Name ((I. lächelt (1)) kennst du den? /((verneint)) ne/ das ist n Sänger ja? en deutsche Rapper ist das /echt?/ kurdische ä- ja das ist=n- ist kurdischer Abstammung ja? /okay/ (1) ist sehr erfolgreich, in Deutschland jetzt oder hab=isch schon gesagt I: wie schreibt man das? B: ah ja A Z A D (2) /A Z A D?/ ja I: alles klar ((lacht (1)) (47/03-47/11)

Spontan fällt ihm Azad ein, der Name eines Rappers, der in Deutschland lebt und »kurdischer Abstammung« ist. Durch meine Nachfragen und die Bitte, mir den Namen zu buchstabieren, positioniere ich mich in dieser Textstelle als jemand, der von diesem Sänger noch nie etwas gehört hat und sich wahrscheinlich generell in dieser Musikrichtung nicht auskennt. Serdar nimmt meine Fragen jedenfalls als Anlass, sich ausführlich über Azad und seine Mu-

49 In der Transkription wurde der Name anonymisiert. 374

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

sik auszulassen. Dabei passt sich seine Sprache – so klingt es zumindest – fast unweigerlich dem Rhythmus des Rap an: \((schmunzelnd:)) meine Freunde sagen das immer zu mir weißte? /echt?/ weil das n Kurde ist und\ isch mag den über=alles weißt du weil der- /m/ nit einfach diese ä, Gangsterschi- Shit weißt du so, nit einfach ey ich bin krass und so weißt du isch, fahr dickes Auto oder so isch pust disch weg oder so (1) der bringt nit so was /m/ oder, der tut rappen aber der tut des irgendwie so mit Leidenschaft weißt du? /m/ de:r tut keinen so beleidigen so wie \((spricht mit verstellter Stimme)) (dei-) Mutter\ oder so (1) oder diese assi Aussprüche weißt du? dieser Bushido oder=so kennst du ja /m/ das ist alles nichts für die Jugend, die hörn das weißt du- o geil bäng knall und so weißt=du? /m/ die denken- die laufen auch so rum wie der weißte? ziehn sich so an wie der und so /m/ (1) und der rappt eher so mit Leidenschaft und so weißt du? (1) keine Sch sch- Schimpfwörter oder=so (1) sagt auch mal fuck you oder so aber das=ist-, der sagt nichts gegen Familie oder so weißt du? er er trifft die Leute eher so anders=der so, der hat auch Lied- viele Lieder so, politische ´eigentlich so ja´ hat=auch zum Beispiel über Kurdi- Kurden oder so der hat mit nem ganz großen kurdischen Sänger hat=der n Lied gemacht /m/ auf seinem Album Game over (1) da rappt der=auch über=die- zum Beispiel über die Sachen in, Kurdistan und so /m/ oder, damals bei Hadasche- /m/ kennst du das? wo Saddam Hussein (1) vierzigtausend Kurden umgebracht hat so mit diese, Giftgas /ja ja ja ja/ über das zum Beispiel rappt der oder was weiß=ich /m m/ \((lächelnd)) deswegen sagen die immer zu mir=Azad (können die sagen Azad)\ ((I. lächelt (1)) \((lächelnd:)) kur- ist n kurdische Name /m/ das bedeutet frei ja? /m/ Freiheit sagt der /okay/ azade (1) (47/12-47/33)

Serdar positioniert Azad als »deutsche[n] Rapper«, der sich von anderen Rappern unterscheidet. Denn Azad ist Kurde und rappt »mit Leidenschaft«. Er beleidigt niemanden auf unterstem Niveau. Manchmal verwendet er zwar Schimpfwörter, doch die richten sich nie »gegen Familie oder so«. Vor allem aber macht Azad auch politische Lieder. Serdar berichtet hier von einem Lied, das zusammen mit einem »ganz großen kurdischen Sänger« aufgenommen wurde und das vom Giftgasangriff Saddam Husseins auf Halabja handelt.50 Nicht ohne Stolz erzählt mir Serdar, dass seine Freunde ihn ebenfalls ›Azad‹ nennen. Doch nicht nur das: Fast klingt die Beschreibung des Rappers Azad im Interview, als spreche Serdar hier über sich selbst und fasse noch einmal zusammen, was ihm wichtig ist und wie er gesehen werden möchte. Auch Serdar ist nicht so »krass« wie die anderen und würde niemanden »beleidigen«. Natürlich sagt er auch mal »fuck you«, doch seine Familie ist ihm zum Beispiel wichtig. Er würde nie zulassen, dass jemand seine Familie beleidigt. Und Serdar positioniert sich als Kurde, der nicht vergessen kann, wel50 Gemeint ist wohl der Song »Stadtfalke«, den Azad zusammen mit ivan Perwer aufgenommen hat. 375

MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

ches Leid den Kurden (und damit auch seiner Familie) zugefügt wurde. Es ist ihm wichtig hierüber zu sprechen, auch wenn in Deutschland kaum jemand etwas damit anfangen kann. Serdar scheint sich mit Azad zu identifizieren, was nicht zuletzt womöglich mit den Parallelen, die zwischen den beiden zu finden sind, erklärt werden kann. Denn obwohl der Rapper Azad mehr als zehn Jahre älter ist als Serdar und schon kurz nach seiner Geburt zusammen mit seinen Eltern aus dem kurdischen Teil des Irans nach Deutschland kam (mehr als 20 Jahre vor Serdar), scheint er doch ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. So heißt es z.B. in einem Intro zu einem Interview mit Azad: »Azad war sich bewusst, dass er Kurde ist, aber von den türkischen Kindern und Jugendlichen in seiner Umgebung [Frankfurt a. M.; Anmerkung T.S.] hörte er, dass Kurden Bergkurden wären.51 Die meisten von ihnen wussten nicht einmal, ob es einen Ort namens Kurdistan gibt oder nicht, oder gar was Kurdistan überhaupt sein soll.« 52

Azad scheint also eine Identifikationsfigur für Serdar zu sein. Vielleicht lässt sich sogar seine zum Teil fast lyrische Sprache (vgl. v.a. Kap. 8.4.4) mit seiner Begeisterung für Azad erklären. Zumindest verortet sich Serdar – genau wie Azad in einem Pressetext zu der von Serdar erwähnten CD Game Over – als jemand, der von ›draußen‹ kommt und das harte Leben der Straße kennt (vgl. Kap. 8.4.2): »Ich bin definitiv Straße und erzähle Geschichten aus dem Block. Das ist mein Style, den ich liebe und nur daraus kann sich überhaupt etwas entwickeln. Es ist eine Art Beton-Poesie.«53

8.5 Positionierungen Gleich zu Beginn des Interviews positioniert sich Serdar als Kurde. Dies ist seine Zugehörigkeit, seine ›Identität‹; das, was ihn ausmacht. Doch diese Positionierung gilt nicht für alle Bereiche. Denn ebenfalls zu Beginn des Interviews stellt Serdar auch gleich klar, dass er nur »eigentlich Kurde« (1/13) ist. Es gilt also eine Einschränkung. Und diese bezieht sich – wie die Auswertung 51 Ein solches Bild der Kurden in Deutschland wird z.B. auch von Murat im Interview geäußert (vgl. 7.4.2 – Schlägerei II – Kurdenangriff auf dem Marktplatz). 52 Dieses Interview wurde offenbar 2008 in der türkisch- und kurdisch-sprachigen Zeitung Yeni Özgür Politika veröffentlicht. Eine Übersetzung findet sich auf der Homepage von Kurdmania.com (http://www.kurdmania.com/News-sid-MusikDer-kurdische-Rapper-Azad-auf-dem-Gipfel--24.html [22.05.2009]). 53 Vgl. http://www.mzee.com/forum/showthread.php?t=100013488 [22.05.2009]. 376

»OHNE GELD KANNST DU DRAUSSEN NICHT ÜBERLEBEN« – SERDAR

des Interviews zeigte – auf den Bereich der eigenen Straffälligkeit bzw. Kriminalität. Mit Leichtigkeit hätte Serdar mir seine Lebensgeschichte so erzählen können, dass seine Straffälligkeit als logische Folge dessen erschienen wäre, was er als Kind erlebt hat. Denn Serdars Familie wurde als Kurden in der Türkei verfolgt und bedroht. Zwei Onkel Serdars wurden ermordet, der Vater immer wieder verhaftet und gefoltert. Und Serdar hat dies alles miterlebt. Insofern hätte sich Serdar als jemand präsentieren können, der als Kind massive Gewalt erlebt hat, vielleicht sogar schwer traumatisiert ist, und sich nun mithilfe von Drogen in eine Scheinwelt flüchtet, zu deren Beschaffung er kriminell werden musste. Doch diese Geschichte erzählt Serdar nicht; er verortet sich nicht innerhalb eines solchen Diskurses (vgl. Kap. 8.3). Denn dies hätte bedeutet, dass sich Serdar in Zusammenhang mit seiner eigenen Straffälligkeit als Kurde hätte positionieren müssen, und genau dies scheint er vermeiden zu wollen. Stattdessen erklärt er seine eigene Straffälligkeit überwiegend damit, dass er unter sozialstrukturell benachteiligten Bedingungen aufgewachsen ist. Seine Eltern konnten sich nicht so gut ›anpassen‹; sie waren weder so modern, noch so gebildet und reich wie die anderen ›türkischen‹ Eltern der Realschüler, weshalb Serdar auf der Realschule zum Außenseiter wurde und auf die Hauptschule kam, auf der – Serdars Darstellung zufolge – das ›Übel‹ seinen Lauf nahm. Darüber hinaus bedeutet für Serdar die Armut seiner Eltern vor allen Dingen, dass er nicht dazugehören kann, und letztlich führt dies dazu, dass Serdar anfängt, von seinen Eltern Geld zu klauen, Gymnasiasten ›abzuziehen‹, ›Einbrechen zu gehen‹ und andere ›abzurippen‹. Er möchte wie die anderen ›Party machen‹, in die Disco gehen, sich Markenschuhe kaufen oder auch einfach nicht gemobbt werden; und nimmt sich daher, was er hierzu braucht (vgl. Kap. 8.3 & 8.4.2). In Bezug auf seine eigene Straffälligkeit positioniert sich Serdar also überwiegend als sozialstrukturell benachteiligt. Daneben positioniert sich Serdar als jemand, der nicht dazugehört und nicht anerkannt wird. Auch dies gilt für ihn als Ursache und Entschuldigung, warum er straffällig wurde, wobei Serdar dieses nicht Dazugehören meist damit begründet, dass er eben sozialstrukturell benachteiligt ist. Beide Positionierungen sind also – in Bezug auf das Thema Straffälligkeit – eng miteinander verknüpft und dominant. Mögliche Positionierungen innerhalb anderer Differenzlinien werden von diesen Positionierungen überlagert. So ordnet Serdar bspw. eine Positionierung als jünger bzw. frühreif einer Positionierung als sozialstrukturell benachteiligt unter (vgl. 8.4.2 – Gymnasiasten ›abziehen‹). Und auch sein physisch überlegenes und gewaltbereites Auftreten, das sich durchaus als Inszenierung von Männlichkeit interpretieren ließe, wird von Serdar damit erklärt, dass er als

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

Kurde nicht anerkannt wird oder sozialstrukturell benachteiligt ist (vgl. 8.4.2 – Hauptschule I & Hauptschule II). Darüber hinaus positioniert sich Serdar im Zusammenhang mit seiner eigenen Straffälligkeit auch als Türke bzw. Ausländer. Doch diese Positionierungen werden von ihm nicht dazu verwendet, sein eigenes Handeln zu entschuldigen oder zu erklären. Vielmehr macht Serdar deutlich, dass es sich hierbei um Fremdpositionierungen handelt, die er angenommen hat, da sie ihm sein Leben ›erleichterten‹: Zum einen konnte er als Türke die Angst der Gymnasiasten nutzen, um diese ›abzuziehen‹ (vgl. Kap. 8.4.2), zum anderen verhalf ihm die Positionierung zu einer Gruppenzugehörigkeit im Gefängnis, die ihn davor schützte, zum Opfer zu werden (vgl. Kap. 8.4.4). Interessanterweise überlagert hierbei eine Positionierung als Türke oder Ausländer ebenfalls eine Positionierung als Mann. Denn die Hierarchie im Gefängnis wird von Serdar als Hierarchie der Nationalitäten beschrieben. Und auch sein gewaltbereites Auftreten erklärt er z.T. damit, dass er als Türke angerufen wird. Unabhängig von seiner eigenen Straffälligkeit positioniert sich Serdar jedoch zumeist als Kurde. Kurde sein ist für Serdar eng verknüpft mit dem, was er und seine Familie in der Türkei erleben mussten: mit der Verfolgung durch das Militär, Verhaftungen, Folter und Ermordungen. Und Serdar ist jemand, der dies alles nicht vergessen kann. Es ist ihm wichtig, hierüber zu sprechen – nicht um seine Straffälligkeit zu erklären, sondern um seine Eltern zu schützen und deren mögliche Versäumnisse, die in den Zusammenhang mit seiner Straffälligkeit gestellt werden könnten, zu entschuldigen (vgl. Kap. 8.3 & 8.4.3). Gleichzeitig scheint die Positionierung als Kurde das zu sein, was ihn ausmacht. Er ist kein Türke wie die anderen, was er z.B. in der Grundschule sehr deutlich zu spüren bekommen hat (vgl. 8.4.2 – Geld klauen, um Süßigkeiten zu kaufen). Und er hat andere Erfahrungen gemacht als ›türkische Gastarbeiterkinder‹. Doch dies scheint in Deutschland niemanden zu interessieren (vgl. Kap. 8.2). Stattdessen bekommt er in Deutschland zu hören, dass es Kurdistan nicht gebe, was für Serdar verbunden ist mit einer Verneinung seiner ›Identität‹. Hierauf hat Serdar früher mit massiver Gewalt reagiert (vgl. 8.4.2 – Hauptschule I), heute jedoch spricht er scheinbar nur noch selten von sich als Kurde. Offenbar hat er gelernt, dass es leichter ist, eine Fremdpositionierung als Türke oder Ausländer anzunehmen, als in eine Positionierung als Kurde zu investieren, die darüber hinaus für Serdar mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden ist. Lediglich innerhalb seines Freundeskreises scheint Serdar als derjenige gesehen zu werden, der er gerne sein möchte: Er ist so wie Azad – ein »deutsche[r] Rapper« mit »kurdischer Abstammung«, der von ›draußen‹ bzw. der Straße kommt und nicht vergessen kann, welches Leid den Kurden zugefügt wurde.

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9. Schlussbetrachtungen

Erzählte Lebensgeschichten beinhalten weit mehr als die jeweils individuelle Erfahrungsgeschichte. Wenn Ahmet, Murat oder Serdar in den hier analysierten Biographien über ihre Familien- und Lebensgeschichte sprechen, erzählen sie Geschichten über ihr Selbst und präsentieren sich auf eine Art, wie sie – zumindest zum Zeitpunkt des Interviews und gegenüber mir als Interviewerin – gesehen werden möchten. Auf diese Weise erschaffen sie ein Bild von sich, in dem sie sich wieder erkennen und konstruieren ihre eigene Identität. Doch eine Biographie wird nicht nur durch die individuelle Erfahrungsgeschichte sowie durch die situativen und kommunikativen Bedingungen des Interviews strukturiert, sondern auch durch gesellschaftliche Diskurse. Das Sprechen über im gesellschaftlichen Diskurs beeinflusst das Sprechen mit im Rahmen narrativ-biographischer Interviews. Insofern ist es wichtig, sich bei der Analyse von Interviews mit gesellschaftlichen Diskursen auseinanderzusetzen. Es geht darum, bei der biographischen Fallrekonstruktion die »Verwobenheit zwischen Diskurs, Subjekt und Subjektivität« (Dausien et al. 2005: 12) zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich mich daher zum einen kritisch mit den gesellschaftlichen Diskursen über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie auseinandergesetzt. Zum anderen habe ich narrativ-biographische Interviews mit den Jugendlichen geführt, über die in diesen Diskursen gesprochen wird. Ziel war es zu untersuchen, welchen Einfluss gesellschaftliche Diskurse im Kontext von Migration, Männlichkeit und Kriminalität auf die Identitätskonstruktionen, Lebenserfahrungen und -deutungen der Jugendlichen bzw. jungen Männer haben, mit denen ich meine Interviews geführt habe (vgl. Kap. 1). Hierzu habe ich zunächst die dominanten Erklärungsansätze zum Zusammenhang von Migration, Männlichkeit und Kriminalität nachgezeichnet und kritisch hinterfragt (Teil I). Anschließend ging es auf methodologischer und methodischer Ebene um die Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung (Teil II), um schließlich den Einfluss gesellschaftlicher Diskurse auf die biographischen Erzählungen von drei straffälligen, jungen Männern mit

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MIGRATION UND MÄNNLICHKEIT

türkischem Migrationshintergrund sowie die Möglichkeiten der Handlungsmacht zu untersuchen (Teil III). Im Folgenden möchte ich die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen und mich abschließend mit dem Verhältnis von Diskursen und Biographien auseinandersetzen. Hierbei ist es mir wichtig, zunächst die Suchbewegungen und die Prozesshaftigkeit der Arbeit nachzuzeichnen, da diese die Entwicklung der zentralen Fragen und die Art und Weise, wie (bzw. warum) ich mich mit bestimmten Themen auseinandergesetzt habe (und mit anderen nicht), maßgeblich geprägt haben (Kap. 9.1). Nach der Zusammenfassung der einzelnen Kapitel folgt dann ein letzter Exkurs in die Empirie (Kap. 9.2). Denn mithilfe der unterschiedlichen Positionierungen im Kontext von Migration, Männlichkeit und Kriminalität möchte ich der Frage nach der Diskursmacht und den Möglichkeiten der Handlungsmacht nachgehen und auf meine diskurstheoretischen Fragen, die am Anfang dieser Arbeit standen, zurückkommen. Gleichzeitig möchte ich mich hier noch einmal kritisch mit den gesellschaftlichen Diskursen über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie auseinandersetzen und diesen die (Selbst-)Positionierungen der Jugendlichen entgegensetzen. Abschließen werde ich die Arbeit mit einer methodologisch-methodischen Reflexion zur Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung (Kap. 9.3).

9.1 Subjektpositionen im Diskurs Am Anfang des Forschungsprozesses stand die Frage nach dem Einfluss gesellschaftlicher Diskurse auf biographische Erzählungen (vgl. Kap. 1). Doch diese Frage brachte eine Reihe weiterer Fragen mit sich, die mit der Suche nach einem geeigneten methodischen Instrumentarium begannen und schließlich bei ganz grundlegenden theoretischen Fragen endeten. Zunächst hatte ich vor, das Sprechen über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund diskursanalytisch zu untersuchen. Denn – so meine Vorstellung – um Aussagen darüber treffen zu können, welchen Einfluss Diskurse auf Lebensgeschichten haben, müsste ich erst einmal herausfinden, welche Diskurse überhaupt existieren.1 Dies stellte sich jedoch als schwieriges Unterfangen dar. Denn welche Diskurse sollte ich untersuchen? Eine vorläufige Idee bestand darin, den Fall ›Mehmet‹ zu analysieren. Dabei stellte sich jedoch die Frage, ob die Diskussionen, die Ende der 1990er Jahre geführt wurden, für die Jugendlichen, die ich zwischen 2006 und 2007 interviewt habe, überhaupt von 1

In ähnlicher Weise ist die Studie von Walburga Freitag (2005) zum Thema Contergan aufgebaut. Sie untersuchte zunächst diskursanalytisch die wissenschaftlichen Debatten über Contergan und stellte diesen die biographischen Erfahrungen von Contergan-Geschädigten gegenüber.

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SCHLUSSBETRACHTUNGEN

Belang sind.2 Das gleiche galt für den Wahlkampf in Hessen Anfang 2008: Lässt sich eine Diskussion als Referenzrahmen verwenden, die erst nach den Interviews stattfand? Welche Diskurse3 haben überhaupt Einfluss auf die Jugendlichen? Welche werden von ihnen wahrgenommen? Bzw. wie ist ein Zusammenhang zwischen Diskursen und biographischen Erzählungen eigentlich zu denken? Bestimmen Diskurse, was erzählt wird oder gibt es auch Möglichkeiten des Widerstands bzw. der Handlungsmacht auf Seiten des/der Erzählenden? Letztlich wurde klar, dass zunächst auf theoretischer Ebene eine Reihe von Fragen zu klären sein würde, bevor es in irgendeiner Weise darum gehen könnte, am konkreten Material den Einfluss gesellschaftlicher Diskurse zu untersuchen. Denn Diskurse und reale Identitäten – darauf verweist z.B. Paula Villa (2009) – folgen je einer Eigenlogik und gehen nicht ineinander auf (vgl. auch Tolasch 2009: 151). Das Verhältnis zwischen Diskurs und Biographie lässt sich also nicht als Abbildungsverhältnis begreifen. Doch wie ist das Verhältnis zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie zu verstehen? In diesem Zusammenhang erwiesen sich die Arbeiten von Stuart Hall (v.a. 1994e; 1996; 1997a; 2000b), in denen er sich mit Fragen der (kulturellen) Identität auseinandersetzt, als weiterführend. Hall geht davon aus, dass es innerhalb eines Diskurses unterschiedliche Subjektpositionen gibt. Um sprechen zu können, muss eine davon eingenommen werden, wobei es sich hierbei nicht um einen willentlichen Selbst-Anschluss handelt. Der/die Einzelne wird – im Sinne Althussers (1977) – in die Position hineingerufen. Durch die Anrufung wird das Subjekt konstituiert. Dabei versteht Hall das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt – den diskurstheoretischen Arbeiten Laclaus und Mouffes (Laclau 1990; Laclau/Mouffe 2006) folgend – als Artikulation. Es ist eine Verbindung, die bestehen, aber auch wieder aufgelöst werden kann. Dem entsprechend kann eine Subjektposition eingenommen, aber auch wieder verlassen werden. Der/die Einzelne ist also nicht auf alle Zeit auf eine Position festgelegt, sondern er/sie kann innerhalb unterschiedlicher diskursiver Kontexte verschiedene Positionen einnehmen. Der/die Einzelne geht allerdings nicht in den Subjektpositionen auf, sondern konstruiert sich – aus einer Vielzahl verschiedener intersektionell verschränkter Diskurse und abhängig von der individuellen Erfahrungsgeschichte sowie den jeweiligen situativen und kommunikativen Bedingungen – eine Identität bzw. Biographie. Individuen konstituieren sich also u.a. aus der 2

3

Wobei der Fall ›Mehmet‹ 2005 in Folge einer erneuten Verurteilung nochmals sehr ausführlich in den Medien diskutiert wurde; er also eine Art ›Revival‹ erfuhr (vgl. Kap. 2). Eine weitere Frage bestand auch darin, ob es sich hier überhaupt um Diskurse handeln würde oder ob es nicht viel mehr Diskussionen sind, die einem größeren Diskurs – im Sinne Foucaults – zuzuordnen wären (vgl. Kap. 4.5, Fn 37). 381

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Adaption von Subjektpositionen, aber sie sind wesentlich komplexer und unordentlicher als Subjektpositionen – bzw. in der Sprache Butlers – als das Subjekt (vgl. Kap. 4.1; Villa 2009). Eine Identität bzw. Biographie ist weder stabil, noch dauerhaft, sondern zeichnet sich durch ein beständiges Werden aus: »Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ›Erzählung unseres Ich‹ über uns selbst konstruieren.« (Hall 1994b: 183) Diskurse, Subjekt(positionen) und Identitäten bzw. Biographien sind also – Halls Überlegungen zufolge – eng miteinander verknüpft. Doch der/die Einzelne ist einem Diskurs nicht ausgeliefert. Im Unterschied zu Foucault betont Hall in seinen Arbeiten nämlich die Möglichkeiten der Handlungsmacht (agency). Diskurse eröffnen zwar Subjektpositionen, doch heißt das noch nicht, dass diese auch eingenommen werden. Denn Individuen müssen nicht nur in eine Subjektposition hineingerufen werden, sondern auch in diese investieren. Der/die Einzelne kann daher eine Position beim Sprechen ausfüllen. Er/sie kann jedoch auch dagegen ankämpfen und beim Sprechen deutlich machen, dass er/sie die Position nur strategisch innerhalb eines bestimmten Kontextes einnimmt, dass das Einnehmen der Position mit einer bewussten Entscheidung gegen andere Positionen einhergeht oder aber dass die Position eigentlich nicht dem Selbstbild entspricht (vgl. Kap. 4). Mit Bezug auf Hall ließ sich also auf theoretischer Ebene das Verhältnis zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie klären. Doch durch diese Überlegungen verlagerte sich (zunächst fast unmerklich) mein Forschungsinteresse. Ging es mir anfangs noch darum, (zumindest auch) die gesellschaftlichen Diskurse über straffällige Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie zu analysieren, interessierte ich mich nun viel mehr und fast ausschließlich für die Positionierungen, die von den Jugendlichen innerhalb von biographischen Erzählungen eingenommen werden. Denn es kamen nun ganz neue Fragen auf, die sich theoretisch nicht klären ließen und letztlich nur am empirischen Material zu beantworten sein würden: Wann wird welche Subjektposition eingenommen? Wie wird diese gefüllt? Und warum bzw. wann wird in bestimmte Positionen investiert und in andere nicht? Wo bzw. inwiefern gibt es Möglichkeiten der Handlungsmacht? Es ging mir also darum, Biographien als Artikulationen zu untersuchen. Dabei ging ich davon aus, dass sich in biographischen Erzählungen, Subjektpositionen herausarbeiten lassen müssten, die im Interview eingenommen und – wegen des Artikulationscharakters des Zusammenhangs zwischen Diskurs und Subjekt – auch wieder verlassen werden. Hierbei zeigte sich jedoch recht schnell, dass das analytische Instrumentarium der Biographieforschung nicht ausreichen würde, diese Fragen zu beantworten. Der nächste Schritt bestand daher darin, mein methodisches Repertoire zu erweitern. In diesem Zusammenhang erwies sich die von Michael Bamberg (1999b; 2003; Talbot et al. 382

SCHLUSSBETRACHTUNGEN

1997) entwickelte Positionierungsanalyse als eine sinnvolle Ergänzung zur strukturalen biographischen Fallrekonstruktion (Fischer-Rosenthal 1996; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997a; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 2000). Mithilfe einer solchen Analyse können Fremd- und Selbstpositionierungen innerhalb einer erzählten Lebensgeschichte analysiert und die situativen und kommunikativen Bedingungen, unter denen ein Interview stattfindet und die das Interview beeinflussen, berücksichtigt werden. Darüber hinaus müssten sich – so zumindest meine Überlegungen in Anlehnung an Bambergs methodische (vgl. v.a. Talbot et al. 1997) und Halls theoretische Arbeiten – Subjektpositionen im Diskurs mithilfe der Positionierungsanalyse herausarbeiten lassen. Auf diese Weise lässt sich rekonstruieren, welche Positionen beim Sprechen eingenommen und wie diese gefüllt werden, d.h. es lassen sich die Wirkmacht von Diskursen, aber auch die Möglichkeiten der Handlungsmacht untersuchen. So gelingt es, auch auf empirischer Ebene eine diskurstheoretische Perspektive mit einzubeziehen und Positionierungen im Interview zu hinterfragen (vgl. Kap. 5.1.1). Dies allein reicht jedoch nicht aus, um Biographien als Artikulationen analysieren zu können. Denn biographische Erzählungen werden durch eine Vielzahl intersektionell verschränkter Diskurse konstruiert. Sie stehen in einem gesellschaftspolitischen Machtgefüge und sind offen für Veränderungen: Positionen werden eingenommen, aktiv gestaltet und auch wieder verlassen. Ziel der Analyse kann daher nicht nur sein, einzelne Positionierungen herauszuarbeiten, sondern es muss darum gehen, die Logik zu erfassen, innerhalb welches Diskurses welche Subjektposition eingenommen und wie diese gefüllt wird. Dies lässt sich mithilfe der Intersektionalitätsanalyse untersuchen, die auf einem theoretischen Verständnis basiert, das mit Halls Überlegungen zum Zusammenhang von Diskurs und Subjekt vereinbar ist (vgl. Kap. 2.4.3 & 5.1.2). Es wird davon ausgegangen, dass Identitäten auf der Kreuzung unterschiedlicher Differenzlinien angesiedelt sind. Bei der Analyse wird daher die Verwobenheit unterschiedlicher Kategorien wie Geschlecht, nationale oder ethnische Zugehörigkeit und Sozialstatus bzw. Klasse in den Blick genommen, um auf diese Weise antagonistische Positionen und Praxen zu untersuchen (vgl. u.a. Lutz/Davis 2005; Leiprecht/Lutz 2006; Lutz/ Schwalgin 2006). So gelingt es, die biographischen Erzählungen der Jugendlichen zu rekonstruieren und deren Verstrickung und Einbettung in dominante Diskurse, »Achsen der Ungleichheit« (Klinger et al. 2007) und Herrschaftsdimensionen aufzuzeigen (vgl. Kap. 5.1.2). Aus diesen theoretischen und methodischen Überlegungen hat sich eine Gliederung der Arbeit in drei Teile ergeben. Im ersten Teil (Kontextbeschreibungen) habe ich mich mit den gesellschaftlichen Diskursen über straffällige Jugendliche auseinandergesetzt. Entgegen meinem ursprünglichen Vorhaben habe ich hierzu keine eigenständige Diskursanalyse durchgeführt, sondern die 383

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dominanten Erklärungsansätze zum Zusammenhang von Migration, Männlichkeit und Kriminalität diskurskritisch gelesen und hinterfragt. Dabei ging es mir zum einen darum, den Forschungsstand aufzuarbeiten, zum anderen konnte ich mir hierdurch einen Orientierungsrahmen für die Auswertung meiner Interviews erarbeiten (vgl. Kap. 2). Durch die Verschiebung meines Forschungsinteresses hat sich dieser Schritt als sinnvoll erwiesen, auch wenn ein solcher Orientierungsrahmen sicherlich keine eigenständige Diskursanalyse ersetzt. Dies machte sich bei der Auswertung der Interviews insofern bemerkbar, als es mir zum Teil recht schwer fiel, die Diskurse, innerhalb derer sich die von mir Interviewten verorten, zu benennen. Es besteht daher meines Erachtens nach wie vor ein Bedarf darin, die gesellschaftlichen Diskurse über straffällige Jugendliche mit Migrationshintergrund systematisch zu untersuchen. Doch im Rahmen dieser Arbeit wäre dies sicherlich nicht leistbar gewesen bzw. hätte eine andere Schwerpunktsetzung erfordert. Im zweiten Teil der Arbeit (Verknüpfung von Diskurs- und Biographieforschung) ging es um die Klärung der eingangs beschriebenen methodologischen und methodischen Fragen. Hier wurden zunächst die theoretischen Grundlagen der Biographieforschung sowie die Durchführung und Auswertung narrativ-biographischer Interviews beschrieben (Kap. 3). Anschließend wurde das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt untersucht. Theoretisch wurde hierbei davon ausgegangen, dass Diskurse bestimmen, welche Subjektpositionen zur Verfügung stehen und innerhalb einer biographischen Erzählung eingenommen werden können. Dabei bleiben den Biographen und Biographinnen jedoch Handlungsspielräume, denn es können in verschiedenen diskursiven Kontexten unterschiedliche Subjektpositionen eingenommen werden. Sie sind also nicht passiv den Zuordnungen und Positionierungen von außen ausgeliefert, sondern können sich selbst positionieren und an den Aushandlungsprozessen beteiligen (vgl. Kap. 4). Im fünften Kapitel wurde dann auf der Basis dieser theoretischen Überlegungen ein Instrumentarium zur intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen entwickelt und der Forschungsprozess in Bezug auf Auswahl und Auswertung der Fälle vorgestellt. Im dritten Teil ging es schließlich um die Umsetzung des zuvor Erarbeiteten in der Empirie (Kap. 6-8). Ziel war es, sich den Lebenswirklichkeiten von drei straffälligen jungen Männern mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie anzunähern und danach zu fragen, welchen Einfluss gesellschaftliche Diskurse auf ihre biographische Erzählungen haben und welche Möglichkeiten der Handlungsmacht es für sie gibt. Darüber hinaus ging es darum, das erarbeitete Instrumentarium zu erproben und – unterstützt durch die intersektionelle Perspektive – den diskurstheoretischen Fragen nachzugehen, die sich auf theoretischer Ebene allein nicht beantworten ließen. Die zentralen Ergebnisse des empirischen Teils der Arbeit sollen im Folgenden zusammenfassend am 384

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Beispiel von Positionierungen im Kontext Kriminalität (Kap. 9.2.1), Migration (Kap. 9.2.2) und Männlichkeit (Kap. 9.2.3) innerhalb der Interviews gezeigt werden. Es geht mir darum, die unterschiedlichen Positionierungen der jungen Männer im Vergleich aufzuzeigen und davon ausgehend zu überlegen, wovon es abhängt, welche Wirkmächtigkeit von Diskursen ausgeht bzw. welche Möglichkeiten der Handlungsmacht es gibt; wann welche Subjektposition eingenommen, wie sie gefüllt und wann sie wieder verlassen wird.

9.2 Zwischen Diskurs- und Handlungsmacht 9.2.1 Positionierungen im Kontext Kriminalität In Bezug auf die Auseinandersetzungen mit der eigenen Straffälligkeit zeigte sich bei der Auswertung der Interviews sehr deutlich, dass die jungen Männer innerhalb verschiedener (Teil-)Diskurse unterschiedliche Subjektpositionen einnehmen können. Serdar z.B. positioniert sich innerhalb eines Diskurses, in dem die Straffälligkeit jugendlicher Migranten mit der sozialstrukturellen Benachteiligung erklärt wird. Für ihn bedeutet die Armut seiner Familie, dass er nicht dazu gehören kann und dies führt – seiner Darstellung zufolge – dazu, dass er anfängt, von seinen Eltern Geld zu klauen, Gymnasiasten ›abzuziehen‹, ›Einbrechen zu gehen‹ und andere ›abzurippen‹. »Ohne Geld kannst du draußen nicht überleben«, lautet in diesem Zusammenhang eine zentrale Aussage Serdars (vgl. Kap. 8). Ahmet hingegen positioniert sich, wenn es um seine Straffälligkeit geht, innerhalb eines Diskurses, in dem das abweichende Verhalten Jugendlicher mit deren Alter (Adoleszenz) und Geschlecht (männlich) erklärt wird. So spricht Ahmet eigentlich gar nicht über die von ihm begangenen Straftaten, sondern erzählt von jugendlichen Streichen an der Schule oder von Schlägereien, bei denen er als Beschützer seiner Freunde (Don Corleone) auftreten musste. »Ich hab meine Jugend ordentlich gelebt«, sagt Ahmet im Interview, wobei mit »ordentlich« vor allem eine erfolgreiche Orientierung an (hegemonialer) Männlichkeit gemeint zu sein scheint (vgl. Kap. 6). Murat schließlich positioniert sich in Bezug auf seine eigene Straffälligkeit hauptsächlich innerhalb eines Diskurses nationaler Identitäten. Er beschreibt, wie er als Türke von anderen angerufen wird (»Du bist doch n Türk«), aber auch wie er selbst – nicht zuletzt durch das ›Herausholen‹ seiner eintätowierten Türkeiflagge auf dem Oberarm – in diese Position investiert. Konflikte werden von Murat immer zu ethnischen Konflikten umdefiniert; sei es bei einer Schneeballschlacht auf dem Schulhof, bei einem Kampf gegen ›Kurden‹ auf dem Mannheimer Marktplatz oder auch bei einer Auseinandersetzung mit Polizisten am Wasserturm (vgl. Kap. 7). 385

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Obwohl die Jugendlichen also mit den gleichen Diskursen konfrontiert werden, können sie unterschiedliche Subjektpositionen einnehmen und hierdurch auf je eigene Weise ihre Straffälligkeit entschuldigen und erklären. Die Vielfalt der im gesellschaftlichen Diskurs dominanten Erklärungsansätze spiegelt sich in den Interviews wider. Die jungen Männer verorten sich dabei im Interview auf unterschiedlichen Differenzlinien, die jedoch mit anderen Linien intersektionell verwoben sind und sich gegenseitig überlagern. Auch wenn in Serdars narrativer Biographie sehr ausdrücklich das Thema sozialstrukturelle Benachteiligung im Vordergrund steht, wenn es um seine eigene Straffälligkeit geht, so zeigte die intersektionelle Analyse, dass es hier eine enge Verknüpfung mit den Themen Geschlecht (männlich), Ethnizität (Kurde, Türke bzw. Ausländer sein) und Alter (jünger sein als diejenigen, zu denen er dazugehören möchte) gibt. Das gleiche gilt für Ahmet und Murat: Ahmets Positionierung als Streiche spielender Junge ist, zumindest in einer (Alternativ-) Erzählung, mit deren Hilfe Ahmet im Interview zu erklären versucht, warum er straffällig wurde, mit einer Positionierung als Anderer (Muslim sein) verknüpft. Murats Positionierung als Türke wiederum ist eng verknüpft mit der Erfahrung von Stigmatisierung und Diskriminierung sowie mit den Themen sozialstrukturelle Benachteiligung, Männlichkeit und Adoleszenz. Das Einnehmen unterschiedlicher Subjektpositionen innerhalb verschiedener (Teil-)Diskurse verweist also bereits auf eine Möglichkeit der Handlungsmacht. Durch Diskurse werden zwar Subjektpositionen zur Verfügung gestellt, doch welche Positionen innerhalb einer biographischen Erzählung eingenommen werden, ist nur zum Teil bedingt durch die Macht der Diskurse; auch wenn es hierbei sicherlich eine Rolle spielt, wie dominant der einzelne (Teil-)Diskurs ist. Die intersektionelle Verwobenheit einzelner Positionierungen deutet darüber hinaus bereits auf eine weitere Möglichkeit der Handlungsmacht hin. Denn innerhalb einer biographischen Erzählung können nicht nur eine, sondern verschiedene Subjektpositionen eingenommen werden, die sich durchaus auch widersprechen können. Eine Subjektposition kann also eingenommen, aber auch wieder verlassen werden. Dies möchte ich nun am Beispiel der Selbstverortungen als Türke/Muslim/Anderer aufzeigen, wobei sich hier auch noch eine dritte Form der Handlungsmacht demonstrieren lässt. Denn das Einnehmen einer Subjektposition heißt noch nicht, dass diese auch gefüllt wird.

9.2.2 Positionierungen im Kontext Migration Auch wenn sich Murat – in Bezug auf seine eigene Straffälligkeit – recht klar als Türke positioniert bzw. immer wieder davon erzählt, wie er als Türke angerufen wird und letztlich nicht anders konnte, als in die Position zu investieren, so werden im Interview doch auch noch andere Verortungen sichtbar. In 386

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Textstellen, in denen er sich mit seiner Familie auseinandersetzt, positioniert sich Murat z.B. nicht mehr als Türke, sondern als jemand, der vor allem von seinem Vater zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Er verortet sich dann innerhalb eines Diskurses, in dem die Straffälligkeit der Kinder mit dem Versagen der Eltern erklärt wird. Allerdings ist eine solche Positionierung mit Enttäuschungen und Verletzung verbunden, wohingegen ihm seine durchaus nicht ungebrochene Positionierung als Türke vor allem Stärke und Macht verleiht. Insofern kann Murats Positionierung als Türke auch als Schutzschild verstanden werden (vgl. Kap. 7). Sie bedeutet für ihn weniger, dass er bezeichnet, was er – zumindest von seiner Staatsangehörigkeit her – ist, sondern dass er sich mit einer Subjektposition identifiziert, obwohl er sich auch mit einer anderen identifizieren könnte. Eine Selbstpositionierung als Türke ist daher in diesem Zusammenhang weder Ausdruck von Traditionalisierung noch von (Re-)Ethnisierung. Es ist ein mögliches Identifikationsangebot unter vielen, das aus den innergesellschaftlichen Entwicklungen hervorgeht (vgl. hierzu auch Tietze 2001: 239 f.; Tietze 2004: 123): Murat wird in Deutschland als Türke angerufen und er nimmt diese Anrufung an und investiert in sie. Er positioniert sich als Anderer oder Fremder mit »türkische[m] Blut«, der sich in Deutschland »anpassen« musste, und reproduziert hierdurch kulturalisierende und ethnisierende Diskurse. Eine solche Positionierung kann »als Betonung ›natürlichen Kapitals‹« interpretiert werden, »die von Personen ergriffen wird, die über wenig erwerbbares Kapital verfügen« (Juhasz/Mey 2006: 80). Sie kann aber auch als »Protesthaltung« (Yildiz/Tekin 1999: 114) gelesen werden; als Reaktion auf Ethnisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung seitens der Dominanzgesellschaft. Auf Murat scheint vor allem letztere Lesart zuzutreffen: Er reagiert auf erfahrene Diskriminierungen und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden sowie auf gesellschaftliche Nichtanerkennung. Denn die Position des Deutschen wird Murat – ebenso wie den beiden anderen Jugendlichen, deren Biographien im Rahmen dieser Arbeit analysiert wurden – gesetzlich verwehrt (vgl. hierzu z.B. auch Castro Varela 2007: 130 f.). Als Gegenstrategie positioniert er sich daher als Türke. Während Murat sich – in Bezug auf seine eigene Straffälligkeit – recht klar als Türke positioniert, wird von Ahmet in diesem Zusammenhang die Position des Schülers, der für ›Spaß‹ in der Schule sorgt bzw. die eines gerechten Rächers und erfolgreichen Schlägers eingenommen. Dabei verortet sich Ahmet innerhalb eines Diskurses von (hegemonialer) Männlichkeit, wohingegen seine Nationalität im Interview keine Rolle spielt. Er spricht zwar von verschiedenen ›Gangs‹ in seiner Heimatstadt, die sich nach nationaler Zugehörigkeit unterscheiden, sich selbst ordnet er jedoch keiner dieser Gruppen ausdrücklich zu. Nur in einer (Alternativ-)Erzählung betont Ahmet seine kulturelle und religiöse Andersartigkeit und macht sie für sein Gewalthandeln 387

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verantwortlich: Er präsentiert sich an dieser Stelle als muslimischer Mann, der zum Opfer wurde und sich legitim wehrt. Interessanterweise positioniert sich Ahmet hierbei – im Unterschied zu Murat – nicht als Türke, sondern als Muslim. Auf diese Weise gelingt es ihm, Alterität zu betonen und trotzdem sein Recht als ›Inländer‹ geltend zu machen (vgl. Kap. 6). Serdar schließlich positioniert sich schon zu Beginn des Interviews als Kurde; als einer, der sowohl anders ist als die Deutschen als auch als die anderen Türken. Doch diese Positionierung ist für Serdar keineswegs durchgängig und ungebrochen. Denn sie ist verbunden mit schmerzlichen Erinnerungen an seine Kindheit sowie mit der Erfahrung, dass sich in Deutschland niemand für diese Erinnerungen interessiert oder sogar behauptet wird, dass es Kurdistan nicht gebe. Zur Vereinfachung spricht er daher von sich selbst zum Teil auch als Ausländer oder als Türke, markiert also Alterität und ordnet sich gleichzeitig einer (in Deutschland anerkannten) Gruppe Anderer zu. Hierdurch macht er seine spezifischen Erfahrungen von massiver Gewalt, Nichtanerkennung, Mobbing und Diskriminierung unsichtbar, was letztlich dazu führt, dass nicht einmal sein Bewährungshelfer zu wissen scheint, dass seine Familie nicht als ›Gastarbeiter‹, sondern als politische Flüchtlinge nach Deutschland kam (vgl. Kap. 8). Auch Ahmets und Serdars Positionierungen als Muslim, Kurde, Türke, Ausländer oder ganz allgemein Anderer können nicht als Ausdruck von Traditionalisierung oder (Re-)Ethnisierung gelesen werden. Es sind Fremd- und Selbstpositionierungen, die an bestimmte biographische Erfahrungen geknüpft sind und nicht selten aus dem Gefühl der Nichtanerkennung, Stigmatisierung und Diskriminierung resultieren. Die Jugendlichen betonen mithilfe dieser Positionierungen ihre Differenz, bewegen sich jedoch gleichzeitig zwischen den Kategorien. Nikola Tietze (2009) hat den Gedanken aufgeworfen, dass partikularistische Gemeinschaftsimaginationen gebraucht werden, um Erfahrungen einzuordnen und Gerechtigkeit zu imaginieren. Ähnliche Überlegungen finden sich z.B. auch bei Floya Anthias (2002: 510). Sie geht davon aus, dass Positionierungen, mithilfe derer Differenz betont wird, nicht als Formen einer proklamierten Identität interpretiert werden können, sondern die Funktion haben, spezifische Erfahrungen zu erklären oder einen bestimmten lifestyle zu beschreiben. Ien Ang (1999) spricht in diesem Zusammenhang von postmoderner Ethnizität. Diese könne nicht länger als natürlich gegeben und aus Traditionen entstanden erfahren werden, sondern müsse als provisorischer und partieller Standort von Identität gesehen werden, der ständig erneuert und hinterfragt werden muss. In diesem Sinne könne die Identifikation mit einer bestimmten Ethnizität als das angesehen werden, was Spivak (1988) als strategischen Essentialismus bezeichnet hat: Strategisch, weil die Selbstethnisierung dazu genutzt wird, die Frage der Dominanzgesellschaft nach der eigenen Herkunft zu 388

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beantworten und gleichzeitig herauszufordern. Essentialistisch in Halls Sinn, dass wir alle von einer bestimmten gesellschaftlichen Position aus sprechen, aus einer bestimmten Geschichte heraus. Auf diese Weise könne z.B. eine Positionierung als Chinesin zu einer offenen Bezeichnung werden, »which acquires its peculiar form and content in dialectical junction with the diverse local conditions in which ethnic Chinese people have constructed new lives and syncretic social and cultural practices« (Ang 1999: 559). Eine postmoderne Ethnizität von Subjekten in der Diaspora stehe somit für den Versuch, Ethnizität umzudeuten in eine Kategorie, die gerade von den normalerweise mit dem Begriff Stigmatisierten aufgegriffen werden kann, ohne die eigene Identität auf eine tatsächlich vorhandene oder imaginierte Herkunftskultur zu reduzieren. Sie eröffne die Möglichkeit, das ›where you’re from‹ mit dem ›where you’re at‹ kreativ zu verknüpfen. Dadurch erhalte jede/r die Möglichkeit, sich individuell zu verorten.4 Genau darum scheint es bei den unterschiedlichen Positionierungen der von mir interviewten Jugendlichen auch zu gehen: Sie können mithilfe dieser Positionierungen ihre Erfahrungen der Stigmatisierung und Diskriminierung als Ausländer, Türke oder Muslim einordnen und damit umgehen. Sie positionieren sich also im Zusammenhang mit bestimmten biographischen Erfahrungen als Andere; und dies nicht zuletzt deshalb, da sie als Deutsche – zumindest innerhalb des dominanten gesellschaftlichen Diskurses und der derzeitigen Rechtslage – nicht anerkannt werden (vgl. hierzu ebenfalls Anthias 2002: 510). Gleichzeitig bietet ihnen eine Positionierung als Fremder auch eine Entschuldigungsfolie, mit der sie – im gesellschaftlichen Diskurs breit anerkannt – ihre eigene Straffälligkeit entschuldigen und erklären können. Doch auch wenn sich die drei von mir interviewten jungen Männer z.T. recht klar als Türke, Muslim oder Kurde bzw. Ausländer positionieren, so sind diese Positionierungen doch weit weniger eindeutig als sie zunächst scheinen. Denn innerhalb einer biographischen Erzählung können nicht nur unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Subjektpositionen eingenommen werden, sondern es gibt auch einen Spielraum, wie der/die Einzelne sich mit der Subjektposition, in die er/sie hineingerufen wird, identifiziert, sie kreativ ausgestaltet oder diese auch bekämpft (vgl. hierzu z.B. auch Mecheril/Rigelsky 2007; Kap. 4). So kann es zu Momenten des Widerstands, Subversion bzw. gegen-hegemonialen Verschiebungen kommen, die durch die Art und Weise, wie mit einer spezifischen Anrufung umgegangen wird, entstehen. Ahmet beispielsweise positioniert sich innerhalb der bereits erwähnten (Alternativ-)Erzählung, mit der er seine eigene Straffälligkeit erklärt, als mus-

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Stuart Hall beschreibt diese Möglichkeit der Verortung als ›neue Ethnizitäten‹ (vgl. Kap. 2.4.1; Spies 2004). 389

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limischer Mann. Er konstruiert eine Geschichte, mit der er seine kulturelle und religiöse Andersartigkeit betont und sie für sein Gewalthandeln verantwortlich macht. Auf diese Weise reproduziert er Diskurse, innerhalb derer die Straffälligkeit von Migranten mit deren ›Kultur‹ erklärt wird und nimmt die Position des muslimischen bzw. anderen Mannes an. An anderen Stellen im Interview verweigert er sich jedoch genau diesen Diskursen, die zum Teil sogar von mir als Interviewerin machtvoll an ihn herangetragen werden. Er unterläuft beharrlich die Frage nach Zugehörigkeiten und weigert sich, sich eindeutig zu verorten. Als er – vermutlich provoziert durch mein vehementes Nachhaken – schließlich doch die Position des Ausländers annimmt, nutzt er einen Rap als widerständige Strategie und macht dadurch deutlich, wie absurd die Unterscheidung ist (vgl. Kap. 6; Spies 2009b: 73 ff.). Murat investiert zwar in eine Positionierung als Türke und erfährt hierdurch Stärke und Macht, verweist jedoch gleichzeitig auf den strategischen Charakter dieser Positionierung. Denn außer seinem »türkische[n] Blut« verbinde ihn nicht viel mit der Türkei: Er spreche seine »Muttersprache« (deutsch) besser als die ›Deutschen‹ und wäre in der Türkei ein ›Fremder‹, da er das »Leben in der Türkei« und die »Kultur« nicht kenne. Eine Positionierung als Türke wird also von ihm kreativ ausgestaltet. Sie gilt innerhalb Deutschlands und innerhalb der hier herrschenden dominanten Diskurse. Mit einer ›Rückbesinnung‹ auf eine – wie auch immer konstruierte – ›ursprüngliche Identität‹ hat eine solche Positionierung wenig zu tun (vgl. Kap. 7). Serdar schließlich kämpft in Bezug auf seine Straffälligkeit gegen eine Positionierung als Türke, Ausländer oder gar Kurde an. Obwohl er in seiner Kindheit massive Gewalt im Kurdenkonflikt erlebt hat und problemlos seine Straffälligkeit, die er selbst auch in den Zusammenhang mit dem Konsum von Drogen bringt, als Folge der traumatischen Kindheitserlebnisse erklären könnte, verweigert er hier eine Positionierung als Anderer. Stattdessen verortet er sich überwiegend innerhalb eines Diskurses, in dem die Straffälligkeit jugendlicher Migranten mit ihrer sozialstrukturellen Benachteiligung erklärt wird. Zum Teil nimmt er auch eine Positionierung als Türke oder Ausländer an. Dies jedoch immer nur strategisch, indem er deutlich macht, dass es sich hierbei um Fremdpositionierungen handelt und er diese nur annimmt, um daraus einen Nutzen zu erzielen: auf der Berufsschule, um Gymnasiasten ›abzuziehen‹ und im Gefängnis, um einer Gruppe anzugehören, die weder Täter noch Opfer ist. Eine Positionierung als Kurde wird von Serdar hingegen nur eingenommen, wenn es nicht um seine Straffälligkeit geht. Sie ist für ihn das, was ihn ausmacht und daher scheint er sie vor dem Zugriff anderer zu schützen. Außerdem geht er nicht davon aus, dass in Deutschland irgendjemand etwas mit einer Positionierung als Kurde anfangen kann (vgl. Kap. 8). Selbst auf sprachlicher Ebene lassen sich diese Positionierungen zwischen Diskurs- und Handlungsmacht rekonstruieren. So lässt sich die Übernahme 390

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normativer Diskurse in der Sprache der Jugendlichen erkennen, wenn Murat z.B. von seinem »türkische[n] Blut« spricht und damit begründet, warum er kein »Deutscher« sein kann (vgl. Kap. 7), während das Sprechen im Rhythmus des Rap, das Switchen in ›Türkendeutsch‹ oder auch die Übernahme einer lyrischen (Rap-)Sprache als widerständige Strategien eingesetzt werden (vgl. Kap. 6-8). Hierbei wäre es sicherlich spannend, die Macht von Diskursen auf (sprachlicher) Alltagsebene und Momente des Widerstandes in Form von Ethnolekt bzw. Rap/Hip Hop noch ausführlicher zu untersuchen. Denn mit Sicherheit ist dies ein Feld, auf dem die Möglichkeiten der Handlungsmacht noch viel detaillierter in den Blick genommen werden können. In diesem Zusammenhang müsste dann vermutlich auch der Einfluss medialer Produktionen auf die Positionierungen der Jugendlichen noch eingehender untersucht werden. Denn Filme und Idole aus der Rap-/Hip Hop-Szene – das zeigten zumindest die Interviews mit Ahmet und Serdar (vgl. Kap. 6 & 8) – prägen scheinbar sowohl das Erleben als auch das Erinnern und Erzählen.

9.2.3 Positionierungen im Kontext Männlichkeit Interessanterweise fallen in Bezug auf das Thema Männlichkeit die Positionierungen der drei von mir interviewten Jugendlichen wesentlich weniger differenziert aus als im Kontext Migration. Sowohl Ahmet als auch Murat und Serdar nehmen hier recht ähnliche Subjektpositionen als Mann ein. Diese zeichnen sich durch eine Mischung aus Täter und Opfer sein aus und sind verknüpft mit traditioneller Härte, Kraft und Körperlichkeit auf der einen Seite sowie mit Passivität und Verletzbarkeit auf der anderen Seite. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich als aktiv und handelnd zu präsentieren, gleichzeitig jedoch auch deutlich zu machen, dass sie Opfer ihrer Affekte wurden und damit in gewisser Weise unschuldig sind. Darüber hinaus ist eine Positionierung als Mann für die Jugendlichen verknüpft mit dem Ideal des männlichen Erwerbsarbeiters und idealisierten Vorstellungen eines männlichen Versorgermodells, das mit dem Kauf von Statussymbolen (Auto und Haus) beginnt und mit der Gründung und Versorgung einer eigenen Familie endet. Besonders ausgeprägt sind solche Zukunftsvisionen bei Murat und Serdar (vgl. Kap. 7 & 8), während sich Ahmet hiermit hauptsächlich am Beispiel seines ältesten, verstorbenen Bruders auseinandersetzt, der all das erreicht hat, was auch Ahmet wichtig scheint (vgl. Kap. 6). Vorstellbar wäre, dass dieser Unterschied im Zusammenhang mit dem Alter der Jugendlichen zu sehen ist, denn Ahmet ist zum Zeitpunkt des Interviews gerade erst 17 Jahre alt geworden, während Murat und Serdar bereits 21 bzw. 20 Jahre alt waren. Möglicherweise spielt die Orientierung an einem gesellschaftlich anerkannten Versorgermodell in der Adoleszenz noch eine geringere Rolle. Es könnte jedoch auch sein, dass sich der Unterschied dadurch erklä391

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ren lässt, dass Murat und Serdar bereits über einen längeren Zeitraum im Gefängnis waren. Uur Tekin (2007: 293 f.) hat darauf hingewiesen, dass Interventionsbemühungen durch Sozialarbeiter/-innen an einem »Normalitätsmythos« ausgerichtet sind, und dementsprechend ließe sich die Orientierung an einem – immer noch als Norm geltenden – Ernährermodell auch als beeinflusst durch die Arbeit der Sozialarbeiter/-innen interpretieren (vgl. Kap. 3.4). Unterschiede zwischen den drei Jugendlichen lassen sich darüber hinaus in Bezug darauf finden, welche Bedeutung dem Thema Männlichkeit im Interview zukommt. Möglicherweise spielt auch hier das Alter der Jugendlichen bzw. jungen Männer eine wichtige Rolle. Auf inhaltlicher und interaktiver Ebene5 wird von Ahmet im Interview permanent Männlichkeit hergestellt. Sie dient ihm sowohl als Selbstverständnis als auch als Ressource und dem entsprechend positioniert sich Ahmet im Interview hauptsächlich als potenter und überlegener oder auserwählter und gleichberechtigter Mann sowie als erfolgreicher, gerechter und auch gewalttätiger Schläger (vgl. Kap. 6). In den Interviews mit Murat und Serdar wird zwar ebenfalls Männlichkeit hergestellt, doch ist hier eine Positionierung als Mann nicht dominant. Sie wird viel mehr überlagert von Positionierungen entlang anderer Differenzlinien; bei Murat von Nationalität bzw. Ethnizität und bei Serdar von sozialstruktureller Benachteiligung/Klasse. Eine Vermutung, die jedoch noch weitergehend verfolgt werden müsste, wäre in dem Zusammenhang, dass diese Positionierungen tatsächlich vom Alter abhängig sind; Adoleszenz also auch im Interview als »heiße Phase der Produktion der Geschlechtlichkeit« (King 2002: 67) fungieren könnte. Eine alternative Erklärung dafür, welche Rolle im Interview der Darstellung und Aneignung von Männlichkeit zukommt, könnte jedoch auch im Zusammenhang mit spezifischen biographischen Erfahrungen gesehen werden. Möglicherweise spielt das Thema Männlichkeit im Interview mit Ahmet eine so zentrale Rolle, da er für sich ein Initiationserlebnis für sein Gewalthandeln konstruiert hat, das im Zusammenhang mit einem Angriff auf seine verletzte

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Die Konstruktion von Männlichkeit auf formaler/grammatikalischer Ebene (vgl. Kap. 3.2.3; Scholz 2003: 145) habe ich im Rahmen dieser Arbeit nicht systematisch untersucht. Im Interview mit Ahmet fällt jedoch auf, dass hier das Thema Männlichkeit vor allem innerhalb von Erzählungen sowie mithilfe von verdichteten Situationen verhandelt wird. Daneben exponierte sich Ahmet als sehr geübter Erzähler, was die Vermutung nahe legt, dass auch im Alltag innerhalb der peergroup mithilfe von Erzählungen Männlichkeit hergestellt wird (vgl. Kap. 6). Es wäre sicherlich spannend, die Frage nach den Erzählmodi mittels derer Männlichkeit im Interview aber auch im Alltag konstruiert wird, noch ausführlicher zu untersuchen.

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Männlichkeit steht.6 Aus dem gleichen Grund könnte eine Positionierung als Mann bei Murat eine untergeordnete Rolle spielen, da das von ihm konstruierte Initiationserlebnis im Zusammenhang mit einer Anrufung als Türke steht.7 Dem entsprechend ist jedoch auch davon auszugehen, dass sich Selbstpositionierungen biographisch verändern können (vgl. hierzu auch Gemende et al. 2007: 29). Neue Erfahrungen können neue Positionierungen in den Vordergrund rücken. Und sich verändernde Diskurse können neue Anrufungen mit sich bringen, an denen sich die Jugendlichen bzw. jungen Männer abarbeiten müssen bzw. in die sie investieren können. Stuart Hall (1994a; 1995a; 1997a) hat dies am Beispiel seiner eigenen Biographie veranschaulicht (vgl. Kap. 4.4.1). Doch im Rahmen empirischer Forschungen handelt es sich hierbei sicherlich um ein Feld, in dem noch Forschungslücken zu schließen sind. So stellt sich beispielsweise die Frage, wann welche biographischen Erfahrungen bzw. sich wandelnde Diskurse zu sich verändernden Positionierungen führen, ob eine bzw. welche subjektive Bedeutung solchen biographischen Erfahrungen bzw. sich wandelnden Diskursen zugemessen wird, und ob beim Sprechen über Ereignisse vor diesen Erfahrungen, die ›alten‹ Positionierungen beibehalten werden. Auch müsste in diesem Zusammenhang sicherlich der Einfluss der Interviewsituation auf Subjektpositionierungen weitergehend untersucht werden; und sei es nur in Bezug auf die Frage, welchen Einfluss das Geschlecht des/der Interviewer/in auf Positionierungen im Interview hat. Sylka Scholz (2003) vermutet in diesem Zusammenhang auf Basis einer eigenen Studie, dass männliche Interviewte in der Regel nicht von sich aus Bezug auf das Geschlecht der Interviewerin nehmen. Sie aktualisierten jedoch die Geschlechterdifferenz, wenn sie sich von der Interviewerin unter Legitimationsdruck gesetzt fühlten. Dies scheint sich auch in den von mir analysierten Interviews zu bestätigen. Allerdings wurde ich sowohl von Ahmet als auch von Murat und Serdar im Interview direkt als Frau angesprochen. Ich gehe daher davon aus, dass Männlichkeit im Interview nicht nur bei Legitimationsdruck, sondern z.B. auch bei Unsicherheit oder einem gegenläufigen Präsentationsinteresse als Ressource fungiert, und außerdem das Alter der Interviewpartner sowie der Altersunterschied zwischen Interviewerin und Interviewten eine wichtige Rolle dabei spielt, ob und in welchem Maße die Geschlechterdifferenz im Interview aktualisiert wird. Es wäre jedoch spannend, dies noch systematischer zu untersuchen.

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Ahmet erzählt im Interview von seiner Beschneidung und einer darauf folgenden Schlägerei. Mit dieser Geschichte markiert er den Zeitpunkt, ab wann er angefangen hat zuzuschlagen, bevor er selbst geschlagen wird (vgl. Kap. 6.4.4). Murat markiert im Interview den Beginn seiner ›kriminellen Karriere‹ mit einer Schneeballschlacht, bei der er als Türke angerufen wird und er daraufhin eine Schlägerei beginnt (vgl. Kap. 7.4.2). 393

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Unabhängig von diesen Unterschieden (und den hiermit zusammenhängenden möglichen Erklärungen) fällt jedoch in Bezug auf das Thema Männlichkeit vor allen Dingen eines auf: Die Jugendlichen positionieren sich in ihren biographischen Erzählungen innerhalb eines dominanten Männlichkeitsdiskurses. Dabei scheinen sie sich an einem Männlichkeitsideal zu orientieren, das zwar weniger Connells Bild hegemonialer Männlichkeit, dafür aber einem möglicherweise derzeit dominanten Ideal von Männlichkeit8 oder zumindest ihrem eigenen Bild einer hegemonialen Männlichkeit entspricht. Dieses zeichnet sich durch eine Mischung aus Stärke und Schwäche aus, wobei die Stärke sich vor allem auf den eigenen Körper bezieht (Muskeltraining) und das Zeigen von Schwäche darauf beruht, auch zugeben zu können, dass man etwas bereut. Darüber hinaus orientieren sich die Jugendlichen an traditionellen bzw. idealisierten Vorstellungen eines männlichen Versorgermodells, das einen Schulabschluss und eine abgeschlossene Ausbildung, einen Job, um Geld zu verdienen, Statussymbole (ein eigenes Auto, ein eigenes Haus) sowie die Gründung einer eigenen Familie beinhaltet. Auf theoretischer Ebene wird schon seit längerer Zeit diskutiert, dass die Frage, was aktuell als hegemoniale Männlichkeit gilt, keinesfalls eindeutig beantwortet werden kann (vgl. z.B. Hearn 2004: 58), und dass es innerhalb einer Gesellschaft möglicherweise mehr als nur eine hegemoniale Männlichkeit gibt (vgl. Meuser/Scholz 2005: 216; Meuser 2006: 169; Kap. 2.4.2).9 Dies heißt jedoch nicht – darauf verweisen Meuser & Scholz (2005: 217) – dass »jedes soziale Milieu und jede Subkultur [...] eine eigene hegemoniale Männlichkeit« formt. Denn der Begriff ›hegemonial‹ mache nur dann Sinn, »wenn mit der in dieser Weise bezeichneten Männlichkeit ein Anspruch auf normative Gültigkeit über das jeweilige soziale Feld hinaus verbunden ist«. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, wann solch ein Anspruch auf milieuübergreifende Gültigkeit gegeben ist. Meuser & Scholz (2005: 217) vermuten, dass sich derzeit hegemoniale Männlichkeit(en) vor allem im technokratischen Milieu des Top-Managements und der Massenmedien konstituiere(n). Sie wenden jedoch auch ein, dass es sich bei der/den »hierzulande gültige(n) hegemoniale(n) Männlichkeit(en)« um eine »nicht markierte Männlichkeit« handelt, deren Schwierigkeit sie zu bestimmen, gerade

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So beschreibt Cordula Dittmer (2009: 242) z.B. das dominante Männlichkeitsideal in der Bundeswehr ebenfalls als eine »Verknüpfung von körperlicher Leistungsfähigkeit, naturgegebener Sexualität und Härte« auf der einen Seite und »Offenheit, Verletzlichkeit, Deeskalation und Opfertum« auf der anderen Seite. Auch Connells eigene Analysen bieten lediglich Anhaltspunkte dafür, was unter hegemonialer Männlichkeit innerhalb einer bestimmten Gesellschaft und zu einer bestimmten Zeit verstanden werden kann (vgl. Connell 2006; Meuser/Scholz 2005: 212).

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ihren Erfolg ausmacht. Nichtsdestotrotz handle es sich um eine »deutsche, weiße, bürgerliche Männlichkeit« (Meuser/Scholz 2005: 225). Von solch einer ›hegemonialen‹ Männlichkeit ist das Männlichkeitsideal der von mir interviewten Jugendlichen weit entfernt. Sie streben nicht an, das Leben eines Top-Managers zu führen oder im Fernsehen eine eigene Show zu leiten. Dazu fehlen ihnen jegliche Bildungs- und auch Distinktionsambitionen. Im Gegensatz hierzu ist das von ihnen angestrebte Ideal geradezu konventionell und konservativ. Dennoch ist es sicherlich ein Ideal, das über das soziale Umfeld der Jugendlichen hinaus normative Gültigkeit besitzt, und insofern zumindest ein Kriterium hegemonialer Männlichkeit erfüllt. Doch auch wenn man nicht so weit gehen möchte in diesem Zusammenhang von einer hegemonialen Männlichkeit zu sprechen, so ist es doch eine, die gesellschaftlich anerkannt ist. Die Jugendlichen verorten sich also in Bezug auf ihre Männlichkeit innerhalb eines dominanten Diskurses und investieren in eine Position traditioneller, aber anerkannter Männlichkeit, die für sie eine Alternative zum (nicht erreichbaren) hegemonialen Männlichkeitsideal in Form des Managertypen darstellt. Interessanterweise spielen bei der ›Ausstattung‹ dieser Männlichkeit der eigene Körper sowie Bildung, Beruf und Vermögen eine wichtige Rolle. Dies alles sind Kategorien, darauf verweisen z.B. Gabriele Winker und Nina Degele (2009: 54 ff.), die ihre naturalisierten Bedeutungen weitgehend verloren haben. Es seien in Bezug auf diese Kategorien gesellschaftliche Diskurse dominant, die »sich den Leistungsdiskursen meritokratischer Klassenideologie an[nähern]« (Winker/Degele 2009: 58). Dabei wird davon ausgegangen, dass der/die Einzelne die Kategorien beeinflussen kann und als »Unternehmer seiner Selbst« (Foucault 2006: 314) bzw. mithilfe von Muskeltraining und Ernährungsplan Status erlangen kann. Indem die Jugendlichen in das von ihnen angestrebte und modifizierte Bild hegemonialer bzw. anerkannter Männlichkeit investieren, investieren sie in ein Feld, in dem sie durch ihr eigenes Tun (scheinbar) ihren Status verbessern können. Dies kann fatale Folgen haben, denn die Chancen, ohne Ausbildung eine (längerfristige) Anstellung zu finden und genügend Geld zu verdienen, um eine Familie zu ernähren, sind nicht gerade hoch (vgl. hierzu auch King 2002: 242; Spindler 2007b). Und es liegt eben – entgegen der gesellschaftlichen Diskurse – nicht nur in der Eigenverantwortung der Jugendlichen, ob sie trotz steigender Arbeitslosenzahlen und prekärer Beschäftigungsverhältnisse ihr Ziel (auf legalem Weg) erreichen können. Hier zeigt sich die Verwobenheit von Ethnizität, Geschlecht und sozialstruktureller Benachteiligung besonders deutlich. Bei den Positionierungen der Jugendlichen im Kontext Männlichkeit spielt dies alles jedoch keine Rolle. Die scheinbare Möglichkeit, an anerkannter Männlichkeit partizipieren zu können, verführt dazu, sich innerhalb eines 395

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dominanten Diskurses zu positionieren. Es scheint sich hier eine (legitime) Möglichkeit zu eröffnen, an die Vorstellungen (eines Teils) der Mehrheitsgesellschaft anknüpfen zu können und nicht als Anderer angerufen zu werden. Hinzu kommt, dass die Wirksamkeit des hegemonialen Ideals die Konstruktion alternativer Formen von Männlichkeit verhindert, innerhalb derer sich die Jugendlichen verorten könnten (vgl. Kap. 2.4.3; Phoenix/Frosh 2005: 33 f.). Und genau hierin liegt das Problem: Denn was passiert, wenn die jungen Männer das von ihnen angestrebte Bild hegemonialer bzw. anerkannter Männlichkeit nicht erreichen? Bei den Positionierungen im Kontext Männlichkeit findet sich in den Interviews kein strategischer, spielerischer oder ambivalenter Umgang wie sich dies bei den Positionierungen im Kontext Migration rekonstruieren lässt. Denn in Bezug auf eine Position als Anderer, Türke oder Muslim kämpfen die jungen Männer gegen die Diskursmacht an und es lassen sich besonders deutlich die Möglichkeiten der Handlungsmacht herausarbeiten. Die Positionen werden von den jungen Männern lediglich strategisch und im Zusammenhang mit bestimmten biographischen Erfahrungen bzw. zur Erklärung von bestimmten Zusammenhängen (z.B. wie es dazu kam, dass sie straffällig wurden) genutzt. In anderen Zusammenhängen verweigern sie jedoch eine solche Positionierung oder nehmen sie auf eine Weise an, die ihren Widerstand zum Vorschein bringt. Im Kontext Männlichkeit nutzen die von mir interviewten jungen Männer hingegen weit weniger die Möglichkeiten der Handlungsmacht. Unter Umständen lässt sich dies damit erklären, dass es im Kontext Migration alternative Positionierungen im gesellschaftlichen Diskurs gibt, die zum Teil z.B. auch von Identifikationsfiguren aus Filmen, Rap oder Hip Hop eingenommen werden (vgl. Kap. 8). In Bezug auf Männlichkeit gibt es solche alternativen Positionierungen jedoch scheinbar nicht, und gerade die Identifikationsfiguren aus Filmen, Rap oder Hip Hop unterstützen womöglich die Wirksamkeit des hegemonialen Ideals. Dies alles sind nur Vermutungen, die weitergehend untersucht und diskutiert werden müssten. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass die Diskursmacht im Kontext Migration den Jugendlichen weit weniger gefährlich wird als die Diskursmacht im Kontext Männlichkeit, wobei dies wiederum mit sozialstruktureller Benachteiligung, Diskriminierung und Stigmatisierung, also mit der Verwobenheit von Differenzlinien zusammenhängt.

9.3 Biographieanalyse als Diskursanalyse Die Analyse zeigte sehr deutlich, dass im Interview unterschiedliche Subjektpositionen eingenommen werden können, in die – je nach diskursivem Kontext – investiert wird oder auch nicht. Dabei spiegeln sich die gesellschaftli396

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chen Diskurse zum Zusammenhang zwischen Migration, Männlichkeit und Kriminalität in den Interviews wider: Es werden Subjektpositionen eingenommen, die den dominanten Erklärungsansätzen entsprechen, und die eigene Kriminalität wird wahlweise mit der Nationalität, Kultur, Religion oder dem benachteiligten Sozialstatus erklärt. Es wurde jedoch deutlich, dass der Einzelne in den jeweiligen Subjektpositionen nicht aufgeht, und Biographien sich immer durch eine Vielzahl unterschiedlicher und sich zum Teil auch widersprechender Subjektpositionen auszeichnen. Mithilfe der intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen konnte darüber hinaus analysiert werden, wann in welche Position investiert wird und wann es den jungen Männern auch möglich ist, alternative Positionierungen einzunehmen. Darüber hinaus ließen sich die Möglichkeiten der Handlungsmacht aufzeigen, wenn vordergründig eine Position eingenommen, aber gleichzeitig deutlich gemacht wurde, dass dies nur strategisch erfolgt bzw. die Position nur eingenommen wird, um dagegen anzukämpfen. Allerdings – und dies scheint mir bei aller Begeisterung in Bezug auf die Möglichkeiten der Handlungsmacht wichtig zu betonen – wäre es wohl verkürzt, solche Praktiken primär als Praktiken der Selbstermächtigung und des Widerstands zu begreifen (vgl. hierzu auch Winter 2001: 317). Denn gerade das Kämpfen gegen oder strategische Annehmen einer Subjektposition macht deutlich, wie groß der Einfluss gesellschaftlicher Diskurse über Migration, Männlichkeit und Kriminalität ist. Die Anerkennung von Handlungsmacht im Zusammenspiel von Diskurs und Subjekt darf also nicht dazu führen, »die Macht von unten unkritisch zu feiern und die weiterhin bestehenden Strukturen von Herrschaft und Unterdrückung zu vernachlässigen« (Winter 2001: 317; vgl. auch Mecheril/Hoffarth 2006: 234 ff.). Individuen leisten in ihrem alltäglichen Handeln Widerstand. Sie besetzen unterschiedliche Subjektpositionen im Diskurs, die sich zum Teil auch widersprechen können und verlassen diese wieder. Im Zusammenhang mit bestimmten biographischen Erfahrungen, situativen Bedingungen und sich verändernden Diskursen wechseln sie zwischen Subjektpositionen, füllen diese auf unterschiedliche Weise aus oder kämpfen gegen sie an. Dies alles geschieht jedoch im Rahmen von Herrschafts- und Machtstrukturen, die sie nicht selbst bestimmen. Die aktiven Positionierungsmöglichkeiten – das zeigten vor allem die Positionierungen im Kontext Männlichkeit und hierauf verweist auch Hall (u.a. 1994c; 1999) sehr dezidiert – sind immer eingegrenzt durch die je spezifische historische Situation (vgl. auch Kap. 4.3.3; Räthzel 2000: 136; Supik 2005: 112). So lässt sich mithilfe der intersektionellen Analyse von Biographien als Artikulationen sehr deutlich der Einfluss herrschender Diskurse auf biographische Erzählungen herausarbeiten, wobei diese von den Jugendlichen nicht nur reproduziert, sondern auch produziert werden. Denn durch das Einnehmen einer Position als Türke/Muslim/Anderer werden z.B. kulturalisierende 397

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und ethnisierende Diskurse verfestigt. Dies heißt jedoch nicht, dass durch die von den Jugendlichen eingenommenen Positionierungen alle dominanten Diskurse bestätigt werden. Denn eine Positionierung als Türke ist noch kein Indiz für eine Traditionalisierung bzw. (Re-)Ethnisierung. Und eine Positionierung als sozialstrukturell benachteiligt bedeutet nicht, dass dies der ›wahre‹ Grund wäre, warum Jugendliche mit eigener oder familiärer Migrationsbiographie straffällig werden. Insofern lässt sich eine intersektionelle und diskurstheoretisch fundierte Analyse von Biographien als ein Schritt zur Sensibilisierung von Biographieanalysen verstehen. Es geht darum, im Interview eingenommene Positionierungen zu hinterfragen und nach deren Funktion sowie den darin eingebetteten Herrschaftsdimensionen zu fragen. Eine so konzipierte Biographieanalyse ist daher immer auch als Diskursanalyse zu verstehen. Mithilfe der methodischen Modifikationen bei der strukturalen biographischen Fallrekonstruktion lassen sich gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen der Produktion von Biographien aus den Biographien heraus strukturell beschreiben und rekonstruieren. Dies heißt nicht, dass Biographieanalysen Diskursanalysen ersetzen können. Denn es wurde im Rahmen dieser Arbeit deutlich, wie hilfreich es ist bzw. gewesen wäre, auf bestehende Diskursanalysen zum Thema zurückgreifen zu können. Aber Biographienanalysen können eben auch Aussagen über Diskurse treffen. Darüber hinaus lassen sich mithilfe von Biographieanalysen die Macht von Diskursen sowie die Möglichkeiten von Handlungsmacht bestimmen. Denn durch die intersektionelle Analyse von Positionierungen im Interview und das Herausarbeiten der Möglichkeiten, wie diese im Interview gefüllt oder auch bekämpft werden, lassen sich Aussagen darüber treffen, welche gesellschaftlichen Diskurse derzeit dominant sind und inwiefern diese bekämpft werden können. Dies ist ein Aspekt, der in Diskursanalysen bisher meist noch zu kurz kommt, was meines Erachtens auch damit zusammen hängt, dass das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt noch zu wenig erforscht und hinterfragt wurde. Insofern verstehe ich meine Arbeit als einen Beitrag zur Weiterentwicklung von Diskurs- und Biographieforschung.

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Transkriptionszeichen

, (3) nei:n wa::rum ((lachend)) \((lachend)) ja so war das\ nein NEIN manch´selten´ ( )

(sagte er) dann=sind=wir /mhm/ B: Ja das #war das Ende# I: #wie war denn#

kurzes Absetzen Dauer der Pause in Sekunden Dehnung des Vokals starke Dehnung des Vokals Kommentar der Transkribierenden kommentiertes Phänomen betont laut Abbruch leise Inhalt der Äußerung ist unverständlich; Länge der Klammer entspricht ca. der Dauer der Äußerung unsichere Transkription schneller Anschluss Rezeptionssignal der Interviewerin gleichzeitiges Sprechen ab #

433

Dank

Ohne die Unterstützung und den Beistand verschiedener Personen wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ich möchte mich daher bedanken bei Helma Lutz und Wolfram Fischer für die Begleitung und intensive Betreuung der Arbeit von Anfang an, ihre vielen Hinweise und das gemeinsame Arbeiten in den Kolloquien. Ein besonderer Dank gilt meinen Interviewpartnern und -partnerinnen, die bereit waren, mir ihre Lebensgeschichten zu erzählen und Uwe Diehl für die Vermittlung der Kontakte. Darüber hinaus möchte ich mich bei meiner Familie und allen Freunden, Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen bedanken, die mir in den letzten vier Jahren zur Seite standen, mit mir interpretiert, diskutiert und überlegt haben: bei Maja Apelt, Dirk Bayas-Linke, Hagen Büxel, Sarina Fuest, Christine Gesell, Martina Goblirsch, Nelly del Carmen González Tapia, Maria Teresa Herrera Vivar, Katrin Huxel, Juliane Karakayal, Dede Kaya, Gülay Kaya, Anke Neuber, Ewa Palenga-Möllenbeck, Elise Pape, Kalle Richstein, Petra Rostock, Linda Supik, Elmar Schwedhelm, Zebiba Teklay, Elisabeth Tuider sowie den Mitgliedern meines Kasseler Kolloquiums. In ganz besonderer Weise möchte ich mich bei Cordula Dittmer bedanken, die mir immer wieder Rückmeldung und Rückhalt gegeben hat, und bei Arne – danke für alles.

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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Dezember 2010, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9

Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns Juni 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6

Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität November 2010, 136 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9

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Kultur und soziale Praxis Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur November 2010, 230 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1563-0

Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm August 2010, 188 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7

Ayfer Yazgan Morde ohne Ehre Der Ehrenmord in der modernen Türkei. Erklärungsansätze und Gegenstrategien Dezember 2010, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1562-3

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Kultur und soziale Praxis Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge Januar 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1

Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft Mai 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5

Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten August 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5

Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion Januar 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5

Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration November 2010, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1386-5

Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo Juli 2010, 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4

Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltags-Mobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten Dezember 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2

Martina Grimmig Goldene Tropen Zur Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana Januar 2011, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6

IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus Juli 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0

Anne-Christin Schondelmayer Interkulturelle Handlungskompetenz Entwicklungshelfer und Auslandskorrespondenten in Afrika. Eine narrative Studie August 2010, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1187-8

Asta Vonderau Leben im »neuen Europa« Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus Juni 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1189-2

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