Metamorphosen: Ein halbes Jahrhundert und der Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm [1 ed.] 9783428556885, 9783428156887

Metamorphosen – Die Geschichte des Rotary-Clubs Berlin-Kurfürstendamm im Spiegel der Zeit. Der Club wurde am 30. Novembe

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Metamorphosen: Ein halbes Jahrhundert und der Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm [1 ed.]
 9783428556885, 9783428156887

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Metamorphosen Ein halbes Jahrhundert und der Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm

Herausgegeben von Joachim Wanjura

Duncker & Humblot · Berlin

Metamorphosen

Metamorphosen Ein halbes Jahrhundert und der Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm

Herausgegeben von Joachim Wanjura

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-15688-7 (Print) ISBN 978-3-428-55688-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Zum Geleit Verehrte Leserinnen und Leser, Sie halten eine Sammlung von Text- und Bildbeiträgen in Ihren Händen, welche die Mannigfaltigkeit unseres Rotary Clubs, unserer Mitglieder sowie von Berlin erahnen lässt. Ein halbes Jahrhundert hinsichtlich einer Stadt Revue passieren zu lassen, die eine außer­ ordentlich bewegte Geschichte hat, die politisch nicht immer stringent, kulturell auf hohem Niveau kreativ und vom Lebensgefühl ihrer Bürgerinnen und Bürger urban und weltoffen ist, scheint ein gewagtes Unterfangen. Für Berlin ist vor allem der Wandel, die ständige Bewegung kennzeichnend und manchmal auch das genaue Gegenteil, der Stillstand. In diesem Bewusstsein haben wir den Vorschlag von Freund Joachim Wanjura, diesen Jubiläumsband mit dem Titel „Metamorphosen“ zu versehen und alle Beiträge der Veränderung und Entwicklung zu widmen, sehr begrüßt. Gleichwohl soll keinesfalls die Geschichte der Stadt und einer ihrer RotaryClubs, der als Spandau gegründet wurde und schließlich auch namentlich in Charlottenburg angekommen ist, umfassend dokumentiert werden. Vielmehr geht es um den informativ-unterhaltenden Aspekt einer solchen Textsammlung für die Verfasser wie für die Leser. Sie finden sowohl Beiträge zu clubspezifischen Themen als auch solche, die aus der Sicht des jeweiligen Autors und der jeweiligen Autorin allgemeine Themen ethischer, geschichtlicher, politischer, rechtlicher, medizinischer und ökonomischer Art behandeln. Diese thematische Vielfalt resultiert aus den kreativen, empathischen und fachlich außerordentlich kompetenten Köpfen, die wir zu unseren rotarischen Freundinnen und Freunden zählen dürfen. Sie tragen neben unseren Referenten und Referentinnen immer wieder dazu bei, dass jedes Meeting ein kleiner Höhepunkt der Woche wird. Neben diesen Meetings und der Freundschaftspflege sind es vor allem soziale, kulturelle und Bildungsprojekte, die wir mit finanziellen Zuwendungen und Hands-On-Maßnahmen unterstützen. Wir leben in einer Zeit zunehmender Globalisierung und Digitalisierung, in der die Erkenntnis wächst, dass die Menschheit ihr gesamtes Potenzial entfalten muss, um einer wachsenden Weltbevölkerung, Umweltzerstörung und den dadurch bedingten sozialen wie ökonomischen Konflikten etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Dafür ist die Bewahrung einer Wertegemeinschaft gesellschaftlich unabdingbar, so wie sie von Rotary International gedacht und gelebt wird. Dabei geht es nicht nur theoretisch um die Pflege und Entwicklung ethischer Werte, wie Humanität, Empathie, Toleranz, Hilfs-

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Zum Geleit

bereitschaft, Frieden, sondern um konkrete Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wirtschaft, Kultur, die diese Werte praktisch erfahrbar machen und die Chancengerechtigkeit über nationale Grenzen hinaus befördern sollen. Unser Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm ist – wie zahlreiche andere Rotary Clubs dieser Welt – ein Teil von Rotary International und schätzt sich glücklich, in dieser Wertegemeinschaft mitwirken zu dürfen. Abschließend bleibt mir nur, allen, die an diesem Jubiläumsband als Heraus­ geber, Autoren, Ratgeber und technische Begleiter mitwirkt haben, sehr herzlich zu danken. Ohne ihren unermüdlichen Einsatz würde uns das Vergnügen der Lektüre entgehen, was sehr schade wäre. August 2020

Stefanie Lejeune Präsidentin 2020/21

Grußwort des Governors Liebe Freundinnen und Freunde, Sommer 1995: Als unser Distrikt 1940 aus dem Nachbardistrikt 1890 hervorgeht, ist Ihr Rotary Club bereits 25 Jahre alt. Bis zur Wiedervereinigung von Ost und West hatten Sie schon 20 Jahre mit wenigen anderen Clubs in Berlin die rotarische Idee gelebt. Schon damals war es Ihr Anliegen, die Werte Rotarys in Wort und Tat kraftvoll zur Geltung zu bringen. Dass unser Distrikt in den vergangenen 25 Jahren eine bedeutende Entwicklung genommen hat, ist auch maßgeblich Ihnen zu verdanken: Mit 44 Clubs gingen wir 1995/1996 in die Selbständigkeit und sind inzwischen auf 92 Clubs mit mehr als 4000 Freundinnen und Freunden angewachsen. Ihr Club hat insbesondere das Zusammenwachsen unser Hauptstadt befördert, indem Sie weitere Clubs sowohl in Berlin selbst – nämlich Berlin-Humboldt und Berlin-Adlershof –, aber auch im Umland, dort in Fürstenwalde und auf Usedom, gegründet und andere Gründungen unterstützt haben. Das Motto „unseres“ RI-Präsidenten Holger Knaack, der gerade in Ihrem Jubiläumsjahr 2020/2021 amtiert, lautet: Rotary eröffnet Möglichkeiten Das Motto ist neu, fasst jedoch nur zusammen, was aktive Rotarier schon immer vorgelebt haben. Wenn man die Leistungen Ihres Clubs Revue passieren lässt, drängt sich der Eindruck auf, dass Sie schon immer an diesem Motto Ihr Clubleben ausgerichtet haben: Sie haben immer nach Möglichkeiten der Unterstützung vieler Einrichtungen gesucht, aber auch die Freundschaft innerhalb des Clubs gepflegt. Mit der internationalen Verbindung zu Ihrem Kontaktclub in Paris leben Sie die rotarischen Ideale auch über die Grenzen Deutschlands hinaus und sind hierbei Vorbild für jüngere Rotary-Generationen. Dabei ist Ihr Club jung geblieben und setzt die sich bietenden Möglichkeiten um, auch und gerade in einer Zeit, die durch die Corona-Pandemie erhebliche Einschränkungen mit sich bringt. Einschränkungen, die uns aber nicht daran hindern können, neue Möglichkeiten von Clubtreffen auf elektronischem Wege zu nutzen und auch über die territorialen Grenzen hinaus die Kontakte aufrechtzuerhalten.

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Grußwort des Governors

Ich wünsche Ihrem Club zum 50. Geburtstag alles Gute und für die nächsten Jahre ein stetes und gesundes Wachsen und Gedeihen innerhalb der weltweiten rotarischen Gemeinschaft, denn Rotary verbindet nicht nur die Welt, es macht auch Freude.

Edgar Friedrich Governor 2020/2021

Grußwort des Präsidenten Rotary International Liebe Freundinnen und Freunde des Rotary Clubs Berlin-Kurfürstendamm, Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Club-Jubiläum! Ich freue mich sehr, dass ich während meiner Amtszeit als Präsident von Rotary International Ihrem Rotary Club zum 50-jährigen Bestehen gratulieren kann. Mit der Gründung am 30. November 1970 als Rotary Club BerlinSpandau gehört Ihr Club zu den fünf ältesten Clubs Berlins. Er zählt aber nicht nur zu den ältesten, sondern ist heute auch der zweitstärkste Club in der Riege der inzwischen 31 Berliner Rotary Clubs. Aus Ihren 21 Gründungsmitgliedern wurden inzwischen rund 100 Mitglieder. Nach der Wende hat Ihr Club eine besondere Rolle beim Aufbau von Rotary im wiedervereinigten Deutschland gespielt: Sie haben die vier Rotary Clubs Fürstenwalde, Usedom, Berlin-Humboldt und Berlin-Adlershof ge­ gründet und damit auch über die Berliner Stadtgrenzen hinaus zum Wachsen unserer rotarischen Familie beigetragen. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich. Für mich ist Rotary nicht nur ein Club, dem man beitritt, sondern eine Einladung zu unendlichen Möglichkeiten. Bei Rotary findet man Freunde fürs Leben. Wo immer wir auf der Welt sind, begegnen wir Rotarierinnen und Rotariern, mit denen man eine Verbindung und eine Freundschaft aufbaut. Wir sind Menschen mit unterschied­ lichen Hintergründen, Sprachen und Kulturen, und Menschen aus verschiedenen Generationen – und diese Vielfalt macht uns stark. Auch Ihr Club lebt dies intensiv, zum Beispiel durch mehrere Club-Partnerschaften in verschiedenen Ländern. Ich weiß, dass in ihrem Club der Freundschaft und persön­ lichen Integrität als Grundlage ihrer Wertegemeinschaft besondere Bedeutung zukommt. Ihr Club hat sich im Laufe der Jahrzehnte vielen Herausforderungen gestellt und ist auch in den aktuell schwierigen Covid-19-Zeiten aktiv geblieben. Ja, wir befinden uns in einer Zeit des Wandels. Vor allem die aktuelle Pandemie-Situation zeigt einmal mehr, dass wir nicht stillstehen und uns mit dem bisher Geleisteten zufriedengeben dürfen. Wir müssen den Moment nutzen, um Rotary stärker und anpassungsfähiger und nicht zuletzt weiblicher zu machen.

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Grußwort des Präsidenten Rotary International

Als Ziel meines Amtsjahres als Rotary International Präsident möchte ich, dass das Potenzial von Rotary mehr ausgeschöpft wird. Rotary eröffnet Möglichkeiten für andere und für uns selbst. Durch unsere Projekte schaffen wir Chancen für Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Und das wiederum gibt uns Möglichkeiten zur Entfaltung und Inspiration. Möglichkeiten, anders zu denken, etwas zu bewegen und mehr Gutes zu tun durch Rotary. In diesem Sinne danke Ihnen für Ihr Engagement seit nunmehr fünf Jahrzehnten und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. In Rotary können wir gemeinsam Großartiges erreichen!

Holger Knaack Rotary International President 2020/21

Zu diesem Buch Die Geschichte des Rotary-Clubs Berlin-Kurfürstendamm im Spiegel der Zeit Eine Chronik sollte es werden. Mit diesen Worten hat Hans Storck seine Festschrift zum 25jährigen Club-Bestehen eingeleitet. So lautete auch der Auftrag durch den Vorstand im Herbst 2018. Und wie es Michael Schoenholz in seinem Vorwort 1995 formulierte, soll dieses Buch wieder ein in vielen Facetten gebrochener Spiegel sein, der das vergangene halbe Jahrhundert von verschiedenen unterschiedlichen Standpunkten aus reflektiert. Und es galt, die Geschichte des Clubs für nachfolgende Generationen zu bewahren Ausgehend vom Vortrag unseres Gründungspräsidenten Günter Dlugos, in dem die Atmosphäre des Gründungsjahres erlebbar wird, spiegeln die nachfolgenden Beiträge die Metamorphosen der folgenden 50 Jahre in unterschiedlichen Lebensbereichen. Alle 50 Präsidenten schildern ihr Präsidentenjahr. Zur Geschichte des Clubs gehören auch die Gründungen von neuen Rotary-Clubs, die Partnerschaften und unsere Reisen. Volker Wieprecht hat die Arbeit von Lutz Krieger fortgesetzt und für jedes Präsidentenjahr den Zeitbezug hergestellt. Für die Dokumentation der über die Jahre gesammel-

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Zu diesem Buch

ten Wimpel sorgte Ralf Zürn. Besonderer Dank gilt Florian Simon, der in der Nachfolge seines Vaters die Gestaltung und den Druck übernommen hat. Diese Festschrift ist eine Dokumentation des Vergangenen, auf das wir mit Stolz zurückblicken. Zugleich ist sie aber auch eine Herausforderung für die Zukunft.

Joachim Wanjura

Inhalt

I. Der Beginn

17

Die Verunsicherung einer Generation Ansprache von Günter Dlugos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21



II. Metamorphosen

31

Metamorphosen Von Wolfgang Huber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Geteilt und vereint: Berliner Architektur- und Stadtgeschichte in acht Kapiteln Von Kerstin Wittmann-Englert (Text) und Alfred Englert (†) (Fotos)  . . . . . . 42 Alles ist richtig, auch das Gegenteil Von Lutz Krieger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Einsatzlage Mauerfall Von Georg Schertz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1970–2020: Ein Blick auf fünfzig Jahre deutsche – und Berliner – Geschichte Von Joachim Rickes und Horst Risse  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die Metamorphosen des Politischen Von Wolfgang Renzsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Gynäkologie und Geburtshilfe in den letzten 50 Jahren Von Uwe Andreas Ulrich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die Kardiologie im Laufe der letzten 50 Jahre: Metamorphose eines vormals konservativen Faches Von Karl Stangl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Metamorphose der Banken in 50 Jahren Von Peter Rohrer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1970 – Gründungsjahr des RC-Spandau und Geburtsjahr des westdeutschen Umweltrechts Von Michael Kloepfer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

14 Inhalt Metamorphosen Rotarys während eines halben Jahrhunderts Von Klaus-Heinrich Standke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Damals war’s – Geschichten aus dem alten Berlin Von Eberhard Gottwald  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148



III. Die Präsidenten

173

1970–1972

Günter Dlugos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

1972–1973

Klaus Hahn  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

1973–1974

Werner Schlungbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

1974–1975

Joachim Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

1975–1976

Hans Jochen Osterhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

1976–1977

Heinz-Dieter Prüske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

1977–1978

Klaus Hendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

1978–1979

Klaus Meyer-Belitz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

1979–1980

Hans-Eckhardt Heuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

1980–1981

Klaus Osterhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

1981–1982

Gustav Klipping  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

1982–1983

Fritz Busch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

1983–1984

Peter Westphal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

1984–1985

Gerhard Bügler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

1985–1986

Georg Schertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

1986–1987

Hans Storck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

1987–1988

Ernst Niederleithinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

1988–1989

Johann Peter Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

1989–1990

Eberhard Grabitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

1990–1991

Klaus-Peter Hellriegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

1991–1992

Dieter Biewald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

1992–1993

Karl J. Thomé-Kozmiensky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

1992/93

Zugleich Governor-Jahr unseres Clubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

1993–1994

Nils Clemm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

1994–1995

Alfred Englert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

1995–1996

Michael Schoenholtz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

1996–1997

Martin Rabenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Inhalt15 1997–1998

Karl-Wolfgang Göritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

1998–1999

Norbert Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

1999–2000

Klaus Riebschläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

1999–2000

Ein weiteres Governor-Jahr für unseren Club! . . . . . . . . . . . . . . . . 293

2000–2001

Constantin E. Orfanos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

2001–2002

Joachim Wanjura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

2002–2003

Stefan Großekettler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

2003–2004

Günter Fuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

2004–2005

Bernhard Krewerth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

2005–2006

Nils Busch-Petersen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

2006–2007

Knut Henne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

2007–2008

Manfred Erhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

2008–2009

Bernd Wolfgang Lindemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

2009–2010

Eugen Wollfarth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

2010–2011

Heimo Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

2011–2012

Matthias Rumpelhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

2012–2013

Antonio Schnieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

2013–2014

Thomas Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

2014–2015

Frank Schöppach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

2015–2016

Julia Tophof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

2016–2017

Jan Dreher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

2017–2018

Carmen v. Schöning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

2018–2019

Bruno-Marcel Mackert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

2019–2020

Andreas Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362



IV. Kinder und Verwandte

365

Rotary Club Usedom Von Kay Kischko  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Rotary Club Fürstenwalde (Spree) Von Bernd Leuthold  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Rotary Club Berlin-Humboldt Von Christof Rek  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Rotary Club Berlin-Adlershof Von Eberhard Stens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

16 Inhalt Verwandtschaften Von Wolfgang Renzsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377



V. Rotarisches

381

Der Club als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Reflexionen – eine nicht ganz ernst zu nehmende Analyse  Festvortrag von Günter Dlugos zum 25-jährigen Charterjubiläum des RC Berlin-Spandau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sich einen Namen verdienen … Festvortrag von Hinrich Lühmann zur Charterfeier des Rotary Club Berlin-Humboldt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Die Geschichte der Vier-Fragen-Probe Von Herbert J. Taylor  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm On Tour Von Stefan Großekettler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 Der Club und die Waldbühne Von Stefan Großekettler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414



VI. Präsenzen

417

I. Der Beginn

Urkunde der Charter des Rotary Clubs Berlin-Spandau

Die Verunsicherung einer Generation Ansprachen anläßlich der Charterfeier des Rotary Clubs Berlin-Spandau am 11. September 1971 Ansprache von Günter Dlugos Wie spät ist es? Vor einigen Wochen berichtete die Presse über eine „Straßenverkehrsordnung“ linksextremistischer Gruppen, in der die umfassende Propaganda für den bewaffneten Kampf als nächster Schritt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und die Bildung militanter Kommandogruppen von drei, fünf oder zehn Personen gefordert wird. Die Initiatoren dieses Aufrufs halten die Organisation bewaffneter Widerstandsgruppen zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Bundesrepublik und in Westberlin für richtig, möglich und gerechtfertigt. Sie sehen im bewaffneten Kampf die höchste Form des Marxismus-Leninismus. Die Initialzündung erwarten sie nicht vom Proletariat, sondern von der Jugend, die weitgehend in einem Generationenkonflikt steht, und von den Studenten, in denen sie einen wichtigen avantgardistischen Teil des antikapitalistischen Lagers sehen. Bundesinnenminister Genscher hielt es für notwendig, in einer vor wenigen Tagen in Kassel gehaltenen Rede warnend zu betonen, daß die Bundesregierung die Gewaltanwendung als Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht hinzunehmen gedenke und daß sie den radikalen Kräften und der Pervertierung der politischen Auseinandersetzung mit allen Mitteln begegnen werde. Wenn wir auch davon ausgehen können, daß Terror gegenwärtig nur von einer sehr kleinen Gruppe befürwortet wird, so ist es für uns doch hoch an der Zeit, die politische Verantwortung zu erkennen, die wir für dieses Gemeinwesen zu tragen verpflichtet sind. Mit der organisierten Androhung des Guerillakampfes auch in unserer Stadt zur Austragung der als antagonistisch eingeordneten Klassengegensätze und zur Verwirklichung der Revolution ist ein Höhepunkt der Eskalation erreicht, die mit der Infragestellung unserer Gesellschaftsordnung und mit Bemühungen um unsere verbale Verunsicherung begann.

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Günter Dlugos

Wer sind wir? Als Bezugsgruppe der verbalen und der angedrohten militanten Verun­ sicherung fungieren in erster Linie die 40- bis 60-jährigen, die tragende Stützen jeder Gesellschaft sind. In Deutschland haben die Älteren dieser Gruppe erlebt, wie ihren Vätern der demokratische Ansatz unter den Händen zerrann. In Deutschland ist diese Gruppe weitgehend mit Jungschaftsabenden und ideologischer Schulung aufgewachsen und hat die Militanz der Dogmatisierung und Fanatisierung erfahren, auch getragen und erlitten. Sie hat den Zusammenbruch einer Ideologie erlebt. Sie hat den Totalitarismus verabscheuen gelernt und sich der Idee einer liberalen Erziehung ihrer Kinder geöffnet. Sie, der eben diese Folgegeneration bewaffnete Gewalt zur Durchsetzung einer anderen Diktatur, die auszuüben oder zu erleiden ihr erneut zugemutet wird, androht. Was taten wir? Wir arbeiteten. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch für die nackte Existenz. Nach der Währungsreform für ein schrittweises wirtschaftliches Wachstum in einer Marktwirtschaft, die wir Soziale Marktwirtschaft nannten, weil sich der absolute Anteil aller am Sozialprodukt mit wachsendem Sozialprodukt eindrucksvoll vergrößerte. Ludwig Erhards Programm „Wohlstand für alle“ nahm reale Formen an, und wir konnten konstatieren, daß sich das Wirtschaftssystem, dem wir uns verschrieben hatten, bewährt. Wir waren ausgefüllt von dem Ziel, die Spanne zwischen Wünschen und realen Möglichkeiten zu verringern und wurden von der Erfahrung geprägt, daß zwischen „Wohlstand für alle“ und intensiver Arbeit aller ein enger Konnex besteht. Die wirtschaftliche Entwicklung, der unser Engagement galt, vollzog sich vor dem Hintergrund politischer Stabilität. Mit den Vorzügen der den Dilettantismus verdrängenden Arbeitsteilung vertraut, überließen wir die Politik den Politikern unserer und der älteren Generation und beschränkten uns im wesentlichen darauf, unser Recht und unsere Pflicht zur Kontrolle in Form der globalen Wahlentscheidung zu erfüllen. Wir waren wachsam genug, totalitäre Ansätze in ihre Schranken zu verweisen, und wir sind uns bis heute auf Grund unserer Erfahrung sicher, mit unserer geschmähten und verdächtigten parlamentarischen Demokratie über eine Staatsform zu verfügen, die von den be stehenden Möglichkeiten die beste und die ausbaufähigste Versicherung gegen Machtmißbrauch ist. Es hätte für unsere zornige Jugend fatale Folgen, wollte sie sich darauf verlassen, daß wir vor Wohlstandsinteressen die Gefährdung dieser Versicherung gegen Machtmißbrauch übersehen werden.



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Wie sicher können wir uns des rechten Weges sein? Wir machen Fortschritte auf dem Wege zum Wohlstand für alle, wir geben im Rahmen der Arbeitsteilung zwischen Politikern und Nichtpolitikern alle vier Jahre unsere globale Zustimmung oder Ablehnung ab und bekennen uns zu unserer Staatsform, die wir erhalten wollen. Reichen Fortschritte auf dem Weg zum Wohlstand für alle aus? Wohlstand ist zweifelsfrei kein Endziel, denn Wohlstand als Verfügungsrecht über ­reichlich vorhandene knappe Güter ist lediglich Mittel zur Erfüllung menschlicher Wünsche. War es richtig, eine kaum noch übersehbare Fülle von Konsumwünschen zu provozieren, das Auffinden idealistischer Alternativen der Selbstverwirklichung aber der Phantasiebegabung des einzelnen zu überlassen? Hat uns das Wissen von der Gefahr einer neuen Ideologisierung, insbesondere der jungen Generation, gehindert, oder haben wir das Problem nicht gesehen, oder wollten wir das Problem nicht sehen? Was verstehen wir unter „Wohlstand“ und unter „alle“? An welche Interpretation haben wir uns gewöhnt? Ist Wohlstand bereits mit satt, warm, trocken umrissen, oder für wie viele ist Wohlstand etwa doch noch nicht erreicht? Sind „alle“ die, die in unserem Gemeinwesen arbeiten oder auch die, die nicht arbeiten können? Gehören Menschen jenseits unserer Grenzen auch dazu? Haben wir auch diesen zu helfen, ihre Not zu überwinden, und sind wir überzeugt, in unseren Kräften Stehendes getan zu haben? Ist es ausreichend, wenn wir uns alle vier Jahre durch unser „Ja“ oder „Nein“ global zum praktizierten und geplanten politischen Handeln äußern, oder kommen wir nicht umhin, uns auch einzelner Teilfragen des Näheren anzunehmen? Wir hören von Staatswesen, deren rechtlich gesicherte Ordnung der Perversion einer menschenwürdigen Ordnung nahekommen dürfte. Sind wir uns sicher, daß unsere rechtlich fixierte Ordnung nicht die geringste Perversion zuläßt und daß auch für eine ungeduldige und vordergründig informierte Jugend kein Anlaß besteht, sich der Ideen eines Fanon oder Che Guevara zu verschreiben? Genügt es schließlich, uns zu unserer Staatsform zu bekennen und zu behaupten, daß sie von den bestehenden Staatsformen die beste und die ausbaufähigste sei? Wir stellen im wesentlichen nur fest, daß wir im Marxismus keine Alternative sehen könnten. Wir belegen jedoch die Entwicklungsmöglichkeiten, die in unserer Gesellschaftsordnung stecken, nicht überzeugend genug und enthalten uns vergleichender Darstellungen des Erreichten, als hätten wir den Vergleich zu scheuen. Wir haben es versäumt, unsere Jugend mit dem Ärgernis der Verantwortlichkeit vertraut zu machen und haben sie durch ein ständig aufgespanntes Netz zu leichtfertiger Akrobatik ermuntert. Wir verzichten auf die permanente, engagierte Diskussion mit unserer

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Jugend und erleiden – wie alle westlichen Demokratien – den Verlust dieser Jugend. Wir haben Grund, uns des rechten Weges nicht sicher zu sein. Wir haben allerdings keinen Grund, den rechten Weg bei den radikalen Kritikern unserer Gesellschaftsordnung zu suchen. Was sollten wir durchschauen? Neben der fruchtbaren, unsere Gesellschaftsordnung weiterführenden Verunsicherung, die wir anzuhehmen und zu verarbeiten haben, werden Strategien praktiziert, die der Überführung unserer Gesellschaftsordnung in eine neue Diktatur dienlich sein können. Wir sollten sie in großen Zügen kennen und durchschauen. Unsere von der Erfahrung gestützte Überzeugung, daß die parlamentarische Demokratie von den praktizierten Staatsformen die beste und die ausbaufähigste Versicherung gegen den von unserer Generation am meisten gefürchteten Machtmißbrauch durch die Staatsführung ist, wird mit der Behauptung zu unterlaufen versucht, daß Gesetz und Ordnung immer – also auch Gesetz und Ordnung der parlamentarischen Demokratie – Gesetz und Ordnung derjenigen seien, welche die etablierte Hierarchie stützen. Jede Rechtsetzung sei Machtsetzung und stelle insofern einen Akt von unmittel­ barer Manifestation der Gewalt dar. Denen, die aufgrund dieser Behauptung noch nicht davon überzeugt sind, daß man den Normen einer solchen Gesellschaft nicht zu folgen brauche, wird zur Bewußtseinsförderung empfohlen, die Provokationstheorie anzuwenden, nämlich die öffentliche Ordnung zu stören, um ihre Unduldsamkeit zu erfahren. Die Demokratien sollen über diesen Weg zur Gewaltanwendung gezwungen werden, um die beabsichtigten eigenen Aktionen schließlich zu Reaktionen einer unterdrückten Minderheit umfunktionieren zu können. Als Beweis für die Inhumanität westlicher Demokratien wird auf Vietnam, auf die Bundeswehr, auf die Diskriminierung der Neger in den USA, auf die Einkommens- und Vermögensverteilung in der Bundesrepublik, auf knappe Renten, auf Kapitalkonzentrationen, auf Zeitungsmonopole und andere fraglos negative Ereignisse und Strukturen verwiesen und der Schluß nahegelegt, daß man Normen einer solchen Gesellschaft nicht zu befolgen brauche. Die Strategie der auf diesem Wege provozierten Verunsicherung ist die des par­ tiellen Humanismus. Übel und Unzulänglichkeiten dieser Welt werden nur in der westlichen Welt beleuchtet, ihre Parallelen oder fragwürdigen Lösungen in der östlichen Welt werden verharmlost oder verschwiegen. Setzen wir uns zur Objektivierung der Vorwürfe mit entsprechenden Beispielen aus der öst-



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lichen Welt zur Wehr, so wird uns moralisierend vorgeworfen, daß doch jeder vor seiner eigenen Tür kehren solle. Es wird auf Entwicklungsschwierigkeiten der kritisierten Länder verwiesen und im äußersten Fall versichert, daß man derartiges natürlich auch nicht wolle. Es gibt Naivlinge und beflissene Lobredner – vermerkt Topitsch –, welche diese Strategie als moralische Sensibilität einer kritischen Jugend preisen und damit der Bloßlegung dessen entgegenwirken, was hinter dem Schleier einer pseudo-moralischen Rhetorik wirklich gespielt wird. Nun ist unter Hinweis auf die Erfahrung durchaus zu bezweifeln, daß es in unserer Gesellschaft der Gewaltanwendung bedarf, um eine ständige Ver­ besserung der Lebensbedingungen aller Mitglieder zu gewährleisten. Offensichtlich bedeuten aber sichtbare Erfolge, mögen sie noch so eindrucksvoll sein, für unsere Linksextremisten und ihre Mitläufer nichts gegenüber dem visionären, den Glauben strapazierenden Ziel der klassenlosen, machtfreien Gesellschaft. Sie sind von der Richtigkeit ausschließlich dieses Zieles überzeugt und rechtfertigen die Gewaltanwendung unter Berufung auf Marx, Engels und große Nachfolger rechten Bewußtseins, die die Ansicht vertreten, daß die Idealgesellschaft schwerlich anders als durch die militante Revolution erreicht werden könne. Das Mittel Gewalt wird so – mit durch das Ziel der klassenlosen, machtfreien Gesellschaft geheiligt. Aus unserer Sicht dient das Mittel Gewalt in dieser Korrelation allerdings einem Ziel, dessen bisher sichtbar gewordene Realisationsphasen unsere Skepsis erhöhen. Seine geweissagte Endphase versinkt in einem dichten Nebel, der die merkwürdige Eigenschaft hat, sich nur vor Erleuchteten und Glaubenden zu heben. Die da hingegen ungläubig bleiben, beispielsweise in bezug auf die Deutung des Klassenkampfes als Grundtatbestand der historischen Entwicklung, und die da zweifeln an der Realisierbarkeit der anarchistischen Endzielvariante einer herrschaftslosen Gesellschaft und an der Verheißung „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, die sind authentischen Aussagen zufolge befangen in der bürgerlich-imperialistischen Parteilichkeit, im scheinwissenschaftlich begründeten Klassensubjektivismus. Ihre Aussagen würden niemals in Übereinstimmung mit dem gesamtgesellschaftlichen Fortschritt und der wissenschaftlichen Wahrheit stehen können, denn es sei für sie unmöglich, die historisch-klassenmäßig bedingten Erkenntnisschranken der bürgerlichen Ideologie zu sprengen. Ganz anders verhalte es sich dagegen mit der Parteilichkeit des Proletariats, die eine Parteilichkeit neueren Typs sei, nicht mehr das Moment des Klassensubjektivismus enthalte und sich als Folge ihrer Übereinstimmung mit den objektiven Entwicklungsgesetzen der Geschichte zwangsläufig auch mit der wissenschaftlichen Objektivität decke.

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Folgt man dieser Konzeption, so ist unschwer ableitbar, daß erstmalig die wahre Wahrheit das Licht der Welt erblickt hat, daß sich diese Wahrheit auf erkenntnistheoretische Einwendungen, etwa auf die Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit nicht einzulassen braucht und daß mit dieser Wahrheit eine Wahrheit der Klasse geboren wurde, gegen die sich pseudo-kritisch nur ideologisch Verblendete richten können, Ignoranten, die sich der bewußtseinsfördernden Beeinflussung durch die mit wahrer Wahrheit Geschlagenen entziehen und der Manipulation der Herrschenden ausgesetzt bleiben. Eine Argumentationskette liegt vor uns, die aus eigenartig verbogenen Gliedern besteht. Gesetz und Ordnung seien immer Gesetz und Ordnung der Herrschenden, auch in der parlamentarischen Demokratie. Die Normen unserer parlamentarischen Demokratie seien inhuman, die Herrschenden versuchten die Inhumanität des Systems zwar zu verdecken, aber sie demaskierten sich durch die Anwendung von Gewalt gegen Störer dieser Ordnung. Die Übel dieser Welt wären beseitigt, würden Herrschaft und Macht zerbrechen. Eine herrschaftslose, machtfreie Gesellschaft sei jedoch nur unter Aufhebung der Klassengegensätze erreichbar. Die Klassengegensätze wiederum könnten nur durch die Errichtung der Diktatur des Proletariats aufgehoben werden. Die Diktatur des Proletariats sei schwerlich anders als durch den gewalt­ samen Umsturz der bestehenden Ordnung herbeizuführen. Militanz zur Erreichung dieses Ziels sei Humanismus in seiner militanten Variante. Seine Opfer seien durch das Ziel gerechtfertigt. Zweifler und Kritiker könnten nur ideologisch Verblendete, Feinde des Fortschritts sein, die sich mit ihrer Kritik entlarvten. Eine Argumentationskette liegt vor uns, die angeschmiedet ist an den Block einer perfekt geschlossenen, ummauerten Gesellschaft. Welche Bedeutung hat diese Argumentationskette für uns, die wir aus Erfahrung wissen, daß wir die Lebensbedingungen aller Mitglieder unserer Gesellschaft auch ohne den Rückschritt über eine neue Diktatur verbessern? Sie hat eine sehr große Bedeutung, denn unsere Jugend scheint zunehmend bereit zu sein, sich an diese Kette legen zu lassen! Sollte uns das verunsichern? Ja, es sollte uns zutiefst verunsichern, denn die Wirkung von Ideologien besteht darin, daß ihre Anhänger im allgemeinen nichts unversucht lassen, ihren falschen Annahmen zur Wahrheit zu verhelfen. Eine Ideologie geht um und wird Fleisch und lebt unter uns – nur ihre Herrlichkeit zeigt sie uns bisher nicht! Was sollen wir tun? Wir sehen uns einer Gruppe gegenüber, die einer Ideologie unterliegt, jedoch gegen den Vorwurf einer Ideologisierung hinlänglich gefeit ist. Sie gesteht zu, daß sie einer Ideologie folgt, nur eben nicht einer Ideologie, die



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zum Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung werde, sondern einer Ideologie, die sich mit dem objektiven Entwicklungsgang der Geschichte in Übereinstimmung befinde. Sie ist davon überzeugt, daß ihre Ideologie, die Ideologie des Proletariats, die einzig wahrhaft wissenschaftliche Ideologie sei. Ideologien, auch wenn sie ihre Wissenschaftlichkeit beteuern, lassen sich entlarven. Die Auseinandersetzung mit der marxistischen Ideologie findet auf wissenschaftlicher Ebene seit ihrer Indoktrination statt. Die Strategien der Abschirmung ihrer Behauptungen gegen alle Einwände, die seitens der Logik und der Erfahrung erhoben wurden, sind durchschaut. Der Zauber wurde aber unterschätzt – der Zauber dieser Prophetie! Was sollen wir tun? Wir sollten erkennen, daß unsere erste Bürgerpflicht nicht mehr darin bestehen kann, die marxistische Ideologie zu ignorieren, sondern daß es hoch an der Zeit ist, uns zumindest mit den Grundideen vertraut zu machen und die Schwach- und Leerstellen kennenzulernen, um erste Hilfe anbieten zu können, wenn wir auf Verzauberte stoßen. Der Marsch durch diese Ideologie ist lang. Es wäre jedoch gefährlich, ihn deshalb nicht anzutreten. Wir können sicher sein, daß die Auseinandersetzung nicht nur im Hörsaal stattfindet, sondern auf andere Räume übergreifen wird. Die Agitatoren werden sich guter Konstitution erfreuen und zumindest fürs erste auf Unvorbereitete treffen. Aufklärung tut not! Sie kann die noch Uninteressierten immunisieren und Sympathisanten vor einer weiteren Verstrickung bewahren. Da es aber in der Natur der Aufklärung liegt, Gläubige nur schwer zu erreichen, wäre es leichtfertig, die Aufklärung auf die lange Bank zu schieben, denn Glauben kann die Form einer Seuche annehmen. Ist Aufklärung über den ideologischen Charakter einer Lehre, die als Heilslehre empfunden wird, aber alles, was getan werden muß? Entsteht mit der Aufklärung nicht ein Vakuum, das einer neuen Ausfüllung bedarf? Wäre es nicht zweckmäßig, die in unserer Jugend offensichtlich bestehende Affinität zur Ideologie durch eine andere, natürlich bessere Ideologie zu befriedigen? Welche Entscheidungsmechanismen sollen wir dann aber in Funktion setzen, um eine Übereinkunft über den Inhalt der neuen Ideologie herbei­ führen zu können? Auf eine allgemeine Abstimmung kann zu diesem Zweck nicht zurückgegriffen werden. Zumindest können nicht diejenigen befragt werden, für die die neue Ideologie eine Ideologie bleiben soll, denn eine durchschaute Ideologie ist keine Ideologie. Bliebe also nur eine ausgewählte Gruppe übrig und damit die Zweiteilung der Menschen in die Gruppe der wenigen, die an Vernunft den Göttern gleich seien und in die Gruppe der vielen, die es nicht sind! Wir müssen uns eingestehen, daß wir auf diesem Wege Platons fragwürdigem Zauber zu unterliegen drohen, daß dieser Weg die Kapitulation vor der irrationalen Komponente im Menschen bedeuten

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würde und daß wir uns schließlich gezwungen sehen könnten, erneut an Gefühle und Leidenschaften zu appellieren. Es hieße, uns unglaubwürdig in unserem aufklärenden Bemühen zu machen, es hieße, Teufel mit Beelzebub austreiben. Was sollen wir tun? Sollen wir außer einer ideologischen Abrüstung nichts in Bewegung bringen? Bleibt zwischen dem ideologisch untermauerten Engagement und einem in die Neutralität führenden allgegenwärtigen Ideologieverdacht kein dritter Weg? Obwohl naheliegend, wurde bisher wenig beachtet, daß sich die Realwissenschaften einer Methode bedienen, die ein Engagement für den wissenschaftlichen Fortschritt zuläßt und ideologische Ausuferungen unterbindet. Realwissenschaften vergewissern sich in einem ersten Schritt, ob die Prämissen, unter denen ihre Aussagen gelten sollen, realisierbar sind, ob ihre Aussagen den logischen Anforderungen standhalten und ob die behaupteten Folgen intersubjektiv überprüfbar sind. Erweisen sich diese Bedingungen als erfüllt, so wird die Frage nach Wahr oder Falsch gestellt. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so ist zu klären, ob eine Konkretisierung überhaupt möglich ist oder ob die Aussagen als gehaltlos verworfen werden müssen. Zu letzteren gehören beispielsweise auch jene Aussagen, für die der Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhoben wird, obwohl sich zu ihrer Rechtfertigung nur subjektive Überzeugungserlebnisse anführen lassen. Gehaltvolle Aussagen werden in einem zweiten Schritt der empirischen Überprüfung ausgesetzt. Gelingt der Nachweis ihrer Falschheit nicht, so werden sie so lange für wahr gehalten, bis sich ihre Falschheit erweist. Diese von Karl Popper auf der Grundlage der neueren Wissenschaftstheorie entwickelte und „Kritischer Rationalismus“ genannte Methode verfolgt nicht die Strategie, die Wahrheit einer Aussage zu belegen, sondern ist bemüht, die Falschheit ans Licht zu bringen. Sie kennt falsche Aussagen und Aussagen, die – obwohl widerlegbar – bisher nicht widerlegt wurden und wahr in diesem Sinne sind. Hans Albert – Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim – hat in seiner Schrift „Traktat über kritische Vernunft“ die Anwendung des kritischen Rationalismus auch auf die Politik und die in diesem Bereich zu beurteilenden Problemlösungsvorschläge eingehend diskutiert. Diese Methode setzt eine Umkehrung der im politischen Leben weitgehend anzutreffenden Grundhaltung, sich auf Argumente zu beschränken, die die Zweckmäßigkeit eines Problemlösungsvorschlages bestätigen, voraus. An die Stelle von Bestätigungsbemühungen müssen Bemühungen um den Nachweis der Unzweckmäßigkeit des Problemlösungsvorschlages treten, und erst wenn ernsthafte Anstrengungen in dieser Richtung gescheitert sind, darf ein Vorschlag als Lösungsweg akzeptiert werden.



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Kritischer Rationalismus bedeutet des weiteren, nicht den ersten besten Lösungsweg, der als zweckmäßig ausgezeichnet wurde, zu realisieren, sondern nach der am meisten befriedigenden Alternative zu suchen. Hierbei sollte gesehen werden, daß die Suche nach anderen Lösungsmöglichkeiten durch die Diskussion mit Verfechtern anderer Auffassungen wesentlich verkürzt werden kann. Darüber hinaus sollte eingestanden werden, daß die eigenen Bemühungen um die Falsifizierung eigener Lösungsvorschläge recht schwach bleiben können und daß es grundsätzlich der oppositionellen Gruppen bedarf, um die Selbstkritik zu schärfen. Es ist somit rational, die Möglichkeit der Artikulierung gegensätzlicher Auffassungen sicherzustellen. Es ist darüber hinaus rational, auf der ständigen Suche nach der Verbesserung unserer Lebensbedingungen selbst utopisch anmutende Lösungsvorschläge und selbst destruktive totale Kritik einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Kritischer Rationalismus ist eine geeignete Methode, Entscheidungen über Alternativen zur Erreichung eines Zieles zu optimalisieren, über die Verträglichkeit oder Unverträglichkeit von Zielen – beispielsweise unterschiedlicher Gruppen – Auskunft zu geben und unter Umständen auch praktikable Lösungen für alle Beteiligten herauszuarbeiten. In einem wichtigen Punkt versagt allerdings jede Methode und damit auch der Kritische Rationalismus: Er kann der Gesellschaft die Entscheidung über „letzte Werte“ oder „oberste Ziele“ nicht abnehmen. Für den Kritischen Rationalismus ist es angesichtsseiner Möglichkeiten und Grenzen konsequent, an dieser Stelle den Entscheidungsmechanismus der Stimmenzahl als akzeptable politische Lösung anzubieten. Zwei Grundübel bedrohen die freie Gesellschaft: das totale Engagement für die Aufrechterhaltung des Bestehenden mit all seinen Schwächen und das totale Engagement für die totale Veränderung des Bestehenden unter Mißachtung aller Realisierungsprobleme. Beide Übel sind über den Kritischen Rationalismus abbaubar. Er wendet sich sowohl gegen die vorbehaltlose Fixierung und Legitimierung tradierter Lösungen als auch gegen die Durchsetzung unüberprüfbarer Lösungsvorschläge absolut ungewissen Ausgangs. Ist Kritischer Rationalismus eine neue Ideologie? Nein, denn es fehlt an dem wesentlichen Merkmal, kritische Einwände gegen sich nicht gelten zu lassen. Trägt der Kritische Rationalismus die Gefahr der Aufweichung unseres Standpunktes in sich? Nein, denn seine Toleranz gilt nur gegenüber denen, die nicht selbst intolerant sind! Ist die in den Kritischen Rationalismus gesetzte Hoffnung reine Utopie? Vielleicht. Aber selbst in einem utopisch anmutenden Lösungsvorschlag können Ansätze stecken, die sich eines Tages unter Umständen als einziger Weg erweisen, verhärtete Fronten aufzulösen und zerstrittene Gruppen erneut zum Gespräch zu ermutigen.

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Lassen wir uns ein auf die Grundidee des kritischen Rationalismus, die Popper in seiner Schrift „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ mit dem Wahlspruch umreißt: Ich kann mich irren, du magst recht haben, aber gemeinsam werden wir vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen! Entwickeln wir aus dieser Grundidee als Alternative unserer Generation eine Konzeption menschlichen Zusammenlebens, die sich überzeugend von dem partikularistisch-militanten und zugleich desperatistischen Credo Che Guevaras, dem „Venceremos – wir werden siegen!“, abhebt. Einem Credo, das sich in unseren Ohren schmerzlich mit dem Liedfetzen „… wenn alles in Scherben fällt …“ verbindet, der uns in unserer Jugend wahrlich zu leicht über die Lippen gegangen ist. Begreifen wir den Kritischen Rationalismus als die von uns zu verfechtende und vorzulebende Antithese zu der uns angedrohten militanten These, auf daß unsere Generation den ihr spezifischen Beitrag zu einer erträglichen Synthese leiste!

II. Metamorphosen

Metamorphosen Von Wolfgang Huber Durch ein Epos des römischen Dichters Ovid ist „Metamorphose“ zu einem Wort unserer Sprache geworden. Ein griechisches Lehnwort verwandte der lateinisch schreibende Autor, um die Weltgeschichte als eine Geschichte der Verwandlungen, des Hin und Her zwischen Menschen und Göttern zu schildern. Mit der Weltentstehung und der Strukturierung der Weltgeschichte in vier Weltzeitalter beginnt seine Schilderung. Ebenso wie die biblischen Erzählungen über die Urzeit beschreibt Ovids Werk eine große Flut und die Erneuerung der Tierwelt. Doch im Kern geht es um rund 250 Beispiele für Verwandlungen von Menschen in göttliche Wesen, aber ebenso in Tiere oder Pflanzen. Die gesamte antike Mythologie nahm Ovid als Illustration dafür in Anspruch, dass die Welt sich in permanenten Prozessen der Verwandlung befindet. Ovids Schaffenszeit umfasste selbst eine Zeit großer Verwandlungen. Zwischen 15 v. Chr. und 17 n. Chr. war er literarisch tätig. Er erlebte den Übergang zur römischen Monarchie, die große Zeit des Augustus und die ­Friedensperiode, die seiner Herrschaft zugeschrieben wurde. Dass in dieser Übergangszeit mit dem Wirken, dem Tod und der Auferweckung des Jesus von Nazareth sich innerhalb des römischen Reichs eine religiöse Erneuerung vollzog, die innerhalb der nächsten drei Jahrhunderte zu dessen maßgeblicher Religion wurde, konnte der Dichter Ovid so wenig ahnen wie der Kaiser Augustus. Aber so prägend der christliche Glaube wie die römischen Formen von Recht und politischer Herrschaft für lange Zeit wurden, blieb die Geschichte der Menschheit doch eine Zeit der Metamorphosen, der Verwandlungen. Metamorphosen in Ovids Sinn verbinden Kontinuität und Wandel. Von Metamorphosen lässt sich nur reden, wenn es in der Verwandlung etwas gibt, das bleibt. An politischen, technologischen und kulturellen Prozessen will ich deutlich machen: In dem halben Jahrhundert zwischen 1970 und 2020 haben sich Wandlungen von epochalem Charakter vollzogen; umso dringlicher stellt sich die Frage danach, was im Wandel bleibt.

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1. Nicht nur für Deutschland, sondern ebenso für Europa gilt: Innerhalb der hinter uns liegenden fünfzig Jahre ereignete sich der größte politische Umbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser von Deutschland begonnene Krieg endete nicht nur mit der Befreiung Deutschlands wie Europas von der Hitler-Diktatur; er mündete zugleich in eine Spaltung des europäischen Kontinents, in eine globale Spannung zwischen Ost und West sowie in einen Kalten Krieg, von dem man immer wieder fürchten musste, er könne in einen heißen Krieg umschlagen. Die nukleare Abschreckung, die von beiden Seiten aufgebaut wurde, führte – Gott sei Dank – nicht zu einem Atomkrieg. Der Ost-West-Konflikt kam zu einem friedlichen Ende. Für die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas entlang des Eisernen Vorhangs wurde die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 zum entscheidenden Signal. Doch dieser Vorgang, vorbereitet durch Gorbatschows Perestroika wie durch die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR, in Polen und anderen Staaten des Ostblocks wirkte zugleich weit über Deutschland und Europa hinaus. Als der damalige Präsident Südafrikas Frederik Willem de Klerk im Februar 1990 den Bann über den African National Congress (ANC) aufhob und Nelson Mandela aus seiner mehr als 27 Jahre dauernden Inhaftierung entließ, berief er sich ausdrücklich auf den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa, dessentwegen man nun auch in Südafrika den Kommunismus nicht mehr fürchten müsse. Das Ende der Apartheid in Südafrika und das Ende der deutschen Teilung waren auf untergründige Weise miteinander verknüpft. Für alle, die das Jahr 1945 selbst erlebt oder aus der Erinnerung ihrer Elterngeneration lebendig vor Augen hatten, war das Jahr 1989/90 das am tiefsten greifende politische Ereignis ihrer Lebensgeschichte. Es war ein Umbruch, den viele nicht erwartet und manche nicht einmal erhofft hatten. Was dank dem Aufbruch zu politischer Mündigkeit in den vormundschaft­ lichen Staaten Osteuropas und ebenso dank entschlossenen wie weitsichtigen politischen Handelns in Ost und West gelang, bedeutete für das geteilte Deutschland einen Neubeginn in Einheit und Freiheit. Zugleich mit dem Glück dieses geschichtlichen Geschenks zeigten sich von Anfang an erheb­ liche Schwierigkeiten. Dennoch konnte Joachim Gauck, dessen Weg vom mecklenburgischen Pfarrer über die Leitung der Stasi-Unterlagen-Behörde in das Amt des Bundespräsidenten geführt hatte, im Mai 2013 in einer Rede vor Studierenden in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá feststellen: „In Deutschland können wir inzwischen auf eine Bevölkerung bauen, die den festen Willen hat, neuen nationalistischen, rassistischen, diktatorischen Bestrebungen Widerstand zu leisten – weil sie dieses Element der Verantwor-

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tung, das Wissen über die Schuld, die frühere Schuld und die sich daraus ergebende Verantwortung, weil sie sich das zu einer Art Leitlinie ihres politischen Bewusstseins gemacht hat.“ Diese Gewissheit würde heute kaum noch jemand wiederholen. Was nach zwanzig Jahren deutscher Einheit wie ein sicherer Besitz erschien, ist inzwischen heftigen Angriffen ausgesetzt und dadurch zutiefst fraglich geworden. Die Herausforderung durch die große Zahl an Migranten, die hier Zuflucht suchten, löste nicht nur eine Welle spontaner Hilfsbereitschaft aus, sondern wirkte sich bald darauf in einer neuen Welle von Fremdenfeindlichkeit und Populismus aus. Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, dem 29. Januar 2020, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Deutschen Bundestag: „Ich wünschte, ich könnte heute […] mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich wieder ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus in Debatten einsickert – auch bei uns? […] Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision; gar noch als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit.“ Rückwärtsgewandtheit als bessere Antwort auf die Fragen unserer Zeit? Der 1925 in Posen geborene und seit 1971 im englischen Leeds lehrende Soziologe Zygmunt Bauman hat diese zur Vorherrschaft drängende Denkweise 2017, im Jahr seines Todes, als Retrotopia bezeichnet, als rückwärtsgewandte Utopie. Weil die Hoffnung schwindet und die Zukunft von Angst besetzt ist, werden Bilder gelingenden Lebens nicht mehr als Utopien mit der Zukunft verbunden, sondern als Retrotopien mit der Vergangenheit identifiziert. Diese Haltung richtet sich an denjenigen aus, die versprechen, eine ideale Heimat wieder zu errichten, ohne zuzugeben, dass in dieser Heimat noch niemand war. Das Vergangene wird idealisiert; deshalb haben nationale und nationalistische Revivals an vielen Orten der Welt Konjunktur; und Konjunktur haben ebenso Verschwörungstheorien, die jene Übeltäter dingfest machen wollen, von denen diese Heimat bedroht wird. Eine solche vielerorts zu beobachtende Nostalgie-Epidemie ist, wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym sagte, ein „schmachtendes Verlangen nach Gemeinschaftlichkeit und gemeinsamer Vergangenheit“, eine „verzweifelte Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt.“ Doch eine nostalgische Retrotopie ist kein Weg zur verantwortlichen Gestaltung der Zukunft. Sie bedarf einer Haltung der Zuversicht, des Re­spekts vor der gleichen Würde jedes Menschen und für alle, denen das möglich ist, der Ehrfurcht vor dem Heiligen – eine Haltung also, die in der christlichen Tradition als Zusammenklang von Glauben, Hoffnung und Liebe

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beschrieben wird. Inmitten aller religiösen und weltanschaulichen Pluralität hat dieser Dreiklang es durchaus verdient, als Weltkulturerbe in Ehren gehalten zu werden. Aber die christliche Tradition steht im Blick auf die Verantwortung für die Zukunft nicht allein. Auf verschiedenen Wegen gewinnen Menschen heute einen Zugang zu einem universalistischen Ethos, das die gleiche Würde jedes Menschen achtet und sich deshalb der Rettung der Natur wie der menschlichen Lebenswelt verpflichtet weiß. Der kosmopolitische Ansatz von Rotary und die Verpflichtung auf den Dienst am Gemeinwohl erweisen sich gerade heute als aktuell. 2. Auch wer es für fraglich hält, ob politische Veränderungen der letzten fünfzig Jahre wirklich einen derart epochalen Charakter haben, wie es gerade behauptet wurde, wird nicht bezweifeln, dass wissenschaftliche und technologische Entwicklungen in dieser Zeit in außerordentlicher Rasanz epochale Veränderungen bewirkt haben. Die Frage ist allenfalls, welcher Beschreibung dieses Wandels man den Vorrang zuerkennt. Für die einen stehen die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die damit verbundene Entwicklung der Gentechnologie im Zentrum, die mit dem Durchbruch zur Genomchirurgie nicht nur gefährliche Krankheitsdispositionen beseitigen, sondern auch erwünschte genetische Anlagen herbeiführen kann. Die Ambivalenz des Fortschritts zeigt sich an diesem Beispiel besonders deutlich. So beeindruckend die Möglichkeiten sind, genetisch bedingte Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und darauf mit präventiven Maßnahmen zu reagieren, so bedenklich wird es, wenn die genomchirurgischen Möglichkeiten zu Eingriffen in die menschliche Keimbahn genutzt werden. Die Versuchung zum Enhancement wird immer größer; eine globale Verständigung der Scientific Community und international wirksame recht­ liche Regelungen werden immer notwendiger. Mit ebenso großem Recht wird der Übergang zum Anthropozän als Zäsur hervorgehoben, zu einem Zeitalter also, das von einer wachsenden Beeinflussung der natürlichen Lebensbedingungen durch den Menschen geprägt ist; für sie ist der Klimawandel ein zunächst von vielen geleugnetes, aber inzwischen unverkennbares Signal. Die globale Erwärmung einzudämmen, wird von Tag zu Tag dringlicher. Die nötigen politischen Maßnahmen wurden oft zu spät oder zu halbherzig ergriffen; Rückschläge sind zu verzeichnen, zu denen nicht zuletzt der für 2020 angekündigte Ausstieg der USA und ebenso Brasiliens aus dem Pariser Klimaabkommen von 2015 gehört. Zu Recht drängt die Bewegung Fridays for Future auf ein Umdenken und auf raschere Schritte in der Eindämmung der globalen Erwärmung.

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Doch von vergleichbar grundstürzendem Charakter ist die Digitalisierung. Es gibt sogar eine offenkundige, aber selten angesprochene Verbindung zwischen der globalen Erwärmung und der Digitalisierung. In globaler Betrachtung setzt der digitale Sektor mehr Treibhausgase frei als der Flugverkehr. Dennoch werden die ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung vergleichsweise selten diskutiert. Wegen deren großer Dynamik werden ökologische Bedenken oft ignoriert oder verharmlost. Digitalisierung gilt global als die technologische Innovation unserer Zeit, mit tief einschneidenden, disruptiven Folgen. Diese Technologie verändert die Kommunikationsformen in einer vergleichbaren Geschwindigkeit wie die Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern vor mehr als einem halben Jahrtausend. Im Jahr 1993 waren lediglich 3 Prozent der globalen Informationskapazität digital, im Jahr 2007 war dieser Anteil auf 94,5 Prozent gestiegen. Das Jahr 2002 wird als das Jahr angesehen, in dem zum ersten Mal mehr als die Hälfte der global zugänglichen Informationen in digitaler Form gespeichert waren. Diese Wasserscheide kennzeichnet den Übergang zum digitalen Zeitalter. Seitdem nimmt die Konzentration von Macht und Kapital in den Händen einer kleinen Zahl digitaler Riesen dramatisch zu; deren ökonomischer (und politischer) Einfluss überragt die Macht nahezu aller Staaten und Staatenbünde auf der Erde. Die digitalen Plattformen, deren kostenlosen Gebrauch sie zur Verfügung stellen, erleichtern die Kommunikation auf allen Ebenen: zwischen Einzelpersonen ebenso wie zwischen großen Gruppen, im Nahbereich ebenso wie global. Einerseits werden diese Möglichkeiten vielfach zum Guten benutzt; andererseits breiten sich durch sie Hass und Verachtung oft in Windeseile aus. Die Kultur des Zusammenlebens verändert sich tiefgreifend – und keineswegs nur zum Besseren. Zu den vordringlichen Bildungsaufgaben unserer Zeit gehört, nicht nur digitale Techniken und Programmierfähigkeiten zu erlernen, sondern ebenso den verantwortlichen Umgang mit digitalen Netzwerken und Medien einzuüben. Dafür ist es unerlässlich, digitale Instrumente als Assistenzsysteme zu verstehen, deren Gebrauch vom Menschen zu verantworten sind. Der leichte und freie Zugang zu dieser Art von Technologie wird von vielen als eine derart große Chance angesehen, dass sie es hinnehmen, von digitalen Plattformen und Internetfirmen in einem bisher unbekannten Maß kontrolliert und überwacht zu werden. Nicht nur durch den Gebrauch ihrer PCs, Tablets und Smartphones, sondern ebenso durch die Verwendung von Bank-, Kredit- und Kundenkarten machen sie ihre Aktionen und Transaktionen überprüfbar und voraussehbar. Die meisten Nutzer verweisen die damit verbundenen Risiken und Ambivalenzen ins zweite Glied oder ignorieren sie ganz. Nicht nur die Kommunikation im weiten Sinn des Wortes, sondern ebenso wichtige Gebiete wie Arbeit, Konsum, Öffentlichkeit, Politik, Mobilität, Gesundheit, Sport, Liebe, Religion, Wissenschaft, Kultur und Krieg

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sind in wachsendem Maß von Digitalisierung, Robotik, Big Data und „künstlicher“ (also nicht-biologischer) Intelligenz beeinflusst. Wie eine technologische Disruption dieser Größenordnung in eine bewusst gestaltete gesellschaftliche Transformation eingebettet werden kann, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Bleibt sie unbeantwortet, wird eine unabsehbare Zahl von Menschen durch solche Prozesse abgehängt oder ausgegrenzt, nicht nur sozial, sondern auch emotional und politisch. Besteht überhaupt die Möglichkeit zu einer solchen gesellschaftlichen Transformation? Manche Debattenbeiträge laufen darauf hinaus, dass diese technologische Disruption nicht nur eine soziale, sondern auch eine anthropologische Disruption nach sich zieht. Autoren wie der US-amerikanische Futurist Ray Kurzweil oder der israelische Historiker Yuval Noah Harari erklären, dass die digitalen Technologien zusammen mit gentechnologischen Verfahren wie der Genomchirurgie das Zeitalter des homo sapiens beenden und ein posthumanes Zeitalter eröffnen werden. Mit solchen kühnen Visionen verbindet sich häufig ein reduktionistisches Verständnis der menschlichen Person. Durch die Fixierung auf die Fortschritte in der Entwicklung künstlicher Intelligenz entsteht ein Sog, der die kognitiven Fähigkeiten des Menschen gegenüber anderen Aspekten der menschlichen Existenz isoliert. Auf dieser Grundlage gedeiht die Furcht, dass Menschen von der künstlichen Intelligenz überholt werden, da sie große Mengen von Daten in weit kürzerer Zeit analysieren kann, als dies dem menschlichen Gehirn möglich ist. Auf die wachsenden Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz und Robotik könnte man stattdessen mit dem USamerikanischen Psychologen Barry Schwartz folgendermaßen reagieren: „Hands and heads are less important, hearts become more important.“ Die Zuwendung zu hilfsbedürftigen und kranken Mitmenschen und ebenso Dienstleistungen, die mit Bildung und Ausbildung, Konfliktregulierung und Heilung von Erinnerungen, Versöhnung und Integration zu tun haben, gewinnen in unserer Zeit an Bedeutung; angesichts der Notwendigkeit, globale Migrationsbewegungen zu bewältigen und wachsende Diversität zu gestalten, dringender denn je. An die Stelle der Furcht, dass künstliche Intelligenz die menschliche überholt, sollte eine kritische Überlegung zu dem anthropologischen Konzept treten, das diese Furcht speist. Kann ein Schachcomputer verstehen, warum sein menschlicher Gegner stärkere und schwächere Tage hat? Kann ein Algorithmus die schwankenden Leistungen von Fußballmannschaften erklären? Dass der Computer hinter solchen Schwankungen Muster erkennt, bedeutet nicht, dass er sie versteht. Den Raum menschlichen Handelns betreten wir erst, wenn wir nicht nur Erfolge und Triumphe, sondern ebenso Scheitern und Misslingen als Teil der conditio humana anerkennen.

Metamorphosen39

Wir Menschen sind nicht nur ‚Inforgs‘, sondern auch ‚Empathorgs‘, nicht nur informationelle, sondern auch emphatische Organismen. Die Furcht, dass künstliche Intelligenz menschliche Personen überflüssig machen wird, weil Computer mit riesigen Datenmengen in kürzester Zeit fehlerfrei umgehen können und Roboter bestimmte Aktionen präziser und effektiver ausführen können als menschliche Personen, reduziert diese Personen zu Wesen mit einem Kopf (vergleichbar dem Computer) und mit Händen (vergleichbar dem Roboter). Eine solche Sichtweise vergisst, dass Menschen ein Herz haben, das dabei hilft, mit der Endlichkeit des eigenen Lebens wie des Lebens anderer umzugehen. Notwendig ist ein integrales, ganzheitliches Bild der menschlichen Person. 3. Kehren wir am Ende zu Ovids Metamorphosen zurück. Unter den zahlreichen mythischen Figuren, die der Dichter in seinem Epos beschreibt, charakterisiert keine unsere Gegenwart besser als die des Narziss. Von jungen Männern und Frauen war er gleichermaßen umworben; immer wieder entzog er sich stolz. Die Bergnymphe Echo wurde zum berühmtesten Opfer einer solchen Zurückweisung. Aphrodite, die Göttin der Liebe, wurde zur rächenden Nemesis; sie strafte Narziss mit unstillbarer Selbstliebe. Beim Blick ins Wasser verliebte er sich in sein eigenes Ebenbild. Immer wenn er das geliebte Bild zu umarmen oder zu küssen versuchte, zerrann es vor seinen Augen. Bei einem Versuch, dem Ebenbild nahezukommen, verlor er das Gleichgewicht und versank im Wasser. Nach seinem Tod wurde er in eine Narzisse verwandelt. Als Caravaggios Gemälde des Narziss 2019 im Museum Barberini in Potsdam zu sehen war, bildete es die Attraktion der Ausstellung über „Wege des Barock“. Das lag nicht nur an der meisterhaften Komposition des Bildes, bei dessen Betrachten man auf den Augenblick wartet, in dem Narziss sich im Tod mit seinem Ebenbild vereinigt. Die Anziehungskraft des Bildes hat ebenfalls damit zu tun, dass der selbstverliebte Jüngling unserer Zeit nahe ist. Viele Diagnostiker sehen in Narziss eine Symbolfigur unserer Gegenwart. Als die moderne Dichtung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Selbstbezüglichkeit des Menschen als ein vordringliches Thema entdeckte, war alsbald die Figur des Narziss zur Stelle. Als die Psychoanalyse sich zur selben Zeit mit krankhaften Formen dieses Kreisens um sich selbst zu beschäftigen begann, fand sie dafür schnell einen Namen – den Narzissmus. Doch die Verwendung dieses Wortes wuchs sehr bald über die Beschreibung einer seelischen Störung weit hinaus. Programmatisch streifte Herbert Marcuse vor mehr als einem halben Jahrhundert dem Narzissmus den Makel des

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Krankhaften ab und erklärte ihn statt des ödipalen Schuldbewusstseins und des prometheischen Leistungsprinzips zum Leitgedanken einer vom Lustprinzip geprägten Gesellschaft. In Teilen der Studentenbewegung von 1968 fand diese Haltung ein lebhaftes Echo. Erich Fromm dagegen unterschied Liebe und Narzissmus voneinander. Gegen ein verbreitetes christliches Missverständnis wies er ausdrücklich darauf hin, dass das christliche Liebesgebot neben der Liebe zu Gott und zum Nächsten auch ausdrücklich die Liebe zu sich selbst thematisierte: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Während diese Liebe zu sich selbst sich mit der vorbehaltlosen Zuwendung zum Mitmenschen verträgt und die mit ihr verbundene Ich-Stärke gerade als Ermöglichung des Einsatzes für andere wirksam werden kann, beurteilt das narzisstische Kreisen um sich selbst den anderen nach seinem Nutzen für das eigene Wohlbefinden. Entscheidend ist, ob er einem selbst die Anerkennung und Bewunderung zuteilwerden lässt, die man für das eigene Selbstwertgefühl braucht. Selbstliebe schlägt in Selbstsucht um. Fromm machte zugleich da­rauf aufmerksam, dass dieser narzisstische Mechanismus nicht nur individuell, sondern kollektiv auftritt. Manche Formen der Kultur- und Konsumkritik haben sich des NarzissmusModells bedient und dafür in populären Parolen – wie „Geiz ist geil“ – oder rücksichtslosen Selbstdarstellungsformen – wie dem Autorasen in Städten oder auf Autobahnen – reichliches Anschauungsmaterial gefunden. Darüber hinaus zeigt sich gesellschaftlicher Narzissmus in der Abwertung von Fremden und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Er verwandelt die Selbstachtung in nationalistische Überheblichkeit; er zerstört die Fähigkeit zu individueller wie gesellschaftlicher Selbstkritik und fordert – wie Alexander Gauland oder Björn Höcke das exemplarisch vorführen – eine Revision deutscher Erinnerungspolitik. Ein solches hypertrophes Selbstwertgefühl verbindet sich mit der Abwertung des Fremden, insbesondere in der Form eines neu aufflammenden Antisemitismus. Mit polizeilichen Mitteln allein ist einem solchen Narzissmus nicht beizukommen. Im Fall des individuellen wie des kollektiven Narzissmus sind die Bedingungen des Aufwachsens, die Erfahrung von Annahme und Begleitung in Familien und kleinen Netzwerken ebenso wichtige Bedingungen für eine Balance von Nächstenliebe und Selbstliebe wie ein Bildungswesen, das die kritische Aneignung der eigenen Geschichte ebenso fördert wie den Respekt für das Fremde und die Fremden. Der Erfolg solcher Bildungsbemühungen ist heute von ebenso großer Bedeutung wie die Verpflichtung auf Nachhaltigkeit als den entscheidenden Maßstab für den Umgang mit Natur und Lebenswelt. Gesellschaftlicher Narzissmus zeigt sich nicht nur in besorgniserregenden Exzessen. Er wird vielmehr zu einer üblichen Form der Lebensführung. Nicht mehr die Verantwortung für andere ist der Maßstab für eine überzeugende Lebenshaltung, sondern die Verantwortung für sich selbst, den eigenen

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Körper, die eigene Lebensdauer. In Zeiten der Krise äußert sich der Narzissmus in Angst, der narzisstischsten unter den menschlichen Emotionen, nach der Auffassung des Berliner Psychiaters Mazda Adli „genauso ansteckend wie das Coronavirus“. Hamsterkäufe sind die Folge: Die einen horten, was den anderen umso bitterer fehlt. Die Gesellschaft wird, wie der Soziologe Andreas Reckwitz es ausdrückt, zu einer Gesellschaft der Singularitäten. In ihr, so sagt er, sind „Vorstellungen einer rationalen Ordnung, einer egalitären Gesellschaft, einer homogenen Kultur und einer balancierten Persönlichkeitsstruktur, wie sie manche noch hegen mögen,“ nichts anderes als „pure Nostalgie“. Zygmunt Bauman bemerkt zu dieser neuen Moral, sie wirke nicht mehr „zentrifugal“, sondern „zentripetal“; mit ihrer Konzentration auf das Eigeninteresse des einzelnen diene sie nicht mehr dem Brückenbau zwischen den Menschen, der Annäherung und Integration, sondern fördere Isolierung und Entfremdung. Dass man sich nach der Goldenen Regel anderen gegenüber so verhalten soll, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte, greift ins Leere, sobald alles als käuflich gilt. Anerkennung erhofft man nicht von anderen, sondern kauft sie sich. Die von dem amerikanischen Philosophen Michael Sandel aufgeworfene Frage nach dem, was sich für Geld nicht kaufen lässt, scheint gegenstandslos geworden zu sein; denn auch Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit gelten als Handelsware. Notfallnummern werden genutzt wie ein Pizza­ service. So wäre es zumindest dann, wenn alle sich dem Homogenisierungsdruck einer narzisstischen Gesellschaft unterwerfen würden. Doch dafür gibt es keine innere Zwangsläufigkeit. Es entwickeln sich gegenläufige Strömungen quer durch die Generationen. Menschen lernen, dass Selbstfürsorge und Aufmerksamkeit für andere zusammengehören. Einfühlungsvermögen und Solidarität sind keine Werte von gestern. Ihnen Gestalt zu geben, ist nicht vergeblich. Auch nach fünfzig Jahren sind die Werte, für die sich Rotarierinnen und Rotarier einsetzen, keineswegs überholt.

Geteilt und vereint: Berliner Architektur- und Stadtgeschichte in acht Kapiteln Von Kerstin Wittmann-Englert (Text) und Alfred Englert (†) (Fotos) „Berlin ist viele Städte“: mit diesen Worten veranschaulichte der Architekt und einstige Senatsbaudirektor Werner Düttmann Berlins Charakteristikum. Fast poetisch scheint dieses Bild, das Düttmann da von Berlin als vielgestaltiger Stadt entwarf, die viele Orte und wenig Räume habe: „Ort ist, was die Bedeutung eines Geschehens aufnimmt, Raum ist das, was Bedeutsamkeit sichtbar macht.“1 Ein Charakteristikum Berlins ist seine polyzentrische Struktur: Vor 100 Jahren, genauer mit dem am 27. April 1920 verabschiedeten Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde, formierte sich die Einheit „Groß-Berlin“: Die Fläche der Stadt vergrößerte sich über Nacht um das Dreizehnfache. Die Heterogenität der Viertel, in Berlin „Kieze“ genannt, ist kennzeichnend und spiegelt sich auch in Architektur und Städtebau wider. Darüber hinaus ist bis heute die politische Teilung baulich und stadträumlich ablesbar, die über 28 Jahre durch die Mauer auch physisch manifestiert war. In diesem Beitrag steht die doppelte Stadtentwicklung seit 1950 im Mittelpunkt – und zwar aus zwei, sich bestens ergänzenden Perspektiven. In acht Kapiteln werden unterschiedliche Berlin-typische Schwerpunkte der Architekturgeschichte und/oder Stadtentwicklung beleuchtet – und zwar in Bild und Text. Dabei gehe ich jeweils von einer Fotografie des 2016 verstorbenen rotarischen Freundes und meines Vaters Alfred Englert aus und nehme diese als Architekturhistorikerin zum Anlass für kürzere Betrachtungen. Die Auswahl der Motive erfolgte insofern in „Abstimmung“ beider Autoren (Bild und Text), als ich bevorzugt solche auswählte, die Orte und Räume zeigen, welche meinem Vater und mir gleichermaßen wichtig waren und die es mir außerdem ermöglichen, ein zeitlich und thematisch facettenreiches Spektrum anzusprechen. Die ausgewählten Spotlights unterstreichen Düttmanns Fest1  Werner

Düttmann: Berlin ist viele Städte, Berlin 1984, S. 11.



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Hotel Kempinski (1951/52, Paul Schwebes)

stellung „Berlin ist viele Städte“, wobei geschichtlich markante Orte und Räume ausgewählt wurden, die nicht zwingend spektakulär sind. 1. Alter Westen Den Auftakt bildet das Hotel Kempinski am Kurfürstendamm. Hier trifft sich der Rotary Club Berlin-Kurfürstendamm, dessen 50-jähriges Bestehen Anlass für diese Festschrift ist, wöchentlich seit dem 14. Oktober 1975. Zugleich bildet das Kempinski den ersten Hotelneubau Berlins nach 1945. Er steht hier stellvertretend für den „alten Westen“, das Geschäfts- und Vergnügungsviertel im Umfeld der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Der Westteil Berlins war nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntermaßen ohne Hauptstadtfunktion und damit ohne politisches Mandat: eine Inselstadt ohne unmittelbare geografische Verbindung zum Westen. „Westberlin – in seiner exponierten Lage 110 Meilen inmitten Ostdeutschlands, umgeben von sowjetischen Truppen und dicht an den sowjetischen Versorgungs­ linien – spielt eine vielgestaltige Rolle. Es ist mehr als ein Schaufenster der Freiheit, ein Symbol, eine Insel der Freiheit inmitten der kommunistischen Flut. Es ist noch weit mehr als ein Bindeglied zur freien Welt, ein Leuchtfeuer der Hoffnung hinter dem Eisernen Vorhang und ein Schlupfloch für die Flüchtlinge. Westberlin

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ist all das. Aber darüber hinaus ist es jetzt – mehr denn je zuvor – zu dem großen Prüfstein für den Mut und die Willensstärke des Westens geworden“.2

Ein Angriff auf West-Berlin würde einem Angriff auf den Westen gleichgekommen: So lautete die Botschaft jener prominenten Rede, mit der sich der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 25. Juli 1961 an die amerikanische Nation via Funk und Fernsehen richtete. Keine drei Wochen später wurde die Mauer errichtet, die beide Stadthälften für die folgenden 28 Jahre trennen sollte. Charlottenburg war der Kern des Neuen Westens, wie er schon zu jener Zeit in den zwanziger Jahren genannt wurde. Einen Eindruck davon vermittelt uns Adolf Reichles kurze Schilderung in der „Neuen Bauwelt“ von 1948: „Das Nebeneinander weltstädtischer Ladengeschäfte, Gast- und Unterhaltungsstätten bestimmte den Charakter dieses Gebiets und machte seinen eigenartigen Reiz aus. Die elegante Aufmachung und der stellenweise etwas aufdringliche Luxus übten ihre Anziehungskraft natürlich in erster Linie auf die Fremden und auf die Angehörigen einer gehobenen Gesellschaftsschicht aus. Immerhin herrschte keine völlige Exklusivität, so daß der einfache Berliner das Kurfürstendamm-Treiben mit teils gutmütigem, teils bissigem Humor zur Kenntnis nehmen konnte und dort gelegentlich selbst gerne einen Schaufensterbummel machte oder eines der großen Lichtspielhäuser besuchte.“3

Diesen Flair hat sich der Kurfürstendamm erhalten – sieht man von den Lichtspielhäusern ab, von denen so manche nur mehr als Hüllen mit neuem Inhalt präsent sind. Hervorzuheben ist mit Blick auf die rege Bautätigkeit im alten Westen freilich auch die Bedeutung des amerikanischen Marshallplans für die Entwicklung der West-City: Mit dem „European Recovery Program“ (ERP) wurden etliche Leuchtturmprojekte des demokratischen Westens finanziell unterstützt – darunter die Kongresshalle und die Akademie der Künste, aber auch das Studentendorf Schlachtensee, das Amerika Haus und die Amerika Gedenkbibliothek. Daneben gab es auch zahlreiche privatwirtschaftliche Finanzierungen, etwa über die Firmen des aus der Schweiz stammenden USEmigranten Jacques Rosenstein, der in zahlreiche Neubauprojekte seiner Wahlheimat West-Berlin involviert war, darunter auch Luxushotels wie das hier gezeigte Kempinski. In Abgrenzung zum Ostteil der Stadt und zweifellos auch in Ermangelung der „Berliner Architektur“, wie wir sie in der preußisch-berlinischen Ausprägung des Klassizismus kennen und die vor allem im historischen Zentrum 2  http://www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/Media/TextPopup/day/25/id/5928 65/month/Juli/oldAction/Detail/oldModule/Chronical/year/1961. 3  Adolf Reichle: Rund um den Zoo, in: Neue Bauwelt 37/1948, S. 579–585, hier S. 579.



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Berlins anzutreffen ist, zu jener Zeit also im Ostsektor, warb West-Berlin bewusst westwärts gewandt für sich: als offene, junge, moderne und USamerikanisch inspirierte Stadt. Das von John F. Kennedy in seiner Rede verwendete Bild vom „Schaufenster der Freiheit“ erhielt vor dem Hintergrund der Berlin-Krise besonderes Gewicht. Und dieses Schaufenster der Freiheit zeigte die architektonischen Lösungen unter anderem im Kultur-, Bildungs- und Geschäftsbau, die West-Berlins Bindung an den Westen betonten und bekräftigten, sozusagen als erlebbarer architektonischer Ausdruck der Werte und Visionen, für die West-Berlin stand. 2. Umstrittener Freiraum Die zweite Aufnahme führt uns in die Mitte Berlins – mit der Vogelper­ spektive auf das Areal zwischen Alexanderplatz und Spree, hier noch ohne Humboldtforum im Hintergrund, da die Aufnahme bereits 2010 entstanden ist. Dieser ‚Freiraum unter dem Fernsehturm‘4 steht stellvertretend für die vielfachen Diskussionen um das architektonische und städtebauliche Erbe dieser Stadt, welches unterschiedlichen politischen Systemen entstammt. Historische Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts zeigen uns dieses Areal als dichte bauliche Stadtstruktur mit Wohnhauskomplexen, die Innenhöfe umschlossen. Nach großflächigen Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs und teils auch später erfolgte in der historischen Mitte in den 1950er bis 1980er Jahren ein großmaßstäblicher Stadtumbau mit zeichensetzenden Strukturen – allen voran der Fernsehturm mit Fußumbauung. Es entstand eine „politische Achse“ von der Frankfurter Allee bis zum Brandenburger Tor, gesäumt von zahlreichen Wohn- und Kulturbauten, Regierungs- und Botschaftsgebäuden. Und im Herzen dieses Zentrums entstand dieser große Grünraum, das sogenannte Rathausforum, um das seit längerem gerungen wird. In seinem Gesamtcharakter ist es ein Ort der späten DDR-Moderne, deren Gebäude den Freiraum beidseitig in der Längsachse einfassen. Der in der DDR-Zeit entstandene Freiraum ist ohne Bezüge zur historischen Altstadt, wie allein die heute freigestellte Marienkirche belegt, welche einst auf der Süd- und Ostseite von einer winkelförmigen Struktur zweier Häuser­ zeilen flankiert wurde. Gleichwohl sehen wir hier keinen geschichtslosen Ort, sondern vielmehr einen Ort, der die Schichten der widerspruchsvollen, vielfacettierten Stadtgeschichte offenlegt. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Genauso wie seine Jahrhunderte alten historischen Tiefenschichten sind seine jüngeren geschichtlichen 4  So lautete der Titel einer Tagung des Jahres 2013, die zwei Jahre später veröffentlicht wurde: Paul Sigel und Kerstin Wittmann-Englert (Hg.): Freiraum unter dem Fernsehturm. Historische Dimensionen eines Stadtraums der Moderne, Berlin 2015.

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Rathausforum, ehem. „Festraum der Stadt“ (1968/69, Hubert Matthes, Manfred Prasser)

Dimensionen und seine zukünftige Entwicklung im Zusammenhang mit größeren räumlichen Kontexten und Bedeutungszuschreibungen und auch sein Identifikationspotenzial hin zu analysieren. Gewollt, nicht gewachsen – so könnte man die Entwicklung und das Ringen um diesen Ort vielleicht beschreiben: eine historische Mitte, die innerhalb von 150 Jahren durch nicht nur unterschiedliche, sondern diametral



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entgegengesetzte Leitbilder gekennzeichnet ist. Der Freiraum unter dem Fernsehturm ist weiterhin unbebaut, trotz Begehrlichkeiten, ihn in Teilen nach historischem Vorbild wieder baulich zu verdichten. Hier ist nicht der Platz, die aktuellen Diskussionen nachzuzeichnen. Doch ganz offensichtlich differieren die Wahrnehmungen des zur Debatte stehenden städtischen Raumes. Das Spektrum der widerstreitenden Meinungen zu dem hier gezeigten Areal reicht von der Einschätzung als signifikantes Geschichtsdokument bis hin zur Einschätzung als städtebaulich verfehlte Brache und Bauland.5 3. Architektur-Botschaft Mit Berlin als Hauptstadt verband und verbindet sich die repräsentative Bauaufgabe der Botschaft: angefangen bei den Gesandtschaften des 19. Jahrhunderts über die Botschaften aus der Zeit des Nationalsozialismus und die internationalen Repräsentanzen in Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR bis zu den zahlreichen Botschaftsneubauten, die nach der Wiedervereinigung entstanden sind. Alfred Englert porträtierte sie für den Architekturführer „Botschaften in Berlin“6, den mein Kollege Jürgen Tietz und ich herausgaben. Im Sinne der hier angestrebten Chronologie und als herausragender Vertreter der späten 70er Jahre ist hier der letzte Botschaftsneubau der DDR gezeigt: Die für die einstige ČSSR errichtete Botschaft von Vera Machoninóva und Vladimir Machonin, in der heute die Tschechische Republik residiert. Sie bildet ohne Zweifel den gestalterischen Höhepunkt der Botschaftsbauten jener Berliner Zeit. Die ČSSR residierte ab 1978 in dieser höchst individuellen, in der Materialverwendung vom Brutalismus geprägten Architekturplastik. Die „Belle Etage“ wölbt sich mit einem großen, teilbaren Bankettsaal in den Straßenraum hinein, die darüber liegenden Geschosse scheinen jeweils an den Nahtstellen wie eingeschnürt. Überzeugend stellt Lucas Elmenhorst das Bauwerk in die Tradition des tschechischen Kubismus, wobei – so Elmenhorst – „die Fassade im Gegensatz zu den komplexen Strukturen der frühen kubistischen Bauten auf zwei Module übergroßer Prismen im Sinne eines Zeichens des tschechischen Kubismus reduziert wurde.“7

5  Dieser lange Abschnitt entstammt – mit nur leichten Veränderungen und Ergänzungen der Einleitung von Paul Sigel und Kerstin Wittmann-Englert, in: dieselben: Freiraum unter dem Fernsehturm. Historische Dimensionen eines Stadtraums der Moderne, Berlin 2015, S. 7. 6  Kerstin Englert und Jürgen Tietz (Hg.): Botschaften in Berlin, mit Fotografien von Alfred Englert, Berlin 2003. 7  Lucas Elmenhorst, Kann man national bauen? Die Architektur der Botschaften Indiens, der Schweiz und Großbritanniens in Berlin, Berlin 2010, S. 91.

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Ehem. Botschaft der ČSSR (1974–78, Vera Machoninóva, Vladimir Machonin)

Außen wie innen höchst individuell und bis in die Details authentisch im Erhaltungszustand, bildet die Botschaft ČSSR eines der wenigen prägnanten, auch in den Westen wirkenden Zeichen nationaler Selbstdarstellung in der früheren DDR. Nach der Wiedervereinigung entstanden zahlreiche Botschaftsneubauten. Die bauliche Botschaft wurde zur inhaltlichen Botschaft: Mit der Vielzahl an teils spektakulären Solitären, mit denen sich die Nationen in Berlin präsentieren, werden Botschaften gesandt – in architektonischen Formen sowie länderspezifischen Materialien, Ornamenten und Formen. 4. Neue Haustypologie Dreißig Jahre nach der ersten, weltweit wahrgenommenen Bauausstellung, die ihr Zentrum im Hansaviertel hat, veranstaltete Berlin in den 80er Jahren eine weitere internationale Bauausstellung: Auf die Interbau von 1957 folgte nach dreißig Jahren die IBA 1987. Die Interbau war ein Demonstrationsvorhaben mit Modellcharakter. 53 Architekten aus 13 Ländern entwarfen Punkthochhäuser, Zeilenbauten, Wohnhausscheiben und eine teppichartige Anordnung aus ein- und zweigeschossigen Bungalows mit unterschiedlichen Handschriften, städtebaulich



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Wohnbebauung am Lützowplatz (1979–83, Oswald Mathias Ungers)

der Maxime einer „aufgelockerten und durchgrünten Stadt“ folgend. Die Gebäude der Interbau zeigten Individualität in Formen und Wohngrundrissen gleichermaßen. Mit der dreißig Jahre später stattfindenden IBA wurde ein radikaler Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung vollzogen, in deutlicher Abkehr zu ebenjener Moderne der Nachkriegsjahrzehnte. Diese zweite Internationale Bauausstellung Berlins bildete „ein Forum, in dem die internationalen Debatten zur Revision der Moderne, zur Wiederentdeckung der historischen Stadt und zur kritischen Neuaneignung historischer Raum- und Bautypologie gebündelt werden konnten“, wie Werner Durth und Paul Sigel es prägnant in ihrem (ge-)wichtigen Handbuch „Baukultur“ formulierten.8 Die IBA hat zwei Leitbilder erarbeitet und verbreitet: die behutsame Stadterneuerung und die Kritische Rekonstruktion der Stadt. Erstere verbindet sich mit dem Namen Hardt-Waltherr Hämer, letztere mit jenem von Josef Paul Kleihues, den Direktoren der IBA Berlin. Von Kleihues stammt der Begriff der „Kritischen Rekonstruktion“. Für ihn stand sie für einen Weg des Dialogs zwischen Tradition und Moderne. Stellvertretend ist hier der Lützowplatz gezeigt – genauer: die von Oswald Mathias Ungers entworfene, zwischen 1979–1983 errichtete und bereits wie8  Werner Durth und Paul Sigel, Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009, S. 594.

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der abgerissene Wohnbebauung am Westrand des Platzes. Hier gelang dem Architekten die Übersetzung der klassischen Hausform mit Satteldach in unterschiedliche Typologien: das Reihenhaus, die Stadtvilla und das Mehr­ familienhaus – verbunden durch Grünareale mit Gärten und kleineren Spielplätzen. Ungers entwickelte für diesen Ort eine „Stadt in der Stadt“ in Gestalt einer symmetrischen, rationalen Struktur, einer in sich kohärenten Figur. Auch wenn diese zweifellos außergewöhnliche und, ins Detail geblickt, auch überzeugende Lösung leider nicht mehr besteht, so bietet Berlin in den verschiedenen Wohnarealen der IBA unterschiedlichste Lösungen zum Thema Wohnen in der Stadt, die nicht nur bis heute auf Akzeptanz stoßen, sondern als schützenswertes Erbe zunehmend ihren Platz in der Berliner Denkmalliste finden. 5. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Dieser Baukomplex gehörte zu den bevorzugten Motiven meines Vaters. Im Verlauf mehrerer Jahre hielt er ihn mit Blick auf die stadträumliche Figur, technische Besonderheiten wie die Brückenkonstruktion mit aufgehängten Geschossen über dem Kaisersaal und die geneigte Stahlseil- und Stabkon­ struktion über der Sony-Plaza oder eben auch die Lichtinszenierung bei Nacht fotografisch fest.

Sony Center am Potsdamer Platz (1996–2000, Murphy/Jahn)



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Der Potsdamer Platz bildete bekanntermaßen einst den pulsierenden Mittelpunkt der Metropole. Nach Jahrzehnten als Brache rückte dieses Areal mit dem Mauerfall erneut ins Zentrum – und zwar als Scharnier zwischen Ost und West. Ab 1994 entstand ein in der Tradition der historischen Innenstadt dicht bebautes Areal. Wichtig scheint mir die, selbst in der Fotografie nachvollziehbare Beobachtung zu sein, dass der Übergang vom Osten, also dem Leipziger Platz zum Potsdamer Platz städtebaulich überzeugender geriet als der hier gezeigte zur nachkriegsmodernen Stadtlandschaft des angrenzenden Kulturforums. Eine Erklärung dürfte die städtebauliche Akzentsetzung der beiden Hochhäuser von Hans Kollhoff und Murphy/Jahn bilden, die vergleichbar einem Tor in das angrenzende Neubaugebiet hineinführen, während das Sony Center sich nach Westen gegen die durchgrünte und aufgelockerte Stadtlandschaft abgrenzt. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass der Architekt Helmut Jahn damit letztlich eine Planung aus Mauerzeiten „weiterführt“: denn auch die von Hans Scharoun geplante Staatsbibliothek und die verlegte und aufgeweitete Potsdamer Straße haben eher eine trennende, denn eine verbindende Wirkung. 6. Ein demokratisches Band Blicken wir zurück: Auf den Monumentalismus des Dritten Reichs folgte als Gegenreaktion die neue Bescheidenheit der Nachkriegsarchitektur, verkörpert auch in den Regierungsbauten sowie umgenutzten Gebäuden der Bonner Republik. Freilich gab es in Bonn für solche Bescheidenheit ein weiteres Motiv, nämlich die Absicht, alles zu vermeiden, was Zweifel daran hätte wecken können, dass Bonn ein Provisorium sein und bleiben sollte. Das änderte sich etwa in den achtziger Jahren, als man mit dem Bundestag in der Pädagogischen Akademie nicht mehr auszukommen meinte und nach der Bescheidenheit des Wasserwerks einen neuen Bundestag (1982–1992, Günter Behnisch) baute. Der wurde dann allerdings nicht mehr wirklich gebraucht. In Berlin angekommen, konnte man sich zum neuen Standort bekennen und baute entsprechend. Aus dem großen Wettbewerb für die Regierungsbauten 1993 ging das „Band des Bundes“ von Axel Schultes und Charlotte Frank als Sieger hervor: Beginnend mit dem hier aus ungewöhnlicher Perspektive gezeigten Kanzleramt desselben Architekturbüros, entstand eine monumentale, sich über die Spreeschleifen erstreckende Abfolge von Regierungsbauten, mit der ehemaliges Grenzland in Ost- und West-Berlin baulich verbunden wurde. Die geschaffenen Bauten erinnern an die Grand Projets in Paris, welche jeweils bestimmten Präsidenten, die sich engagiert dafür einsetzten, zugeordnet werden können. Ein Vergleich, den die Politik selbst anstellte,

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Bundeskanzleramt (1995–2001, Axel Schultes, Charlotte Frank)

wie ein Interview mit Helmut Kohl in der Architekturzeitschrift Baumeister im Juni 2001 bezeugt.9 Für Kohl war das Kanzleramt die „Visitenkarte der Republik“.10 Das Band des Bundes bildet eine eigenständige Antwort auf die Frage nach dem Bauen für die Demokratie, welche auch in Bonn bereits gestellt wurde mit interessanten Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Gemeinsamkeit zeigt sich wohl am ehesten in der großflächigen Verwendung des Materials Glas. Der Jurist und SPD-Politiker Adolf Arndt hielt 1960 anlässlich der Berliner Bauwochen einen Vortrag in der Akademie der Künste mit dem viel­zitierten Titel „Demokratie als Bauherr“. Auch wenn Arndt selbst Materialien gar nicht angesprochen hat, wurde mit seinem Vortrag zumeist das von ihm geforderte Sichtbarmachen der Struktur mit Transparenz gleichgesetzt. Gewichtiger scheint der Unterschied in der Formensprache zu sein: Denn mit der Befreiung aus dem Provisorium zeigte sich die Architektur wieder selbstbewusst – in raumgreifenden, aber auch filigranen, jedoch nicht monumentalen Großformen.

9  Vgl. Karin Wilhelm, „Demokratie als Bauherr“. Überlegungen zum Charakter der Berliner politischen Repräsentationsbauten, in: Politik und Zeitgeschichte, B 34– 35/2001 [URL: https://www.bpb.de/apuz/26072/demokratie-als-bauherr – letzter Aufruf: 04.05.2020], S. 11. 10  Ebd., S. 12.



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7. Frei und gebunden Nach dem Abschnitt zur IBA ist auch dieser einer Typologie gewidmet: dem Wohngebäude mit Laden im Erdgeschoss. Diese Bauaufgabe, welche in besonderem Maße Erfindungsgeist zulässt, hatte mein Vater beständig auf seiner motivischen Agenda. Er hielt so manche schmale Lückenschließung, die nach der Jahrtausendwende in der Stadtmitte entstanden ist, im Bild fest. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es infolge zahlreicher Zerstörungen entsprechende Lücken allerorten – an Kurfürstendamm und Tauentzien oder auch in Friedrichshain fallen einem vor allem die Ecksituationen ein: wie das abgerissene Lichthaus Mösch Tauentzien/Ecke Nürnberger Straße oder auch die Lückenwohnbauten zwischen Frankfurter Tor und Warschauer Brücke in Friedrichshain, um nur zwei Beispiele zu nennen. Diese Nachkriegslösungen waren der Zeit entsprechend eher bescheiden und nicht so individuell wie die heutigen, von denen zwei hier stellvertretend gezeigt werden. Projekt e3 von Kaden + Lager in der Esmarchstraße ist eine sieben-ge­ schossige Hybridkonstruktion aus Holz und Beton: eine Pfosten-Riegel-Kon­

Projekt e3, Esmarchstraße 3 (2008, Kaden + Lager) – Auguststraße 26a (2003/04, Jörg Ebers)

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struktion, ausgefüllt mit vorgefertigten Dickholzwänden, gedämmt und weiß verputzt, kontrastiert mit einem offenen und freistehenden Treppenhaus aus Sichtbeton. „Das Bauen mit Holz“, so resümiert Doris Kleilein in der Bauwelt, „ist hier kein ästhetischer Imperativ, sondern der Versuch, einen Prototyp als Alternative zum Massivbau zu schaffen.“11 Das zweite Beispiel zeigt eine besonders schmale Variante des Themas auf einem Grundstück, welches vom Stadtplanungsamt zunächst als unbebaubar deklariert wurde. Doch der Berliner Architekt Jörg Ebers entwarf ein Haus aus Stahlbeton und Hochlochziegeln, dessen Fassadenrelief dialektisch auf die benachbarten Häuser des 19. Jahrhunderts reagiert. Tritt dort der Bau­ dekor plastisch hervor, so sind es in Ebers Neubau die dunkel gerahmten Fenster, die leicht vortreten bzw. auf die Fassade aufgesetzt erscheinen. Ihre Anordnung folgt dem Grundriss des Hauses, welches im Erdgeschoss ein Geschäft aufweist und darüber zwei Wohnungen, davon die obere als Maisonette ausgebildet. Und an die Stelle klassischer Dekorelemente wie den ionischen Pilastern des Nachbarhauses zur Linken tritt das Allover eines Mosaiks aus Glasmosaiken. Beide Beispiele – es gäbe etliche weitere zu nennen – veranschaulichen in diesem Kapitel die Chancen, welche Lückenschließungen heute bieten: die Architekt*innen sind frei in der Grundriss- und Fassadengestaltung, der Materialität und Konstruktionsweise, und zugleich gebunden, wenn sie ihre Umgebung ernst nehmen und den historischen Bestand nicht erdrücken wollen. 8. Respektlos Und damit komme ich zum letzten Abschnitt und einem Thema, welches meinem Vater und mir gleichermaßen am Herzen lag. Der Umgang mit der Architektur der Nachkriegsmoderne und ihre Inwertsetzung. Die Baukunst der 50er bis 70er Jahre prägt Berlin in großen Teilen – nicht nur mit Einzelbauten, sondern auch – wie hier am Alexanderplatz – mit Ensembles und stadträumlichen Figuren. Im Hintergrund sind das Haus des Lehrers nebst bcc (Berliner Congress Centrum) sowie dahinter einige der Wohnhausscheiben der 1960er Jahre zu sehen, die im Rahmen des Zweiten Bauabschnitts der Karl-Marx-Allee errichtet wurden. Die inhaltliche, ja: politische Ikonografie des Alexanderplatzes und seiner Randbebauung umfasst bekanntlich auch mehr als die genannten Bauten. Hinzu kommen das Haus der Presse, das Haus der Elektrotechnik und das Haus des Reisens sowie die Weltzeituhr und der Brunnen der Völkerfreundschaft als „strukturbestimmende Bauten 11  Doris Kleilein: Kritische Verkapselung, in: Bauwelt 15/2008, S. 18–23, hier S. 21.



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Haus des Lehrers mit bcc (1961–64, Hermann Henselmann und Kollektiv) und Alexa Berlin (2004–07, Ortner und Ortner)

und Kunstwerke und zusätzlich Bedeutungsträger für den Funktions- und Stadtbereich Alexanderplatz“, wie es in der Denkmalbegründung zum Haus des Reisens treffend formuliert wurde. Wie nun verhält man sich zu einem solchen Stadtraum, dessen Bauten in einem politischen System entstanden sind, welches nicht mehr existiert. Kontrastwirkungen sind unvermeidbar und letztlich – im Wissen darum, dass sich jede Zeit wie eine geologische Schicht in die Stadt einschreibt – eine Selbstverständlichkeit. Doch das hier gezeigte Foto veranschaulicht auch die Probleme. Eine Nachbarschaft wie diese kann nicht als gelungen bezeichnet werden. Letztlich ist das Ensemble aus Haus des Lehrers und bcc stark genug in seiner Wirkung, so dass ihm das benachbarte „Alexa“ wohl nicht wirklich schaden wird. Doch im Sinne einer den (auch bereits historischen) Wert der Ostmoderne respektierenden Stadtplanung ist dieses vis-à-vis nicht zu lesen. Und das ist eines der großen aktuellen Themen in dem einst geteilten und seit über 30 Jahren vereinten Berlin: die Verflechtung von Bauten unterschied­ licher Entstehungszeiten und – je nach Standort – auch unterschiedlicher politischer Systeme. „Berlin ist viele Städte“ – und zwar noch mehr, als Düttmann 1976 und damit vor der Wiedervereinigung, vor Augen hatte. Von politischen Brüchen zeugen architektonische Reaktionen – zweifellos nicht nur so unsensible wie die hier am Schluss gezeigte. Doch mir geht es hier nicht um „schön“ oder „hässlich“, sondern um die Frage nach Wegen und Möglichkeiten der Aneignung bestehender Räume.

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Kerstin Wittmann-Englert

Am Schluss sei mir ein transdiziplinärer Ausblick in die Philosophie gestattet sein, der von der Architektur zum Menschen führt. „Für den Menschen“, so Ernst Cassirer, „ist die Erinnerung nicht einfach Rückkehr zu einem Ereignis, das schwache Bild oder der Abglanz früherer Eindrücke. Sie ist keine bloße Wiederholung, sondern eine Wiedergeburt der Vergangenheit; sie ist verbunden mit einem schöpferischen, konstruktiven Prozeß. Es genügt nicht, isolierte Daten aus vergangener Erfahrung herauszugreifen; wir müssen sie wirklich erinnern, neu zusammenstellen, organisieren und synthetisieren und sie zu einem Gedanken verdichten.“12 Übertragen auf Städtebau und Architektur der im 19. Jahrhundert rapide gewachsenen, im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten, über Jahrzehnte geteilten und seit dreißig Jahren wieder geeinten Stadt Berlin könnte das, so meine Lesart, bedeuten: Erinnerung meint nicht das Zurückdrehen der Zeit in die sogenannte Vor­moderne. Die Wiedergeburt der Vergangenheit ist nicht in rekonstruierenden Formen und Grundrissfiguren gegeben. Die zentralen Stichworte lauten wohl „schöpferisch“ und „konstruktiv“ – und das im Hinblick auf eine Verdichtung der verschiedenen Zeit- und persönlichen wie kollektiven Erfahrungsschichten. Reibungen sind dabei nicht zu vermeiden – schon gar nicht angesichts der hier auch angesprochenen Gegensätze und Brüche, die die Berliner Architektur und Stadtgeschichte kennzeichnen. Doch aneignen, auch verstanden als ein sich zu eigen machen, erwartet in einer so vielfältigen und vielstimmigen Stadt wie Berlin eine erhöhte Form der Sensibilität.

12  Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2010, S. 86.

Alles ist richtig, auch das Gegenteil Von Lutz Krieger Brief von Joachim Wanjura 16.10.2019 „Freundlicherweise hast Du Dich bereit erklärt, einen Beitrag zum 50-jährigen Charterjubiläum im kommenden Jahr zu verfassen … . Von Dir wünsche ich mir einen Artikel zum Thema Metamorphosen der Stadt, der die Entwicklungen der Stadtgesellschaft In den letzten 50 Jahren nachzeichnet. Naturgemäß kann das nur einen Ausschnitt beinhalten. Die Schwerpunktsetzung ist selbstverständlich Dir überlassen. …“ Theodor Fontane: „Alles Alte, soweit es den Anspruch darauf verdient hat, sollen wir lieben; aber für das Neue sollen wir eigentlich leben.“ Erich Kästner: Vorwort zur Auswahl von Kurt Tucholsky; Texten Berlin „Oktober 1948“, „Gruß Nach Vom.“ Lieber Leser 1985. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bischen über den Zeitpegel … da, ich wußte es: Du lächelst mich aus. „Alles Ist richtig, auch das Gegenteil, Nur zwar … aber … das ist nie richtig.“

Versehen mit diesen Vorgaben, frage ich mich mit Alfred Kerr, „Wo liegt Berlin?“ Ja, wo eigentlich? – in Spandau, wo dieser Club gegründet wurde? Berlin vor 50 Jahren war auch Rotary Berlin, aber tief im Herzen seiner Mitglieder Spandau, was hier geschah waren die Metamorphosen seiner Rotarier, vor den Toren Berlins: Bodenständig, Handfest – Aufgeschlossen für Entwicklungen im nahen Berlin. Kaufleute waren es, die die Veränderungen in der Teil-Großstadt West-Berlin beobachteten und aktiv wurden. Klaus Grobe, der Bäcker – sein feines Filialnetz in Berlin veränderte dort Lebensgewohnheiten, er war ein Pionier seiner Branche. Berlin selbst ist (und war) in Dauer-Veränderung, nicht Hauptstadt, aber Hauptort für das Neue – Stichwort: Studentenproteste – Bewegung – Aufstand. Die Jünger von Habermaß versammelten sich in Berlin (West), wo sich Theorie und Praxis verbanden. „Demos“ am Kudamm und anderswo und besetzte Häuser, Straßenschlachten am 1. Mai und Gerichtsverfahren mit „Provozier Potenzial“ – die Justiz als Scherzobjekt in Prozessen und Rechtsanwälte als Hel-

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Lutz Krieger

fershelfer – kein Hindernis für Otto Schily, bei seiner folgenden bürgerlichen Karriere. Metamorphosen einer Stadt von Menschen gemacht, für Menschen gedacht – übrigens auch im Ostteil der Stadt, der sich Hauptstadt nannte und – Zitat Kurt Schumacher in einer Rede 1947 „die rotlackierten Nazis“ – einer Teilstadt, in der die Plattenbauweise ihre Geburtsstunde hatte, – in den 70er und 80er Jahren architektonische Öde präsentierte, dicht gefolgt von der Stahl-Glas-Architektur im Westteil Berlins, wo zuvor Altstadt-Quartiere abgerissen wurden, um neue Wohnviertel zu errichten. Gutes und Schlechtes dicht beieinander, Gropiusstadt und Märkisches Viertel – Hoch – mittel – aber niemals niedrig war die Devise, – keine Hinterhöfe – aber auch keine Spielplätze in Marzahn und anderswo. WWS 70, die Einheitswohnung, in Berlin-West die „Schlange“ Schlangenbader Straße – Autobahnüberbauung. In den 70er und 80er Jahren lebte in Berlin West der „evolutionierte Geist“ noch in Studentenkreisen – aber eine radikale Gruppe spaltete sich ab, die Terroristenszene entstand – Rote Armee Fraktion, die Bewegung 2. Juni, das alles waren Vorboten einer Metamorphose des Terrors. 1974 wurde Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann ermordet und kurz vor der Abgeordnetenhauswahl 1975 wurde Peter Lorenz, der CDU-Vorsitzende, entführt, von Terroristen gefangen gehalten und dann gegen linke Straftäter ausgetauscht. Die Teilstadt West Berlin am Abgrund? Ja und Nein! Politisch im Chaos – eine Bau-Affäre um den Architekten Garski, ein Sex and Crime-Geschehen um die Architektin Sigrid Kressmann-Zschach mit ihrem Baumonster Steglitzer Kreisel, war es das, was auf- und anregte. Die Stadterneuerung schaffte neue Viertel, im Sanierungsgebiet Brunnenstraße (Wedding), 17.000 Wohnungen – ein Ende der Elendsviertel mit Hof-Klo und Hinterhöfen ohne Sonnenlicht. Bitte nicht vergessen: die Stadtautobahnen – ohne sie wäre das tägliche Auto-Desaster noch größer. Ja und dann: die 750 Jahr-Feier Berlins, – getrennt natürlich 1987. Aufwendige Restaurierungen des Martin-Gropius-Baus und des Hamburger Bahnhofs und als Naherholungsgebiet aus der Retorte die Bundesgartenschau von 1985. Der Westteil Berlins dümpelte politisch und wirtschaftlich vor sich hin. Die Menschen hatten sich mit der Mauer arrangiert, die Politik gab zu Gedenktagen Erklärungen mit Versprechen ab – empfand im fernen Bonn „das Ganze – wie Gottfried Benn sagt: ‚teils, teils‘ “. Wir lebten mit WestAlliierten Paraden und Ost-Berlins Mai-Paraden vor politischer GreisenFührung, so vor uns hin – Metamorphose zweier Großstädte unter unterschiedlicher politischer Führung. Demokratie hier – eine Parteien-Diktatur dort. „Alles ist richtig, auch das Gegenteil, Nur; zwar … aber … das ist nie richtig.“



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Günter Schabowski leitete die wohl gewaltigste Metamorphose der Stadt Berlin ein – seine aus momentaner Unkenntnis gesprochene Befreiungsformel in der Pressekonferenz, am 09. November 1989 – „nach meiner Auffassung gilt die Ausreise ab sofort“ war eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Ein Satz veränderte die Welt, veränderte das Leben einer Millionenstadt, veränderte Menschen von Teilungs-Leiden, den Tätern und Mittätern – veränderte eigentlich alles – Metamorphose-Wandel! Die Menschen hüben und drüben erlebten Berliner Versprechen, zum Teil gelogen und betrogen, das gehörte zum Wandel, dem noch immer Annäherung fehlt. Daran ändern auch nichts die sichtbaren Regierungsbauten, die die Stadt zur Hauptstadt umfunktionierten. Während die politischen Zentren den Bürger auf Distanz halten, kann allein der Reichstag, den mancher aus Bonn Zugereiste in Bundestag umbenennen wollte, den politischen Wandel durch Annäherung an den Bürger für sich nicht in Anspruch nehmen – die Kuppel „Englisches Demokratie-Verständnis“ in Architektur umgesetzt – plädierte und schuf die begehbare Aussicht für Jedermann. Berlin wurde in 20 Jahren neu erfunden, nicht von der Politik – nein (!), die Menschen fanden sich und erfanden eine neue Metamorphose, eine Stadt, wie hat unser großer deutscher Dichter der Märker Theodor Fontane gesagt: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf verdient hat, sollen wir lieben; aber für das Neue sollen wir eigentlich leben.“

– Heute wäre er damit Rotarier.

Einsatzlage Mauerfall Von Georg Schertz In den vergangenen Jahren bin ich häufig gefragt worden, ob die Berliner Polizeiführung für das, was am Abend des 9. November 1989 geschah, ir­gendeinen nachrichtendienstlichen Vorlauf oder anderweitige Vorauserkennt­ nisse hatte. Nein, wir wurden von den Ereignissen ebenso überrascht, wie die sog. Frau, der sog. Mann auf der Straße. Als Beleg mag dienen, dass mein Kalender für den 9. November 1989 keinen wirklich wichtigen dienstlichen Termin vorsah und deshalb die Zusage enthielt, dass ich um 16:30 Uhr an der Verleihung des „Goldenen Lenkrades“ im Axel-Springer-Hochhaus teilnehmen und abends um 19:30 Uhr die Geburtstagsfeier des Filmemachers und damaligen Mitbetreibers des privaten Radiosenders 100,6 Ulrich Schamoni, der 50 wurde, besuchen würde. Auch in der morgendlichen sog. Großen Lagebesprechung in der Landespolizeidirektion, die unter meiner Leitung wie immer täglich gegen 10:00 Uhr stattfand, gab es keinerlei Nachrichten, die auch nur im Entferntesten auf das hingedeutet hätten, was dann in den Abendstunden geschehen sollte. Natürlich hatten wir bei unseren langfristigen Lageeinschätzungen schon seit einiger Zeit gesehen, dass es in der DDR im Zuge der Veränderungen in Osteuropa ebenfalls zu Destabilisierungstendenzen gekommen war und dass es im konkreten Bereich möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich war, dass die DDR-Führung eine wie auch immer ausgestaltete Reiseerleichterung erlassen würde zumal es hierzu unmittelbare Erkenntnisse des Reg. Bürgermeisters Momper gab. So beschäftigte uns die Frage, welche Vorbereitungen insoweit angezeigt wären und dabei insbesondere, was zu geschehen hätte, wenn ausgereiste DDR-Bürger sich in größerer Zahl entschließen würden, nicht nach Berlin-Ost bzw. in die DDR zurückzukehren. Diesem Thema galt beispielsweise noch eine Unterredung am 3. November 1989 um 11:00 Uhr beim Senator für Inneres, an der ich teilnahm. Hierbei ging man davon aus, dass eine solche Reiseerleichterung nicht vor Dezember 1989 in Kraft treten werde. Ich befand mich also ab 19:30 Uhr auf der Geburtstagsfeier von Herrn Schamoni, als mich gegen 20:15 Uhr mein Fahrer von einer in meinem Dienstwagen telefonisch aufgelaufenen Meldung unterrichtete, dass sich am Übergang Bornholmer Straße auf Ostberliner Seite eine größere Zahl von



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Menschen, später auch Fahrzeuge versammelt hätten, die erkennbar darauf drängten, nach Berlin-West durchgelassen zu werden; erste Personen hätten bereits die Grenze passiert. Ich begab mich sofort in mein Fahrzeug, nahm telefonischen Kontakt mit dem Lagedienst auf, der diese Meldungen bestätigte und inzwischen noch ergänzen konnte. So erfuhr ich nun auch, was sich auf der Internationalen Pressekonferenz von Günter Schabowski zuvor abgespielt hatte. Das Vorhandensein eines zentralen „Großen Lagedienst“ der Berliner Polizei (die östliche Seite verfügte im dortigen Präsidium über eine vergleichbare zentrale Einrichtung nicht, sondern war an der Spitze lediglich auf einzelne Lagemeldungen aus den Inspektionen angewiesen) – erwies sich als großer Vorteil und ermöglichte so am Abend des 9. November die sehr schnelle Herausgabe einer ersten umfassenden Lageinformation die nicht nur die regierungs-amtliche Mitteilung zur neuen Reiseregelung in der Fassung von ADN, sondern bereits erste Anweisungen an die auf unserer Seite eingesetzten Polizeikräfte enthielt. So wurden die Direktionen 1 bis 5 angewiesen, an den Grenzen und insbesondere an den Grenzübergangsstellen anlassbezogen aufzuklären und von Einzelmeldungen abgesehen mindestens zweistündlich, erstmals zu 23:00 Uhr einen umfassenden Lagebericht abzusetzen. Der Große Führungsstab der Landespolizeidirektion trat kurz nach 21:30 Uhr zusammen. Von einer im Verhältnis dazu gleichwertig kurzfristigen Erfassung der Lage auf östlicher Seite konnte demgegenüber keine Rede sein. Die erkennbar verfrühte und zudem konfuse Bekanntgabe der neuen Reiseregelung durch Günter Schabowski mit dem Hinweis, dass diese „sofort“ und „unverzüglich“ gelte, überraschte die für die Grenze Verantwortlichen völlig. Der streng hierarchische Aufbau erwies sich an diesem Abend als fatal, weil jedermann nur handeln wollte, wenn der jeweils Übergeordnete dies auf Rückruf bestätigte bzw. anordnete. Und es war diese Rückkopplung, die an diesem Abend nicht funktionierte. Vom Kommandeur des Grenzkommandos Mitte General Erich Wöllner ist bekannt, dass er in dieser Situation resig­ nierte: „Wenn man mich nicht unterrichtet, mache ich gar nichts“. Mein späterer Verhandlungspartner Oberst Günter Leo, der stellvertr. Kom­ mandeur des Grenzkommandos Mitte wurde erst um 22:30 Uhr alarmiert und anläßlich einer späteren Podiumsdiskussion hat mir der stellvertr. Verteidigungsminister der DDR, Generaloberst und Chef des Hauptstabes der NVA Fritz Streletz erzählt, er habe sich in den fraglichen Abendstunden in seinem Dienstwagen auf einer Fahrt nach Straußberg befunden. Da aber sein Dienstwagen – ich wollte es nicht glauben – über kein Telefon verfügte, habe er von den Ereignissen erst in Straußberg und zudem dort nur sehr wenig Konkretes erfahren.

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Um 19:35 Uhr äußerte sich bereits der Regierende Bürgermeister Walter Momper zu den Ankündigungen Schabowskis in der Berliner Abendschau, jedoch noch in der Annahme, wir hätten es nur mit einer nun schneller als erwartet erlassenen Reiseregelung zu tun. Dennoch wurde die Situation als so dramatisch angesehen, dass der Chef der Senatskanzlei Prof. Dieter Schröder zu 22:00 Uhr eine Sondersitzung des Senats in’s Rathaus Schöneberg einberief, an der die Mitglieder des Senats, die Geschäftsführer der BVG und ich teilnahmen. Bei Beginn der Sitzung hatte sich jedoch bereits abgezeichnet, dass die Ereignisse weit über die angesprochene Einschätzung hinausgingen. Die Besprechung stand unter der Besorgnis, wie die Grenztruppen reagieren würden, wenn es zu einem Sturm größerer Menschenmassen käme und was zu machen sei, wenn eine große Zahl von Menschen entweder nicht zurück wolle oder – auch das wurde erwogen – von den DDR-Machthabern möglicherweise gleichsam „ausgebürgert“ oder jedenfalls an der Rückkehr gehindert werden sollte. Wo bringen wir die Menschen unter, wie werden sie versorgt? Konkrete Entscheidungen oder Weisungen ergingen jedoch nicht, die Lage war ja auch abzuwarten. Inzwischen hatte – wie wir heute wissen – kurz nach 21:00 Uhr Oberstleutnant Harald Jäger vom Grenzübergang Bornholmerstraße mit dem MfSOberst Ziegenhorn und dieser mit Generalleutnant Neiber dem stellvertr. Minister für Staatssicherheit telefonischen Kontakt aufgenommen. Es erging die mündliche Anweisung, die Aufsässigsten und die, die provokativ in Erscheinung traten, raus zu lassen, einen Stempel im Ausweis halb über das Lichtbild zu drücken, dann aber diesen Personen die Einreise nicht wiederzugestatten. Diese anfänglich noch praktizierte Verfahrensweise brach jedoch bei laufend anwachsender Menschenmenge schon ab etwa 23:30 Uhr in sich zusammen, der Grenzübergang wurde unter Verzicht jeglicher Kontrolleingriffe völlig geöffnet. Ich fahre noch für kurze Zeit in’s Polizeipräsidium führe eine kleine Lagebesprechung, berichte über die Sitzung im Rathaus Schöneberg und fahre dann anschließend zum Grenzübergang Invalidenstraße/Sandkrugbrücke, von wo ebenfalls nun ein besonders starker Ansturm auch von Fahrzeugen gemeldet worden war. Als ich wohl kurz nach 23:30 Uhr dort eintraf, fand ich eine rundum euphorische Stimmung vor. Es herrschte sehr starker Grenzverkehr, die „Trabbis“ beherrschten die Szene, wurden auf westlicher Seite jubelnd empfangen, Menschen fielen sich in die Arme und öffneten zuweilen mitgeführte Sektflaschen. Auf der Mauerkrone standen ein Hauptmann der Grenztruppen und ein Westberliner Polizist, die von dort oben mit dem entsprechenden Überblick die Situation zu ordnen suchten. Da sich unser Polizei­ beamte so gesehen auf Ostberliner Gebiet befand, wies ich den mich beglei-



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tenden Kriminaloberrat an, hier klärend nachzufragen. Er erhielt von dem erwähnten Hauptmann der Grenztruppen die sinngemäße Antwort, das ginge schon in Ordnung, es sei eine Entscheidung der DDR, hier gemeinsam und unbürokratisch zu handeln. Wenig später trafen dort auch der Regierende Bürgermeister und der Chef der Senatskanzlei ein. Auf westlicher Seite gehörte der Ort zum britischen Sektor. Ein Vertreter der britischen Schutzmacht war jedoch bis gegen Mitternacht nicht erschienen. Erst als insoweit der Regierende Bürgermeister und der Chef der Senatskanzlei aus einem dort vorhandenen Diensthäuschen der Berliner Polizei mit den Alliierten telefonisch Kontakt aufnahmen, kam in der Folge britische Militärpolizei zum Grenzübergang, überließ alles Weitere aber der Berliner Polizei. Dieser Vorgang war für ganz Berlin typisch für jene ersten Stunden des Geschehens. Offensichtlich galt bei den westlichen Schutzmächten anfänglich das Gebot größter Zurückhaltung. Die auch für die Alliierten offensichtlich überraschend eingetretene Lage verlangte aus deren Sicht natürlich zunächst nach einer Rückkoppelung mit den betroffenen Hauptstädten. Ich komme nun auf eine Lageentwicklung zu sprechen, die zum Zeitpunkt selbst – man wird wohl sagen müssen glücklicherweise – der Öffentlichkeit, den Menschen in Ost wie in West nahezu gänzlich verborgen blieb die aber für einen Zeitspanne von circa 23 Stunden mit der Gefahr eines militärischen Eingreifens der DDR zu kaum vorstellbaren Folgen hätte führen können. Der Spiegel (Nr. 40/95 ) titelte später: „… und es fiel kein einziger Schuß“ und Focus (Nr. 41/96 ) „Um Haaresbreite“. Während der Druck auf die übrigen Grenzübergänge in der Nacht vom 9. zum 10. November ständig zunahm, blieb die Lage am Brandenburger Tor zunächst ruhig. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die DDR diesem Ort besondere, ja geradezu symbolhafte Bedeutung bei der Geltendmachung ihrer staatlichen Souveränität beimaß. Wenn generell das Bemühen sichtbar wurde, den Grenzverkehr ausschließlich auf die vorhandenen sowie auf die später neu eingerichteten Übergänge zu beschränken und insbesondere das Überklettern der Mauer an anderen Stellen tunlichst zu verhindern, so hatte Letzteres am Brandenburger Tor offensichtlich absoluten Vorrang. Auf Ostberliner Seite war zudem mit der Absperrung des Pariser Platzes auch der Ostberliner Bevölkerung der Zugang zum Brandenburger Tor seit jeher versperrt. Auf Westberliner Seite hatten zwar einige Personen die dortige Panzermauer erklettert, kamen der Aufforderung der DDR-Grenzsoldaten aber widerspruchslos nach, in den Westteil zurückzuspringen. Noch gegen 22:00 Uhr war die Lage stabil. Das änderte sich aber in den Folgestunden bis Mitternacht, es waren jetzt 400 bis 500 Personen auf der Mauerkrone, die der

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östlichen Aufforderung, die Mauer zu verlassen, nun nicht mehr nachkamen. Auf Westberliner Seite hatten sich mittlerweile mehrere tausend Menschen und auf Ostberliner Seite unmittelbar vor den dort seit jeher aufgestellten Rollgittern, also unmittelbar vor dem Pariser Platz, mehrere hundert Personen versammelt. Auf beiden Seiten hielt der Zustrom von Menschen zudem an. Die Rollgitter wurden alsbald überstiegen, von westlicher Seite die Mauer erklommen und annähernd 200 sprangen von dort auf den Pariser Platz, wo sie einer Postenkette der Grenztruppen gegenüberstanden. Bei den am frühen Morgen des 10. November wiederaufgenommenen Beratungen des Zentralkomitees der SED breiteten sich in dem Meinungsbild – „Wir stehen vor dem Ausverkauf“ – Panik, Chaos und allgemeine Auflösungserscheinungen aus. Was der Generalsekretär den Mitgliedern des ZK jedoch vorenthielt, er, Krenz hatte bereits am frühen Morgen mit dem Befehl Nr. 12/89 die Bildung einer „Operativen Führungsgruppe“ des Nationalen Verteidigungsrates befohlen, die gegen 8:00 Uhr unter Leitung des Chefs Hauptstabes der NVA Generaloberst Streletz ihre Arbeit aufnahm. Gleich zu Beginn der Beratungen in der operativen Führungsgruppe wurde dann auch erörtert, ob die Grenzübergange – ggf. unter Einsatz der Armee – wieder geschlossen werden könnten. Dies allerdings lehnte der Chef der Grenztruppen Generaloberst Baumgarten zu diesem Zeitpunkt noch ab, er müsse aufmarschieren und ggf. schießen lassen, wozu er nicht bereit sei. So wurde zunächst der Versuch unternommen, im Wege „ziviler“ Maßnahmen die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen. Hierzu gehörten die Bemühungen, mit großem Personalaufwand doch Visumsstempel in die Pässe zu drücken, um so der Grenzüberschreitung Förmlichkeit zu verleihen wie auch das schnelle Einrichten weiterer Grenzübergange, um so die Personenströme zu teilen und damit beherrschbarer zu machen. Verlautbarungen wie „Die Regierung der DDR steht zu ihrem Wort“ und es handele sich nicht um eine befristete Maßnahme, die Bürger der DDR könnten sich vielmehr auf deren Dauerhaftigkeit verlassen, gehörten ebenfalls zu dieser Strategie. Doch alle zivilen Maßnahmen kamen zu spät und konnten – wie etwa die Visa-Erteilung nicht durchgehalten werden. Am Brandenburger Tor hatten sich inzwischen Tausende versammelt, die Panzermauer war voll von Menschen und auch der Zustrom von Ost-Berlinern zum Pariser Platz konnte schon im Vorfeld nicht mehr gestoppt werden. Die Tagesmeldung des „Großen Lagedienstes“ der Berliner Polizei (Nr. 315/89) vermerkt für die westliche Seite ganztägig bis zu 10.000 Personen, davon circa 2.000 auf der Mauer sowie für die Zeit nach 20:00 Uhr, dass mit Flaschen und Steinen gegen die dort eingesetzten Grenzsoldaten geworfen werde, 14 Personen wurden festgenommen.



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Blieb uns, der Berliner Polizei, schon die Bildung der „Operativen Führungsgruppe“ verborgen, so erfuhren wir auch nichts von dem, was da in den Folgestunden im Noch-Herrschaftsbereich der DDR zusätzlich geschehen sollte. Ob deutsche oder erst recht westalliierte Dienststellen in Wahrheit mitbekommen hatten, was da lief, und den Kreis der Informierten bewusst klein hielten, etwa um jede Unruhe zu vermeiden, entzieht sich meiner Kenntnis. Zumindest die militärischen Vorbereitungen, auf die ich noch eingehen werde, können eigentlich den entsprechenden Diensten auf westlicher Seite nicht entgangen sein. Aber wie gesagt, es wäre nachvollziehbar, nein eine aus meiner Sicht zu diesem Zeitpunkt sogar richtige Entscheidung, eine solche Nachrichtenlage weitestgehend zurückzuhalten, weil nicht auszuschließende Undichtigkeiten die Besorgnis begründen musste, es könne eine Unruhe in der Öffentlichkeit ausgelöst werden, die nun wirklich kontraproduktiv gewesen wäre und an der Sache selbst ohnehin nichts hätte ändern können. Bei der Führung der DDR wurde diese Entwicklung nun als eine „Zuspitzung der Lage“ angesehen. Krenz und Verteidigungsminister, Armeegeneral Heinz Keßler verständigten sich daher an diesem 10. November 1989 gegen 12.45 Uhr, Truppenteile der Nationalen Volksarmee in die sog. „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ zu versetzen, womit die Voraussetzungen für ein jederzeitiges militärisches Eingreifen eingeleitet wurden. Jedenfalls war seit dieser Mittagsstunde des 10.November 1989 im weiteren Verlauf der Ereignisse ein militärisches Eingreifen zur „Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung“ an der Berliner Mauer nicht mehr auszuschließen. Wie gesagt, wir wussten von alledem nichts, unser eigenes Handeln, auf das ich noch eingehen werde, hatte also keinerlei informellen Hintergrund, sondern erfolgte ausschließlich aus einer in eigener Einschätzung als äußerst gefährlich angesehenen Lage. Um 13.00 Uhr befahl der Generaloberst, stellvertr. Verteidigungsminister und Chef des Hauptstabes der NVA Fritz Streletz die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für die in Potsdam stationierte 1. Motorisierte Schützendivision (1. MSD ) und das in Lehnin untergebrachte Luftsturmregiment-40 „Willi Sänger“. Beide Verbände unterstanden dem Kommando der Landstreitkräfte in Geltow bei Potsdam und gehörten insbesondere zu einer als „Berliner Gruppierung“ bezeichneten Formation, die im Kriegsfall dazu ausersehen war, gemeinsam mit anderen Verbänden Westberlin einzunehmen Was bedeutete nun die Anordnung der „Erhöhten Gefechtsbereitschaft“? Zur Herstellung der „Erhöhten Gefechtsbereitschaft“ müssten die Einheiten eine Reihe von Maßnahmen durchführen, die nötig waren, um die kurzfristige Erfüllung von Gefechts- und Mobilmachungsaufgaben sicherzustellen. Es war die Marschbereitschaft der Truppen und Führungsorgane herzustellen. So war die persönliche Bewaffnung an alle Angehörigen der Einheiten auszugeben, die Kampftechnik musste entkonserviert, ausgelagert und aufmunitioniert,

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die Fahrzeuge betankt und durchgestartet werden. Mit anderen Worten: Die gesamte Kriegstechnik wurde einsatzbereit und abfahrbereit gemacht, der Führungsstab eingerichtet. Der jeweilige Kommandeur wartete nun nur noch rund um die Uhr auf weitere Befehle aus dem Kommando der Landstreitkräfte. Bei der Bewertung der Vorgänge kann man wohl trotz der genannten Einheiten ausschließen, dass weitergehende Überlegungen als die der Wiederherstellung des Grenzregimes eine Rolle spielten. Doch wer konnte eigentlich sicher sein, ob man bei einem wirklichen Einsatz diesen auf ein solches Ziel hätte eingrenzen können. Eines jedenfalls steht fest, hier hatte die Anordnung der sog. „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ zumindest in ihrer praktischen Umsetzung, d. h. das, was bei der Truppe ankam, eindeutig eine militärische Ausrichtung. Daneben waren ja für das Grenzkommando Mitte an diesem 10. November und zwar bereits um 0.20 Uhr durch General Wöllner die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ angeordnet und anderweitig das MfS-Wachregiment Feliks Dzierzynski alarmiert worden. Insgesamt standen so über 30.000 Soldaten bereit, die binnen kürzester Zeit in Gefechtshandlungen hätten eintreten können. Was ich geschildert habe, ist die ab 13.00 Uhr im Bereich der DDR bestehende Lage Ob und wann und unter welchen Voraussetzungen die DDRFührung ihren Vorbereitungen hätte Taten folgen lassen‚ bleibt offen und war der Berliner Polizei in logischer Konsequenz erst recht nicht bekannt. Aber dass es schon im Blick auf die Meinung der Weltöffentlichkeit eines geeigneten Vorwandes bedurfte, das – denke ich – war ihnen wohl doch bewusst und somit Teil ihres Handlungskonzeptes. Ich komme nun zur Beschreibung dessen, wie sich zu gleichem Zeitpunkt die Lage für die West-Berliner Polizei darstellte und wie sich vor allem die Situation in den weiteren Stunden und hier insbesondere am Abend und in der Nacht vom 10. zum 11. November verschärfte. Ich schilderte bereits die besondere Lage am Brandenburger Tor, wie sie etwa seit den Vormittagsstunden des 10. November bestand und dass die DDR diesen Ort mit seiner Panzermauer im Bereich der innerstädtischen Grenze geradezu als wichtigstes Symbol fortbestehender Souveränität ansah. Hier begann die „Hauptstadt der DDR“! Die Zahl der Personen, die von der Mauerkrone – aus Westberlin kommend hinabgesprungen waren und nun der Postenkette vor dem Brandenburger Tor gegenüberstanden, schwankte. Sie wurden anfangs mit Erfolg mündlich zurückgeschickt. Doch mit den Abendstunden wurde die Entwicklung kritischer. Waren es gegen 22 Uhr etwa 50 Personen, waren es etwa eine halbe Stunde später schon 200 und gegen Mitternacht 400, die also die Mauer überwunden hatten und nun auf Ostberliner Gebiet von den Angehö-



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rigen der Grenztruppen aufgehalten wurden. Auf der Mauerkrone selbst befanden sich circa 3.000 Personen, so dass ein bloßes Zurückschicken ohnehin nicht mehr umzusetzen war. Bemerkbar machte sich ein zunehmender Alkoholkonsum. Rufe wie „Die Mauer muss weg“ wurden laut. Schließlich wurden von Westberliner Gebiet aus Feuerwerkskörper, ja sogar einige Brandflaschen in Richtung Brandenburger Tor und damit in Richtung Grenztruppe geworfen. Daneben wurde von Westberlinern mit Vorschlaghämmern und Meißeln zunehmend der Mauer zu Leibe gerückt. Die Verunsicherung auf der DDR-Seite wurde immer deutlicher. Ein Major der Grenztruppen übermittelte um 22:30 Uhr am Grenzübergang Friedrichstraße einem Polizeihauptkommissar, wir, die Westberliner Polizei sollten gegen diese Störungen vorgehen. Angehörige der Grenztruppen seien u. a. am Brandenburger Tor von Berlin-West aus massiv bedroht und teilweise mit Brandflaschen beworfen worden. Am 11.11. um 00.10 Uhr erfolgte eine weitere Mitteilung, die Mauer sein im Bereich des Potsdamer Platzes beschädigt worden. Die Grenztruppen selbst führten jetzt Hunde heran und brachten zwei Wasserwerfer in Stellung. Ein Einsatz der Wasserwerfer hätte unübersehbare Folgen auslösen können. Die Panzermauer war an dieser Stelle etwa drei Meter breit und circa drei Meter hoch. Auf ihr standen – ich erwähnte es bereits – zu diesem Zeitpunkt ungefähr 3.000 Personen. Ein Einsatz der Wasserwerfer hätte Menschen von der Mauerkrone geworfen. Hierdurch und in der einsetzenden Panik wäre es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Toten gekommen. Durch Zuruf gelang es uns, die östliche Seite zunächst vom Einsatz der Wasserwerfer abzuhalten. In den frühen Morgenstunden des ­ 11. November haben sie dann doch gelegentlich die Wasserwerfer in Betrieb genommen, aber nur in Form einer Art Beregnung der versammelten Personen. Ich denke schon, dass den östlichen Offizieren vor Ort das Risiko eines härteren Einsatzes bewusst war. In den Stunden nach Mitternacht drohte jedoch eine weitere Eskalation. Nach stundenlangem Einwirken mit Hämmern, Meißeln und anderem Handwerkzeug stand das Bemühen, ein Stück der Mauer unmittelbar südlich von der Panzermauer einzureißen, vor einem kurzfristig denkbaren Erfolg. Die Grenztruppen führten in größerem Umfang zusätzliche Reserven heran. Ich selbst hatte den Einsatzort selbst bald nach Mitternacht verlassen, die weitere Entwicklung wurde mir aber gemeldet. Doch schon auf der weiteren Fahrt beunruhigte mich die Situation sehr. Ich war überaus besorgt, dass sich die Lage dort weiter verschlimmern würde und über kurz oder lang nicht mehr beherrschbar blieb. Schon bei unseren Zurufen, den Einsatz der Wasserwerfer zu unterlassen, hatte ich der östlichen Seite vermitteln lassen, auch wir, die Westberliner Polizei würden nach Maßnahmen Ausschau halten, um die Situation zu entschärfen.

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Man muss sich in die damalige Lage versetzen. Heute wissen wir, wie die Dinge gelaufen sind, aber damals war ja alles offen. Es schien uns nicht unmöglich, ja es entsprach sogar einer gewissen Erwartung, dass die DDRFührung versuchen werde, jene wohl durch ein Fehlverhalten, durch einen Versprecher von Herrn Schabowski ausgelöste Entwicklung bei einem sich bietenden Anlass möglichst einzugrenzen, wenn nicht rückgängig zu machen. Überall sonst ging alles einigermaßen geregelt zu, nur am Brandenburger Tor war die Lage eben kritisch, zunehmend kritisch. Ich war sehr besorgt, wenn dort irgend etwas passiert, ein verletzter Grenzsoldat oder „nur“ ein Toter auf unserer Seite, es könnte dies der wahrscheinlich sogar willkommene Anlass für die DDR sein, in irgendeiner Form einzugreifen. Wenn jedenfalls irgendeiner in der DDR-Führung – so sagte ich mir – Anlass oder Vorwand suchte, um die Öffnung der Grenze rückgängig zu machen, die kritische Lage am Brandenburger Tor konnte einen solchen Vorwand liefern. Diese Einschätzung veranlasste mich, noch in der Nacht Kontakt zur lnnenverwaltung aufzunehmen und dringlich um eine Unterredung noch für den frühen Vormittag des 11. November zu bitten. Die Innenverwaltung war inzwischen ihrerseits von der Senatskanzlei angesprochen worden, die ebenfalls – wenngleich aus anderem Grund – Gesprächsbedarf sah, weil nämlich die wenigen Telefonverbindungen mit der anderen Seite zusammengebrochen waren und ein Weg gesucht werden sollte, wenigstens für Notfälle eine weitere Verbindung – etwa über die beiden Polizeipräsidien- herzustellen. Um 11.30 Uhr kam es dann zu dieser Besprechung in einer provisorisch ohnehin bereits eingerichteten Befehlsstelle der Direktion 3 im Gebäude des Reichstages. Teilnehmer waren der Chef der Senatskanzlei Herr Prof. Schröder, der Innensenator Herr Pätzold, einige Polizeiführer und ich. Als Ergebnis der Unterredung wurde ich, nachdem die Westalliierten dem in einem Telefonat mit dem Chef der Senatskanzlei um 11.48 Uhr zugestimmt hatten, beauftragt, mich um 14.00 Uhr mit dem Chef des Grenzkommandos Mitte, General Wöllner im östlichen Teil des Checkpoint Charlie zu treffen. Letzteres wurde in der Sache und terminlich mit der östlichen Seite über die Senatskanzlei abgestimmt. Vor dieser Vormittagsbesprechung in der Befehlsstelle der Dir. 3 kam es allerdings, da aus unserer Sicht Eile geboten war und in der Erwägung, schnell alles zu tun, um am Brandenburger Tor kurzfristig zu einer Entschärfung der Lage zu kommen, schon in den frühen Morgenstunden des 11. November zu einer Maßnahme, bei der wir zunächst die andere Seite durch Zuruf – mündlich also – aufforderten, die in diesem Zeitpunkt von der Personenzahl her verdünnte Situation zu nutzen, die Mauerkrone behutsam mit friedlichen Mitteln zu räumen und anschließend mit Angehörigen der Grenztruppen zu besetzen. Wir unsererseits würden dies danach durch flankierende Maßnahmen absichern.



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Der Räumungseinsatz der Grenztruppen begann gegen 8.00 Uhr. Als die Grenzsoldaten die Mauerkrone besetzt hatten, griffen wir, nachdem wir zuvor die Erlaubnis der britischen Schutzmacht eingeholt hatten, den Grenzstreifen befahren zu dürfen, ein und zogen zunächst eine Postenkette und später circa 15 leere Mannschaftswagen unmittelbar vor die Panzermauer, um so deren erneutes Erklettern von Westberlin aus zu verhindern. Es war dies aus der Sicht der Berliner ein sicher unpopuläres Vorgehen, das uns vor Ort auch manche Beschimpfungen einbrachte. „Die Westberliner Polizei schützt die Mauer“ usw. Ja, wir hatten die Grenztruppen aufgefordert zu räumen, sie aufgefordert, die Mauerkrone zu besetzen und dann sogar noch eine Mauer aus Kraftfahrzeugen zum Schutz der Mauer vor die Mauer gezogen. Aber aus meiner Sicht gab es aber aus den dargelegten übergeordneten Gründen hierzu keine Alternative. Diese Entwicklung vor Ort wurde der Führung der DDR, wie wir heute wissen, jedoch erst mit großer Verspätung gemeldet. Gegen 9.00 Uhr an jenem 11. November begann jedenfalls eine Partei­ aktivversammlung des MfS. Mielke war nicht anwesend, er hatte wohl schon resigniert. Das einleitende Referat hielt Dr. Wolfgang Herger, Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates, des Politbüros und ZK-Sekretär für Sicherheit. Er berichtete über die „außerordentlich komplizierte Lage am Brandenburger Tor“. „Westberliner Provokateure seien im Begriff, die Mauer einzureißen“, „Maßnahmen seien jedoch eingeleitet“! Zeitgleich hatte sich in Straußberg das Parteiaktiv des Ministeriums für nationale Verteidigung versammelt. Während der Diskussion wurden Verteidigungsminister Keßler und dem Chef des Hauptstabes der NVA Generaloberst Streletz laufend Zettel zugeschoben. Unter Hinweis auf einen angeblich bevorstehenden Sturm auf das Brandenburger Tor wurde die Versammlung bald darauf abrupt abgebrochen. „Der Sozialismus ist in Gefahr, Jeder an seinen Platz !!!“ Gegen 10.00 Uhr erhielt der Chef der Landstreitkräfte der DDR Generaloberst Stechbarth einen Anruf von Keßler: „Bis Du bereit, mit zwei Regimentern nach Berlin zu marschieren?“ „Ist das eine Frage oder ein Befehl“ antwortete Stechbarth. „Man hat die Mauer besetzt“ erwiderte Keßler .Unter Hinweis auf die unabsehbaren Probleme bei Truppenbewegungen nach und durch Berlin bat Stechbarth Kessler, die Frage zu überdenken. Sowohl im Kommando der Landstreitkräfte, also unter Stechbarth, wie im Ministerium für Nationale Verteidigung – hier unter Streletz – wurde nun beraten. Es gab Einwände, nicht wenige hatten Bedenken. In dieser Situation, aber eben erst gegen Mittag erhielt Streletz die Meldung vom Chef der Grenztruppen Generaloberst Baumgarten, dass sich durch das Eingreifen der Westberliner Polizei die Lage an der Grenze zu normalisieren begänne. Streletz bat daraufhin Baumgarten, dies sofort dem Minister, also Keßler zu melden. Kurze Zeit später wurde Streletz zu Keßler gerufen,

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der ihm nach vorheriger Rücksprache mit Krenz die Weisung gab, die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ aufzuheben. Kurz nach 12.00 Uhr unterrichtete Streletz hiervon den Chef der Landstreitkräfte Generaloberst Stechbarth, der jetzt seinerseits rückfragte, was denn nun mit der Mauer am Brandenburger Tor sei. Streletz erwiderte, dass man dieses „Problem im Zusammenwirken mit dem Westberliner Polizeipräsidenten“ gelöst habe. Wenig später traf dieser Befehl bei den alarmierten Einheiten ein. Die Waffen wurden ent­ munitioniert, alle Truppenteile traten in den normalen Dienstbetrieb zurück. Dieser Vorgang war gegen 15.00 Uhr abgeschlossen. Bis gegen 18:00 Uhr waren auch die 179 Hundertschaften der NVA aufgelöst. Krenz wird später erklären, dass man anlässlich der Maueröffnung am Rande eines Bürgerkrieges gestanden habe und nur umsichtiges Handeln dies verhindert hätte. Dass er selbst es war, der die Einberufung der „Operativen Führungsgruppe“ des Nationalen Verteidigungsrates und später die Auslösung der „Erhöhten Gefechtsbereitschaft“ angeordnet hatte, erwähnte er natürlich nicht. Für die Überlegung, was wohl bestimmend war, das Vorhaben, militärisch einzugreifen, aufzugeben, sehe ich folgende Gründe: 1.) Ein Mitwirken von Streitkräften der UdSSR war nicht zu erwarten. 2.) Die DDR-Generalität war skeptisch bis teilweise ablehnend. 3.) Angesichts total verstopfter Straßen stand die Logistik bei einer Verlegung von Einheiten nach Berlin vor größten, jedenfalls nur schwer lösbaren Problemen. Am 11 .November war eine solche Lösung wohl zu spät, sie hätte bereits am 10. November erfolgen müssen. 4.) Die Berliner Polizei hatte den Hardlinern um Krenz und Keßler durch ihr Eingreifen am Brandenburger Tor den Vorwand aus den Händen genommen. Als ich auftragsgemäß um 14.00 Uhr im östlichen Teil des Checkpoint Charlie – nicht wie angekündigt mit General Wöllner –, sondern mit dessen Vertreter Oberst Günter Leo vom Grenzkommando Mitte zusammentraf, war die Gefahr eines militärischen Eingreifens der anderen Seite – von der wir, ich darf es noch einmal in Erinnerung rufen, nichts ahnten – bereits vorbei. In meiner Begleitung waren in Uniform aber ohne Waffen aus meinem Stab Polizeidirektor Förster und als Fachmann des taktischen Fernmeldedienstes aus der Landespolizeidirektion Polizeihauptkommissar Pagel. Auf östlicher Seite waren neben Oberst Leo anwesend Oberstleutnant Menzel vom Stab Grenztruppen und Oberstleutnant Moll von der Grenzübergangsstelle. Leo bedankte sich für den „besonnenen, aber beherzten und konsequenten Einsatz der Westberliner Polizei“ am Morgen, der zu „einer Entspannung der dort zugespitzten Situation“ geführt habe.



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Ich forderte von Oberst Leo die Einrichtung weiterer Übergangsstellen, damit der Druck auf die bislang wenigen Übergänge nachließe. Auch aus ihrer Sicht sollten sie erkennen, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt das beste Mittel sei, um eine Beruhigung der Lage an der übrigen Mauer zu erreichen. Besonders angesprochen wurde eine Erweiterung des Überganges Sandkrugbrücke und baldmöglichst die Einrichtung wenigstens eines Fußgängerüberganges rechts oder links vom Brandenburger Tor. Schließlich forderte ich die unverzügliche Herstellung einer Telefon- und einer Funkverbindung zwischen beiden Polizeipräsidien. Ferner regte ich den Austausch von Verbindungsoffizieren an. Auch mahnte ich an, dass aus unserer Sicht künftige Gespräche und Kontakte mit Vertretern der Volkspolizei und nicht mit Angehörigen der Grenztruppe stattfinden sollten. Für die als dringlich angesehene Telefon- und Funkverbindung erbat ich eine Entscheidung bis 18:00 Uhr. Gegen 15:15 fuhr ich nach einem Interview für das DDR-Fern­ sehen nach Westberlin zurück. Im Ergebnis wurde noch am 11. November 1989 um 22.37 Uhr eine Telefonverbindung – zu Beginn war dies ein bloßes Feldtelefon – zwischen der Berliner Polizei und der Volkspolizei in Ostberlin geschaltet; die Funkverbindung stand um 23.44 Uhr. Der erwünschte Austausch von Verbindungsoffizieren erfolgte jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Man saß sich an einem Tisch in Reihe gegenüber, eine Ordonnanz in weißer Uniform servierte Kaffee, Gefühle und Stimmung sind kaum zu beschreiben. Keine der vielen Begegnungen danach sind mir im Innern so haften geblieben. Mit der Öffnung eines weiteren Grenzüberganges – wie eingefordert – in der Nähe des Brandenburger Tores am 12. November – wenngleich circa 500 Meter südlich am Potsdamer Platz – nahm der Druck auf die Mauer am Brandenburger Tor sichtlich ab. In meinen Gesprächen habe ich wiederholt hohe Offiziere der Volkspolizei befragt, ob sie mir darlegen könnten, warum der ganze aufgeblähte Sicherheitsapparat das Ministerium für Staatssicherheit, die NVA, die Grenztruppen, die Volkspolizei, die Kampfgruppen etc. innerhalb kürzester Zeit wie ein Kartenhaus zusammenbrachen. Man erwiderte die innere Identifizierung, auch der leitenden Kader mit dem System hätte schon seit 1984/85 Schaden genommen. Deshalb sei im Herbst und Ende 89 niemand mehr bereit gewesen, sich gleichsam zu opfern. Auf meine weitere Frage: „Aber die SS hat doch 1945 in aussichtsloser Situation in Berlin bis zum Schluss geschossen. Warum haben Sie das eigentlich nicht getan?“ Die verblüffende Antwort: „Wissen Sie, auf die SS warteten die Russen, auf uns die Bundesrepublik.“ Innerhalb weniger Tage verdichteten sich Gerüchte, Erwartungen um eine Öffnung des Brandenburger Tores. In Kenntnis der dortigen sehr massiven

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Befestigungsanlagen hatte ich daran Zweifel. Lediglich seitlich des Brandenburger Tores schien eine derartige Entwicklung rein technisch gesehen kurzfristig möglich. In einem Telefongespräch zwischen dem Ostberliner Polizeichef, Generalleutnant Friedhelm Rausch und mir, teilte dieser mir mit, dass weder für den 14. noch für den 15.11.1989 mit einer Öffnung am Brandenburger Tor zu rechnen sei. Gleichwohl begannen sich in großer Zahl Medienvertreter, insbesondere Fernsehteams, auf westlicher Seite am Brandenburger Tor einzurichten, um ja nicht dieses hoch symbolische Ereignis zu verpassen. Aber für lange Zeit geschah nichts. Erst am 20. Dezember 1989 kommen hohe Polizeiführer beider Seiten im Ostteil der Stadt zusammen. Leiter der Westberliner Delegation war der Leitende Polizeidirektor Heinz Ernst, sein Gesprächspartner der anderen Seite, Oberst Dr. Dietze, Vizepräsident der Volkspolizei Berlin. Im Vordergrund des etwa dreistündigen Gesprächs standen Verkehrsprobleme, insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage. Auch wurde vereinbart, dass in Kürze eine Fernschreibleitung zwischen beiden Polizeipräsidien installiert werden solle. Schließlich gab es erste Meldungen, dass am Folgetag, also am 21. Dezember 1989 mit einer Öffnung der Grenze im Bereich des Brandenburger Tores zu rechnen sei. Dies sollte sich bestätigen. Am Abend des 21. Dezember 1989 gegen 22.00 Uhr begannen auf östlicher Seite nördlich des Brandenburger Tores die Abbrucharbeiten an der Mauer. Mittlerweile hatte sich auf westlicher Seite eine größere Menschenmenge versammelt, und zwar auch südlich des Brandenburger Tores, die dort in Sprechchören ebenfalls eine Öffnung der Mauer verlangte. Dies war sogar vorgesehen, aber wie eine Rückfrage ergab, der anderen Seite wegen des Fehlens weiteren technischen Geräts nicht gleichzeitig möglich. Als die Situation unruhiger wurde, bat ich deshalb die andere Seite, mindestens durch Einrichtung von Scheinwerfern und einer gleichsam vorbereitenden und insbesondere hörbaren Aktivität den dort versammelten Menschen deutlich zu machen, dass es auch hier zu einer Öffnung der Mauer kommen werde. Dem wurde entsprochen, und es gelang auf diese Weise, zu einer deutlichen Beruhigung der Situation beizutragen. Insgesamt entwickelte sich sogar eine Art Volksfeststimmung. Um 0.35 Uhr des 22. Dezember 1989 wurde unmittelbar nördlich des Brandenburger Tores das erste ca. 1,10 Meter breite Mauerstück herausgehoben. Was nun folgte, war im polizeilichen Rückblick auf die vergangenen letzten vierzig Jahre nun schon wirklich ein ungewöhnlicher Vorgang. Durch das etwas mehr als ein Meter breite Loch in der Mauer tritt von Ostberliner Seite auf Westberliner Gebiet der Osteinsatzleiter, Oberstleutnant Abel, schreitet in militärischer Korrektheit auf mich, der ich etwa 25 Meter entfernt stehe, zu, um mir, dem Westberliner Polizeipräsidenten alsdann förmlich den erfolgten Durchbruch der Mauer zu melden. Nach einem kurzen Austausch von Gruß-



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formeln bittet Abel ebenso förmlich, abtreten und weiterarbeiten zu dürfen: „Wir sind im Zeitverzug“. Die Freude der Menschen in jener Nacht ist eine bleibende Erinnerung. Die Arbeiten an den beiden zunächst nur nördlich und südlich des Brandenburger Tores gelegenen Fußgänger-Grenzübergängen werden abgeschlossen. Am 22. Dezember 1989 besiegeln am Brandenburger Tor Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow mit kurzen Ansprachen das historische Ereignis. Die Mauer ist praktisch gefallen, ihr endgültiger Abriss wird nur noch eine Frage der Zeit sein, die Einsatzlage Mauerfall ist abgeschlossen. Die folgenden Monate sind bestimmt von einer immer enger werdenden polizeilichen Zusammenarbeit. Am 12.Februar 1990 kommt es im Ostberliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz erstmalig in der Geschichte des geteilten Berlins zu einem Treffen beider Polizeipräsidenten. Und sehr bald beginnt der immer sichtbarer werdende, in den Einzelheiten dann aber doch schwierige Weg zu einer wieder einheitlichen Polizei, die mit der Wiedervereinigung der Stadt und Deutschlands am 3.Oktober 1990 Wirklichkeit wird. Um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten hatte ich auf Beschluss des Senats von Berlin, des für Ostberlin noch zuständigen Magistrats sowie mit Zustimmung der vier Besatzungsmächte zuvor schon am 1. Oktober 1990 um 13:00 Uhr vom Ostberliner Polizeipräsidenten Generalmajor Dirk Bachmann im Präsidium am Alexanderplatz in einer förmlichen Übergabeverhandlung die polizeiliche Führungsverantwortung auch für den Ostteil der Stadt übernommen. Personen: 1.) Egon Krenz Vorsitzender des Staatsrates ( seit 24.10.89 ) und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Generalsekretär des ZK der SED 2.) Heinz Keßler Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral 3.) Fritz Streletz stellvertr. Verteidigungsminister, Generaloberst, Chef des Hauptstabes der NVA 4.) Horst Stechbarth stellvertr.Verteidigungsminister, Generaloberst, Chef der Landstreitkräfte der NVA

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5.) Klaus Dieter Baumgarten stellvertr.Verteidigungsminister, Generaloberst, Chef der Grenztruppen der DDR 6.) Günter Leo Oberst, stellvertr. Kommandeur und Stabschef des Grenzkommandos Mitte in Berlin.

1970–2020: Ein Blick auf fünfzig Jahre deutsche – und Berliner – Geschichte Von Joachim Rickes und Horst Risse „Als Berlin noch eine geteilte Stadt war und West-Berlin eine von einer Mauer umschlossene Insel in der DDR, wurde am 17. November 1970 unser Club gegründet.“

Mit diesen Worten stellt sich der „Rotary Club Kurfürstendamm“ auf seiner Homepage vor – und zieht damit sogleich Verbindungslinien zur jüngeren Geschichte Berlins und Deutschlands. Begriffe wie „geteilte Stadt“, „Mauer“ und „Insel in der DDR“ beschrieben im Gründungsjahr unseres Clubs die bittere Realität. Und nicht wenige in Deutschland und Europa hatten damals Zweifel, ob sich die Verhältnisse jemals ändern würden. Aber Geschichte ist nicht prognostizierbar. Dank tiefgreifender europa- und weltpolitischer Veränderungen ist die Teilung Deutschlands inzwischen Vergangenheit. Das 28 Jahre lang geteilte Berlin ist die Hauptstadt des vereinten Deutschlands in einem sich weiter verändernden Europa. Im vorliegenden Beitrag wollen wir einige dieser Entwicklungen nachzeichnen. Wie war die Situation in der Gründungsphase unseres Clubs? Was hat sich in den folgenden Jahrzehnten verändert? Wo stehen wir heute? Hier und da haben Mitglieder unseres Clubs bedeutende politische Ereignisse aus nächster Nähe miterlebt und ein Stück weit mitgestaltet. Auch daran soll erinnert werden. Das Gründungsjahr 1970 Vielleicht kann man schon die Gründung unseres Clubs in einen größeren gesellschaftlich-politischen Zusammenhang stellen. Sie geschah in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation und war auch so etwas wie eine Gegenbewegung. Im Westen allgemein und auch in Deutschland begehrte eine junge Generation gegen gesellschaftliche Verhältnisse, überkommene Tradi­ tionen, den Vietnam-Krieg und das Beschweigen der NS-Vergangenheit durch ihre Väter auf. Die sog. 68er Bewegung hat ganz offensichtlich viele Anstöße zu notwendigem gesellschaftlichen Wandel gegeben, sie führte aber auch zu Radikalisierungen, die im West-Berliner Universitätsmilieu besonders spürbar wurden. Unser Gründungspräsident Günter Dlugos (1920–2019) berichtete eindringlich davon, wie einschneidend für ihn die Erfahrungen der

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Studentenunruhen 1968 ff. waren. Als Professor an der Freien Universität Berlin hat er die heftigen Auseinandersetzungen dieser Jahre, gerade die fundamentale Agitation gegen das „System“, hautnah erlebt. Er schilderte „Sit-Ins“ und blockierte Lehrveranstaltungen sowie den versuchten Aufbau einer ‚Gegen-Universität‘. West-Berlin war damals ein Zentrum der Studentenbewegung, steigende Aggressionen und ausufernde Gewalt waren hier besonders zu spüren. Die Medien berichteten fast jeden Tag über Demonstrationen, blockierte Auslieferungen der Springer-Presse und brennenden Autos. Auch der tödliche Schuss auf Benno Ohnesorg und das Attentat auf Rudi Dutschke gehören zur Geschichte unserer Stadt in dieser Zeit. Freund Dlugos beunruhigte, dass in dieser Phase immer nur vom ‚dagegen‘ die Rede war, aber kaum vom ‚dafür‘. Er wollte ein Zeichen setzen für das, was eine Gesellschaft zusammenhalten kann: Denken und Handeln in den Kategorien von Gemeinwohl und Verantwortung. Seine Antwort stellte die Gründung unseres Rotary Clubs dar, der damals noch den Namen RC Spandau trug. Die siebziger Jahre Politisch waren die frühen siebziger Jahre geprägt von dem 1969 erfolgten Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition. Unter Bundeskanzler Willy Brandt wurden zum einen weitreichende innenpolitische Reformen z. B. im Bildungs- und Sozialbereich durchgeführt. Zum anderen betrieb die Bundesregierung eine engagierte Verständigungspolitik mit den Ländern des öst­ lichen Europas, insbesondere mit Polen und Ungarn. Die neue „Ostpolitik“ zielte aber vor allem auf die Verbesserung der Beziehungen zur DDR und war damit für Berlin von eminenter Bedeutung. Das Thema wurde in Politik und Gesellschaft hoch kontrovers diskutiert. 1972 kam es zu einem – gescheiterten – Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Dieser trat 1974 u. a. wegen eines Spionagefalls in seinem persönlichen Umfeld zurück. Sein Nachfolger Helmut Schmidt führte die Deutschland- und Europapolitik mit der für ihn charakteristischen nüchternen Pragmatik fort. Sein Hauptaugenmerk galt jedoch zunächst der durch die erste und zweite Ölpreisexplosion entfachten Wirtschaftskrise mit rasant steigenden Arbeitslosenzahlen. Nationale Konjunkturprogramme konnten angesichts der weltweiten Verflechtungen wenig bewirken. Sie führten aber zu einer immer höheren Staatsverschuldung, was innerhalb der sozialliberalen Koalition zunehmende Spannungen auslöste. Unser Freund Klaus Riebschläger (1940–2009) hat dies als Berliner Finanzsenator (1975–81, zuvor Bausenator, 1972–75) aus der Nähe beobachten können. Eine große innenpolitische Herausforderung war die Entstehung und Verbreitung terroristischer Gewalt in Deutschland und Europa. Der Überfall auf



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das Olympische Dorf in München 1972 durch palästinensische Terroristen und der nachfolgende tragische Befreiungsversuch, bei dem neun israelische Sportler, ein deutscher Polizist und fünf Attentäter zu Tode kamen, setzte ein erstes Zeichen. Ab Mitte der siebziger Jahre begann dann eine massive Kampagne der terroristischen „Rote Armee Fraktion“ (RAF), die Bombenattentate, Entführungen (so 1975 in Berlin Peter Lorenz) und zahlreiche Morde zu verantworten hatte. Die Entführung und spätere Ermordung von Hans Martin Schleyer und die erfolgreiche Befreiung des Lufthansa-Flugzeuges „Landshut“ in Mogadishu erwiesen sich als ein Wendepunkt. Allerdings bedurfte es noch lange Jahre harter polizeilicher Arbeit, ehe die Bedrohung durch die RAF gebannt war. Die achtziger Jahre Gegen Ende der siebziger Jahre wurden im außenpolitischen Bereich zunehmende Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion deutlich. Die UdSSR hatte ihre militärische Macht, insbesondere ihre Mittelstreckenwaffen, einseitig massiv ausgebaut. Deutschland war wegen seiner geostrategischen Lage hiervon besonders betroffen. Bundeskanzler Schmidt zeigte mit dem von ihm initiierten „Doppelbeschluss“ den Großmächten einen Weg zur Deeskalation auf. Dieses Konzept stellte Verhandlungen über eine beiderseitige Rüstungsbegrenzung vor den Beschluss einer Nachrüstung des Westens. Dagegen forderte die ständig wachsende Friedensbewegung, die von der neuen Partei „Die Grünen“ gestützt wurde und auch Teile der Regierungspartei SPD ergriff, den Abzug von Atomwaffen aus Deutschland und Europa, z. T. sogar eine einseitige Abrüstung des Westens. Die sozialliberale Koalition zerbrach 1982 an diesen außen- wie innen­ politischen Spannungen. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler einer konservativ-liberalen Koalition gewählt. Die neue Bundesregierung setzte weitreichende Einsparungen durch und konnte die hohe Staatsverschuldung innerhalb weniger Jahre deutlich zurückführen. Die Berliner Politik befand sich in diesen Jahren in vergleichsweise ruhigem Fahrwasser, wenn auch die Hausbesetzerszene immer wieder für Aufregung sorgte. Unser Freund Klaus Franke (1923–2017), Bausenator von 1983 bis 1986, hat das unmittelbar erlebt. Die Sowjetunion hatte sich mit dem Wettrüsten militärisch und wirtschaftlich übernommen und stand vor großen innenpolitischen Problemen. Mit Michail Gorbatschow trat 1985 der Vertreter eines neuen Denkens an die Spitze. Seine Politik der „Perestroika“ wies den Weg zu einer grundlegenden Veränderung: Entspannung wurde ein Schlüsselwort in Europa und darüber hinaus. Die beiden Großmächte einigten sich auf Rüstungsbegrenzungen.

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Institutionen wie die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) wirkten auf Verständigung hin und leisteten Beiträge zum Abbau von Gegensätzen und Feindbildern. Das blieb nicht ohne Folgen. In verschiedenen osteuropäischen Ländern entstanden Bürgerbewegungen, angefangen mit der Gewerkschaft „Solidarność“ in Polen, aber auch in Ungarn und in der DDR, wo sich insbesondere im Umkreis der Kirchen Widerspruch gegen das SED-System formierte. Trotz dieser Signale dürften nur die wenigsten erwartet haben, was sich im Jahr 1989 wie ein Lauffeuer durch Osteuropa ausbreitete: In vielen Ländern gingen Bürgerinnen und Bürger gegen die alten Garden auf die Straße und traten für Freiheit und Selbstbestimmung ein. In der DDR verlor das SEDSystem, das sich als reformunfähig erwiesen hatte, in der Bevölkerung immer mehr an Rückhalt. Ostdeutsche Botschaftsflüchtlinge in Prag konnten per Bahn über das DDR-Staatsgebiet in den Westen ausreisen. Ungarn öffnete im Sommer seine Grenzen für viele DDR-Bürgerinnen und Bürger, die über Österreich in die Bundesrepublik kamen. Dies beflügelte den Freiheitswillen der Ostdeutschen zusätzlich. Mit großen Demonstrationen in Leipzig begann, was Monate später mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ und schließlich „Wir sind ein Volk“ in die friedliche Revolution mündete. Sie ist das Verdienst der Ostdeutschen. Am 9. November 1989 öffneten DDR-Grenzbeamte – durch ein Versehen, wie sich herausstellte – vorzeitig die Grenzübergänge nach West-Berlin. Damit erfüllten sie gleichsam einen Auftrag des US-Präsidenten Ronald Reagan, der 1987 vor dem Brandenburger Tor gefordert hatte: „Tear down this wall!“ An den folgenden Ereignissen war unser Freund Georg Schertz, damals Polizeipräsident von West-Berlin, unmittelbar beteiligt. Er hat im Club von den dramatischen Ereignissen der Maueröffnung berichtet und dargelegt, wie durch schnelle und enge Abstimmungen mit der OstBerliner Polizeiführung vermieden werden konnte, dass die Ereignisse außer Kontrolle gerieten. Auch dadurch wurde nach 28 Jahren der Trennung ein friedliches, bewegendes und glückliches Wiedersehen der Deutschen aus Ost und West möglich. Viele Mitglieder unseres Clubs waren vor Ort und haben an diese historische Nacht intensive Erinnerungen. Auch rotarische Mauerspechte soll es gegeben haben. In der welt- und europapolitisch grundlegend veränderten Situation stand die Einheit Deutschlands, die vielen jahrzehntelang als bloßer Wunschtraum erschienen war, plötzlich wieder auf der Tagesordnung – eine Perspektive, die vom amerikanischen Präsidenten George Bush nachdrücklich unterstützt, von der Sowjetunion, aber auch langjährigen Verbündeten wie Frankreich und Großbritannien jedoch mit Skepsis betrachtetet wurde. Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher gelang es mit staatsmännischem Geschick, ein Zeitfenster von wenigen Monaten zu nutzen, um die Zustimmung der Sowjetunion, aber auch aller Nachbarn in Ost und West zur deutschen Ein-



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heit zu erreichen. Die neugegründeten Länder der DDR traten am 3. Oktober 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Die Einheit Deutschlands war nach 41 Jahren wiederhergestellt – in einem größer und friedlicher gewordenen Europa. Nicht wenige glaubten im Überschwang der damaligen Entwicklung an eine dauerhafte Beendigung des konfrontativen Denkens zwischen Ost und West. Es ist bezeichnend für den Optimismus jener Zeit, dass das Wort vom Ende der Geschichte (und damit das Ausschließen größerer internationaler Konflikte), das der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 geprägt hatte, von vielen als eine realistische Per­ spektive angesehen wurde. Die neunziger Jahre Der vielgenannte „Wind of Change“ löste weitreichende Veränderungen aus. Die Europäische Union nahm in den nächsten Jahren neue Mitgliedsstaaten auf, zunächst 1995 Schweden, Finnland und Österreich. Die Aufnahme weiterer Staaten wurde auf die europapolitische Agenda gesetzt. Innenpolitisch standen die neunziger Jahre ganz im Zeichen des „Aufbau Ost“. Die Umstellung von der Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft hatte tiefgreifende Folgen: Weite Teile der ostdeutschen Industrie brachen zusammen oder mussten abgewickelt werden, eine immense Zahl von Arbeitsplätzen ging verloren. Mit großen Transferleistungen der westlichen Bundesländer wurde vor allem in die Schaffung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftsförderung und Erneuerung der Infrastruktur in den östlichen Bundesländern investiert – in den Wissen, dass der Aufbau einen langen Atem erfordern würde. Die Wiedervereinigung musste aber auch auf anderen Gebieten bewältigt werden. Freund Manfred Erhardt, von 1991 bis 1996 Senator für Wissenschaft und Forschung, hatte die Neuordnung der Berliner Hochschullandschaft zu besorgen. Das Jahrhunderthochwasser im Oderbruch 1997, bei dem es unter Einsatz zahlloser freiwilliger Helferinnen und Helfer, aber auch von Spezialkräften der Bundeswehr, gelang, eine Katastrophe zu verhindern, rückte die Dimension der nationalen Aufgabe, aber auch die Solidarität unter den Deutschen in den Blick. Die Veränderungen, die die deutsche Einheit mit sich brachte, machten auch vor den staatlichen Institutionen nicht halt. Mit der SED-Nachfolgepartei PDS (ab 2005: Die Linkspartei/PDS, ab 2007: DIE LINKE.) zog eine stark ostdeutsch geprägte Partei in den Bundestag ein. Aber auch in anderer Hinsicht standen für den Deutschen Bundestag Veränderungen an. Im Juni 1991 beschloss er nach einer kontroversen Debatte im Bonner Wasserwerk, seinen ständigen Sitz nach Berlin zu verlegen, der Bundesrat (1996) und zahlreiche weitere Bundesinstitutionen folgten. Mit vielen anderen Bundes-

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beamten kamen auch die beiden Verfasser dieses Beitrags aus dem Rheinland in die Bundeshauptstadt. Bundeskanzler Kohl, der die Wahl 1994 vor allem durch die Stimmen der Ostdeutschen noch einmal gewinnen konnte, wurde 1998 abgewählt und Gerhard Schröder Bundeskanzler der ersten rot-grünen Regierungskoalition. Sie setzte vor allem im Sozial- und Umweltbereich Akzente, u. a. wurde der Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie bis zum Jahre 2021 beschlossen. Die neue Bundesregierung stand außenpolitisch vor großen Herausforderungen. Mit den Jugoslawien-Kriegen kehrte seit 1991 ein schon überwunden geglaubtes Denken nach Europa zurück. In der zerfallenden Bundesrepublik Jugoslawien brachen in fast allen Teilrepubliken kriegerische Auseinandersetzungen aus, wurden brutale Vertreibungen und ethnische Säuberungen durchgeführt, vor allem im Kroatien-Krieg 1991–1995 und dem Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992–1995). Die Auseinandersetzungen mit Serbien um das Kosovo 1998/1999, die schließlich zu Luftschlägen der NATO und zum Rückzug der serbischen Truppen führten, brachte die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/ Die Grünen an den Rand des Bruches. Am Ende stimmte eine knappe Mehrheit im Bundestag den Luftschlägen zu, wobei die kontrovers diskutierte Berufung auf das Völkerrecht eine wesentliche Rolle spielte. 2000–2010 Im Jahr 2002 trug die entschiedene Ablehnung einer Beteiligung Deutschlands am Irakkrieg durch Kanzler Schröder und Außenminister Fischer wesentlich zum knappen Wahlsieg der Regierungskoalition bei. Deutschland, wie seit 1990 die offizielle internationale Kurzform unseres Staatsnamens lautet (Vollform: Bundesrepublik Deutschland), verfolgte auch unter der rotgrünen Koalition eine engagierte Europapolitik. Ein wichtiger Schritt zur weiteren Einigung Europas war die Einführung des Euro im Jahr 1999 (als gesetzliche Buchungswährung) bzw. 2002 (als Bargeld) in damals 13, heute 22 Mitgliedsstaaten.Unsere Freundin Adelheid Sailer-Schuster, damals Mitglied im Kabinett von EU-Binnenmarktkommissar Mario Monti und dort zuständig für Finanzdienstleistungen, anschließend Beraterin beim Wirtschafts- und Finanzausschuss des Europäischen Parlaments, hat diese dramatische Phase aus nächster Nähe miterlebt und bei unseren Club-Meetings geschildert. Nachdrücklich setzte sich die Regierung Schröder auch für die Osterweiterung der Europäischen Union ein. 2004 traten insgesamt acht Staaten des ehemaligen Ostblocks von Estland über Polen bis Ungarn der Europäischen Union bei, hinzu kamen Malta und Zypern. 2007 folgen Rumänien und Bulgarien – mehr noch als bei anderen Ländern wurden hier



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aus politischen Gründen die einschlägigen Kopenhagener Kriterien besonders großzügig ausgelegt. Nach einem sich verstärkenden wirtschaftlichen Abschwung, der zu über fünf Millionen Arbeitslosen führte, setzte Kanzler Schröder in seiner zweiten Amtszeit mit der „Agenda 2010“ weitgehende Einschnitte in den Sozialsystemen durch. Die dabei erfolgten Kürzungen von Leistungsgesetzen z. B. in der Arbeitslosenversicherung, für die der Name „Hartz IV“ stand, brachten große Teile seiner Partei gegen ihn auf und führten 2005 zu Neuwahlen. Diese endeten nach langwierigen Verhandlungen mit der Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin einer großen Koalition. Die neue Regierung stand schon bald vor einer Bewährungsprobe: Im Jahr 2007 begann mit Fehlentwicklungen auf dem US-Immobilienmarkt eine internationale Finanzkrise, deren Folgen auch Europa und Deutschland hart trafen. Die noch junge Währung Euro geriet in Gefahr. Im November 2008 garantierten Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück in einem dramatischen öffentlichen Appell die Sicherheit aller deutschen Spareinlagen. Die weltweite Krise brachte die südeuropäischen Staaten in Nöte: Italien, Portugal und Zypern, vor allem aber Griechenland. Milliardenhilfen der Europäischen Union waren notwendig, um die Finanzsysteme wieder zu stabilisieren. Die Unruhen auf den Finanzmärkten gingen an vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht spurlos vorbei. Dementsprechend fiel das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 für die Regierungsparteien, insbesondere die Sozialdemokratie, wenig positiv aus. Es kam zu einem Koalitionswechsel. Im Oktober 2009 wurde Angela Merkel erneut zu Bundeskanzlerin gewählt, diesmal von einer Koalition aus CDU/CSU und FDP. 2010–2020 Die Milliardenhilfen für Griechenland, aber auch die Diskussionen um weitere „Rettungsschirme“ und „Eurobonds“ blieben in den Jahren nach 2010 ein innenpolitisch brisantes Thema. Kontrovers diskutiert wurde ebenso die von der Koalition betriebene Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, die allerdings schon bald hinfällig war. 2011 kündigte die Bundesregierung unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima an, möglichst schnell die Nutzung der Kernenergie zu beenden und alle Atomkraftwerke in Deutschland bis 2022 abzuschalten. Diese Entscheidung, die unter das Stichwort der „Energiewende“ gefasst wurde, erregte international großes Aufsehen. Von verschiedenen Seiten wurde vorausgesagt, dass der massive Ausbau der regenerativen Energien sich für Deutschland als dynamischer Wirtschaftsmotor erweisen würde – eine Prognose, die sich bislang nicht im erwarteten Umfang bestätigt hat.

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Bei der Bundestagswahl 2013 blieb die Regierung nach hohen Verlusten der FDP, die nicht erneut in den Bundestag einziehen konnte, ohne Mehrheit. Wiederum längere Verhandlungen führten zur Bildung einer zweiten großen Koalition unter Angela Merkel. Die Folgen der Finanzkrise wurden von der deutschen Wirtschaft insgesamt gut verkraftet. Hohe Steuereinnahmen in Verbindung mit niedrigen Zinsen ermöglichten eine deutliche Rückführung von Altschulden. Für das Jahr 2014 konnte Finanzminister Wolfgang Schäuble erstmals seit 1954 wieder einen Bundeshaushalt mit der „Schwarzen Null“ präsentieren. Dies galt auch für die Folgejahre 2015, 2016, 2017, 2018 sowie – unter Schäubles Nachfolger Olaf Scholz – auch für 2019. Die Arbeitslosenzahlen sanken auf knapp über 2 Mio., volkswirtschaftlich sprachen viele Experten bereits von einer Vollbeschäftigung – zumal sich auf dem Arbeitsmarkt immer stärker ein Fachkräftemangel abzeichnete. Ab 2015 beherrschte ein anderes Thema die innenpolitische Debatte: die Entscheidung der Bundeskanzlerin, einer hohen Zahl von Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Was als humanitäre Geste gegenüber in Griechenland, Ungarn und Österreich gestrandeten Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien begann, führte zur Aufnahme von weit über einer Million Menschen auch aus anderen arabischen bzw. afrikanischen Ländern. Diese Entscheidung wird bis heute kontrovers diskutiert. Die anfänglich große Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung flachte ab, je mehr die Pro­ bleme einer ungeregelten Zuwanderung hervortraten. Zugleich wurden die politischen Auswirkungen immer deutlicher. Das Thema Migration trug wesentlich zum Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ bei. Nachdem die neue Partei bereits in verschiedenen Landtagswahlen erfolgreich war, zog die AfD nach der Bundestagswahl 2017 mit 13 % der Wählerstimmen als drittstärkste Fraktion in den Bundestag ein. Da die Bildung einer schwarz-grüngelben Koalition in letzter Minute scheiterte, erklärten sich die Sozialdemokraten gegen starke interne Bedenken erneut zu einer großen Koalition unter Angela Merkel bereit. Insgesamt dauerte die Regierungsbildung über fünf Monate – für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich lange. Die neue Bundesregierung musste sich mit einer außenpolitisch merklich veränderten Lage auseinandersetzen. Mit dem Amtsantritt von Donald Trump als 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten Anfang 2017 wurden scheinbar selbstverständliche Bindungen der USA zu Europa, wie sie sich gerade in unserer Stadt in den Jahren der Teilung so deutlich gezeigt hatten, in Frage gestellt. Die Stichworte ‚amerikanischer Isolationismus‘ und ‚neuer Unilateralismus‘ charakterisieren, wie sehr sich bisherige Konstellationen wandeln. Trumps politische Agenda, die ganz seinem Wahlkampfmotto „America first“ verpflichtet ist und z. B. wiederholt Strafzölle auf europäische Waren androhte, traf die Europäer weithin unvorbereitet. Europa kann sich, wie es Bundeskanzlerin Merkel 2018 formulierte, nicht mehr uneingeschränkt auf andere



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verlassen. Es muss ökonomisch, aber auch außen- und sicherheitspolitisch selbst Verantwortung übernehmen. Ob die Europäische Union in ihrem jetzigen Zustand dafür gewappnet ist, erscheint fraglich. Schließlich belegt gerade der Umgang mit dem Thema Migration seit langem, wie schwer gemeinsames Handeln zu erreichen ist – nicht nur zwischen den Ländern Nord- und Südeuropas, sondern ebenso zwischen den west- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten. Im Kontext wachsender nationalistischer und rechtspopulistischer Tendenzen in verschiedenen Ländern Europas liegt in diesem Auseinanderdriften eine gefährliche Entwicklung. Der anstehende Austritt Großbritannien aus der Europäischen Union ist ein weiteres bedenkliches Signal. Demgegenüber hat der französische Präsident Macron Anfang 2019 weitreichende Vorschläge zur Fortentwicklung der Europäischen Union gemacht, die von verschiedenen Seiten als eine große Chance für Europa betrachtet werden. Eine handlungsfähige Europäische Union ist nicht nur mit Blick auf die Beziehungen zu den USA, sondern ebenso auf andere internationale Entwicklungen dringend notwendig. Immer noch wird in Europa nicht hinreichend gesehen, mit welcher strategischen Konsequenz China seine Rolle als Weltmacht ausgestaltet: ökonomisch-technologisch wie sicherheitspolitisch. Dies zeigt sich u. a. am Ausbau chinesischer Handels- und Militärstützpunkte im Indischen Ozean und im gesamten pazifischen Raum, am engagiert verfolgten Projekt der „Belt&Road – Initiative“ (‚Neue Seidenstraße‘), aber ebenso an der intensiven chinesischen Entwicklungspolitik z. B. auf dem afrikanischen Kontinent – hier oft in Konkurrenz mit entsprechenden russischen Bemühungen. Europa muss sich auf diese Entwicklungen einstellen und eigene Strategien finden. In das Gesamtbild der politischen Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts gehört auch, dass Europa stärker als je zuvor die Realität der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus erfahren hat. Das verheerende Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche im Dezember 2016 ist ein besonders bedrückendes Beispiel – und das in unserer Stadt. Die europäische Idee braucht gerade in dieser schwierigen Phase Unterstützung. Das ist nicht nur Aufgabe von Regierungen und Parlamenten, sondern ebenso der vielen Akteure der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt auch für uns Rotarier. Schließlich steht Rotary International für die Verbindungen von Menschen über Grenzen hinweg, für Menschen, denen es im Sinne von Paul Harris um das Gemeinwohl, um gelebte Freundschaft und Solidarität weltweit geht. Diesem Gedanken hat unser Club in seinen jüngeren Aktivitäten verstärkt Rechnung getragen. Wir haben Clubfreundschaften aufgebaut zum RC Kamppi in Finnland, zum RC Breslau-Panorama in Polen und zum RC Paris Tour Eiffel in Frankreich. Hier liegt zugleich eine Aufgabe für die Zukunft: die Fortentwicklung rotarischer Verbindungen und Freundschaften z. B. nach Süd- oder Südosteuropa, aber auch das Festigen alter Verbindun-

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gen zu Frankreich und Großbritannien und zu den zunehmend europakritischen Amerikanern. Und warum nicht künftig auch zu Israel und seinen arabischen Nachbarn sowie in andere Teile der Welt? Dabei hilft uns der Standortvorteil unseres Clubs: Die Kulturmetropole Berlin ist mehr denn je eine Stadt von internationalem Renommee, für Asiaten und Lateinamerikaner ebenso attraktiv wie für die Länder des afrikanischen Kontinents oder den pazifischen Raum. Rotarische Freundinnen und Freunde gibt es überall und an Aufgaben für gemeinsames Handeln fehlt es nicht. Nutzen wir auch in der Zukunft die Chance, die uns Rotary International eröffnet. Nutzen wir auch in der Zukunft die vielen Chancen, die uns Rotary International eröffnet. Dazu eine persönliche Anmerkung: Die beiden Verfasser dieses Beitrags haben es sich zur Regel gemacht, bei beruflich bedingten oder privaten Reisen gerade in weiter entfernte Länder, wann immer möglich, Meetings der dortigen Clubs zu besuchen – stets mit rundum positiven Erfahrungen: Sei es in Melbourne oder Shanghai, auf den Cook-Inseln oder Rapa Nui – ein Anruf genügt und man ist unter Freundinnen und Freunden. Auch das ist Rotary. Postscriptum Als wir unseren Beitrag Anfang 2020 abschlossen, ahnten wir nicht, dass kurze Zeit später ein Ereignis mit weltweit einschneidenden Auswirkungen eintreten würde, das einen Nachtrag erforderlich macht. Die Covid-19 Pandemie, die – international zunächst kaum bemerkt – in der chinesischen Provinz Wuhan ausgebrochen war, erreichte Europa. Das Virus verbreitete sich zuerst in Norditalien, dann in Österreich, Deutschland und in der Folge in fast allen anderen europäischen Staaten. Trotz umgehender Gegenmaßnahmen wie z.B. Einreiseverboten erfasst das Virus inzwischen praktisch alle Regionen der Welt: die Vereinigten Staaten und Kanada, Asien, Afrika, Südamerika, Australien und Neuseeland. Die World-Health-Organisation ging Anfang Juli 2020 von über 10 Millionen Infizierten und über 500.000 Toten weltweit aus. Wir haben die Auswirkungen der Pandemie hier in Berlin hautnah erlebt: Ausgangsbeschränkungen wurden verhängt, Schulen, Universitäten und Kindergärten geschlossen, die Behörden auf Notbetrieb gestellt. Wo immer möglich, gingen Behördenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ins Homeoffice, in vielen Betrieben wurde Kurzarbeit angesetzt. Theater-, Opernhäuser und Museen blieben ebenso geschlossen wie Restaurants, Bars und Sporteinrichtungen. Alle Großveranstaltungen wurden abgesagt, Reiseverkehr fand kaum noch statt, die Flughäfen Tegel und Schönefeld verwaisten, die Berliner Bahnen und Busse blieben fast leer. Weite Teile des öffentlichen Lebens kamen zum Erliegen. Für Wochen zählten die täglichen Infektionszahlen zu



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den wichtigsten Meldungen des Tages. Als die Infektionszahlen endlich zurückgingen, erfolgte nach intensiven und auch kontroversen politischen Debatten zwischen Bundesregierung und den Bundesländern ab Anfang Mai eine stufenweise Öffnung, immer wieder begleitet von neuen Ausbrüchen in Corona-Hotspots, die es so gut wie möglich zu isolieren galt. Die Folgen der Pandemie für uns alle sind derzeit noch unabsehbar. Das gilt nicht nur für die wirtschaftliche Dimension. Die Bundesregierung versucht, mit einem umfassenden Konjunkturpaket dem wirtschaftlichen Einbruch und der steigenden Arbeitslosigkeit gegenzusteuern. Ebenso hat die EU ein europäisches Aufbauprogramm in beispielloser Höhe vorgelegt. Aber auch die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie sind schwerwiegend. Das zeigte sich bei den teils heftigen Debatten um die Aussetzung von Grundrechten während des Lockdown. Der wesentlich höheren Gefährdung älterer Menschen durch Covid-19 steht gegenüber, dass viele Jüngere sich und ihre Kinder von der Pandemie kaum betroffen sehen. Die Einschränkungen im öffentlichen Leben und die Beachtung der Hygieneregeln bleiben deshalb ein kontroverses Thema. Die Suche nach Medikamenten bzw. Impfstoffen stellt einen entscheidenden Faktor dar. Falls sich die Signale aus der Forschung bestätigen, besteht hier zumindest mittelfristig Anlass zu Hoffnung. Aber auch wenn medizinische Durchbrüche gelingen, bleibt abzuwarten, wie schnell Impfstoffe zugelassen, produziert und den Millionen Betroffenen weltweit zugänglich gemacht werden können. Andernfalls wird unsere Gesellschaft auf lange Sicht mit der Covid-19-Problematik leben müssen. Natürlich hat sich die Pandemie auch auf unseren Club ausgewirkt. Über Monate konnten keine Meetings mit persönlichen Begegnungen mehr stattfinden. Ersatzweise haben wir – mit stetig wachsender Beteiligung – Videokonferenzen veranstaltet. Umsichtig hat unser Präsident Andreas Richter diese Chance genutzt, um das Clubleben und die Projekte fortzuführen. Und die neue Lage eröffnet auch Chancen. So können die im Ausland lebenden Freundinnen und Freunde wie unser Past President Eugen Wohlfahrt, der im diplomatischen Dienst derzeit in Pakistan und demnächst in Uruguay tätig ist, nun per Bildschirm an unseren Meetings teilnehmen. Die Covid-19-Pandemie bildet einen – hoffentlich nur vorübergehenden – Einschnitt auch in unserem Clubleben. Bei der Ämterübergabe an unsere neue Präsidentin Stefanie Lejeune im Rotarischen Garten in Berlin-Wilmersdorf Anfang Juli 2020, mit der dieser Rückblick auf die ersten fünfzig Jahre unseres Clubs schließt, konnten wir uns erstmal nach Monaten wieder persönlich begegnen – bei eng begrenzter Teilnehmerzahl und unter Beachtung aller Abstandsregeln, aber unverändert mit rotarischer Herzlichkeit und Verbundenheit. Und das ist gut so!

Die Metamorphosen des Politischen Von Wolfgang Renzsch 1970 war die Welt (fast) noch in Ordnung Nach der Bundestagswahl 1969 wurde ein ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, Bundeskanzler. Es war der erste Regierungswechsel in der jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, nach dem der Bundeskanzler nicht von der CDU gestellt wurde. Zugleich trat mit der Bundestagwahl, an der knapp 87 Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen, eine gewisse Beruhigung nach den Wirren der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein. Die NPD, die zuvor bei Landtagswahlen mit Stimmenanteilen von bis zu knapp zehn Prozent beachtliche Ergebnisse erzielt hatte, scheiterte mit gut vier Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Parteien des linken Spektrums jenseits der SPD wurde nur unter „Sonstige“ mit gut ­ einem Prozent gezählt. Die Studentenproteste im Allgemeinen und die Proteste gegen die Notstandsgesetzgebung im Besonderen hatten sich nicht merklich auf das Parteiensystem ausgewirkt. Wesentlich für den Wahlerfolg der SPD war der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller, dem die Bewältigung der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik 1966/67 zugute

Beteiligung an den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus in % der Berechtigten. Hinweis: In Berlin wurde einmal mehr gewählt als im Bund, 1989. Deshalb findet sich in der Kurve des Bundes ein Loch.

95 90 85 80 75 70 65 60 55 50

Berlin

Bund



Die Metamorphosen des Politischen87

geschrieben wurde. Mit etwa 95 Prozent der abgegebenen Stimmen für die – damals drei – die Demokratie tragenden Parteien zeigte das politische System eine sehr hohe Integrationskraft. Die Lage in West-Berlin war nicht wesentlich anders. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 1967 erreichte bei einer Wahlbeteiligung von 86  Prozent die SPD knapp 57, die CDU knapp 33 und die FDP gut sieben  Prozent. Die NPD war in West-Berlin wegen des besonderen Status‘ der Stadt nicht zugelassen, die rechts-nationalistisch-pazifistische Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) erreichte etwa ein, die SED-West rund zwei Prozent. Mit knapp 97 Prozent für die drei demokratischen Parteien war die politische Integration ähnlich hoch wie in der damaligen Bundesrepublik. Auch vier Jahre später – 1971 – zeigten die politischen Parteien bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, an der sich fast 89 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, noch eine hohe Integrationskraft. Zwar verlor die SPD mehr als sechs Prozent, erzielte aber immerhin noch gut 50 Prozent, die CDU verbesserte sich um dieselbe Quote auf 38 Prozent, die FDP legte leicht auf gut acht Prozent zu. Auch bei den „sonstigen“ Parteien änderte sich wenig. 97 Prozent der Berliner wählten eine der drei demokratischen Parteien. Angesichts der ersten Rezession, die die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 60er Jahre erlebte, des Wiedererstehens einer rechtsradikalen politischen Bewegung und der Studentenproteste ist es erst einmal überraschend, dass die Parteien sich als sehr stabil erwiesen. Die Wahlbeteiligung sowohl im Bund als auch Berlin lag regelmäßig zwischen 85 und 90 Prozent, die drei relevanten demokratischen Parteien vereinigten 95 oder mehr Prozent der Stimmen auf sich. Stimmenverluste einer Partei – SPD 1971 in Berlin – schlugen sich in Gewinnen der konkurrierenden Parteien – CDU und FDP – nieder. Demokratie, wie es im Lehrbuch steht! Veränderungen in den 1970er und 1980er Jahren Vor allem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre konnten die großen Parteien ihre Mitgliedschaft stark ausbauen. Die Zahl der SPD-Mitglieder stieg von 648.000 im Jahr 1963 auf über eine Million 1976, die der CDU-Mitglieder (ohne CSU) von 1963 bis 1984 von 281.000 auf 735.000. Damit erreichten zumindest die großen Volksparteien einen Grad der Verankerung in der Bevölkerung, den sie weder zuvor noch später wieder erreichten. Diese Zunahme ihrer Mitgliederzahl verdankten die Parteien dem intensivierten politischen Wettbewerb, in dem um neue Ideen und politische Konzepte (z. B. neue Ostpolitik) gerungen wurde. Hinzu kamen Personen, bei der SPD das Charisma eines Willy Brandt, bei der CDU der junge Helmut Kohl als Modernisierer der Partei und des Konservatismus.

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Wahlergebnisse zum Berliner Abgeordnetenhaus 60 50 40 30 20 10 0 1971

1975 SPD

1979 CDU

1981

1985

1989

1990

SED-W/PDS/Linke

1995 FDP

1999

2001

2006

AL/B90/Grüne

2011

2016 AfD

In Berlin zeigten sich die neueren Entwicklungen gleichsam wie im Brennglas, denn in den Metropolen treten neue Trends zuerst hervor. Die Wahlbeteiligung in dieser Zeit war deutlich rückläufig. Von nahe an 90 Prozent noch 1971 sank sie auf 80 Prozent bei den Abgeordnetenhauswahlen im Januar 1989. Deutlichere Veränderungen sind bei der parteipolitischen Zusammensetzung des Parlaments zu beobachten. Die SPD, die lange Jahre über 50 Prozent, zeitweise sogar über 60 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, stürzte von gut 50 Prozent 1971 auf 42 (1975 und 1979), 38 (1981) und schließlich 32 resp. 37 Prozent (1985 und 1989) ab. Die CDU hingegen konnte ihre Zustimmung bei den Wählern mit Ergebnissen zwischen 44 und 48 Prozent (Ausnahme Januar 1989: 38 Prozent) stabilisieren und zugleich die SPD als stärkste Partei überflügeln. Die Integrationskraft der drei bisher dominierenden Parteien insgesamt ließ vor allem in den 1980er Jahren nach. Konnten sie noch 1975 und 1979 rund 95 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten, fiel die Quote auf 92 (1981), 87 (1985) und 79 Prozent (1989). Der Gewinner war in erster Linie die Alternative Liste, die damals noch als selbständiger Berliner Verband der Grünen antrat. Sie konnte 1981 erstmals mit sieben Prozent in das Abgeordnetenhaus einziehen. Bei den folgenden Wahlen erzielte sie knapp elf resp. zwölf Prozent. Ihre Wahlerfolge erklären aber nicht allein den Verlust der Bindekraft der „alten“ Parteien – schließlich verloren sie zwanzig Prozent der Stimmen, von denen zehn der neuen Konkurrenz zugutekamen. Tatsächlich lässt sich wohl der Verlust der „alten“ Parteien an Integrationsfähigkeit nur zum Teil mit den Erfolgen der Alternativen Liste erklären.



Die Metamorphosen des Politischen89

Die Entwicklung auf Bundesebene verlief ähnlich. Die Wahlbeteiligung sank nahezu kontinuierlich von 91 Prozent 1972 und auf 84 Prozent bei den letzten Bundestagswahlen der „alten“ Bundesrepublik 1987. Die CDU/CSU konnte in dieser Zeit ihren Stimmenanteil zwischen 44 und 48 Prozent relativ stabil halten, die SPD rutschte von knapp 46 auf 37 Prozent ab. Auch die FDP verzeichnete mit Ergebnissen zwischen sieben und gut zehn Prozent einen relativ hohen Grad an Stabilität. 1983 – zwei Jahre nach der Berliner Alternativen Liste – zogen die westdeutschen Grünen mit knapp sechs Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. Mehr noch als in Berlin konnten die Parteien des bisherigen „Zweieinhalb-Parteien-Systems“ die Stimmen auf sich vereinen: In den 70er Jahren und 1980 waren es 99 resp. 98 Prozent, der Rückgang in den 80er Jahren auf 94 resp. 90 Prozent erklärt sich zu einem erheblichen Teil aus den Erfolgen der Grünen. Zwar zeichnete sich hier eine Fragmentierung des Parteiensystems ab, aber auch das neue Vier-ParteienSystem wies noch eine hohe Integrationsfähigkeit auf. Die Unterschiede zwischen dem Bund und Berlin erklären sich aus dem Umstand, dass die Wähler nationalen Wahlen eine höhere Bedeutung zumessen als regionalen, kommunalen oder der Europawahl. Deshalb ist die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen üblicherweise höher als bei Wahlen zu Länder- oder Kommunalparlamenten. Weil regionale Wahlen als weniger wichtig gelten, sind die Wähler bei diesen auch eher bereit zu experimentieren, d. h. sie wählen andere Parteien, als sie es üblicherweise tun. Bei Bundestagswahlen dominieren hingegen die langfristigen politischen Loyalitäten. Das erklärt, warum Oppositionsparteien im Bundestag bei Landtagswahlen tendenziell besser abschneiden als bei Bundestagswahlen. Aber auch Veränderungen im Wählerverhalten finden üblicherweise zuerst auf regionaler Ebene und in Metropolen statt. Die 1980er Jahre waren Jahre fundamentaler politischer Umgestaltung. Das bisherige Parteiensystems veränderte sich grundlegend von einem System mit zwei Volksparteien – mitte-rechts und mitte-links – und einer kleineren dritten Partei, die mit ihren Koalitionsentscheidungen letztlich die Regierungen im Bund und teilweise auch in Berlin bestimmte, in eines mit vier Parteien, wenn auch unterschiedlicher Größe. Das Entstehen der Grünen ging vor allem zu Lasten der SPD, die damit einen Teil der jüngeren Wählerschaft verlor. Zu einem wesentlichen Teil waren es Personen aus der Studentenbewegung, die die SPD seit 1969 integrieren konnte, die sich aber unter den politischen Stichworten Umweltschutz, Anti-Atomkraft-Bewegung und Friedenspolitik wieder von der SPD abwandten.

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Die deutsche Einheit … Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde schnell klar, dass die deutsche Einheit unerwartet auf der politischen Agenda stand. Niemand, weder die Bürgerrechtler der DDR noch die Regierung in Bonn oder der Berliner Senat, war darauf vorbereitet. Wegen des sehr schnellen Einigungsprozesses – zwischen dem Fall der Mauer und dem Vertrag über die Herstellung der deutschen Einheit lagen gerade gut neun Monate – wuchs nicht nur zusammen, was zusammengehörte, sondern es wurde auf die Schnelle auch manches zusammengefügt, was nicht unbedingt richtig zusammenpasste. Die durch die Einheit hervorgerufenen Friktionen wirkten sich auch auf das Parteiensystem aus, das sich in den folgenden drei Jahrzehnten einschneidend veränderte. Die großen Parteien, deren Mitgliederzahlen seit 1976 (SPD) resp. 1984 (CDU) rückläufig waren, erlebten 1990 kurzzeitig eine Trendumkehr. Die SPD konnte die Mitgliederverluste seit 1976 großenteils durch die deutsche Einheit ausgleichen und zählte 943.000 Mitglieder, die CDU erreichte 1990 ein neues Mitgliederhoch mit 790.000 Mitgliedern. Anders als die SPD konnte die CDU mit der Ost-CDU eine bestehende Partei auf dem Gebiet der ehemaligen DDR übernehmen und damit schlagartig ihre Mitgliederzahl erhöhen. Bereits bei den ersten gesamtdeutschen resp. gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember 1990 deuteten sich Veränderungen an, die aber noch nicht klar hervortraten. In Berlin sank bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus die Beteiligung auf knapp 80 Prozent. Das entsprach den Wahlen vom Januar 1989, jedoch fällt die unterschiedliche Beteiligung im ehemaligen Ost- und Westteil der Stadt auf: Im Westen lag sie bei 83, im Osten bei 76 Prozent. Warum jeder vierte Ostberliner sein neu errungenes Wahlrecht nicht nutzte, ist nicht einfach zu erklären. Vielleicht war Nichtwählen die Inanspruchnahme einer neuen Freiheit gegenüber dem pflichtgemäßen „Faltengehen“ bei DDRWahlen, vielleicht wollte man die alten Blockparteien nicht wählen, empfand aber die anderen Parteien als fremd. Vielleicht spielte auch schon das Aus­ einanderklaffen von geweckten Erwartungen und neuer Realität eine Rolle. Die CDU konnte sich gegenüber der Wahl von 1989 von knapp 38 auf gut 39 Prozent verbessern, die SPD hingegen fiel deutlich von 37 auf knapp 31 Prozent. Die Nachfolgepartei der SED, die PDS, erreichte – nicht unbedingt erwartet – knapp zehn Prozent, mehr als die FDP mit guten neun Prozent. Die Alternative Liste (West) und das Bündnis 90 (Ost) kandidierten noch mit getrennten Listen im Ost- und im Westteil der Stadt und erzielten gut vier resp. fünf Prozent der Stimmen. Sie bildeten im Abgeordnetenhaus eine Fraktionsgemeinschaft und waren damit zusammen etwa so stark wie die beiden anderen kleineren Parteien. Im Abgeordnetenhaus gab es damit erstmals fünf Parteien, zwei davon relativ stark und drei kleinere.



Die Metamorphosen des Politischen91

Ergebnisse der Bundestagswahlen 1969 - 2017 60 50 40 30 20 10 0 1969

1972

1976

CSU/CSU

1980

1983 SPD

1987 FDP

1900

1994

1998

B 90/Grüne

2002

2005 PDS/Linke

2009

2013

2017

AfD

Bei der Bundestagswahl 1990, die an demselben Tag wie die Berliner Wahlen stattfand, sank trotz des besonderen Charakters dieser Wahl als die erste gesamtdeutsche die Beteiligung auf 78 Prozent. Auch hier zeigte sich eine merklich geringere Beteiligung im Bereich der ehemaligen DDR als in der „alten“ Bundesrepublik. Das sich bereits in den Jahren zuvor abzeichnende schleichende Absinken der Wahlbeteiligung konnte auch durch die deutsche Einheit nicht aufgehalten werden. Die Ergebnisse hatten sich gegenüber 1987 nur wenig verändert. Die CDU lag stabil bei 44 Prozent, die Abwärtsentwicklung der SPD setzte sich mit weiteren Verlusten auf gut 33 Prozent fort. Die FDP schnitt mit 11 Prozent ungewöhnlich gut ab, die Grünen, die auch auf Bundesebene getrennt als Grüne und Bündnis 90 antraten, erreichten zusammen fünf Prozent. Die relative skeptische Haltung zur deutschen Einheit hatte sich bei ihnen in Wählerverlusten niedergeschlagen. Die PDS konnte mit deutlich über zwei Prozent in den Bundestag einziehen. Sie, Bündnis 90 und die Grünen waren im Bundestag vertreten, weil die Fünf-Prozent-Hürde für die Wahlgebiete „Ost“ und „West“ separat galten. Auch im Bundestag hatte sich damit infolge der Einheit ein Fünf-ParteienSystem etabliert. … und deren Folgen Ein Schlaglicht auf den fortschreitenden Niedergang der politischen Inte­ grationsfähigkeit der Parteien ist deren Mitgliederverlust seit 1990. Die SPD verlor bis 2019 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder: Die Mitgliederzahl sank

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von 943.000 auf 426.00. Die CDU und die CSU erlebten ähnliches. Die Mitgliederzahl der CDU sank von 790.000 auf 415.00 oder um 47 Prozent, die CSU schnitt etwas besser ab, sie verlor ein Viertel ihrer Mitgliedschaft: 46.000 von 186.00 Mitgliedern. Die FDP verlor gut zwei Drittel, sie verzeichnete 2019 noch 64.000 Mitgliedern nach 168.000 im Jahr 1990. Die Linke sank von 281.000 auf 61.000 Mitglieder, deutlich weniger als ein Viertel der früheren Mitgliedschaft ist geblieben. Gewinne konnten nur die Grünen und die AfD verzeichnen. Die Grünen konnten sich von 1990 von 41.000 auf 85.000 Mitgliedern im Jahr 2019 mehr als verdoppeln. Die AfD wird erstmals 2013 mit 18.000 Mitgliedern wahrgenommen. Bis 2018 wuchs sie auf 34.000 Mitglieder. Die Wahlen in Berlin zwischen 1995 und 2016 reflektieren einerseits die nachlassende Verankerung der „alten“ Parteien und andererseits auch die wachsende Bedeutung der „neuen“. Die Wahlbeteiligung in Berlin lag im Dezember 1990 mit noch 80 Prozent knapp unter dem Niveau der Jahre zuvor. Bei den folgenden Wahlen sank sie auf ein Niveau zwischen 58 Prozent (2006) und 69 Prozent (1995). Die Differenz zwischen den beiden Teilen der Stadt lag zwischen fünf und acht Prozent, allerdings mit der Ausnahme von 2016 als beide Teile sich bis auf ein halbes Prozent aneinander genähert hatten. Zugleich schritt der wahlpolitische Verfall der SPD in Berlin weiter fort. Die Partei erreichte Ergebnisse zwischen 31 Prozent (2006) und 22 Prozent (2016). Sie war damit weit entfernt von den Ergebnissen früherer Zeiten. Fast noch dramatischer ist der Verfall der CDU. Erreichte sie noch 1995 stolze 38 Prozent und 1999 sogar 41 Prozent, sank sie bei den folgenden Wahlen Schritt für Schritt auf knapp 18 Prozent 2016. Die PDS resp. Die Linke schien sich in den neunziger Jahren zu stabilisieren und erreichte 2001 fast 23 Prozent, fiel dann aber wieder auf Größenordnungen zwischen 12 (2011) und 16 (2016) Prozent. Die FDP scheiterte 1995, 1999 und 2011 an der Fünf-Prozent-Hürde, bei den anderen Wahlen lag sie zwischen sieben und zehn Prozent. Bündnis 90/Die Grünen konnten sich nach der Fusion von Bündnis 90 und den Grünen sowie der Integration der Alternativen Liste in Berlin deutlich stabilisieren. Abgesehen von den Wahlen 1999 und 2001, bei denen sie zehn resp. neun Prozent erreichten, lagen sie zwischen 13 und knapp 18 Prozent. Die AfD beteiligte sich erstmals 2016 an einer Wahl des Abgeordnetenhauses und erzielte bereits beim ersten Anlauf gut 14 Prozent. Auf Bundesebene war das Bild ähnlich. Auch dort ging die Wahlbeteiligung deutlich zurück. Ergebnisse zwischen 85 und 90 Prozent wurden nicht mehr erzielt, sondern nur noch zwischen 71 und 79 Prozent. 1998, als die SPD-Bündnis 90/Die Grünen-Opposition die bisherige CDU/CSU-FDPMehrheit überflügeln konnte, wurden 82 Prozent erreicht. Aber auch dieser



Die Metamorphosen des Politischen93

Wert lag deutlich unter denen der 80er Jahre. Wie auch in Berlin, verloren die bisherigen großen Parteien auch auf Bundesebene ihre Bindekraft. Die CDU/CSU sank von 41 Prozent im Jahr 1994 kontinuierlich auf 33 Prozent 2017 ab. Eine Ausnahme waren die Wahlen 2013, bei denen man noch knapp 42 Prozent erreichte. Die Wahlergebnisse der SPD unterscheiden sich davon nicht gravierend. Bei der ersten Kandidatur Gerhard Schröders zum Bundeskanzler 1998 erreicht sie 41 Prozent, während seiner Amtszeit knapp 39 (2002) und 34 Prozent (2005). Die FDP lag zwischen sechs und 14 Prozent, 2013 scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Während die Ergebnisse der FDP volatil waren, zeichnete sich die Entwicklung der Grünen durch Konsolidierung aus. Sie wuchsen mit geringen Schwankungen von rund sieben auf neun Prozent. Die Linke scheiterte 1994 und 2002 an der Fünf-ProzentKlausel, war aber im Bundestag über Direktmandate, gewonnen in Berlin, im Bundestag vertreten. Seit 2005 hat sich auch diese Partei bei rund neun Prozent konsolidiert. Schließlich die AfD, sie erreichte 2013 noch keine fünf Prozent und war nicht im Bundestag vertreten. Das änderte sich 2017, als die Partei knapp dreizehn Prozent erreichte. Die Metamorphosen des Politischen: Politische Desintegration als Folge soziale Desintegration Alle hier diskutierten Indikatoren – Parteimitgliedschaften, Wahlbeteiligung, Wahlverhalten – zeigen in dieselbe Richtung: Die Integrationsleistungen der politischen Institutionen lassen nach. Diese Entwicklung zu verstehen und zu erklären ist nicht einfach, es gibt zwar eine Reihe Ansätze, aber ein umfassendes Erklärungsmodell liegt bisher nicht vor. Eine Erklärungsmöglichkeit ergibt sich aus der Beobachtung, dass soziale Institutionen generell in einer Phase der „Individualisierung“ oder „Privatisierung“ ihre Bindekräfte verlieren. Nicht nur politische Institutionen, sondern auch Kirchen, Gewerkschaften, Vereine verschiedener Art verlieren Mitglieder oder haben Schwierigkeiten, neue zu rekrutieren. Dieser „Rückzug ins Private“ ist auch eine Folge technischer Veränderungen und neuer Möglichkeiten der Freizeitgestaltung: Wer seine Freizeit vor dem Fernsehgerät oder dem Computer verbringt, hat keine Zeit mehr für einen Verein oder politische Aktivitäten. Auch die Attraktion sozialer Medien reduziert die Bereitschaft zum Mitmachen, auch wenn sie politische Meinungen transportieren. Eine andere Erklärung wäre im Hinblick auf die politischen Parteien die Auflösung der „sozial-moralischen“ Milieus, die die Parteien tragen (oder trugen). Grundsätzlich lassen sich in Deutschland zwei große sozial-moralische Milieus unterscheiden, nämlich zum einen das eher katholisch-bürgerlich-konservative und zum anderen das eher gewerkschaftlich-protestantischprogressive. Das erstere war die Basis der CDU/CSU, das zweite das der

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SPD. Der idealtypische Wähler wurde für CDU/CSU als älter, weiblich, katholisch, verheiratet, mit Kindern, auf dem Lande lebend, für die SPD als mittelalterlich, männlich, protestantisch, verheiratet, gewerkschaftlich organisierter Facharbeiter, in der Stadt lebend beschrieben. Aber auch dieses Bild stimmt so nicht mehr. Insbesondere im Zuge des Generationenwechsels hat die Rolle der Konfession und der Kirchennähe deutlich an Bedeutung verloren. Bei jüngeren, kirchengebundenen Menschen zeigt sich, dass christlich motiviertes Engagement im Umweltschutz für den Erhalt der „Schöpfung Gottes“, im Dritte-Welt-Bereich oder Sympathie für Befreiungstheologien politisch zu einer Nähe zu Bündnis 90/Die Grünen führen können. Die Parteien kommen auch ihren Aufgaben im politischen System nicht mehr hinreichend nach. Zu ihren Aufgaben zählen neben der Rekrutierung des politischen Personals die Artikulation und Bündelung des politischen Willens der Wähler. Dabei müssen sie die potenziell unendlichen Anzahl politischer Willen bündeln, auf wenige Alternativen reduzieren und damit handlungsfähig machen. Dazu müssen sie politische Orientierung bieten, in dem sie Konzepte zur Lösung wesentlicher gesellschaftlicher Problem entwickeln, für die Frage nach der Gestaltung der Zukunft Entwürfe vorstellen und diese durch Personen mit Führungsqualitäten – Charisma – darstellen. Diesen Ansprüchen werden die Parteien heute kaum noch gerecht. Ein Weiteres kommt hinzu, der „Verlust des Handwerklichen“. Die Bürger erleben – besonders deutlich in Berlin – einen konstanten Niedergang der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. Das schlägt zurück auf das Ansehen der politischen Repräsentanten und befördert die Entfremdung zwischen „Politik“ und Wählern. Letztlich bleibt aber die Frage nach Ursache und Wirkung, danach, ob die Politiker und ihre Parteien ihre Verankerung in der Gesellschaft verloren haben, weil sie ihren Aufgaben nicht nachgekommen sind, oder ob sie ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen konnten, weil sie ihre Verankerung verloren haben, die nach der Henne und dem Ei. Eine große Bedeutung hat die Veränderungen von Lebenswelten. Bis in die 1970er Jahre waren tradierte Rollenvorstellungen und Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse noch weitgehend akzeptiert. Der Mann war der Ernährer der Familie, die Frau führte ein Leben als Hausfrau und Mutter und verdiente nebenbei bestenfalls „dazu“. Ein Zusammenleben außerhalb der Ehe war nahezu unmöglich (eine Ausnahme war die „Onkelehe“ einer Kriegerwitwe, damit sie ihre Witwenrente nicht verliert), bis 1973 machte sich aufgrund des „Kuppeleiparagraphen“ strafbar, wer ein unverheiratetes Paar in einem Zimmer nächtigen ließ. Dasselbe gilt für die männliche Homosexualität, die ebenfalls strafbar war. Das, was als strafwürdige „Unzucht“ und Verstoß gegen das „Sittengesetz“ (was immer das gewesen sein mag) galt,



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zählt heute zum Bereich respektierter privater Lebensführung. Der Weg von der Diskriminierung außerehelicher Lebensgemeinschaften und der Homo­ sexualität hin zur auch gesetzlich akzeptierten „Ehe für alle“ implizierte einen tiefgreifenden Bruch gesellschaftlicher Moralvorstellungen. Und er verlief in historischer Perspektive rasend schnell. Mancher Beobachter sah in diesem Wertewandel eher einen Werteverfall oder auch Dekadenz. Wichtiger für die gesellschaftlichen Veränderungen ist wohl die Bildungsexpansion der Mädchen und Frauen. Auf die Klagen über die deutsche Bildungskatastrophe Mitte der 1960er Jahren folgte der gesellschaftlich breit unterstützte Aufruf „Schick Deine Kinder länger auf bessere Schulen“. Seit der ersten Hälfte der 60er Jahre besuchte ein wachsender Anteil von Jungen und Mädchen aus „bildungsfernen“ Schichten weiterführende Schulen. Etwa seit den 1990er Jahren fanden sich an Gymnasien etwas die gleiche Anzahl von Mädchen wie Jungen. An den Universitäten setzte sich diese Entwicklung fort. Auch in klassisch männlichen Fächern wie Jura oder Medizin hat der Frauenanteil den der Männer ein-, teilweise auch überholt. Die Bildungsexpansion veränderte die Rollenzuschreibungen weiter Teile der Gesellschaft. Mit steigendem Bildungsniveau stieg auch der Anspruch an gesellschaftlicher Teilhabe. Auch politische Loyalitäten veränderten sich im Zuge von Generationswechseln. Die Gewinner der Bildungsexpansion stehen politisch eher bei den progressiven Parteien, diejenigen, die nicht davon in demselben Maß profitierten, eher bei den konservativeren. Schaut man auf die Führungseliten der beiden großen Parteien, fällt zuerst die sozialstrukturelle Ähnlichkeit auf: Juristen, Ökonomen, Sozialwissenschaftler dominieren. Schaut man etwas tiefer, fällt auf, dass es sich bei den Sozialdemokraten vielfach um Bildungsaufsteiger handelt, die in ihrer Familiengeschichte zur ersten Generation mit akademischer Ausbildung zählen, bei den Christ- und Freidemokraten kommen sie häufiger aus akademisch gebildeten Elternhäusern. Die Veränderung von politischen Loyalitäten kann ohne die Bildungsexpansion, von der eine junge Generation profitierte, kaum erklärt werden. Mit ihr, mit dem Infragestellen des Althergebrachten, veränderte sich auch die politische Landschaft. Die Mitte des politischen Spektrums wurde liberaler, offener und toleranter im Hinblick auf Vielfalt und Pluralität der Gesellschaft. Folgt man der Annahme, dass die Verteilung politischer Loyalitäten zwischen rechts und links der Gauß’schen Normalverteilung folgt, dann werden politische Mehrheiten nicht bei den Extremen, sondern in der politischen Mitte gewonnen. Diese hat sich – Stichwort: Wertewandel – in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Die Wechsel politischer Mehrheiten zeigen an, welche Partei oder welches Lager die Mitte für sich gewinnen konnte. 1969 konnten angesichts einer konservativ gewordenen CDU/CSU die einen neuen

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Aufbruch verkörpernde SPD mit der damals mehrheitlich eher bürgerrechtsliberalen FDP solche Wähler für sich gewinnen. 1982/83 zog sich die SPD aus dieser Mitte zurück und überließ sie dem als Erneuerer geltenden Helmut Kohl. 1998 wiederholte sich dieses Bild. Dem alt gewordenen Kanzler Kohl trat ein modernerer Gerhard Schröder gegenüber. Wie schon Helmut Schmidt verlor er nach 2003 (Agenda 2010) die Unterstützung seiner Partei und die politische Mitte wurde Angela Merkel überlassen. Die heutige Koalition von CDU/CSU und SPD ruft in beiden Parteien den Wunsch nach CDU resp. SPD „pur“ wach. Beide Parteien, insbesondere der jüngere Führungsnachwuchs, werden radikaler, die eine nach links, die andere nach rechts. Tatsächlich aber hat noch keine Partei „pur“ eine Wahl gewonnen. Die Kanzlerkandidaten von Brandt bis Merkel zählten zur Zeit ihrer Kandidatur zu den Moderaten in ihrer Partei und betrieben Politiken, die oftmals auch bei anderen Parteien Anerkennung fanden: „Guter Mann/gute Frau, aber leider die falsche Partei!“ Dass derzeit die Aktivisten und Funktionäre der Parteien links der Mitte weiter nach links und die rechts der Mitte weiter nach rechts tendieren, sie aber kaum überzeugende Antworten auf Zukunftsfragen geben, sondern eher Rezepte aus den „eingefrorenen Konflikten der Vergangenheit“ anbieten, ist wohl eine der Ursachen für die Erfolge von Bündnis 90/Die Grünen, zumindest bei Umfragen. Ein Politikangebot, das gesellschaftlich offener und liberaler ist als das der CDU/CSU, wirtschaftsliberaler als das der Sozialdemokraten und der Linken, aber weniger marktradikal und stärker sozialstaatlich orientiert als das der FDP, das zudem in drängenden Fragen wie Klima- und Umweltschutz besser als andere die Sorgen der Menschen aufgreift und sich weniger an Interessengruppen orientiert, lässt die Grünen, insbesondere für die jüngere Generation, mehr und mehr als eine moderne neo-bürgerliche Partei der politischen Mitte erscheinen. Bündnis 90/Die Grünen haben das Potential quasi „Ankerpartei“ einer neuen Mitte, vor allem im gebildeten urbanen Milieu, zu werden. Sie sind anschlussfähig an die liberalen Christdemokraten, moderaten Sozialdemokraten und die verbliebenen Sozialliberalen in der FDP. Ob sie es werden, bleibt offen. Eine andere Möglichkeit wäre eine Re-Organisation der moderaten neuen liberalstaatlichen politischen Mitte jenseits von rechts und links, wie man sie in Frankreich unter der Führung von Emmanuel Macron und La République en Marche beobachten konnte. Bleibt die Frage nach der AfD. Über die Gründe für das Entstehen und den Erfolg dieser Partei gibt es zahlreiche Erklärungsansätze, die sich insgesamt eher ergänzen als widersprechen. Anders kann es bei einem komplexen Ur­sachenbündel auch kaum sein. Ein eher allgemeiner Erklärungsansatz ist der Umstand, dass sich zumindest in Deutschland in langen Regierungszeiten am Rand der größeren Regierungspartei radikalere Oppositionsparteien bil-



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deten, die nach einem Regierungswechsel aber teilweise wieder verschwanden. Die NPD entstand zu Ende der ersten langen Regierungszeit der CDU/ CSU, die Grünen begannen als Protest gegen die Regierung Schmidt, während der Regierungszeit von Kohl hatten die Republikaner und die DVU ihre besten Ergebnisse, gegen Schröder formierte sich die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, die mit der PDS zur Linken fusionierte, in der Regierungszeit Merkels entstand und wuchs die AfD. Darauf zu hoffen, dass sie wie DVU, NPD und Republikaner wieder in der politischen Bedeutungs­ losigkeit verschwinden wird, ist wahrscheinlich zu optimistisch. Dagegen spricht, dass es sich bei rechtspopulistischen Bewegungen mittlerweile um ein globales Phänomen handelt und sich zudem eine Reihe von Ursachen festmachen lassen, die vermutlich diese politische Bewegung ausgelöst haben. Die Unterstützer der AfD sind eher männlich, mittelalterlich und besitzen mittlere berufliche Qualifikationen – sind also nicht notwendigerweise „Verlierer“ oder „Abgehängte“. Warum nun die Erfolge bei den letzten Landtagswahlen, insbesondere in den östlichen und südlichen Grenzregionen von Brandenburg und Sachsen? Hier treffen wohl die Umstände wie schlechte wirtschaftliche Perspektiven (Braunkohletagebau in der Lausitz), Ausdünnung der regionalen Infrastruktur, Abwanderung von insbesondere qualifizierten Menschen, meist Frauen (damit auch der Wähler der die Demokratie tragenden Parteien), eine neue Diskrepanz zwischen den Zentren und der Peripherie zusammen. Die Erinnerung an vermeintliche „bessere“ Zeiten lässt politische Angebote, die eine „gute“ Vergangenheit appellieren, die es aber vermutlich nie gab, attraktiv erscheinen. Mit Migration und Islam allein lässt sich der Zuspruch zur AfD sicherlich nicht erklären. Sicherlich richtig ist auch, die Ursachen für den Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen in den Folgen der Globalisierung und Europäisierung zu verorten. Dadurch, dass Grenzen an Bedeutung einbüßten, Kommunikation und Märkte entgrenzt worden sind, homogene Gemeinschaften durch plurale Gesellschaften in Frage gestellt worden sind, sind in vielen Fällen auch Gewissheiten über die Zukunft, individuell und kollektiv, verloren gegangen. Die Veränderungen der Geschlechterrollen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverschiebungen, die Folgen der Bildungsexpansion für die diejenigen, die daran nicht teilgenommen haben, die Entwertung von überliefertem Wissen und traditionellen Qualifikationen, daraus erwachsende Perspektivlosigkeit, pessimistische Zukunftserwartungen, verletzter Stolz, Mangel an Orientierung usw. führen zu Verlustgefühlen und Zukunftsängsten. Diese werden von denjenigen politisch ausgebeutet, die einfache Erklärungen und Schuldzuweisungen sowie als Bezugspunkt eine vermeintlich bessere Vergangenheit anbieten.

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Eine weitere Erklärungsmöglichkeit wäre der Umstand der schockartigen Veränderungen in Ostdeutschland. Der erwähnte soziale Wandel zog sich in Westdeutschland über mehrere Jahrzehnte hin, sodass der Gesellschaft Zeit hatte, ihn zu verarbeiten. In Ostdeutschland traf der Wertewandel nach der Einheit auf eine weitgehend unvorbereitete, eher homogene Gesellschaft, die Pluralität kaum kannte und nur in geringem Maß tolerierte. Zudem fanden die durch die Globalisierung hervorgerufenen ökonomischen und sozialen Veränderungen der Nachwendezeit quasi über Nacht statt. Diese Veränderungen waren nicht erwartet worden und konnten nicht schnell verarbeitet werden. Hinzu kommt, dass die politischen Parteien angesichts dieser Heraus­ forderungen orientierungslos wirkten, wenig politische Führung anboten und ihre Versprechen nicht realisieren konnten. Abgesehen von PDS/Linke wurden sie als westliche Importe wahrgenommen, denen der Bezug zu den Lebenswelten der Menschen fehlte. Sie konnten kaum Wurzeln schlagen und zogen sich mittlerweile auch wieder weitgehend aus der Fläche zurück. Dieses Vakuum erklärt zumindest ein Teil der Erfolge der AfD in den östlichen Ländern. Auch ohne die Gründe für das Erstarken einer rechtpopulistischen Bewegung hier vollumfänglich analysieren zu können, erschiene es doch sehr opti­ mistisch, deren Versinken in der politischen Bedeutungslosigkeit zu erwarten. Im Gegenteil, es ist eher damit zu rechnen, dass die politische Konfliktlinie zwischen rechts und links zunehmend von einer zwischen liberalen und illiberalen kulturellen Positionen überlagert wird. Sicherlich, der soziale ­ Konflikt wird nicht verschwinden, aber ergänzt und relativiert um einen kulturellen darüber, wie wir in Zukunft leben möchten.

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen; Ihr durchstudiert die groß’ und kleine Welt, um es am Ende gehn zu lassen, wie’s Gott gefällt. Goethe, Faust I

Gynäkologie und Geburtshilfe in den letzten 50 Jahren Von Uwe Andreas Ulrich „Wir Frauenärzte sind Gralshüter des größten Wunders auf Erden, der Menschwerdung …“, schrieb Walter Stoeckel, von 1907 bis 1950 Ordinarius für Gynäkologie und Geburtshilfe in Marburg, Kiel, Leipzig und Berlin, in seinen Memoiren. Die medizinische Disziplin Gynäkologie und Geburtshilfe Die „Medizin“ umfasste bis in die Zeit der Aufklärung jenen Teil dieser Wissenschaft, der heute als „Innere Medizin“ bekannt ist. Ärzte schnitten damals nicht, das überließen sie, falls „medizinisch“ angezeigt, den Badern, Barbieren oder Feldscheren, die gleichwohl oft genug von jenen darum ersucht wurden (zum Beispiel beim Aderlass). Bis in die 1960er und 70er Jahre, mit denen dieser Rückblick beginnen soll, hießen an den deutschsprachigen Universitäten noch viele Kliniken für Innere Medizin „Medizinische Klinik“. Das „schneidende“ Fach – die Chirurgie (χειρουργία, griech. Handarbeit) – ist an den Medizinischen Fakultäten des deutschsprachigen Raumes erst seit dem achtzehnten und mancherorts dem frühen neunzehnten Jahrhundert mit eigenen Lehrstühlen und Kliniken gleichberechtigt neben der (Inneren) Medizin vertreten. Dennoch wurde das neunzehnte Jahrhundert, vor allem dessen zweite Hälfte, zum „Jahrhundert der Chirurgen“ (Jürgen Thorwald). Kühne Operationen, so sagte man damals, wurden zum ersten Mal gewagt; das Messer eroberte sich eine anatomische Region nach der anderen. Erfolgreiche Operateure wurden mit Feldherren verglichen und erreichten einen fast entrückten Status: Man denkt an Ernst von Bergmann oder – eine Generation später – Ferdinand Sauerbruch. Zunächst umfasste die Mutterdis-

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ziplin Chirurgie noch alle operativen Eingriffe, aber schon bald spalteten sich Spezialfächer ab. Anatomen, Ärzte und Chirurgen vertraten die akademische Geburtshilfe in den Gebäranstalten, Entbindungs- oder Accouchierhäusern (accoucher, franz. entbinden), die ebenfalls im Zuge der Aufklärung in vielen europäischen Staaten als Vorläufer unserer heutigen Frauenkliniken entstanden. Die Geburtshilfe, die bis dahin überwiegend in den Händen der Hebammen lag, die nur in schwierigen Fällen einen Arzt oder Wundarzt hinzuzogen, entwickelte sich als neue medizinische Disziplin, wenngleich seit dem sechzehnten Jahrhundert einzelne Wundärzte bereits als Spezialisten in der Geburtshilfe hervorgetreten waren. Mit der Emanzipation der schneidenden Medizin wurden auch gynäkologische Erkrankungen zunehmend chirurgisch behandelt. An manchen Geburtskliniken entwickelten sich nun die Geburtshelfer zu gynäkologischen Operateuren – nicht selten autodidaktisch, andernorts wurden aus Chirurgen gynäkologische Operateure. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war überall in Europa das Doppelfach Gynäkologie und Geburtshilfe etabliert und in Frauenklinken beheimatet. Moderne gynäkologische Subspezialisierungen, für die in den meisten Ländern eigene Curricula nach der Facharztausbildung existieren, sind die Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, die sich mit Störungen des weiblichen Hormonsystems und solchen der Fortpflanzung befasst, die allgemeine operative Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie, wo gut- und bösartige Erkrankungen des weiblichen Genitale im Mittelpunkt stehen, und die Geburtshilfe und Perinatalmedizin. Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Die Antibabypille – kurz: „die Pille“, 1960 in den USA und 1961 in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen, hat wie wohl kaum ein zweites Medikament weit über die ursprüngliche medizinische Anwendung hinaus die Gesellschaft der Sechziger- und Siebzigerjahre beschäftigt: Das Echo in Politik, Medien, Kirchen, medizinischen Fachgesellschaften, bei Frauenrechtlerinnen, Anwenderinnen und deren Partnern war gewaltig. Schon das zweifellos unglückliche Determinans „Antibaby-“ führte zu heftigen Debatten, gleichwohl war es, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr zu korrigieren. Für die Entwicklung der Pille in den USA konnte auf Ideen und Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum bis in die 1920er Jahre zurückgegriffen werden. In der Rückschau möchte es scheinen, als kam die Pille zur rechten Zeit für einen Teil der jungen Generation in den Sechziger- und Siebzigerjahren, viel eher aber mag sie umgekehrt als ein gewisser Katalysator die gesellschaftliche Entwicklung dieser Zeit beeinflusst haben.



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Am 25. Juli 1978 wurde in der englischen Stadt Oldham Louise Brown als erster Mensch nach einer Befruchtung im Reagenzglas (in-vitro Fertilisation, IVF) geboren. Die Methode, an der seit Jahrzehnten gearbeitet wurde, und mit der sich nun für viele Menschen der sehnlichste Wunsch erfüllen ließ, eroberte in kurzer Zeit die Welt; der Biologe Robert Edwards, der dafür im Jahr 2010 den Nobelpreis erhielt, und der Gynäkologe Patrick Steptoe führten die IVF bei Louises Mutter erstmalig mit dem Erfolg einer Lebendgeburt durch. Seitdem konnten viele Details verfeinert werden, die Schwangerschaftsraten stiegen, die intrazytoplasmatische (gemeint ist die Eizelle) Spermieninjektion ersetzte in vielen Fällen die spontane Vereinigung der Keimzellen im Reagenzglas. In den 1990er Jahren entbrannte die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik. Hierbei werden durch in-vitro Fertilisation menschliche Embryonen erzeugt und zunächst genetischen Testungen auf Erbkrankheiten oder Chromosomenstörungen unterzogen, bevor sie nur im Ausschlussfall in die Gebärmutter eingepflanzt – oder andernfalls vernichtet werden. Natürlich können auch – unabhängig von Krankheiten – andere biologische Merkmale (Geschlecht, Augenfarbe etc.) untersucht und die Entscheidung, ob dem Embryo das Leben zu- oder abgesprochen wird, davon abhängig gemacht werden. 2016 ist es japanischen Forschern gelungen, Körperzellen aus der Schwanzspitze von Mäusen in der Petrischale in Eizellen zu transformieren, also unter Umgehung der Eierstöcke (sog. in-vitro Gametogenese, IVG). Durch diese reproduktionsbiologische Technik, würde die Fortpflanzung von der Verschmelzung der auf natürlichem Wege entstandenen und gereiften Eizellen und Spermien unabhängig; theoretisch könnten somit z. B. zwei männliche oder zwei weibliche oder auch vier und mehr Individuen biologisch gemeinsame Nachkommen haben. Eine Anwendung beim Menschen wird nach Ansicht einiger Forscher in den nächsten zehn Jahren erwartet. Eingriffe in die menschliche Keimbahn sind in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Experten warnen vor der Möglichkeit, dass sich gentechnische Veränderungen (Genchirurgie, gene and genome editing) – zum Beispiel mit Hilfe der Gen-Schere CRISPR – weitervererben, d. h. nicht nur das Individuum betreffen, an dem die gentechnische Manipulation erfolgte. Gleichwohl gab es 2019 diesbezüglich einen behaupteten Tabubruch in China. Unstrittig ist der Wunsch nach Verhinderung von vererbbaren Krankheiten, aber auch eine andere Vision ist denkbar: menschliche Embryonen unter dem bestmöglichen Ausschluss von „Zufällen“ nun aktiv über Genchirurgie zu gestalten, gewünschte Eigenschaften zu er-„zeugen“. Wenn der weibliche Körper durch Krankheits- und Operationsfolgen, nicht zuletzt aber auch des Alters wegen den Voraussetzungen für eine in-vitro Fertilisation nicht mehr genügt, können die fehlende Eizelle durch Eizell-

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spende einer jüngeren Frau und der fehlende Uterus durch eine Leihmutter ersetzt werden, die dann ein mit ihr nicht verwandtes Kind austrägt. (Mit einer Samenspende ist die Sache deutlich weniger problematisch.) Die bisher älteste Mutter nach Eizellspende war Berichten zufolge 74 Jahre alt. Machbarkeit scheint dabei Augenmaß zu verdrängen, Erstaunen ob des medizinisch Möglichen mischt sich mit Kopfschütteln. Noch sind diese Praktiken – anderswo gang und gäbe – in Deutschland durch die hier geltenden Gesetze eingehegt. Der Ruf nach Lockerung ist jedoch unüberhörbar. Eine andere Möglichkeit, den fehlenden Uterus zu ersetzen, ist die Transplantation, wo­rüber noch zu sprechen sein wird. Pränataldiagnostik, Geburtshilfe und Perinatalmedizin In den Siebziger- und Achtzigerjahren wird die Ultraschalldiagnostik zur unverzichtbaren Standardmethode für die Beurteilung des ungeborenen Kindes. Zunächst mit verschwommenen, für den Laien kaum zu differenzierenden Bildern, werden über die Ultraschalldiagnostik später Nabelschnurpunktionen zur Diagnostik und für intrauterine medikamentöse Behandlungen vorgenommen, und mit den modernen 3D-Projektionen lassen sich heute die Gesichtszüge des Fötus darstellen. Haben noch die Mütter und Großmütter die Hebamme unmittelbar nach der Geburt nach dem Geschlecht des Kindes gefragt, gibt es heute kaum noch werdende Eltern, die das nicht vorher im Ergebnis der pränatalen Ultraschalluntersuchung wissen. Verschiedene Erkrankungen können vorgeburtlich erkannt, einige im Uterus behandelt oder die entsprechenden Vorbereitungen für eine postnatal notwendige Therapie getroffen werden (z. B. bei Herzfehlern, offenem Rücken, Lippen-KieferGaumenspalte u. a.). Ultraschall-gesteuerte Fruchtwasserpunktionen (Amniocentese) zur pränatalen Chromosomenanalyse bei Verdacht auf Down-Syndrom (Trisomie 21) oder andere chromosomale Aberrationen gehören seit 30 Jahren zur Pränataldiagnostik. In den letzten zehn Jahren wurden Tests entwickelt, die eine fetale Chromosomendiagnostik aus dem Blut der werdenden Mutter ermög­ lichen. Damit kann das mit einer Fruchtwasserpunktion verbundene (geringe) Risiko einer Fehlgeburtsauslösung umgangen werden. Hier stellt sich die Frage, ob es bald zum Standard gehört, eine solche Diagnostik bei jeder Frau durchzuführen, und ob überhaupt nach jeglicher Abweichung beim ungeborenen Kind gesucht werden soll. Gemeint sind hier nicht schwerwiegende, mit dem Leben des Kindes nicht vereinbare Malformationen wie z. B. ein fehlendes Gehirn (Anencephalus) oder ein fehlendes Herz (Acardius) – auch nicht Situationen, die für die Mutter eine Gefahr darstellen. Aber wie verhalten wir uns beim Down-Syndrom, der häufigsten pränatal diagnostizierten



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chromosomalen Abweichung? Die überwiegende Zahl der Frauen bzw. Paare, die mit einer Trisomie 21 des Fötus konfrontiert sind, entscheiden sich für den Abbruch der Schwangerschaft. Der Konflikt für die betroffenen Familien ist oft erdrückend. Wird dem Sorgenkind bewusst das Leben geschenkt, warten Schwierigkeiten, für die es häufig zu wenig Hilfe gibt. Aber diese Familien berichten oft über das große Glück, das ihnen widerfahren ist, so dass die Geburt eines behinderten Kindes nicht ausschließlich Bürde oder Betrug am Lebensentwurf bedeuten muss. Im alten Sparta galt der Überlieferung nach, was immer daran historisch zutreffend sein mag, ein Ausleseprinzip, indem ein Ältestenrat darüber befand, ob ein neugeborenes Kind für das Leben oder – bei Behinderung – den Tod bestimmt war. Wenn nun mit Abscheu auf die Spartiaten oder die abgründige Diskussion um „lebensunwertes Leben“ seit den 1920er Jahren geblickt wird, darf sich die notwendige aktuelle Debatte dazu nicht an kompensatorischen Einladungen von Darstellern mit Down-Syndrom in Fernsehsendungen erschöpfen. In den Sechziger- und Siebzigerjahren entwickelte sich eine moderne Geburts- und Perinatalmedizin, die das Kind auf bisher nicht geübte Weise in den Blick rückt: alle Bemühungen sind auf die Verringerung der Säuglingssterblichkeit und Frühgeburtlichkeit gerichtet. Die verfeinerte vorgeburtliche Ultraschalldiagnostik, die pränatale Therapie und die Etablierung der Perinatalmedizin, in der sich die pädiatrische Neonatologie und die Geburtshilfe die Hand geben, haben es ermöglicht, dass extrem unreife aber auch anderweitig schwer erkrankte Kinder geboren, am Leben erhalten und erfolgreich behandelt werden können. Darüber hinaus beschäftigen sich seit 25 Jahren Spezialisten in weltweit nur wenigen Zentren mit Operationen am ungeborenen Kind (Fetalchirurgie), die allerdings noch nicht in die klinische Routine überführt werden konnten. Die Umstände unter denen Kinder geboren werden, sind zu allen Zeiten und in allen Kulturen auch ein Spiegel der jeweiligen Gesellschaft gewesen, wobei in den vergangenen 50 Jahren die Koexistenz von durchaus entgegengesetzten Sichtweisen zu beobachten war: Auf der einen Seite gab es viel – auch überflüssige – Medizin im Kreißsaal, die sich seit der vorletzten Jahrhundertwende wissenschaftlich intensiv um Schwangerschaft und Geburt bemüht hatte, auf der anderen das Bestreben, medizinische Maßnahmen bei der Geburt möglichst wenig in Anspruch zu nehmen, wofür das Stichwort von der „natürlichen Geburt“ steht, das gleichwohl bereits in den 1920er Jahren ausgegeben wurde. In den Siebziger- und Achtzigerjahren wird die terminierte Geburt Mode; man bestimmte dabei den Zeitpunkt der Geburtseinleitung, wobei nicht immer medizinische Erwägungen eine Rolle spielten. Zur Linderung der Schmerzen unter der Geburt wird in derselben Zeit die Periduralanästhesie –

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eine rückenmarknahe Regionalbetäubung – im Kreißsaal eingeführt, die bald von der Mehrheit der Frauen gewünscht wird. Fast jede Frau bekommt damals zur Vorbeugung von Dammrissen einen Dammschnitt (Episiotomie). Man hat das zu Recht als „zu viel Medizin“ für einen eigentlich natürlichen Vorgang angesehen, und so hält als Gegenbewegung die „sanfte Geburt“ Einzug. Das Stillen wird „wiederentdeckt“, alles, was „natürlich“ ist, wird hochgehalten. In den späten Achtziger- und Neunzigerjahren kommen dann Kinder unter Wasser zur Welt (das ist bei uns Menschen alles andere als natürlich); jede Frauenklinik muss sich, um mithalten zu können, eine teure Gebärwanne – groß wie ein Whirlpool – kaufen, aber schon 15 Jahre später ist dieser Trend vorbei. Akupunktur und homöopathische Mittel haben Konjunktur. Es gibt wieder Hausgeburten, von Hebammen geführte Geburtshäuser und hebammengeleitete (d. h. arztfreie) Kreißsäle in den Kliniken. Dazu gesellt sich der Wunschkaiserschnitt, für den so manche Klinik auch wirbt. Wunschkaiserschnitt zum Wunschtermin als Inbegriff der nichtnatürlichen Geburt und ansonsten Inanspruchnahme „natürlicher“ Abläufe schließen sich dabei nicht aus. In einer Zeit, in der in Deutschland im historischen Vergleich weniger Kinder geboren werden (Berlin ist eine Ausnahme), muss man sich dem Wettbewerb stellen, der durch die Ökonomisierung des Gesundheits­ wesens ohnehin befeuert wird. Die Frauen suchen sich die passende Geburtsklinik gemeinsam mit dem Partner aus, Ärzte und Hebammen stellen ihre „Angebote“ vor; nicht selten werden mehrere Kliniken begangen. Operative Frauenheilkunde – gynäkologische Chirurgie Spezifisch für gynäkologische Operationen ist der vaginale Zugang. Das Eröffnen des Leibes durch einen Bauchschnitt (Laparotomie), wie sonst in der operativen Medizin die Regel, war in der chirurgischen Pionierzeit mit Komplikationen, nicht zuletzt Infektionen wie der gefürchteten und im Zeitalter vor den Antibiotika oft tödlich endenden Bauchfellentzündung (Peritonitis) behaftet. Das vaginale Herangehen verband nun den Vorteil der Nähe zum inneren Genitale der Frau mit einer geringeren Infektionsrate. Von Nachteil war jedoch die gerade für größere Tumoreingriffe schlechtere Übersicht, letztlich rangen Generationen von gynäkologischen Operateuren um die Deutungshoheit im Streit, ob nun das vaginale oder das offen-chirurgische Operieren bei bestimmten Erkrankungen überlegen sei. Die Entwicklung der „Schlüssellochchirurgie“ (Laparoskopie) seit dem Ende der 1960er Jahre beendete diese Debatte, da heute operative Eingriffe in der Gynäkologie bei mehr als 90 Prozent der gutartigen aber auch einer Reihe von bösartigen Erkrankungen über diesen minimal-invasiven Zugang erfolgen. Erste Versuche, ein Endoskop in die Bauchhöhle einzuführen, gehen auf das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Die neue



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Technik hat – von der Gynäkologie ausgehend – in den Siebziger- und Achtzigerjahren die gesamte operative Medizin revolutioniert, nicht zuletzt auch die Allgemeinchirurgie (welche Gallenblase wird heute noch durch Bauchschnitt entfernt?), wenngleich deren Vertreter in Deutschland die Laparoskopie zunächst vehement bekämpften. Heute können auch komplexe, schwierige Eingriffe laparoskopisch vorgenommen werden. Eine Weiterentwicklung der letzten Jahre ist der Einsatz der Roboter-assistierten Chirurgie, wobei der Zugang in den Körper wie bei der Laparoskopie über schlanke Instrumentenhülsen erfolgt, der Operateur aber an der Computerkonsole sitzt. Roboterassistierte Techniken im Zusammengehen mit künstlicher Intelligenz werden in den nächsten Jahren bisher nicht absehbare Möglichkeiten in der operativen Medizin eröffnen. Wird ein Mädchen ohne Gebärmutter geboren, oder musste bei einer jungen Frau die Gebärmutter entfernt werden, ist die biologische Voraussetzung für eine Schwangerschaft nicht bzw. nicht mehr gegeben. Bemühungen, das fehlende Organ durch ein Transplantat zu ersetzen, gehen bis in die 1930er Jahre zurück. Die ersten erfolgreichen Uterustransplantationen wurden 2011 in der Türkei und 2012 im schwedischen Göteborg durchgeführt, wo es 2014 auch gelang, das erste Kind nach Uterustransplantation durch Kaiserschnitt zur Welt zu bringen – ein Meilenstein in der operativen Gynäkologie und Reproduktionsmedizin. Was sich bei Nieren, Leber, Herz und Lunge zu standardisierten und reproduzierbaren Verfahren entwickelt hatte, erwies sich als ungewöhnlich schwierig beim Uterus. Inzwischen sind auf diese Weise weltweit etwa 20 Kinder geboren worden. Schon ist das Ansinnen vernehmbar, Uterustransplantationen bei Trans-Frauen sowie hetero- und homosexuellen Männern durchzuführen. Gynäkologische Onkologie Die Zahl der verschiedenen Tumoren des Genitale und der weiblichen Brust übersteigt jene aller anderen bösartigen Erkrankungen bei Frauen zusammen, was die Bedeutung des Fachgebietes Gynäkologie noch einmal illustriert. Die mit Abstand häufigste Tumorerkrankung bei Frauen ist der Brustkrebs (Mammakarzinom). Wurde vor 50 Jahren beim Brustkrebs eine radikale Operation mit Entfernung der erkrankten Brust und der darunter liegenden Brustmuskulatur sowie der Lymphknoten der Achselhöhle durchgeführt, kann heute bei 80 Prozent der Betroffenen die Brust erhalten werden. Fast immer wird der Lymphknotenstatus durch Entfernung des sog. Wächterlymphknotens erfasst. Die damit verbundene Reduktion der Radikalität bei gleichzeitig erhöhter Lebensqualität – ohne Einbuße an Heilungsund Lebenserwartung – ist ein großer Gewinn für die Patientinnen.

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Seit den Siebzigerjahren wird die Entstehung des Gebärmutterhalskrebses mit einer Virusinfektion (Humanes Papillomvirus, HPV) in Zusammenhang gebracht. Bei etwa 70 Prozent aller Gebärmutterhalskrebse werden die beiden HPV-Typen 16 und 18 gefunden. Die Aufdeckung dieser Assoziation führte zur Entwicklung einer Impfung gegen einige wichtige HPV-Typen, die in Deutschland seit 2007 zugelassen ist. Maßgeblicher Ideengeber bei diesen Forschungen war der Virologe Harald zur Hausen am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, der 2008 den Nobelpreis erhielt. Mit einer konsequenten Impfung der Mädchen und Jungen ab einem Alter von neun Jahren und der Integration der Papillomvirusbestimmung in die Krebsfrüh­ erkennung bei Frauen hofft man, den Gebärmutterhalskrebs in den nächsten 20 Jahren eliminieren zu können. Australien, wo das HPV-Impfkonzept seit vielen Jahren besonders vorbildlich umgesetzt wird, gilt für diese Vision als Modell. Das Problemkarzinom in der Gynäkologie ist der Eierstockkrebs (Ovarialkarzinom). Die Prognose ist, von Ausnahmen abgesehen, trotz vieler Bemühungen in der Forschung meistens schlecht, auch wenn die moderne Kombination aus Operation und anschließender Chemotherapie die Ergebnisse hat verbessern können. Eine radikale, viele Stunden dauernde Operation hat das Ziel, die Tumorabsiedlungen, die sich oft vom Becken bis zum Zwerchfell ausdehnen und häufig auch verschiedene Darmabschnitte befallen, möglichst komplett zu entfernen. Mit dieser Operation steht und fällt die Prognose. Als aktuelle Entwicklung stehen Medikamente zur Verfügung, die verhindern sollen, dass Karzinomzellen den vorher durch Zytostatika induzierten Schaden an ihrer DNA reparieren können. Das molekulare Zeitalter hat auch in der Frauenheilkunde begonnen: In den letzten Jahren sind eine Reihe von Genmutationen identifiziert worden, die das Risiko, an einem Eierstock- oder Brustkrebs zu erkranken, für die betroffene Frau dramatisch erhöhen; die bekanntesten unter diesen Genen sind BRCA1 und –2 (breast cancer gene). Die Mutation wird von Generation zu Generation weitergegeben, oft sind viele Mitglieder einer Familie erkrankt (beim Brustkrebs auch die Männer; man spricht von familiärem Brust- und Eierstockkrebs). Nicht erkrankten Mutationsträgerinnen werden eine besonders intensive Früherkennung und prophylaktische, risikoreduzierende Operationen angeboten, bei denen die Brustdrüsen oder die Eierstöcke – oder beides – entfernt werden, bevor die Betreffende erkrankt ist. Die Zukunft der Onkologie wird von molekularen, genetischen Erkenntnissen geprägt sein. Die Analyse der genetischen Grundlagen einer Kreb­s­ erkrankung ermöglicht eine individuelle, maßgeschneiderte Therapie – nur für diesen Patienten und seine Erkrankung – mit einem für die konkrete Situation entwickelten personalisierten Medikament.



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Gendermedizin In den Neunzigerjahren standen zunächst die Unterschiede im Erscheinungsbild wichtiger Krankheiten zwischen Mann und Frau, so bei HerzKreislauf- und Krebserkrankungen, im Mittelpunkt einer wissenschaftlich begründeten geschlechtsspezifischen Medizin (heute: Gendermedizin). Eine schlechtere, d. h. vor allem verzögerte Versorgung von Frauen mit Verdacht auf Herzinfarkt, der sich bei ihnen anders darstellen kann, erschien zu Recht als nicht hinnehmbar. In der modernen onkologischen Forschung rücken auf dem X-Chromosom liegende „Tumorunterdrücker“ (Tumorsuppressorgene) in den Fokus: Während Frauen hier auf ihr zweites X-Chromosom zurückgreifen können, ist das bei Männern mit eben nur einer entsprechenden Genkopie nicht möglich, und die Tumorentstehung in diesem Falle möglicherweise leichter. Daneben sind Unterschiede im Arzneimittelstoffwechsel (Aufnahme, Abbaudynamik) zwischen Männern und Frauen mit Implikationen für die zu wählende Dosis zu beachten. Eine so verstandene geschlechtsspezifische Medizin kommt allen zugute und verhindert die potentielle medizinische Benachteiligung von Frauen und Männern gleichermaßen. Die Fachgebiete Gynäkologie/Geburtshilfe und Urologie erfüllen seit ihrer Eta­ blierung als eigenständige Disziplinen wesentliche Kriterien dessen, was als „Gendermedizin“ in die Sprache eingegangen ist. Später drängte sich der Aspekt der geschlechtlichen Zuweisung im gegebenen sozialen Umfeld in den Vordergrund. Ausgehend von der Theorie, nach der sexuelle Identität im Prinzip durch Handlungen und soziales Rollenverhalten erzeugt und aufrechterhalten wird und nicht a priori feststeht, wurde nur noch die Selbstzuschreibung wichtig bis zur Auflösung der damit im Zusammenhang stehenden Begriffe und Definitionen (sog. „Queer-Theorie“). Als Konsequenz erscheint nicht nur das soziale Geschlecht als menschengemachte Konstruktion, auch das biologische Geschlecht – der uns gegebene Körper – sei letztlich eine Interpretation durch das gesellschaftliche Milieu und die herrschende Kultur. Einige Grundzüge dieser Anschauung finden sich bereits bei Magnus Hirschfeld vor über 100 Jahren; politische und ideologische Aufladung, auch Mode, sind dabei jedoch unübersehbar, und einzig ein wissenschaftlicher Diskurs unter der Voraussetzung, dass die jeweils andere Seite möglicherweise die besseren Argumente für sich hat, erscheint angemessen. In Deutschland sind derzeit etwa 60–70 Prozent der Medizinstudenten Frauen. Bei den unter 40-jährigen Ärzten im Fachbereich Gynäkologie und Geburtshilfe finden sich zu 80 Prozent Frauen, und dieser Prozentsatz nimmt zu, je jünger die betrachtete Altersgruppe ist. Zwar blickt die Gesellschaft misstrauisch bis ablehnend auf das traditionelle Konzept „frauen-“ bzw. „männerspezifischer“ Berufe, aber sie ist gerade dabei, einen neuen „Frauenberuf“

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zu schaffen. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird es in wenigen Jahren in Deutschland praktisch keine Männer mehr in der Frauenheilkunde geben. Schlussbetrachtung Personalisierte Medizin, Therapie auf der Grundlage der molekularen und genetischen Entschlüsselung von Krankheiten, Robotertechnik und künstliche Intelligenz in allen nur denkbaren Vernetzungen sind aktuelle medizinische Forschungsschwerpunkte und lassen die Zukunft ahnen. Das Potential der reproduktionsbiologischen, embryologischen und pränatalen Forschung verlangt – idealerweise in einem breiten, internationalen Rahmen – eine ethische und rechtliche Einordnung. Niemand weiß, ob es die schon warnend antizipierte Entwicklung zum „Designerbaby“ tatsächlich geben wird. Im Märchen „Von dem Fischer un syner Fru“ lautet der letzte Wunsch der Frau: „… Ik will warden as de lewe Gott“. Von Vorahnungen beschlichen geht der Mann zum Butt und tut wie ihm geheißen, um die Antwort zu erhalten: „Ga man hen, se sitt all weder in’n Pißputt“. Kritische Gedanken und Innehalten werden von einigen Akteuren der Reproduktionsbiologie und Pränataldiagnostik gern für „fortschrittsfeindlich“ gehalten. Fortschritt, also: Fortschreiten, ist jedoch zunächst einmal nur das Weitergehen in eine Richtung – in der Medizin wird der Terminus nicht zuletzt in eben dieser Bedeutung benutzt, wenn z. B. vom Fortschreiten einer Erkrankung die Rede ist. Gleichwohl ist der Begriff seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts im soziologischen und politischen Zusammenhang überwiegend positiv konnotiert und nimmt gelegentlich fetischähnliche Züge an. Die Frage, ob wir alles dürfen, was wir technisch vermögen, ist alt. Weniger alt ist die Vorstellung, die Menschheit habe sich in den letzten Generationen auf ein Wissens- und damit Mündigkeitsniveau emporgearbeitet, das neue Maßstäbe erlaube. Zum Menschsein gehört, Grenzen zu verschieben und zu überschreiten; diese Motivation – das Faustische – ist wohl tief in uns verankert. Gleichwohl ist auch Maß geboten. Ohne Maß sind Anmaßung und Maßlosigkeit nicht weit. „Es ist eine alte wissenschaftliche Form, Naturwissenschaft und Sittenlehre einander zu coordiniren und also entgegenzustellen; sie ist so alt als die Eintheilung aller Wissenschaft […] So behandelte Platon beide Wissenschaften auf gleiche Weise, denn sie waren ihm beide Constructionen aus der verschieden gewendeten Idee des Guten; Aristoteles aber behandelte sie ungleich, in so fern wenigstens, als er aus der Naturwissenschaft die Idee des Guten verbannte, in seiner Ethik aber diese noch ihre Stelle fand als Maaß, um unter dem in der menschlichen Seele und den menschlichen Lebensthätigkeiten vorkommenden und auf sie bezogenen das Bessere als Ziel und Gegenstand des Bestrebens von dem Schlechteren zu unterscheiden.“ (Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher: Über den Unterschied von Naturgesetz und Sittengesetz, 1825).

Die Kardiologie im Laufe der letzten 50 Jahre: Metamorphose eines vormals konservativen Faches Von Karl Stangl Globale Bedeutung kardiovaskulärer Erkrankungen Um den rapiden Wandel der medizinischen Entwicklung im Verständnis von Erkrankungen und Verfügbarkeit neuer Untersuchungs- und Therapiemöglichkeiten darzustellen, eignet sich die Fachdisziplin der Kardiologie in besonderem Maße. Herzkreislauferkrankungen machen 30  % der Gesamtsterblichkeit aus, weltweit waren 2017 17,8 Millionen Todesfälle kardiovaskulär bedingt. Die Erkrankung der Herzkranzgefäße ist mit rund 46 % bei Männern und 38 % bei Frauen die Haupttodesursache (1,2). Die Todesfallstatistiken bilden die Bedeutung von Erkrankungen, die Krankheitslast oder das global burden of diseases, nur unzureichend ab. Aus diesem Grunde werden sogenannte DALYs (disability-adjusted life years) genutzt, die neben Sterberaten auch verlorene Lebensjahre und Lebenszeit mit Behinderungen einrechnen. In 2017 zeichneten Herzkreislauferkrankungen für 330 Millionen verlorene Lebensjahre durch vorzeitiges Versterben und für 35,6 Millionen Jahre mit Krankheit/Behinderung verantwortlich (1,2,3). Sozioökonomische Faktoren gehen wesentlich in Verlaufsform und Prognose von Herzerkrankungen ein: in low and middle income – Ländern sind nur 10 % der DALYs durch Herzkreislauferkrankungen bedingt; in high income – Ländern ist ihr Anteil dagegen fast doppelt so hoch (18 %) (1). Ursachen dafür sind zum einen der ungesunde Lebensstil mit konsekutiv vermehrten kardiovaskulären Risikofaktoren wie Adipositas (body mass index ≥ 30), Fettstoffwechselstörungen, Diabetes mellitus, Rauchen und Bluthochdruck („big five“) in high income – Ländern und die immer noch weit größere Bedeutung von Infektionskrankheiten und Kindersterblichkeit in low and middle income – Ländern. Die Kosten von Herzkreislauferkrankungen stellen für die Gesellschaft eine erhebliche finanzielle Belastung dar, in westlichen Industrienationen belegen sie seit vielen Jahren den Spitzenplatz im Ranking der Krankheitskosten. Schätzungen zufolge verursachten sie 2015 allein in Deutschland 46,4 Milliarden €, entsprechend 13,7 % der Gesamtkosten (4).

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Der dadurch mitfinanzierte medizinische Fortschritt ist allerdings auch enorm. Im Vergleich zur Zeit vor 50 Jahren verfügen wir heute nicht nur über verbesserte Strategien in der Vorbeugung von Herzerkrankungen (Prävention), sondern auch über ein eindrucksvolles Portfolio medikamentöser und interventioneller Therapieverfahren, mit der Folge, dass sich die Prognose vieler Herzerkrankungen signifikant verbessert hat. Betrug die Sterblichkeit in den USA im Jahre 1970 noch 440 Todesfälle/100.000 Einwohner/ Jahr, so ist sie, 45 Jahre später, auf ein Drittel (171/100.000) gesunken (5). Gegenläufig zu dieser positiven Entwicklung in westlichen Industrienationen haben weltweit seit 1990 die durch Herzkreislauferkrankungen bedingten Todesfälle um 35 % zugenommen, bis 2030 wird eine weitere Steigerung auf 23,6 Millionen Todesfälle/Jahr prognostiziert (3). Ursache hierfür ist die Zunahme kardiovaskulärer Erkrankungen in Schwellen- und Entwicklungsländern, die dadurch erklärt wird, dass dort sozioökonomische Transitionsvorgänge zur Abkehr von traditionellen Lebens-, Ernährungs- und Arbeitsformen geführt haben. Obwohl Herzkreislauferkrankungen multifaktoriell bedingt sind, lassen sie sich zu 80 % aus lediglich 3 Faktoren erklären, nämlich ungesunde Ernährung, körperliche Inaktivität und Adipositas (1,3,6). Aus medizinischer Sicht erweisen sich für Schwellen- und Entwicklungs­ länder die vermeintlichen Segnungen eines westlichen, mit erhöhtem Risiko für Herzkreislauferkrankungen behafteten Lebensstil spätestens dann als „Danaer­geschenk“, wenn es nicht im gleichen Maße gelingt, diesen Gesellschaften Teilhabe am Fortschritt der modernen Medizin zu ermöglichen. Aus diesem Abschnitt ist folgende Metamorphose abzuleiten: Herzkreislauferkrankungen haben aufgrund verbesserter Prävention und medizinischer Versorgung in der westlichen Welt abgenommen, sich aber zur führenden Todesursache in Schwellen – und Entwicklungsländern entwickelt. Entwicklung der Kardiologie zur eigenständigen Fachdisziplin Ich wurde anlässlich des Jubiläums unseres Clubs gebeten, Metamorphosen meines Fachs, der Herzmedizin, über die letzten 50 Jahre zu skizzieren. Die Veränderungen sind enorm, die Schwierigkeit liegt daher eher in der thematischen Begrenzung. Im folgenden möchte ich den Wandel an einigen Beispielen genauer beleuchten. Die frühen Jahre Die heutige hochtechnisierte Kardiologie hat nur noch wenig mit der konservativen, aus jetziger Sicht bisweilen kontemplativen Inneren Medizin der 70iger Jahre gemein, die Herzerkrankungen im Rahmen eines universalen



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fachlichen Anspruchs und Gesamtkonzeptes „mitbehandelte“. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre beginnt die Phase, in der sich die Fachrichtung zunehmend aus der allgemeinen Inneren Medizin löst und zur eigenständigen Disziplin wird. Folgerichtig wurden in Deutschland die ersten Lehrstühle für Kardiologie eingerichtet, wie an der TU München für meinen verehrten klinischen Lehrer, Prof. Hans Blömer, einen frühen Pionier des Fachs. Meilensteinentwicklungen Dies war möglich geworden, weil Meilensteinentwicklungen in Diagnostik und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen in diese Jahre fallen. Dazu zählt zweifelsfrei die von F. Mason Sones 1958 inaugurierte Koronarangiografie mit chirurgischer Freilegung der Arterie in der Armbeuge als neuer Zugangsweg zum arteriellen Gefäßsystem (7). Melvin D. Judkins vereinfachte die Technik durch direkte Punktion der Arterie und erleichterte damit die weitere Verbreitung (8). 1961 war von Desmond G. Julian in London die erste Überwachungsstation für kardiale Notfälle, ein Vorläufer unserer heutigen coronary care units, eingerichtet worden (9). Die somit entstandene Möglichkeit der engmaschigen Überwachung und der externen Defibrillation (1962 von Bernard Lown (10) etabliert) bedeutete einen entscheidenden Durchbruch für kritisch kranke HerzpatientInnen. Ein weiterer therapeutischer Meilenstein war die von René Favaloro 1969 entwickelte Bypassoperation (11); durch sie war es jetzt möglich, bei verengten oder verschlossenen Herzkranzgefäßen die Blutversorgung des nachgeschalteten Herzmuskelgewebes zu verbessern (zu revaskularisieren). Auch der Beginn der Herzkathetertherapie datiert in diese Zeit – ihren Siegeszug wird diese aber erst ein Jahrzehnt später durch die Pioniertat von Andreas Grüntzig, Engstellen (Stenosen) der Herzkranzgefäße mittels Ballondilatation zu behandeln (12), antreten. 1966 gelang es William J. Rashkind und William W. Miller, bei angeborenen Herzfehlern die lebensrettende Aufweitung der Vorhofscheidewand (Septostomie) mittels Katheter durchzuführen (13). Bereits im darauffolgendem Jahr wurde erstmals eine offen gebliebene Verbindung zwischen Haupt- und Lungenschlagader, ein Ductus Botalli, durch den an der Charité wirkenden Katheterpionier Werner Porstmann katheterinterventionell verschlossen (14). Metamorphose der Herzinfarktbehandlung Obwohl noch heute gültige Therapieverfahren in dieser Zeit grundgelegt wurden, könnte die Versorgungsrealität bei kardiovaskulären Erkrankungen

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kaum unterschiedlicher sein. Im Kontext von „Metamorphosen in der Kardiologie“ ist die Versorgung des akuten Herzinfarktes ein gutes Beispiel. In den 1960er Jahren bestand die Herzinfarkttherapie aus einer 6-wöchigen strengen, zum Teil schlafmittelinduzierten Ruhigstellung der Patient­ Innen in abgedunkelten, abgelegenen Zimmern ohne Überwachung durch Geräte und Vermeidung einer „Störung“ durch das Personal. Die Kranken­ haussterblichkeit war hoch, 30 % der PatientInnen wurden im Verlauf ihres Aufenthaltes in ihren Zimmern tot aufgefunden. Aus einer Gegenwartsper­ spektive heraus diese Behandlung als fatalistischen therapeutischen Nihilismus zu bezeichnen, wäre zu kurz gesprungen, sie entsprach dem damaligen Stand des Wissens. Im eklatanten Gegensatz dazu erscheint die heutige Herzinfarktbehandlung im hohen Maße „aktivistisch“: Sie optimiert Logistik und Abläufe der ­Rettungskette in Prä- und Hospitalphase mit dem übergeordneten Ziel, die Zeitspanne zwischen Herzinfarktdiagnose und der Wiedereröffnung des ­verschlossenen Gefäßes mittels Ballonkatheter zu minimieren (time is heart muscle). Der starken Gefährdung der PatientInnen durch Rhythmusstörungen in der Infarktphase wird mit kontinuierlicher Überwachung der Vitalparameter, nötigenfalls mit Elektroschock (externer Defibrillation) und Reanimation begegnet. Bei kritischem Abfall der Herzleistung kann als Therapieeskalation die Implantation von Herzkreislaufunterstützungssystemen erfolgen. Für die interventionellen Maßnahmen ist parallel dazu eine komplexe medikamentöse Therapie mit Blutverdünnung und kreislaufunterstützenden Substanzen mandatorisch. Kurzum, die Infarkttherapie 2020 ist der „Schlaftherapie“ der 1960er Jahre diametral entgegengesetzt. Am Beispiel des Herzinfarktes lässt sich auch festmachen, wie das zunehmende Wissen um zell- und molekularbiologische Grundlagen der Erkrankung den Wandel der Therapie bewirkte. Heute wird die Atherosklerose nicht mehr als degenerativer Ablagerungsvorgang verstanden, sondern als aktiver, vom körpereigenen Immunsystem getragener Entzündungsprozess. Im Entzündungsgeschehen kommt es in der Gefäßwand zur Ausbildung von so­genannten Plaques; das sind Konglomerate aus Zellfragmenten, Fett- und Kalkablagerungen, aber auch aus aktiven Abwehrzellen und entzündungsfördenden Botenstoffen, die von einer bindegewebigen Schicht, der Plaquewand, eingescheidet sind. Herzinfarkte entstehen überwiegend durch Einriss dieser Plaquewand, in dessen Folge sich lokal ein Blutgerinnsel ausbildet, das meist zum Verschluss des betroffenen Herzkranzgefäßes führt (15). Die Herzmuskelzellen können die konsekutive Unterversorgung nicht lange tolerieren, der Zelltod tritt in nur 30 bis 60 min ein. Gelingt es, in diesem schmalen Zeitfenster den Blutfluss im Infarktgefäß wiederherzustellen, so besteht eine gute



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Chance, den irreversiblen Schaden des Herzens ganz zu verhindern oder – wenigstens – die Größe des sich ausbildenden Herzinfarktes zu minimieren. Die Herzinfarkttherapie 2020 trägt der Pathogenese nach heutigem Wissensstand Rechnung. Sie fokussiert auf die möglichst schnelle Wiederöffnung des verschlossenen Gefäßes, die am effektivsten durch mechanische Rekanalisation mittels Ballondilatation und Stentimplantation geschieht. Eine medikamentöse Therapie ist im Herzinfarkt unverzichtbar: wegen der überschießenden Gerinnungsaktivierung mit Thrombusbildung sowie des Fremdmaterials, das während der Kathetertherapie ins Blut eingebracht wird (u. a. Stents), ist eine strenge Blutverdünnung unverzichtbar. Ein weiteres wichtiges Therapieprinzip ist es, im akuten Infarkt den Sauerstoffverbrauch des Herzmuskels möglichst zu senken, z. B. durch Gabe von Betablockern. Bei akuter Herzschäche kommen Substanzen, die die der Pumpleistung anheben, wie Katecholamine, zum Einsatz; zur Unterstützung der Erholungsphase nach Infarkt werden herzmuskelschützende Substanzen wie ACE-Hemmer und Aldosteronantagonisten gegeben. Unser heutiges Therapiekonzept hat die Infarktprognose eindrücklich verbessert, im Vergleich zu den 1960er Jahren ist die Krankenhaussterblichkeit, z. B. in Berlin, um zwei Drittel auf ≤ 10 % gesunken (16). Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen im Wandel In den letzten Jahrzehnten hat sich das epidemiologische Verständnis von Herzkreislauferkrankungen grundlegend geändert. Wegweisend waren große prospektive Beobachtungsstudien, die bereits Ende der 1940 Jahre initiiert wurden, und die im Verlauf der nächsten Jahrzehnte grundlegende Erkenntnisse zur Inzidenz, zur globalen und regionalen Bedeutung, und zu Geschlechtsunterschieden liefern sollten. Insbesondere galt dies für die Identifizierung und Einordnung modifizierbarer Faktoren wie Rauchen, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes, zu deren Bedeutung als Risikofaktoren für Atherosklerose damals wenig bekannt war. Zwei Meilenstein-Studien sollen hier Erwähnung finden, eine ist die nach dem westlich von Boston gelegenen Ort ihrer Durchführung benannte Framingham Heart Study (17). Sie startete 1948 mit über 5000 Erwachsenen, die zu Beginn keine Herzerkrankungen aufwiesen. 1979 initiierte die WHO das Megaprojekt MONICA (Monitoring Trends and Determinants in Cardiovascular Disease) mit einer Kohorte von über 15 Millionen Frauen und Männern, die über 10 Jahre zu Inzidenz und Risikofaktoren von koronarer Herzerkrankung und Schlaganfall beobachtet wurden (18). Beide Studien lieferten in der Folgezeit entscheidende Informationen zur Bedeutung hoher Blutfette, von Rauchen und erhöhtem Blutdruck.

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Das Wissen um die unterschiedlichen Risikofaktoren wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert durch weitere Beobachtungssstudien mit großen Kohorten und langen Beobachtungszeiträumen untermauert. Studien zur Bedeutung des Rauchens rekrutierten mehr als 1 Million Personen, die z. T. 50 Jahre nachverfolgt wurden (British Doctors Study (19)). Die Beobachtungszeiträume erscheinen sehr lang gewählt, sind aber notwendig, weil zwischen dem Beginn der Exposition und einer möglichen Krankheitsmanifestation Jahrzehnte liegen können. Basierend auf der aktuellen Studienlage ergibt sich zum Thema Risikofaktoren heute folgender Zwischenstand: Rauchen erhöht das Risiko, an koronarer Herzerkrankung zu versterben, bis zu 4,5-fach. Die Rolle des Cholesterins, insbesondere der schädlichen LDL-Fraktion als Risikofaktor, ist unbestritten. Interventionsstudien zeigen, dass die Senkung des LDL-Cholesterins um 40 mg/dl zu einer 25 %igen Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse wie Herzinfarkt und Tod führt. Bluthochdruck ist ein weiterer wesentlicher Risikofaktor, eine Senkung des oberen (systolischen) Wertes um nur 5 mmHg bewirkt eine Risikoreduktion für Herzkreislaufereignisse um fast 20 %. Diabetes mellitus ist bei Frauen mit einem rund 3-fach, bei Männern mit einen 2-fach erhöhten Risiko assoziiert. Auch ungesunde Verhaltensweisen wie ausgeprägter Bewegungsmangel können mit einer bis zu 75 %igen Risiko­ erhöhung für kardiovaskuläre Ereignisse einhergehen. Oft damit assoziiert ist Übergewicht, das weltweit inzwischen endemische Ausmaße angenommen hat. Fettleibigkeit bedeutet nicht automatisch erhöhtes Risiko für Herzkreislauferkrankungen: es gibt sehr wohl den „fat but fit“ Phänotyp, jedoch besteht bei ausgeprägten Formen von Adipositas (body mass index ≥ 35) ein koronares Exzessrisiko (20–23). In den letzten zwei Jahrzehnten hat die genetische Grundlagenforschung mit ihren rasant gewachsenen Analysemöglichkeiten wie unterschiedlichen high throughput sequencing Techniken gezeigt, dass – jenseits „klassischer“ Risikofaktoren – die koronare Herzerkrankung einen starken hereditären Hintergrund hat. Es wurden mehrere hundert Gene identifiziert, die die An­fälligkeit für die Erkrankung sowie ihren Verlauf modifizieren können. In diesem Kontext haben es sich internationale Forschungskonsortien, wie „CARDIoGRAMplusC4D“, zur Aufgabe gemacht, durch genomweites Screening großer Patientenkohorten Genloci mit Assoziation zur koronaren Herzerkrankung zu identifizieren (24). Blicken wir 50 Jahre zurück, so existierte eine wissenschaftlich unterlegte Prävention lediglich in Ansätzen; ebenso fehlten die heute so wichtigen, breitenwirksamen medialen Aufklärungsprogramme. Präventionsbemühungen starteten – zeitlich gestaffelt – in den 1960er Jahren, zuerst gegen Rauchen, im nächsten Jahrzehnt gegen Bluthochdruck und in den 1980igern gegen



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hohe Blutfette (3, 20). Dabei muss berücksichtigt werden, dass „Programmstart“ nicht zeitgleiche breite öffentliche Akzeptanz und mediale Unterstützung bedeutete. Es fehlte das Problembewußtsein, manche erinnern sich an öffentlich-rechtliche Rauchsalons wie Werner Höfers verqualmte Frühschoppenrunde oder einen Joachim Fuchsberger im Pfeifennebel. Auch die Therapiemöglichkeiten waren noch eingeschränkt: Statine, die effektivsten Cholesterinsenker, wurden erst 1987 zugelassen; ACE Hemmer und AT1-Blocker, heute die Hochdruckmittel der ersten Wahl, fanden erst 1987 bzw.1994 Eingang in die Therapie. Auch in der kardiologischen Fachwelt bedurfte es gewisser Lernprozesse; so wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie erst 1993 der Bedeutung kardiovaskulärer Prävention durch Einrichtung einer entsprechenden Arbeitsgruppe Rechnung getragen. Heute hat sich eine eigene Subspezialisierung ausgebildet, die atherogene Risikofaktoren bewertet und eingrenzt, wissenschaftsbasiert therapeutische Zielbereiche definiert und PatientInnen in der Primär- und Sekundärprävention berät. Ära der Interventionellen Kardiologie Wann wird ein Verfahren bahnbrechend oder „revolutioniert“ eine Therapie? Dann, wenn es ein zumindest gleichwertiges Ergebnis zur bestehenden Therapie erzielt, dabei aber weniger eingreifend ist. Die Transcatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI) ist dafür ein gutes Beispiel. Das Verfahren erlaubt, bei Verengung der Aortenklappe in lokaler Betäubung der Leiste die neue Klappenprothese mittels Katheter zu implantieren. Bei vergleichbarem Ergebnis kommt das Verfahren ohne Vollnarkose, Eröffnung des Brustkorbs und Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine aus. Zur Entwicklung solcher katheterinterventioneller Meilensteine bedurfte es meist eines Καιρός, dieses günstigen Augenblicks, in denen medizinische Problemstellungen mit medizintechnischen Innovationen zusammenfielen und es einem visionären Protagonisten gelang, neue Applikationsmöglichkeiten zur Problemlösung umzusetzen. Als solche Pioniere stehen Andreas Grüntzig für die katheterinterventionelle Therapie der koronaren Herzerkrankung (12), Alain Cribier für die der Herzklappenerkrankungen (25) und Michel Mirowski (26) für die Defibrillatortherapie bei Herzrhythmusstörungen. Diesen Protagonisten war die ausgeprägte Fähigkeit zur thematischen Fokussierung und eine ungewöhnliche Beharrlichkeit gemein, unabdingbare Voraussetzungen, sich nicht durch Rückschläge in der Sache und Skepsis der Fachwelt beirren zu lassen. Im folgenden sei die Entwicklung der Interventionellen Kardiologie exempla-

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risch an der koronaren Herzerkrankung und den Herzklappenerkrankungen dargestellt. Koronare Herzerkrankung Anfang der 1970er Jahre gab es für die Mehrzahl der PatientInnen mit koronarer Herzerkrankung nur konservative Therapieoptionen, das medikamentöse Portfolio war dabei noch recht überschaubar, es beinhaltete Nitrate, bisweilen Aspirin und seit Mitte der 1960er Jahre Betablocker. Zu dieser Zeit existierten schon durchblutungsverbessernde (revaskularisierende) chirurgische Verfahren, sie kamen nicht zuletzt wegen der damals noch beschränkten herzchirurgischen Kapazitäten eher den jüngeren, geringer begleiterkrankten PatientInnen zugute. Der erste Ansatz war 1945 von Arthur Vineberg entwickelt worden (27). Er implantierte das freie Ende der linken Brustwandarterie ins Herzmuskelgewebe in der Hoffnung, dass sich Umgehungskreisläufe zu Endästen eines Herzkranzgefäßes ausbilden. Das erste direkt revaskularisierende Verfahren, die heutige Bypassoperation, wurde 1967 vom Argentinier René Favarolo an der Cleveland Clinic, Ohio, durchgeführt. Sie stellt mit körpereigenen Gefäßen eine Verbindung zwischen der Hauptschlagader (Aorta) oder der Brustwandarterie zu den Endstrecken der Herzkranzgefäße her und umgeht somit die Engstelle (Stenose). Die chirurgischen Techniken sollten für die nächsten 10 Jahre die einzige Möglichkeit der koronaren Revaskularisation bleiben. Was, wenn man Stenosen der Herzkranzgefäße nicht mit Hilfe von Bypasses überbrückt, sondern mittels Katheter direkt beseitigt? Dieser bahnbrechende Ansatz wurde von Andreas Grüntzig umgesetzt, als er 1977 in Zürich erstmals am Menschen Koronarstenosen mittels Ballonkatheter aufdehnte (12). Dies war keine Schöpfung aus dem Nichts, Grüntzig nutzte die von Sven-Ivar Seldinger verbesserte arterielle Zugangstechnik (28), ließ sich vom Radiologen Charles Dotter und dessen Aufweitungstechnik (Bougierung) von Stenosen an Beinarterien (29) inspirieren und nutzte seit 1974 verfügbare Ballonkatheter, die zum Einsatz an Beinarterien konstruiert worden waren. Seine, ein wesentliches Kapitel der Medizingeschichte gestaltende Leistung bestand darin, Analogien von Problemstellungen und Lösungsansätzen erkannt und auf die Herzkranzgefäße übertragen zu haben. Als Grüntzig 1977 erste Ergebnisse zur erfolgreichen Ballondilatation von Koronarstenosen auf dem Kongress der American Heart Association vortrug, erntete er spontan stehenden Applaus – den Zuhörern war irgendwie klar geworden, dass sie unbeabsichtigt Zeugen eines (medizin)historischen Moments geworden waren.



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Mit der Ballondilatation von Koronarstenosen begann die eigentliche Ära der Interventionellen Kardiologie. Die Technik verbreitete sich in den 80er Jahren rasant, dabei spielte die kontinuierliche Verbesserung von Material und prozeduralen Details eine entscheidende Rolle. Ein wesentlicher Schritt war die Einführung eines vom Ballonkatheter unabhängigen Führungsdrahtes, der durch weitere Entwicklungsschritte dann später flexibel gehandhabt werden konnte. Namen wie John Simpson, Martin Kaltenbach und Tassilo Bonzel stehen für diese Innovationen (30). Bei aller Euphorie – etliche Probleme warteten noch auf ihre Lösung: allen voran der regelhaft zu beobachtende Einriss der Gefäßwand durch die Ballonaufdehnung mit der Gefahr des Gefäßverschlusses. Den entscheidenden Durchbruch brachte hier die Entwicklung von Gefäßstützen, sogenannten Stents, die auf den Dilatationsballon aufgebracht und durch Aufdehnen in die Gefäßwand eingepresst wurden. Dadurch liess sich die eingerissene Gefäßwand zuverlässig stabilisieren. Als Protagonisten der Stenttechnologie seien stellvertretend Ulrich Sigwart (31) und Julio Palmaz (32) genannt. Eine weitere bedeutende, später im Verlauf nach Aufdehnung und Stent­ implantation auftretende Komplikation war die Wiederverengung (Restenose) des Gefäßes. Die Restenose war mit 20 bis 50 % der Fälle häufig und bildete sich meist im ersten Jahr nach Dilatation aus. Sie ist Folge des Barotraumas, das durch den hohen Druck bei Dehnung der Gefäßwand entsteht. Dabei kommt es zu einer unkontrollierten Wachtumsreaktion glatter Gefäßmuskelzellen ins Gefäßlumen und konsekutiv zur Wiederverengung des Gefäßes. Die Problemlösung bestand darin, Stents und Ballons mit wachstumshemmenden Substanzen wie dem in der Tumortherapie verwendeten Paclitaxel oder, wie heute, mit Substanzen aus der Gruppe der mTOR Inhibitoren (z. B. Everolimus) zu beschichten. Die Substanzen werden im Zeitverlauf vom Stent freigesetzt und hemmen, lokal begrenzt, sehr effektiv das überschiessende Zellwachstum. Heute werden fast ausschliesslich solche medikamenten-beschichtete Stents (drug eluting stent) verwendet. Durch die Beschichtung sowie verbessertes Design der Stents liessen sich die Wiederverengungsraten auf deutlich unter 10 % senken. Auch die Diagnostik der koronaren Herzerkrankung hat sich in großen Schritten weiter entwickelt: heute können die Gefäßwand, Kalk- und Fettgehalt von Plaques, Stenosen, Gefäßwandeinrisse, Gerinnsel sowie die Passform von Stents in hervorragender Qualität durch intravaskuläre Bildgebung beurteilt werden. Die Techniken, Bilder direkt im Koronargefäß zu generieren, sind durch eine im Katheter integrierte miniaturisierte Sensorik möglich geworden. Die zwei wichtigsten Methoden sind die optische Kohärenztomographie (OCT, Auflösung 10 Mikrometer) und sowie der intravaskuläre Ultra­schall (IVUS, Auflösung 80 Mikrometer).

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Direkte Funktionstests zur Beurteilung der Wirkung von Engstellen auf die Flussdynamik des Blutes komplettieren das diagnostische Portfolio. Die wichtigste Methode ist die Fraktionelle Flussreserve (FFR); dabei wird mittels eines feinen Drahtes der Druck vor und nach einer Engstelle bestimmt. Die Druckdifferenz gibt die entscheidende Information, ob eine Engstelle dilatiert werden muss oder nicht. Bei aller Euphorie über die Tops der Kathetertherapie sollten die Flops nicht unerwähnt bleiben. Die Liste ist lang, prominente Beispiele sind die in der öffentlichen Meinung unerschütterlich positiv besetzten „Laser“-Methoden sowie die selbstauflösenden „bio“-resorbierbaren Stents. Beide Entwicklungen konnten im Koronarsystem nicht überzeugen. Die Metamorphose der revaskularisierenden Therapie der koronaren Herzerkrankung beginnt in 1980er Jahren: die herzchirurgischen Verfahren werden durch die sich damals entwickelnden Kathetermethoden ergänzt und zunehmend abgelöst; heute erfolgt die Therapie der koronaren Herzerkrankung zu 90 % mittels Kathetertechniken. Die Herzchirurgie hat durch diese Entwicklung nicht an Bedeutung verloren, es bestehen heute nur mehr Behandlungsoptionen, auch die Kombination beider Verfahren, sog. Hybrid­ eingriffe, sind möglich geworden. Herzklappenerkrankungen Die katheterinterventionelle Therapie von erkrankten Herzklappen hat im letzten Jahrzehnt eine fulminante Entwicklung genommen. Heute sind Kathetereingriffe an allen vier Herzklappen möglich. Ein besonderes erfolgreiches Beispiel ist die Therapie der verengten Aortenklappe, der Aortenstenose, mittels TAVI. Die Aortenstenose ist mit der häufigste erworbene Herzfehler, sie entsteht meist durch degenerativ-verkalkende Prozesse der Klappe im fortgeschrittenen Alter. TAVI Eingriffe haben den konventionellen chirurgischen Aortenklappen­ ersatz im Volumen bereits weit überholt, (2018: Anzahl TAVI: 19.752 vs Anzahl chirurgischer Aortenklappenersatz: 9011 (33), TAVI ist heute die Standardtherapie für Patienten mit mittleren und hohem operativen Risiko sowie bei einem Alter über 75 Jahre. Transkatheter-Aortenklappenimplantation, TAVI Bereits im Jahre 1912 sprengte der Chirurg Théodore Tuffier (34) am schlagenden Herzen eine verengte Aortenklappe, er konnte dadurch das Strömungshindernis beseitigen und den Blutfluss in die Hauptschlagader verbes-



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sern. Diese, mittels Finger oder einem Instrument durchgeführte chirurgische Sprengung (Valvuloplastie) wurde über Jahrzehnte praktiziert. Sie verlor ihre Bedeutung, als mit Beginn der 1960er Jahre durch Einsatz der Herz-LungenMaschine das Operieren am stillstehenden Herzen möglich wurde und stenosierte Aortenklappen durch Klappenprothesen ersetzt werden konnten. 1986 gelang es Alain Cribier, eine verengte Aortenklappe katheterinterventionell mit einem Ballon (Ballonvalvuloplastie) zu sprengen (35). Diese Pionierleistung war der Startschuss für die heutige kathetergestützte Therapie der Aortenstenose. In der Folge wurde die Ballonvalvuloplastie bei schwerkranken Patienten durchgeführt, bei denen ein operativer Klappenersatz zu risikoreich gewesen wäre. Das Verfahren zeigte gute Akutergebnisse, das zentrale Problem lag jedoch darin, dass es im Laufe von Monaten zur Wiederverengung der Klappe kam. Aus diesem Grund wurde die initial euphorisch aufgenommene Methode bald wieder verlassen. Cribier ließ sich dadurch nicht von diesem Konzept abbringen. In den 1990er Jahren entwickelte er Stents, an deren Streben biologische Herzklappen im gefalteten Zustand fixiert waren, sog. klappentragende Stents. Stent und Klappe wurden auf Ballonkatheter montiert, über ein Leistengefäß eingebracht, zur Aortenklappe vorgeführt und dort durch Aufweitung des Ballons entfaltet (ballonexpandierbare Klappe). Durch den aufgespannten (expandierten) Stent wurde zum einen die Wiederverengung der gesprengten Klappe verhindert, zum anderen fixierte das Stentgerüst die neue Bioprothese fest im Klappenring und dem angrenzenden Gewebe. 2002 führte Cribier in Rouen die erste Implantation einer solchen Katheterklappe im Menschen durch (25). Im weiteren Verlauf etablierte sich als technische Alternative die selbst­ expandierende Klappe. Diese kommt ohne Ballon aus, weitet sich selbstständig nach Freisetzung vom Katheter im Klappenring (expandiert) und passt sich den anatomischen Strukturen an. Dieser Klappentyp wurde 2005 erstmals von Eberhard Grube im Menschen implantiert (36); die Mehrzahl der heute verwendeten TAVI-Klappen basiert auf dieser Technologie. Die TAVI wurde zuerst bei Patienten mit hohen, später mit intermediärem und niedrigem Risiko durchgeführt. Aufgrund der im Vergleich zur Operation günstigen Ergebnisse (37–39) setzte sich die Methode seit den 2010er Jahren zuerst in Europa, später auch in den USA rasch durch. Die kontinuierliche Verbesserung von Material und prozeduralen Details führte dazu, dass die anfänglichen Probleme mit Undichtigkeit der Prothesen, Schrittmacherbedürftigkeit und Kathetergrößen inzwischen abgemildert oder behoben sind. Heute ist es möglich, mit einen nur 5 mm kleinen Schnitt in der Leiste den Katheter ins Gefäß einzuführen und die Klappe zu implantieren. Auch die oft vorgebrachten Bedenken, die Haltbarkeit von TAVI-Klappen sei gegenüber

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Karl Stangl

chirurgischen Modellen geringer, konnten durch Beobachtung großer TAVI Kohorten im Langzeitverlauf entkräftet werden. Mit einem Zeitversatz von 30 Jahren verläuft die Metamorphose der Therapie von Herzklappenerkrankungen ähnlich der bei koronarer Herzerkrankung: die ausschliesslich chirurgische Therapie wird in den 2010er Jahren durch katheterinterventionelle Verfahren ergänzt. Besonders bei schwerer erkrankten PatientInnen bieten sie neue Therapieoptionen, bei einzelnen Klappenfehlern wie der Aortenstenose dominiert bereits der katheterinterventionelle Klappenersatz. Résumé und Ausblick Mit Freude und Stolz habe ich in diesem Text Metamorphosen der Kardiologie im Laufe der letzten 50 Jahre skizziert. Entsprechend meiner persön­ lichen beruflichen Schwerpunktsetzung liegt das Hauptaugenmerk auf der faszinierenden Entwicklung der katheterinterventionellen Therapie. Neben diesen technischen Fortschritten hat sich natürlich die pharmakologische Therapie rasant entwickelt. Die heutigen Standardmedikamente wurden erst im Verlauf der letzten 50 Jahre eingeführt. Es liegen große Studien vor, die für Substanzen wie Betablocker, ACE-Hemmer, Plättchenhemmer und Statine gezeigt haben, dass sie bei koronarer Herzerkrankung und nach Herzinfarkt die Prognose verbessern, das heißt, das Leben verlängern. Dies gilt auch für die endemisch zunehmende Herzschwäche, bei der die medikamentöse Therapie einen unverrückbaren Stellenwert einnimmt. Wohin geht die Kardiologie in der Zukunft? In Richtung einer individualisierten, noch mehr auf die Voraussetzungen und Vorgaben der Herzpatient­ Innen maßgeschneiderten Betreuung. Dies wird nicht zuletzt dadurch möglich, daß sich in den letzten Jahrzehnten die molekulare kardiologische Grundlagenforschung etabliert hat. Immer ausgefeiltere biotechnologische Verfahren erlauben heute die umfassende Charakterisierung molekularer Muster in Genen, Proteinen und Metabolismus. Sie ermöglichen ein noch besseres Verständnis kardiovaskulärer Erkrankungen und erleichtern damit die Entwicklung innovativer Therapien. Daneben hat die Digitalisierung als Treiber des Fortschritts Einzug in die Kardiologie gehalten. Der verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Technologien, künstlicher Intelligenz und big data eröffnet Chancen für eine passgenauere Behandlung von PatientInnen. Diese personalisierte Medizin wird ganz im Fokus der Kardiologie von morgen stehen.

Metamorphose der Banken in 50 Jahren Von Peter Rohrer Vorwort 50 Jahre, d. h. von 1970 bis 2020, sind in der Entwicklung der Erde eine winzige Zeitspanne. In der Entwicklung der Situation der Banken ist diese Zeitspanne jedoch ausreichend für eine „revolutionäre“ Entwicklung. Hierzu beigetragen haben viele Faktoren. Es sollen nur einige Gründe für die Veränderung der Gesamtsituation genannt werden: •• Die immer schneller fortschreitende Technisierung •• Die Internationalisierung von Handel, Wirtschaft und Politik •• Die schnelleren und intensiveren Kommunikationsmöglichkeiten •• Die Entwicklung neuer Produkte •• Die Entwicklung vom „Berater“ zum „Verkäufer“. Um alle Faktoren beleuchten zu können bedarf es eines kompletten Buches und würde den Rahmen deutlich sprengen. Ich beschränke mich deshalb auf Bereiche, die auch die Freundinnen und Freunde unseres rotarischen Clubs Berlin-Kurfürstendamm direkt oder indirekt und in Berlin ganz oder teilweise mit erlebt haben. Die Banken in Berlin im Wandel der Zeit Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und auf Anordnung der Alliierten verlor Berlin seine Stellung als erster Bankplatz Deutschlands. 1970 waren die wesentlichen „Player“ auf dem Bankensektor in Berlin die Berliner Bank AG ( 1950 gegründet auf Initiative des Oberbürgermeisters Ernst Reuter), die Sparkasse der Stadt Berlin sowie die 1949 gegründeten Töchter der drei Großbanken, d. h. die Berliner Disconto Bank AG (Deutsche Bank AG), die Bank für Handel und Industrie AG (Dresdner Bank AG) sowie die Berliner Commerzbank AG (Commerzbank AG). Alle Banken hatten eigene Vorstände und Zentralen in Berlin und waren damit relativ selbständig. Berliner Bank (100 % Gesellschafter Land Berlin)

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Die Vereinigung Deutschlands konnte man zum Zeitpunkt der Ausgabe dieses Genußscheins der Berliner Commerzbank AG noch nicht ahnen. Links hat unser Freund Peter von Jena unterschrieben

und Sparkasse (Gewährsträgerhaftung Land Berlin) hatten enge Kontakte zur Berliner Politik. In den 70er Jahren wurden dann die Namen der Berliner Disconto Bank in Deutsche Bank Berlin AG und die der Bank für Handel und Industrie in Dresdner Bank Berlin AG verändert. Ziel war die Verbindung zur Muttergesellschaft zu betonen. Eine Zäsur erfolgte nach der Maueröffnung, in den Jahren 1991 und 1992. Alle 3 Töchter der Großbanken (Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank) wurden mit der jeweiligen Muttergesellschaft verschmolzen. Diese Verschmelzung und der damit verbundene Verlust von entscheidungsfähigen Vorständen in der Stadt brachten einen weiteren Bedeutungsverlust des Bankbereiches mit sich. Die Großbanken selbst hatten keinen ständigen Vorstandsitz in Berlin.



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Die beiden Berliner Sparkassen fanden nach 40 Jahren wieder zusammen und wurden als Berliner Sparkasse unter dem Dach der neu gegründeten Landesbank Berlin wiedervereinigt. Die Berliner Politik wollte aber das eine „Großbank“ wieder einen Sitz in Berlin hat und so erfolgte am 01.01.1994 der Zusammenschluss der Landesbank Berlin AG (incl. Berliner Sparkasse), der Berliner Bank AG und der Berliner Hypotheken- und Pfandbriefbank zur Bankgesellschaft Berlin. Dieser Zusammenschluss stand unter keinem guten Stern. In den Folgejahren wurden erhebliche Kreditrisiken bekannt, die außerordentliche Wertberichtigungen verlangten. Zusätzlich baute der Konzern ein sehr umfang- und risikoreiches Immobiliendienstleistungsgeschäft auf. 2001 war die Situation existenzgefährdend (der Berliner Bankenskandal). Mit einem harten Sanierungsprogramm wurde der Zusammenbruch verhindert und anschließend der Konzern wieder entflochten. Nach diversen Um- und Ausgründungen und Verkäufen ist heute folgende Situation vorhanden: Die Berliner Sparkasse (als Teil der Landesbank Berlin AG) ist wieder eine „reine“ Sparkasse und im Eigentum der deutschen Sparkassen. Die Berliner Bank AG wurde 2006 an die Deutsche Bank verkauft. Die Bank wurde in den ersten Jahren als „Tochter“ geführt, dann in das Filialnetz eingegliedert und hat in 2017 die Marke „Berliner Bank“ aufgegeben. Zum Schluss noch ein Blick auf die Situation der Volksbanken und Genossenschaftsbanken. Diese Bankengruppe war bis in die 70er Jahre für Berlin relativ unbedeutend. Vor allem unter der Leitung des charismatischen Vorstandvorsitzenden Ulrich C. Jahnke (ermordet 1984) entwickelte sich die Grundkreditbank eG zu einem festen Bestandteil der Berliner Bankenszene. Einen städtebaulichen Akzent setzte die Bank mit Ihrem 1983 fertig gestellten Neubau an der Budapester Straße. Zusammen mit der Raiffeisenbank-Köpenicker Bank eG und der Berliner Volksbank eG wurden in erheblichem Umfang Immobilienkredite vergeben. Mit Verschlechterung der Situation des Berliner Immobilienmarktes hatten diese Banken mit erheblichen Problemen zu kämpfen und es kam zur Fusion der Institute zur Berliner Volksbank eG, die heute alle Probleme überstanden hat und eine der größten Volksbank in Deutschland ist. Zusätzlich haben sich inzwischen eine Reihe weiterer Banken in Berlin angesiedelt. Die Aufzählung würde den Rahmen sprengen. Um die Jahrtausendwende fingen die ersten Banken an, Bankgeschäfte über das sich immer weiter entwickelnde Internet abzuwickeln. Heute haben

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Eine Bankfiliale 1971 und 2020

Institute wie ING, Comdirect oder DKB (ohne Filialnetz) deutschlandweit Kunden in zweistelliger Millionenhöhe. Bankgeschäfte werden von der Couch aus erledigt. Aktueller Trend ist die „Bank in der Hosentasche“, d. h. die Abwicklung erfolgt nur über das Smartphone. Das erfolgreichste Startup heißt N26. Die Entwicklung bleibt abzuwarten. Wandel im „Zusammenleben“ zwischen Bank und Kunde 1969 wurden der Eurocheque und die Eurocheque-Karte (EC-Karte) eingeführt. Damit war die Voraussetzung für die umwälzende Veränderung im Verkehr mit Bargeld geschaffen. Die EC-Karte war letztendlich die Voraussetzung für die Abschaffung des „Bankkassieres“, mit dem man auch mal einen kleinen „Schwatz“ halten konnte. Die klassische Bankkasse wurde durch „automatische Kassentresore“ (sog. AKT’s) und den Geldautomaten abgelöst. Aus den Geschäftsberichten der Berliner Commerzbank AG: – 1983 sind von 60 Filialen 18 mit AKT’s ausgerüstet. – 1987 stehen erst 22 Geldautomaten in Filialen. – 1988 beginnt die Ausrüstung mit Kontoauszugsdruckern. Heute sind Geldautomaten, Kontoauszugsdrucker und Bankterminals mit weiteren Funktonen flächendeckend vorhanden. Für die „restlichen“ Bartransaktionen gibt es in den Filialen AKT’s. Der Geldtresor in einer Hauptverwaltung ist überflüssig geworden. Geldtransporte, Bestückung von AKT’s und Geldautomaten erfolgt durch spezialisierte Transportunternehmen.



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Eine weitere grundlegende Veränderung brachte die 1984 eingeführte Möglichkeit, mit EC-Scheck und -karte im Einzelhandel einzukaufen. All diese Veränderungen brachten es zwangsläufig mit sich, dass das Filial­netz (nicht nur) in Berlin ausgedünnt wurde. Zwei Beispiele: Die Commerzbank hatte in den 80er Jahren allein in Berlin-West 60 Filialen. 2019 hat das mit der Dresdner Bank vereinigte Institut im gesamten Berlin nur noch 50 Filialen. Die Deutsche Bank hat 2007 in Berlin im Zusammenhang mit der Ein­ gliederung der Berliner Bank insgesamt 47 Filialen zusammengeführt oder ge­schlossen. Das Institut hat heute nur noch 25 Filialen in der Stadt. Aufgrund des vorhandenen Kostendrucks, der Konkurrenz zu Banken ohne Filialnetz und des veränderten Verhaltens der Kunden wird der Abbau des Filialnetzes weiter gehen. Die Aufgaben der Bankstellen ändern sich und werden sich weiter verändern. Die Technisierung wird den Ausbau von SB-Filialen (Einsparung von Personalkosten) sowie von Beratungscentern (erhöhte Kompetenz der Mitarbeiter in einzelnen Bereichen) forcieren. Vom „Bankbeamten“ über den „Berater“ zum „Verkäufer“ Bis Ende der 60er Jahre sprach man gern vom „Bankbeamten“. Es wurden die aufgetragenen Arbeiten erledigt. Den Privatkunden hatte man gerade erst entdeckt (flächendeckende Einführung der Lohn- und Gehaltskonten). Die Sparkassen lebten vom „Sparkonto“ des kleinen Mannes gut. Die Bankbranche wurde durch die erste „Verkaufsdrückerkolonne“ der Finanzwelt, den Investmentfonds IOS (spöttische Bezeichnung: Investment ohne Sicherheit) aufgerüttelt. Bis zu dessen Insolvenz Anfang der 70er Jahre entwickelte sich durch diese Initiative eine erste harte Konkurrenz für Banken. Als unmittelbare Folge wurden die Bankbeamten zu „Beratern“ geschult, Es wurden nunmehr Kunden aktiv angesprochen und auf alternative Anlagen hingewiesen. Mit der Zeit entwickelte sich jedoch bei allen Banken aus Ertragsgründen auch ein Verkaufsdruck der zu vielen Fehlentwicklungen führte. Mit zu dieser Entwicklung hat auch die verstärkte Kostensensibilität der Kunden beigetragen. Die durch die verbesserte Kommunikation (Internet) möglichen Preisvergleiche und der Konkurrenzdruck haben zu einer Verbilligung vieler Bankprodukte geführt. Durch die andauernde Politik der niedrigen Zinsen musste eine Gegenbewegung einsetzen und Preiserhöhungen sind zu beobachten.

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Zum Erhalt der Rentabilität hat der „Kostenfaktor Mensch“ eine Schlüsselposition. Viele einstmals liebgewordene (und kostenfreie) Serviceleistungen wurden gestrichen. Technik trat und tritt an die Stelle des Menschen. Als eine weitere Folge der Marktentwicklung erfolgte eine Kundensegmentierung mit folgender Auswirkung: 1. Der „Normalkunde“ wird größtmöglich durch Technik „bedient“, d. h. a) Kontoführung incl. Überweisungen möglichst online, b) Ratenkredite und Baufinanzierungen für Eigenheime innerhalb kürzester Zeit durch EDV-Prüfung (sog. Scoring-Verfahren) c) Wertpapierprodukte in der Beratung nur sog. Standardprodukte (das Angebot wird auch durch öffentliche Vorgaben bezüglich Beratung und Kenntnis der Kunden eingeschränkt) 2. Je „größer“ der Kunde ist (und damit ertragreicher) je individueller erfolgt die Beratung unter persönlichem Einsatz. Die Spezialisierung der Berater ist deutlich vorangeschritten. Für die Beratung sind normale Büros ohne Filialbetrieb ausreichend. Geringere Mietaufwendungen als für Filialen im Erdgeschoss sind zumeist die Folge. Spezialisten werden hinzugezogen. Auswirkungen auf die Arbeit des Schatzmeisters Die Arbeit des Schatzmeisters hat sich durch die Veränderungen deutlich erleichtert. Wurden Anfang der 70er Jahre die Beiträge durch die Freundinnen und Freunde überwiesen und der Eingang musste kontrolliert werden, so werden heute die Beträge von über 90 % aller Freundinnen und Freunde als SEPALastschrift eingezogen. Online-Banking lässt eine schnelle und arbeitszeitsparende Arbeit zu. Zahlungen werden ebenfalls zeitsparend online abgewickelt. Fazit: Für den Schatzmeister ist die gesamte Entwicklung in den letzten 50 Jahren mit erheblichen Vereinfachungen und Zeitersparnissen verbunden. Ausblick Wir werden uns weiterhin auf gravierende Veränderungen in der Beziehung „Kunde zu Bank“ einstellen müssen. Der stetige Fortschritt in der ITEntwicklung und des Internets fordert von Banken und Kunden eine erhöhte Bereitschaft zum Wandel.

1970 – Gründungsjahr des RC-Spandau und Geburtsjahr des westdeutschen Umweltrechts Von Michael Kloepfer 1.  Das Jahr 1970 ist nicht nur das Gründungsjahr unseres Clubs, sondern es ist auch das Geburtsjahr des modernen Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Veränderung, wie es vor allem in dem Regierungswechsel der Bundesregierung zur ersten sozialliberalen Bundesregierung (Brandt/Scheel) manifest wurde. Zwar gab es schon im 19. Jahrhundert (und sogar davor) auf deutschem Territorium insbesondere naturschutzrechtliche, wasserschutzrechtliche und immissionsschutzrechtliche Teilregelungen, diese wurden aber noch nicht als Teile eines umfassenden Rechtgebiets Umweltrecht verstanden. Heute kaum vorstellbar ist, dass es vor Ende 1969/Anfang 1970 den Begriff Umweltschutz im deutschen Sprachraum überhaupt noch nicht gab. Ab 1970 beginnt sich dann in hoher, fast unglaublicher Geschwindigkeit die Idee und der Begriff des Umweltschutzes sehr schnell durchzusetzen. Damit hängt auch die hohe Schnelligkeit des Aufbaus des modernen Umweltrechts in der Bundesrepublik Deutschland zusammen. 2. Die Umweltgesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland nach 1969 fand ihren Ausgang seit den 60er Jahren in den USA, wo 1963 insbesondere der Clean Air Act und der Motor Vehicle Pollution Contract Act auf ein gesteigertes öffentliches Umweltbewusstsein trafen. Für erhebliches Aufsehen hatte zuvor das populärwissenschaftliche Buch von R. Carson „The Silent Spring“ gesorgt. Die apokalyptische Vision einer Welt ohne Vögel, die der ubiquitären Verbreitung von Pflanzenschutzmitteln keinen Widerstand mehr leisten konnten, ließ ein politisches Klima entstehen, das sich für die entstehende Umweltschutzbewegung in den USA positiv auswirkte: Nach jahrelangen Diskussionen wurde 1972 das Inverkehrbringen von DDT – ursprünglich als chemische Allzweckwaffe gepriesen – verboten. Mit dem von Boulding 1966 geprägten Bild vom „Raumschiff Erde“ löste sich die eingeleitete Umweltschutzdiskussion von ihrem „medialen“ (an den einzelnen Umweltmedien ansetzenden) Ansatz und rückte die Notwendigkeit eines übergreifenden, schonenden Umgangs mit den begrenzten natürlichen Ressourcen in den Vordergrund. Einer breiten Öffentlichkeit wurde das zuvor

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nicht gekannte Ausmaß der Gefährdungslage durch den bekannten, aber nicht unumstrittenen Meadows-Bericht für den Club of Rome bewusst. Schon dessen Titel („Die Grenzen des Wachstums“) machte deutlich, in welchem Dimensionen Abhilfestrategien („Nullwachstum“) propagiert wurden. 3.  Waren in der Bundesrepublik Deutschland umweltrelevante Regelungen bisher in den klassischen Normwerken des Ordnungsrechts eher langsam „gewachsen“, so konnte in den 1970er Jahren ein wahrer legislativer Schub auf Bundesebene verzeichnet werden, der eine Fülle neuer umweltspezifischer Gesetze in Kraft treten ließ und dem Umweltrecht als eigenständigem Rechtsgebiet zum Durchbruch verhalf. An bereits bestehenden ausbaufähigen Rechtsgrundlagen des Bundesrechts konnte nur begrenzt angeknüpft werden. Neu gefasst wurden 1976 lediglich das Wasserhaushaltgesetz von 1957, ergänzt durch das Abwasserabgabengesetz (1976), sowie das Atomgesetz von 1959. Mit dem Fluglärmgesetz und dem Benzinbleigesetz (1971) sowie dem DDT-Gesetz (1972), dem Waschmittelgesetz und dem Gefahrgutbeförderungsgesetz (1975) reagierte der Gesetzgeber einerseits auf spezielle Gefahrenlagen eher punktuell, während andererseits umfassende Neuregelungen durch das Abfallbeseitigungsgesetz (1972), das Bundes-Immissionschutzgesetz (1974), das Bundeswaldgesetz (1975) und das Bundesnaturschutzgesetz (1976) vorgenommen wurden. Diesen waren teilweise einschlägige Landesregelungen vorausgegangen. Abgeschlossen war der normative „Rohbau“ des modernen, westdeutschen Umweltrechts im wesentlichen mit dem Chemikaliengesetz von 1980, dass sich von dem die Aufbauphase charakterisierenden medienbezogenen Ansatz löste und erstmals einen stoffbezogenen, d.  h. ursachenbezogenen und somit einen „medienübergreifenden“ Umweltschutz zu ermöglichen versuchte. An die schnell aufeinanderfolgende Umweltrechtsetzung des Bundes knüpfte bald die Rechtsprechung an, die wichtige Teile des jungen Umweltrechts konkretisierte und fortentwickelte. Auslegung, Konkretisierung und Systematisierung des Umweltrechts wurden auch zur zentralen Aufgabe der Umweltrechtswissenschaft, die sich in den 1970er Jahren erst zögernd, dann aber immer kraftvoller entfaltete. 4. Mit der Einsicht der nahezu schicksalhaften Bedeutung des Umweltschutzes für das Überleben der Menschheit hatte sich bereits in den 1970er Jahren die Frage gestellt, ob der Umweltschutz in der Verfassung Aufnahme finden sollte. Zwar enthielten einige Länderverfassungen (insbesondere Art. 141 Abs. 3 S. 1 Bay. Verf.) schon davor der Sache nach verfassungsrechtliche Aussagen zum (noch nicht so bezeichneten) Umweltschutz, bevor dieser seinen „Siegeszug“ antrat. Die Änderungen des Grundgesetzes beschränkten sich jedoch zunächst auf einschlägige, neue Kompetenzzuweisungen an den Bund (insbesondere Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG). Rechtspoliti-



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sche Forderungen nach einer stärkeren verfassungsrechtlichen Position des Umweltschutzes (insbesondere in Abwägungsvorgängen) stießen auf Ablehnung. Skeptisch wurden insbesondere Vorschläge beurteilt, ein Grundrecht auf Umweltschutz zu schaffen. Der Umweltschutz sei ein Gemeinschaftsgut, das nicht dem einzelnen Individuum zugewiesen sei. Mit einem entsprechenden, grundrechtlichen Anspruch des Bürgers auf Umweltschutz gegenüber dem Staat – so ist frühzeitig angemahnt worden – werde letztlich der Jurisdiktionsstaat heraufbeschworen, in dem nicht Parlament und Regierung, sondern die Gerichte gezwungen seien, umweltrechtliche Maßstäbe zu finden. Maßgeblich durch die Kalkar-Entscheidung des BVerfG beeinflusst, rückten dafür in der verfassungsrechtlichen Diskussion die grundrechtlichen Schutzpflichten immer stärker in den Vordergrund. Allerdings konnte eine über lediglich punktuelle justiziable Schutzpflichten hinausgehende umfassende Umweltpflicht des Staates nicht überzeugend dargelegt werden. 5.  Erst im Jahre 1994 kommt es zur Schaffung eines Staatsziels Umweltschutz im Grundgesetz (Art. 20a GG). Dies geschah übrigens über ein Vierteljahrhundert nach einer entsprechenden Änderung der zweiten Verfassung der DDR von 1968, wobei diese Verfassungsänderung jedoch keine messbare Verbesserung der schlechten Umweltsituation in Ostdeutschland bewirkte. Die DDR kannte eben keine wirksame rechtliche Bindung ihrer Organe an die Verfassung. Aber auch in Westdeutschland hat nach 1994 das neue Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz keinen entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung der bundesdeutschen Umweltpoltik gewonnen und hat nicht etwa zu einer umfassenden Konstitutionalisierung des Umweltrechts geführt. Aber immerhin wirkte hier das neue Staatsziel Umweltschutz in konkreten Einzelfällen auslegungslenkend und ermessenssteuernd. 6. Von erheblicher Bedeutung für das Entstehen des modernen Umweltrechts in der Bundesrepublik Deutschland war die Einrichtung des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen (1972), der durch die Vorlage seiner Gutachten nicht unwesentlich die Umweltgesetzgebung beeinflusst hat, sowie die Gründung des Umweltbundesamtes (1974) in Berlin (später Dessau), das insbesondere auch einen interdisziplinären Informationsaustausch ermög­ lichen sollte. Auch hier standen die USA mit ihrer Environmental Protection Agency (EPA) erkennbar Pate. 7. Die rasante Entwicklung des bundesdeutschen Umweltrechts in den 1970er Jahren wird – zu Recht – größtenteils auf das Umweltprogramm der Bundesregierung vom 21. September 1971 zurückgeführt. Dies enthielt – ausgehend von der ursprünglichen Prinzipientrias Verursacher-, Vorsorgeund Kooperationsprinzip (die später um das Integrationsprinzip ergänzt wurde) – eine umfassende (exekutive!) und bereichsdifferenzierte politische Planung einer erst noch zu entwickelnden Umweltgesetzgebung. Eine Viel-

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zahl der später gesetzlich umgesetzten Problemlösungen wurde bereits damals propagiert. Im Vordergrund stand die Formulierung umweltpolitischer Leitziele: Erstens sei dem Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges Dasein brauche. Zweitens müssten Boden, Wasser und Luft, Tierwelt und Pflanzenwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe geschützt und drittens Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen beseitigt werden. Diese Ziele ließen mit dem Umweltschutz ein neues Politikfeld entstehen, das bisher namenlos war und nicht als eigenständig betrachtet und bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht systematisch erfasst worden war. 8.  Angekündigt wurde eine programmatische Umweltpolitik bereits in der Regierungserklärung von Bundeskanzler W. Brandt vom 28. Oktober 1969, der am 6. Juli 1970 die Bildung eines Kabinettsausschusses für Umwelt­ fragen und schließlich am 17. September 1970 ein von der Bundesregierung beschlossenes Sofortprogramm folgte. Neben seiner Bedeutung als nachträgliche Zusammenfassung bereits laufender Gesetzesvorhaben diente das Sofortprogramm auch der formell-organisatorischen Verteilung exekutiver Zuständigkeiten für die Vorbereitung des Umweltprogramms. Kompetentielle Konflikte im Umweltschutz innerhalb der Bundesregierung konnten dabei trotz der klaren Präferenz für das Bundesinnenministerium nicht gänzlich verhindert werden. 9.  Der entscheidende Anstoß für die moderne Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland ist wohl von der FDP ausgegangen, die sich seit 1969 die Regierungsverantwortung auf Bundesebene mit der SPD teilte. Im Umweltprogramm der Bundesregierung konnte der damalige Bundesinnenminister H. D.  Genscher auch ein politisches Instrument sehen, um seinen Einfluss innerhalb der FDP, aber ebenso den Einfluss der FDP in der Bundesregierung zu stärken. Mit dem (die traditionellen Ressortgrenzen im Kabinett nicht achtenden) Umweltprogramm der Bundesregierung, das einen beträchtlichen Kompetenzzuwachs für das Bundesinnenministerium vorsah, dürfte er entscheidend zur Profilierung seiner Partei gegenüber der medienwirksamen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel beigetragen haben. Lange nach Gründung entsprechender Landesumweltministerien in vielen Bundesländern kam es erst 1986 unter dem späteren Bundeskanzler Kohl, ausgelöst durch den GAU von Tschernobyl, zur Gründung eines eigenen Bundesumweltministeriums mit Walter Wallmann, dem späteren hessischen Ministerpräsidenten als Ressortchef. Besonders der ihm nachfolgende, zweite Bundesumweltminister Klaus Töpfer, hat dieses Ministerium langjährig eindrucksvoll geprägt. 10.  Auch die beispiellose Karriere des Leitbegriffs „Umweltschutz“ – eine wörtliche Übersetzung des in den USA damals bereits dort gebräuchlichen



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Begriffs „environmental protection“ – hatte ihren Ursprung in den Bemühungen zur Institutionalisierung der Umweltpolitik. Auf der Suche nach einem einprägsamen Begriff für das neue Politikfeld, das im Wesentlichen von den hohen Ministerialbeamten G. Hartkopf und O. Menke-Glückert aus dem Bundesinnenministerium vorangetrieben wurde, soll Genscher im November 1969 um einen Namensvorschlag für die zuständige Abteilung in seinem Ministerium gebeten haben. Dabei ist wohl der Begriff Umweltschutz für den deutschen Sprachraum geboren worden. Urheber diesen Begriffs waren wahrscheinlich Genscher und/oder seine Ministerialbürokratie. Jedenfalls setzte sich dieser Begriff schnell und weitgehend unbeeinflusst von der sonstigen Politik durch. 11.  Aus heutiger Sicht erscheint die Aufnahme des Umweltschutzes in das politische Programm der Bundesregierung 1971 als deutlicher Ausgangspunkt in der Entwicklung des modernen Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland. Programmatisch zielte zwar die SPD bereits 1961 mit ihrem damaligen Wahlkampfslogan, „Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden“ auf den Schutz der Umwelt. Doch erzielte das Versprechen kaum eine politische Wirkung bei den Wahlen. Es fehlte damals noch der Begriff des Umweltschutzes mit seiner später enormen Durchschlagskraft. 12.  Allein die programmatische Ankündigung, neben die klassischen Politikfelder, wie etwa die soziale Sicherheit, möglichst gleichrangig auch eine Umweltpolitik treten zu lassen, kann nicht erklären, warum sich in den frühen 1970er Jahren die deutsche Umweltpolitik als solche mit hoher Dynamik zu etablieren begann. Richtig ist sicherlich, dass sich die Umweltprobleme (auch) in Westdeutschland gehäuft hatten. Der kraftvolle wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem Krieg und der hierdurch erzeugte wachsende wirtschaftliche Wohlstand zeigten für die Öffentlichkeit die ersten typischen Folge­ erscheinungen für die Umwelt. So verdoppelte sich innerhalb von weniger als zehn Jahren die Zahl der privaten Kraftfahrzeuge. Im Ruhrgebiet, aber z. B. auch in Hamburg, traten bedrohliche Smogwetterlagen auf. Die zunehmende Landschaftszerstörung durch Zersiedelung wurde unübersehbar. Das Abfallaufkommen wuchs rasant. Für den Rhein und viele andere Flüsse schien jede Hilfe zu spät zu kommen. Demnach liegt es insgesamt nahe, in der wachsenden Einsicht dringender Gegenmaßnahmen einen wesentlichen Grund für die Initiierung den Erfolg des Umweltprogramms der Bundes­ regierung von 1971 zu sehen. 13. Diese funktionalistische Betrachtung von Umweltpolitik wird heute von den Politik- und Sozialwissenschaften zunehmend in Zweifel gezogen. Gerade für die Herausbildung einer gezielten Umweltpolitik sei der jeweilige Problemdruck nur von sekundärer Bedeutung. Umweltpolitik drücke sich vielmehr in der gesellschaftlichen und politischen Fähigkeit aus, Umweltpro-

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bleme wahrzunehmen und gezielt zu lösen. Damit erweist sich neben der Umweltbelastung die kulturelle Wahrnehmungsbereitschaft dieses Phänomens als wichtiger Einflussfaktor für die Erzeugung umweltpolitischen Problemdrucks. Anders ausgedrückt: Nicht die Umweltkrise selbst, sondern das Bewusstsein ihrer Existenz und ihrer Bewältigung wurde zur entscheidenden politischen Kraft. 14.  Nachdem in den 1960er Jahren die materiellen und physischen Grundbedürfnisse des westdeutschen Bevölkerung weitgehend befriedigt waren, gleichzeitig durch die Einbindung in das westliche Sicherheitssystem, aber auch durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ die unmittelbare Gefahr eines Weltkrieges gebannt schien, kündigte sich in Westeuropa ein tiefgreifender Wertewandel an. Dabei dürfte zunächst die Pluralisierung von Wertvorstellungen maßgeblich gewesen sein. Dem Unbehagen an ausschließlich materiellen Zielvorstellungen des Gemeinwesens folgte die Skepsis, ob sich der technologische Fortschritt nicht als das eigentliche Übel für die politisch eingeforderte „Lebensqualität“ erwiesen habe. Auch wenn sich mit dieser Forderung zunächst nur vage Vorstellungen verbanden, so hatte der Wandel individueller und kollektiver Wertvorstellungen in dem politischen Klima, das u. a. infolge der Regierungsübernahme durch die sozialliberale Koalition von einer allgemeinen Reformstimmung geprägt war, erkennbar eine Verschiebung der Politikpräferenzen zur Folge. Grenzen des „Wirtschaftswunders“ wurden erkennbar. Durch die Proteste gegen den Vietnamkrieg, aber auch durch das verbreitete Aufbegehren gegen die überkommenen gesellschaftlichen und politischen Werte Nachkriegsdeutschlands wurde ein allgemeines Reform- und Umbruchsklima geschaffen. Dies begünstigte jedenfalls die Etablierung eines neuen Politikfeldes Umweltschutz ungemein. Die hinreichende Sicherstellung materiellen Wohlstands reichte der Bevölkerung als primäres Politikziel nicht mehr aus. Insbesondere Veröffentlichungen zu möglichen Umweltkrisen – etwa die erwähnten Bücher von Carson und Meadows – richteten den entstandenen Wertewandel auf das Umweltthema und schufen damit ein erst langsam und dann später immer schneller wachsendes Umweltbewusstsein der Bevölkerung. Ob sich jedoch der Anstieg des Umweltbewusstseins als Ausdruck dieses postmaterialistischen Wertewandels maßgeblich auf die Schaffung des Umweltprogramms der Bundesregierung ausgewirkt hat, erscheint dennoch zweifelhaft. Eher hat das Umweltprogramm der Bundesregierung das Umweltbewusstsein der Bevölkerung geprägt als umgekehrt. 15.  Die publizistischen Medien nahmen sich Ende der 1960er Jahre immer stärker des Umweltthemas an und berichteten zunehmend über die entsprechenden Entwicklungen im Ausland. 1968 setzte mit der UNESCO-Konferenz „Man and the Biosphere“ die institutionelle Beschäftigung mit der



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Umweltproblematik auf internationaler Ebene ein. Die geistige und politische Vorreiterrolle im Umweltschutz hatten zunächst die USA übernommen, was Lichtjahre von der heutigen Position der USA unter Präsident Trump entfernt scheint. Präsident Nixon legte 1970 ein Umweltschutz-Programm vor, dessen Ziele zwar nicht mehr vollständig verwirklicht werden konnten, aber gleichwohl für die Ausarbeitung des westdeutschen Umweltprogramms eine Vorbildfunktion hatten. Während jedoch in der politischen Diskussion in den USA frühzeitig pragmatische Auswege aus der ökologischen Krise gesucht wurden, beherrschte im kontinentalen Teil Westeuropas und in Westdeutschland stärker ein systemkritischer Ansatz die allgemeine Politikdiskussion. Die späten 1960er Jahre standen im Zeichen der turbulenten Studentenunruhen. Vor dem Hintergrund einer immer radikaler formulierten Kritik am „kapitalistischen System“ wurde die Forderung nach einer Lösung der Umweltkrise an die Überwindung der Grundstrukturen der Marktwirtschaft geknüpft. In dieser radikalen Konsequenz artikuliert sich ein Umweltbewusstsein allerdings zunächst nur vereinzelt. 16.  Für diejenigen, welche die zunehmende Umweltzerstörung nicht mehr hinzunehmen bereit waren und sie als Fehler im politischen „System“ erkannt zu haben glaubten, boten sich zunächst keine attraktiven Formen der – im Zuge der Reform von Staat und Gesellschaft ohnehin diskutierten – aktiven Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess im Umweltschutz. Dieser Umstand führte dazu, dass die in den 1970er Jahren entstandenen (und anfangs sogar vom Staat auch finanziell geforderten) Bürgerinitiativen teilweise raschen Zuwachs erhielten. Insgesamt zeigte sich, dass sich der gesellschaftliche Wertewandel nicht nur auf die Relativierung der Werteordnung beschränkte, sondern auch die Artikulationsebene erfasste. Der parteivermittelte Willensbildungsprozess der repräsentativen Demokratie entsprach offensichtlich nicht mehr einem wachsenden Bedürfnis, angesichts der als neu empfundenen Gefährdungslage ebenfalls neue Formen der Interessenvertretung des Volkes zu suchen. 17.  Dies umso mehr, als sich mit der Kanzlerschaft H. Schmidts eine deutliche Abkühlung des allgemeinen Reformklimas in der Bundesrepublik Deutschland abzeichnete. Schon die Ölkrise hatte 1973 einen Schock ausgelöst. Das Sonntagsfahrverbot schien ein Zeitalter des Mangels anzukündigen. Das Bruttosozialprodukt sank, die Inflationsrate lag mit 6,9 % deutlich höher als in den Jahren zuvor und der Anstieg der Arbeitslosenquote ließ eine Krisenstimmung entstehen, in der sich die Umweltpolitik wachsender Kritik, vor allem aus Wirtschaftskreisen, ausgesetzt sah. 18.  Ungünstig für die konsequente Fortsetzung einer „offensiven“ Umweltpolitik dürften sich auch die Terroranschläge ausgewirkt haben, die insbesondere seit der Entführung des CDU-Politkers P. Lorenz im Februar 1975 die

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politische Atmosphäre in der Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verändert hatten. Der für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland zuständige Bundesinnenminister W. Maihofer geriet im Juni 1978 erheblich unter Druck, als Fahndungspannen im Entführungsfall Schleyer bekannt wurden. Nach dem Rücktritt von Maihofer konnte sein Nachfolger G. Baum nicht verhindern, dass die Umweltpolitik ihren gehobenen Stellenwert für die Bundesregierung immer mehr einbüßte. 19. Dabei dürfte ein maßgeblicher Grund auch darin zu sehen gewesen sein, dass sich das Thema Umweltschutz mit anderen hoch brisanten Themen, z. B. Energieversorgung durch Kernkraft verband. Es entstand in Teilen der Bevölkerung der Eindruck, dass die Bemühungen um den geforderten „starken“ Umweltschutz eine radikale Grundhaltung bedingten, wie sie in den zahlreichen Bürgerprotesten zum Ausdruck kam. Das politische Aufkommen der Grünen schien das zu bestätigen und hat den damals verbreiteten Gedanken der angeblich systemsprengenden Kraft des Umweltgedankens in Reihen der etablierten Politik verankert, ehe diese begriff, dass der Umweltschutz gerade auch als Mittel der System- und Machterhaltung dienen konnte. 20.  Die Entdeckung und der schnelle Wachstum des Umweltschutzes und des Umweltrechts nach 1970 ist weder den später so durchschlagskräftigen Bürgerinitiativen noch den Grünen zu verdanken. Die Grünen sind entgegen ihrem Selbstverständnis eher Produkt als Verursacher des Siegeszugs des Umweltschutzes in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben den Umweltschutz gewiss nicht „erfunden“. Ihre Gründung erfolgte ja erst 1980. Sie sind also für den Aufbau der westdeutschen Umweltpolitik und des Umweltrechts einfach zu spät „geboren“ worden. Ihre gleichwohl historische Bedeutung gewinnen sie erst später, als sie das Er­löschen des Umweltbewusstseins in den Konsolidierungsjahren insbesondere unter Kohl verhinderten und letztlich die Integration systemkritischer, ökologischer Kräfte in das westdeutsche politische System maßgeblich beförderten. Um 1970/71, als die für eine Thematisierung des Umweltschutzes und den Aufbau des Umweltrechts maßgeblichen Entscheidungen getroffen wurden, hatte sich ein allgemeines, politikprägendes Umweltbewusstsein noch nicht gebildet. Ohne erkennbaren Druck der öffentlichen Meinung ist die Öffentlichkeit eher durch die Bundesregierung und die Bundesgesetzgebung für das Thema Umweltschutz sensibilisiert worden. Es lässt sich nicht verkennen, dass wohl erst die politischen, informationellen und gesetzgeberischen Aktivitäten im Anschluss an die Formulierung des Umweltprogramms der Bundesregierung von 1971 den entscheidenden Beitrag zu einem gegen Ende der 70er Jahre bisweilen schon als übersteigert bezeichneten Umweltbewusstsein lieferten.



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21. Der für das normative Fundament des heutigen Umweltrechts maßgebliche Impuls ist letztlich – demokratietheoretisch und verfassungsrechtlich nicht unbedenklich – zunächst entscheidend von der Bundesregierung und der Ministerialbürokratie ausgegangen, die mit dem Umweltprogramm der Bundesregierung eindrucksvoll ein (historisches) Beispiel exekutivischer Möglichkeiten der politisch-rechtlichen Steuerung geliefert haben. Der Umweltschutz nach 1970 war maßgebend „Umweltschutz von oben“. Das gilt fast noch stärker für die – exekutivisch geprägte – Umweltpolitik der EWG/EG/EU. 22. Heute ist der Umweltschutz im wiedervereinten Deutschland aber längst auch beim Volk angekommen. Gleichwohl ist die „Demokratisierung“ in der Umweltgesetzgebung bisher nur unvollständig gelungen. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass ein wirksames Umweltrecht kontinuierlich den Ausgleich mit der mächtigen Wirtschaft sowie mit den europäischen Institutionen und mit ausländischen Staaten zu bestehen hat. Auch die für das Umweltrecht so typische Herausforderung, naturwissenschaftlich komplizierte und teilweise technisch sehr schwierige Sachverhalte rechtlich zu fassen und zu regeln, lässt immanente Grenzen einer realen und materiellen „Demokratisierung“ des Umweltrechts erkennen. Die Verständlichkeit vieler Teile des deutschen Umweltrechts für das Volk ist häufig eine pure Illusion. 23. Mir ist eigentlich erst beim Verfassen dieses kleinen Beitrags noch einmal richtig bewusst geworden, dass die Gründung unseres Clubs in eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs in Westdeutschland fiel. Die Studentenunruhen und die Gefahr des Terrorismus waren ja dort noch längst nicht vorüber. Der Aufbruch unter der neuen sozialliberalen Bundesregierung hatte gerade begonnen. Die Gründer und älteren Mitglieder unseren Clubs mögen beurteilen, ob sich diese Aufbruchsstimmung auch im Leben und Wirken des Clubs in seiner Anfangsphase niedergeschlagen hat. Oder war die Gründung des Clubs auch als Antwort auf die Ungewiss­ heiten der Umbruchssituation zu verstehen gewesen? Wahrscheinlich trifft beides zu. Der Club war behutsam beharrendes Element, vielleicht auch eine Zuflucht in Zeiten des Umbruchs. Er ist aber selbst vom Umbruch mitgestaltet worden und hat diesen in seinem ureigenen Bereich auch mitgeprägt. Diese behutsame Fortentwicklung und Modernisierung des Clubs in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Veränderungen wird nirgendwo deutlicher als in seiner Mitgliederentwicklung und zwar in besonderer Weise an der steigenden Zahl unserer weiblichen Mitglieder und – inzwischen auch – an unseren Präsidentinnen. Der Club hat die Gleichbehandlung der Frau gewiss nicht durchgesetzt, aber sich ihr eben auch nicht verschlossen.

Metamorphosen Rotarys während eines halben Jahrhunderts Von Klaus-Heinrich Standke1, 2 1. Rotary im Vergleich der Zahlen: 1970 und 2020 1970, als unser Club gegründet wurde, gab es 3,7 Milliarden Menschen auf der Welt. 50 Jahre später hat sich die Weltbevölkerung mit 7,8 Milliarden Menschen mehr als verdoppelt. Erstaunlich ähnlich ist die Entwicklung in der Rotarywelt verlaufen: Gab es 1970 weltweit 14.337 Rotary Clubs mit 679.500 Mitgliedern, so hat sich in diesen 50 Jahren auch die rotarische Weltgemeinschaft sowohl bei der Anzahl der Clubs wie auch bei der Anzahl der Mitglieder verdoppelt: Im Jahr 2020 gibt rund 35.000 Clubs mit 1,2 Millionen Rotariern und Rotarierinnen. Zwar verharrt die Mitgliederzahl von Rotary in der Welt in den letzten Jahrzehnten statisch bei 1,2 Millionen, jedoch zeigen sich regional erstaun­ liche Unterschiede: In den meisten Industrieländern wird ein Mitgliederrückrang beobachtet mit einer bemerkenswerten Sonderentwicklung in den deutschsprachigen Länder, die im Wesentlichen auf die große Zahl von rund 150 Clubgründungen in den neuen Bundesländern und in Berlin (Ost) seit 1990 zurückzuführen ist. Seit Mitte dieses Jahrzehnts gingen die Mitgliederzahlen in den USA, dem Rotary-Mutterland, um 15 % zurück, in England um 16 %, in Japan um 21 % sowie in Australien und Kanada um jeweils 14 %. Demgegenüber stieg die 1  Klaus-Heinrich Standke PHF, RC Berlin-Kurfürstendamm, Ehrenmitglied RC Berlin-Mickiewicz und RC Cabourg, fr. RC # 6 New York. Nach dem UNO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland erster deutscher Direktor bei den Vereinten Nationen, New York. 2  Zur Vorbereitung dieses Beitrages habe ich mit einer Reihe erfahrener rotarischer Freunde persönliche Gespräche geführt. Ich danke hierfür aus dem Distrikt 1940 an erster Stelle PDG Rudolf Hilker sowie den PDG’s Hans Jürgen Frerker, Wolf Rainer Hermel, Gerhard Lögters, Helmut Rohde und Karl Zieger; aus dem Distrikt 1860 den PDG’s Wolfgang Boeckh, Dirk Jesinghaus und Heinz Löffler; aus dem Distrikt 1640 Jean-Paul Roughol und Alain Meunier-Guttin-Cluzel. Die Verantwortung für die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen liegt jedoch ausschießlich bei mir.



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Mitgliederzahl in Indien um 38 %, Südkorea um 26 %, Deutschland um 27 %, Taiwan um 49 % und Brasilien um 8 %. Frankreich bildet wegen der schwindenden Mitgliederzahl auf derzeit 30.000 keine eigene rotarische Weltzone mehr, sondern wurde mit Belgien und Luxemburg in einer neuen Zone 13 zusammengefügt. Insgesamt ist jedoch der Mitgliederrückgang in den meisten Industrieländern durch ein erhebliches Wachstum in vielen Entwicklungsländern, insbesondere in Indien, ausgeglichen worden. In Deutschland hat sich die Anzahl der Rotary Clubs seit der Gründung des RC Berlin-Spandau im Jahr 1970 von damals 304 Clubs mit 11.684 Mitgliedern (in Westdeutschland und Westberlin) auf nunmehr 1.091 Clubs mehr als verdreifacht. Die Anzahl der Mitglieder ist mit 56.350 um das Viereinhalbfache gestiegen. Blicken wir nun auf Berlin, so bestanden im Gründungsjahr 1970 unseres Clubs lediglich vier Rotary Clubs im damaligen Berlin (West): Der RC Berlin (Gründungsjahr 1929), die RC’s Berlin-Nord und Berlin-Süd (Gründungsjahr jeweils 1960) und der RC Tiergarten (Gründungsjahr 1967) Danach erfolgten bis zum Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Berlins lediglich zwei weitere Neugründungen: Der RC Berlin-Luftbrücke (Gründungsjahr 1979) und der RC Berlin-Spree (Gründungsjahr 1986). Nach dem Fall der Mauer setzte in Berlin eine regelrechte Gründungswelle ein. Es entstanden 24 neue Rotary-Clubs mit insgesamt mehr als 2.000 Mitgliedern. Mit rund nominellen 100 Mitgliedern ist der RC Berlin-Kurfürstendamm – nach dem RC Berlin mit derzeit 176 Mitgliedern – in Berlin unverändert der an Mitgliedern zweitstärkste Club der mittlerweile auf 31 gewachsenen Berliner Rotary-Clubs. 2. Das Gemeinsame von Rotary International und den Vereinten Nationen im 75. Jahr nach der UNO-Gründung Am 17. November 1970 fand die Gründungsversammlung des RC BerlinSpandau statt. Am 17. Dezember 1970, im 25. Jahr ihrer Gründung, verabschiedete die 25. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York die sog. Zweite Entwicklungsdekade (1971–1980). Die Hauptbetätigungsfelder während dieser Entwicklungsdekade waren die Linderung von akuter Not und Förderung von Bildung, Arbeitsbeschaffung und Gesundheitsversorgung (basic needs). Weiterhin wurde von den Ländern mehr Eigeninitiative und Mitarbeit (Hilfe zur Selbsthilfe) gefordert.

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Weitere drei Jahre später, am 18. September 1973, wurden die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gemeinsam in die Vereinten Nationen aufgenommen. Rotary International hat vor 75 Jahren in San Francisco bei der Gründung der UNO – als damals einzige weltweit operierende Organisation mit 6.800 Clubs in 81 Ländern – eine maßgebliche beratende Rolle gespielt. Ihren damals erworbenen Sonderstatus hat sie bis heute beibehalten. RI hat seither von allen Nicht-Regierungsorganisationen (NGO’s) den höchsten Consultative Status bei der UNO-Generalversammlung. Rotary International wirkt beratend bei der Programmgestaltung der weltweiten Entwicklungsziele der Vereinten Nationen beratend mit und sich eng an ihnen an seiner eigenen Prioritätensetzung ausgerichtet. •• Am 9. September 2000 beschlossen 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen mit der ‚Millenniumserklärung‘ einen Katalog grundsätzlicher, verpflichtender Zielsetzungen für alle Mitgliedstaaten. Armutsbekämpfung, Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die wichtigsten Ziele der internationalen Gemeinschaft bestätigt. Angelehnt an die sogenannten Millenium Entwicklungsziele der UNO, stehen folgende Bereiche auch besonders im Fokus von Rotary: •• Frieden und Konfliktprävention/-lösung •• Krankheitsprävention und-behandlung •• Wasser und Hygiene •• Gesundheitsfürsorge für Mütter und Kinder •• Elementarbildung •• Wirtschafts- und Kommunalentwicklung Neben den Einzelprojekten jedes Clubs gibt es große internationale Projekte, die von Rotary global organisiert und über die Rotary Foundation als zentraler Stiftung aller Rotarier finanziell unterstützt werden. Das weltweit bekannteste Projekt von Rotary ist „End Polio Now“, der weltweite Kampf gegen die Kinderlähmung. Jedes Jahr am 24. Oktober, dem UNO-Gründungstag, wird bei dem Rotary Day at the United Nations die historische Zusammenarbeit zweier Organisa­ tionen gewürdigt, die sich beide in ihrer täglichen Arbeit für Frieden und Humanität einsetzen.. Seit einigen Jahren führt jeder Rotary International President eine Serie regionaler Konferenzen am Sitz von UN-Organisationen in New York, Genf, Wien, Paris, Rom, Nairobi u. a.m. durch, an denen Tausende Rotary Clubs teilnehmen, um die oben genannten gemeinsamen Entwicklungsziele von UN und Rotary zu propagieren. Inwieweit diese hehren Ziele auf Clubebene



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in das Bewusstsein der Mitglieder transportiert werden und Gegenstand rotarischer Vorträge und Diskussionen wurden, die sich in aktiver Projektarbeit niederschlagen, ist auch im RC Berlin-Kurfürstendamm eine Frage, die der Antwort harrt. In die rotarischen Jahre 2019/2020 und 20202/2021 fallen die Feiern zum 75. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen. Rotary President Mark Maloney hatte zum direkten Dialog mit der rotarischen Basis fünf „Presidential Conferences“ in New York, Paris, Rome, Santiago de Chile und Honolulu geplant. Sein derzeitiger Nachfolger Holger Knaack, der wegen der Coronapandemie befürchtet, als erster „virtueller RI-Präsident“ in die rotarische Geschichte einzugehen, schrieb mir hierzu am 19. Mai 2020 Folgendes: „In meiner Rede auf der virtuellen Rotary Convention 2020 werde ich erwähnen, dass Rotary bei der Gründung der Vereinten Nationen dabei war. Wie Du sicherlich auch weißt, hat President Mark Maloney für sein Rotary-Jahr 2019/20 mehrere UN Presidential Conference geplant. Leider mussten fast alle abgesagt werden. Die letzte Konferenz in Paris zum 75. Jahrestag der Charta der Vereinten Nationen, die die Rolle von Rotary und den Beitrag eines jeden Einzelnen hervorzuheben sollte, musste wegen der Corona Pandamic abgesagt werden. Meine Planungen sind abgeschlossen. Es wird Veranstaltungen mit der WHO in Genf und der EU in Brüssel geben. Beste Grüße und bleib gesund Holger“. Es wäre zu begrüßen, wenn der Zusammenhang des 75. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen am 24.10.2020, dem am 17.11.2020 der 50. Jahrestag der Gründungsversammlung unseres Clubs folgt, bei den Jubiläumsfeierlichkeiten gewürdigt würde. 3. Die Metamorphosen des Rotarischen Innenlebens seit der Gründung unseres Clubs vor 50 Jahren a) Aufnahmepolitik Wie die Liste der 21 Gründungsmitglieder des RC Berlin-Spandau aus dem Jahr 1970 zeigt, war es offenbar gezielte Politik der Gründer, nur solche Persönlichkeiten zur Mitgliedschaft aufzufordern, die bereits etablierte Positionen in der Berliner Gesellschaft hatten. Hierzu hieß es „ ‚Aufnahme nur solcher Mitglieder, deren Geschäft oder die Obliegenheit ihrer Stellung oder ihre Tätigkeit in einem Beruf so weitgespannt sind dass sie das Gesamtgebiet der Stadt, des Gemeinwesens oder des sonstigen Amtsbezirks umfasst.“ 50 Jahre später besteht stattdessen offenbar Konsens über ein völlig verändertes übergeordnetes Ziel: Weg von der formalen Herrschaftselite zur Handlungselite, Rotary nimmt die Menschen auf, die unsere Gesellschaft durch

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aktives und verantwortliches Handeln weiterbringen. Die Rotary Clubs haben den elitären Charakter, der ihnen lange Zeit insbesondere in Deutschland anhaftete, verloren. Rotary ist in diesem halben Jahrhundert offener, demokratischer geworden. Rotary ähnelt dadurch mehr der Gesellschaft in der wir leben, das Bild ist bunter … Zu den lange Zeit gültigen rotarischen Grundsätzen gehörte die sorgfältige Ausgewogenheit in der Zusammensetzung der Mitgliederstruktur (Berufsklassen). Dahinter stand die Idee, dass eine systematisch zusammengestellte Liste der Klassifikationen die beste Grundlage für das Wachstum eines Clubs sei. Es hat sich indessen gezeigt, dass eine derartige Regelung unrealistisch ist. RI gibt daher seit geraumer Zeit kein allgemeingültiges Klassifikationenverzeichnis heraus. Den Clubs bleibt es überlassen, ob sie Berufsklassenübersichten führen und als Grundlage für die Entwicklung und Stärkung der Mitgliederbasis verwenden (Verfahrenshandbuch 2010). b) Altersstruktur Bei Gründung unseres Clubs vor 50 Jahren waren die Mitglieder durchschnittlich 47 Jahre alt. Inzwischen liegt das Durchschnittsalter bei 66,5 Jahren also bereits über dem Pensionsalter (2017). Dieser Durchschnittswert allein verdeutlicht jedoch nicht das zu Unrecht gelegentlich als ‚Überalterung‘ umschriebene Problem. Wie in allen Industrieländern so altert auch in Deutschland und in Berlin insgesamt die Bevölkerung mit dem für die Betroffenen erfreulichen Ergebnis einer höheren Lebenserwartung. Ein Indikator für die Situation zeigt Folgendes: Während noch vor 10 Jahren 18 % unserer Mitglieder unter 50 Jahren alt waren, waren es 2017 nur noch 6 %. Dahinter verbirgt sich das in allen Rotary Clubs ungelöste Problem, dass es immer schwieriger wird, Vertreter und Vertreterinnen der nachrückenden Generation für die rotarischen Ideale zu gewinnen. Das Phänomen der zurückgehenden Bereitschaft zum Engagement in zivilgesellschaftlichen Aufgaben beschränkt sich jedoch nicht auf Rotary allein, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Enzwicklung, der sich Kirchen, Parteien und Gewerkschaften in ähnlicher Weise konfrontiert sehen. Einerseits ist zu hören, dass der Anteil von Neumitgliedern zwar allenthalben zu gering ist, um eine ausgewogene Altersstruktur sicherzustellen, andererseits scheint jedoch nicht die Gewinnung neuer Mitglieder das Problem zu sein, sondern deren dauerhafte Bindung an den Club. Manche neue Mitglieder empfinden offenbar nach ihrer Aufnahme dass die Realität des Club­ lebens nicht ihren Vorstellungen entspricht. Mitglieder, die aktiv im Berufsleben stehen, haben in der Regel eine andere Zeit- und Wertevorstellung als diejenigen, die nicht mehr berufstätig sind. Diese wiederum sind es jedoch,



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deren Lebenserfahrung und ihre Bereitschaft, sich im Gemeindienst zu engagieren, für die rotarische Arbeit von großem Wert sind. c) Aufweichung der Präsenzpflicht Die seit Anbeginn als sozusagen ehernes rotarisches Gesetz geltenden Präsenzregeln waren strikt: Eine Präsenz pro Woche bei regulären Meetings des eigenen Clubs bzw. eines anderen Clubs als Ersatzpräsenzen. Hierzu zählten nicht Vorstandssitzungen, Kaminabende, Sonderveranstaltungen etc. Wer bei bestehender Präsenzpflicht an vier aufeinanderfolgenden Zusammenkünften fehlte oder in einem Halbjahr eine Präsenz von